Predigten zur Förderung christlicher Erbauung an allen Sonntagen und Festen des Jahres: Band 2 [Reprint 2021 ed.] 9783112460245, 9783112460238


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Predigten zur Förderung christlicher Erbauung an allen Sonntagen und Festen des Jahres: Band 2 [Reprint 2021 ed.]
 9783112460245, 9783112460238

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Predtgten zur Förderung christlicher Erbauung an

allen Sonntagen und Festen -es Jahres von

£)r- Christoph Friedrich von Ammon, Oberhofprediger in Dresden.

Zweiter Band.

Dresden, P. G. Hilschersche Buchhandlung. 1831.

Fünf und zwanzigste Predigt, am Sonntage Jubilate.

Daß in wohlgearteten Gemüthern die Betrachtungen des Früh­ lings und der Religion auf das Innigste befreundet sind. Sechs und zwanzigste.Predigt, am Sonntag« Cantate.

Wie wichtig eS für den Christen sei, künftigen Abschied zu denken.

von selbst an seinen

Sieben und zwanzigste Predigt, am Sonntag« Rogate.

Heilsame Erinnerungen an die Religion der Kindheit. Acht und zwanzigste Predigt, am Fest« der Himmelfahrt Christi.

Wie wir die Erhebung Christi in den Himmel zu betrachten haben, wenn wir sie frei vor Gott und Menschen beken­ nen wollen. Neun und zwanzigste Predigt, am Sonntag« Exaudi.

Daß der Christ auch die kleinern Lebenspflichten mit strenger Gewissenhaftigkeit erfüllen müsse. Dreißigste Predigt, erste Pfingstpredigt.

Wie wir der wahren Begeisterung fähig werden sollen, der wir Alle zur Vollendung unserer sittlichen Laufbahn bedürfen. Ein und dreißigste Predigt, zweite Pfingstpredigt.

Wie wir uns die wahre Religion des Gemüthes aneignen sol­ len, zu welcher Jesus seinen Freunden den Weg gebahnt hat. Zwei und dreißigste Predigt, dritte Pfingstpredigt.

Wie sehr sich der Christ in den Tagen herrschender Begeisterung der stillen Weisheit befleißigen müsse. Drei und dreißigste Predigt, am Drekeinigkektsfeste.

Wie wir unseren Glauben an den dreieinigen Gott allen Chri­ sten und Nichtchristen ehrwürdig machen sollen. Vier und dreißigste Predigt,

am ersten Dr«ieinkgkeitssonntag«.

Wie wir die Lehre des Christenthums betrachten sollen, daß der Tod unser künftiges Schicksal entscheidet. Fünf und dreißigste Predigt,

am zweiten Dreieinigkeitssonntage.

Warnung vor dem Leichtsinne deS Glaubens.

Sechs und dreißigste Predigt, am dritten Dreieim'gkeitSsonntage.

Worte der Warnung an Religionsspötter. Sieben und dreißigste Predigt,

am vierten Dreieinigkeitssonntage.

Die kräftigsten Verwahrungsmittel gegen die Unwürdigkeit der sittlichen Sclbstverblendung. Acht und dreißigste Predigt,

am zweiten Bußtage.

Wohin uns die Ueberzeugung führen muß, daß wir noch im­ mer keinen Bußtag ohne Buße feiern können. Neun und dreißigste Predigt, am fünften Dreieinigkeitssonntage.

Warum Gott die Seligkeit der Menschen überall an sittliche Bedingungen geknüpft hat. Vierzigste Predigt,

am sechsten Dreieinigkeitssonntage.

Warum man unter uns so oft den heiligen Ernst vermißt, mit dem die ersten Christen ihre Religion als die höchste Aufgabe ihres Lebens betrachteten. Ein und vierzigste Predigt- am siebenten Dreieinigkeitssonntage.

Die weise Festigkeit des Glaubens, die der Christ im steten Wechsel des menschlichen Wissens erstreben soll. Zwei und vierzigste Predigt, am achten Dreieinigkeitssonntage.

Was wir bei der traurigen Wahrnehmung beherzigen sollen, daß wir so oft die wahre Absicht unserer Handlungen ver­ bergen. Drei und vierzigste Predigt, am neunten Dreieinigkeitssonntage.

Wie nöthig es sei, uns gegen die Versuchungen zum Götzen­ dienste zu wafnen, von welchen wir noch in unseren Ta­ gen bedroht sind. Vier und vierzigste Predigt,

am zehnten Dreieinigkeitssonntage.

Daß der Christ nur durch eine fortgesetzte Veredelung seines Inneren Gottes Freund werden kann. Fünf und vierzigste Predigt, am eilften Dreieinigkeitssonntage.

Wie wichtig es für uns sei, den geistlichen Stolz in seiner ganzen Nichtigkeit zu erkennen. Sechs und vierzigste Predigt,

am zwölften Dreieinigkeitssonntage.

Wie wir die Wahrnehmung der vielen und mannichfachen Körperübel unseres Geschlechtes mit der Weisheit und Güte Gottes vereinigen sollen,

XXV.

Am Sonntage Jubilare. Epistel 1 Petr. K. II. V- 11 — 17. Daß in wohlgearteten Gemüthern die Be. trachtungen des Frühlings und der Religion auf daS Innigste befreundet find.

v. ANUtion's Pred. B. tt«

1

Herr, schaffe in uns ein

neuen gewissen Geist:

reines Her;

und gieb unS einen

verwirf uns nicht von deinem An«

gesichte und nimm deinen heiligen Geist nicht von uns. Amen.

w. a. Z. Es ist eine bekannte, aber darum nicht min­ der wichtige Beobachtung, daß sich die Seele des Men­ schen nie so leicht und willig religiösen Gefühlen und Ent­ schließungen öfnet, als in den Tagen des wiedekkehrenden Frühlings. Auf Menschen von gemeinem und abgestumpf­ tem Sinne macht freilich auch das herrliche Schauspiel der sich stufenweise erneuernden Natur nur einen sehr geringen Eindruck; sie schranken sich auf die gewöhnlichen Bemerk­ ungen von dem zarten Wüchse dec Saat, von der hofnungsreichen Blüthe der Baume und dem fröhlichen Wech­ sel einer gelinden Witterung ein; und kaum regt sich bei ihnen in einem ernsten Augenblicke auch nur flüchtig der Gedanke, daß Gott in der That ein sehr gütiges und alle seine Geschöpfe mit vielen Wohlthateu beglückendes Wesen sei. Ganz anders verhalt sich aber das mit dem denken­ den, mit dem weisen und guten Menschen; feder heitere Morgen, feder einsame Spaziergang, fede Veränderung unserer Auen und Fluren erhebt seinen Verstand zu seinem Schöpfer und tragt sein dankbares Herz zu dem milden Himmel empor; er vergißt dann allen Kummer, alle Harten und Beschwerden der Gegenwart und denkt nur au die Freuden der Alles wicdcrgebarenden Jahreszeit; unwillkührlich wird er nun von dem Bewußtseyn seiner Schwach­ heit, von dem Gefühle der Dankbarkeit und Rührung er1 *

griffen; die Ehre des Herrn, ruft er dann mit dem heiligen Dichter aus, ist ewig, de rHerr hat Wohl­ gefallen an seinen Werken. Woher kommt nun diese weise und fromme Stimmung der Gemüther; warum finden wir sie nicht bei Allen, die in diesen Tagen des wiederkehrenden Lichtes ihren Beruf, ihre Wohnungen und Umgebungen verlassen, um das herrliche Schauspiel zu sehen, das ihnen die Weisheit des Schöpfers bereitet hat; warum weicht sie selbst aus den Herzen der Besseren mit einer Flüchtigkeit, die ihr keinen wahren und bleibenden Einfluß auf Herz und Leben gestattet? Ist es denn nicht ein Gott und Vater, der sich uns Allen in der Natur und Schrift durch unsere Vernunft und durch seine Ge­ sandte offenbart; hat er uns nicht ohne Unterschied glei­ chen Sinn für die Wahrheiten des Glaubens verliehen; laßt er uns nicht Allen verkündigen, was gut ist und was er, als unser Herr und Richter von uns' fordert; ja, hat uns der Apostel nicht langst erklärt: seit der Schöpfung der Welt könne sein un­ sichtbares Wesen an denWerken erkannt wer­ den, so, daß Niemand eine Entschuldigung habe? Offenbar sind wir also dazu berufen, diejenigen Empfindungen und Gefühle, welche die Natur in diesen Tagen bei uns hervorbringt, auf klare und deutliche Be­ griffe zurück zu führen; es kann auch der Gläubigste unter uns die Belebung des Gedankens nicht für überflüssig halten; daß dasWort Gottes ewig fest amHimmel steht, und daß er uns aus seinen Höhen Regen und fruchtbare Zeiten sendet; es wird, es muß sich Zeder zu ftommey und tugendhaften Entschließungen ermuntert fühlen, wenn er sich erinnert, daß der Gott der

Macht, der Huld und der Liebe auch ein Gott der Ord­ nung, der Reinheit und Unschuld ist. Und wie, wenn eS gerade diese Betrachtung wäre, der wir in diesen Tagen am meisten bedürfen; wenn der Wechsel der Natur bei uns mehr sinnliche Empfindungen und Neigungen, als edle Gefühle und himmlische Gedanken weckte; wenn die neu erwachenden Triebe des irdischen Lebens in uns gerade jene

höheren Regungen beS Geistes unterdrückten, die uns für den Glauben, für die Freude, für einen stillen und from­ men Wandel in den neugcschmückten Hainen Gottes em­ pfänglich machen sollen? Ja, fürwahr, wir können die

Heiterkeit unsers Sinnes nicht besser mit den ernsten Ge­ fühlen der Andacht vereinigen; wir können die Uiberzeugung, daß es ein Gott ist, den wir als den Vater der Natur und als den Vater unseres Herrn Jesu Christi verehren, nicht kräftiger bei uns beleben, wir können endlich die Gebote der Reinheit und Sittsamkeit, die uns das Christenthum so nachdrücklich einscharft, un­ serm Herzen nicht naher legen, als wenn wir von den Em­ pfindungen, von den Anschauungen und Betrachtungen aus­ gehn, die nun Keinem unter uns fremd sind; als wenn wir unsere Rührung unter die Obhut des Glaubens, und unser Vergnügen unter die Leitung einer christlichen Freude stellen; als wenn wir uns selbst ermuntern, da, wo sich die Natur mit der Farbe der reinsten Blüthe schmückt, auch unsere Herzen in das Gewand der Reinheit und Unschuld zn kleiden. Der Geist der Wahrheit und des Lebens, aus dessen heiliger Gemeinschaft jede Kraft zum Guten quillt, leite unsere Andacht zu frommen Entschließungen und Vor­ sätzen! Wir flehen um seinen Beistand in stillen; Gebete, rc. Epistel 1 Petr. K. II. V. 11 — 17.

Lieben Brüder, ich ermahne euch, als die Fremdlinge und Pilgrime, enthaltet euch von fleischlichen Lüsten, welche wider die Seele streiten. Und führet einen guten Wandel unter den Heiden, auf daß die, so von euch aftcrrcden, als von Uibelthä« lern, eure guten Werke sehen, und Gott preisen, wenns nun aw den Tag koulmen wird. Seid Unterthan aller menschlichen Ord­ nung, um des Herrn willen, es sei dem Könige, als dem Ober­ sten; oder den Hauptleuten, als den Gesandten von ihm zur Rache über die Uibellhötcr, und zu Lobe den Frommen. Denn das ist der Wille Gottes, daß ihr mit Wohlthun verstopfet die Unwissenheit der thörichten Menschen: als die Freien, und nicht als Halter ihr die Freiheit zum Deckel der Bosheit, sondern als die Knechte Gottes. Thut Ehre Jedermann; habt die Brüder lieb; fürchtet Gott; ehret den König.

Die sanfteren Empfindungen des Wohlwollens und der Liebe, die der Geist des Christenthums unter den neube­ kehrten Juden und Heiden verbreitete, hatten nicht nur manche sinnliche Gemüther zur Unvorsichtigkeit, und zu ei­ ner wirklichen Herrschaft sträflicher Neigungen veranlaßt, sondern die christliche Religion selbst bei ihren Feinden in einen schlimmen Ruf gebracht und namentlich ihre Sitten­ lehre in ein sehr zweideutiges und verdächtiges Licht ge­ stellt. Der Apostel ermahnt daher seine Freunde mit ^väter­ lichem Ernste, von nun an auf ihren Wandel eine größere Aufmerksamkeit zu richten; er warnt sie vor dem Mißbrauche der christlichen Freiheit und empfiehlt ihnen dafür einen vollkommenen Gehorsam gegcü die öffentlichen Gesetze des Anstandes und der Ehrbarkeit; er fordert sie ganz besonders auf, ihr Herz nicht durch die Unordnungen fleisch­ licher Lüste zu verwunden, und sucht dagegen Empfind­ ungen der Sanftmuth und einer reinen und schuldlosen Liebe in ihrer Seele zu wecken. Das ist denn auch die Stim­ mung des Gefühles, für die wir Alle in diesen Tagen empfänglich seyn müssen; darum soll unsere Andacht heute ausschließcnd bei dem Gedanken verweilen, daß in wohlgesinnten Gemüthern die Betrachtungen des Frühlings und der Religion auf das Jnnigste befreundet sind. Beide vereinigen sich nemlich nicht allein in wichtigen Lehren unsres Glau­ bens, sondern auch in heilsamen Vorschriften unsres Lebens; und die letzten sind es namentlich, die uns der Apostel mit einem würdigen Ernste empfiehlt.

I. Innig befreundet sind die Betrachtungen des Frühlings und der Religion in wohlgesinnten Gemüthern, weil sie sich zunächst schon in wichti­ gen Lehren des Glaubens vereinigen. Denn beide führen uns zu einem ewigen Schöpfer; beide verkündigen uns Gotte sunaussp rechliche Her rlichkeilt; und beide sagen uns, daß in unserem

Geiste der Keim einer unvergänglichen Jugend liegt. Drei Wahrheiten, die cs wohl verdienen, daß wir sie besonders fassen und einzeln beleuchten.

Die Betrachtung des Frühlings und der Religion sind schon dadurch genau verwandt, daß sie uns beide zu ei­ nem ewigen Schöpfer führen. In jeder anderen Jahreszeit nimmt man nur eine gewisse Entwickelung unb Fortbildung aus dem schon Vorhandenen wahr und bleibt eben daher nur bei den gewöhnlichen Ursachen der Natur stehn, die an sich weder Gedanken der Weisheit, noch der Religion enthalten. Die gegenwärtige Zeit aber ist eine Zeit des Anfangens und des Werdens; aus kahlen Auen werden nun in wenigen Tagen grüne Fluren, aus entblät­ terten Waldern blühende Haine; aus todten und erstorbe­ nen Gefilden geschmückte Wiesen und Garten: man nimmt es fast augenscheinlich wahr, wie aus der Kälte die Wärme, aus dem Tode das Leben, aus dem Keime die Knospe und die herrliche Blüthe hervörgeht. Wie nahe sind aber alle diese Wahrnehmungen der wieder auflebcnden Natur mit dem Gedanken an den ewigen Geist verwandt, der alleS Lebens Ursprung und Quelle ist ? Oder können Saaten, Pflanzcn und Baume, die im Winter ersterben, sich im Frühlinge aus eigener Kraft in das Leben zurückrufen; kann die vor Kurzem noch erstarrte Erde sich von selbst Wärme und Frucht­ barkeit geben; kann Alles das, was rings um uns her sich verwandelt, bildet und erneuert, die Wurzel seines Da­ seyns in seinem Innern tragen; leiten uns Frühling und Religion nichr gemeinschaftlich zu dem ewigen Geiste hin, derWesen, Kraft und Leben in sich selbst hat? Fern sei es daher von uns, gedankenlos an dem Ufer des Stromes der Zeit und des Wechsels aller Dinge zu wan­ deln, und nicht nach seiner Quelle und seinem Ursprünge zu fragen! Alles um uns her ruft uns ja mit lauter Stimme zu: Einer ist es, der Allerhöchste, der Schöpfer aller Dinge, allmächtig und ein ge­ waltiger Kö nig; Alles, was wir empfinden, wahrneh« men und fühlen, vereinigt sich ja in dem Gedanken: durch

den Glauben merken wir, daß die Welt durch Gottes Wort fertig ist, daß Alles aus Nichts geworden ist. So gewiß wir selbst dem Geiste nach von der Natur verschieden sind, die uns umgiebt, so gewiß ist der Ewige, den keine Zeit und kein Raum umschließt, von der Welt verschieden, die er entstehen, fortdaucrn und vergehen laßt; davon, lehrt ein Weiser der Vorzeit, kommt alle Thorheit und Hoffart, wenn ein Mensch von Gott abfällt, und sein Herz von seinem Schöpfer weicht. Die Betrachtung vcsFrüh­ lings und der Religion vereinigen sich also beide in der ersten Grundwahrheit des Glaubens: der Herr ist es allein, der das Sichtbare und Unsichtbare schuf und es durch die Kraft feines ewigen

Wortes tragt. Aber eben so deutlich verkündigen uns

auch beide

Gottes unaussprechliche Herrlichkeit. Nicht umsonst freuen wir uns, freuet sich selbst der Sieche und Kranke auf den wiederkehrenden Frühling; alle Dichter, alle Völker der Erde haben ihn ja von jeher als die schönste Jahreszeit gepriesen; nicht umsonst haben sie feine milde duft, seine bunten Fluren, die Pracht seiner Blüthen mit den schönsten und entzückendsten Farben geschildert; der Heiland selbst erinnert uns an den Vorzug eines blähenden Gefildes vor den Schönheiten der Kunst in den bekannten Worten; selbst Salomo in aller seinerPxacht ist nicht bekleidet gewesen, wie eine dieser Lilien. Und wie viele Spuren der Weisheit entdecken wir nicht in diesen Ansichten, die uns weit über die Grenzen der irdi­ schen Natur hinausführen; welchen abgemessenen Gang in der Entwickelung des Pflanzenreiches, welche Sparsamkeit in der stufenwcisrn Enthüllung seiner Pracht, tyelches Zusam­ menwirken in der Bildung künftiger Keime, welche Sorgfalt zur Erhaltukrg und Ernährung der Thiere, welche Regel­ mäßigkeit der Triebe zu ihrer Fortdauer, welche Anstalten, nicht allein zu unserem Vergnügen, sondern auch zu pnserem Unterhalte in den mannichfaltigsten und erquik-

kendsten Nahrungsmitteln! Haben wir uns daher den Herrn der Natur bei der Schwachheit unserer Vernunft nur in dem allgemeinen Begriffe, haben wir uns ihn höchstens als einen großen, mächtigen und Alles umfassenden Geist gedacht, so erscheint er uns nun als der Herr und Meister aller Pracht und Schönheit, als aller Gute Vorbild und Urheber, als aller Liebe Quelle und Ursprung, als aller Kraft, alles Lebens, aller reinen und unaussprechlichen Wonne ewiger Grund und Besitzer. Herr, mein Gott, rufen wir dann bei dem Anblicke der wiedergebornen Schöpfung aus, du bist sehr herrlich, du bist schön und prächtig geschmückt: du bist groß und lieblich unter allen Völkern; wer kann sich satt sehn an

deiner Herrlichkeit; zu deiner Rechten ist Wonne und liebliches Wesen; du tränkest uns mit Freuden, als mit einem Strome. Haben wir sonst in unseren Tempeln, aus unsern heiligen Schrif­ ten, in unseren stillen Betrachtungen nur unseren Verstand mit Gott und göttlichen Dingen beschäftigt, so finden wir nun in dem weiten Tempel der Natur auch Nahrung für unsere Einbildungskraft und unser Gefühl; jeder freiere Schlag unseres Herzens sagt es uns, daß uns Gott un> aussprechlich mehr Gutes thun und gewähren kann, als wir bitten und begehren; selbst das Grab verliert nun seine Schrecken für uns, weil wir es lebendiger, als jemals ahnen, daß Gott dem reinen Herzen in jener Welt Freuden aufbewahrt, die kein Auge gesehn, kein Ohr gehöret hat, und die in keines Menschen Herz gekommen sind. Unverkennbar bieten sich also Betrachtungen des Frühlings und der Religion auch hier die Hand, weil uns beide die Herrlichkeit Gottes mit ausdrucksvoller Stimme verkündigen. Beide kommen endlich noch in der Belehrung überein, daß in unserem Geiste der Keim einer unverwelklichen Jugend liegt. Alles, was rings nm uns her grünt, blüht und sich erneuert, dauert, wie wir wohl wissen, nur kurze Zeit; je zarter, prächtiger und bewunderns-

würdiger eine Blume gcbauct ist, desto schneller welket sie

auch dahin; ein giftiger Thau, ein rauher Wind, ein glü, hender Sonnenstrahl kann alle diese Schönheiten zerstören.; und so, wie sie vergehen, wird auch unser Körper, wird der Reiche in seiner Habe, werden alle unsere irdi­ schen Hofnungen verwelken; die Statte, auf der wir stehen, sagt Hiob, verleugnet uns dann und spricht, ich kannte diesen Menschen nicht. Nur unser Geist kann mehr als einen Frühling, er kann Jahr­ hunderte, er kann die Ewigkeit erfassen; jede Wahrheit, von der er sich überzeugt, wird für ihn der Keim einer neuen Forschung; jede gute That, die er vollendet, der Trieb zu einer neuen Tugend; jeder Reiz, der unsere Augen weidet, die Erwartung einer höheren Schönheit und Blüthe; ,jedes Gut und jedes Erdenglück wird nach dem ersten Genusse schon für uns der Drang einer neuen Sehnsucht und der Durst nach einer neuen Seligkeit. Auch die Aeltcsten unter uns, die schon so viele Jahre hindurch die sich erneuernde Natur beobachtet und sich des wirderkehrenden Frühlings gefreut haben, sind von der Pracht und Schönheit der ver­ jüngten Schöpfung nicht gesättigt worden, sondern sehen er­

wartungsvoll einem neuen Himmel und einer neuen Erde entgegen, wo die reinere Blüthe der Unschuld, der Wahrheit und Liebe gedeiht. Welche Versicherung, daß wir cs sind, für welche die Natur alle diese Schönheiten her­

vorbringt; welche Andeutung, daß alle Freuden dieser Jah­ reszeit nur ein Anfang der höher» Herrlichkeit sind, wenn wir die gegenwärtigen Vergnügungen mit Besonnenheit und Weisheit genießen; welche Bürgschaft, daß alle Einsichten und Tugenden, die wir uns hier sammeln, nur der erste Grund der höheren Vollendung unseres Geistes sind, auf die wir schon jetzt mit freudigen Blicken hinaussehen! Ja, nur dem Körper nach vergehen wir, wie das Gras, und verwelken, wie des Feldes Blume; dem Geiste nach, sagt der königliche Sanger, werden wir immer blühen und frisch seyn, wenn wir schon alt werden; es ist der Keim einer ewigen Jugend, ei­ ner sich selbst erneuernden Kraft, eines sich immer freier und

schöner entwickelnden Lebens, den wir in den Tiefen unseres Inneren tragen; und darum ist uns auch ein unser« gänzliches Erbe, die nnverwelkliche Krone der Ehre aufbewahrt im Himmel, wenn wir durch un­ seren Glauben und die Reinheit unseres Herzens voll­ endet werden zur Seligkeit. Je freudiger sich aber unser Geist zu diesen Höhen, erhebt, desto muthiger und ge­ stärkter eilt er von ihnen wieder auf die weite Bahn des Lebens zurück; und auch hier kommen uns die Betracht­ ungen des Frühlings und der Religion mit vereinten Lehren und Vorschriften entgegen. Es ist unsrer Absicht gemäß, hierbei noch besonders mit unserer Aufmerk­ samkeit zu verweilen.

II. Daß wir berufen sind, unsere sinnliche Neigungen durch die Erwartung reinerer und heiliger Freuden zu mäßigen, ist die erste Vor­ schrift, die aus unseren hisherigen Betrachtungen fließt. In der gegenwärtigen Jahreszeit' erfahren wir dieses in ge­ wisser Rücksicht schon ohne unser Verdienst; es ist Niemand, der sich in diesen schönen Tagen nicht vergnügt, ermuntert und froher gestimmt fühlte; wer nicht ganz unempfindlich ist, der fleht die trüben und finsteren Neigungen der Gräm­ lichkeit, des Hasses und der Schwermuth allmahlig aus sei­ ner Brust verschwinden, weil sich sein Herz zu den freieren Empfindungen der Heiterkeit, der Liebe und des Wohlwol­ lens erweitert. Zu unseren irdischen und thierischen Nei­ gungen spricht die Religion mit derselben Klarheit durch den Mund des Apostels: lieben Brüder, ich ermahne euch als die Fremdlinge und Pilgrime, enthal­ tet euch von den fleischlichen Lüsten, welche wider die Seele streiten. Als sinnliche Menschen,

will er sagen, hattet ihr sonst nur sehr beschrankte Ansichten von Lebcnsglück und Freude, und überließet eben daher euch

niedrigen Begierden und Ausschweifungen; nun aber wisset ihr, daß ihr hier nur Pilgrime und Fr e m d l i n g e, daß ihr

zur höheren Gemeinschaft mit Gott berufen seid; es ist da. her auch eure Pflicht, euch der fleischlichen Lüste zu enthalten, die den Frieden eurer Seele stören, und das himmlische Antlitz eures Geistes in Schmach und Trauer hüllen. Und in der That, ist cs dtnn nicht die Klar, heit unseres Glaubens, vor welcher die Finsterniß einer wil­ den Begierde weicht; ist es nicht die Reinheit eines frohen Herzens, vor welcher die Wandelbarkeit einer niedrigen Lust verschwindet; ist es nicht die Freude eines in seinem Schöpfer seligen Gemüthes, vor welcher der Taumel be­ rauschender Triebe flieht? Kann der von den Empfindungen wahrer Liebe, von den beglückenden Gefühlen eines edlen Wohlwollens durchdrungen seyn, der ein kindliches Gemüth zu tauschen, der ein treues Herz zu berücken, der die Ein­ tracht einer friedlichen Ehe durch Schmeicheleien und durch die niedrigsten Künste der Verführung zu stören sucht? Kann der das herrliche Fest der in dem reinen Gewände der Un­ schuld wieder aufblühenden Natur mit würdiger Theilnahme seines Herzens feiern, dem die Schuld, dem schmerzliche Vor­ würfe und innere' Sclbstverachtung, dem die Schmach, dem die Verwünschungen und Fläche derer, die er getauscht, wel. chen er den Frieden ihres Lebens geraubt hat, auf allen Schritten folgen? Nein, sind wir als Christen bestimmt, die Tugenden des Unschuldigen und Heiligen zu verkündigen, der uns von der Finsterniß

berufen hat zu seinem wunderbaren Lichte; sind wir nur Fremdlinge und Pilgrime auf Erden, die dem himmlischen Vaterlqnde zueilcn, um Gott und den Erlöser mit reinem Herzen zu schauen; so müssen wir uns auch der Lüste enthalten, die wider die Seele streiten, und den heiligen Geist betrü­ ben, der uns verliehen ist auf den Tag unserer Erlösung; so muß auch unsere Liebe rein und heilig seyn, weil wir das Bild Gottes als Unsterbliche in unserer Brust tragen. Reiniget eure Hände, ihr Sünder, und machet eure Herzen keusch, ihr Wankelmüthigen; bewahre mich, o Herr» vor unreinem Ge-

n sichte und wende.von

mir alle böse käste;

laß

wich nicht kn Ueppigkeit, und Unkeuschheit ge­ rathen und behüte mich vor unverschämtem Herzen; das sind die Entsclstießungen und Wünsche, in welchen sich die Betrachtungen des Frühlings und der Reli­ gion vereinigen, weil uns beide ermuntern, unsere sinnliche Neigungen durch die Erwartung reiner und heiliger Freuden

zu ordnen. Beide fordern uns aber auch zu einer freundli­ chen Ordnung und Thätigkeit in den Geschäf­ ten unseres Berufes auf. In allen Reichen der Na­ tur finden wir nun Spuren eines regen und abgemessenen Wirkens; Bäche und Flüsse wallen friedlich ihre vorgezeich« ncte Bahn; Saaten, Pflanzen und Baume sind in einer sichtbaren und gleichförmigen Thätigkeit begriffen; so wie

die Sonne am Firmamente hervonritt, sieht man Alles in Bewegung, in Leben und Arbeit versetzt; und selbst die Thiere folgen ihrer Bestimmung mit einer Beständigkeit, mit einer Ordnung und Treue, die es uns vollkommen deutlich macht, daß sie, ohne es zu wissen, von einem höheren Gesetze regiert und geleitet werden. Die Religion legt uns durch die Vorschrift des Apostels dieselben Lehren und Ermah­ nungen nahe; wir sollen in dem Innern^ der Familie einen guten Wandel führen, auf daß die, so von uns aftcrreden als von Uibelthatern, un­ sere guten Werke sehen; wir sollen weder durch Un­ gehorsam, noch Widersetzlichkeit den öffentlichen Frieden stören, sondern Unterthan seyn aller menschli­ chen Ordnung um des Herrn willen; wir sollen Jedermann mit Freundlichkeit und Liebe begegnen und selbst unseren Feinden durch unsere Handlungen Achtung einflößen. Denn das ist der Wille Gottes, daß ihr durch Wohlthun verstopfet die Unwissenheit der thö­ richten Menschen. Und wir könnten diese goldenen Stunden des überall erwachenden Lebens in üppiger Weich­ lichkeit und in träger Ruhe verträumen; wir könnten da, w»

Alles außer uns sich regt und strebt und wirkt, uns einem schnöden Müßiggänge hingcben; wir könnten da, wo mit unglaublicher Betriebsamkeit so viele tausend Keime, Achren und Früchte zum Unterhalte und Segen der lebenden Schöps, ung vorbereitet werden, allein nur vorhanden seyn, uns in einer unrühmlichen Bequemlichkeit speisen, bedienen und er­ götzen zu lassen; ja wir könnten vielleicht noch Andere durch unsere beschrankten Ansichten, durch unsere stolze Herrschsucht, durch ein grämliches Tadeln und Meistern, ja selbst durch die Unwissenheit und das Afterreden thörich­ ter Menschen in der freien und heilsamen Thätigkeit ihres Berufes stören? Nein, fern sei cs von uns, daß

wir in diesen Tagen einer weisen und abgemessenen Regsam­ keit der erwachenden Natur den Vorwurf des Unfleißes und der Trägheit verdienen; fern sei es von uns, daß wir die friedlichen Beschäftigungen Anderer durch unsere Unruhe, durch unsere Vielgeschäftigkeit, durch Bitterkeit und Zwie­ tracht unterbrechen; fern sei cs von uns, denen, mit wel­ chen wir die Freuden dieser schönen Jahreszeit theilen sollen,, die Stunden einer unschuldigen Fröhlichkeit durch unsere Laune, durch unseren Eigensinn, durch unsere Unbilligkeit, oder Härte zu verbittern! Hat uns der Schöpfer so herrlich vor den Thieren durch die Vernunft ausgezeichnet, so wollen wir auch nicht vergessen, daß sie ein Vermögen der Kraft, der Ordnung und, Einheit ist; freudig und muthig wollen wir in unserm Berufe wirken, da die Werke des Herrn so viel und groß sind und er sie alle weislich ge­ ordnet hat: wir wollen als die Auserwählten Gottes anziehen herzliches Erbarmen, Liebe, Freundlichkeit, Geduld, damit Andere unsere guten Werke sehen und den Vater im Himmel preisen. Gerade jetzt vereinigt sich Alles, uns eine freund­ liche Ordnung und Thätigkeit in unserem ganzen Leben und Wirken zu empfehlen.

Zuletzt liegt aber in den Betrachtungen, mit welchen wir uns beschäftigen, noch die heilsame Vorschrift, die hö-

Here Entwickelung und Reife unseres Glückes mit kindlichem Vertrauen auf Gott zu erwar­ ten. So schön und reihend auch diese Tage find, so ge­ fallen fie uns doch nur als Tage der Vorbereitung und Hofnung; die Blüthe reizt und ergötzt uns zwar, aber Nahrung, Erquickung und Starke verheißt uns erst die künftige Frucht; da, wo wir schauen, dichten und bewundem, da verdoppelt der fleißige Landmann seinen Fleiß, um aus der Scgenshand des großen Wohlthäters zu seiner Zeit den Lohn seines Schweifes dankbar hinzunehmen. Die Religion giebt uns in Rücksicht auf die Hofnungcn eines glücklichern Schicksals dieselbe Ermahnung und Lehre; wir find zwar frei, und kön­ nen hundert Wege einschlagen, unseren Zustand zu verbessern und uns eines ersehnten Glückes zu bemächtigen; aber der Apostel erinnert uns doch schon weise, daß wir die Frei­ heit nicht zum Deckel der Bosheit und Willkühr, sondern als die Knechte Gottes haben, Gott fürchten und den König ehren. Harre auf den Herrn, lehrt die Schrift, und halte seinen Weg, so wird er dich erhöhen, daß du das Land erbest. Lasset uns nicht sagen, heißt es an einem andern Orte, heute oder morgen wollen wir in die Stadt gehen und Handthieren und ge­ winnen, wo ihr sagen solltet, so derHerr will und wir leben, wollen wir dies, oder das thun. Dieses kindliche Vertrauen soll uns denn von heute an in allen unseren Wünschen und Unternehmungen begleiten; sehen

wir uns schon in Hofnungcn getauscht, an welchen unser Herz mit großer Liebe hing, so wollen wir uns doch dadurch die Freuden der Gegenwart nicht trüben lassen; wir wollen noch weniger darüber niedergeschlagen und muthlos werden;

ruhig und fest des Besseren harrend, wollen wir thun, was uns geboten ist, und die volle Gewährung dessen, was wir uns wünschen, dem anheim stellen, der allein weiß, was uns gut ist. Durch Stilleseyn und Hoffen wol­ len wir stark seyn, weil es der Herr allein ist, der Alles thun kann; ihm allein wollen wir

vertrauen und auf ihn unsere Wege richten, daß er uns aushelfe; wer auf ihn gehoffet hat, ist noch nie zu Schanden worden. Auch uns wird er zuletzt gewahren, was «sich unser Herz wünscht; auch uns wird er herausreißen und zu Ehren bringen, wenn wir seinen Namen fürchten; auch uns ruft der heilige Dichter zur was quälst du dich, meineSeele, und bist so unruhig inmir? Harre auf den Herrn, denn du wirst ihm einst noch danken, daß er deines Angesichts Hülfe und dein Gott ist! Amen.

XXVI.

Am Sonntage Cantate. Evangel. Joh. K. XVI. V. S — 15.

Wie wichtig es für den Christen sei, von selbst an seinen künftigen Abschied j« denken.

v. Ammoii's Pred. D. N.

2

Herr, höre mein Gebet und vernimm mein Flehen, denn ich bi» Beides, dein Pilger und dein Bürger, wie alle meine Väter. Amen.

M. a. Z. Wer sich auf einer langen und weitaussehenden Reise befindet, der pflegt, wenn er besonnen und weise ist, auch seine ganze Aufmerksamkeit auf den Ort feiner Bestimmung zu richten, dem er in immer gleicher, oder wohl selbst beschleunigter Bewegung zueilt. Leichtsinnige und verblendete Menschen können sich dieses Gedankens wohl zu« weilen entschlagen; sie ergreifen jede Gelegenheit, sich zu zerstreuen und ihre Ankunft zu vertagen; unter mancherlei Vorwänden bleiben sie an jedem Orte liegen, der etwas für sie Merkwürdiges, oder Reihendes hat; unbedachtsamer Weise verschwenden sie oft die Mittel, welche hinreichen würden, sie zur Stelle zu fördern und sind daher noch weit vom Ziele, wenn die ihnen gesetzte und geordnete Frist läng­ stens abgelaufen und beendigt ist. Wer hingegen des End­ zweckes seiner Reise fleißig eingedenk bleibt, der zaudert und zögert auch nicht; dec bemüht sich auch, an jedem Abende da einzutreffen, wohin er am Morgen gestrebt hatte; der ist auch fest entschlossen, alle Hindernisse zu überwinden und jeden unnöthigen Aufenthalt zu vermeiden; der blickt im Geiste oft auf den Ort seiner nahen Bestimmung hinaus und bietet alle seine Kräfte auf, würdig vorbereitet, oder doch ohne Tadel und Vorwurf in seinen neuen Wirkungskreis



einzutreten.

Wenn daher die Stunde schlägt, wo er seine

Reisegefährten verlassen und seinen eigenen Weg betreten muß: so scheidet er muthig und getrost, so dankt er ihnen für die Beweise ihres Wohlwollens und ihrer Liebe; noch einmal verspricht er ihnen, bald sichere Kunde von seiner glücklichen Ankunft zu geben und reißt sich dann mit Dank gegen Gott, der ihn so treu geführt und geleitet hat, und mit der Hofnung des nahen Wiedersehens aus ihren Ar­ men los.

Wie ruhig, und zufrieden könnten wir nun Alle seyn, wenn unsere Reise durch das Leben immer mit ähnlichen Gesinnungen begonnen und vollendet würde! Unläugbar gewiß ist cs, daß wir Alle hier keine bleibende Stadt haben, sondern die künftige aufsuchen;

unser Leben ist eine Wallfahrt und Pilgerschaft nach dem Orte unserer künftigen Heimath; wir sind ohne Unterschied mit den nöthigen Kräften und Mitteln ausgerüstet, dieses Ziel unserer Bestimmung in einer würdigen Verfassung des Geistes zu erreichen; wir sollen daher auch fleißig an das bessere Vaterland denken, das uns bewillkommen und in sei­ nen freundlichen Schoos aufnchmen wird. Dennoch haben wir fast an keinem Abende so viel Weges zurückgelegt, als uns befohlen und bestimmt war; wir haben entweder langer ausgeruht, als wir sollten, oder uns auf lieblichen Seiten­ wegen verirrt, oder sind gar thörichtcrweise auf unsere alte Spur zurückgegangen und dadurch nicht ohne Schmach und Rene von unserem Ziele entfernt worden. Dennoch halten wir uns nicht zu den alten, treuen und würdigen Gefährten unserer Reise, die uns bisher so wohl geführt, so freundlich erinnert, so wohlwollend unsere Last erleichtert haben, son­ dern hören lieber auf jeden Thoren und Abentheurer, der uns anspricht, der uns verführt und zu sich einladet, dcr uns unsere Zeit und Kraft raubt und Uns dann, betrogen und verspottet, auf der einsamen Straße zurücklaßt. Was aber das Sonderbarste von dem Allen ist, wir denken nicht einmal gern an das Ziel unserer Reift; wir öfncn nicht einmal die Augen, es zu sehen, daß wir einer neuen Kleidung und Nah-

rung bedürfen; wir wollen nur reisen, um uns zu zerstreuen und zu ergötzen, und überlassen es dem Zufall, wohin er uns führen, oder verführen will; ehe wir es ahnen sind unsere Kräfte dahin, unsere Mittel verschwunden, und wir stehen arm, verschuldet und entblößt in einer Wüste, wo wir uns von Gott und Menschen verlassen sehen. Könnt ihr euch nun wundern, wenn diese verkehrte Lebensweise einen sehr unangenehmen und widrigen Anblick darbietet; wenn man in ihr überall nur Krümmungen, Abwege und Verirrungen findet; wenn der leichtsinnige Pilger da gar nicht ankommt, wo er so fteundlich und väterlich erwartet wurde, sondern fern von dem Ziele seiner Bestimmung in einer traurigen Ge­ stalt erscheint; wenn seine vorsichtiger wandelnden Freunde ihn da mit Schmerz und Kummer vermissen, wo sie sich ge­ meinschaftlich freuen und mit Dank und Preis gegen Gott auf die überwundenen Gefabren ihres Pilgerpfadcs zurück­ sehen sollten! So wichtig ist es für uns Alle, nicht allein zu reisen, wie uns obliegt, sondern auch auf das Ziel und Ende unserer Wallfahrt fleißig hinaus zu blicken und so recht ernstlich an die Stunde des Abschiedes zu denken, die uns, wenn wir da sind, wo wir seyn sollen, nicht allein keine bittere, sondern vielmehr eine frohe und herzerhebende Em­ pfindung gewähren wird. Unsere heutige Andacht soll da­ her dieser heilsamen und folgenreichen Betrachtung gewidmet

seyn. Wir sammlen uns, ihre Lehren zu fassen, nun ge­ meinschaftlich in stiller Andacht rc. Evangcl. Joh. K. XVI. V. 5 — 15. Nu» aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und niemand unter euch fraget mich: Wo gehest du hin? Son, dcrn, dieweil ich solches zu euch geredet habe- ist euer Herz voll Trauerns geworden. Aber ich sage euch die Wahrheit: cs ist euch gut, daß ich hingehe. Denn so ich nicht hingehe, so kommt der Tröster nicht zu euch. So ich aber hingehe, will ich ihn zu euch senden. Und wenn derselbige kommt, der wird die Welt strafen, um die Sunde, und um die Gerechtigkeit, und mit das Gericht. Um die Sünde, daß sie nicht glauben an mich. Um die Gerechtigkeit aber, daß ich zum Vater gehe, und

22 ihr mich hinfott nicht sehet. Um das Gericht, daß der Fürst dieser Welt gerichtet ist. Ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnet es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, der wird euch in alle Wahr­ heit leiten. Denn er wird nicht von ihm selbst reden; sondern was er hören wird, das wird er reden , und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen. Derselbige wird mich verklaren; denn von dem Meinen wird er es nehmen, und euch verkündigen. Alles, was der Vater hat, das ist mein; darum habe ich gesagt: Er wird es von dem Meinen nehmen, und euch verkündigen. Wie stark und mächtig auch für Jesum, unseren Herrn, die Versuchung war, sich des traurigen Gedankens an das Ende eines Lebens zu entschlagen, daS er so wenig genossen hatte; so sehen wir doch aus dem Inhalte unseres Evangelii, daß es tief von ihm erfaßt und durchschauet worden war. Dennoch hatten seine Freunde und Schüler Alles gethan, ihn von dieser ernsten Erinnerung abzuziehen, und sie würde daher ganz vor ihm vorübergegangen seyn, wenn er sich ihrer nicht selbst bemächtigt und die fruchtbarsten Betrachtungen aus ihr abgeleitet hatte. Dieses erhabene Beispiel Jesu soll denn auch uns ermuntern, es heute wohl zu erwägen, wie wichtig es für den Christen sei, des künftigen Abschiedes von seinen Freunden freiwillig ein­ gedenk zu seyn. Eine lange Reihe von Gründen ließe sich mit leichter Mühe für diese oft vergessene Pflicht auf­ führen; es wird indessen nöthig seyn, uns nur auf die zu beschränken, die in unserem heutigen Evangelium enthalten sind. Das verbindet uns aber zu dem fleißigen Andenken an unseren Abschied, einmal, weil uns unsere Freunde selbst nicht leicht an ihn erinnern, dann aber auch deswegen, weil wir dadurch am Besten für unser Heil und das ihrige sorgen.

I. Des

künftigen

Abschiedes

von

unseren

Freunden freiwillig eingedenk zu seyn, ist zu« erst schon darum wichtig für uns, weil wir von ihnen

diese Erinnerung nicht kchcht zu erwarte« habe«. Sie spreche« überhaupt nicht gern vom Lode; sie werden leicht wehmüthig, wenn man diese« Gegenstand berührt; und bedenken daher auch das Wohlthätige der uns von Gott verordne­ ten Trennungen nicht. Das wird uns manche Auf­ klärung über unsere eigene Art j« denken geben.

Kaum dürfen wir ermatten, daß uns unsere Freunde an unseren Abschied von ihnen erinnern werden, weil sie über­ haupt nicht gern von dem Tode sprechen. Nu« gehe ich hin ju dem, der mich gesandt hat, er­ innerte Jesus, und Niemand unter euch fraget mich, wo gehest du hin? Bei einer so ernstlichen und folgenreichen Verbindung, wie diejenige war, in welcher die Jünger Jesu mit ihrem Meister standen, konnte man wohl erwarten, daß sie auf den Fall seines Todes hätten Bedacht nehmen sollen; aber in ihrem kräftigen Mannesalter gaben sie keinem Gedanken dieser Art Raum, wie oft ihn auch, der erhabene Meister bei ihnen geweckt und angeregt hatte. So betragen sich fortwährend auch unsere Freunde und Bekannte in Rücksicht auf die unvermeidliche, vielleicht nahe Trennung, die uns von ihnen bevorsteht; sie fragen uns nicht, wo gehest du hin? Sie weichen häufig selbst dem Gedanken M unseren Abschied mit großer Vorsicht und Aengstlichkeit aus. Gewiß geschieht das nicht immer aus Menschenliebe und ei­ ner wohlwollenden Zartheit des Gefühls; denn haben sie nur einige Hofnung, die Erben unserer Güter, oder unsere Nachfolger im Amte zu werden, so machen sie uns nicht sel­ ten das Leben sauer genug und können die Stunde kaum er­ warten , wo sie uns von unserem Posten abtreten und aus unserem Wirkungskreise verschwinden sehen. Nein, darum gedenken sie in der Regel unseres Hinganges in die unsicht­ bare Welt nicht , weil er sie von selbst auch an den ihrigen erinnert; sie fürchten, sie scheuen den Zuruf des heiligen Dichters, gedenke, daß dein Leben ein Ziel hat, und daß du davon mußt; sie hangen so fest und innig an

der freundlichen Gewohnheit, in diesem Körper zu seyn und zu wirken, daß ihre Augen gehalten werden, nicht hinaus in die Zukunft zu schauen: wie oft ihnen auch der Apostel zuruftr suchet, was droben und nicht das, was auf Erden ist, so ist ihr ganzes Streben und Wirken doch nur aufdas Zeitliche und Sichtbare und nicht auf das Höhere und Unsichtbare gerichtet. Es ist mithin klar und begreiflich genug, warum wir von ihrer Seite nicht leicht eine Mahnung, an den Abschied von ihnen zu erwarten haben. Daher denn auch ihre sichtbare Wehmuth, wenn dieser Gegenstand dennoch zur Sprache kommt. Sondern, dieweil ich solches zu euch geredet habe, spricht der Herr, ist euer Herz voll Trauerns geworden. An sich war nun zwar diese Empfindung der Schüler Jesu noch keinesweges tadelnswerth; je größere Verdienste sich ihr erhabener Meister als Lehrer und Freund um sie erworben hatte, desto tiefer mußte sie auch sein bevorstehender Verlust betrüben; es war also natürlich und gerecht, daß sie diesem schmerzlichen Ereignisse

mit Furcht und Bestürzung entgegensahen. Aber leider mischte sich diesem wehmüthigen Gefühle auch ein eigennütziges und selbstsüchtiges bei; die Jünger erschrocken nemlich vor den

schweren Pflichten, die sie nun in dem unerwarteten Berufe übernehmen sollten; sic trauerten über die Vereitelung der so lang genährten Hofnung, bald zur Rechten und Linken in seinem Reiche zu sitzen; sie hatten nicht Muth genug, große Gefahren zu bestehen und für die Gryndung und Erweiterung des Reiches Gottes auf Erden zu kämpfen. Etwas Aehnliches ereignet sich aber fast noch im­ mer , wenn die nahe Trennungsstunde zufällig in der Mitte unserer Freunde besprochen wird; es ist wohl begreiflich und erklärbar, warum sie dieser Gedanke betrübt und das gesenkte Auge mit heißen Thränen füllt; es kann das sogar ein achtungswürdiges und edles Gefühl reiner Liebe und Dank­ barkeit seyn, welches ihr bewegtes Her; ergreift und es mit inniger Rührung durchdringt. Aber wie oft ist es doch nur die gestörte Gewohnheit eines freundlichen Zusammenlebens

und Wirkens, welche diesen Schmerz erzeugt; wie oft be­ dauert man einen nahen Verlust nur darum, weil man eines Gönners, eines Wohlthäters und Beschützers beraubt wird; wie oft fürchtet man seinen angekündigten Hingang einzig deßwegen, weil man nun Manches entbehren, weil man nun sorgen, wirken und fleißiger arbeiten muß; wie oft trauert man nur einzig deßwegen über den sterbenden Freund, weil man den Tod als das höchste und trostloseste Unglück be­ trachtet und in der Nahe des eigenen Grabes von jeder Hofnung und Zuversicht verlassen wird! O das Mitleid mit dem armen, scheidenden Bruder ist ja fast immer das erste Wort, was man aus dem Munde der Hinterlassenen vernimmt; man hat es kaum ausgesprochen, so ertönt auch schon die laute Klage über das, was man mit ihm eingcbüßt und verloren hat; der Schmerz der Leidtragenden wird nun immer heftiger und ungestümer, je lebendiger das Gefühl ihrer Armuth, ihrer Einsamkeit und ihres Elendes ist; so wie von der an­ dern Seite die Thränen der Hinterlassenen weit sanfter fließen und schneller vertrocknen, wenn sie als wohl, oder reich bedachte Erben jeder bekümmernden Sorge für die Zukunft ent­ hoben sind. Wollten wir daher das Ziel unserer Lebenstage nur dann in das Auge fassen, wenn wir von unseren Be­ kannten daran erinnert würden; so haben wir hinlängliche Ursache zu glauben, daß dieses nie, oder doch nur selten ge­ schehen mögre. Denn wenn sich dieser Gedanke auch einmal im Laufe des Gespräches darbietet, so muß er doch aus der Seele der Unsrigen bald weichen und verschwinden, weil ihr Herz über ihm voll Wehmuth und Trauer wird. Von dieser Gewohnheit werden sie auch nicht leicht ab­ gehen, weil ihnen-überhaupt das Wohlthätige der von Gott verordneten Lebenstrennungcn verborgen bleibt. Ich.sage euch die Wahr­ heit, fahrt Jesus fort, es ist euch gut, daß ich hin­ gehe; denn so ich nicht hingehe, so kommt der Tröster nicht zu-ruch. Alles, was der Herr bisher ge-

lehrt, gethan «nd gewirkt hatte, war zwar rein, untadelhaft, herrlich und treflich; nur Eines stand der vollen Wirkung seiner Religion noch im Wege, seine Gegenwart und Person', lichkeit. Diesem mißfiel er als Jesus von Nazareth; einem Andern als der Sohn des Zimmermanns; einemDritten, weil er nicht fastete, wie Johannes der Täufer; einem Vierten wegen seines Umganges mit Zoll« nern und Sündern. Er mußte hingehen und aus ihrer Mitte hinweggenommen werden, um mit der vollen Kraft der Wahrheit auf ihre Seele zu wirken und ihnen den geistigen Beistand und Tröster zu senden, dessen sie bedurften. Wie das aber die Schüler des Herrn nicht sahen und glaubten, so erkennen auch wir oft das Wohlthätige der Trennungen nicht, welche Gott verfügt und über Scheidende und Zurückbleibende verhängt hat. Wir denken nicht daran,

daß der Herr unsere Lebenstage bestimmt und sie in seinem Buche verzeichnet hat, noch ehe einer von ihnen war; wir achten nicht darauf, daß er kein Gott der Todten, sondern der Lebendigen ist und daß in seinem Vatcrhause viele Wohnungen sind; wir vergessen es, daß unsere Scheidenden aus. dem Scheinleben dieses Körpers zum wahren Leben hin» durchgedrungen und in das Bild des himmli­ schen Menschen gekleidet sind; wir erwägen nicht einmal die sittlichen Vortheile, die uns die Trennung von ihnen gewahren kann. Oder wie, harren die Besseren unter unseren Scheidenden nicht selbst auf ihren Wechsel und sehnest sich nach des Leibes Erlösung; müssen sie aus den Vorderreihen nicht abtreten, um der Schaar der sich Nachdrängenden vollen Raum zu gewahren; ist für die, welche zurückbleiben, nicht oft Entbehrung, Mangel und Sorge eine trefliche Schule der Vollkommenheit und sittlichen Bildung; ist der Arm des himmlischen Vaters verkürzt, ihnen Freunde, Wohlthäter und Beschützer zu erwerben; und waS das Wichtigste von dem Allen ist, wissen wir einen würdi­

gen Amtsgenossen, einen weisen Lehrer, einen edlen Gatten «nd Vater nicht erst dann nach seinem wahren Werthe zu

schätzen, wenn er uns entflohen, wenn er uns genommen und in eine höhere Welt entrückt ist? O das ist ja unsere große Schwachheit, daß wir auch an den Edelsten, die in unserer Mitte leben, immer etwas zu tadeln und zu meistern finden; je ausgezeichneter ihre Vollkommenheit und Tugend ist, desto mehr steht sie auch unserer Mittelmäßigkeit, unserem Neide, unserer Eifersucht und Eigenliebe imWege; ihre Ge­ genwart, ihre Persönlichkeit drückt, reizt und bewegt uns, und wir thun die verblendeten, die schuldigen Augen dann erst über ihre wahre Würde auf, wenn wir sie nicht mehr

sehen und schauen, sondern nur denken und ihr geistiges Bild erfassen können. Wenn daher Andere durch mannichfache Gründe abgehalten werden, uns an die bevorstehende Trennung von ihnen zu erinnern, so müssen wir daS frei­ willig und von selbst thun, weil wir dadurch auch am Besten für unser eigenes Heil und für das ihrige sorgen, und so als würdige Verehrer Jesu

auch in den Fußstapfen unseres großen Meisters wandeln. Das ist die zweite Ansicht dieser oft vergessenen Wahrheit, die uns unser Evangelium eröffnen wird.

IL Wenn wir, auch unerknnert von unseren Freunden, doch von selbst an unseren künftigen Abschied denken; so sorgen wir dadurch am Besten für unsere ge­

meinschaftliche Wohlfahrt; denn unsere Fort­ dauer wird dann seliger, unser Andenken den Hinterbliebenen ehrwürdiger, und unser Bei­ spiel für sie wirksamer werden. In dem Leben Jesu unseres Herrn, finden wir für alle diese Behaup­

tungen die sprechendesten Beweise. Gewiß wird unsere eigene Fortdauer seliger seyn, wenn wir unseres künftigen Abschiedes fleißig einge­ denk find. Wenn aber der Tröster kommt, spricht Jesus, so wird er die Welt strafen um die Ge-

rechtigkeit, daß ich zum Vater gehe; das heißt, er wird Jedermann überzeugen, daß ich zum Vater er­ höht, daß ich im Geiste gerechtfertigt und aus­

genommen bin in die Herrlichkeit. DervonJcsu so oft wiederholte Gedanke, wiederum verlasse ich die Welt und gehe zum Vater, hatte also für ihn selbst die Folge, daß sich sein Geist erhob, daß ihm sein himmlischer Beruf immer deutlich vor Augen schwebte, und daß er nun am Schlüsse seiner Laufbahn von dem Vater auch verklart wurde mit der Klarheit, die er bei ihm hatte, ehe die Welt war. Wird denn aber ein fleißiges Andenken an unseren künftigen Abschied auch für uns nicht wirksam und scgensvoll werden; wird es uns die vergeltende Ewigkeit nicht klar und deutlich vor Augen fiellen; wird cs uns nicht tiefer in unser Inneres hereinführen und uns die Quellen der Pflicht und Tugend öfnen, wird es unseren Wünschen und Begehrungen nicht eine höhere

Richtung geben und uns von allen Seiten auffordern, Schätze für den Himmel zu sammlen, die weder Motten noch Rost verzehren können? Ja, ihr Leichtsinnigen, die ihr die Erinnerung an den bevorstehenden Abschied nur für ein eitles, unnützes Eedankenspiel der, sich selbst peinigenden Schwermuth haltet, ihr tauscht und be­ trüget euch selbst; denn je öfter und tiefer wir in die Dun­ kelheit des Grabes hinabblicken, desto höher schwingt sich auch unser Glaube, desto kräftiger wird auch in uns die Hofnnng unseres künftigen Berufes; desto leben­ diger wird auch in uns der Vorsatz, der Heiligung nachzujagcn, ohne welche Niemand wird den Herrn schauen. Je öfter wir uns also mit der Betrachtung be­ schäftigen, bald werdet ihr mich nicht mehr sehen, denn ich gehe zum Vater, desto ernster wird auch unsere Weltansicht, desto reiner und edler unser Wille, desto treuer unsere Liebe zu Gott seyn, damit unser in Christo ver­ borgenes Leben bald mit ihm offenbar werde in seiner Herrlichkeit. Ja, Christus ist mein Leben und Sterben mein Gewinn; der Tag meines Todes ist besser, als der Tag meiner

Geburt; das wird, das muß nach GotteS weiser Ordnung jeder Christ an sich selbst erfahren, wenn er die ernste Frage häufig an sich selbst richtet: wo gehest du hin?

Nun wird aber auch unser Andenken den Hin­ terbliebenen ehrwürdiger und heiliger werden. Wenn aber der Tröster kommt, fährt Jesus fort, so wird er die Welt strafen um die Sünde, daß sie nicht an mich glauben. Hatte der Herr uneingedenk der nahen und schmerzlichen Trennung von seinen Schü­ lern sich nur mit der Wiederherstellung des jüdischen Reiches, oder mit dem Glanze der irdischen Königswürde beschäftigt; so würde er zwar den Beifall unruhiger Eiferer und Em­ pörer, aber auch wahrscheinlich bei der großen Macht der Römer seinen Untergang gefunden und dadurch nur das Ver­ derben seines Vaterlandes beschleunigt haben. Der Gedanke, des Menschen Sohn gehet hin, wie es beschlos­ sen ist, erzeugte daher bei ihm den frommen Entschluß, gehorsam zu seyn bis zum Tode am Kreuze; er verlieh ihm Muth, der Wahrheit das Zeugniß zu geben und sie mit seinem Blute zu versiegeln; der Rath Gottes, durch ihn nicht allein das jüdische Volk, sondern die ganze Menschheit zu erlösen, wurde nun offenbar, und der Geist Gottes strafte nun die bethörte Welt um die Sünde, daß sie ihn verworfen und nicht an ihn geglaubt hatte. Das läßt sich aber auch auf

uns und auf die Erinnerung unseres nahen Abschiedes be­ ziehen. Denn weichen wir, wie das so oft geschieht, diesem Gedanken aus, so können wir zwar unseren irdischen Nei­ gungen freien Raum gestatten und mit unseren Freunden alle Reitze und Vergnügungen des sinnlichen Lebens theilen; wir werden dann auch wohl, wenn wir unerwartet von ihnen scheiden müssen, von ihnen als ein gleichgesiilntcr Reisege­ fährte durch das Leben vermißt, beklagt und betrauert werden. Aber ihre Traurigkeit ist nur gemeine Liebe und keine Achtung; sie werden uns bald vergessen, weil sie sich selbst vergessen; wie die Blume verwelkt, mit der sie unser

Grab bestreuen, so wirb auch unser Gedächtniß schnell vor­ übergehen und wie ein Schatten verschwinden. Sind wir hingegen unserer bevorstehenden Trennung, und mit iHv unseres höheren Berufes im Reiche Gottes fleißig einge­ denk, so stellen wir uns auch höher in der Meinung un­

serer Freunde; so rufen sie sich, wenn wir nicht mehr in ihrer Mitte sind, unsere Worte, unsere Lehren und ErMahnungen ernster und nachdrücklicher in das Gedächtniß zurück; manche Erinnerung, mancher Vorwurf und Tadel, den sie sonst zu scharf und zu streng fanden, erscheint ihnen nun als weife und wohlbegründet; sie strafen sich nun selbst um ihrer Widerspenstigkeit und Sünde willen und holen das gerührt und mit Thränen stiller Reue nach, was sie bei unserem Leben versäumt und vorsätzlich unterlassen hatten. Freunde, die ihr in eurem Berufs in eurem Umgänge und Familienkreise so oft tadelt, strafet^

verweiset und scheltet, und doch nirgends eine heilsame Frucht eures Unwillens und eurer Ermahnungen erblicket, fasset den Sinn und Geist dieser wichtigen Bettachtung; wisset, daß man eure Lehren und Vorwürfe nur darum versäumt und verspottet, weil sie nur flache Worte eitler Weltkinde» aber nicht tiefe, , kräftige und aus dem innigen Gefühle eurer Unvcrganglichkeit geschöpfte Lehren sind. Man würde euch weit bereitwilliger und aufmerksamer hören; man würde dann noch, wenn ihr nicht mehr auf Erden wandelt, eurer Person ein achtungsvolles und ehrerbietiges Andenken widmen, wenn ihr jetzt schon mit eurer nahen Trennung vertraut wäret und daS künftige Leben er­ griffen hattet. Denn nun wird unser Beispiel auch für die Nachwelt wirksamer werden. Der Geist der Wahrheit, verheißt der Herr seinen Schälern, wird

euch in alle Wahrheit leiten; er wird es von dem Meinen nehmen und es euch verkünden. Je näher die Stunde der Trennung kam, desto tröstlicher mußte den Jüngern die Versicherung seyn, haß er sie

nicht verwaiset lassen, sondern sie von feinen himm­ lischen Höhen herab noch leiten und regieren werde. Aber

diese Leitung bezog sich auf das, waS Jesus auf Erden gethan und gesprochen hatte; sie war eine Erinnerung an seine weisen Lehren und an fein heiliges Leben; wir wissen wie ihn der Tröster in den Seelen der Jünger verklärt und zum Vorbild« für ihren gan­ zen Wandel erhoben hat. Wir Alle sind nun zwar in dem Reiche Gottes niedriger gestellt; wir können daher den Geist der Wahrheit nur empfangen, den der Herr gesendet hat; aber wenn wir unS von ihm leiten lassen, daß er in unS das Wollen und Voll­ bringen schaffe nach seinem Wohlgefallen, so können wir auch sicher sey», baß er uns im Tode nicht verlassen, daß er uns vielmehr zum höheren Leben vor­ bereiten, daß er durch die Erinnerung an unsere Tu­ genden in den Herzen der Unsrigen fvrtwirken, und so jene unsichtbare und sittliche Gemeinschaft unterhalten werde, die von den wichtigsten und segensreichsten Folgen ist. Oder denkt ihr, wenn ihr die Gräber der Eurigen besucht, nur an ihre Gestalt, die sich zu euren Füßen in Staub

und Asche verwandelt; ist es nicht ihr seliger und ver­ klärter Geist, der euch umschwebt und mit tiefer Rührung erfüllt; ist es nicht das Beispiel ihres Fleißes, ihrer Sittenreinheit, ihrer Frömmigkeit und ihres Vertrauens, das euch klar vor Augen steht und euch ermuntert, ihrem Glauben nachzufolgcn; habt ihr im Laufe dieser heilsamen Erinnerungen nicht oft Thränen inniger Weh­ muth und Reue vergossen und zu eurer Besserung, oder doch zu eurer Befestigung im Glauben die kräftigsten Ent­ schließungen und Vorsätze gefaßt? Heil euch also, wenn ein fleißiges und freiwilliges Andenken an euren nahen Abschied von der Erde euch diese selige, diese gedoppelte Unsterblichkeit bereitet; wenn der Geist der Wahrheit eure in Gott vollbrachten Thaten würdig findet, fie in den Seelen eurer Freunde noch in Reitze zur Liebe und zu guten Werken zu verwandeln! Das wird euch in

32 einer hohem Welt noch große Freude seyn; das wird ein Band heiliger und unauflöslicher Gemeinschaft zwischen euch und euren Geliebten, zwischen Himmel und Erde knüpfen; das wird euch, die Scheidenden, und eure Hin­ terlassenen vorbereiten auf die frohe Stunde des Wieder­ sehens, wo euch nichts mehr trennt und ewige, Wonne über eurem Haupte ist. Amen.

XXVII. Am Sonntage Rogare. Text: Psalm VIIL V. 1. 2. Heilsame Erinnerungen an die Religion der Kindheit.

Herr, welche Liebe hast da uns erzeigt, daß wir deine Kinder

heißen!

M.

a. Z.

Dir sei Ehre und Preis in Ewigkeit. Amen.

Wenn die Religion, wie sich nicht bezweifeln

laßt/ in der innigsten Gemeinschaft unseres Inneren mit dem höchsten Wesen besteht; so muß sie ein geistiges Band seyn, welches Gott selbst um uns geschlungen hat, daß es von uns freiwillig erfaßt und immer fester geknüpft werde. Gewiß hat Gott selbst das geistige Band der Erkenntniß, Ehrfurcht und Liebe geknüpft, mit dem er uns zu sich zieht aus lauter .Güte; das ist so und kann nicht an­ ders seyn, da wir von Natur gar nicht geneigt sind, uns Jemandem zu unterwerfen und abhängig von seinem Willen zu werden; auch ist der Herr unserem natürlichen und sinnlichen Verstände, mit dem wir in die Welt eintrcten, fb verborgen, daß wir uns kaum entschließen würden, ihn zu suchen und gläubig zu erfassen, wenn er nicht selbst, wie ein Licht aus den Wolken, hervo»träte und einen Hellen Schein seiner Erkenntniß und Erleuchtung in unsere Herzen sen­ dete. Jede Religion, auch die natürliche, fließt daher unläugbar aus einer Offenbarung der göttlichen Majestät und Herrlichkeit; sie kann nur eine Folge des Unterrichtes seyn, den uns Gott selbst über die Vollkommenheit seines unsicht­ baren Wesens ertheilt; nur eine Frucht der Liebe und Dank­ barkeit für seine wohlthätigen Führungen, die wir in jedem Wechsel unseres Lebens wahrnehmen; nur eine Wirkung des lebendigen Bewußtseyns seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit, das ivir Gewissen und den inneren Richter unserer Hand­ lungen nennen. Aber wie sichtbar uns auch der ewige Vater Alle mit diesem Bunde seiner Wahrheit und Liebe umfaßt, so ist cs doch keine Kette der Nothwendigkeit, der -linden

3*

Gewalt, die uns binden und fesseln soll; so haben wie doch keinen knechtischen Geist empfangen, daß wir uns abermals fürchten müßten. Nein, die wahre Religion, als Glaube, Wort und That muß immer eine reine Frucht unserer Freiheit und geistigen Selbsithatigkeit seyn; aus dem Glauben zum Glauben, aus der Frei­ heit zur Freiheit, aus der Gnade zur Gnade, aus dem Lichte zum Lichte; das ist das Geheimniß des Reiches Gottes, welches unser Heil für Zeit und Ewig­ keit umfaßt; cs kann, es wird das Jeder an sich selbst er­ fahren, der mit dem Geiste der wahren Religion vertraut ist. Dennoch ist es gerade dieses freiwillige Ergreifen und Anknüpfen des himmlischen Bandes, das uns als Kinder mit dem Weltcnvater vereinigen soll, oder, wie es die Schrift nennt, das freiwillige Aufnehmcn des Reiches Gottes, wozu sich unser Eigenwille schwer entschließt, ja was er oft zu unserem eigenen Verderben mit großer Hart­ näckigkeit verweigert. Würdige Väter und Mütter bieten Alles auf, ihre Kinder durch Unterricht und Wohlthat, durch Liebe und Zärtlichkeit zu gewinnen; aber wie sehr ihnen das auch zuerst zu gelingen scheint, so kommen doch bald die Jahre herbei, wo sich ihnen die Kinder widersetzen, weil sie die Abhängigkeit von den Eltern für ein hartes Joch und eine schwere Last halten. Weise Obrigkeiten sind unermüdet darauf bedacht, durch die Sorge für daF Gemeinwohl die Liebe und Dankbarkeit ihrer Unterthanen zu gewinnen; den­ noch fehlt es nicht an Widerspenstigen, die durch Wort und That das Panier des Ungehorsams aufrichtenr lasset uns zerreißen ihreBande und von uns werfen ihre Seile. Keine Anlage unserer Ratur artet so leicht aus und bewegt sich dann so regellos und ungebehrdig, als un­ sere Freiheit; wir schonen bei ihren ersten und ungestümen Versuchen weder Vater noch Mutter, weder Freund noch Feind, wir schonen uns selbst und unsere eigene Wohlfahrt Uicht; gleich einem wilden und ungebändigten Rosse durch, brechen wir da alle Schranken göttlicher und menschlicher Gesetze. Ist das aber einmal geschehen, so fühlen wir uns zwar in dem regellosen Zustande unserer wilden Freiheit vcr-

lassen und unwohl, fürchten aber auch zu gleicher Zeit die

heilsame Züchtigung der verletzten Pflicht, und kehren darum auch in die Schranken der sittlichen Ordnung ungern und so spat, als möglich, zurück. Können wir das nun sehen, erfah­

ren und wahrnehmen, ohne uns zu fragen, ob wir uns nicht in demselben, oder einem ähnlichen Falle befinden; ob Nicht

auch wir, hier in der offenen That, dort nach dem verborge­ nen Sinne des Herzens in einem gesetzlosen Zustande leben;

ob nicht auch wir das Band der Wahrheit und Liebe von uns geworfen haben, mit dem uns Gott bei unserem Eintritte in die Welt umschlungen hatte,- ob mit einem Worte die Religion der Unschuld und Kindheit, an die sich der Fromme und der Sünder mit stiller Ehrfurcht erinnert, noch die unsrige

sei? Gewiß sind -Wenige unter unS, bei welchen die Beant­ wortung dieser Fragen nicht ernste, lehrreiche und fruchtbare

Erinnerungen wecken müßte.

Ihr sei daher unsere

ganze

Aufmerksamkeit in dieser Stunde der Andacht gewidmet. Im stillen Gebete erflehen wir uns hierzu den Geist des Lichtes und der Kraft rc. Text:

Psalm VHL V. 1. 2.

Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen, da man dir danket im Himmel! Ans dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge hast du dir eine Macht zugcrichtet, um deiner Feinde willen, daß du vertilgest den Feind und den Rachgierigen.

Das ganze Gedicht, ans dem die vorgelescnen Worte ge­ nommen sind, ist ein herrlicher Lobgesang der Größe und Majestät Gottes, die sich in allen seinen Werken offenbaret. Der heilige Sanger spricht hier nicht allein von der würde­

vollen Bestimmung des Menschen, die ihn, mit Ehre und Schmuck gekrönt, den Engeln nahestellt, zu welchen er durch seine geistigen und sittlichen Anlagen hinanreicht;

sondern er zahlt auch die vielen Gaben und Geschenke auf, die ihn zur Dankbarkeit gegen seinen Schöpfer verpflichten

und sein Gemüth zum.Himmcl erheben sollen. Er geht hier bis auf die Kinder und Säuglinge zurück, die durch

ihr freudiges Bekenntniß Gottes den Ungläubigen beschämen und den Feinden des himmlischen Reiches ihr wohlverdien­ tes Urtheil sprechen. Das soll denn auch uns nicht ver­ gebens gesagt seyn, sondern heilsame Erinnerungen an die Religion der Kindheit in unserer Seele wecken. Wir wollen aber diese Erinnerungen zuerst bei uns erneuern, dann aber sehen, wie sie für uns heilsam werden können.

I. Die Erinnerung an die Religion der Kind­ heit führt uns die wichtigsten Eigenschaften derselben in dasGedächtniß zurück; den Glau­

ben der Unschuld, den Gehorsam derLiebe, und das Gebet des dankbaren Vertrauens. Mögten doch diese Vorzüge bei uns selbst indessen nicht ge­ schwächt, oder vermindert worden seyn ! Der Glaube der Unschuld ragt zuerst auf dem Gebiete der kindlichen Religion als eine entschiedene Vollkommenheit hervor. Aus dem Munde der Kin­ der und Säuglinge hast du dir eine Macht zu­ gerichtet, um deiner Feinde willen; das ist die Macht des Lobes und Preises, mit der schon das Kind bald nach dem Erwachen des Bewußtseyns die Regung, seines Glaubens verräth. Geweckt muß zwar dieser Glaube, wie alles Göttliche in uns, durch Ansprache und Unterricht wer­ den; aber nach einer kurzen Anregung wird doch der Ge­ danke an den himmlischen Vater aus der Seele des Kindes mit wunderbarer Kraft hervortreten; es wird bald in ihm seinen Schöpfer, seinen unsichtbaren Freund und Wohlthäter erkennen; es wird es fühlen, daß es mit ihm verwandt, mitEhre und Schmuck von ihm gekrönt ist; ohne Irrthum und Zweifel wird es seinen Blick zum Himmel er­ heben und in seinem Lichte den ersten Wiederschein des himm­ lischen Lichtes schauen. Woher kommt nun dieses schnelle Erfassen des Ewigen, dem sich so oft der geübte Verstand der Einsichtsvollen und Klugen versagt; warum geht der

Seele des Unmündigen so bald der Aufgang aus der

Höhe in einer milden Klarheit auf; warum laßt das Ge­ fühl seiner Abhängigkeit von Vater und Mutter doch noch dem Bewußtseyn seiner höheren Abstammung und seines gött­ lichen Geschlechtes Raum; warum hört man von ihm weni­ ger Einwürfe und Bedenklichkeiten, als Wünsche und Bit­ ten um Aufklärungen über das herrliche Urbild alles Seyns, welches wachend und träumend seine Seele beschäftigt? Es ist die stille Macht des Glaubens, die sich Gott in dem Herzen der Unschuld zugerichtet hat um seiner Feinde willen; es ist der erste Schimmer des inneren Lichtes, der aus dem himmlischen Lichte hcrvorgeht; es ist die erste Regung eines frommen Herzens, das, noch von kei­ ner Leidenschaft befangen und von keiner Schuld gedrückt, sich zur höheren Welt erhebt; es ist die erste Zuver­ sicht dessen, das man hoffet, und nicht zwei­ felt an dem, was man nicht siehet; es ist eine Frucht jener noch unentweihten Gemeinschaft kindlicher See­ len mit Gott, die der Erlöser durch die ausdrucksvollen Worte andeutet: sehet zu, daß ihr nicht diese Kleinen verachtet, denn ihre Engel sehe» alle­ zeit das Angesicht meines Vaters im Himmel. Die Religion der Kinder zeichnet sich aber auch durch den Gehorsam der Liebe aus. Du sollst Gott lieb haben von ganzer Seele, gebietet Mo­ ses den Israeliten, und dieses Wort zu Herzen nehmen und es deinen Kindern schärfen. Das muß geschehen, wenn die Verzärtelung und Verwöhnung der Kinder den Eigensinn und Eigenwillen erzeugt, der eine kräftige Ermahnung nöthig macht; cs liegt ja zuletzt das Geheimniß aller sittlichen Erziehung darinnen, daß der Ju­ gend in eben dem Maaße die Pflicht geschärft und ein­ geschärft werde, als durch unlautere Gespräche und schlechte Beispiele ihr innerer Sinn für das Gute unkräftig und stumpf geworden ist. Wxrden hingegen Kinder sorgfältig gegen unsittliche Eindrücke verwahrt, so ist das Beispiel einer frommen Familie für sie von der heilsamsten und ge­ segnetesten Wirksamkeit; ihre Zärtlichkeit und Liebe gegen

Mutter und Vater geht bald über in Liebe zu dem rech« ten Vater über Alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden; mit einer zarten Gewissen­ haftigkeit fassen sie dann die Warnungen vor Unarten und Fehlern auf und freuen sich von ganzer Seele, wenn sie mancher Belohnungen und Gaben durch ihren Gehorsam würdig werden. Vor Allem wirkt dann auf sie das Bei­ spiel des himmlischen Kindes, dessen Jugend schon so rein und schuldlos war; sie achten fleißig auf den Bericht des Evangelisten; er nahm zu an Weisheit und Gnade vor Gott und den Menschen; sie fassen vollkommen den Sinn der Worte Jesu, wisset ihr nicht, daß ich in dem seyn muß, was meines Vaters ist; wohl begreifen sie endlich das Lehrreiche und Ermunternde sei­ nes Beispiels, wenn es nun weiter heißt; und er gieng mit feinen Eltern hinab gen Nazareth und war ihnen Unterthan. Glückliches Alter, für das der trügerische Schein, dem sich kein menschliches Auge ent­ ziehen kann, noch kein geliebtes Blendwerk ist; in dem der Irrthum, zu dem wir uns selbst verführen, noch nicht die Wurzeln der Begierde schlagt; dessen zarte Blüthe noch nicht von den Stürmen der Leidenschaften ergriffen und verwüstet wird; in dem der Eigenwille noch nicht bis jur Blindheit verdunkelt und zur Widersetzlichkeit gegen das Hei­ lige und Göttliche verhärtet ist! Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehret und wie die Kinder werdet, könnet ihr nicht in das Reich Gottes kommen. Diese Worte Jesu beziehen sich namentlich auf die Anspruchlosigkeit und De­ muth, die das kindliche Gemüth auszeichnet; sie beziehen sich auf jenes lebendige Gefühl des Rechtes, das nicht erst durch Furcht und Lohnsucht in den Schranken der Pflicht erhalten werden darf; sie beziehen sich auf den willigen Gehorsam dankbarer Liebe, die sich selbst ein freies Gesetz ist Wer die noch unverdorbene Kinderwelt mit Aufmerk, famkeit beobachtet hat, dem wird auch dieser Vorzug der Religion dieses zarten Alters nicht entgangen seyn.

So bleibt uns nur noch das Gebet baren Vertrauens übrig, welches die Kindheit so sichtbar auszeichnet. Aus dem Kinder und Säuglinge hast du dir

des dank­ Religion der Munde der eine Macht

zugerichtet; das gilt namentlich von der Herzensein­ falt des Kindes, welches sich noch nicht schämt, vor seinen Gott und Vater zu treten; es »gilt von der ungeheuchelten Andacht, mit der cs Morgens und Abends sein kurzes Ge­ bet spricht; es gilt von der innigen Dankbarkeit, mit der es seine Nahrungsmittel als ein täglich erneuertes Geschenk aus Gottes Hand empfängt; es gilt besonders von der stillen Bitte und Fürbitte, wenn es einen verborgenen Wunsch, oder ein heimliches Anliegen auf seinem Herzen hat. Wer hat je ein frommes, seine Hände andächtig faltendes, mit zärtlichen Sorgen für seine Eltern und Ge­ schwister erfülltes, ihre Erhaltung, ihr Heil und Leben von ihm erflehendes Kind beobachtet, ohne durch seine Liebe be­ wegt, durch seine Dankbarkeit gerührt, von dem innigen Vertrauen und der frommen Zuversicht seiner Andacht tief durchdrungen zu werden! Selbst das leidende Kind, wie ruhig und geduldig trägt es oft sein Ungemach; das sieche und kranke Kind, wie furchtlos und ergeben duldet es oft die schwere Trübsal; das scheidende und sterbende Kind, wie muthig und entschlossen tritt es nicht oft von der kaum betretenen Bahn seines kurzen Lebens ab; wie ist ihm oft noch Kraft und Stärke verliehen, die weinende Mutter zu trösten und seine klagenden Geschwister zu beruhigen; selbst in der Stunde seines letzten Schlummers, wie verkündigen uns nicht oft seine sanften Züge und Mienen die frohen Gefühle und Vorgefühle, unter welchen es am frühen Mor­ gen seiner Pilgerreise in eine höhere Welt entrückt wird! O nicht umsonst sind zärtliche Mütter so gerührt, wenn

sie von den letzten Augenblicken ihrer frommen Lieblinge sprechen; nicht umsonst sind ernste Väter so bewegt, wenn sie an ihren Abschied von den Zöglingen ihrer liebsten Hofnungen denken; nicht umsonst wandern die verlassenen El­ tern vor den Gräbern ihrer Entschlafenen mit inniger Weh­ muth und doch zugleich mir der stillen Zuversicht vorüber,

die Theuren bald im reineren Lichte wieder zu sehen, die sie hier nur kurze Zeit in ihre Arme schließen sollten! Un­ laugbar zeichnet sich also die Religion der Kindheit vor der Eottesverehrung aller übrigen Menschenalter durch den Glau­ ben der Unschuld, durch den Gehorsam der Liebe, durch ein einfaches Gebet der Dankbarkeit und des Vertrauens, also durch Vorzüge aus, an die wir uns öfter erinnern sollten, als es gewöhnlich geschieht, weil uns dieses Andenken ungemein nützlich und heilsam werden kann. Das ist das Zweite, waS wir in dieser Stunde erwägen wollen.

II. Heilsam kann aber für uns die Erinnerung an die Religion der Kindheit werden, wenn sie uns den göttlichen Ursprung der Religion, die feindli­ chen Zweifelsgründe an der göttlichen Offen­ barung, das bald wicderkehrende Bedürfniß dieses Glaubens, und also auch die Pflicht, ihn unseren Kindern zu erhalten, klar und deutlich in das Licht stellt. Je genauer und unbefangener wir die Religion der Kindheit beobachten, desto deutlicher muß uns der göttliche Ursprung der Religion überhaupt werden. Denn warum wohl ist das unverdorbene Kind so geneigt, an Gott zu glauben, ihn zu lieben, ihm zu folgen, ihn zu loben, zu preisen, anzubeten und sich seinem Schutze zu empfehlen? Ist es Aberglaube, Furcht, oder die Schlau­ heit d.er Oberen, welche das zu bewirken vermag; oder ist cS vielmehr Gott selbst, der den Menschen nach seinem Bilde ge­ schaffen,. der ihm sein Wort in das Herz gepflanzt, der den Grund des Gesetzes in sein Gewissen gelegt und sich so schon von der zartesten Jugend an mit seinem Geiste vermahlt hat, ihn zu erleuchten und ihn durch Bande der Wahrheit, der Liebe und Dankbarkeit zu sich zu ziehen? Die Antwort auf diese Fragen giebt jeder Vernünftige sich von selbst; der Herr, unser Herrscher, dessen Name herrlich, in allen Landen ist, hat auS

dem Munde der Kinder und Säuglinge sich diese Macht bereitet; wie er noch jetzt in die Seelen der Unmündigen, die zu diesem kurzen Erdenleben erwachen, einen Funken seines himmlischen Lichtes legt, so hat er in den Tagen der Kindheit unseres Geschlechtes, wo die Menschen noch besser und unverdorbener waren, einen klaren Schein seiner Erkenntniß in ihre Her­ jen gelegt; oft und mannichfaltig sprach er zu den Vätern, bis er zuletzt zu uns geredet hat durch seinen Sohn, dem wir unsere Aufnahme in das unbe­ wegliche Reich des LichteS, der Gnade und des ewigen Heils verdanken. Uebcrall also, wo sich die wahre Re­ ligion des Geistes auf Erden findet, da hat sich Gott den Menschen geoffenbaret; da hat er den Samen seines Wor­ tes unter sie ausgestreut; er hat ihnen namentlich durch das Wort, welches Fleisch wurde, das wahr­ haftige Licht und Leben gesendet. Unsere Religion also, ist nicht von Menschen, sondern von Gott, der sie allein uns mittheilen und offenbaren konnte. Nun wird uns aber auch vollkommene Aufklärung über die feindlichen Zweifelsgründe an der göttlichen Offenbarung ju Theil. Aus dem Munde der Kinder hast du dir eine Macht zu­ gerichtet, zu vertilgen den Feind und den Rach­ gierigen. Wie ist das möglich; wie kann Gott Feinde und Gegner haben; wie kann ein Mensch so verblendet seyn, seinem Schöpfer die Liebe und Dankbarkeit zu versagen, die er ihm in den ersten Jahren seines Lebens so gern und willig gewidmet hat? Denket zurück an euren Uibergang aus der Kindheit in die Jugend und Reife des Alters, und das Geheimniß des Unglaubens und der Ungerechtigkeit wird sich euch enthüllen; wie ihr da euren Eltern widerstrebtet, so widersetzet ihr euch nun Gott; wie ihr da Alles besser wußtet und ihre Gebote verachtetet, so meistert ihr nun die Offenbarung Gottes und verschmähet sein heiliges Wort; wie ihr in dem Hause des Vaters euch schon als Erben und Herren gebehrdetet, so schaltet ihr nun in dem Reiche Gottes mit den himmlischen Gütern

seiner Gnade und. wähnt im übermüthigen Gefühle eurer Kraft das selbst erdacht, erfunden und erworben zu haben, was euch geschenkc, was g verschließen r möge keine böse Gewohnheit des alten, durch Sünde im Irrthum verderbten Menschezr uns wieder auf die Bahn der langen Thorheit zurückzichen; möge der- schnelle Sieg über den lang herrschenden Unglauben sich nicht in den Blödsinn

des Aberglaubens verwandeln, welcher nicht weiß und thut, was vor Gott recht ist! Heil dem Manne, der auch in der Blüthenzeit seines sich entfaltenden Geistes nur ver­ nommen hat, was des Geistes Gottes ist, des alten Spruches eingedenk; Gott hat den Menschen auf­ richtig geschaffen, aberdieMenschensuchenviel Künste! Er bekommt nun nette Kraft, daß er sich aufschwinge, wie der Adler, zu der Sonne der ewi­ gen Wahrheit und Gerechtigkeit; der Herr, der von Jugend auf seine Hoffnung war, bleibt feine Zuversicht und Stärke und hilft ihm aus zu seinem ewi­ gen und herrlichen Reiche. So schließen wir denn diese heilsame Erinnerungen mit

-IG dem Andenken an die heilige Pflicht, den Glauben an die göttliche Offenbarung unserer Kindheit ungeschwächt zu erhalten. Zweifel und Bedenklich­ keiten kommen uns mit den Jahren von selbst; sie üben, scharfen und bilden unseren Verstand; sie lautern, stärken, reinigen unseren Glauben und führen zuletzt zu einem reinen und guten Gewissen, zur freien Erkenntniß der Wahrheit und zur vollen Uibcrzeugung. Aber für das kindliche Alter, wel­ ches nur empfangen, schauen, lernen und begreifen soll, sind sie nachtheilig und gefährlich; sie gleichen dem Sturmwinde, der den schon herangewachscnen Stamm nur bewegt, daß er fester wurzele, den zarten Schößling aber abbricht und zu

Boden wirft; sie reißen den Glauben aus dem Herzen der Kinder und geben sie bald ohne Grundsatz und Leitung allen Gefahren des Wahnes und der Verführung preis.. Ist cs daher euer Wunsch, die zarten Seelen, welche Gott eurer Pflege anvertraute, für die Ewigkeit zu bilden; so bauet auf dem Grunde fort, den Gott selbst in sie gelegt hat; so nähret sie mit dem Worte der Wahrheit, das vom Himmel kommt und der Welt das Leben giebt; so lasset da, wo der Vater selbst durch seinen Ein­ geborenen gesprochen hat, keine Einrede menschlicher Satzung, oder Willkühr dazwischen treten; so bekennt euch aber auch selbst zu diesen himmlischen Lehren mit wahrer Festigkeit des Glaubens, damit die Kraft und das Leben eurer Uiberzeugung auch in ihre Gemüther übergehe, .oder doch das Vorbild einer freien und lebendigen Erkenntniß werde. Mit diesen Erinnerungen wollen wir die Kindheit ehren, die der Sohn Gottes durch sein Beispiel so hoch erhoben und ausgezeichnet hat; so weise wollen wir sie in die Jahre der Jugend und freiern Erleuchtung des Geistes, in die Jahre der Zweifel und Versuchungen herüber führen; so wollen wir sic durch unsere reiferen Erfahrungen und Wcltansichten gegen die gefähr­ lichste aller Verirrungen, die Verirrung des Glaubens und Gewissens verwahren, und wenn wir einst scheiden und in einer höheren Welt uns wiedcrfinden, vereint und freudig vor dem ewigen Vater und Richter mit dem Worte des Muthes erscheinen; hier find wir und die Kinder, chie du unS gegeben hast. Amen.

XXVIII.

Am Feste der Himmelfahrt Christi. Text: Evangel. Marc. K. 16. V. 14. — 20.

Wie wir die Erhebung Christi in den Himmel zu betrachten haben, wenn wir sie frei vor Gott und Menschen bekenne»' wollen.

Der Herr hat sich einen Thran im Himmel bereitet und sein

Reich herrschet über Alles.

Lob« den Herrn alle seine

Werker lobe du ihn, meine Seele.

M. a. 3-

Amen.

Von allen christlichen Festen,

unseren Tempeln

jur

die

uns

in

gemeinschaftlichen Andacht versamm-

len, unterscheidet sich das heutige durch eine besondere Auf­ forderung jur höchsten Erhebung unseres Geistes und Her­

zens. Bei der Feier der Geburt Jefu gehen wir zwar von dem, Glauben an seine höhere Natur und seine himmlische Sendung aus;

aber die

Laufbahn,

die

er unter seinen

Brüdern beginnt, weiset uns doch zunächst nur auf seinen

menschlichen kreis

hin.

Wachsthum

Das

Fest

und seinen irdischen Wirkungs­ erinnert uns

seiner Auferstehung

zwar an das nahe Ende seines erhabenen Berufes auf Er­ den; aber er kehrt doch nur in bas Leben zurück, um noch eine geraume Zeit in der Mitte der Seinigen zu verweilen und die höhere Geistesbildung seiner Schüler und Freunde zu vollenden. Dafür hört von dem heutigen Tage an jede

irdische Gemeinschaft Jesu mit seinen Jüngern auf; er tritt nach einer langen und unermüdeten Thätigkeit

mit einem

Male an die Grenze der sichtbaren und unsichtbaren Welt;

er scheidet nicht, wie ein Sterbender, der den Seinigen doch noch die körperliche Hülle seines Geistes zurücklaßt;

nein, er verlaßt sie, als der Besieger des Todes, der allen Forderungen der Natur an seinen irdischen Körper schon Genüge geleistet hat;

noch

einmal spricht

er mit seinen

Geliebten, segnet sie freundlich und wird ihren Augen dann für immer entrückt. Umsonst richte» sie ihre Blicke zum Himmel empor, denn er schwingt sich höher und verschwin­

det vor ihnen; alles Schauen und Wissen hat ein Ende und der Glaube an seine Erhöhung zur Rechten des Va­

ters, die et längstens vorhergesagt hatte, zieht mit der vol­ len, siegenden Gewalt der Wahrheit in ihre Herzen ein.,

v. Ammon- Pred. B. ir.

Daß uns dieses Ereigniß Vieles jn denken giebt und unseren Geist zu den wichtigsten Betrachtungen, so wie zu den höchsten Weltansichten erhebt, leuchtet von selbst ein. Es handelt sich hier sa nicht allein um eine alte, geschicht­ liche Ueberlieferung, sondern uni den Ausgang der Schick­ sale unseres himmlischen Lehrers, Wohlthäters und Heilan­ des; um die Belohnung einer Tugend und Seelengröße, die in solcher Reinheit und Vollendung nie auf Erden er­ schienen ist; um den Uebergang in das unbekannte Jen­ seits, dessen Dunkelheit uns keine menschliche Weisheit er­ hellen kann; es handelt sich endlich um die Entscheidung unseres eigenen Schicksals, dessen nahe Entwickelung uns oft manchen Kummer und manche stille Sorge macht. Den­ noch werden wir mehr, oder weniger, in dem Laufe dieser Betrachtungen gestört. und durch mancherlei Bedenklichkeiten unterbrochen: es ist nicht allein der Leichtsinn, der überall gern dem Gedanken des Todes ausweicht, nicht allein die Trägheit des Geistes, die sich von dem Himmlischen ab­ wendet, und sich den andächtigen Erhebungen unseres Ge­ müthes versagt, nein, diesmal sind es scheinbare Zweifel an der Sache selbst, welche Manche unter uns beunruhi­ gen; es sind Bedenklichkeiten, die uns ähnliche Berichte und Erzählungen aus der Geschichte der alten Welt ein­ flößen; es sind Gründe und Einwürfe, mit welchen sich

unsere Vernunft und Naturkenntniß gegen dieses Ende des Lebens Jesu zu wafnen sucht; es ist endlich eine gewisse Schüchternheit und Schamhaftigkeit, die. unseren Glauben schwächt. Denn wenn wir uns schon hüten, dem zu wider­ sprechen, was die christliche Kirche einmal öffentlich bekennt, so fürchten wir doch zugleich, unS durch dieses Mitbekenntniß zu erniedrigen und uns in die Reihe der Ungebilde­ ten und Unvollkommenen zu stellen. Wer wird sich nun in einer Gemeine, wie die unsrige ist, gern zu den Ungelehrten und Ungebildeten zählen; wer wird nicht lieber zu erkennen geben, daß auch er wisse und gelesen habe, was man gegen diesen Abschnitt der heiligen Geschichte bemerkt und erinnert hat; wer wird sich nicht gern, laut, oder doch im Stillen, gegen die sinnlichen und

51 abergläubischen Vorstellungen verwahren, die man hie und

da von der Himmelfahrt Christi zu nähren und zu unter­ halten pflegt; und da die Vernunft nun einmal das große

Losungswort unseres Zeitalters geworden ist, wer sollte sich nicht wenigstens versucht fühlen, nach einer höheren Rein­ heit und Gewißheit des Glaubens zu streben und sich also

auch von dem Gegenstände unserer heutigen Feier- eine be­ sondere Ansicht zu bilden? Was ihr hier vornehmet und beginnet, kann uns weder verborgen seyn,

unbeachtet bleiben;

noch von uns

es ist zwar begreiflich bei der wissen­

schaftlichen Bildung unserer Zeit, die man weder verheim­ lichen, noch unterdrücken soll; aber eS ist nicht gleichgül­

tig für unsere Kirche, welche mehr, als jede andere, dazu

berufen ist, die evangelische Wahrheit rein und unverfälscht zu bewahren; es darf am Wenigsten von den Lehrern mit Stillschweigen übergangen werden, weil da, wo der Ver­ stand sich noch geheimer Einwendungen rühmt,

niemals

wahre Erbauung gedeihen und zu dem Herzen dringen kann. Nicht verlegen also, zweideutig und furchtsam, sondern im

Lichte unserer Zeit, im Lichte aller Welt, wollen wir heute,

wie die Apostel unseres Herrn, eine Begebenheit verkündi­ gen,

die in der Geschichte Jesu so entscheidend und für

unsere eigenen Hofnungen so unendlich wichtig und segenSvoll ist. Darum sammlen wir uns vor Allem in stillet Andacht vor

dem Herrn

und flehen um

die Erleuchtung

seines Geistes im gemeinschaftlichen Gebete rc.

Cvangel. Marc. K. XVI. V. 14 — 20. Zuletzt, da die Eilf zu Tische saßen, offenbarte er sich, und schalt ihren Unglauben, und ihres Herzens Härtigkeit, daß sie nicht geglaubet hatten denen, die ihn gesehen hatten auferstan­ den. Und sprach zu ihnen: Gehet hin in alle Welt, und predi­ get das Evangelium aller Kreatur. Wer da glaubet und ge­ tauft wird, der wird selig werden: Wer aber nicht glaubet, der wird verdammt werden. Die Zeichen aber, die da folgen wer­ den denen, die da glauben, sind die: Zn meinem Namen wer­ den sie Teufel austreibcn, mit neuen Zungen reden, Schlangen vertreiben, und so sie etwas Tödliches trinken, wird es ihnen nicht schaden; und auf die Kranken werden sie die Hände legen, so wird es besser mit ihnen werden. Und der Herr, nachdem 4»

er mit ihnen geredet hatte, ward er aufgehoben gen Himmel, 4»tb sitzet zur rechten Hand Gottes. Sie aber gingen aus, und predigten an allen Orten; und der Herr wirkte mit ihnen, und bekräftigte das Wort durch mitfolgende Zeichen.

In der Ordnung der heiligen Bücher, aus welchen wir die Geschichte des Christenthums kennen lernen, ist Markus der erste, der in der Lebensbeschreibung Jesu seiner himm­ lischen Erhöhung gedenkt. An der Thatsache selbst hat zwar kein Einziger der Evangelisten gezweifelt; dennoch übergehen zwei derselben eine Begebenheit mit Stillschwei­ gen, die ihrer Natur nach mehr dem Glauben, als der Geschichte angehört; und auch unser heutiges Evangelium spricht von ihr, bei aller Bestimmtheit Mb Sicherheit, doch so kurz und mit so wenigen Worten, daß sich der Leser ohne Bild und Anschauung einzig auf die Sache selbst beschrankt sieht. Das ist aber ohne Zweifel das Wich­ tigste, was wir heute zu erwägen haben, und darum wol­ len wir auch ausschließend bei dem Gedanken verweilen, wie wir die Erhebung Jesu in den Himmel zu betrachten haben, wenn wir sie frei vor Gott und Menschen bekennen wollen. Alles kommt hier aber darauf an, sie in der genauesten Verbindung mit der Geschichte, mit der Ordnung der Natur, mit der sittlichen Weltordnung, mit der Per­ sönlichkeit Jesu und mit unserem eigenen Uebergang in die künftige Welt zu betrachten. Das wird unser Herz erweitern und uns zu einem freien Bekenntnisse, zu einem freudigen Zeugnisse für die merk­ würdige Thatsache bestimmen, guf welcher die Feier des heutigen Tages beruht. I.

Die genaueste Verbindung der himmlischen Erhöhung Jesu mit der Geschichte ist hiernach daS Erste, worauf wir unsere Aufmerksamkeit zu richten haben. Denn fänden wir unter de» zahlreichen Freunden und Schülern des Auferstandenen auch nur Einen, der sei­ ner Erhebung in den Himmel widersprochen hatte; stammte die Nachricht und Kunde von ihr aus einem spateren Zeit-

alter,

wie der umständliche Bericht von der Himmelfahrt

Mosis, den wir bei einem jüdischen Geschichtschreiber finden; ließe sich endlich von einem spateren Wirken Jesu auf Er­ den auch nur die entfernteste Spur auffinden; so würden wir allerdings Ursache haben, mancher Bedenklichkeit Raum zu geben und uns von dem Ausgange der Schicksale un­ seres Herrn eine eigene Ansicht und Meinung zu bilden. Aber von dem Allen sagt uns die weltliche und heilige Geschichte gerade das Gegentheil. Thomas, der Zweifler, erhob sich gegen die Auferstehung Jesu; aber von den Hun­ derten, die ihn nachher zu Jerusalem, auf dem Wege nach Emmaus, oder auf den galiläischen Bergen sahen, ist auch nicht Einer, der über seinen Hingang zum Vater eine Be­ denklichkeit, oder Ungewißheit ausspräche. Moses starb, noch ehe er mit seinem Heere das Land Kanaan überzog, und die spatere Kunde von seiner sichtbaren Himmelfahrt ermangelt offenbar alles geschichtlichen Beweises; aber von der feierlichen Erhebung Jesu legt Petrus an der Spitze der Apostel wenige Tage nachher ein öffentliches Zeugniß vor allem Volke ab, indem er spricht: Gott hat ihn auferwe-cket, deß sind wir Alle Zeugen; nun er zurRechten des Vaters erhöhet ist, hat er seinen Geistüber uns ausgegossen, wie ihr sehet und höret. Den unzähligen Feinden und Gegnern Jesu mußte Alles daran liegen, seinen Aufenthalt auszumitteln, wenn er irgendwo verborgen war, und die weitere Gemeinschaft mit- seinen Schülern zu unterbrechen; aber in dem ganzen Umkreise von Jerusalem und in dem wohlbekannten Galiläa fanden weder die Pharisäer und Schriftgelehrten, noch die römischen Beamten und Zöllner eine ferne Spur von ihm, und selbst der feindlich gesinnte Saul wird wenige Jahre später durch seine Stimme vom Himmel bekehrt: Saul, Saul, was verfolgst du mich? Ist denn aber die­ ses erzwungene Stillschweigen der Feinde Jesu, diese laute Verkündigung seiner Rückkehr zum Vater aus dem Munde der Apostel, dieses einmüthige Bekenntniß der Mutterge» meine zu Jerusalem, er ist zur Rechten Gottes und eingegangen zu seiner Herrlichkeit, nicht ein unwider-

strrechlich geschichtliches Zeugniß; kann irgend eine That­ sache unbefangener und nachdrücklicher beglaubigt seyn, als diese; und würden wir nicht alle Wahrheit der Geschichte üufgeben und uns selbst in eben so kühnen, als eitlen und nichtigen Muthmaßungen verlieren müssen, wenn wir hier noch zweifeln und bedenklich seyn wollen? Nein, der ge­ naue, feste und sichere Zusammenhang der Geschichte ist das Erste , was wir erwägen müssen, wenn wir uns des heutigen Tages vor Gott und Menschen freuen wollen; nachdem der Herr solches geredet hatte, ist er aufgehoben gen Himmel und sitzet zur Rechten Gottes; es ist das eine erprobte und buchstäbliche Wahr­ heit, von der wir ausgehen, an der wir unverbrüchlich fest halten müssen, wenn unser Christenglaube rein und lauter seyn soll.

II. Selbst mit der Ordnung der Natur steht die ErHebung Jesu in einem Zusammenhänge, den wir keinesweges übersehen dürfen. Da er mit ihnen ge­ redet batte, heißt es in dem Evangelium, wurde er aufgehoben gen Himmel; ein anderer-Evangelist be­ merkt: da er sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel, und in dem ausführ­ lichen Berichte in der Apostelgeschichte setzt er hinzu: da er solches gesagt, wurde er aufgehoben zu­ sehends und eine Wolke nahm ihn vor ihren Augen hinweg. Daß diese Erzählung im Außerordent­ lichen, Unerklarbaren und Wunderbaren endiget, leuchtet zwar von selbst ein; die versammleten Jünger würden ja auf den Höhen des Oelberges ihren scheidenden Lehrer nicht verlassen, sie würden ihre Blicke nicht staunend und bewundrungsvoll zum Himmel erhoben haben, wenn sie in dieser ihnen wohlbekannten Gegend auch nur von fern an eine natürliche und begreifliche Entfernung hätten denken können. Aber wie weise vorbereitet und geordnet war doch dieser Hingang des Erhabenen zu seinem himm­ lischen Vater; in welcher genauen Verbindung stehen nicht seine letzten Reden, Gespräche und Anstalten mit seinen

55 früheren Unterhaltungen und Anordnungen;

wie wurden

nicht die Bande zwischen Leib und Seele, die er mit allen Erdensöhnen gemein hatte, allmählig und stufenweise durch sein Leiden, seinen Tod, seine Auferstehung, seine Zurück­ gezogenheit und Stille in den letzten vierzig Taaen seiner irdischen Laufbahn gelößt; und da er in dem Augenblicke der Trennung die Grenze der sichtbaren und unsichtbaren Welt betreten hatte, wie ist die himmlische Verklarung sei­ nes Körpers, die ihn hier erwartete, nicht wieder vor den

Augen einer neugierigen und schaulustigen Versammlung in den Schleier eines Geheimnisses gehüllt, den der Glaube der anwesende» Jünger allein zu lüften vermochte? Ihr kennet, wie ihr sagt, den Wunderglauben der alten morgen* ländischen Welt; ihr habt von den Gesetzgebern, Prophe­ ten und Helden gelesen, die auf eine ähnliche Weise ge­ endigt und sich zum Himmel erhoben haben sollen; und weil euch das verdächtig und ungewiß ist, so glaubt ihr, den Hingang Jesu znm Vater auf eine ähnliche Weise be­ zweifeln und unentschieden lassen zu müssen. Aber ist die­ ses Urtheil nicht zu rasch und voreilig; bietet sich uns hier nicht von allen Seiten der Unterschied des wahren und falschen Wunders dar; finden wir in den Berichten der Evangelisten von der Vollendung ihres himmlischen Lehrers nicht die höchste Einfachheit und Treue, die jeden dichterischen Schmuck der Einbildungskraft verschmäht; sehen wir hier nicht klar nnd deutlich die mächtige Hand des Herrn der Natur, der überall seine Weltgesetze in ihrer vollen Kraft und Ordnung erhält; und wenn er als der himmlische Vater des Einzigen, in dem er uns ge­ liebt hat, ihn am Ende seiner Laufbahn durch eine Ver* wandelung zu sich erhebt, die zuletzt allen Kindern Gottes auf eine ähnliche Weise bevorsteht, haben wir da Ursache, bedenklich, mißtrauisch und ungläubig zu seyn? O laßt es uns doch lieber gestehen, daß die Ordnung Gottes in der Natur, die wir täglich vor Augen haben, oft ganz' eine andere ist, als die, welche wir uns selbst in unseren Schulen und Lehrgebäuden bilden; laßt es uns lieber be­ kennen, daß Leben und Tod, Tod und Leben in einer Ge-

meinschaft und Berührung stehen, die wir noch keineswcges

von allen Seiten erforscht und durchdrungen haben; laßt es uns endlich aus der Geschichte Jesu und seiner Wun­ der lernen, daß das Reich Gottes nicht dem Reiche der Natur, sondern daß dieses jenem unterworfen und unter­ geordnet ist, damit sich alle Welt überzeuge, daß Chri­ stus der Herr sei zur Ehre Gottes des Vaters. Gerade darum bekennen wir uns zu seiner himmlischen Er­ hebung frei und offen vor Gott und Menschen, weil hier unser Glaube seine Rechte behauptet, ohne die Ordnung der Natur zu verletzen, auf die der weise und gebil­ dete Mensch nie verzichten soll.

III. Noch inniger ist die Verbindung,

ung Jesu mit Gottes Welcher muß den trus, bis auf die werde Alles, was

in der die Erhöh-

sittlicher Weltordnung sicht. Himmel einnehmen, sagt PeZeit, da herniedergebracht Gott geredet hat durch den

Mund aller seiner heiligen Propheten. Weit entfernt also, den Hingang Jesu zum Vater für etwas Zufälliges, oder Willkührliches zu halten, erklärt ihn der Apostel vielmehr für etwas Nothwendiges; der Himmel mußte ihn aufnehmen, bis der Vorzeit Heil und Friede wiederkehre; er mußte den Heiligen und Ge­ rechten verklaren, den die Bosheit der Juden gekreuzigt hatte, daß er den Seinigen als der Fürst des Lebens erscheine und ihnen die Zeit der

Buße-und Erquickung sende von dem Angesichte des Herrn. Diese Worte brachten unter dem versammletcn Volke eine große Wirkung hervor; es sah in der unerwarteten Entwickelung der letzten Schicksale Jesu die mächtige Hand der Weisheit und Gerechtigkeit Got­ tes; es fühlte, daß die Erde der so freventlich mißhan­

delten Tugend Jesu den wohlverdienten Preis schuldig ge­ blieben war; es konnte sogar dem Gedanken nicht wider­ stehen, daß dieser, zum Vater aufstrebenden, sittlichen Voll­ endung der Himmel sich öfnen und sie mit einer höheren

Herrlichkeit umfangen mußte.

Könnt ihr aber in dieser

Art zu denken und zu schließen etwas Unweises und Ta­ delhaftes finden; ist es nicht eine dringende Forderung der erleuchteten Vernunft, daß dem Gerechten zuletzt das Licht aufgehe und die Freude dem frommen Herzen: haben nicht schon die Heiden gelehrt, daß der Seele des unreinen, unfreien, wollüstigen und ungerechten Menschen nach dem Tode eine Wohnung der Finsterniß in den unterirdischen Welträumen bereitet sei, und daß fich dafür die siegende Unschuld, Gerechtigkeit und Treue zum Himmel aufschwingen werde; muß daher die Feier des heutigen Tages nicht schon in dem Lichte der allgemeinen Naturreligion eine Hoheit und Würde gewinnen, die uns zu den ernsthaftesten Betrachtungen auffordert? Ja, ge­ steht es Alle, die ihr in der Erhebung Jesu zum lieben Vater nur die letzten Reste des jüdischen und heidnischen

Aberglaubens findet, daß eure Art zu denken und zu schlie­ ßen, überall fester und richtiger Grundsätze ermangelt; ge­ steht es nur, daß eure Vernunft noch nicht für die höch­ sten Zwecke des Lebens wahrhaft ausgebildet ist; gesteht es nur, daß die Schwerkraft der Natur, die alle eure Zwei­ fel und Einwürfe gegen die Himmelfahrt Jesu tragen und begründen soll, den freien Schwung eurer Gedanken ge­ lahmt und euren ohnehin schon schwachen Glauben zur Erde gänzlich niedergejogen hat. Denn ist es euch in der That nicht um einzelne Wahrheiten, sondern um die ganze und höchste Wahrheit zu thun; ist euer Gewissen so rein und lauter, daß ihr jede Pflicht für heilig und unverbrüch­ lich haltet; wollt ihr das Glück des Menschen nicht auf Unrecht und gewaltthatigen Besitz, sondern auf Treue, Tu­ gend und ein kindliches Vertrauen zu Gottes weiser und väterlicher Weltregierung ballen; so müßt ihr auch ein­ räumen, daß sich in der hmmlischen Erhebung Jesu die ewige Heiligkeit und Gerechtigkeit des Vaters offenbart. Ihr würdet den Erhabenen, der gehorsam war bis zum Tode am Kreuje, entweder in eitlen Muthmaß. ungen vom Ziele der errungenen Vollendung wieder in die gemeinen Kampfs der noch ungelautcrten Tugend zurück-

ziehen, oder ihn ohne Hofnung und Zuversicht in einer erträumten Einsamkeit und Dunkelheit verschmachte» lassen; eurer eignen Absicht zuwider würdet ihr das heilige Band

der sittlichen WektSrdnung zerreißen, an welches die ge­ rechtesten und tröstlichsten Erwartungen eines reinen Her­ zens geknüpft sind; ihr würdet umsonst gegen den un­ erschütterlich festen Ausspruch des Apostels ankämpfen r Preis, Ehre, Ruhm und unvergängliches We­ sen denen, die durch Geduld in guten Werken trachten nach dem ewigen Leben. IV. Frei und freudig bekennen wir hingegen die Erhebung Jesu in den Himmel, wenn wir sie zugleich in dem Zu­ sammenhänge mit seiner Persönlichkeit betrach­ ten. Wie er als ein Licht in die Welt gekom­ men war, daß Niemand mehr in der Finsterniß bliebe, so sollte er sie auch wieder verlassen, um zum Vater zu gehen; er sollte Leben und unvergängliches Wesen für uns an das Licht bringen; wie er unter seinen Brüdern wandelte voll

Herrlichkeit, voll Gnade und Wahrheit, so sollte auch am Schlüsse seines großen Werkes das Wort vom Himmel an ihm erfüllt werden, ich habe ihn ver­ klärt und will ihn abermal verklären. Dazu war auch vom Anfänge bis zum Schlüsse seiner irdischen Laufbahn Alles vorbereitet ; denn er kam von Gott; er war, dachte, wollte, wirkte-und handelte in ihm; er war nicht, wie wir, durch Irrthum, Wahn und eitle Sinnen­ liebe an diese Erde geknüpft, sondern dem Geiste, Willen und Gemüthe nach, unverrückt in dem, was seines Vaters ist; nach seinem schmerzlichen und lcidensvollen Tode, durch den er die letzte Schuld schon bezahlt hatte, die alle Erdensohne ihrer Mrtter entrichten müssen, war er zwar durch ein neues, ab«r leichtes und sich von selbst auflösendes Band an seinen Körper geknüpft; obschon ge­ wiß noch wahrer Mensch, und als solcher erscheinend, ge­ hend, sprechend und alle Spuren erlittener Gewaltthätig­ keit der Kreutzigung an sich tragend, aber auch von seinem

Innern aus sich vergeistigend, veredelnd und seiner nahen Verklarung entgegeneilend, hatte er die letzten Wochen und Tage seines erhabenen Berufes fast schon wie eine himm­ lische Gestalt in der Mitte der Seinigen verlebt. Könnet ihr euch nun wundern, wenn der Uebergang in die hö­ here Welt bei ihm schneller und plötzlicher erfolgte, als bei uns, die wir fern von Gott und seinem Lichte noch so mannichfach von der Erde und ihrer Lust umfangen sind; wenn die Macht, die Liebe, die Herrlichkeit seines Vaters, die ihn von den Todten erweckte, sich nun auch bei seinem Abschiede von der Erde thätig und wirksam bewies; wenn, der bestimmten Vorhersagung Jesu gemäß, seine Jünger des Menschen Sohn dahin auffahren sahen, wo er vorhin war; wenn Pe­ trus es laut vor dem hohen Rathe der Juden bezeugt: Gott hat ihn durch seine rechte Hand erhöhet zu einem Fürsten und Heiland, zu gebenJsrael Buße und Vergebung der Sünden? O dadurch unterscheidet sich ja gerade das Christenthum als eine be­ sondere Anstalt Gottes zu unserer Seligkeit vor allen an­ deren Religionen der Erde, daß die innere Offenbarung, der sich die Frommen aller Zeiten erfreuen konnten, durch Jesum auch eine äußere, durch offene Thatsachen beglau­ bigte wird; dadurch wurde gerade einem dringenden Bedürf­ nisse unseres Geistes abgeholfen, daß der geheimnißvolle Zusammenhang der sichtbaren und unsichtbaren Welt durch Jesum persönlich vermittelt und unserem schwachen Glau­ ben naher gebracht ist; dadurch hat sich Christus erst kraftiglich als den Sohn Gottes, als unseren Heiland und Erlöser erwiesen, daß er zuerst durch Lehre, Leben und Tod die Reinigung unserer Sün­ den vollbracht, dann aber sich gesetzt hat zur Rechten der Majestät in der Höhe. Wir können daher unseres Glaubens, unserer Versöhnung, der Hofnung unseres himmlischen Berufes, einst Mit­

erben seiner Herrlichkeit zu werden, nur dann vollkommen gewiß und sicher seyn; wenn wir an dem Aus­ spruche des Apostels festhaltenr darum hat ihn auch

der Vater erhöht und ihm einen Namen gege­ ben, der über alle Namen ist, daß vor ihm sich cheugen sollen, die im Himmel, auf der Erde und unter der Erde sind, und alle Zungen be­ kennen sollen, daß Christus der Herr sei zur Ehre Gottes des Vaters.

V. Frei und freudig vor Gott und Manschen werden wir endlich die himmlische Erhebung Jesu verkündigen, wenn wir sie in ihrem Zusammenhänge mit unserem eigenen Uebergange in die künftige Welt be­ trachten. Der eitle, der leichtsinnige und üppige Mensch, welcher Alles auf die Gegenwart setzt, wird sich zwar bei dieser beschrankten Ansicht der Dinge nur wenig um die Zukunft und die vergeltende Ewigkeit bekümmern. Oefnet ihr hingegen selbst die Augen, um zu sehen, wie ein Ge­ schlecht nach dem anderen von der Erde abtritt; werdet ihr vertraut mit dem Gedanken an die Abstufungen eures Erdenlebens und den Austritt aus eurem bisherigen Wirk­ ungskreise; steht ihr endlich an dem Sterbelager eines würdigen und frommen Freundes, der mit euch noch Worte der Wahrheit, des Glaubens und der Liebe spricht, aber mit dem letzten derselben auch die scheidende Seele aus­ haucht; kommt euch da nicht die Ahnung von selbst, diese reine, theure Seele sei nur ans der euch umgebenden Reihe irdischer Erscheinungen verschwunden > G^t habe sie in ei­ nen höheren Theil seines weiten, unendlichen Reiches versetzt; sie habe nur darum ihre irdische, halbthierische Le­ bensform abgeworfen, weil sie für eine edlere und dauer­ haftere reif geworden ist; sie habe mit einem Worte nur darum den letzten Todeskampf gekämpft, um als Siegerin von Gott verklart und zu einer seligen Bewohnerin des Himmels erhoben zu werden? Was ihr aber hier mit ei­ ner frommen Erhebung eures Geistes und Herzens nur ahnet und wünschet, das ist euch durch die Erhebung Jesu in den Himmel volle Gewißheit und Zuversicht; denn wie er durch seine Auferstehung von den Todten der Erstling geworden ist unter denen, die da schla-

frn, so ist er durch seine Erhöhung jur Rechten des Vaters der erste und höchste unter denen, die das

Bild des himmlischen Menschen tragen; wo er ist, da sollen auch die seyn, die ihm der Vater gegeben hat, daß sie seine Herrlichkeit sehen; ihr Wandel ist im Himmel, von dannen sie auch des Heilandes warten, der ihren nichtigen Leib verklaren wird, daß er ähnlich werde sei­ nem verklarten Leibe, nach der Wirkung, mit der er alle Dinge sich kann unterthanig ma­ chen. Nun ist das Räthsel unseres Lebens gelößt; nun verschwinden alle Dunkelheiten und Zweifel, welche die letz­ ten Schicksale der hier auf Erden kämpfenden Tugend um­ hüllen; nun wird der Hingang Jesu zum Vater für uns ein Aufgang aus der Höbe, an dem unser Glaube in diesem Thale des Todes, wie an einem reinen Morgenstrahlc, zum Lichte der Unvergänglichkcit hindurchdringt; nun erfaßt unsere freie, unbestimmte und auf den Flügeln der Einbildungskraft in der weiten Schö­ pfung von einem Stern zum andern uniherirrcnde Hofnung einen festen und sicheren Anker, der in das himmlische Heiligthüm hi nüberreicht; auf der heiligen Bahn des Glaubens, der Gerechtigkeit, der Tugend und Liebe gehen wir nun von einer Stufe der Bildung, von einem Wechsel unserer Gestalt zum anderen der großen und letzten Derwandelung entgegen, wo uns der Bau erwartet, von Gott erbaut, welcher ewig ist im Himmel, damit das Sterbliche verschlungen werde von demLeben. Christus ist unser Leben und der Tod Gewinn, weil wir durch ihn ver­ klart werden in dasselbe Bild von einer Klar­ heit zu der andern. Mit diesen Betrachtungen wollen wir uns vor Gott und Menschen zu der Erhebung Jesu bekennen, die als der höchste Lichtpunkt der göttlichen Offenbarung Himmel und Erde vereinigt und uns eine reiche Quelle des Glaubens, der Weisheit, der Tugend und deS Trostes eröfnet. Da, wo der Vater des Lichtes durch die That zu seinen Kindern

spricht, ist kein Aberglaube berechtigt, den freien Forschungen des denkenden Geistes Grenzen ju setzen, und kein Unglaube stark genug, den Faden unserer liebsten Hofnungen zu ver­ kürzen, oder abzuschneidey. Darum betrachten wir den Hin­ gang unseres Herrn in dem Zusammenhänge der G e sch i ch« t e, die uns diese außerordentliche Thatsache in einer langen Reihe von Jahrhunderten durch die bestimmtesten Zeugnisse bewährt. Darum achten wir bei ihr zugleich auf ihren Zu­ sammenhang mit der Natur, weil sie beiden ÄZelten ange­ hört, und auch diese sichtbare Ordnung der Dinge, in der wir leben, wie die Winde und Feuerflammen, Gottes Engel und Dienerin ist. Darum richten wir bei der Erhöhung Jesu zum Vater unsere ganze Aufmerksamkeit auf ihren Zusammenhang mit der sittlichen Weltordnung, weil nur der höchsten Vollendung der höchste Preis der aus­ harrenden Tugend beschieden ist. Darum verweilen wir mit dem ganzen Ernste des Glaubens bei der Persönlichkeit des göttlichen Menschensohnes, den der Himmel äufnehmen mußte, weil er vom Vater gekommen war. Darum vergessen wir endlich nicht, in welcher genauen Ver­ bindung dieser Glaube mit unserer eigenen Stel­ lung imReicheGottes und mit unserem eigenen nahen Uebergange in die Ewigkeit steht. Möge er doch schon jetzt

in diesen Tagen des Lichtes und der Freude jede Entwickelung unseres sinnlichen Lebens heiligen, daß uns Reinheit und Unschuld auf jeder Stufe unserer sittlichen Erneuerung für die Ewigkeit begleite; möge er uns Muth, Trost und Hofnung gewahren, wenn wir einsam und schwermüthig an den Grä­ bern unserer Freunde und Geliebten trauern; möge er uns den Himmel mit seinem Lichte, mit feinem Leben, mit seiner Wonne und Herrlichkeit öfnen, wenn uns die Erde mit ihrer Lust und ihren Reitzen nicht mehr ansprechen und ergötzen will, damit wir suchen, was droben ist und in unverrück­ ter Gemeinschaft des Herzens mit dem Erhöheten des Vaters vom Tode zum Leben hindurchdringen!

Amen.

XXIX. Am Sonntage Exaudi. Text: Matth. K. V. V. 19. Daß der Christ auch die kleinern Lebenspflich­ ten mit strenger Gewissenhaftigkeit erfüllen müsse.

Selig sind Alle, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.

S)?* a. Z.

Amen.

Es ist etwas Gewöhnliches, daß Menschen,

die sich nicht allein zu den gebildeten, sondern auch zu den guten und besseren rechnen, von denjenigen Sünden, die sie klein und unbedeutend nennen, mit einem Leichtsinne sprechen, der ihre, sittlichen Grundsätze verdächtig macht. Sich zu betrinken und bis zur Sinnlosigkeit zu berauschen, halten sie zwar für unrecht und unwürdig; aber sich fröh­ licher, als fröhlich zu trinken, scheint ihnen eine liebens, würdige Unordnung zu seyn, welche vor dem Richtcrsiuhle des Gewissens wenig, oder nichts zu bedeuten hat. Sich einer dreisten, oder kühnen Lüge schuldig zu machen, er­ klären sie für verächtlich und schändlich; aber sich mit ei­ ner kleinen, schlauen Unwahrheit aus der Verlegenheit des Augenblickes herauszusprechen, dünkt ihnen etwas Geringes und Unverfängliches zu seyn. Zu borgen und nicht zu be­ zahlen, nennen sie der Wahrheit gemäß eine entschiedene Treulosigkeit; aber ein geliehenes Buch, oder Kunstwerk so lang- an sich zu behalten, bis es von dem Eigenthümer vergessen wird, halten sie für eine Art des Erwerbes, der, wo nicht löblich, doch ohne Vorwurf und Tadel sei. Kom­ men alle diese Handlungen in nähere und ernstere Erwä­ gung, so gestehen die, welche sie vollzogen, zwar, daß sie gefehlt und gesündigt haben; aber sie sprechen diests Ur­ theil doch nur spielend, scherzend und mit einem spöttischen Lächeln aus; es kommt ihnen gar nicht in den Sinn, sie zu bereuen, oder sich ihrer zu schämen; sie bitten zwar um Nachsicht und Verzeihung, aber mit einem Tone und Mie­ nenspiele, welches hinlänglich beweißt, daß, ihrer Meinung v. Ammon'S Pred. B. n. ®

nach, hier gar nichts zn verzeihen ist; ja fie werden wohl unwillig und böse, wenn man diese Handlungen pflicht« widrig und unerlaubt nennt, und finden da eine engherzige Strenge- wo sich nur ein weiser und besonnener Tadel aus«

spricht. Bei der Gerechtigkeit, die unser erstes Gesetz ist, könn­ ten wir denen, welche so gestnnet sind und handeln, unse­ ren Beifall in gedoppelter Beziehung nicht versagen. Sie raumen ein, daß es Sünden, und zwar große und schwere Sünden giebt, durch die sich der Mensch mit einer Schuld beladen kann, die ihn sträflich und verwerflich macht; daS ist schon etwas Achtungswerthes an sinnlichen Geschöpfen, wie wir, die Alles nach ihrem Eigennutz und Vortheil be­ rechnen und die Heiligkeit der Pflicht immer nur mit einem gewissen Widerwillen anerkennen. Es sind ferner die­ jenigen, die wir bisher geschildert haben, von der Eng­ herzigkeit und Acngstlichkeit des Gewissens frei, welche Klei­ nigkeiten übertreibt, erlaubte, oder zulässige Handlungen für Sünden und Verbrechen erklärt, und sich dadurch das Leben selbst und seine Freuden verbittert^ das ist aber­ mals ein Vorzug, den man nicht übersehen darf. Aber wenn wir den Gegenstand, um den eS sich hier handelt, ernster und näher betrachten; so findet sich an der oben geschilderten Handlungsweise auch viel Tadelnswerthes und Verwerfliches. Oder hat der Leichtsinn, der fast scherzende und spöttische Ton, in dem wir von kleinen Sünden und Vergehungen sprechen, nicht offenbar etwas Unüberlegtes und Unwürdiges; sind wir nicht viel aufmerksamer und strenger gegen nns, wenn wir einen kleinen Flecken an unserem Gesichte, oder auf unserem Gewände bemerken; erfahren wir es nicht täglich an unS selbst, daß ein klei­ ner Anstoß oder Fehltritt auf unserem Wege uns man­ cherlei Unannehmlichkeiten und Schmerzen bereiten kann; wägen wir in unseren Unterhaltungen und Gesprächen nicht vorsichtig und sorgfältig jedes Wort ab, um Alles zu ver­ meiden, was Anderen widrig und mißfällig seyn könnte? Und bei den Anstößen und Verirrungen unseres sittlichen Wandels könnten wir gleichgültiger und sorgloser seyn; die

kleineren Flecken unseres Herzens und Gemüthes sollten weniger unsere Aufmerksamkeit verdienen; die geringen Süm den und Vergehungen sollten vor dem Richterstuhle unseres Gewissens weniger in Rechnung kommen; wir sollten es nicht einmal aus der gemeinen Erfahrung lernen, daß viele kleine Schulden sich zuletzt Haufen und einer ordentlichen Haushaltung oft eben so gefährlich werden, als eine große Vernachlässigung des verpfändeten, oder schlecht verwalte­ ten Eigenthumes? Za, fürwahr, auch Sünden, -ie wir für gering und unbedeutend halten, haben ihre großen und vielfachen Gefahren; auch sie sprechen für eine entschiedene Unvollkommenheit des Glaubens und der sittlichen Geistes­ bildung; auch sie beweisen eine herrschende Knechtschaft und Unregelmäßigkeit des Willens; auch sie unterbrechen die Gemeinschaft unseres Herzens mit Gott, ohne die es für uns kein Heil und keine Seligkeit giebt; ja sie werden in eben dem Verhältnisse nachtheiligee und verderblicher für uns, als wir sie verkennen, vernachlässigen, versi>otten und ihnen dadurch eine Herrschaft bereite«, die bald in größe-

ren Unthaten und Lastern hervortreten wird. Das wohl zu erwägen und unsere Füsse desto sicherer auf die ge­ rade Bahn des Lichtes und der Wahrheit hinzu­ lenken, soll daher heute unser gemeinschaftlicher Entschluß und Vorsatz werden. Wir erflehen uns auch hierzu den Beistand von oben re.

Text:

Evangel. Matth.

K. 5. V. 19.

Wer nun Eines von diesen kleinsten Geboten auflöset, und lehret die Leute also, der wird der Kleinste heißen im Himmcu reich; wer es aber thut und lehret, der wird groß heißen NN Himmelreich. Wie jede Religion,

wenn sie sich von dem äußeren

Tempeldienste allmählig zur inneren Gottesverehrung heraus­ bildet, den Sinn für Pflicht und Tugend zu üben und zu

schärfen pflegt; so hatten unter den Juden auch die Pha­ risäer zu Jesu Zeiten auf die Erklärung des mosaischen Ge­ setzes vielen Fleiß gewendet und feine Gebote in grosie 5 *

und kleine zu theilen versucht.

Sie "hatten bei diesem an

sich löblichen Beginnen nur einen gedoppelten Fehler be­ gangen; den ersten dadurch, daß sie diejenigen Gebote vorzugsweise groß nannten, die sich auf den äußeren Gottes­ dienst bezogen, und die eigentlich sittlichen Pflichten nur zu den kleinen, oder geringen zahlten; den zweiten noch un­ gleich verderblicheren dadurch, daß sie auf diese eigentlichen Gewissenspflichten nur einen geringen Werth legten und so dem Aberglauben und der Sünde mannichfache Nahrung bereiteten. Das ist es, was Jesus, unser Herr, in unseren Lexteswortrn nachdrücklich tadelt, um uns die Wahrheit an das Herz zu legen: daß der Christ auch die klei­ neren Lebenspflichten mit strenger Gewissen­ haftigkeit erfüllen müsse. Wir wollen sie daher in liefet Stund« mit Ernst beherzigen, und zwar so, daß wir zuerst sehen, was denn eigentlich diese Forderung Jesu aussage und enthalte, dann aber die Grün­ de erwägen, die uns verpflichten, ihr möglichst Genüge zu leisten.

I. Wenn der Herr seinen Freunden gebietet: auch die kleineren Lebenspflichtcn mit strenger Gewis­ senhaftigkeit zu erfüllen; so heißt das so viel: sie sollen das Große in der Sittenlehre nicht für'klein, das Kleine nicht für groß halten, sondern Beides in der gehörigen Verbindung

betrachten und so auch die kleinere Pflicht mit dem nöthigen Ernste des Gewissens vollenden. Das ist der Inhalt der wichtigen Stelle, die wir heute zu erklären haben. Das Große in der Tugendlehre nicht für klein zu achten, ist das Erste, was Jesus, unser Herr, verordnet. Oft geschah das nemlich von den Pharisäern, die mit dem falschen Maasstabe der Sittlichkeit, mit dem sie ihre Pflichten zu messen pflegten, die edelsten Tugen­ den ihres Ansehens beraubten und sie in den Schatten stellten. Vater und Mutter zu ehren, war ein

göttliches Gebot; aber fie hielten es für geringer, als die Verordnung, ein Opfer im Tempel zu bringen. Witwen und Waisen Recht zu schaffen, war eine heilige Mahnung des Propheten; aber einen Heiden zu bekehren, auch wenn er nachher, wie vorhin, ein Sohn der Hölle blieb, hielten sie für wichtiger und verdienstlicher, als daS

ewige Gesetz der Gerechtigkeit. Sie wurden durch diese falsche Ansicht erhabener Tugenden blinde Leiter der Blinden und fielen beide in die Grube. Das ist aber noch immer ein herrschender Irrthum der falschen Weisheit und Frömmigkeit. Einem Jeden das Seine zu lassen, ist ein Hauptgesetz des Rechtes; aber das Verdienst des Fremden stellen wir oft niedriger, als das Unverdienst der Unsrigen. Ungeheuchelte Bruderliebe ist das zweite Ge­ bot im Gesetze; aber wer nicht zu unserer Kirche und Ge­ meine gehört, der ist auch unser Bruder und Nächster nicht. Unverholen die Wahrheit zureden, da wir unter einander Brüder sind, ist eine hohe und heiligePflicht; wir aber gehen leicht und schnell darüber hinweg, wenn es sich darum handelt, Menschen zu Gefallen zu sprechen. Unser Inneres als einen Tempel des heiligen Geistes zu ehren, ist ein großes und unverbrüchliches Gebot; aber es muß bei uns weichen und zurücktreten, wenn irgend eine Begierde, oder Sinnenlust gestillt und be­ friedigt werden will. Daß wir uns nun solchen Ver­ irrungen hingeben und sie vor unserem Gewissen kaum in Rechnung bringen, ist ohne Zweifel demüthigend und beklagenswerth. Wie ein herrlicher Palast in der Ferne unS kleiner erscheint, als die Hütte, vor der wir stehen; so halten wir auch die hohe, die unendlich heilige Pflicht, deren Ruf vom Himmel kommt, für geringer, als die kleine Tugend des Augenblickes; es ist das ein Mangel an festen und gemessenen Grundsätzen, der für unsere Tugend und Sittlichkeit oft äußerst nachtheilig und verderblich wird. Eben so wenig will Christus, daß wir in der Sit­ tenlehre das Kleine für groß halten sollen. Auch dieser Verirrung wurden die Pharisäer auf eine auf­ fallende Weise schuldig; sie machten, wie ihnen Christus

selbst vorwirft, di« Denkzettel und Säume an ihre« Kleidern groß, verzehnteten Münze, Till und Kümmel, und weil das andere Israeliten nicht thaten, so glaubten sie, deßwegen besser, heiliger und rechtgläubi­ ger, als sie zu seyn. Bald genug ist dieser Irrthum der jüdischen Schriftgelehrten in die christliche Kirche einge-rungen und hat in ihr unaussprechlichen Schaden gestiftet; inan fieng damit an, das Große in der Religion, die Anbetung Gottes im Geiste und in der Wahr­ heit, als etwas Kleines und Geringes zu betrachten; die unmittelbare Folge hiervon war nun, daß man das Kleine für etwas Großes hielt und namentlich auf Almosen, Fa­ sten und Wallfahrten einen hohen Werth legte; es fehlte nur noch der Wahn, daß der Mensch durch diese an sich kleinen, guten Werke den Himmel verdienen könne; und

als man auch diesen auszusprechen thöricht genug war, hatte das Evangelium Christi seine Reinheit und selig" machende Kraft verloren. Und wir, sind wir nicht noch immer versucht, diesen sittlichen Kleinigkeitsgeist in das Le­ ben einjuführen; halten nicht auch wir das für etwas

Großes, daß Becher und Schüssel rein seien,- und kümmern uns dann wenig, wenn das, was sie enthalten, durch Raub und Ungerechtigkeit erworben ist? Schmük»

ken nicht auch wir die Graber der Unsrigen und machen uns dann keinen Vorwurf darüber, daß wir ihr Leben durch Gram und Kummer verkürzten; sind nicht auch wir am Tage des Herrn still und ruhig, und sprechen dann ängstlich, ists recht, am Sabbathe zu heilen; ge­ ben nicht auch wir gern Almosen an den Stra­ ßen und machen uns dann kein Bedenken, auf Zins und Wucher zu leihen, oder im Verborgenen der Witwen Häuser zu plündern? O dieser unglückliche Hang der Menschen, geringe und untergeordnete Pflichten, die nur ein Ucbergang zu höheren und wesentlichen Tugenden sind, zu überschätzen und auf sie große Ansprüche zu gründen, führt uicht allein zu einer kleinlichen Denkart und Verkrüppelung des Geistes, sondern auch zur Aengstlichkei'k, Engherzigkeit, Heuchelei und Verdammungssucht, und verschließt uns dann

den Weg zu der Erkenntniß der Wahrheit, zu der Freiheit, Vollkommenheit, Liebe und Reinheit des Herzens, ohne die es unmöglich ist, zu Gott zu kommen. Bestimmt und deutlich hat daher Jesus die Forderung an uns ausgesprochen, die großen und kleinen Pflichten des Lebens in ihrem genauen Zusam­ menhänge zu betrachten. Dies sollte man thun, spricht er zu den Pharisäern, und Jenes nicht lassen. Daß sie freiwillig den Zehnten von allen Gütern, auch von den kleinen Feldfrüchten gaben, mißbilligt er nicht; aber er will nun auch, daß sie sich des heimlichen Be­ truges und Wuchers enthalten. Daß sie zweimal in der Woche fasteten, gestattet er ihnen gern, wenn'es ihre Andacht beförderte; aber er schärft ihnen zugleich die höhere Pflicht der Anspruchlosigkeit und Demuth ein. Große

Denkzettel, oder Gebetsriemcn zu führen, verbietet er ihnen nicht; aber er will auch, daß sie bei verschlos­ senen Thüren beten sollen, damit ihnen der Vater das vergelte öffentlich. Die höhere, die heilige und unerläßliche Verbindlichkeit soll also keinesweges übersehen, nein, sie soll in der Rangordnung der Tugenden hoch gestellt, sie soll vor allen anderen geübt und vollbracht, dann aber auch die mittelbare, geringere und kleinere geachtet und nach ihrer sittlichen Stellung und Würde in das Leben eingeführt werden. Den Tag des Herrn zu feiern und an ihm den Gottesdienst fleißig abzuwarten, ist eine theure und ehrwürdige Pflicht; aber sie muß weichen, wenn ein wichtiges und dringendes Geschäft in deinem Berufe die entschlossene Thätigkeit des Augen­ blickes fordert. Durch einen anständigen Aufwand dein Haus in Ehren zu erhalten, ist eine achtungswerthe Pflicht; aber sie muß weichen und zurücktreten, wenn eine zahlreiche Familie von dir große Einfachheit und Beschränkung for­ dert. Deine Gesundheit zu schonen und dein Leben nicht in Gefahr zu setzen, ist eine natürliche und angemessene Pflicht; aber du mußt etwas wagen und die Gefahr nicht scheuen, wenn du einem Kranken beistehen und einen Un­ glücklicher» retten kannst. Niemand hat diesen genauen Zu-

sammenhang der hohen und niedrigen Tugenden des Le­ bens weiser erwogen, besser gewürdigt und inniger zu ei­ ner sittlichen Vollkommenheit verbunden, als Jesus, der Herr; genau und pünktlich vollbrachte er, was die Sitte

des Sabbaths, des Tempels, des Landes von ihm for­ derte; wenn es aber darauf ankam, der Wahrheit das Zeugniß zu geben, einen Kranken zu heilen, oder zu suchen, was verloren ist, da mußten alle diese Rücksichten verschwinden; da sagt er selbst zu seinen Schü­

lern, wer Vater oder Mutter mehr liebt, als mich, der ist mein nicht werth. In allen Kämpfen des Gewissens mit der Welt und ihren Satzungen hat da­ her seine Sittenlehre einzig deßwegen immer ihre hohe Würde behauptet, weil sie den Grundsatz durch Wort und Beispiel bewährte; gebt dem Kaiser, was d-es Kai­ sers und Gott, was Gottes ist. Daher will der Herr, daß wir auch den kleine­ ren Pflichten in dieser Ordnung mit vollem Ernste Genüge leisten. Wer eines, spricht er, von diesen kleinen Geboten auflöset, und leh. ret die Leute also thun, der wird der Kleinste heißen im Himmelreiche; wer es aber thut und lehret, wird groß heißen im Himmelreiche. In eben dem Verhältnisse, als die Pharisäer den Werth des äußeren Gottesdienstes überschätzten, setzten sie auch die geselligen Tugenden herab; sie hielten es namentlich für

etwas Kleines und Geringes, einen Heiden zu verachten, zu beleidigen und zn betrügen. Das mißbilligt der erha. bene Stifter unserer Religion mit großem Nachdrucke; er will auch die kleinste Pflicht des Sittengesetzes bewahrt, eingeschärft und beobachtet wissen. Das ist aber gerade die Wahrheit, die wir heute zu erwägen berufen sind; wir sollen das Große in der Sittenlchre nicht für klein und das Kleine nicht für groß halten, sondern jede Pflicht deS Lebens nach ihrem Werthe schätzen, und dann auch die kleinere Verbindlichkeit, wenn sie an die Reihe kommt, mit Hem Ernste erfüllen, den jede Angelegenheit des Gewissens

fordert. Eine kleine Unhöflichkeit, Unmäßigkeit imb Heuchelei, eine kleine Lüge, ein boshafter Witz; ein kleiner Betrug im Spiele, ein kleiner Uebersatz in der Berechnung unserer Dienste und Leistungen wird von uns für eine leichte Ueber« tretung, für rin kleines Gebot gehalten, das wir ohne Bedenken auflösen und verletzen, ja wohl gar verspott ten und verächtlich machen. Daran handeln wir nun sehr unweise und unrecht; wir beweisen dadurch, daß wir das Wesen der Religion und Tugend noch gar nicht begriffen haben; wir stellen uns dadurch den rohen Israeliten, oder den heuchlerischen Pharisäern gleich; wir werden in jedem Falle unserer sittlichen Würde verlustig und sinken zu den Kleinsten im Himmelreiche herab. Sind wir hin« gegen in den Angelegenheiten des Gewissens weder ängst­ lich, noch leichtsinnig; haben wir nicht nur geübte Sinne, jedes Unrecht zu erkennen, sondern auch ein zar­ tes Gefühl für Erweisungen deS Wohlwollens und der Liebe; wissen wir jede Betheurang, jeden Gruß, jedes Almosen, jedes strenge oder freundliche Wort zu bemessen; vergessen wir nicht, daß auch ein Trunk Wasser, mit Güte und Liebe gereicht, vor Gott seine« Werth hat, und richten nach diesem Grundsätze unser Leben und unseren Wandel ein, dann sind wir erst gebildete, edle Menschen und Chri­ sten ; dann gehören wir, als Lehrer und Thäter des Wor­ tes, zu den Großen im Himmelreiche; dann wird die Verheißung Jesu auch an uns in Erfüllung gehen: selig sind, die reinen HerzenS sind, denn sie werden Gott schauen.

II. Aber eine Wahrheit erkennen und begreifen, heißt noch nicht von ihr überzeugt seyn; es bedarf hierzu noch ent­ scheidender Gründe und Beweise; von ihrer Macht

und Gewalt muß unser Bewußtseyn umschlossen und ge­ fangen genommen seyn, wenn die Lehre den Willen erfas­ sen und zum freudigen Rechtthun bestimmen soll. So kön­

nen und werden auch die

kleinere« Pflichten der

christliche» Sittenlxhr« nur dann bei un- in das Leben eintreten, wenn wir un$ erinnern, dqß uns dazu die Einheit des heiligen Gesetzes, aus dem sie fließen, der genaue Zusammtnhang der niederen Tugend mit der höheren, und zuletzt die reine und unbefleckte Vollkommenheit auffordert, zu der wir -ls Christen berufen sinh.

Aus einem heiligen Gesetze fließt dir große und Hie kleine Pflicht, der wir Genüge leisten sollen. So Jemand das ganze Gesetz halt, spricht Jakobus, und sündiget an einem, der ists ganz schuldig. Als Anfänger in der Tugend und GM« seligkeit halten wir das zwar für ein hartes WM; wir berechnen da unseren fittlichen Werth nur nach einzelnen Handlungen; wir gleichen wohl, wie bei einem Kaufe oder Handel, Fehler und Tugenden gegen einander aus, und da wir uns nur selten streng richten, so glauben wir auch hei einzelnen Sünden und Gebrechen noch gute und from« me Menschen zu seyn. Aber vor Gott ist das anders; denn der gesprochen hat, du sollst nicht ehebrechen, der hat auch geboten, du sollst ein Weib nicht an­ sehen, seiner zu begehren in deinem Herzen. Der befohlen hat, du sollst nicht tödten, der hat auch verordnet, leget die Lügen ab und redet Wahrheit ein Jeglicher mit seinem Nächsten. Wie er heilig ist, so sollen auch wir heilig seyn; es ist zuletzt,mw ein Gesetz der Weisheit, der Freiheit und Liebe, daS von ihm ausgeht und alle unsere Handlungen umfassen und leiten soll. Das sagt dir auch dein Herz und Gewissen; du kannst am Ende des Tages nicht die guten und bösen Thaten gegen einander aufheben, oder fragen, wie viel du noch im Vortheile seiest; denn ein Betrug, ein Diebstahl, eine Gewaltthätigkeit reicht schon hin, dich deiner Unschuld und deines guten Namens verlustig zu machen; wie ein wenig Sauerteig den ganzen Teig durchdringt; so wird die Lauterkeit deiner bisherigen Tugend durch eine vorsätzliche Sünde schon

75 verunreinigt und getrübt.

Selbst wenn dieses Gebot, das

du klein nennest, bei deiner Unwissenheit und mangelhaft tcn Einsicht noch nicht deutlich von dir erkannt worden wäre, kannst du es Loch nicht ungestraft verletzen; du kannst ein Kind nicht beleidigen, kannst dem, der dich grüßt, den Gegengruß nicht versagen, ohne für deinen Leichtsinn oder Stolz zu büßen; denn die ohne Gesetz sündi,

gen, werden ohne Gesetz zu Grunde gehen, weil nach der bestehenden Ordnung Gottes alles Böse dem Mem fchen Unheil und Verderben bringt. Schon darum müssen kleinere Lebenspflichtrn gewissenhaft von uns erfüllt wer» den, weil sie, wie die größeren und wichtigeren, aus ei­ nem heiligen und untheilbaren Gesetze Gottes hervorgehen.

Das wird uns noch einleuchtender werben, wenn wir bemerken, daß sie auch mit den höheren Tugen­ den genau zusammenhängen. AIs Petrus in dem Vorhofe des Hohenpriesters sprach, ich kenne diese« Menschen nicht, glaubte er nur eine kleine Unwahrheit gesprochen zu haben, die seine Angst und Verlegenheit wohl entschuldigen könne; aber bald sah er zu seinem Schrekken, daß er auf demselben Wege stand, welchen Judas, der Derräther, betreten hatte; er gieng hinaus und weinte bitterlich. Auch du hältst vielleicht eine kleine Lüge in der Roth für etwas Gleichgültiges und Unver­ fängliches; aber dein reiner Wahrheitsfinn ist nun ver­ loren; die vermeinte Roth, von der du dich überwinden ließest, wird bald genug wicderkehren; du wirst es in der Ableugnung dessen, was du gestehen solltest, bald zur Drei­ stigkeit und Kühnheit bringen und vielleicht mit einem Meineide endigen, der dich in unendliches Elend stürzt. Ein kleiner Betrug im Spiele scheint dir nichts Ernstes und Wichtiges zu seyn; aber stufenweise schreitest du zu dem bedeutenderen und größeren fort; du leugnest, du schwörest falsch und streitest; du kannst dich nun einer Ge­ waltthätigkeit und eines Verbrechens schuldig machen, wel­ ches deine Ehre befleckt und deinen guten Namen für im-

wer zu Grunde richtet. 3« einer fröhlichen Gesellschaft dich einmal der Nüchternheit und Mäßigkeit zu cntschlagen, hältst, du für eine Unordnung, die kaum der Rede werth ist,- aber die einmal verlorene Besonnenheit ist von der Unbesonnenheit nicht mehr ferne; böse Gespräche ver­ derben gute Sitten; du kannst nun zu Lüsternheiten und Ausschweifungen verleitet werden, die du mit dem Verluste deiner Gesundheit und deines guten Rufes büßen

mußt. Wer kann sie berechnen, die schweren Unthaten und Verbrechen, die immer nur von kleinen Fehlern und Ver­ irrungen ausgiengen ; die Zahl von Streitigkeiten und Zwi­ sten, die mit einem losen Worte anfiengen und mit einem blutigen Zweikampfe endigten; die Zahl der Veruntrau« ungcn, die mit einer Kleinigkeit begannen und mit einem großen Diebstahle endigten; die Zahl von Betrügereien, die zuerst nur einen leichten Verweis verdienten, und allmählig zu einer Strafwürdigkeit heranwuchsen, die in Ket­ ten und Banden ihren Lohn fand? Ja, fürwahr, auch das kleinste Gebot des Gewissens aufzulösen und zu über­ treten, ist gefährlich für unsere Tugend, für unser zeitli­ ches und ewiges Heil; nur der erste Schritt zur Sünde, wie klein und gering er - auch in seiner Abweichung von dem Ziele der Pflicht erscheinen mag, kostet Kampf und Ueberwindung; der zweite und dritte folgt dann eben so schnell, als dem Straucheln der Fall, dem Falle die Er­ schütterung und das Verderben folgt. Darum wachet und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet, denn der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Und so darf kleinere Pflichten setzen, daß wir unbefleckten Wären wir, wie

ich denn, eure Gewissenhaftigkeit auch für des Lebens zu scharfen, nur noch hinzu als Christen zu einer reinen und Vollkommenheit berufen sind. die Thiere, in dem großen Haushalte der

Natur nur zu einem, oder dem anheren Dienste bestimmt, so könnten wir uns begnügen, wenn wir diesen geleistet und mit ihm auch die Absicht unseres Daseyns erreicht

hätten. Aber wo wir Menschen in der Schöpfung stehen, da thut sich uns in unserem Bewußtseyn immer eine ganze Welt auf; wir sollen überall vollkommen werden wie der Vater im Himmel vollkommen ist; wir sollen stets das Bild des vollkommenen Mannes vor Augen haben, der in keinem Worte fehlt; wir sollen auch im Geringsten treu seyn, daß wir treu im Großen werden und einst ohne Reue und Vorwurf diese Erde verlassen können. Würde das nun möglich seyn, wenn wir nur ein Gewissen für große Verbrechen, oder große Tugenden hatten; wenn wir vcrgaßen, daß jede freie Handlung ihren Zweck, jeder Zweck unseres Handelns seinen sittlichen Werth, oder Unwerts­ hat ; wenn wir nicht darauf achteten, baß für den erleuch­ teten Christen Alles Sünde ist, was nicht ans dem Glauben kommt; wenn wir nicht unverrückt Gott vor Augen und im Herzen hätten, daß wir in keine Sünde willigen, sondern überall nur Werke voll­ bringen, die in ihm gethan find? Und fangt denn unsere sittliche Erziehung für die Ewigkeit nicht überall von geringen Pflichten an: sind die Tugenden, mit welchen wir als Kinder, als Anfänger und Zöglinge in der Reli­ gion unsere sittliche Laufbahn beginnen, nicht immer nur eine Vorbereitung auf das Wichtigere und Höhere; haben wir nichtz Alle zuerst fremde, geringe, kleine Güter zu verwalten, bis uns der Herr die wahrhaftigen anvertrauet und uns über Viel setzt; und wenn wir diese kleinen Gebote auflösen und geringschätzen, wer­ den wir da auch nur die geringste Hofnung haben, einst im Himmelreich groß und Erben des ewigen Le­ bens zu werden? O so wollen wir es denn wohl erwägen, daß nach der weisen Ordnung Gottes Niemand groß und ausgezeichnet wer­ den kann, der das Kleine verachtet, nicht groß in seinem Erwerbe, in seinem Berufe, in sei­ ner Tugend und Frömmigkeit; wie in der Ent­ wickelung undBildung unseres Körpers Alles,

auch die kleinste Veränderung, vorhergefehen und gemessen ist, so steht auch der Bau unseres inneren Menschen nach allen seinen Theilen in der genauesten und innigsten Verbindung, daß er sich ohne Lücken und Tadel erhebe zu einem reinen und heiligen Gottestempel. Da­ rum wollen wir nicht aufhören zu prüfen, was das Wahre, das Gute und Beste sei; nicht allein abtreten wollen wir von der Ungerechtig­ keit und Alles fliehen, wodurch wir Schaden an unserer Seele leiden, sondern auch den goldenen Spruch vor Augen haben, wer da weiß Gutes zu thun und thut es nicht, dem ist es Sünde. Ueber jedes unnütze Wort, über jede Regung einer bösen Begierde wollen wir wachen, daß wir im Lichte wandeln, und durch und durch geheiligt einstens rein und unsträflich erfunden werden am Ta­ ge des Gerichtes. Amen.

XXX.

Erste Pfingstpredigt. ^ext: Evangel. Joh. K. XIV. D. 23 — 31. Wie wir der wahren Begeisterung fähig wer­ den sollen, der wir Alle jur Vollendung unserer sittlichen Laufbahn bedürfen.

Herr, tröste uns Alle mit deiner Hülfe,

Geist erhalte uns.

und dein freudiger

Amen.

a. 3- Alle Beobachter des menschlichen Herzens sind darüber einverstanden, daß die Tugend unseres Geschlechtes ermattet, oder doch viel von ihrer Thätigkeit verliert, wenn sie nicht von Zeit zu Zeit durch höhere Antriebe bewegt und in eine neue Wirksamkeit versetzt wird. Wie auf un­ seren Fluren die Saat gedeiht und fröhlich Halmen ge­ winnt, wenn der Wind sie ergreift und gleich wallenden Fluthen bewegt; wie in den Hainen Alles grünt, blüht und in neuen Keimen aufschießt, wenn ein fruchtbringen­ des Ungewitter Zweige und Stämme erschüttert und die Lebenskräfte der Wurzel bis zu dem Gipfel emporleitet» so bewegen sich auch die geistigen und sittlichen Kräfte des Menschen freier und wirksamer, wenn eine höhere und

himmlische Begeisterung sein Herz durchdrungen und edlere Bestrebungen bei ihm geweckt hat. Die unveränderte Glcichmüthigkeit, die immer gleiche Ruhe des Verstandes und Herzens, welche die Weisen der Vorzeit als die höchste menschliche Vollkommenheit rühmen, ist zwar, an sich be­ trachtet, alles Lobes werth: im wirklichen Leben aber artet sie fast immer in kalte Klugheit und Selbstsucht, oder in die gemeine Weltliebe des Unglaubens aus. Ein Mensch aber, der nicht glaubt, nicht betet, nicht von den Gefühlen der Andacht, der Sehnsucht und Hofnung bewegt und über das Irdische hinausgetragen wird, der kann gewiß nicht gut, nicht fromm, und eben daher auch nicht wahrhaft vollkom­ men und selig werden, wenn er auch sonst den Schein dec Tugend zu behaupten und durch mancherlei äußere Vor« züqe sich empfehlen sollte.

v: Ammous Pred. B. U.

®

In unseren Tagen wird man kaum geneigt seyn, diese Wahrheit zu bezweifeln, da man fast überall mehr über das Uebermaas, als über den Mangel der Begeisterung zu klagen Veranlassung findet. Eure Söhne und Töch­ ter sollen weissagen, spricht der Prophet, eure Jünglinge sollen Gesichte sehen und eure Aeltesten sollen Träume haben; das möchte man fast eine Andeutung unserer Zeiten nennen, wenn man die merk­ würdigen Erscheinungen derselben genau beobachtet und er­ wogen hat. Werfen wir einen Blick in das bürgerliche Leben, so findet man überall ein unruhiges Hinausstreben in die Znkunft, das in der Vergangenheit keinen Grund und in der Gegenwart keinen Boden hat. Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die sittliche Welt; es fehlt auch hier nicht an Menschen, die von den höchsten und edelsten Tugenden mit großer Wärme sprechen und doch fast in jeder Stunde die gemeinsten Pflichten der Gerechtigkeit und des Wohlwollens verletzen. Wenden wir uns endlich zu den Bewegungen auf dem Gebiete der Religion und der Kirche Jesu; so finden wir fast eben so viele Ausleger der Bibel, als Leser; es ist Alles voll von neuen Prophe­ ten und Aposteln; es gebricht fast nirgends an aufwallen­ den Gemüthern, die sich eigener Offenbarungen rühmen und gerade die Ungelehrtesten und Befangensten sind in der Re­ gel auch die Erhitztesten, Hartnäckigsten und Unbeugsamsten. Ist denn aber diese Begeisterung auch die wahre und heil­ same; bringt sie rings um uns her überall die Früchte der Besserung und sittlichen Erneuerung, die man von je­ der himmlischen Erleuchtung erwarten darf; hat sie die Eintracht des Glaubens, vie Ordnung des gemeinen We­ sens, den Flor der Wissenschaften und Frömmigkeit geför­ dert? Oder sind die Menschen vielmehr überall unruhiger und kühner geworden, seit sie begeistert sind; oder haben sie in Staat und Kirche das Band der Ordnung und des Friedens zerrißen, seit sie sich himmlischer Erleuchtungen rühmen; oder hat der Aberglaube und die Schwärmerei mit falschen Geheimnissen häufig ein keckes Spiel getrie­ ben, welches nicht etwa nur gemeine Verirrungen und

Thorheiten, sondern kühne, blutige Frevel und Verbrechen erzeugte? Ja, gewiß, die falsche Begeisterung ist dem Menschengeschlechte eben so nachtheilig und verderblich, wie die falsche Religion, sie gleicht wie die Leidenschaft, einem Waldstrome, der mit blindem Ungestüme Alles ergreift und mit sich fortreißt; sie ist noch weit gefährlicher, als das gemeine Laster, weil sie daS im Namen Gottes und seines heiligen Geistes beginnt, was doch aus den Antrieben ei» nes unreinen und verdorbenen Herzens hervorgeht. Die Erleuchtung der Apostel, deren feierliches Andenken wir heute begehen, wird uns Allen die reinen und lauteren Quellen der wahren Begeisterung öfnen; in stiller Andacht sammlen wir uns daher zu einer Betrachtung, die für un­ ser wahres Heil so wichtig ist; ein vereintes,, herzliches Gebet wird uns darauf würdig vorbereiten tu.

Evangel. Joh. K- XIV. V. 23 — 31. Jesus antwortete, und sprach zu ihm: Wer mich liebet, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen, und Wohnung bei ihm machen. Wer aber mich nicht liebet, der halt meine Worte nicht. Und das Wort, das ihr höret, ist nicht mein, sondern des Vaters, der mich gesandt hat. Solches habe ich zu euch geredet, weil ich bei euch gewesen bin. Aber der Tröster, der heilige Geist, welchen mein Vater senden wird in meinem Namen, dersclbige wird es euch alles lehren, und euch erinnern alles deß, was ich euch gesagt habe. Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt giebt. Euer Herz erschrecke nicht, und fürchte sich nicht. Ihr habet gehöret, daß ich euch gesagt habe: ich gehe hin, und komme wieder zu euch. Hättet ihr mich lieb, so würdet ihr euch freuen, daß ich gesagt habe: Ich gehe zum Vater; denn der Vater ist größer, denn ich. Und nun habe ich es euch gesagt, ehe denn eS ge­ schiehet, auf daß, wenn es nun geschehen wird, ihr glaubet. Ich werde hinfort mehr nicht viel mit euch reden; denn es kommt der Fürst dieser Welt, und hat nichts an mir. Aber auf daß die Welt erkenne, daß ich den Vater liebe, und ich also thue, wie mir der Vater geboten hat, stehet auf, und lasset uns von hinnen gehen.

Die höhere Leitung des göttlichen Geistes, welche Je­ sus, der Herr, seinen Freunden in dem verlesenen Abschnitte 6*

verspricht,

ist zwar zunächst den Aposteln

zur Gründung

und Ausbreitung des göttlichen Reiches ausschließend be­ stimmt gewesen, und darf folglich in dieser Kraft und Wirk­ samkeit von keinem Christen unserer Tage mehr erwartet werden. Wie indessen-alle Lehren und Thatsachen des Christenthums nicht bloß der Geschichte angehören, sondern

auch einen wirksamen Einfluß auf das Leben haben; so gilt das namentlich von den Wirkungen des göttlichen Gei­ stes, durch welche die Schüler unseres Herrn mit großen Talenten ausgerüstet und zu edlen Tugenden erwärmt wor­ den sind. Ich werde euch daher unter Gottes Beistand in dieser Stunde zeigen, wie wir der wahren Begei­ sterung fähig werden sollen, der wir Alle zur würdigen Vollendung unserer sittlichen Lauf­ bahn bedürfen. Das wird aber geschehen, wenn wir erstens auf die Quellen achten, aus welchen die Begeisterung der Apostel geflossen ist, dann aber auch auf die heiligen Absichten und Endzwecke, wozu sie uns von Gott verliehen ist.

I. Daß wir unsere sittliche Laufbahn ohne' höheren Bei­ stand nicht würdig sortsetzen und vollenden können, setze ich als eine bekannte und entschiedene Wahrheit voraus. Als Christen wissen wir ja, daß schon unser natürliches Leben nur durch Gottes Kraft besteht, weil sein Aufsehen unseren Othem bewahrt; die Schrift sagt uns bestimmt und deutlich, daß nur die, welche von Gottes Geiste getrieben werden, seine Kinder sind; und überdies lehrt uns noch die Erfahrung, daß Menschen, die durch eigene Kraft gut und Gott wohlge­ fällig werden wollen, leicht in ihrem Eifer erkalten, und den Versuchungen der Sünde nicht leicht widerstehen kön­ nen. Alles kommt hier also darauf an, daß wir die wahre Begeisterung von der falschen unterscheiden, indem wir zunächst die Quellen erforschen, aus welchen die Begeisterung der Apostel geflossen ist. Hier

weiset unS aber unser heutiges Evangelium auf ein rei?

nes Herz, einen unterrichteten Verstand und ein lauteres, für höhere Eindrücke empfängliches Gefühl, als auf wesentliche Bedingungen hin, unter

welchen eine Gemeinschaft mit dem Geiste Gottes mög­ lich ist. Ein reines, tugendreiches Herz war also die erste Quelle, aus welcher die Begeisterung der Apostel geflossen ist. Wer mich liebt, spricht Jesus, der wird mein Wort halten und mein Va­ ter wird ihn lieben und wir werden kommen und Wohnung bei ihm machen.

ju ihm Er sagte

das seinen Freunden zu einer Zeit, wo er den Judas aus ihrer Mitte entlasten, wo er sie von den eitlen Erwar­ tungen eines irdischen Reiches losgerissen und mit dem gan­ zen Umfange ihrer Pflichten vertraut gemacht hatte; nicht die zu mir Herr Herr sagen, sondern den Wil­ len meines Vaters im Himmel thun, nicht die­ jenigen, welche lange Gebete fürwenden, sondern, die ein heiliges Leben führen, sind Gott nahe und können sich der seligen Gemeinschaft seines Geistes freuen. Unleugbar war auch mit den Jüngern Jesu seit dem Tage seines Leidens eine große sittliche Veränderung vorgegangen; sie hatten ihrem Herzen, ihrer Liebe, allen ihren Bestrebungen eine höhere und edlere Richtung gege­ ben; sie waren bei dem Volke beliebt, weil sie sich bemüheten, ein gutes Gewissen vor Gott und Menschen zu bewahren, und bereiteten sich überall durch einen würdigen Wandel auf die himmlische Begeiste­ rung vor, die ihnen am Tage der Pfingsten so reichlich zu Theil wurde. Ist das aber auch der Fall bei denen, die in unseren Tagen sich auf höhere Anregungen und gött­ liche Antriebe berufen; sind das nicht oft unruhige und flüchtige Menschen, die von keiner Arbeit und keinem Be­ rufsfleiße wissen wollen; heuchlerische Betrüger, die den Schein der Gottseligkeit in ein Gewerbe ver­ wandeln, um durch ihn schwache Seelen zu berücken; geheime Sünder, die der Unmäßigkcit und stillen Lüsten er-

geben sind; sind cs nicht oft Abentheurer und heimliche Verbrecher, die eher von dem bösen Geiste besessen, als von einer heiligen Kraft aus der Höhe bewegt werden? Nein, der himmlische Geist kommt in keine un­ heilige Seele und wohnet in keinem Körper der Sünde unterworfen; wer mich nicht liebt, spricht Jesus, der hält meine Worte und das Wort des Vaters nicht, der mich gesandt hat; ein reines vorwurfsfreies Herz, ein würdiger und tadel­ loser Wandel ist daher für uns und für Alle, die sich ei­ ner höheren Anregung ihres Gemüthes erfreuen wollen, die erste und wesentliche Bedingung, die kein anderer Vor­ zug des Standes, oder Glückes je ersetzen kann. Dennoch wird ein unterrichteter und kenntNißreicher Verstand von Jesu bestimmt als die zweite Quelle der wahren Begeisterung bezeichnet. Der Tröster, der heilige Geist, sagt unser Evangelium, welchen mein Vater senden wird in meinem Namen, derselbige wird euch Alles lehren, und euch erinnern deß, das ich euch gesagt habe. Ge­ mäß dem großen Weltgesetze, nach welchem nichts aus nichts entsteht, sondern Alles aus vorhergehenden Ursachen sich entwickelt, soll auch der Tröster vom Vater die

Apostel nicht mit einem Male erleuchten, oder sie aus Un­ wissenden in Weise und Gelehrte verwandeln; nein, er soll sie-an das erinnern, was ihnen Jesus vor­ her gesagt hatte; er soll sie durch diese Erinnerungen belehren und aus ihnen neue Einsichten und Kenntnisse ableiten; er soll also auf dem Grunde fortbauen, den Jesus durch einen dreijährigen Unterricht in den Seelen sei­ ner Jünger gelegt und durch den er sie einer himmlischen Erleuchtung fähig gemacht hatte. Petrus, Johannes und nach ihnen Paulus, haben sich nur darum in der Folge durch so hohe, erhabene und wahrhaft göttliche Offenba­ rungen ausgezeichnet, weil sie von Jesu viel gelernt, weil sie viel gedacht, weil sie sich einen Schatz von wirklichen Kenntnissen, wenn schon nicht von gelehrten Worten und

Formeln, erworben und sich dadurch auf die höhere, himmlische Pflege ihres Wissens vorbereitet hatten. Ist das denn aber auch der Fall bei denen, die in unseren Lagen von höheren Antrieben und himmlischer Begeiste­

rung sprechen; sind das nicht oft ungebildete, unwissende und von allen gründlichen Kenntnissen entblößte Menschen; sind es nicht oft gemeine Eiferer, die kaum die sichtbare Natur um sich her, geschweige Gott und sein geistiges und unsichtbares Reich kennen; sind es nicht oft Verblendete und Verhörte, deren ganze Weisheit in wenigen Gemein­ plätzen, in einigen dunklen Formeln, in unrichtig aufgefaß­ ten Bibelsprüchen, oder alten Liederversen besteht? Wollt ihr daher die falschen Propheten prüfen, deren in unseren Zeiten so Viele in die Welt ausgehen, so fraget vor Allem, wie es mit ihren Talenten, mit ihrer Bildung, mit ihren Einsichten und Kenntnissen steht; so trauet Keinem, der sich rühmt, mit einem Male wunderbar erleuchtet und aus einem Thoren in einen Weisen, aus einem Unmündigen in einen Helden des Glaubens verwan­ delt worden zu seyn; so unterscheidet die Gelehrsamkeit, die man allerdings bei der höheren Einsicht in göttliche Dinge entbehren samt, von deutlichen Begriffen und Grundsätzen, in welchen die Summe des Gebotes, wie der Keim in dem Samenkorn, enthalten ist; so bereitet tuch selbst so wurde er doch in sei­ nem Leiden und bei den unverdienten Vorwürfen seiner Freunde an der Gerechtigkeit Gottes irre und brach, von schnellem Unmuthe überwältigt, in die kühnsten Anklagen der Vorsehung aus. Da erschien ihm der Herr im Unge­ witter, wies ihn auf die herrliche Ordnung in der Natur, auf die weise Einrichtung des Weltalls, auf die mannichfachen Wunder der Schöpfung hin, und entwafnete seinen Unglauben durch den Zuruf; wo wärest du, als ich

die Erde gründete, da mich der Morgenstern und alle Kinder Gottes lobten? Sag' es an, wenn du so weise bist. Nun beugte stch Hiob und sprach: siehe, ich bin zu leichtfertig gewesen, was soll ich antworten? Ich will meine Hand auf meinen Mund legen. Das ist auch uns zum Vorbilde geschrieben, und wir können daher diese Stunde nicht besser anwenden, als wenn wir unter ähnlichen Ver­ suchungen unserer Zeit auf ernste Warnungen vor dem Leichtsinne des Glaubens achten. Wir wol­ len zuerst sehen, wie sich dieser Leichtsinn in un­ seren Tagen äußert; dann aber di« Warnungen vernehmen, der wir in Beziehung auf ihn be­ dürfen.

I. Ein Mensch, der in seinem Glauben leichtstnnkg ist, fasset weder einen bestimmten Gegenstand, noch eine sichere Regel desselben, sondern hängt bei dem, was er annimmt, oder verwirft, immer nur von dem Eindruck« des Augenblickes ab. Mögten doch nur Wenige unter uns dem zerfließenden Bilde des Gemüthes gleichen, welches wir nun entwerfen werden! Jeder Leichtsinnige auf dem Gebiete des Glaubens wird nie einen bestimmten Gegen­ stand dessen erfassen, was er in der Religion für wahr zu halten hat. Sprecht ihm von Jesu, dem Heilande der Welt; er weiß nicht, ob er stch unter ihm einen Engel, oder Menschen, einen Lehrer, oder Prie­ ster, einen Helden, oder Dulder denken soll: nach seiner Vorstellung von ihm haben stch Himmel und Erde, Licht und Schatten, Hoheit und Niedrigkeit so wunderbar zu seine Person getheilt, daß er ihn, wie die Göttersöhne des HeidenthumS, für eine räthsclhafte und unerfaßliche Er­ scheinung hält. Sprechet dem Leichtfinnigen von der unfichtbaren Welt, von guten und bösen Geistern; es gebricht

ihm an Ernst und Festigkeit, sich das Unsichtbare als wirk, lich zu denken; er kennt nur die Engel der Kunst, der Einbildungskraft und der Dichtung; er weist noch weni­ ger, wie er sich die Seelen der Abgeschiedenen, die gefal­ lenen und bösen Geister denken soll; Seyn und Nichtscyn, Wahrheit und Dichtung, Möglichkeit und Unmöglichkeit wechseln so schnell und auffallend in seinem Gemüthe, daß er sich für nichts bestimmen, für nichts entscheiden kann. Selbst der Gedanke an den Gott des Lichtes und Lebens, der die Grundfeste alles Glaubens ist, steht so leicht und los, so unklar und unbestimmt vor seiner Seele, daß er nicht weiß, ob er ein Geist, oder Körper, ob er ein Mann, oder Greis, ob er im Himmel, oder auf Erden, ob er le­ bendig und regsam, oder still und ruhig fei; ja er gefallt sich wohl gar in der Meinung, daß sich das Alles niemals mit Gewißheit bestimmen und auSmitteln lasse. Gienge der Leichtsinnige in den Angelegenheiten des Glaubens bei allen diesen Behauptungen auf Gründe ein, so würde er ein Zweifler, und wenn er noch einen Schritt weiter gienge, ein Ungläubiger seyn, der mit den Sadducaern spräche, es ist keine Auferstehung, kein Engel und kein Geist. Aber so weit scharst und spaltet und ordnet er seine Gedanken nicht; seine Begriffe von dem, was göttlich, oder uygöttlich ist, stehen nur, wie eitle Bilder und zerfließende Wolken, vor seinem Geiste, und er weiß es daher in der Flüchtigkeit seines Denkens selbst noch nicht, ob sie Wahrheit und Wirklichkeit,

oder Wahn und Tau-

schung sind.

Dabei hat er zugleich auch nie eine bestimmte und sichere Regel des Glaubens erfaßt. Jeder den­ kende Mensch, bei dem sich das Bedürfniß der Religion regt, halt sich entweder an seine Lehrer, an seine Kirche, an die heilige Schrift, oder doch an seine Vernunft und sein Gewissen, um in seinem Glauben fest und in seinem Christenthume beständig zu werden. Von dem Allen weiß der Leichtsinnige wenig, oder nichts. Verweiset ihn auf

die Lehrer und Prediger des Wortes; sie sprechen, wie er meint, nur was ihnen einfallt, oder glauben das selbst nicht, was sie Andern vortragen. Erinnert ihn an seine Kirche, der er Beständigkeit und Treue versprach; er hat es langst vergessen, was sie glaubt, was sie fordert und einscharft; er nimmt sich nicht die Mühe, ihre Lehren ju erforschen und ihre Gründe zu vernehmen; seiner Ansicht nach ist das alter Wahn und Aberglaube, von dem man in unseren erleuchteten Tagen keine Kenntniß zu nehmen braucht. Nicht einmal die heilige Schrift'steht bei ihm in besonderem Ansehen; er findet in ihr nur alte Sagen, jüdische Vorurtheile, sonderbare Wundergeschichten und auffallende Widersprüche: mit einer, oder der andern Stelle treibt er seinen kühnen Witz und Spott, und wirft dann das Ganze mit stolzer Verachtung weg. Und sprecht ihr ihm erst von den Bedürfnissen seines Geistes, seines Herzens und Gewissens, er kennt sie nicht; er hat sich im steten Wechsel flüchtiger Erscheinungen nie zu dem ernsten Gedanken des Ewigen und Heiligen erhoben; er hat nie durchgeschaut in das himmlische Gesetz der Freiheit; er hat in der Stunde der Anfechtung nie die Hofnung des ewigen Lebens ergriffen. So gleicht er einem Irrenden, der in gedankenloser Flucht selbst die Richtung des Weges verloren hat, den er suchet, oder suchen sollte; da ist kein Zeichen, das ihn zurechtwicse, kein Wanderer, der ihn mahnete, kein Leitstern, der ihm die rechte Bahn verkündigte; er wandert fort und lauft und eilt, und weiß doch nicht, wohin er kommen, welcher Ort ihn aufnehmen, welche Ruhe, oder Unruhe ihn da er­ warten werde. So hängt er denn bei dem, was er dennoch

annimmt, oder für wahr hält, einzig von dem Eindrücke des Augenblickes ab. Ganz ungläubig und gottlos wird zwar der Leichtsinnige nicht seyn; er ist dazu weder verblendet, noch verdorben genug; er fühlt da­ her wohl die Abhängigkeit seines Lebens, seiner Person und

seines Schicksals von einer höheren Macht; und wenn sich dieses Gefühl bei ihm regt, so erkennt er auch das Be­ dürfniß an, sich seinen eigenen Glauben zu bilden. Aber die Lehrer seiner Kindheit und Jugend genügen ihm nicht; da begegnet ihm ein Heuchler, ein frömmelnder Abentheurer, ein schlauer Geheimnißforscher, oder Geisterseher, und er ist sofort bereit, sich ihm vertrauensvoll in die Arme zu wer­ fen. Die heilige Schrift mit ihrer bewahrten Gründlich­ keit und Klarheit genügt ihm nicht; da tritt ihm ein Naturglaubiger, ein kühner Freigeist, ein Vergötterer der Welt, ein absprechcnder Vernünftler in den Weg, und er nimmt unbedenklich seine Aussprüche als hohe Weisheit auf. Die Kirche seiner Freunde, die Gemeinde seiner Brüder und Väter genügt ihm nicht; da zieht ihn eine Bekanntschaft, eine Familienvcrbindung, eine Vortheilhafte Aussicht in ei­ nen fremden Kreis der Andacht und Gottesverehrung her­ ein; unbedenklich schwört er nun seinen Glauben ab und gefällt sich noch in dem verderblichen Wahne, die Gewiß­ heit der künftigen Seligkeit durch einen Meineid erkauft zu haben. Ihr entrüstet euch gegen seine Treulosigkeit; ihr verachtet, verschmähet, verfolgt ihn und bestärkt ihn da­ durch häufig in dem Wahne, daß er ein Märtyrer seines neuen Glaubens sei. Erwäget es wohl, ob es nicht weiser und besser fei, ihn als einen Leichtsinnigen zu beklagen, der nicht weiß, was er thut; als einen unbeständigen Flüchtling, der von jeder neuen Anschauung gereizt, von jedem dunk­ len Gefühle überwältigt wird; als einen unsteten Geist, der schon da der Zahl der Eurigen nicht mehr angehörte, wo er als eine Null des Glaubens noch in euren Reihen stand; als ein wanderndes Irrlicht im Reiche der Wahrheit, das sich überall gefällt, nur da nicht, wo es wirklich ist; es gilt ja überall von ihm, was der weise Prediger sagt: sie sind in Eitelkeit gekommen und in Finster­ niß dahingefahren und finden keine Ruhe, weder hier> noch da. Kommt es aber auch so weit mit dem Leichtsinnigen'

nicht, so wird er doch bei dem, was er auf dem Ge«

biete des Glaubens verwirft und läugnet, mit gleicher Uebereilung zu Werke gehen. Wer sich als Christ zur Anbetung Gottes im Geiste und in der Wahrheit bekennt, der muß nothwendig aus seiner Religion Alles ausscheiden, was falsch und irrig ist; er muß beständig prüfen und nur das Beste behal­

ten; er-muß alles das verwerfen und mißbilligen, was Menschen ersonnen haben, oder was er selbst nach seiner persönlichen Eigenthümlichkeit als göttlich gedacht und gc« träumet hat. Auch der Leichtsinnige übet diese Pflicht; aber ohne Vorbereitung, ohne Ernst, ohne Prüfung und wahre Tüchtigkeit; er übereilt sich bei diesem Urtheile mit einer Kühnheit, die dem Besonnenen peinlich und widrig ist; und da. es überall leichter ist, etwas zu verwerfen, als es zu glauben und geistig aufzunehmen, so laugnet er so lang, bis ihm, fast nichts mehr zu glauben übrig ist. Mit dem Glauben an Gott, den Vater seiner Kinder, ist uns auch der Glaube an seine besondere Vorsehung und Offenbarung gegeben; aber der Leichtsinnige nimmt in sei­ nem unüberlegten Urtheile von dem Glauben an den himmli­ schen Vater so viel Wichtiges und Wesentliches weg, daß ihm kaum mehr eine dunkle und dürftige Kenntniß des Schöp­ fers aus den -Werken der Natur übrig bleibt. Mit dem Gefühle unserer sittlichen Schwachheit und Unvollkommen­ heit hangt genau die Sehnsucht nach unserer Erlösung und Versöhnung mit Gott zusammen; aber der Leichtsinnige laugnet das Verderben seines Gemüthes so stolz und kühn ab, daß ihm von tem Evangelium Christi nur noch ein leerer Name übrig bleibt. Mit dem Glauben an die Un­ sterblichkeit der Seele hängt die wohlverstandene Lehre von der Auferstehung, vom Gerichte und einem Zustande der Vergeltung genau zusammen; der Leichtsinnige aber nimmt durch sein flüchtiges Ablaugnen und Verwerfen so viel Wesentliches von dem ewigen Leben hinweg, daß ihm nur noch ein bewußtseynloscs Versinken in das öde Weltall übrig bleibt. Erkennet ihr aber nicht in dieser Sprache eine weitverbreitete Denkart unserer Zeit; habt ihr euch

nicht schon selbst versucht gefühlt, so zu urtheilen und eurem Christenthume zu entsagen; müßt ihr nicht vielleicht schon mit Hiob sprechen: ich bin zu leichtfertig gewesen, waS soll ich antworten, ich muß meine Hand auf den Mund legen; und wenn auch dieses Geständniß euch noch nicht wirklich angesonnen werden kann, bedürft ihr nicht wenigstens einer ernsten Warnung, um die Ge­ fahren eines ähnlichen Leichtsinns zu vermei­ den? Das ist das Zweite, was wir noch zu er­ wägen haben.

n. Warnen mässen wir aber vor diesem Leichtsinne, weil unser Glaube das ernsteste, heiligste, wichtigste und folgenreichste Geschäft unseres Lebens ist. Mögen wir doch jede dieser Erinnerungen wohl zu Herzen

nehmen! Wenn sich der Glaube mit Gott und gött­ lichen Dingen beschäftigt, so ist er das Ern­ steste und Feierlichste, was wir beginnen kön­ nen. Denn was bedeutet denn eigentlich das Wort Glaube, wenn es von der Ausmittelung des Verhältnisscs gebraucht wird, in dem wir zu unserem Herrn und Vater stehen? Ist das ein bloßes Meinen, Wähnen, Dich­ ten und Träumen; ist es ein bloßes Nachsprechen dessen, was Andere lehren, die vielleicht selbst nicht weit über Wahn und Meinung hinausgekommen sind; ist eS eine bloße Ahnung, ein bloßer Wechsel des Gefühls, der Furcht und Hofnung, die uns so oft mit eitlen Bildern der Freu­ de und deS Schreckens umgaukeln? Nein, glauben heißt das für wahr halten, was man mit den Augen seines Geistes und Herzens sieht; es heißt das erfassen, was man in dem Innersten seines Gemüthes vernimmt; es heißt

sich zu dem Unsichtbaren erheben, der sich uns in seinen Werken offenbart; es heißt auf die Stimme seines Schöp­ fers und Herrn achten; eS heißt die weisen, gerechten und

liebevollen Rathschlässe dessen vernehmen,

der durch den

Weisesten, Besten, Edelsten unseres Geschlechtes wie ein Va­ ter zu seinen Kindern spricht. Ist aber das Alles möglich ohne die ernsteste Sammlung des Geistes und die höchste Richtung des Gemüthes; hat der Augenblick nichts Er­ habenes und Feierliches für dich, wo dir das Rauschen des Stromes, das Brausen des Sturmes, der Wiederhall des Donners die Macht deines Schöpfers verkündigt;

dringen mit den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne, oder bei dem Anschauen des gestirnten Himmels nicht große und edle Gedanken in deine Seele; wirst du nicht tief ge­ rührt, wenn du im Bewußtseyn deiner Schuld und Schwach­ heit unter das Kreuz des Welterlösers trittst, der auch dein Freund, dein Heiland und Mittler ist; ist nicht Alles für dich verloren, wenn dich der Herr durch dein Gewissen verdammt, Alles für dich gewonnen, wenn er dir durch

seinen Geist das Zeugniß giebt, daß du sein Kind, sein Erlößter, der nahe Erbe seiner Herrlichkeit und Seligkeit hist? O wer bei Gedanken und Erinnerungen von dieser Hoheit, Würde und Vortreflichkeit noch gleichgültig, untheilnehmend und unergriffen bleiben kann, der ist für alles Große und Edle verloren; der wird fich nie über den Rang eines eitlen, flüchtigen, spielenden und bald von diesem Schauplatze wieder verschwindenden Geschöpfes er­ heben; der verdient es gar nicht, den allein Weisen und Seligen in seiner Vollendung und Majestät zu erken­ nen; er ist kein wahrer, vernünftiger Mensch, sondern nur das eitle Trugbild eines Menschen, der nicht weiß und nicht wissen will, was zu seinem Frieden dient. Warnen müssen wir also vor dem Leichtsinne des Glaubens schon darum, weil er die ernsteste Angelegenheit unseres geistigen Lebens mit einer unwürdigen Geringschätzung behandelt. ist aber auch der heiligste Be­ ruf, dem sich unser Geist in diesem Lande der Vorberei­ tung zu widmen vermag. WaS du zur Begründung dei­ nes irdischen Glückes in deinem äußeren Berufe zu wissen Der Glaube

wünschest, das kannst btt zwar auch ohne Erhebung deines Gemüthes zu dem Unsichtbaren lernen; eS sind leider Viele, die das Leben nur von dieser gemeinen Schattenseite fas­ sen, und dann auch ihren Lohn dahin haben. Willst du aber wissen, was wahr, was recht und gut, was im steten Wechsel der Dinge edel, köstlich und herz­ erfreuend ist; so mußt du in dein Inneres hineingehen; so mußt du da Has Vorbild deines Seyns, deines Lebens, deiner Würde und Seligkeit suchen; in ihm mußt du das herrliche Bild deines Schöpfers, deines Freundes und Wohlthäters finden, von dem alle Dinge sind und du durch ihn; in der reinen, treuen Liebe zu ihm mußt du dein Heil und deine Würde, in der Entfernung und Losreißung von ihm deine Verwerflichkeit und dein Elend erkennen. Daß du hier nicht irrest und nicht irren kannst, sagt dir zwar dein unmittelbares Bewußtseyn; denn dem Gerechten geht immer wieder daS Licht und die Freude auf, wahrend der Gottlose auch im Glücke das innere Antlitz seines Geistes verhüllen muß und keinen Frieden hat. Was aber nun hieraus folgt und genau damit zusammrnhangt, das kann nur der Glaube erfassen und mit voller Zuversicht ergreifen; durch ihn wer. den wir inne, daß die Welt fertig ist durch Got. tcs Wort, daß von dem Vater des Lichtes jede gute und vollkommene Gabe herabkommt; daß er uns in seinem Sohne geliebet hat, noch ehe der Welt Grund gelegt ward; daß er uns durch ihn berufen hat aus der Finsterniß zu seinem herrlichen Lichte; daß die Leiden dieser Zeit nicht werth sind der Herrlichkeit, die einst an uns soll offenbar werden; daß uns nichts aus seiner Hand zu reißen vermag, weil er allen denen, die ihn suchen, ein treuer Vergelter seyn wird. Können wir denn aber im Leibe dieses To­ des etwas Höheres, Würdigeres, Heiligeres beginnen, als diesen Aufschwung in die Welt der Freiheit und des Lich­ tes, als dieses Eindringen in das ewige Reich der Wahr-

heit und der Pflicht; als dieses Hinzutreten zu der reinen Quelle des Lebens und der Freude, als dieses kindliche und vertrauensvolle Erfassen des Geistes, der durch das Wort des Eingeborenen unsere Sehnsucht stillt, unser Herz erquickt und die Hofnung unseres himmlisch en Berufes mit unaussprechlicher Gewißheit und Zu­ verficht in unserem Inneren versiegelt? O wer das Alles seicht nehmen, wer das gering achten, wer da die innigsten Gefühle der Achtung, der Bewunderung, der Ehr­ furcht und Liebe noch unterdrücken kann, der hat auch den Sinn für Wahrheit, Vollkommenheit, Tugend und sein ewiges Heil verläugnet; der denkende, besonnene, sich selbst verstehende Mensch vermag gar nichts Würdigeres und Heiligeres zu beginnen, als die Pflege, die Bildung und Stärkung seines Glaubens, weil er durch ihn allein zu Gott kommen und seiner Gnade würdig werden kann.

Und so dürfen wir denn, jedem Leichtsinne in diesen Angelegenheiten zu steuern, nur noch bemerken, daß der Glaube die wichtigste und folgenreichste Be­ schäftigung unseres Geistes ist. Schon in unse­ ren irdischen Angelegenheiten rächt sich die Vernachlässig­ ung eines vernünftigen Glaubens oft fürchterlich; wenn der gutmüthige Verschwender in bittere Armuth versinkt, wenn der Unmäßige, der Trunkenbold, der Wollüstling schon ln der Blüthe seiner Jahre siech und kraftlos ein­ herwankt, wenn das Haus des Nachlässigen und Zerstreu­ ten von mitternächtlichen Flammen verzehrt wird; so rufen sie oft mit Wehmuth aus, das hätte ich nicht geglaubt. Wird aber dem Ungläubigen, der nie begreifen will, was des Geistes Gottes ist, nicht in kurzer Zeit eine noch viel schmerzlichere Erfahrung bevorstchcN; wird er in den Jah­ ren, wo sich seine Weltlust und Ueppigkeit in Ueberdruß und Pein verwandelt, wo sein Gewissen aus einem langen Traume und Taumel erwacht, wo er in schweren Leidensstunden nicht mehr beten kann und will; wo er in das nahe Grab mit Furcht und Schrecken hinabblickt, wo ihm

aus der nahen Ewigkeit schon das Urtheil der Verwerfung entgegentönt, weiche von mir, du Ueöelthätcr; wird er da nicht mit Reue und Jammer sprechen müssen, ach, ich habe nicht geglaubt, ihr Berge fallet über mich und ihr Hügel bedecket mich? Und wer von der andern Seite als Christ und Gottesverehrer den himm­ lischen Glauben in seinem Herzen treu bewahrt; wer ihn fleißig durch das Lesen der heiligen Schrift, dlwch die Predigt des Wortes, durch fein kindliches Gebet genährt,

wer ihm durch einen reinen Wandel, durch dankbare Liebe zu seinem Erlöser, durch die stille Gemeinschaft mit Gott und seinem Geiste in lebendige Zuversicht und Ueberzeugung verwandelt hat; wird der sich nicht in jedem Wechsel des Lebens dieses herrlichen Kleinodes freuen; wird der nicht unter allen Stürmen des Schicksals fest und unerschüttert stehen; wird der nicht selbst im Angesichte des Todes muthig sein Haupt erheben und sprechen; ich habe mei­ nen Lauf vollendet, ich habe Glauben gehal­ ten, nun lässest du, Herr, deinen Diener in Frieden fahren, denn meine. Augen werden dich und meinen Heiland schauen? O wenn uns Alles genommen wird', an dem so lang unser Herz hieng, wenn wir Alles verlieren, waS wir so mühsam erstrebt und erworben haben, wenn uns selbst die Kunst und Wis­ senschaft verläßt, auf die wir als Erdenbürger so stolz waren; so bleibt uns doch der Glaube an den ewigtreuen Vater, der uns in seinem Sohne liebte, so bleibt uns doch die Liebe und Gerechtigkeit, die aus dem Glauben komm; so bleibt uns doch die Hofnung und Zuversicht, welche die Welt überwindet und zum freudigen An­

schauen des ewigen Lichtes hindurchdringt. Siehe Herr, wir sind bisher zu leichtfertig gewesen, was sollen wir antworten? Wir wollen von nun an unsere Hand auf den Mund legen; mit stiller Ehrfurcht wollen wir die Tiefen deiner Weisheit, den unaussprechlichen Reichthum deiner Wahrheit und Liebe bewundern; freuen, freuen wol­ len wir uns der hohen Geheimnisse des Himmelreiches, die

du durch den Fürsten des Lichtes und Lebens uns aufge­ schlossen hast im Glauben, vom Glauben zum Glauben; mit Ernst, mit Furcht und Zittern, und doch mit dem hohen Muthe der Erlößten und Begnadigten wollen wir unsere Seligkeit schaffen. Du wirst uns erleuchten; im Kampfe mit der Schwachheit, mit der Zweifelsucht und dem Unglauben wirst du uns deine starke Hand reichen; aus der Dämmerung wi>st du uns emporführen zur Klar­ heit deines herrlichen Lichtes, daß wir in dir, dem Wahr­ haftigen, bleiben durch deinen Sohn, Jesus Christus.

Amen.

XXXVI.

Am dritten Dreieinigkeitssonntage. Epistel: 1 Petr. K- V. D 6 — 11. Worte der Warnung an Religion-spötter.

v. Pmmon's Pred B. u

Herr, lehre uns in der Hofnung unseres himmlischen Berufes immer so reden und thu», als die durch das Gesetz der Freiheit werden gerichtet werden.

Amen.

M. a. Z.

Im Laufe des geselligen Umganges pflegt man

nicht

ein Talent

leicht

Witzes

den

höher anzuschlagen, als das des

und des doppelschncidigen Verstandes.

einfachen Naturmenschen,

keines

Doppelsinnes fähig,

der,

Man liebt

keiner Hinterlist

und

seine Empfindungen und Ge­

danken immer so bezeichnet und wiedergiebt, wie sie sich in seiner Seele bilden; man schätzt den stillen und ordent­ lichen Geschäftsmann, dessen kunstlose Rede jedes Schmuckes und jeder Zweideutigkeit ermangelt; man achtet endlich den

Weisen, dessen Gespräche einem klaren Bache gleichen, der zwischen Blumen dahinfließt, ohne sie selbst zu nähren und zu erzeugen. Aber da wir für unsere Person meist zwischen

der Natur

und Weisheit mitten

inne stehen,

so hat die

Einfachheit, Klarheit und Bestimmtheit in der Rede im ge­ selligen Umgänge wenig Reitze für uns; wir ziehen daher häufig

den

geschmückten

und

bilderreichen Ausdruck vor;

wir wollen durch Vergleichungen,

sinnige Gespräche erheitert seyn;

spielungen, ihnen,

schonen,

Darstellungen und

Gegensätze

und doppel­

wir lieben witzige

Aussprüche, und

An­

kommen

sobald sie nur uns selbst und unsere Fehler ver­ nicht selten mit unserem lautem Beifall entgegen.

Und läugnen kann man es nicht, die Gabe des Witzes ist ein köstliches Geschenk der Natur; sie ist fast immer mit Scharfsinn Verstandes

und einer durchdringenden Lebhaftigkeit des verbunden; sie macht es möglich, in wenig

Worten viel zu sagen

und die Zahl der Gedanken gleich­

sam zu verdoppeln; sie kann daher nicht allein zur Erhei­ terung und Ergötzlichkeit dienen, sondern sogar ein Mittel werden, unangenehme Wahrheiten verschleiert in die See­ len Anderer einzuführen, wo sie sich dann im Zusammen­ hänge der Gedanken von selbst enthüllen un- in ihrer natür­

lichen Gestalt hervortreten.

Dennoch sind es gerade diese Vorzüge, die unS den Werth des Witzes häufig überschätzen und seine Sittlich­ keit in vielen Fällen gänzlich übersehen lassen. Denn nicht genug, daß diejenigen, welche sich dieses Talentes bewußt sind, weil sie immer nach doppelsinnigen Worten haschen, sich von dem Ernste dieser einfachen Wahrheit bald ent­ fernen ; nicht genug, daß sie ihre oft bitteren Einfälle und Anspielungen nicht mehr zurückhalten und unterdrücken kön­ nen; nicht genug endlich, daß der lächelnde, oder lachende Beifall Anderer, den man als die Frucht seines Scharf­ sinnes ernten will, eine der geringsten und eitelsten Beloh­ nungen des denkenden Verstandes ist; nein, der Hang und die Anlage zum Witze artet leider bei Vielen häufig in eine Leidenschaft aus, die der Tugend nachtheilig und gefährlich wird; man mißbraucht nun die Gabe, doppel­ sinnig zu sprechen, oft zur Verschleierung der Unlauterkeit und Lüsternheit; man mißbraucht sie zu beißenden Scherzen, Antworten und Urtheilen; man mißbraucht sie, Andere lächerlich zu machen, sie zu verspotten und ihnen Belei­ digungen zu sagen, welche menschliche Gesetze nicht rügen und bestrafen können^ Was aber noch viel trauriger, als das Alles ist, der von der Leitung der Weisheit und Pflicht verlassene Witz verwundet nicht allein Menschen, sondern er verschont auch zuletzt Gott selbst nicht; er bricht in das heilige Gebiet der Religion mit großer. Vermessenheit und Kühnheit ein; er übt sich namentlich an den Bildern, Gleichnissen, Wundern und Lehren der heiligen Schrift, und hält es für einen Triumph, einer frommen Seele ihren Glauben geraubt und den Trost, der Offenbarung aus ei­ nem arglosen Gemüthe hinweggespottet zu haben. O die

erbittertesten Feinde und Gegner des Christenthums haben durch ihre ernstlichen Angriffe der Lehre Jesu bei Weitem nicht so viel geschadet, als jene flachen und ungründlichen Spötter, welche die Geheimnisse unserer Religion schon widerlegt zu haben glaubten, wenn sie sie dem unwürdigen Gelächter der Leichtsinnigen preißgaben. Hat nun der Witz nicht nur eine glänzende und anlockende, sondern auch zwei­ deutige und verderbliche Seite; kann er leicht zum Spotte,

jur Bitterkeit und Ungerechtigkeit

führe» ;

kann

er selbst

die Religion verletzen und unserem Glauben gefährlich wer­ den; so ist dieser Gegenstand wichtig genug, auch in un­ seren Versammlungen besprochen und mit dem Maasstabe der Pflicht bemessen zu werden. Unsere.heutige Epistel wird uns dazu durch ihren Inhalt auf eine merkwürdige Weise veranlassen; im stillen Ernste sammlen wir uns daher vor

Gott, sein heiliges Gesetz zu vernehmen seine Gnade in stiller Andacht rc.

Text:

und flehen um

1 Petr. K. V. V. 6 — 11.

So demüthiget euch nun unter die gewaltige Hand Gottes, daß er euch erhöhe zu seiner Zeit. Alle eure Sorge werfet auf ihn; denn er sorget für euch. Seyd nüchtern und wachet; denn euer Widersacher, der Teufel, gehet umher wie ein brüllender Löwe, und suchet, welchen er verschlinge. Dem widerstehet fest im Glauben, und wisset, daß eben diesclbigen Leiden über eure Brüder in der Welt gehen. Der Gott aber aller Gnade, der uns berufen hat zu seiner ewigen Herrlichkeit in Christo Jesu, dersclbige wird euch, die ihr eine kleine Zeil leidet, vollbcrciten, stärken, kräftigen, gründen. Demselbigeu sey Ehre und Macht von.Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.

Wie alles Gute, alles Große, wie namentlich das Hei­

lige

und Göttliche "auf Erden

immer Spott,

Widerstand

und Verfolgung findet; so war das auch der Fall bei der

Verbreitung der Religion, zu der wir uns bekennen.

Die

Lehre von Jesu, dem Auferstandencn, von der Auferstehung der Todten und von einem künftigen Gerichte waren nach

der Geschichte lauter Gegenstände des Muthwillens. und der Verachtung, welche bald in heftige Verfolgungen der Christen ausartetcn; und die Ermahnung jur Geduld und zum Kampfe mit dem Teufel, auf welchen Petrus jene Widerwärtigkeiten der ersten Bekenner Jesu zurückführt, hat

wieder in unseren Tagen Veranlassung zu muthwilligem und

bitterem Spotte gegeben. Worte derWarnung an Religionsspvtter sollen daher heute der Gegenstand unserer

Aufmerksamkeit

und

unserer Andacht seyn.

Ich

werde zuerst diese Worte der Warnung im Allge­ meinen begründen; dann aber von ihnen diö nöthi-

18Lge Anwendung auf eine Stelle unserer Epistel machen, die von Vielen unweise getadelt Und verspottet wird. I. Religkonsspöttereien dürfen nicht mit dem ernsten und

offenen Tadel dessen verwechselt werden, was in der Re­ ligion irrig, falsch, abergläubisch und verwerflich ist; denn da die Wahrheit überall, also auch in den Angelegenhei­ ten des G.laubens, nur eine einzige ist; da wir ferner Alle berufen sind, die Wahrheit zu erkennen und durch sie frei zu werden; so müssen wir auch Alles mißbilli­ gen, was sie entstellt und verdunkelt, und unsere Ueber­ zeugung da, wo wir dazu aufgefordert werden, mit Unbe­ fangenheit auSsprechen. Aber etwas Anderes ist einen Irr­ thum tadeln, und wieder etwas Anderes, ihn verspotten, verhöhnen, ihn mit Stolz, mit Bitterkeit und Kränkung des Nächsten verwerfen. Vor diesem Spotte müssen wir in den Angelegenheiten der Religion warnen, weil er mit den Grundsätzen der Offenbarung durch, aus unverträglich, und namentlich mit derLiebe unvereinbar ist, die wir auch unseren schwachen und irrenden Brüdern schuldig sind. Vor Religionsspöttereien ohne Ausnahme müssen wir schon darum warnen, weil der Spott überhaupt ei­ nes weisen Menschen nicht würdig ist. Wahr­ heit, Tugend und Würde find über jeden Spott erhaben; man spottet nur des Wahnes, deS Irrthumes, der Unvollkommenheit und Thorheit; gleichviel, ob diese Fehler Ge­ brechen des Körpers, des Geistes, der Gewohnheit oder des Willens sind; man faßt sie auf, man übertreibt sie, man stellt sie namentlich von der auffallenden und lächer­ lichen Seite dar; man hält sie dem Verspotteten vor Au­ gen, nicht um ihn zu belehren und zu bessern, sondern um ihn durch das lächerliche Bild seiner Fehler zu demüthigen, ihn zu verhöhnen und ihn tief in seinem Inneren zu ver­ wunden. Ist denn aber diese Handlungsweise eines besonneuen, eines weisen und guten Menschen würdig; wird der sich nicht begnügen, die Irrthümer und Gebrechen sei-

18'5 nes Bruders zu mißbilligen und ihn auf bessere Wege zu leiten; wird der ihn nicht lieber in seinem eigenen Bei­ spiele das Vorbild der Vollkommenheit und Tugend vor­ halten, von der er noch fern ist; wird der sich dazu her­ geben, ein Nachahmer, ein Schauspieler, ein Jrrbild der Schwachheit und Thorheit seines Freundes zu werden; wird er es nicht in jedem Falle für unwürdig halten, sei­ nen Nächsten zu verhöhnen, zu erbittern, und statt der bes­

seren Einsicht nur Haß und Widerwillen in seiner Brust zu wecken? Ihr duldet, ihr belächelt, ihr lobet wohl gar die muthwilligen Spötter, die sich mit Gewandheit und Glück in die Rolle einer fremden Thorheit werfen; aber könnt ihr sie achten, schätzen, lieben; könnt ihr nicht vor­ hersehen, daß sie heute euren Freund, morgen euch selbst verhöhnen und euch eine übertriebene Schwachheit und Lächerlichkeit leihen werden; und werdet ihr dann nicht die

Ersten seyn, welche die Stelle des Apostels auf sie an­ wenden, Scherz und Narrentheidung lasset fern von euch seyn; als welche Christen nicht ge­ ziemen? Nein, weise und gute Menschen vergessen auch in dem Urtheile über entschiedene Fehler ihrer Brüder ihrer eignen Würde nicht; sie lassen auch in den Ansichten frem-

ber Schwächen und in dem Gebrauche derjenigen Rede die man Gegenwahrheit nennt, eine Schonung und Milde vorwalten, welche die scharfen Pfeile eines beißenden Wizzes abstumpft; wohl dem, der nicht wandelt im Rathe der Gottlosen, noch sitzet, wo die Spöt­ ter sitzen. Warnen müssen wir vor Rcligionsspöttereien aber auch darum, weil sie mit dem Geiste der Offenbarung unverträglich sind. Den Verehrern des einzig wahren Gottes, wie er sich den Israeliten durch Moses und die Propheten geoffenbaret hatte, standen zwar überall Heiden und Abgötter mit dem schmählichsten Aberglauben zur Seite; es war ja fast kein Gestirn, kein Gegenstand der Natur, kein Thier, das man nicht vergöttert und auf eine thörichte Weise verehrt hatte. Dennoch begnügen sich die heiligen Männer des alten Bundes, den Götzendienst zu strafen und

ihn in feiner ganzen Verwerflichkeit darzustellen; fle lästern, verspotten, verhöhnen die oft lächerlichen Gebräuche des

heidnischen Aberglaubens nicht; selbst die bekannte Anrede des Elias an die Propheten Baals, rufet laut, denn euer Gott dichtet, oder schläft, oder ist auf dem Felde, ist weniger Spott, als eine Aufforderung der Göt« zenpriester, durch ihre Opfer das zu bewirken, was Elias' selbst durch sein Gebet und Opfer von dem Himmel zu er­ langen hoffte. Und wo ist über die Lippen Jesu, unseres Herrn, bei dem Anblicke so vieler thörichten Gebräuche und Sitten seines Volkes, je ein Ausdruck des Spottes und der Verhöhnung gekommen; wie hat er den pharisäischen Aberglauben nicht überall mit Ernst, mit Würde und hoher Fassung behandelt; selbst die spöttische Anfrage der Sadducäer von dem Weibe der sieben Brüder und seinem Loose in der künftigen Auferstehung, wie weist er sic nicht un­ willig mit den Worten zurück r ihr irret und wisset die Schrift nicht, noch die Kraft Gottes? Mit wel­ cher Klugheit endlich haben sich nicht überall die Apostel in den heidnischen Städten betragen; wie beschränkten sie sich nicht zu Ephesus, wo man so Vieles von einem vom Himmel gefallenen Bilde der Göttin deS Ortes zu rühmen wußte, auf die offene Erklärung,, das sind nicht Götter, welche von Händen gemacht sind; und als man dem Paulus und Barnabas zu Lystra Opfer und Kränze darbrachte, wie traten sie nicht unter das Volk, zerrissen ihre Kleider und sprachen, wir sind sterbliche Men­ schen und predigen euch, daß ihr euch bekehren sollt von diesem, falschen zu dem lebendigen Gott? Ja, wie wehe es auch diesen erleuchteten Man­ nern that, überall, wo sie lehrten und das Evangelium ver­ kündigten, Zeugen einer so tiefen Erniedrigung des mensch­ lichen Verstandes zu sehen; so haben sie doch die zahllosen Thorheiten des Götzendienstes nie verspottet, oder verhöhnt, son­ dern es durch ihr ganzes Betragen deutlich genug bewiesen, daß sie es nicht für angemessen, oder würdig hielten, den Aberglauben mit diesen Waffen zu bekämpfen. Warnen müssen wir endlich vor allen Religionsspöttereien

auch darum, weil sie sich mit der Liebe nicht ver­ tragen, die wir unseren schwachen und irrenden Brüder» schuldig sind. Liebe Brüder, spricht Paulus, so Jemand unter euch von einem Fehler übereilt würde, so helfet ihm wieder zurecht mit sanftmäthigem Geist, die ihr^ geistlich seid. An diesen Grundsätzen hielt der Apostel so fest, daß er lieber freiwillig auf den Genuß erlaubter Speisen Verzicht leisten, als einen schwachen Bruder ärgern und dadurch das Werk Gottes verstören wollte. Ist das aber der Fall, wenn wir diejenigen, die in den Angelegenheiten der Religion stch entweder einem blinden Glauben ergeben, oder sich doch zu falscher Lehre und eitlen Gebrauchen beken­ nen, verspotten und verhöhnen; werden wir dadurch nur das Geringste zu ihrer Erleuchtung und Besserung beitragen; wer­ den wir sie Nicht vielmehr beleidigen, erbittern, kranken und ihr schwaches Gewissen verwunden; werden sie sich nicht bald scheu und feindlich von uns abwenden und zum stillen Hasse gegen uns entflammt werden? O wir schwachen und unvollkommenen Menschen hangen ja in unserem Glau­ ben an das Himmlische und Göttliche so sehr von unseren Ta­

lenten, von unserer Erziehung, von unserer kirchlichen Ge­ meinschaft, von unseren Schicksalen und unserer Bildung ab,' daß wir Alle zuerst Kinder und Unmündige in der Erkenntniß sind, ehe wir an Christo heranwachsen und starke Speise vertragen; es hat daher Jeder in diesem Zu­ stande der Vorbereitung Ansprüche auf Duldung, Nachsicht und Schonung; es ist nur der Glaube weniger Menschen von allem Aberglauben frei; nichts ist daher billiger und ge­ rechter, als daß Einer die Last des Andern trage und ihn da, wo er irrt und fehlt, mit sanft wüthigem Geiste z u r e ch t h e lfe. Wollet ihr deßwegen das G e se tz Christi erfüllen, so unterscheidet überall den Irrthum von dem irrenden Bruder ; so bekämpfet jenen überall, wo ihr ihn findet, mit den Waffen des Lichtes, und versaget doch diesem auch im Kampfe eure Achtung und Liebe nicht; so beweiset das Uebergewicht der besseren Erkenntniß, die euch durch Gottes Gnade zu Theil geworden ist, nicht durch

dm Stolz und Uebermuth eines bitteren Spottes, sondern durch sanftmüthige Herablassung und Schonung; und wenn

ihr auch da den Irrenden noch nicht gewinnen und der Wahrheit znwenden könnt, so lasset doch wenigstens euer Licht leuchten vor den Menschen, daß sie eure guten Werke sehen und den gütigen Vater im Himmel preisen. Allen Spöttern sind Stra­ fen bereitet und Schläge auf den Rücken der Thoren; das gilt namentlich von den Spöttern der Re­

ligion, weil sie den Ernst und die Würde der Wahrheit verläugnen; weil sie fich von dem Beispiele Jesu und sei­ ner Apostel entfernen, und dafür eine Selbstgefälligkeit, einen Stolz und Dünkel beweisen, der sich mit der reinen und frommen Liebe des Christen gegen die Brüder nicht vereinigen laßt. Wie wichtig ist es aber nicht für uns, diese Grundsätze auch auf eine Stelle unserer heu­ tigen Epistel anzuwenden, die so manchen schon zu einem unweise» Spotte verleitet hat? Das ist noch der zweite Gegenstand, der unsere Aufmerksamkeit erfordert.

II. Seid nüchtern und wachet,

denn

euer Wi-

dersacher, der Teufel, gehet umher, wie ein brüllender Löwe, und suchet, welchen er ver­ schlinge. Diese Worte haben öfter, als einmal, Veran­ lassung zu den mannichfaltigsten Spöttereien gegeben; den­ noch müssen wir die begonnene Warnung auch in Beziehung auf sie fortsetzen, weil sie sehr ernst in dem Munde desApostels, sehr bedeutungsvoll in ihrer An­ wendung auf uns selbst, und zuletzt weit tiefer und lehrreicher sind, als es dem flüchtigen Leichtsinn der Spötter scheinen mag. Gewiß richtet der Apostel die vorhin bemerkten Worte mit hohem Ernste an seine fernen Brüder. Denn nicht genug, daß die damalige Christengemeinde als eine neue Secte von Juden und Heiden gehaßt, von den Weltweisen verspottet, von den Obrigkeiten bedrängt und von dem Volke gelästert wurde, so reizte man sie auch mannichfach zum Ab-

fallt; der Stolz und Eifer der berfolgungssüchtigcn Juden, der äußerlich prächtige und den Sinnen schmeichelnde Gottes­ dienst der Heiden und die heilsame Strenge der christlichen Sittenlehre selbst reizte, oder veranlaßte doch Viele zur Untreue an ihrem Gott und Erlöser; Alles vereinigte sich, einer Reli­ gion den Untergang zu bereiten, welche die gesunkene Mensch­ heit erheben und sie der künftigen Seligkeit würdig machen sollte. Könnt ihr euch nun wundern, wenn der Apostel diese Verschwörung der Welt gegen die heilige Ordnung des göttlichen Reiches als das Werk eines bösen Geistes betrachtet;

wenn er seine Versuchungen und Nachstellungen mit jenen brüllendenLöwen vergleicht, die in den öffentlichen Spielen

aufdie Gefangenen als eine sichere Beute stürzten; wenn er die Bekenner Jesu ermuntert, zu wachen und nüchtern zu seyn, daß sie die Gefahr überwinden und als Sieger die Krone der Gerechtigkeit und des ewigen Lebeuö gewinnen mögten? O wer es aus derGcschichte weiß,' wie unwürdig man die ersten Christen in dem ganzen römi­ schen Reiche behandelt, welchen Hohn, welchen Haß,, welche bittere Schmähungen man über sie ausgegossen, wie man ihren Glauben, ihre Tugenden, ihre Hofnungen verlästert, wie man Menschen bedrückt und verfolgt hat, die nichts Anderes wünschten, als sich würdig auf die Ewigkeit vorzubcreiten

und ein stilles und ruhiges Leben in aller Gott­ seligkeit und Ehrbarkeit zu führen; den muß die Verblendung und der Haß der damaligen Menschheit gegen alles Himmlische und Göttliche auch mit tiefer Wchmuth er­ füllen ; der muß in ihrer Empörung gegen Gott und seinen Gesalbten einen Geist der Bosheit und Nichtswürdigkeit er­ kennen, der sie, wie Knechte, beherrscht und zu den schmäh­ lichsten Missethaten verleitet hat. Weit entfernt, hierüber zu spotten und dadurch ein Mitschuldiger der Gegner Jesu zu werden, muß er vielmehr eine Denkart und Handlungsweise der damaligen Welt beklagen, welche die Feinde der Christen in wüthende Thiere verwandelt und sic zu den blutigsten Ver­ folgungen gereizt hat. Bei dieser Stimmung des Gemüthes werden wir die

Worte

des Apostels auch bedeutungsvoll

in

ihrer

Anwendung auf uns selbst finden. Demwiderstehet fest im Glauben und wißt, daß eben dieselben Leiden über eure Brüder in der Welt

gehen. Genau dieselben Verfolgungen haben wir zwar nun nicht mehr zu befürchten, wo das Christenthum nach vielen und schweren Kämpfen, herrschende Religion, zwar nicht der Welt, doch unseres Welttheiles geworden ist; die Zeiten sind endlich vorüber, wo nian diejenigen einkerkert, geißelt und hinrichtet, die sich zu Jesu und seinem seligmachenden Evangelium bekennen; Gewissensfreiheit und Duldung sind nun Lirblingsworte unserer Tage geworden, ob sie schon Viele mehr auf ihren Lippen, als in ihrem Herzen tragen. Aber sind denn darum auch alle Gefahren des christlichen Glaubens und der wahren Frömmigkeit verschwunden» verfolgen nun

die Christen nicht häufig einander selbst; eifern nicht Viele, wie die abergläubischen Juden, für den Sohn Gottes mit Unverstand; mögten sie oft die, welche in ihren Leh­ ren, Meinungen und Gebrauchen von ihnen abweichen, nicht in ihren Schulen geißeln und sie aus dem Lan­ de vertreiben, um Gott einen Dienst zu thun; ist die Lehre von Jesu, dem Gekreuzigten, nicht noch immer Diesen ein Aergerniß, Jenen eine Thorhe it; führt der Fürst dieser Welt, der sein Werk hat in den Kindern des Unglaubens, nicht noch immer zahllose Ver­ suchungen herbei, die unseren Glauben, unsere Unschuld, unsere Andacht, unsere Gemeinschaft mit Gott und dem Erlöser bedrohen? O indem Glauben der Christen ist noch immer zuviel jüdischer Stolz und verdammungssüchtigerDünkel; in ihrem Tempeldienste ist noch immer zu viel heidnische Beschau­ lichkeit und heidnisches Gepränge; in ihrer Weltweishcit ist noch immer zu viel Untiefe und kühner Unglaube; in ihren Sitten noch immer zu viel Selbstsucht, Unlauterkeit und ge­ meine Sinnlichkeit herrschend, als daß wir uns rühmen könn­ ten, die Welt überwunden und den Geist des Irrthums und der Sünde ganz bekämpft zu haben! Fern sei cs daher von uns, durch einen leichtsinnigen Spott über eine sehr heil­ same Ermahnung des Apostels eine Sicherheit zu nähren, die nur ein beklagcnswerther Beweis unserer Unwissenheit und

Verblendung seyn würde! Nein, auch unstre Zeit hat der

Widersacher deS Christenthums viele; auch in unseren Le­ bensverhaltnissen sind wir von vielen drohenden Gefahren des Glaubens und der Tugend umgeben; aus unserem ei­ genen Herzen treten so viele Versuchungen zum Stolze, znm Wcltsinne, zur Untreue und zum Abfalle von Gott und Jes« hervor, daß wir immerdar nüchtern und wachsam seyn müssen, wenn uns der Feind des Guten nicht tauschen und berücken soll. Darum widerstehet ihm im Glauben, daß ihr würdig werden möget, zu entfliehen diesem Allen; darum haltet fest an Gott, der euch in Christo Jesu berufen hat zu seiner ewi­ gen Herrlichkeit; darum demüthiget euch unter seine machtigeHand, daß er euch erhöhe zu sei­

ner Zeit. Ihm, der uns Alle, wenn wir ihm vertrauen, vollbereitet, stärket, kräftiget und gründet, fei Ehre und Macht von Ewigkeit jü

Ewigkeit. Jede Versuchung, die Ansicht des Apostels zu verspotten, wird zuletzt durch die Bemerkung entwafnct, daß seine Lehre von dem Widersacher viel tiefer und wichtiger ist, als es der flüchtige Leichtsinn vermuthet. Ihr nehmt Anstoß an den schauerlichen und grausenvollcn Bildern, unter welchen man sich den bösen Geist zu denken pflegt; aber die Schrift schildert ihn nur als einen Geg­ ner alles Guten, als einen Vater der Lügen, als ei­ nen gefallenen, Ibösen Engel, der ein unversöhnlicher Feind Gottes und Christi ist; was man sonst noch hinzusetzt, muß von der menschlichen Schwachheit allein vertreten und in das Reich der Dichtungen verwiesen werden. Ihr tadelt den schädlichen Aberglauben, den man, um seinen eigenen Frevel zu entschuldigen, von jeher mit den Einwickungen und Versuchungen des bösen Geistes getrieben hat; aber der Fürst derWelt ist gerichtet, Christus ist erschie­ nen, die Werke des Satans zu zerstören; er hat in unS durch feinen Geist so viele sittliche und göttliche Kräfte geweckt, daß wir zum Dösen nur versucht werden, wenn wir uns von unserer eigenen bösen Lust reitzen und

und locken lassen. Ihr meint, es sei Gottes nicht würdig gewesen, einen Engel zu schaffen, der sich zu seinem bleibenden Verderben in einen Fürsten der Finsterniß gestal­ tete; aber wenn euch die Freiheit des Willens kein leerer Name ist, so müßt ihr auch einräumen, daß freie Liebe jum Guten nur statt findet, wenn man es auch verachten und hassen kann, und daß die Tugend und Frömmigkeit jeden Werth verlieren würde, wenn sie nicht im steten Kampfe mit der Sünde errungen werden müßte. Wo habt ihr also auch nur den geringsten Grund, es zu läugnen, daß ein zum Engel bestimmter Geist gefallen, in seinem Falle beharrt sei, daß er denselben Sinn des Ungehorsams auch bei seinen Mitgeschöp­ fen geweckt und durch seine Versuchung die Sünde in die Menschenwelt eingcführt habe? O diese Lehre der Schrift hängt ja mit der sittlichen Freiheit der Geschöpfe, mit dem wesentlichen Unterschiede des Guten und Bösen, mit der Reinheit und Heiligkeit Gottes, mit der Sendung seines Sohnes, sie hängt selbst mit unserer eigenen Scheu vor der Ungerechtigkeit und Sünde so genau zusammen, daß ihr sie nicht läugnen könnt, ohne Gott selbst zum Urheber der Sün­ de zu machen, ohne unseren Eifer in der Heiligung zu schwä­ chen, und so die Grundfesten des Christenthums, ja zuletzt alle Lugend und Religion zu untergraben. Das bedenket, und ihr werdet in euren Urtheilen vorsichtiger, in euren Ansichten der sittlichen Weltordnung tiefer und gründlicher, in euren biblischen Forschungen bescheidener und gläubiger werden; ihr werdet euch in jedem Falle da aller unwürdigen Spöttereien entschlagen, wo wir so viel Ernstes zu bedenken, zu crwägen, ju beschließen und unter Gottes Beistand auszuführen haben. Er, der allein in einem Lichte wohnt, wohin kein sterbliches Auge dringt, stehe uns in diesen Kämpfen unseres Glaubens mit der Kraft und Leitung seines Geistes bei; er versetze uns aus dem Reiche der Finsterniß in das Reich des Lichtes und der Klarheit; er heilige uns Alle durch und durch, daß wir im Glauben begründet, gestärket und vollbereitet einstens würdig werden, seine Herrlichkeit zu schauen. Amen.

.

XXXVII.

Am vierten Dreieinigkeitssonntage. Evangel. Luk. K. VI. D. 36 — 42.

Die kräftigsten Verwahrungsmittel gegen die Unwürdigkeit der sittlichen Selbstver» blendung.

Herr, deine Worte find lauter und erquicken die Seele; du erleuchtest, o Gott, meine Leuchte, und machest meine Finsterniß Licht. Amen.

M. a. 3.

Bei der vielfachen Ausbildung unseres Geistes

in den Wissenschaften und Künsten bleibt es doch für Menschenbeobachter eine sehr demüthigende Erscheinung, keine Einsicht unter uns so geringe Fortschritte macht, die Kenntniß unserer selbst. Fragen wir, was

den daß als seit

einem Jahrhunderte in einjclnen Fachern menschlicher Ein­ sicht geleistet worden ist, so wird man uns eine große Anzahl von Männern nennen, die sich in jedem derselben ausgezeichnet haben; man wird unS eine noch größere Summe von Büchern aufjahlen, die über jeden einzelnen Gegenstand des Wissens an das Licht getreten sind; man wird uns auf eine lange Reihe von Ansichten und Ent­ deckungen verweisen, die den Kreis unserer Kenntnisse er­ weitert und uns auf eine höhere Stufe geistiger Bildung erhoben haben. Ist hingegen die Rede von uns selbst und unserem inneren Menschen, von dem eigentlichen Mittel­ punkte unseres Empfindens, Denkens und Wollens; von dem geistigen Träger unseres Verstandes, Willens, und unserer ganzen Persönlichkeit; so sehen wir überall Räth­ sel und Dunkelheiten, die noch nicht aufgeklärt sind; so finden wir überall nur Muthmaßungen und Meinungen, die sich unter einander oft selbst bestreiken und aufheben; so erblicken wir von allen Seiten die Kenntniß des In­ neren unserer Natur und unseres Wesens beschränkt; eine Einsicht, die doch die erste Bedingung wahrhaft geistiger Bildung und sicherer Fortschritte in dem Reiche der Wis­ senschaften ist. Nicht einmal in der gemeinen Erinnerung

». Ammons Pred. B- II.

an unsere körperliche Persönlichkeit, an die Beschaffenheit

unseres Verstandes und Willens haben wir es zu einer größeren Klarheit und Deutlichkeit, alS unsere Väter, ge­ bracht; wir besehen täglich unser Angesicht im Spiegel, und vergessen eS doch sofort wieder, wie wir gestaltet sind; wir werden von Kindheit an auf die Schwächen unseres Talentes und auf die mannichfachen Lücken unserer erworbenen Kenntnisse aufmerksam ge­ macht, und werden dennoch nicht in der vorthcilhaften Meinung von uns irre; man ist noch strenger gegen un­ sere sittlichen Unarten und Gebrechen, und wir erkennen noch viel weniger diesen gerechten Tadel an; ja, es scheint sogar, als ob unser Zuwachs an Bildung oft Zuwachs an Selbstsucht, und daher auch an Unbekanntschaft mit uns selbst werde, und so die sittlichen Früchte wieder hinwegnehme, die uns eine reichere Kenntniß der Außenwelt ge­ währen soll. Und doch ist der Mangel an Selbstkenntniß noch ein kleineres Uebel, als die Selbstverblendung, die uns nicht allein eine falsche Stellung in Gottes Welt giebt, son­ dern uns auch zu unabsehlichen Thorheiten, Sünden und Ungerechtigkeiten verleitet. Du kannst dich vielleicht ent­ schuldigen, wenn du dir deiner körperlichen Unvollkommen­ heiten und Gebrechen nicht bewußt bist, die jeder Andere gleich auf den ersten Blick wahrnimmt, weil dein sinnli­ ches Auge von dir abgewendet und nur vorwärts in die weite Welt gerichtet ist. Was soll man aber von dir sagen, wenn du eben so wenig von deinen geistigen und sittlichen Mängel« weißt; wenn du dich gar nicht erinnern willst, wie oft man dich auf die schwache Seite deiner geistigen Bildung aufmerksam gemacht, wie oft man deinen Leichtsinn getadelt und dich vor deinem Hange zum Stolze und Hochmuth gewarnt hat; wenn du denselben Fehler zwar an Andern mit großer Strenge rügest, aber zu gleicher Zeit dir mit dem Wahne schmeichelst, bescheiden und anspruchlos zu seyn? Ist denn auch deine Vernunft und dein Gewissen nur nach außen gerichtet; bist du dir auch der Wahrheit, der Pflicht, der Tugend nur für Andere und

nicht für dich selbst bewußt; kannst du dir den heiligen und

gerechten Gott als

den Vergelter jeder Sünde

und jedes

Unrechtes denken und dir doch für deine Person eine Aus­ nahme von dieser Regel gestatten; und wenn du dir nocty

diesen Frevel erlaubst und dich da, wo du dem Gesetze Gottes durch deine Sünde verhaftet bist, noch für ei­ nen Freund und Verehrer Gottes hältst, ist das nicht ein freies Urtheil und ein gewissenloses Beginnen, für das du

Gott

und Menschen

Ja,

verantwortlich bist?

fürwahr,

wenn schon der Mangel an Bekanntschaft mit uns selbst eine große und bcklagenswerthe Unvollkommenheit ist, so

muß die Selbsttäuschung und sittliche Selbstverblendung noch ungleich verwerflicher und sträflicher seyn; so setzt diese eine Abhängigkeit des Geistes von dem sinnlichen Scheine, eine

Blindheit der Eigenliebe,

ein regelloses Spiel der Selbst­

sucht voraus, das uns sehr zur Schmach und Schande ge­

reicht; so befinden wir uns in einer Stimmung und Ver­ fassung des Gemüthes, wo Alles für uns zu besorgen ist, wir nicht allein die Vollendung großer Untugenden, offenbarer Sünden und Laster, sondern auch die schwere Hand des züchtigenden Schicksals befürchten müssen. Je­

wo

sus, der Herr, welcher wohl wußte, was an und in dem Menschen ist, hat uns auch dieses Gebrechen unserer sittli­ chen

Natur mit großer

Augen gestellt;

Anschaulichkeit

und Klarheit vor

unser heutiges Evangelium beschäftigt sich

fast ausschließend mit diesem Gegenstände und fordert uns daher auch zu seiner tiefen und gründlichen Erwägung auf. In stiller und vereinter Andacht wollen wir uns daher hier­ auf betend vocberciten re. Cvangel. Luk. K- VI.

D. 36 — 42.

Darum seyd barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdam­ met nicht, so werdet ihr auch nicht verdammet. Vergebet, so wird euch vergeben. Gebet, so wird euch gegeben. Ein voll, gedrückt, gerüttelt und überflüssig Maaß wird man in euren Schooß geben; denn eben mit dem Maaß, da ihr mit messet, wird man euch wieder messen. Und er sagte ihnen ein Gleich» niß: Mag auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen?

13 *

LLerden sie nicht alle beide in die Grube fallen? Der Jünger ist nicht über seinen Meister; wenn der Jünger ist wie sein Meister, so ist er vollkommen. Was siehest du aber einen Split« ter in deines Bruders Auge, und des Balkens in deinem Auge wirst du nicht gewahr? Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt stille, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen; und du siehest selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, ziehe zuvor den Balken aus deinem Auge; und siehe dann, daß du den Splitter aus deines VrndcrS Auge ziehest.

Die schönen Tugenden der Billigkeit, Wohlthätigkeit und Milde, die uns in der ersten Hälfte dieses lehrreichen Abschnittes empfohlen werden, gehen sämmtlich aus dem Grundsätze hervor, daß die Gerechtigkeit und Liebe Gottes für Alle gleich ist, und daß also der Unbarmherzige, der nur verdammt und richtet, schon durch seine Lieblosigkeit und Strenge ein hartes Urtheil über sich ausspricht. Aber wie sich Menschen finden, die für Andere Gesetze geben, und ihnen doch selbst nicht unterworfen seyn wollen; so giebt es noch viel häufiger solche, die ein eigenes Maas für sich, und wieder ein eigenes für Andere haben, und so zwar vernünftig in dem Urtheile über ihre Mitmenschen, aber unvernünftig in der eigenen That, gleichsam in doppelter Person durch dieses Leben wandeln. Das ist nun der Gegenstand, auf den wir vorhin vorbe­ reiteten, und den wir nun näher in das Auge fassen wol­ len, indem wir unsere Andacht heute auf die kräftig­ sten Verwahrungsmittel gegen die Unwürdig, keit der sittliche« Selbstverblendung beschränken. Wir haben hiebei zuerst ihre Unwürdigkeit, und dann die kräftigsten Verwahrungsmittel gegen sie zu beachten, wenn die Worte Jesu, unseres Herrn, für uns Geist und Leben werden sollen.

I. Die Unwürdigkeit der sittlichen Selbstverb len düng beruht nach dem Inhalt« unseres Evangelii darauf, daß sie eine freiwillige, eine selbstsüchtige und eine schmähliche Blindheit des Ge.isteS ist.

197 Es wird leicht seyn, jede dieser Bemerkungen auS dem ent­ scheidendesten Gründen nachzuweisen. Mit Recht nennen wir die sittliche Selbst­ verblendung unwürdig, weil sie eine freiwillige Blindheit des Geistes und Gemüthes ist. DaS sagt uns der Herr deutlich in den Worten; mag auch ein Blinder dem anderen den Weg weisen, wer­ den sie nicht beide in die Grube fallen? Aber wie schon die Pharisäer solche blinde Leiter waren, welche Andere lehrten und straften und sich selbst nicht;

so finden wir noch immer Menschen genug, die denselben Fehler an ihrem Nächsten tadeln, der von ihnen oft ge­ nug begangen wird und sich nicht selten schon in eine herrschende Sünde verwandelt hat. Da klagt der Eine, daß er in seiner Noth und Krankheit weder Trost, noch Hülfe fand, und dennoch hatte er selbst die nächsten Ver­ wandten in großer Noth und Trübsal verlassen. Da be­ schwert sich ein Anderer, daß man ihm auch die kleinste Unordnung nicht übersehen will; und doch hat er selbst immer das bitterste und schmähendeste Wort und Urtheil bereit, wenn in seiner nächsten Umgebung etwas nicht wohl und recht gethan ist. Da ist ein Dritter sehr unzufrie­ den, daß ihm in seinen Geschäften kein Glück und Segen Zufällen will, und doch hat er selbst Anderen nie mit vollem und gerütteltem, er hat ihnen höchstens nur mit halbvol­ lem, falschem und betrügerischem Maaße gemessen. Könnt ihr nun daran zweifeln, daß alle diese Thoren aus eige­ ner Schuld geistig blind und blödsinnig sind; hören sie nicht, wie jeder Andere, das göttliche Gebot, seid barm­ herzig, wie der Vater im Himmel barmherzig ist; sagt ihnen ihr Gewissen nicht, richtet nicht, so wer­ det ihr nicht gerichtet; ist die heilige Stimme der Pflicht, das sollst du thun, oder unterlassen, nicht un­ mittelbar an sie selbst, an ihr Herz und ihren Willen, und zwar in ihrem Bewußtseyn, noch früher, als an Andere

gerichtet, die sie nach diesem Gebote tadeln, richten, ver­ dammen wollen? Das zu überhören, oder außer Acht zu lassen, ist nicht möglich ohne des eigenen Willens bösen

Vorsatz; es kann wohl ein Mensch, der sich nie im Spie­ gel oder in einer Quelle besah, Anderen ihre Häßlichkeit oder Mißgestalten vorrücken, ob er schon denselben Fehler an sich tragt; aber ein Liebloser, ein Hartherziger, ein Un­ versöhnlicher kann nicht Anderen Milde, Wohlwollen und Großmuth gegen ihre Feinde predigen, ohne vorher das Auge über die eigene Unart zuzudrückcn; er muß also noth­ wendig das eigene und unmittelbare Bewußtseyn zuerst Niederkämpfen und abstumpfen, ehe er es als das rich­ tende Gewissen Anderer zum herben und bitteren Tadel ihrer Fehler und Gebrechen schärft. Gewiß eine sonderbare und räthselhafte Erscheinung, in einer und derselben Angelegenheit, in dem Urtheile über einen und denselben Gegenstand zugleich sehend und blind zu seyn! Wir können sie nur erklären, wenn wir den weisen Ausspruch Salomo's beden­ ken; Gott hat den Menschen aufrichtig geschaffen, aber die Menschen suchen viel Künste. Unwürdig erscheint uns die sittliche Selbstver­ blendung aber auch darum, weil sie eine selbstsüch­ tige Blindheit des Geistes ist. Was siehest du, fährt Jesus fort, den Splitter in deines Bruders Auge, den Balken aber in deinem Auge wirst du nicht gewahr? Nach anderen Aeußerungen unseres Herrn können wir nicht zweifeln, daß auch dieser Ausruf den eben so verdorbenen, als hcrrschsüchtigen Pharisäern gilt, von welchen es an einem andern Orte heißt, daß sie des Himmelreiches Schlüssel trugen und doch selbst nicht Hineingiengen, und wieder dem Volke große Lasten aufluden, die sie doch selbst mit keinem Finger be­ wegten. . Man kann sie vollkommen mit denen vergleichen, die sich heimlich allen Ungerechtigkeiten, allen Ausschweif, ungen der Unmäßigkeit und Wollust überlassen, und doch Spiel,' Tanz und laute, gesellige Vergnügungen als schwere Missethaten und Verbrechen verdammen. Ist das nicht aber eine selbstsüchtige Blindheit des Aberglaubens, sich einzubilden, Gott werde die Sünden Anderer zwar, wie er gedrohet hat,, mit großer Härte und Strenge richten, vor den unsrigen aber aus besonderer Gnade sein Ange-

ficht verbergen und langmäthig über fle hinwegsehen? Ist daS nicht eine selbstsüchtige Blindheit des Stolzes und der Anmaßung, zu wähnen: ihr Anderen seid zwar verbunden und verpflichtet, Alles, was das Gesetz verord­ net, nach seinem ganzen Umfange zu erfüllen; aber mir, dem Kinde und Auserwahlten Gottes, wird der Herr nicht zurechnen, was nur eine geheime Sünde der Schwachheit und der stillen Leidenschaft ist? Ist das nicht eine selbst­ süchtige Blindheit der Trägheit und des Eigennutzes, die Neigungen und Begierden Anderer zwar durch ein stren­ ges Sittengericht in gemessenen Schranken zu halten, den scinigen aber nach Herzenslust den weitesten Spielraum zu öfnen? O dabei glauben fich ja schlaue Betrüger sehr

wohl zu befinden, daß fle fich zwar selbst gestatten, An­ dere zu tauschen und zu hintergehen, diesen aber nie er­ lauben, von dem Pfade der Ehrlichkeit und Redlichkeit zu weichen; badurch machen sich gerade unwürdige Lehrer ihr schweres Amt so leicht, daß sie sich begnügen, Andere auf ihre heiligen Worte zu verweisen, aber für ihre Person mit der Unlauterkeit ihrer thörichten und unheiligen Werke immer in den Hintergrund zurücktreten; darum führen die Stolzen und Hoffartigen ein so.bequemes und sorgenfreies Leben, weil sie zwar von Anderen Ehrftrrcht und Unter­ werfung fordern, sich selbst aber von jeder Pflicht der Be­ scheidenheit und des Gehorsams für entbunden halten. Selbst der gewissenlose Tyrann will seine Unterthanen nur darum unter das harte Joch des Priesterthumes beugen, damit er nach voller Willkühr herrschen und sich allen Thorheiten und Lüsten seines Herzens überlassen kann. Wenn daher Hpenschen von dieser Gesinnung dennoch spre­ chen, halt stille Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen,- so muß das jeden Freund der Tugend mit dem bittersten Unmuthe erfüllen, weil sich hier eine selbstsüchtige Blindheit des Geistes ausspricht, die von einer großen Verdorbenheit des Gemüthes und

Herzens zeugt. So bewahrt sich denn die sittliche Selbstver­ blendung auch darum als unwürdig, weil sie eine

schmähliche und verwerfliche Blindheit des Gei­ stes ist. Du Heuchler, ziehe zuerst den Balken aus deinem Auge und dann siehe, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest. Die Fehler, Sünden und Gebrechen des Nächsten, auch die kleineren und geringeren, wahrzunehmen, sie zu tadeln und durch Rath und That an ihrer Besserung zu arbeiten, läßt zwar der Herr nicht nur zu, sondern er gebietet und verordnet es auch; es soll Einer des Andern Last tragen, Einer dem Andern mit sanftmüthigem Geiste zurechthelfen; aber er soll zuvor selbst ohne Tadel seyn; damit er nicht Anderen predige und selbst verwerflich werde; er soll die Erleuchtung, die Besserung und Heiligung des Gemüthes immer bei sich selbst anfan­

gen; er soll die Kraft der Ermahnung und des gurrn Rathes durch sein Beispiel unterstützen und dadurch den Vorwand der Heuchelei von sich abwenden, die fast immer mit einem harten und lieblosen Urtheile über Andere ver­ bunden ist. Wer hierauf nicht achtet, der setzt sich fast immer dem Spotte Anderer und der bittersten Verachtung aus; man verlacht den Müßiggänger, der die Seinigen zu fleißiger Arbeit anhalt, und doch selbst mit seinen Han­ den nichts Gutes schafft; man hört den Richter nicht, welcher den Partheien Friede und Verträglichkeit empfiehlt, und doch mit seinen Amtsgenossen in unaufhörliche Strei­

tigkeitenverwickelt ist; man schenkt dem Arzte kein Vertrauen, der seinen Kranken eine große Anzahl von Heilmitteln ver­ ordnet, und doch des Uebels, an dem sie leiden, an seinem eigenen Körper nicht mächtig werden kann; man will nichts von dem Sittenlehrcr wissen, der zwar mit Engelzun­ gen spricht, aber doch durch seine Thaten sofort wieder niederreißt, was er durch Worte gebaut hatte. Und ist denn das die einzige Schmach, die der sittlich verblendete Mensch zu fürchten hat; geht nicht durch die falsche Stellung, die er durch seine Urtheile nach dem Gesetze, und. durch seine Thaten wider das Gesetz genommen hat, der ganze Endzweck seines irdischen Daseyns verloren; muß nicht zuletzt an ihm erfüllt werden, was Jesus den Pha-

risäern droht; «eh« euch Pharisäern und Schrift« gelehrten, ihrHeuchler, die ihr den übertünch« ten Gräbern gleicht, die zwar von außen glän­ zen, aber inwendig voll Todtengebeine und Unreinigkeit sind? Ja, dadurch unterscheidet sich ge­ rade die sittliche Selbstverblenbung von der natürlichen Blindheit unseres Verstandes, unseres Herzens und Glau­ bens, daß sie freiwillig, verschuldet, selbstsüchtig, vor Gott und Menschen verwerflich ist. Diele gehen un« unterrichtet und unwissend, und doch nicht ohne Hofnung aus der Welt, weil es ihnen ohne ihre Schuld an Mit­ teln der Einsicht und Bildung gebrach; der Selbstverblen­ dete aber ist ohne Rettung verloren, wenn er sich von Gott nicht ein reineS Herz und einen neuen, gewis­ sen Geist erfleht, «eil denen, die des Herrn Willen wissen und ihn nicht vollbringen, Trübsal, Angst und Bangigkeit in dieser und in jener Welt bereitet ist. Mit eben dem Maaße, da ihr mit messet, wird man euch wieder messen, das ist das ernste Wort Jesu, das wir nicht zu Herzen nehmen können, ohne auf die kräftigsten Verwahrungsmittcl gegen eine Untugend zu denken, die uns mit so trau­ rigen und verderblichen Folgen bedroht. Lasset uns hierauf noch in dem Laufe dieser Betrachtung unsere Aufmerksamkeit nud,Andacht richten.

II. Gegen die sittliche Selbstverblendung, die so unzählig Viele täglich von einer Sünde und einem Laster zum andern führt, giebt eS nur drei kräftige und sichere Verwahrungsmittel; die sichere Kennt­ niß unserer Pflicht, die freie Herrschaft deS Geistes über den bewegten Willen, und die treue Gemeinschaft mit dem Vater des Lich« tes, welcher größer ist, alS unser Herz und alle Dinge erkennt. Möge doch jedes derselben sich recht kräftig an unserem Inneren erweisen! Eine genaue und sichere Kenntniß unserer

Pflicht ist das Erste, was uns gegen die Gefahren der sittlichen Selbstverblendung schützen kann. Sich selbst ve» blenden heißt sich selbst betrügen und vergessen; es heißt den Gedanken des Sittlichen, Göttlichen und Heiligen in sich verdunkeln und dafür den Gedanken des Sinnlichen, Irdischen und Weltlichen jur Herrschaft kommen lassen; es heißt mit einem Worte zuerst an seiner Pflicht zweifeln und sich dann im Wahne einer falschen Freiheit gänzlich Bei wem wird nun diese traurige von- ihr los sag en. 'Selbstvergessenheit schneller und häufiger eintreten , bei dem,

welcher die Gebote Gottes nur aus dem Gedächtnisse und dem Unterrichte seiner Jugend kennt, oder bei dem Anderen, der es aus voller Ueberzeugung weiß, was gut ist und was der Herr, sein Gott, von ihm fordert? Wer wird schneller bereit seyn, die Unwahrheit zu sagen und im Drange der Noth einen falschen Eid zu schwören: der, welcher weiß, wie schändlich die Lüge ist und wie schwer der Fluch Gottes auf dem Haupte des Meineidigen ruht, oder der Leichtsinnige, welchem Ja und Nein, der gute und der böse Geist fast gleichbedeutende Worte sind, und dem es nur darum zu thun ist, wie er sich am leichtesten aus einer dringenden Noth und Verlegenheit ziehen kann? Nach dem, was uns die tägliche Erfahrung sagt, kann die Entscheidung nicht schwer seyn; die Sclbstverblendung, die den Balken im eigenen Auge niemals sieht, findet sich fast immer auf Seiten derer, die das Wort Gottes zwar äußerlich gelernt haben, aber doch nie zur vollen Erkenntniß der Wahrheit gekommen find. Wollt ihr euch also gegen den unglücklichen Selbstbetrug verwahren, welcher jeder Sünde vorangeht, so werdet vor Allem fest in der Erkenntniß eurer Pflicht; so präget euch zuerst die bekannten Gebote des ewigen Rechtes, welche Moses feinem Volke mit großem Nachdrucke verkündigt, tief in die Seele ein; so lasset, die Ermahnung Pauli kräftig in euer Herz dringen, es trete ab von der Ungerechtigkeit, wer Christi Namen nennt; so erfasset nun in stufenweifer Erleuchtung eures Gewissens den weiten Umfang des Wortes Jesu, ein neu Gebot

gebe ich euch, daß ihr euch untereinander lie­ bet; so ringet endlich kräftig nach der vollen Ueberzeug­ ung von der Wahrheit des köstlichen Spruches: so Je­

mand das ganze Gesetz halt, aber an einem sündigt, der ist des Ganzen schuldig. Je tiefer ihr in diesem Glauben, in dieser Gerechtigkeit und Liebe gewurzelt seid, desto weniger werdet ihr auch an der Heiligkeit des Gebotes Gottes und eurer Pflicht zwei­ feln; desto fester wird nun auch euer besseres Selbst im Kampfe mit den Versuchungen einer tauschenden Sinnlich-, keit stehen; euer geistiges Auge wird immer rein, lauter und wacker bleiben, daß ihr wandelt, als am Tage, und euch der Werke der Heuchelei und Fin­ sterniß niemals schämen dürfet. Ein zweites, nicht minder kräftiges Verwahrungsmit­ tel gegen die sittliche Selbstverblendung ist die ungestörte Herrschaft des Geistes über den aufgeregten Willen. Wie schon der Apostel von dem Gesetze der Lust und Begierde in unseren Gliedern spricht, das uns gefangen führt unter der Sünde Ge, setz; so klagen auch wir häufig über die blinde Macht und Festigkeit der Leidenschaft, die uns zuerst unsere Frei­ heit rauben und uns dann zu den größten Sünden und

Vergehungen fortreißen will. Und wahr ist es allerdings, daß, wenn die Leidenschaft einmal den höchsten Grad des Ungestüms erreicht hat, sie dann, gleich einem aus den Ufern getretenen Strom, jeden Widerstand überwältigt und

den vorhin besonnenen Menschen in ein wildes und toben­ des Thier verwandelt. Beobachtet ihr aber in dem In. neren eures Gemüthes die mannichfachen Uebergänge, die diesen traurigen Zustand herbeiführe«, so werdet ihr bald auf den entscheidenden Augenblick zurückkommen, wo der Verstand in die Thorheit der Leidenschaft einwilligte und ihr freien Lauf gestatteter der Trinker, der Schwel­ ger, der Spieler, der Wollüstige und der Zornige ist sich es wohl bewußt, daß er im Begriffe steht, ein großes Ue­ bel zu vollbringen; aber er ist nicht entschlossen genug, diesen Gedanken fest zu halten; er gestattet der aufgereg-

tert Lust und Begierde einen neuen, vordringenden Angriff auf seinen Willen, und da er nun das, waS er will und wünscht, auch für erlaubt und recht halt, so wird der Verstand betrogen und die Selbstverblendung führt den unbewachten Willen unaufhaltsam zu der bösen und ver­ werflichen That fort. Wollet ihr euch daher gegen die trauri­ gen Folgen deS sittlichen Selbstbetruges verwahren, so hal­ tet es keineswegeS für genug, euren Geist zu bilden und euren Verstand in guten Grundsätzen zu befestigen,- nein, sichert euch zugleich gegen die drohende Gefahr, diese besseren Grundsätze freiwillig aufzugeben, wenn sie durch die Hef­ tigkeit eures Verlangens erschüttert werden; vergesset nie, daß wir in dem Augenblicke der Versuchung immer geneigt sind, das zu glauben, was wir wünschen und das zu bil­ ligen, was wir begehren; hütet euch vor Allem, die böse Lust und Neigung, wenn sie einmal abgewiesen ist, von Neuem zurückzurufen und in das Innere des Gemüthes Vordringen ju lassen, weil sie sonst-unfehlbar den Verstand verdunkeln, ihm seine Zustimmung abschmeicheln, oder ab­ trotzen, und uns so in freiwillige und sich in ihren schmäh­ lichen Fesseln noch wohlgefallende Knechte der Sünde ver­ wandeln wird. Mögtet ihr doch nicht säumen, in dieser wichtigen Sache vor Allem auf das Zeugniß eures eige­ nen Herzens zu achten; mögtet ihr es fleißig erwägen, daß ohne Irrthum keine Sünde, und ohne Selbstverblen­ dung keine wissentliche Sünde möglich ist; mögtet ihr da­ her auf die Gefahr, in den Angelegenheiten eurer Pflicht freiwillig zu irren und dann den verderblichen Irrthum übereilt zu billigen und lieb zu gewinnen, eure ganze Auf­ merksamkeit richten; mögtet ihr euch mit einem Worte, bei den unaufhörlichen Anregungen eurer Lust, oder eures Ab­ scheues, eures Begehrens, oder Zurückstoßens immer der klaren Besonnenheit und freien Herrschaft des Geistes über euren Willen befleißigen! Und scheint euch bei eurer Ju, gend, bei eurer Unerfahrenheit, bei der Lebhaftigkeit eurer Sinnlichkeit auch daS zu schwer; so schiebt doch lieber in der Stunde der Versuchung mit einem Machtgebote eures Willens jeden Entschluß und jede Handlung auf; so eilet

lieber fliehend von dem Schauplätze eure- Kampfe- hin­ weg, bis der weife und bessere Gedanke wiederkehrt, daß ihr wenigstens unbesiegt von bannen jiehek, wenn ihr auch nicht als freie und standhafte Sieger euer Haupt erheben könnt. Und so darf ich euch denn nur noch die unverrückte Gemeinschaft de- Herjens mit Gott als da­ letzte und kräftigste Verwahrungsmittel gegen die Gefah­ ren der sittlichen Selbstverblendung empfehlen. Wie die Menschen ohne Gott, ohne Glauben und Vertrauen, ohne Andacht und Gebet durch dieses Leben gehn, lehrt die täg­ liche Erfahrung? sie überlassen sich entweder allen Unord­ nungen und Ausschweifungen, die das bürgerliche Gesetz nicht ahndet, ohne Scheu, und rühmen sich wohl noch ihrer geistlichen Blindheit? oder sie beschranken sich doch nur auf die äußeren Tugenden des Anstandes und der Ehrbar­ keit und müssen daher auch täglich fürchten, zu heimliche» Werken der Finsterniß versucht und verleitet zu werden. Wer hingegen in treuer und unverletzter Gemeinschaft mit seinem Gott, mit seinem Herrn und Vater lebt? wer jeden Tag für verloren achtet, an dem er nicht forschend, betend, dankend und liebend zu ihm sein Herz erhebt? wer in je. dem frohen und widrigen Ereignisse die belehrende, prüfende, läuternde und immer weise Führung seines höchsten Wohl­ thäters erkennt? aus dessen Seele wird auch nie das Licht des Glaubens und der Wahrheit weichen; für den werden die Reitze und Täuschungen der Sünde niemals mäch» tig oder überwältigend werden? der wird überall bald erkennen, was das Gute und Bessere sei? der wird bei der Aengstlichkeit seines Gewissens, oder der Schwachheit seines Willens bald wissen, wo er Erleuchtung, Kraft und Stärkung suchen, wie er auf dem betretenen Wege der Wahrheit beharren und ihn mit Freuden vollenden soll. Diese Bahn des Lichtes, der Liebe und des Gebetes, auf der unS Jesus, der Herr vorangieng, wollen auch wir mit treuem Eifer verfolgen; wir wollen vor Allem dem stolze» Wahne begegnen, als ob wir es schon ergriffen hätten und schon vollkommen wären? in Beschei«

denheit, Mäßigkeit und Demuth wollen wir uns täglich vor dem Allwissenden prüfen, der uns zur Selbsterkenntniß

und durch sie zur Weisheit und Heiligung berufen hat; in dem Lichte seiner ewigen Klarheit wollen wir die Blicke unseres Geistes scharfen, daß wir durchschauen in das himmlische Gesetz der Freiheit und verklärt «erden in dasselbe Licht von einer Klarheit zu der andern. Dann werden wir uns immer mehr selbst erkennen, wie wir vor Gott erkannt sind; dann werden unsere Augen aufgethan werden, daß wir immer mehr einsehen, was da sei der heilige, vollkommene und seligmachende Gotteswille; als ein geweihter Tem­ pel seines Geistes «erden wir uns dann nicht allein selbst erheben und an ihm heranwachsen zur göttlichen Größe, sondern auch die Uebertreter seine Wege lehren, daß sich die Sünder zu ihm bekehren. Gebet von eurem Lichte, drückt und

so wird euch gegeben; ein voll ge­ überflüßiges Maas wird man in

euren Schoos geben.

Amen.

XXXVIIL A m

zweiten

Text:

B u ß tage.

Psalm XCVIL V. 10 —12.

Wohin unS die Ueberzeugung führen muß, daß wir noch immer keinen Bußltag ohne Buße feiern können.

Herr,

du wohnest im Helllgchume des Himmels und bei

denen, die da stillen Geistes sind, daß du die Demüthigen erquickest und die Herze» der Zerschlagenen heilest. Amen.

M. a. Z.

Bei der großen Geneigtheit unseres Zeitalters,

Alles zu meistern und zu bessern, waS die Vorzeit zur För­ derung der gemeinen Wohlfahrt angeordnet hat, wird sich Niemand unter unS wundern, wenn auch die öffentlichen Bußtage, die wir in unserer Kirche zu feiern pflegen, gar manchem Tadel unterliegen. Daß schon Moses einmal im Jahre ein großes Versöhnungsfest für sein Volk angeord­ net hat, welches jetzt noch unter den Juden feierlich be­ gangen wird', ist bekannt; man erinnert sich aus der al­

ten Geschichte, daß die heidnischen Obrigkeiten, wie wenig sie sich auch sonst um die eigentliche Religion zu beküm­ mern pflegten, doch bei großen Landplagen und Nöthen die erzürnten Götter anzuflehen und sie durch mancherlei Geschenke, selbst durch Menschenopfer zu versöhnen such­ ten ; man weiß es, daß auch in der christlichen Kirche die Pest, ansteckende Krankheiten, Drangsale des Krieges und andere Gefahren den Herrschern die Anordnung öffentlicher Bußtage, als einen Nothschrei der seufzenden Kreatur um höhere Hülfe, gleichsam entrissen und abgepreßt haben; man läugnet endlich nicht, daß bei dieser Feier mancher Sünder erschüttert, mancher Ungläubige bekehrt, manches kalte Herz erwärmt, gerührt und dem Himmel wieder ge­ wonnen worden ist. Aber daß das nicht freiwillig, sondern mit einem geheimen Widerwillen gegen äußeren Zwang gev. Ammon'S Pred. D. H.

schah, daß man so lang sicher in seinen Sünden dahin lebte und sich dann erst jur allgemeinen Buße entschloß, als die Strafgerichte des Himmels schon nahe, oder wirk­ lich eingebrochen waren; daß man also da, wo die Fieber­ hitze des kranken Herzens schon einen hohen Grad von Bösartigkeit erreicht hatte, erst schnelle und augenblickliche Hülfe suchte; daß man endlich in einer milden und fried­ lichen Zeit, wo keine Noth und Landplage an das Bedürf­ niß allgemeiner Büßungen erinnert, dennoch vor dem Herrn in den Staub sinken und sich im Bußgewandt schwerer Sünden und Verbrechen anklagen soll, die man nicht be­ gangen haben will; das ist es, was vielen unserer Zeit­ genossen mißfallt; das ist es, was sic abgestellt, was sie verändert und besser angeordnet wissen wollen. Unsere Buß­ tage sollen ihrer Meinung nach nur Tage der Belehrung einer Gemeine über ihren sittlichen Zustand, nur Tage ei­ ner fortschreitenden Besserung und sittlicher Vervollkommung werden; und da zuletzt jede unserer andächtigen Versammlungen diesen Endzweck hat, so geben sie zu ver­ stehen, daß weder der Staat, noch die Kirche etwas ver­ lieren könnten, wenn die Feier unserer Bußtage gänzlich unterdrückt, oder doch ihre Zahl vermindert und an an­ dere Feste der Kirche angereihet würde. Was an diesen Bemerkungen Richtiges, Wahres und Treffendes ist, gedenken wir zwar weder zu läugncn, noch zu bezweifeln. Die christliche Buße und Versöhnung mit Gott wird ganz unnütz und unfruchtbar, wenn sic in äus­

sere Werkheiligkeit, oder sinnlichen Opferdienst ausartet; sie wirkt immer weniger und weniger, je öfter sic angcfangen und dann durch wiederholte Sünden von Neuem wieder unterbrochen wird; sie wird sogar bedenklich und gefährlich, wenn man sie leichtsinnig aufschiebt und ver­ spätet, und erst in den Tagen der Noth und Angst zu ihr seine Zuflucht nimmt; sie ist endlich todt und ohne allen sittlichen Werth, wenn sie nur durch äußere Strafgesetze herbeigeführt und erzwungen wird. Aber bedarf es nicht

überall unter den Menschen einer äußeren Anordnung, wenn die innere Ordnung des Rechtes und der Tugend in ihrem Gemüthe gedeihen soll; ist auch ein spater oder verspäte­

ter Anfang im Guten nicht besser, als ein leichtsinniges Dahinwandcln an blinder Lust und Begierde; sind überall die Herzen der Stimme der Wahrheit so fest verschlossen, daß keine Warnung vor der unlauter» und bedenklichen Buße auf dem Sterbelager in ihr Inneres dringe; kann es endlich getadelt werden, wenn auch die weltliche. Macht Tage, wie der heutige, mit einer gewissen Achtung aus­ zeichnet und das Gefühl ihrer Abhängigkeit von der Kraft der Religion öffentlich durch die That ausspricht? Was aber das Wichtigste voll dem Allen ist, sind die ruhigen, heiteren und glücklichen Tage, die wir nun verleben, nur

eine Frucht unserer Tugend und unseres Verdienstes; sind wir in der Erkenntniß Gottes, in einem gottseligen Sinne und Wandel schon so weit fortgeschritten, daß wir nur der Belebung unserer guten Grundsätze, aber keiner Aenderung derselben, daß wir nur einer fortschreitenden Veredelung und Heiligung, aber keiner Buße bedürfen; sind in unse­ rem Lande, in unserer Stadt, unter allen Standen, ja mehr oder weniger bei jedem Einzelnen unter uns nicht Sunden und Gebrechen herrschend, welche erkannt, bereuet, versöhnt und nach der heiligen Ordnung des göttlichen Reiches auch innerlich, oder äußerlich gebüßt werden müssen, ehe sie uns vergeben und erlassen werden können? Das wohl zu erwägen und uns hierüber mit uns selbst vor Gott und unserem Gewissen zu berathen, ist ohne Zweifel das Wichtigste und Heilsamste, waö wir in dieser feierlichen Stunde beginnen können; denn so wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht in uns. Möge der Geist unseres Herrn' und Heilandes Jesu Christi uns er­ leuchten, daß wir einsehen, wie wir vor ihm gestaltet sind! Wir flehen zuerst um seine Gnade in stiller

Andacht-

Text:

Psalm XCVII.

V. 10 — 12.

Die ihr den Herrn liebet, hasset das Arge. Der Herr be­ wahret die Seelen seiner Heiligen, von der Gottlosen Hand wird er sie erretten. Dem Gerechten muß das Licht immer wie­ der aufgehcn, und Freude den frommen Herzen. Ihr Gercch, ten, freuet euch des Herrn, und danket ihm, und preiset seine Heiligkeit.

Der heilige Dichter, welcher so eben zu uns gespro­ chen hat, stellt uns ein Bild des wahren Gottesverehrers zu einer Zeit auf, wo das jüdische Volk den heiligen Willen des Ewigen nur aus der Gesetzgebung auf Sinai erkannt und seinen Glauben ait ihn nur durch fromme Naturbetrachtungen belebt und ausgebildet hatte. Berge, heißt es in unserem Psalm, zerschmelzen wie Wachs vor ihm, vor dem Herrscher des ganzen Erd­ bodens; die Himmel verkündigen seine Gerech­ tigkeit und alle Völker sehen seine Ehre. Wir stehen als Christen in der Erkenntniß Gottes und seines Himmelreiches um Vieles höher und sollten also um so

viel mehr dem Bilde deS weisen und frommen Mannes gleichen, welches uns der heilige Sänger in den obigen Worten dargestellt und vorgehalten hat. Das ist indessen, wie wir es selbst nicht läugnen werden, keinesweges der Fall; wir können daher auch diese Stunde nicht besser anwenden, als wenn wir erwägen, wohin uns die Ue­ berzeugung führen muß, daß wir noch immer keinen Bußtag ohne Buße feiern können. Wir wollen diese Ueberzeugung zuerst bei uns er­ neuern, dann aber wohl beherzigen, wohin sie uns führen und leiten muß.

I. Die Ueberzeugung, daß wir keinen Bußtag würdig ohne Buße feiern können, werden wir

nicht besser erneuern, als-wenn wir uns erinnern, daß wir noch immer nicht von allem Unrechte rein.

in unserer Tugend durch eigene Schuld nicht wahrhaft glücklich, und für die weisen Führungen Got­ tes in unserem Leben nicht immer dankbar sind.

Obschon die Gerechtigkeit nur der Anfang der wahren Tugend ist, so können wir uns doch nicht frei von dem Unrechte sprechen. Das verbietet uns schon der Ausspruch des heiligen Dichters; die ihr den Herrn liebet, hasset das Arge, der mit dem Ge­ bote des Apostels zusammenstimmt: es trete ab von der Ungerechtigkeit, wer Christi Namen nennt. Denn stellen wir uns das Unrecht als eine Handlung vor, durch die wir uns und Andere in ihrer Freiheit und sitt­ lichen Würde verletzten; so sehen wir uns auch von der Gerechtigkeit, als von einem geschlossenen Kreise umgeben, den wir Alle, mehr, oder weniger, in der Blindheit unserer Neigungen überschreiten. Du handelst unrecht gegen dich selbst, wenn du deine Gesundheit durch wilde Ausschweif­ ungen zu Grunde richtest; das erlaubt dir schon dein zar­ ter Sinn für Anstand und Bildung nicht; aber du zer­ störst sie langsam durch deine Trägheit, Weichlichkeit, durch den Luxus deiner Tafel, durch eine ungeregelte Lebens­ weise, durch eine große Zahl eitler Gewohnheiten, und hast also zuletzt mit dem Schwelger und dem Trunkenbolde eine Schuld gemein. Du handelst unrecht gegen dich selbst, wenn du dich durch Treulosigkeit und Betrug um deinen guten Namen bringst; das erlaubt dir schon deine Klug­ heit und bürgerliche Stellung nicht; aber du schmeichelst, bist ein Augendiener, sprichst gegen besser Wissen und Ge­ wissen, um einem Freunde, oder Gönner zu gefallen, und wirst durch diese feige Nachgiebigkeit, durch dieses Weg­ werfen deiner sittlichen Würde in deinen eigenen Augen verächtlich. Du bandelst unrecht gegen Andere, wenn dn sie an ihrer Gesundheit, an ihrer Ehre, an ihrem Eigenthume verletzest; davor hast du dich, wie du sagst, gehütet

von Jugend auf; aber leichtsinnig oder boshaft bereitest du den Deinigen manchen stillen Kummer,- du befleckst den

guten Namen deines Freundes durch ein falsches Gerücht,

das du mit geschwätziger Vertraulichkeit hinter seinem Rükken verbreitest; du bist saumselig in der Zurückgabe des Geliehenen, in der Ordnung deiner Rechnungen und in der

Tilgung deiner Schulden, und fügst dadurch deinem Näch­ sten oft größeren Schaden, als der gemeine Betrüger zu. was

Und

sollen

wir erst

von dem mittelbaren Unrechte

sagen, das man fast ungestraft vor Menschen begehen kann; 'von der Langsamkeit in Geschäften, von der Ver­ zögerung der Gerechtigkeit, von der Begünstigung seiner Freunde, von der Versorgung der lieben Verwandten, von der Partheilichkeit für die Genossen seines Glaubens, oder

seiner Meinung;

Alles Fehler,

die dem gemeinen Wesen

oft nachtheiliger und verderblicher werden, als die erklärte

und offene böse That?

hasset

Die ihr den Herrn liebet,

daS Arge, denn der Herr bewahret die

Seelen seiner Heiligen; in diesem Gebote werden Viele unter uns ein Vorbild der Tugend erkennen, das sie bisher nicht erreicht, von dem sie sich sogar wissentlich entfernt haben, also ein offenbares Unrecht, das sie schmerz­ lich empfinden und bereuen müssen.

Einen Tag, wie der heutige,

können wir aber auch

darum nicht würdig ohne Buße feiern,

weil wir'uns

in unserer Tugend durch eigene Schuld nicht wahrhaft glücklich fühlen. Dem Gerechten, sagt der

heilige Dichter, muß immer wieder das Licht auf. gehen und die Freude dem' frommen Herzen.

Daß

also Licht

nrntergehe,

und Freude auch dem Gerechten zuweilen

laugnet der fromme Sänger nicht;

er sah

es wohl ein, daß dieser Wechsel in der Beschränktheit unseres Bewußtseyns, in dem unvermeidlichen Kampfe des Guten mit dem Dösen und in der ganzen Unvollkommen­

heit

unseres irdischen Daseyns liegt.

sich auf die Behauptung ein,

Darum schränkt er

daß bei diesem unvermeidli­

chen Wechsel froher und schmerzlicher Empfindungen in der

Seele des Gerechten das Bewußtseyn seiner Unschuld und

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seines inneren Werthes immer wieder über seinen Trübsinn siegen und ihm ein vorherrschendes Gefühl der Hei­ terkeit gewähren werd«. Auch wir haben in allen Stan­ den und in jeder Ordnung des.Lebens manche trübe Stun­ den und Augenblicke; das gereicht uns an sich keineswegcs zum Vorwurfe, oder Tadel; es ist das vielleicht nur ein Durchgang, nur ein Uebergang von der Finster­ niß zum Lichte, der uns nicht beunruhigen und kümmern soll. Aber wir haben zuweilen der trüben Stunden und Augenblicke viele; wir wollen das Gute nicht genießen das wir haben, weil uns der Neid und die Begierde nach großen Reichthümern plagt; wir können das Glück nicht genießen, das uns zugefallen ist, weil wir uns schon er­ schöpft und übersättigt haben; wir todten die Freuden un­ seres Berufes und häuslichen Lebens durch ein gieriges Verlangen dessen, was uns versagt ist. Hier fehlt uns offenbar die Unschuld und Gerechtigkeit, deren inne­ res Licht uns wieder aufgehen und uns erheitern soll. Sind wir aber auch bei einem schuldlosen und thätigen Leben von diesem Vorwurfe frei, so verstimmen uns doch

oft Kleinigkeiten, die unseres Unmuthes nicht werth sind; so nennen wir doch oft argwöhnisch die stille Ruhe eines Freundes schon Kaltsinn, und seinen Widerspruch Verrath; so kümmern und quälen wir uns doch, wenn unsere guten Bestrebungen weder Beifall finden, noch von einem gün­ stigen Erfolge sind; so wollen wir doch überall, wo wir guten Saamen ausstreutcn, schon ernten, noch ehe wir die Saat gepflegt und ihre Reife erwartet haben; in allen diesen Fällen gebricht uns offenbar die Reinheit und Beharrlichkeit der Tugend, der sich allein eine heitere Zukunft wieder zuwenden und die Freude in ihrem himm­ lischen Lichtglanje wieder aufgehen kann. Nicht also das Uebel und Leiden an sich, sondern das selbstgeschaffene Uebel und Unheil ist es, was uns bekümmert; die einmal verlorene Ruhe und Heiterkeit des Gemüthes kehrt nur darum so langsam in die gebeugte Seele zurück, weil sich aus unserem Inneren Wolken und Stürme erheben, die'

wir selbst hervorriefen; wir können zwar mit dem heili­ gen Dichter sprechen, was betrübst du dich meine Seele und bist so unruhig in mir; aber wir kön­ nen, wir wollen nicht hinzusetzenr harre auf Gott, denn du wirst ihm einst noch danken, daß er deines Angesichtes Hülfe und dein Gott ist.

Was aber die Ueberzeugung vollenden wird, die wir bei uns erneuern wollen, ist die Bemerkung, daß wir leider auch Gottes weise Führungen in un­ serem Leben nicht immer dankbar anerkannt haben. Ihr Gerechten freuet euch des Herrn, spricht der Psalmist, und danket ihm und preiset seine Heiligkeit. Das thun wir wohl mit den Lip­ pen, so lang uns kein Wunsch mißlingt und wir von einem günstigen Schicksal getragen, von einer Ehren­ stelle, von einem Feste zum anderen fortgehen; denn da sind wir so zufrieden mit uns selbst, mit unserer Klugheit und dem Glauben an unser Verdienst, daß es uns wenig Mähe kostet, auch zufrieden mit Gott und seinen Rathschlüssen zu seyn. Nimmt aber unser Geschick eine widrige Wendung, so sprechen wir nur zu oft in dem Un­ willen unseres Herzens, mein Gott, warum hast du mir das gethan; warum hast du eine so schwere Prü­ fung über mich und die Meinigen verhängt, warum hast

du mich mit Krankheit und Siechthum heimgesücht; warum hast du mich in Armuth und Dürftigkeit versinken lassen; warum hast du zu meiner Schmach einen Unwürdigen über mich erhoben; warum hast du mir meinen Freund, meinen Gatten, mein hofnungsvolles Kind durch einen frühen Tod entrissen? O in der Bitterkeit der gekrankten Eigenliebe vergessen wir ja fast immer, daß Gottes Gedanken nicht unsere Gedanken und feine Wege nicht unsere Wege sind; wir erinnern uns da nicht mehr an da- Wort der Schrift, was hast du dem Herrn zuvorgegeben, daß er eö dir vergelten müßte; wir schla­ gen uns da die köstliche Ermahnungjganz aus dem Sinne:

demüthige

dich

unter

seine gewaltige Hand,

denn sein Rath ist wunderbar, aber er führet Alles herrlich hinaus; nicht einmal der unverdienten und herrlichen Wohlthaten sind wir da mehr eingedenk, die unser ganzes verlassenes Leben mit unverdienten Spu­ ren der göttlichen Weisheit und Güte bezeichnen. Oder wie, rechnest du das für nichts, daß der Herr deine Un­ vollkommenheit und Schwachheit bisher so langmüthig ge­ tragen, daß er so manche deiner Verirrungen bedeckt, oder sie zu deinem Besten gelenkt; daß er so manches nahe Unglück von dir abgewendet, daß er dir in deiner Fa­ milie, in deinem Berufe und Wirkungskreise so viele Freuden bereitet, daß er dich mit Muth und Stärke ausgerüstet, und, wenn du nur in deinem Eifer für das Gute nicht ermattest, dir schon auf Erden rin erfreuliches und heilsames Loos bereitet hat? Ja, wer sein Leben nicht nach einzelnen Bruchstücken, oder nach den allmahlig rei­ fenden Früchten seiner Thorheit, sondern im genauen Zu­

sammenhänge des Ganzen betrachtet, der wird in ihm auch eine weise und herrliche Führung der sich nie verlaugnenden Huld und Liebe Gottes erkennen; je besser und fröm­ mer er selbst ist, desto gerührter wird er auch mit dem Patriarchen sprechen: Herr, ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und Treue, die du mir von Kindesbeinen an erwiesen hast. Und wenn er in dem Leichtsinne, dessen wir unS Alle schuldig wissen, nicht bei jedem Wechsel seines Schicksals also denkt und spricht; so wird und muß er sich auch einer Kurzsichtigkeit, einer Fühllosigkeit, einer Undankbarkeit gegen Gott anklagen, die

ohne Reue und Buße nicht getilgt und nicht vergeben wer­ den kann. Wie unwillkommen uns Allen diese Ueber­ zeugung auch seyn mag, so mußte sie doch bei uns erneuert werden, weil sie uns gerade heute zu sehr wich­ tigen Betrachtungen und Entschließungen führt. Das ist der zweit« Gegenstand, der unsere Andacht beschäfti­ gen soll.

II. Die Ueberzeugung, daß wir noch immer kei­ nen Bußtag ohne Buße feiern können, wird uns aber ohne Zweifel zu einem bescheidenen Urtheile über d e n Werth unsere- Glaubens, zu einer strengere» Prüfung unserer Tugend, zu einem lebendigen Gefühle der Heilsamkeit wahrer Buße und zu dem kräftigen Entschlüsse führen, ihrer stillen persönlichen Uebung die Feier des heutigen Tages zu widmen.

Ein bescheidenes

Urtheil

über den Werth

und die Vollkommenheit unseres Glaubens ist das Erste, wozu uns die Ueberzeugung verpflichtet, die wir bisher besprochen haben. Unsere Vorfahren, sagen wir,

dachten sich den Herrn des Himmels und der Erden noch, wie die Israeliten, als einen starken, eifrigen Gott, der die Sünden der Vater heimsucht an den Kin­ dern bis in das dritte und vierte Glied. Ueber diese menschliche, schwache, sinnliche Vorstellung sind wir hinweg; wir zittern und beben nicht mehr, wie das jüdi­ sche Volk, vor -em rauchenden Sinai, sondern haben als aufgeklärte und denkende Christen den Gott der Liebe in einem reinen Lichte erkannt. Das läßt sich hören und in einer Beziehung auch behaupten und vertheidigen; wir mögen allerdings geübtere Sinne, als unsere Väter, haben, das Wahre von dem Falschen zu unter­ scheiden; wir haben es in dem Auffinden und Erspähen aller Religionsirrthümer der Vorwelt zu einer großen Fer­ tigkeit gebracht; in der Kunst, das zu bestimmen, was wir nicht glauben sollen, haben wir eine Meisterschaft er­ rungen, welche kaum zu übertreffen seyn wird. Aber wis­ sen wir auch im Gegentheile, was wir zu unserer Beruhigung und zu unserem Seelenheile glauben sollen; haben wir den Herrn, der die Seelen seiner Heili­ gen bewahrt, auch in seiner Reinheit, in seiner Voll-

kommenheit, in seiner ehrfurchtgebietenden Majestät erkannt; haben wir mit der Rache, die wir des höchsten Wesens unwürdig fanden, nicht auch die vergeltende Gerechtigkeit aufgegeben, die das Grundgesetz seines Reiches ist; haben wir nicht leichtsinnig das Wort Christi vergessen, daß es dem Menschen nicht hilft, die ganje Welt zu gewinnen, wenn er Schaden an seiner Seele lei­ det, und daß er nicht nur von jeder bösen That, sondern von jedem bösen Gedanken, von jedem unnützen Worte seinem Richter Rechenschaft schuldig ist? O die strenge Tadelsucht fremder Irrthümer, die stolze Voreilig­

keit des Urtheils, die in der Religion für Menschen doch nichts Menschliches mehr dulden will, sondern mit der Schale auch den Kern, mit dem Bilde auch die Sache, mit der Hülle auch die köstliche Perle der himmlischen Wahr­ heit wegwirft, hat uns oft genug zu jener spitzfindigen Leerheit des Glaubens geführt, die wir zwar für hohe Weisheit halten, die aber bei ihrer gänzlichen Kraftlostgkeit zur Förderung wahrer Selbsterkenntniß dem Unglau­ ben vollkommen gleich zu achten ist. Sei also nicht stolz, sondern fürchte dich, ruft uns der Apostel zu, daß nicht auch du als ein wilder Zweig unnützer Er­ kenntniß von dem Oelbaum des Glaubens abgebro­ chen werdest. Das ist das Erste, was wir in dem Laufe unserer Betrachtung zu bedenke« haben. Bald wird sie uns nun auch zu einer strengeren Prüfung unserer Tugend und Sittlichkeit füh­ ren. Ueberall, wo sich der Glaube in dem Gemüthe ver­ dunkelt, da trübt und verdunkelt sich auch das Gewissen; da hat der Spiegel unseres Bewußtseyns auch seine Rein­ heit und Klarheit verloren; da erhebt sich die Selbstliebe mit ihrer Eitelkeit, mit ihrer Anmaßung und Schwäche und stellt uns nun ein ganz falsches Bild unserer Tugend und sittlichen Vollkommenheit vor die Seele. Auch wir hatten in dieser Verblendung uns für besser gehalten, als wir wirklich sind» auch wir hatten der Erinnerung be-

durft, daß wir uns von mancherlei Unrechte nicht gereiniget, daß wir am wenigsten Gottes weise Führungen in dem Laufe unseres eigenen Lebens immer anerkannt und verehrt haben; die Ermahnung des Psalmisten, ihr Ge­ rechten freuet euch des Herrn und preiset seine Heiligkeit, hat Zweifel und Bedenklichkeiten in der sittlichen Verfassung unseres Gemüthes geweckt, die unS

beunruhigen und uns in dem eitlen Traume unseres See­ lenfriedens stören. Können wir das nun wahrnehmen in der feierlichen Stunde, wo wir vor dem Angesichte des Allwissenden stehen, ohne diesen Gedanken aufzufassen, ihn zu verfolgen und durch ihn unsere Selbsterkenntniß zu voll­ enden? Du hast nur das gemeine Unrecht und die ausfett böst That gemieden, aber im Inneren deines Gemü­ thes allen Leidenschaften und Begierden freien Lauf gelas­ sen; kannst bu. dich nun rühmen, daß du das Arge hassest und daß der Herr deine Seele bewahret? Du erkennest auch die innere Unlauterkeit deines Herzens, aber du begnügest dich, die angeborene Sünde und Verdorbenheit deiner Natur zu beseufzcn; ist das nicht ein unreiner, träger und knechtischer Sinn, der ein gehei­ mes Wohlgefallen an deiner Unvollkommenheit und Ungötklichkeit verrath? Du stehest auf die gemeinen Sünden der Rohheit, der Unmaßigkeit und Ueppigkeit mit Stolz und Selbsterhcbung herab; aber du siehst es nicht und willst es nicht sehen, wie der Neid, der Hochmuth, der Geiz, die Herrschsucht dich selbst gefangen führt unter der Sünde Gesetz. O gewiß haben wir Alle an dem heutigen Tage Ursache, uns vor Gott zu demüthigen und unsere vielfachen Verirrungen und Thorheiten zu be­ klagen; aber alle diese Klagen und Demüthigungen wer­ den unnütz und vergeblich seyn, wenn ihnen nicht eine ernste und strenge Prüfung unserer selbst vorangeht; es darf da keine alte Schuld übersehen, es darf da keine Lieblingsneigung geschont, es darf keine schwache Seite unseres Herzens übergangen werden, wo uns die Sünde noch anklebt und uns träge macht; in dem reinen

Bilde Jesu tmb seines heiligen Vater- mässen mir es er« kennen, wie wir vor ihm gestaltet sind, wenn das Licht wieder aufgehen soll dem Gerechten und die Freude dem frommen Herzen.

Unfehlbar wird und muß nun diese Ueberzeugung in uns ein recht lebendiges Gefühl der Heilsam, keit wahrer Buße wecken. Unsere Väter haben mit der Prüfung ihres sittlichen Zustandes oft mancherlei Ue­ bungen der Enthaltsamkeit, der Entäußerung, der Selbst, verläugnung und der äußeren Sittenzucht des Leibes und Lebens verbunden, und auf diese Handlungen einen sehr hohen und verdienstlichen Werth gelegt. Hiervon sind wir seit langer Zeit zurückgekommen; wir nennen das nur Werkheiligkeit und Heuchelei; wir wollen nur eine schnelle, leichte Besserung ohne Buße; ja wir meinen wohl, schon fromme Christen zu seyn, wenn wir den Tod Jesu als eine Versicherung Gottes betrachten, daß er uns um un. serer schnellen und leichten Besserung willen wieder gnädig seyn wolle. Aber verfallen wir hier nicht in einen ande­ ren Irrthum, der noch viel schlimmer und verderblicher ist, als der erste; gebeut nicht Gott durch Jesum allen Menschen an allen Orten zuvor ernstlich, Buße zu thun, ehe sie Vergebung der Sünden erhalten; ist das nicht der Heiligkeit, der Gerechtigkeit Gottes und der sittlichen Ordnung seines Reiches gemäß; und wird zuletzt nicht jede Besserung des Sünders nur scheinbar, nur flüchtig und unfruchtbar seyn, wenn sie des festen und sicheren Grundes einer wahren Buße ermangelt? Ja, Freunde und Mitbekenner Jesu des Gekreuzigten, die ihr vor ihm und seinem heiligen Vater eure Schuld erkennt, das äußere Klagen, Seufzen, Weinen, Fasten und Pein;'gen des Körpers kann euch erlassen werden, weil es nur ein Mittel zur Erweckung eures schlummernden Gewissens ist; aber das Erwachen eures strafenden Gewissens selbst, das beschämende Gefühl eurer verletzten Freiheit, Unschuld und sittlichen Würde, die tiefe, schmerzliche Reue über den

inneren Schaben der Stele, der euer eigenes Werk ist, kann euch nicht erlassen werden. Jede verkannte, ver­ säumte, leichtsinnig oder freventlich verletzte Pflicht hat einen Flecken, eine Unwürdigkeit, eine Wunde in eurem Herzen zurückgelassen, welche geöfnet, gereinigt, mit inni­ ger Wehmuth gefühlt werden muß, ehe sie durch das kindliche Vertrauen auf die Gnade Gottes durch Jesum ge­ heilt werden und verschwinden kann; je langer ihr mit eurer Buße zögert, desto gefährlicher wird der Zustand eures Gemüthes, desto schwerer eure Besserung, desto dro­ hender und unabwendbarer das nahe Verderben. Wir wür­ den also die durch Jesum begründete Erlösung mißbrau­ chen, wir würden den Reichthum der göttlichen Geduld und Langmuth verachten, uns selbst wür­ den wir unfähig und unwürdig machen, hier auf Erden und in der Ewigkeit jemals glücklich und selig zu werden, wenn wir es nicht erkennen und fühlen wollten, wie noth­ wendig und heilsam uns die wahre Buße ist.

So ist denn nun auch der Entschluß schon vorberei­ tet, der stillen persönlichen Uebung der Buße die stille Feier des heutigen Tages zu widmen. In unserer gemeinschaftlichen Andacht vor dem Herrn kön­ nen wir uns wohl sammlen, unsere Pflichten erwägen, un­ seren Irrthümern begegnen und uns mit dem Propheten zurufenr was murren denn die Leute also im Le­ ben. Ein Jeglicher murre wider seine Sünde.

Aber, wenn er uns weiter ermahnt, unS zu forschen, unser Wesen zu suchen und uns zum Herrn zu bekehren; so kann das nur von jedem Einzelnen für sich durch die stille Büßung geschehen, die jeder Erneue­ rung der Gemeinschaft eines schuldigen Herzens mit Gott vorangehen muß. Darum bedenke es heute wohl, wie du mit deinen Freunden und Bekannten, wie du mit allen Menschen stehst, die dein Verhältniß, dein Beruf, dein ganzer Wirkungskreis berührt. Hast du von ihnen Unrecht gelitten, o säume nicht, es zu vergessen, es zu verzeihen

unb dtine Rache dem anheim zu stellen, der da

recht richtet; dadurch wirst du daS schmerzliche Gefühl deiner eigenen Vergehung lindern und dir den Weg des Friedens mit deinem Herrn und Richter bahnen. Hast du Anderen selbst mannichfaches Unrecht in Wort und That zugeft!gt; o laß diese Erinnerung nicht leicht und schnell durch deine Seele ziehen; wöge und erwäge es wohl, wo­ durch und wie und wo sie von dir verkürzt, gekrankt, zu­ rückgesetzt und beleidigt worden sind; gehe fleißig mit dir und deinem Gewissen zu Rathe, wie das zu ersetzen, zu vergüten und auszugleichen sei; achte alle deine Tugenden und Verdienste für nichts, bis diese Schuld getilgt und diese Angelegenheit geordnet ist. Und schlägst du zuletzt vor dem Allwissenden das große Schuldbuch deines inne­ ren Lebens auf; bringst du in Rechnung, was du erhal,

ten, was du versäumt, was du verloren und verbrochen hast; fasse Muth, das zu durchschauen; weiche keinem Vor­ wurfe deines Gewissens, keinem Gefühle der Reue, der De­ muth und Beschämung aus; beuge dich so tief vor Gott im Staube, als dich vor dem Heiligen die Unlauterkeit deines Sinnes und die Unwürdigkeit deiner Thaten stellt.

Und nun erst, wenn du dich selbst gewogen und zu leicht gefunden hast; nun erst, wenn du es schmerz­ lich fühlest, wie dein innerer Mensch vor Gott gestal­ tet, verbildet und mißgestaltet ist; nun erst suche Hülfe und Trost bei dem Heiligen und Gerechten, der auch dein Vater, dein Retter und Erbarmer ist; nun erst schließe vertrauensvoll den Sohn des Himmels in dein Herz, der dein Gewissen von todten Werken reinigen und dich wieder in das himmlische Wesen ver­ setzen kann; nun erst bringe dem Vater, der dich in seinem Sohn gcliebet hat, noch ehe der Welt Grund geleget ward, das Gelübde deines neuen Gehorsams dar, daß er dir alle deine Sün­ den vergebe und heile alle deine Gebrechen. Selige Stunde eines ernsten und entscheiden­ den Tages, in der wir durch den einzigen

224 Mittler zwischen Gott und dem Menschen wie­ der Gerechte werden, die der Buße nicht mehr bedürfen! In dir wird uns das Licht des Lebens wieder aufgehen und die Freude dem frommen Herzen; in dir werden wir den Herrn wieder finden, ihm danken und seine Heilig­ keit preisen. Amen.

XXXIX. Am fünften Dreieinigkeitssonntage. *

Evangel. Matth. K- V. D. 1— 12.

Warum Gott die Seligkeit der Menschen über­ all an sittliche Bedingungen geknüpft hat.

v. Ammons Pred. B. ll.

15

Heiliger Vater, heilige du uns iu deiner Wahrheit, daß wir Alle daS Ende unseres Glauben- davontragen, der Seelen .Seligkeit. Amen.

M. a. $.

Nichts ist bekanntlich auf Erden so verschie­ den, als die Art vergnügt und seines Lebens froh zu wer. den. Der Eine kennt kein größeres Glück, als den Besitz großer Reichthümer und Schatze; welchen Preis, welche Belohnung man ihm auch für seine Bemühungen darbieten möge, er weiset sie kalt und fühllos zurück, wenn sie nichts mit den Reitzen köstlicher Metalle gemein haben. Dem Andern ist wenig mit Geld und Gut gedient, wenn er nicht ausgezeichnet und geachtet wird; er will berühmt seyn; er will sich über seinen Stand erheben, er will mit Titeln und Würden bekleidet seyn, um den Durst seines

Ehrgeitzes zu stillen und sich der Huldigung Anderer zu erfreuen. Ist einem Dritten hingegen «ine blühende Ge­ sundheit, ein reicher Lebensgenuß und ein sieter Wechsel von Vergnügungen beschieden, so besitzt er Alles, was sein Herz wünscht, und bedauert zuletzt nur die Kürze feines Daseyns, die den manyichfachen Ergötzlichkeiten seiner Sinne ein so nahes Ziel setzt. Diese verschiedenen Hauptarten des menschlichen Wohlseyns theilen sich wieder in unend­ lich viele Zweige; es hat Jeder seine Empfindung, feinen Geschmack und seine Neigung; es will Keiner in der Wahl seiner Vergnügungen gestört, oder von Anderen beeinträchtigt seyn; wie ihm die Wahl der Nahrungsmittel nach eige­ ner Willkühr freigestellt ist, so will er auch auf seine Weise vergnügt und glücklich seyn; und weil Jeder unter uns .so gebildet und gesinnt ist, sp gehört es auch zu der Klug15 *

heit des Lebens, diese Freiheit zu achten und Jedem in der Befriedigung seiner Wünsche nach Kräften beijustehen. Ware es uns Lehrern der Religion erlaubt, diesem Wechsel menschlicher Neigungen entgegenjukommen und Je­ dem das ju gestatten und nachzuschen, was ihm angenehm und erfreulich ist; so würde das ohne Zweifel in der Stimmung unserer Zuhörer eine große und auffallende Ver­ änderung hervorbringen. Sie würden dann aufhören, uns des Eigensinnes und der Strenge zu beschuldigen; sie würden dann nicht mehr darüber Klage führen, daß man

sie durch den Vortrag hoher Wahrheiten und Pflichten er­ müde; in unseren Versammlungen würde dann unvermerkt '«in Ton der Gefälligkeit und Artigkeit herrschend werden, welcher keine Neigung beschrankt, oder ihr in den Weg tritt; wir würden uns dann von selbst jenen glanzenden Gesellschaften und Kreisen der Welt annähern, in welchen man die Leichtigkeit der Unterhaltung und einer allgemei­ nen Ergötzlichkeit zur höchsten Aufgabe erhoben hat. Diese

Nachgiebigkeit ist indessen von den Freunden der wahren Religion niemals zu erwarten; der Grund' des Herrn steHt fest und tragt unwandelbar das Siegel, die da Leid tragen; das ist Jedem unangenehm, weil er gern alle Tage herr­ lich und in Freuden leben mögte. Selig sind die Sanftmüthigen; diese Tugend fordert schwere und wiederholte Kampfe mit uns selbst, weil wir Alle geneigt zum Zorn, Alle rechtsbcgierig. und nach erlittenen Belei­ digungen mehr, oder weniger rachgierig find. Selig sind, die nach Gerechtigkeit, nach wahrer Tugend und Frömmigkeit hungert und dürstet; das scheint uns unnatürlich und sonderbar,- weil der Hunger und Durst unserer Begierden auf ganz andere Gegenstände gerichtet ist. Selig sind die Barmherzigen; das halten wir für unnöthig, da wir schon mit unseren eigenen Uebeln und Plagen genug zu schaffen haben. Selig sind, die reinen HerzenS sind; das ist uns im hohen Grade beschwerlich, weil wir dann den meisten Vergnügungen un­ seres Lebens entsagen müßten. Selig sind die Fried­ fertigen; daS scheint fast unmöglich, weil wir von Ande­ ren beständig angegriffen und zum Streite gereiht werden. Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen v e r fo l g t w e r v e n; das können wir nicht ertragen, weil wir für unsere Tugend Achtung und Belohnung fordern. Se­ lig seid ihr, wenn euch die Menschen um mei­ netwillen schmähen und verfolgen; daS sagt un­ serem Gefühle so wenig zu, daß wir ohne Bedenken Je­ sum in das Angesicht verläugnen, wenn unser Glaube an ihn verspottet, oder verachtet wird. Ist also das der

Weg zur Seligkeit, die uns verheißen wird, so müssen wir gestehen, daß diese Lehre nicht die unsrige ist; es sind das ja ohne Ausnahme Gebote, die unseren Wünschen und Neigungen widersprechen; es sind das lauter Tugenden, die nur mit schmerzlichen Opfern erkauft und gewonnen wer. den können; es sind das Pflichten, die einen harten Kampf und, eine peinliche Ueberwindung unserer selbst fordern; es sind mit einem Worte sittliche Bedingungen, weil unser Fleisch und Blut sie nie in Vorschlag bringen und eben daher auch nie genehmigen wird.

Das sind sie aber auch darum, weil sie ohne Unterschied aus der höchsten Vollendung des Gei­ stes hervorgehen. Niemand wird arm am Geiste, oder bescheiden werden, wenn er nicht die Dürftigkeit sei­ nes Wissens mit dem Reichthum der göttlichen Weisheit und Erkenntniß vergleicht. Niemand wird gern Leid tragen, wenn er nicht erwägt, daß durch Leiden daS Herz gebessert und zur höheren Freiheit der Kinder Gottes herangelautert wird. Niemand wird sich der Sanftmuth befleißigen, der nicht Sinn für die innere Größe hat, die Gewalt seines Zornes zu brechen und dem Ungestüme seiner Leidenschaften Abbruch zu thun. Niemandwird nach Tugend und Gerechtigkeit hung­ ern und dürsten, der nicht Gott als die höchste Voll­ kommenheit und Liebe vor Augen und im Herzen hat. Barmherzig wird Niemand im edlen Sinne des Wortes werden, der nicht Höhe und Klarheit der Gedanken mit einem tiefen und infligen Gefühl verbindet. Reines Her. zens zu seyn, ist das Edelste, was der Mensch zu be­ ginnen vermag; er wird es nur versuchen, wenn die höchste Reinheit und Heiligkeit Gottes das Vorbild seines Strebens ist. Eben so kann man sich nur der Friedfertigfeit und Geduld bei unverdienten Mißhand, lungen befleißigen, wenn man die innere Starke des Wil­ lens und die vollkommene Ruhe der Seele in Gott zu schätzen weiß. Die Heiligkeit dec Pflicht, die hem gewis-

fenfjeisten und frommen Menschen über Alles theuer ist,

geht daher keinesweges ans einem rauhen Ernste, ober aus übertriebener Strenge hervor; sie fließt auch nicht aus einer strengen Willkühr Gottes, oder aus einem blinden Machtgebote der Vernunft; nein, sie ist ein Strahl des reinen und göttlichen Lichtes; sie ist eine Tochter der höch­ sten Vollendung unseres sich zur Unendlichkeit erhebenden. Geistes; sie ist, wenn unsere Gedanken sich Rnter einander anklagen, oder entschuldigen, darum über alle Einwendungen und Zweifel erhaben, weil sie eine Kraft der höchsten Ordnung und Wahrheit ist; sie fordert darum von uns unbedingten Gehorsam, weil sie eine Füh­ rerin zur höchsten Vollkommenheit und Beglückung ist. Freunde der Tugend und Religion, die ihr mit Jesu sprecht,, das Fleisch ist zu nichts nütze, der Geist allein/

belebt,.in dieses heilige Gebiet eures Bewußtseyns dringt mit euren Forschungen ein; an diese reine Quelle des Lichtes tretet mit stiller Aufmerksamkeit auf die freien Re­ gungen eures Gewissens; und ihr werdet finden, daß es feine Pflicht giebt, die nicht aus dem Gedanken an Gott und feine fleckenlose Weisheit und Heiligkeit fließt; es wird euch klar werden, daß jedes Gesetz der himmli­ schen Freiheit ein treuer Führer zum ewigen Leben ist; ihr werdet euch mit einem Worte überzeugen, daß alle Bedingungen unseres Heils sittliche Bedingungen sind, weil die höchste Vollendung unseres Geistes ihr

einziger und lauterer Ursprung ist. Mit Recht nennen wir endlich die Bedingungen sitt­ lich, unter welchen uns die Seligkeit von Gott verheißen ist, weis sie Gebote enthalten, deren Erfüllung un­ ser ganzes Leben gewidmet seyn soll. Einmal demüthig zu seyn, ist nicht schwer; als Christen aber sol­ len wir uns vor Gott unwandelbar arm am Geiste füh­ len, weil unsere Einsicht vor seiner Weisheit, wie ein Tropfen im Meere, verschwindet. Ein kurzes, vorüber­ gehendes Leiden zu ertragen, können wir uns wohl ent-

schließen; als Christen aber sollen wir nicht murren, auch wenn ein Unglück nach dem anderen über uns herein­ bricht. Bei einem festen Vorsätze kann man sich wohl überwinden, seines Zorns Meister ju werden; der Christ aber soll immer bereit jur Vergebung und langsam zum Zorne seyn. Gegen Freunde' und Verwandte kann man wohl Barmherzigkeit üben; der Christ aber soll immer entschlossen seyn, sein Herz dem Leidenden zu öfneu und dem Hungrigen sein Brot zu brecheu. So lange man arbeitet- und betet, kann man wohl reines Herzens seyn; der Christ aber soll auch aus der Stund« der Anfechtung mit dem Bewußtseyn hervorgehenr siehe, v Herr, es ist kein Frevel in meincrHand, und mein Gebet ist rein. In einer stillen Morgenstunde kann man wohl nach Gerechtigkeit dürsten; als Christen aber sollen wir unverrückt der Heiligung nachjagen, wenn wir daS Heil des Herrn schauen und einst eingehen wollen zu seiner Herrlichkeit. Gerade darum heißt eS ja, seid fröhlich und getrost, es wird euch solches im Himmel wohl belohnt «erden. Hier auf Erden herrscht ja, auch in dem Her­ zen des besten Menschen, so viel Unbeständigkeit, soviel Wechsel und Unlauterkeit, daß wir uns des bleibenden Beifalls Gottes nicht erfreuen können; erst dann, wenn der Glaube in uns Wurzel geschlagen, wenn daS Herz Kraft und Festigkeit gewonnen, wenn daS göttliche Leben in uns eine bleibende Vollkommenheit erreicht hat, dann erst sind wir würdig, Preis, Ruhm und Ebre aus der Hand unseres Schöpfers zu nehmen, und uns selig zu fühlen durch unsepe That. Ist das aber nicht ein sprechender Beweis für die Allgemeinheit und Unveranderlichkeit der göttlichen Gebote» wird es uns nicht klar, daß die Gerechtigkeit vor Gott, welche alle Tugenden in sich vereinigt, unendlich ist, wie das ewige Leben, zu dem wir bestimmt sind; kann uns jetzt auch nur der ge­ ringste Zweifel übrig bleiben, daß die Bedingungen, an welche Gott unsere Seligkeit durch Jesum gebunden hat,

geistige, sittliche, unser Herz, unseren Willen, unsere ganze Liebe und Bestrebung umfassende Bedingungen sind, weil sie unseren sinnlichen Begierden Widerstreiten, die reinste Voll­ endung zur Quelle, die höchste Wahrheit, Vollkommenheit und Freude- jum Endzwecke haben, und ebendaher mit eig­ ner heiligverpflichtenden Kraft in dir Ewigkeit hinüber­ reichen, wo es erst erscheinen kann, waS wirseyn werden? Doch ich sehe, daß ihr diese Behauptung­ nicht mehr bezweifelt, sondern nur daran Anstoß nehmt, daß uns Gott auf diesem steilen und rauhenPfade, und nicht auf dem breiten Wege der' Lust und des Vergnügens zu einer höheren Er-' ligkeit emporführt. In der That- war es auch diese Frage, die wir vorhin schon dunkel uNd rathselhaft fan­ den: ihrer Beantwortung und' Lösung wird daher noch ganz besonders die Fortsetzung unserer Andacht gewidmetseyn müssen.

II. An sittliche Bedingungen hat Gott die Seligkeit feiner-' Menschen geknüpft, weil er selbst durch Heiligkeit selig ist; weil ferner die Unfittlichkeit den Keim« der Glückseligkeit in uns zerstört, während ein frommes und göttliches Leben schon hier un­ sere Freuden veredelt. Jede dieser Bemerkungen wird euch wieder mit- der Tugend versöhnen, die ihr so

oft anzuklagen und zu verachten pflegt. Gott selbst ist selig durch seine heilige Voll­ endung und will daher auch uns durch die sittliche Verede­ lung unserer Natur zur Gemeinschaft seiner Seligkeit erheben. Schon Paulus nennt Gott den Seligen, der allein- Unsierblichkeit hat, weiler in einem Lichte wohnt, dahin Niemand kommen kaNN; bei ihm ist Freude und liebliche- Wesen, nicht weil sie ihm verliehen würde, oder er ihrer bedürfte, sondern weil er der Va-

ter des Lichtes, weil er über den Wechsel des,Lich­

tes und der Finsterniß erhaben und dafür die ein­ zige Quelle aller hohen und vollkommenen Gaben ist. Diese Gemeinschaft seiner Herrlichkeit hat er auch seinem Sohne verliehen, noch ehe der Welt Grund gelegt ward; er hat ihn als Mcnschensohn durch Gehorsam und Leiden vollendet werden lassen, daß er unser Muster und Vorbild würde; er- hat uns Alle da­ zu bestimmt, daß wir die Wahrheit erkennen, wie er vollkommen werden, zur Freiheit der Kinder Gottes emporstreben und durch die tägliche Erneuer­ ung unseres inneren Menschen uns zur Klarheit, Freude und Seligkeit erheben sollen; durch sein eigenes Bild, das in rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit besteht, hat er in uns einen sittlichen Keim der Aehnlichkeit mit ihm gelegt, der, wenn wir ihn pflegen und entwickeln, in seinem Reiche von selbst die selige Frucht des ewigen Lebens bringt. Ist das nicht aber der höchste Beweis der Huld und Liebe Gottes; konnte er uns, die wir vor unserer Geburt noch nichts, oder doch gewiß nur schlummernde Geister waren, höher auszeichnen und ehren,

als durch die sittliche Anlage unseres Wesens, deren inne, rcr Wachsthum und Gedeihen uns theil nehmen läßt an der göttlichen Natur; und ist die innere Voll­ kommenheit, der Friede und die Freude, die aus der Tu« gend quillt, nicht unendlich reiner, bleibender und beglük-

kender, als aller Sinnengenuß, der uns von außen kommt, und ebendaher auch schnell vorübergeht? Ja, ihr Verirrten, die ihr bisher die heilige Ordnung Gottes verkennt und wohl selbst die Thiere beneidet habt, nichts ist größer und undankbarer, als der Wahn, der euch bisher verblen­ det hat; ihr dürft ja nur die Augen öfnen, um es zu

sehen, daß Alles, was außer euch lebt, von dem Herrn unter eure Füße gethan und zu eurem Dienste be­ stimmt ist; ihr dürft euch eurer nur in Gott, eurem hei­ ligen Schöpfer, bewußt werden, um eS zu erkennen und zu fühlen, daß er euch allein auf Erden mit Ehre und

237 Schmück gekrönt

hat;

wie

er jedem Korn, das

euch nähret, einen eigenen Leib giebt, so hat er auch in den Samen der Tugend und der guten Werke, den ihr' ausstrcuet, einen Keim der Freude und Wonne gelegt, der sich unter seiner väterlichen Leitung zur ewigen Klarheit und Herrlichkeit entwickelt. Welch eine Tiefe, beides, der Weisheit und Erkenntniß Gottes! Schon in seiner eigenen Klarheit und Majestät finden wir einen hinreichenden Grund des Ausspruches Jesu: selig sind, die reines Herjens sind, denn sie werden Gott schauen.

Der heilige Urheber unserer Tage hat unsere Selig­ keit aber auch darum an sittliche Bedingungen geknüpft, weil jeder unsittliche Lebensgenuß den Keim der Glückseligkeit und Freude in uns zerstört. Ihr meint, es wäre besser, wenn Gott jedem Menschen erlaubte, auf seine Weise glücklich zu seyn; ihr haltet es daher für unbillig, daß er uns durch sittliche Gebote und Pflichten in der Befriedigung unserer sinnlichen Neigungen stört; ihr glaubt endlich, nach dem vollen Genusse dessen, was uns die Erde Ergötzendes und Reitzendes darbietet, würde es immer noch Zeit seyn, das Himmlische zu wäh­ len und in einer anderen Welt vergnügt und selig zu seyn. Das, was ihr behauptet und sprecht, ist allerdings eine Ansicht, die von Unzähligen gefaßt wird; so denkt der Träge, der von dem falschen Glücke der Gegenwart immer mehr angezogen wird, als von der wahren Selig­ keit in der Ferne; so urtheilt der Zweifler und der Klein­ gläubige, welcher Gott und dem Mammon zu gleicher Zeit dient; so spricht der Heuchler und der Scheinchrist, der sich-einbildet, je größer die Zahl meiner Sünden ist, desto größer wird zuletzt durch Jesutn die göttliche Erbar-

mung seyn; zu der Ungläubige ankommen läßt, gen, oder ihn

dieser Meinung bekennt sich zuletzt auch und der sichere Bösewicht, der es darauf ob der Tod sein sündenvolles Leben endi­ vielleicht dennoch in das unbekannte

Haus de- Vaters einführe» werde.

Aber wisset ihr

wohl, daß dieser Wahn eben so verkehrt und widerspre­ chend, als unchristlich und verdammlich ist; habt ihr nicht gehört, die Sünde ist der Leute Verderben, und wer auf das Fleisch säet, der wird von dem Fleische das Verderben ernten; ist euch der Spruch des Apostels nicht zu Herzen gegangen, kein Unreiner, kein Geiziger und Götzendiener kann das Reich

.Gottes und Christi erwerben; ruft euch nicht war­ nend die Stimme eures eigenen Gewissens zu, daß ihr, indem ihr durch euren finnlichen Weltgenuß des Lebens den heiligen Geist betrübt und den Tempel Gottes rn euch selbst verderbet, auch den Keim der Würde, der Freude und des ewigen Lebens zerstört, der durch die Gnade Gottes in euch wachsen und gedei­ hen soll? O darum verstößt ja gerade der Herr alle Un.heiligen von seinem Angesichte, weil sie sich durch ihre Sünden von ihm getrennt, weil sie ihre Freiheit verloren, ihren Verstand verdunkelt, ihr Gewissen mit todten Werken befleckt, weil sie sich selbst zur Gemein­ schaft der Heiligen im Lichte untüchtig gemacht und solche Seligkeit nicht geachtet haben, zu der sie bestimmt waren. Wie kann die Blume wieder auf« blühen, deren Krone vom Sturm gebrochen ist; wie kann der Sünder sein Haupt zu Gott erheben, der das Auge

seines Geistes verdunkelt und sich unter das Joch der Finsterniß gebeugt hat! Zuverlässig ist es also nicht allein strenge Gerechtigkeit Gottes, nein, es ist ein unabänderliches Gesetz seiner Alles ordnenden Weisheit, daß er die Men­ schen nur -unter sittlichen Bedingungen selig macht, weil sie durch die Sünde den $tim des Glücks in sich selbst zerstören. Hierzu kommt endlich, daß ein frommes und göttliches Leben schon hier auf Erde» unsere Freuden veredelt. Ware der Fromme und Tugend­ hafte verurtheilt, ^zuvor em elendes unb, freudenloses La-

239

seyn zu durchseufzen, ehe ihm die Seligkeit einer besseren Welt zu Theil werden könnte; so würde man ihn aller­ dings bewundern müssen, wenn er seiner Pflicht ohne Wankelmuth getreu bliebe. Das ist indessen keinesweges der Fall; der Anfang der Tugend und Selbstüberwindung ist zwar schwer, aber ihre Frucht ist schon auf Erden er­ freulich und beglückend; -das Licht geht schon hier dem Gerechten auf und die Freude dem from­ men Herzen. Oder könnt ihr glauben, der Reiche im Palaste sei bei seiner Habsucht glücklicher, als der arme Hausvater in seiner stillen Hütte; der ruhmsüchtige Er­ oberer sei glücklicher, als der verborgene Weife.; der umherschweifende Wollüstling sei glücklicher, als der treue Gatte; der Mann im Purpur sei an seiner üppigen Tafel seliger zu preisen, als der zufriedene Tagarbeiter bei seinem einfachen Mahle? O dadurch bewährt ja gerade die Tugend ihren himmlischen Ursprung, daß sie an sich schon den Geist erhebt, den Willen -stärkt und den inneren Sinn veredelt; dadurch unterscheidet sich ja der Weise von dem Thoren, daß er durch die Reinheit und Würde seines Bewußtseyns jede angenehme Empfindung und jeden Reiz des Vergnügens in Freude verwandelt; dadurch wird ge­ rade jeder Lebensgenuß rein und göttlich, daß er mit Liebe und Dank gegen Gott hingenommen und als ein Vorschmack höherer Seligkeit empfunden wird. Und so muß es uns denn klar und deutlich werden, daß der, welcher über daS Glück seines Lebens mit Fleisch und Blut zu Rathe geht, an dem Heile des Reiches Gottes keinen Antheil haben kann; so überzeugen wir uns, daß das innige und unauflösliche Band, welches Tugend und Freude vereinigt, von Gott selbst mit hoher Weisheit und Liebe zu uns geknüpft ist; so muß eben daher das gött­ liche Wort unserer Füße Leuchte und ein Licht auf unserem Wege werden, weil in jeder seiner Lehren «in Schatz verborgen ist, den wir uns aneignen und in rin bleibendes Kleinod für den Himmel verwandeln sollen. Dir, Eingeborener des Vaters, verdanken wir dieses Licht

-er heilsamen Erkenntniß; du bist für uns der höchste Lehrer der Freude und der Seligkeit; dein Joch ist sanft und deine Last ist leicht. O so dringe dann mit dem Geiste deiner Huld und Liebe in unsere Herzen; so weihe uns Alle zu Freunden der Gerechtigkeit, die von selbst thun, was gut und recht ist, weil deine Gebote nicht schwer sind; so erhalte uns aber auch, wenn wir um deinetwillen auf kurze Zeit leiden, die Fröhlichkeit und den Trost, daß uns ein großer Lohn im Himmel erwartet, weil die Lei­ den dieser Zeit nicht werth sind der Herrlich, keit, die einst an uns soll offenbar werden. Amen.

XL.

Am sechsten Dreieinigkeitssonntage. Text; Epistel Röm. K. VI. D 3 — 11. Warum man unter uns so oft den heiligen Ernst vermißt, mit dem die ersten Christen ihre Religion als die höchste Aufgabe ihres Lebens betrachteten.

v. Ammon'- Pred. B. II.

Herr, lehre uns gedenken der alten Zeit und der verflossenen

Jahre, daß wir dar Ende der Frommen anschauen und

ihrem Glauben nachfolgen.

M. a. Z.

Amen.

Wenn von der ersten Christengemeinde Jesu,

die wir mit Recht als Vorbilder unseres Glaubens zu be­ trachten pflegen, Einer oder der Andere aus seinem Grabe auferstehen und in unsere Mitte eintreten sollte; so würde er Vieles finden, was ihn erfreuen, und wieder Vieles, was ihn betrüben könnte. Gewiß würde er sich freuen, wenn er nirgends unter uns mehr die Spuren jener heid­ nischen Abgötterei fände, die de» Ruhm der alten Welt verdunkelt hat; wenn er sähe, wie überall unter uns sich Tempel deS ewigen GottcS zum Himmel erheben? wenn er die Schaaren der Gläubigen wahrnähme, die sich zu bestimmten Tagen und Zeiten in gemeinschaftlicher Andacht zum Preise Gottes und seine- Eingeborenen verfammlen; wenn er die Evangelien und apostolischen Briefe, die sonst nur handschriftlich, durch mancherlei Auslassungen oder Zu­ sätze entstellt, und daher auch langsam und in sehr kleinen Kreisen unter den Gemeinden umherliefen, nun gesammlet, in alle Sprachen übersetzt, und durch einen neuen Zauber der Kunst in allen Familien verbreitet fände. Freuen würde er sich, wenn er sähe, wie die Leibeigenschaft und Sklaverei, welche die alte Welt geschändet hat, aus den

christlichen Ländern fast ganz verschwunden ist; wie das Gesetz nach der Ordnung Gottes und der Vernunft unter uns nur die gleichzeitige Che eines Mannes vnd Wei­ bes für zuläßig und rechtmäßig erkennt, wie durch den fleißigen Unterricht der Jugend in den Schulen ein kennt16*

nißreiches und gesittetes Geschlecht nach dem anderen un­ ter uns herangebildet, wie durch die Verbrüderung der Kunst, der Wissenschaft und des Glaubens, Licht und Wahr­ heit allen Ständen der Gesellschaft mitgetheilt und bis zu den entferntesten Gegenden der Erde verbreitet wird. In allen diesen Erscheinungen würde er Gottes mächtige Hand, er würde das weise Walten und Wirken seiner beglücken­ den Vorsehung, er würde die fortschreitende Erziehung un­ seres Geschlechtes durch die göttliche Offenbarung, er würde namentlich in ihm die segensvollen Einwirkungen des Chri­ stenthums erkennen, welches durch die einfachsten Wahrhei­ ten des Glaubens die geistige und sittliche Bildung der Menschheit befördert und sie stufenweise ihrer höheren Be­ stimmung für die Ewigkeit entgegen geführt hat. Von der anderen Seite würde ein alter apostolischer Bekenner der Lehre Jesu in unserer Mitte auch Vieles wahrnehmen, was ihn betrüben, was ihn schmerzen und tief bekümmern müßte. Ich will nichts davon sagen, mit welchen Empfindungen er die sich immer weiter entfernende Einheit des Glaubens vermissen würde, die der Apo­ stel als ein wesentliches Merkmal deS vollkommenen Man­ nesalters Christi betrachtet; ich will der Verwunde­ rung nicht gedenken, mit welcher er die mannichfachen Trennungen und Spaltungen der Kirche Jesu wahrnehmen müßte, die der Herr doch als Glieder eines Körpers un­ ter sich verbunden wissen will; nicht einmal den gerechten Schmerz will ich schildern, der bei der erklärten Feindschaft und dem offenen Hasse der Erlösten Christi gegen einander selbst seine Seele durchdringen würde. Aber was könnte, was müßte er wohl sagen, wenn er sähe, wie wenig das Christenthum, als die höchste Offenbarung Gottes an die Menschheit, von uns geschätzt wird; wie wenig wir von dieser heiligen Anstalt, uns zu Kindern Gottes und Bür­ gern seines ewigen Himmelreiches heranzubilden, Gebrauch machen; wie geringe und seltene Früchte sie bei jedem Einzelnen durch eine gänzliche Wiedergeburt und Erneue­ rung seines Herzens und Lebens erzeugt; wenn er mit ei­ nem Worte überall unter uns jenen weisen und heiligen

Ernst vermißte, den der Glaube an die Gemeinschaft mit Gott durch seinen Eingeborenen zur Begründung unserer Seligkeit bei uns wecken und beleben sollte! O daß jeder Mensch eine gewisse Eigenthümlichkeit des Fühlens, Den­ kens und Glaubens auch in der Religion, besitzt; daß er sich naher an diejenigen anschließt, bei welchen er dieselbe, oder doch verwandte Eigenthümlichkeit wiederfindet; daß er diese, und nur diese Gemeinschaft für die einzig wahre und seligmachende, ober doch für die weiseste und beste halt, das laßt sich wohl begreifen und entschuldigen. Aber daß er das, was ihm und jedem Christen das Höchste und Heiligste seyn soll, übersieht und gering achtet; daß er nicht daran denkt, was Christus für ihn und seinen unsterblichen Geist ist und werden soll; daß er oft nicht einmal weiß und wissen will, was ihm fehlt, was seiner Seele schädlich und verderblich ist, wonach er bei den großen Gebrechen und Unvollkommenheiten seiner Natur trachten und streben soll; dieser Leichtsinn, diese Verblen­ dung, diese fleischliche Trägheit und Sicherheit ist es, die man nicht vertreten und entschuldigen, die man am Wenig­ sten mit dem Berufe eines wahren Christen vereinigen kann. Ein Blick in die alte apostolische Zeit, an die sich nament­ lich die evangelische Kirche ernst und fleißig erinnern soll, wird uns hier zu einer Betrachtung führen, die für uns Alle heilsam und erbaulich werden kann. Möge doch un­ ser Herz auch bereit und willig seyn, das Wort mit Sanftmuth aufzunehmen, das in unsere Seelen gepflanzt wird! In vereinter Andacht erflehen wir hierzu den Beistand des göttlichen Geistes rc. tEpistel Röm. K. VI. V. 3 — 11. Wisset ihr nicht, daß Alle, die wir in Jesum Christ getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? So sind wir je mit ihn» begraben durch die Taufe in den Tod, auf daß, gleichwie Chri­ stus ist aufcrstandcn von den Todten, durch die Herrlichkeit des Vaters, also sollen auch wir in einem neuen Leben wandeln. So wir aber sammt ihm gepstanzel werden zu gleichem Tode, so werden wir auch der Auferstehung gleich seyn; dieweil wir wissen, daß unser alter Mensch sammt ihm gekrcutziget ist, auf

246 daß der sündige Leid aufhirr, daß wir hinfort der Sünde nicht dienen. Denn wer gestorben ist, der ist gerechtfertiget von der Sünde. Sind wir aber mit Christo gestorben, so glauben wir, daß wir auch mit ihm leben werden: Und wissen, daß Christus, von den Todten erweckt, hinfort nicht stirbt; der Tod wird hinfort über ihn nicht herrschen. Denn das er gestorben ist, das ist er der Sünde gestorben zu Einem Mal; das er aber lebet, das lebet er Gott. Also auch ihr, haltet euch dafür, daß ihr der Sünde gestorben seyd, und lebet Gott in Christo Jesu, unserm Herrn. AlS PauluS den Brief an die Römer schrieb, aus dem wir so eben einen lehrreichen Abschnitt vernommen haben, hatte weder ei« älterer Apostel Jesu in der daselbst neu errichteten Christengemeinde lehrend auftreten, noch ihre gesellige Verfassung begründen und ausbilden können. Ge­

wiß war Paulus selbst damals noch nicht in Rom gewe­ sen; er gedenkt nur einiger unter dem Kaiser Claudius verbannter Flüchtlinge und einiger Mitgefangenen, durch die bas Evangelium in der Hauptstadt des Reiches verkündigt und jur Kenntniß der Gläubigen gekommen sei. Auch waren die Neubekehrten damals noch nicht in eine große Gefammtgemeinde zusammengetreten, sondern mußten sich begnügen, ihrer Andacht in einzelnen häuslichen Ver­

sammlungen zu pflegen. Dennoch hatte jeder Einzelne sei. nen wahren Christenberuf im Leben und Handeln unverrückt im Auge und bereitete dadurch am Besten und Sichersten den Sieg seiner Religion über den Unglauben ei­ ner Stadt vor, die seit so vielen Jahrhunderten dem eitlen Götzendienste ergeben war. Das ist es nun, was wir jetzt näher erwägen wollen, indem wir gemeinschaftlich darüber nachdenken, warum man unter uns so häufig den heiligen Ernst vermißt, mit dem die ersten Christen ihre Religion als die höchste Aufgabe ihres LebenS betrachteten. Wir wollen zuerst sehen, daß das von de» ersten Christen wirklich geschehen ist; dan» aber erwägen, warum wir die­ sen heilige« Ernst so häufjig unter unS vermi ssen.

247

I. Daß die ersten Christen ihre Religion mit einem heiligen Ernste als die höchste Aufgabe ihres Lebens betrachtet haben, sehen wir aus unserem Heu« tigert Epistel klar und deutlich; denn wie Christus starb, so starben sie der Sünde ab; wie Christus nach seiner Auferstehung ein neues Leben be­ gann, so befleißigten sie sich eines neuen sitt­ lichen WandelS; wie Christus sich jur bleiben­ den Herrlichkeit erhob, so erhoben auch sie sich, ohne Rückfall jur Sünde, von einer Vollkom­ menheit jur andern. Man kann Glauben und Re­ ligion nicht genauer und inniger verbinden, als das in den Worten des Apostels geschieht. Wie Christus starb, so starben auch seine er­ sten Bekenner der Sünde ab. Wisset ihr nicht, spricht der Apostel, daß Alle, die wir auf Jesum Christ getauft sind, die sind in seinen Tod ge­ tauft? WaS das bedeuten soll, auf den Tod Christi getauft seyn, erhellt aus den folgenden Worten klar und deutlich: es heißt nicht nur bei der Taufe bekennen, daß Christus für unsere Sünden in den Tod gegangen ist, uns von aller Ungerechtigkeit ju erlösen, son­ dern der Sünde nun auch selbst unter schweren Kämpfen des Geistes absterben, damit durch Jesum die Fülle der Gnade und der Gabe jur Gerechtigkeit in un­ serem Leben Herrscher Darum setzt der Apostel hin» zu, wir seien durch die Taufe mit ihm begra­ ben in den Tod; wir seien mit ihm zu gleichem Tode gepflanzt; unser alter Mensch sei mit ihm gekreuzigt, daß der alte sündliche Leib auf­ höre; lauter Worte und Bilder, die jden schweren Kampf des Geistes mit dem Fleische, die große An­ strengung des Willens, der sinnlichen Begierden mächtig zu werden, das muthige Ringen und Streben nach Frei­ heit und Herrschaft über uns selbst bezeichnen, damit wir der Sünde hinfort nicht mehr dienen dürfen. Ist das nicht eben eine hohe, ernste und heilige Ansicht

des Todes Jesu; geht sie nicht bestimmt und sicher von dem Glauben aus, daß durch seinen reinen und leidens­ vollen Gehorsam bis zum Tod am Kreuze die Rechtfertigung des Lebens über alle Menschen gekommen ist; verbindet sie damit nicht unmittelbar die Pflicht, wie er, zu entbehren, zu leiden, zu kämpfen, zu sterben, daß unser alter Mensch gekreuzigt, daß )ebt böse Begierde und Neigung in uns gebrochen, über­ wunden und der wiederkehrenden Herrschaft des Geistes unterworfen werde; bezieht sie also die Gemeinschaft mit dem Eingeborenen des Vaters, der in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, nicht unmittelbar auf das Herz und Leben, daß wir die Wahr­ heit nicht allein erkennen, sondern das Gelöbniß ei­ nes guten Gewissens nun auch in Kraft und That verwandeln? O der Glaube und die Liebe, die reinere Erkenntniß und die wirkliche Besserung, die volle Ueber­ zeugung und die höchste, sittliche Thätigkeit und Anstren­ gung des Willens treten in dem Bekenntniß der er­ sten Christen, von dem Augenblicke ihrer Taufe an, in eine si> genaue und innige Verbindung, daß wir schon hieraus den heiligen Ernst erkennen, mit dem jeder Einzelne unter ihnen seine Religion persönlich als die höchste Aufgabe seines Lebens gefaßt hat. Wie daher Christus nach seiner Auferstehung ein neues Leben begann, so befleißigten auch sie sich eines neuen sittlichen Wändels. Gleich wie Christus von den Todten auferwecket ist durch die Herrlichkeit des Vaters, fahrt der Apo­ stel fort, also sollen auch wir üt einem neuen Le­ ben wandeln. Durch die Macht und Herrlichkeit des Vaters war Christus der Macht des Todes ent­ rissen, zu dem ihn der Haß und Frevel seiner Feinde verurtheklt hatte; das erinnerte seine ersten Bekenner an die Gnade Gottes, die bei ihrer Belehrung in ihnen mäch­ tig geworden war, und sie durch die Taufe dem Tode ihres Geistes entrissen hatte. Fern von den Stürmen der Welt und den blutigen Kämpfen mit der Gewaltthätigkeit ihres

Unglaubens hatte der Herr die ersten Tage nach seiner Auferstehung still und ruhig in dem Kreise seiner Freunde hingebracht; das erinnerte seine ersten Bekenner an die Stille und Ruhe des Gemüthes, mit welcher der gebesserte Mensch, wenn er die Stimme seiner Leidenschaft überwun­ den und niedergekampft hat, sich vor Gott sammlet, seines Sieges sich zu freuen und sich in seinem frommen Sinne zu befestigen. Ein neues, einzig seinen Freunden und ihrer Vorbereitung auf die nahe Gemeinschaft mit dem Geiste Gottes gewidmetes Leben hatte der Erlöser nach seiner Wie­ derkehr aus dem Grabe begonnen; das erinnerte seine er­ sten Bekenner an die heilige Pflicht, nicht nur den eit­ len Wandel nach väterlicher Weise zu verlas­ sen, sondern auch unermüdet der Heiligung nachzujagen, ohne welche Niemand wird den Herrn schauen. Darum erneuerten sie in jeder ihrer Versamm­ lungen den himmlischen Bund ihrer Taufe; darum hielten sie sich rein von den Ausschweifungen der Unmaßigkeit und Sinnenlust, welche die heidnische Welt entehrten; darum waren ihre Ehen Muster der Treue, der Häuslichkeit und des Friedens; darum waren Lüge, Betrug, Diebstahl, Mein­

eid, Haß und Feindschaft aus ihrer Mitte verbannt; darum nahmen sie sich unter einander wahr mit Reitzen znrLiebe und zu guten Werken; darum steuerten sie allen Aergcmissen in ihrer Mitte mit großem Nachdruck und waren fleißig, zu halten die Einigkeit im Geiste durch das Band des Friedens. Daher denn auch die große Achtung, in der sie, obschon ihres neuen Glaubens wegen angefeindct, doch fast überall bei dem Volke standen.; daher ihre Tadellosigkeit und Unstraflichkei t unter einem verblendeten Ge­ schlecht, unter welchem sie glanzten als Lichter in der Welt; daher das Lob der Unschuld, der Sittlichkeit und Frömmigkeit, welches ihnen selbst ihre Feinde nicht versagen konnten. Unmöglich würde der Glaube an den gekreuzigten Christus, der den Juden ein Aer­ gerniß und den Heiden eine Thorheit war, sich haben erhalten und seine mächtigen Feinde besiegen können,

wenn seine ersten Bekenner eS nicht durch die sittliche Rein­ heit ihres Wandels bewiesen hatten, daß der Geist dessen in ihnen wohne, der Christum von den Todten erweckt hat. Wie daherChristus nach seiner Auferstehung sich stufenweise von der Erde abgewendet und dann zu seiner Herrlichkeit erhoben hat, so strebten auch sie, ohne neuen Rückfall zu der alten Sünde, sich von einer Vollkommenheit zur an­ deren zu erheben. Wie wir wissen, erinnert Pau­ lus, daß Christus von den Todten erweckt, hin­ fort nicht stirbt, also haltet auch ihr dafür, daß ihr der Sünde gestorben seid und lebet Gott in Christo Jesu, unserem Herrn. Nicht ge­ nug also, daß die ersten Bekenner des Evangelii durch die Taufe den alten Menschen ausgezogen und ein besseres Le­ ben begonnen hatten; nein, sie befleißigten sich auch dessen, was gerade das Schwerste und Seltenste in der Religion ist, der Beständigkeit und Beharrlichkeit in ihr; wie Chri­ stus, nach seiner Erweckung von den Todten nicht mehr sterben kann, sondern als der Fürst deS Lebens zut Rechten Gottes erhoben ist, so hüte­ ten auch sie sich, in den geistigen Tod der alten Sünde wieder zurückzufallen, und hielten dafür fest an der Hofnung ihres himmlischen Berufes, daß sie verklärt würden in dasselbe Bild von einer Klarheit zu der andern. Daß es wenigstens die Apostel an den dringendesten Ermahnungen hierzu nicht fehlen ließen, wis­ sen wir gewiß; sie sagten ihren Freunden oft genug, daß Niemand gekrönt wird, der nichts recht kämpfet; sie nahmen jede Gelegenheit wahr, sie zu erinnern, sie hätten noch nicht bis auf das Blut widerstan­ den im Kampfe wider die Sünde; sie erklärten ihnen sogar, es sei unmöglich, daß die einmal Erleuchte­ ten, wenn sie wieder fallen und den Sohn Gottes für Spott halten, zur Buße sollten erneuert werden; in allen ihren Briefen ermahnten sie die Ihrigen, die Rechtschaffenheit ihres Glaubens in der Anfechtung zu be-

wahren, damit fit das Ende desselben davon tra. gen mögten, nemlich der Seelen Seligkeit. Es sprechen aber für die Wirksamkeit dieser Ermahnungen und für ihren Einfluß auf das Leben zwei merkwürdige That­ sachen; einmal die Strenge der ersten Christen in ihrer kirchlichen Zucht nach der Verordnung des Apostels, thut von euch selbst hinaus, wer da böse ist, und dann ihre Unerschrockenheit und ihr Heldenmuth bei den blutigen Verfolgungen von ihren Feinden. Wie streng sie über die innere sittliche Ordnung ihrer Gemeinden hielten, ist aus der Ausstoßung deS Blutschänders bekannt, welche Paulus selbst den Korinthern geboten hatte; sie war auch noth­ wendig zu einer Zeit, wo das äußere, bürgerliche Leben so viele Unordnungen und Ausschweifungen zuließ, und durch herrschende Aergernisse der Reinheit der Kirche einen nahen Untergang drohte. Aber noch deutlicher spricht für die Kraft und Reinheit ihrer Tugend der Heldenmuth, den die ersten Bekenner Jesu unter schweren Verfolgungen bewie­ sen; denn daß so Viele unter ihnen standhaft bei ihrem Glauben beharrten, daß sie die drohendesten Verordnungen, den Götzen zu opfern, ablehnten, daß sie Christum in der Nahe der furchtbarsten Martern bekannten und lieber den schmählichsten Tod erduldeten, als das heilige Gelübde ihrer Taufe verletzten, das beweißt kräftiger, wie jede andere Tugend, den heiligen Ernst, mit dem sie ihre Religion als die höchste Aufgabe ihres Lebens betrachteten. Ist eS denn aber nicht gerade dieser tiefe und beharrlich fromme Sinn, den man überall unter uns vermißt; dürfen wir es laug-

nen, daß unser Glaube zweifelhafter und matter, unsere Ge­ meinschaft mit Gott unsicherer und vorübergehender, die sitt­ liche Starke unseres Willens hinfälliger und kraftloser ge­ worden ist; und wenn wir leider hieran selbst nicht zwei­ feln dürfen, müssen wir da nicht vor Allem die Ursachen

dieser traurigen Erscheinung aufsuchen, damit das Licht der Wahrheit, dessen wir uns rühmen, auch Wärme für unser Herz und Leben werde? Das ist das Zweite, was un­ sere Aufmerksamkeit, und mit ihr auch unsere Andacht in Anspruch nimmt.

II. Wenn wir uns fragen, warum das Christenthum un­ serer Tage bei Weitem nicht so kräftig auf das innere Le­ ben der Menschen einwirkt, als die Religion der ersten Be­ kenner Jesu, so werden wir die Ursachen hiervon darin­ nen finden, daß wir in der Beurtheilung unserer eigenen Sündhaftigkeit zu leichtsinnig, bei der Fassung guterVorsatze zu willenlos, und selbst bei den Tugenden die wir üben, zu unlauter und weltlich sind. Dadurch ist uns auch der Weg an­ gedeutet, den wir betreten müssen, wenn die göttliche Kraft der Religion Jesu in uns wieder aufleben soll. Viel zu leichtsinnig sind wir in der Beur­ theilung unserer Sündhaftigkeit, als daß die Re­ ligion Jesu für uns die höchste Aufgabe unseres Lebens werden könnte. Indem die ersten Christen sich durch die Taufe zu Jesu bekannten, sahen sie auch ein, daß ihr sünd« licher Leib aufhören und ihr alter Mensch ge­ kreuzigt werden müsse; sie hatten also ein vollkommen richtiges Gefühl der sittlichen Schwache und Verdorben­ heit, die sie ablegen und überwinden müßten, wenn sie der Gnade Gottes würdig werden wollten. Haben, denn aber auch wir diese ernste Ansicht dessen, was wir Alle vor Gott sind und seyn sollten; empfinden auch wir es, daß dasDichten undTrachten des menschlichen Her­ zens böse von Jugend auf ist; theilen auch wir die Ueberzeugung des Apostels, so wir sagen wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht in uns? Oder ist es die hohe Meinung von dem Lichte unserer Tage, von dem Wer­ the unserer Erziehung und Bildung, von-der Vollkommen­ heit und Würde unserer Natur, die uns verblendet, Die-

unsere wahre Selbstkenntniß hindert, die uns die Augen über uns selbst verschließt, bis wir nach einem schweren Falle, nach einem harten Schlage des Schicksals, vielleicht erst auf dem Krankenbette einsehen, wie sehr wir des Ruhmes ermangeln, den wir vor Gott haben sollen? Wünschest du dir daher den heiligen Ernst, mit

dem die ersten Christen die Religion als den höchsten Endzweck ihres Lebens betrachteten, so kehre fleißig in dich selbst und in dein Inneres ein; so betrachte hier den steten Krieg der Leidenschaften und Begierden, die in dei­ nen Gliedern streiten; so dringe in die tiefe Nacht der Erdenlust und Selbstsucht ein, die deinen Geist umhüllt; so verhehle dir es nicht, wie schwach dein Glaube an Gott, deine Ehrfurcht, Dankbarkeit und Liebe zu ihm, wie wan­ kend und unsicher die Hofnung deines himmlischen Berufes ist; so vergleiche nicht nur deine Handlungen einzeln mit dem Gesetze Gottes, sondern den ganzen Zustand deines Gemüthes mit dem Heiligen und Gerechten, der dir

ein Vorbild gelassen hat, daß du wandelst in seinenFußstapfen. Nun wird dein Leichtsinn weichen, dein Stolz verschwinden, ein tiefes Gefühl deiner Unvoll­ kommenheit und Verwerflichkeit, eine gerechte Furcht vor dem heiligen Gerichte Gottes, ein sehnsuchtvolleü Verlan­ gen, reiner, besser und der Liebe deines himmlischen Vaters würdiger zu werden, wüd sich deiner Seele bemächtigen; die Erinnerung an die erste Pflicht des Christen, der Sünde abznstcrben, wird dir den weisen, den heiligen Ernst des Glaubens wiedergeben, den du so lange an dir vcr. mißt hast. Dabei sind auch unsere guten Vorsatze viel zu unk rüstig und willenlos, als daß sie die Tugend der ersten Christen bei uns erzeugen könnten. Gleich Jesu,

dem aufcrsiandenen in einem neuen Leben zu wan­ deln, war der Beruf seiner ersten Bekenner; unter schwe­ ren Kümpfen mit ihren Neigungen und Begierden beflei­ ßigten sie sich nicht nur einzelner Tugenden des bürger­ lichen Lebens, sondern einer gänzlichen Erneuerung ihres Sinnes und Gemüthes; sie kannten und verehrten die Macht der Gnade Gotttes, aber sie verbanden mit diesem Vertrauen auf Gottes Beistand die höchste Anstren­ gung ihrer eigenen sittlichen Kraft und Willensstärke, im Kampfe mit der Sünde bis auf das Blut zu widerstehen und jur herrlichen Freiheit der Kin. der Gottes hindurchzudringen. An guten Vorsätzen fehlt

es nun auch uns und unseren Zeitgenossen nicht; wir gehen wohl nie aus unseren andächtigen Versammlungen hin­ weg, ohne bessere Gedanken und fromme Rührungen auS ihnen mitzunehmen. Aber find diese Vorsatze auch auf die gänzliche Erneuerung und Heiligung unseres inneren Men­ schen gerichtet; ist da Jesus, der Unschuldige und Gerechte, vor und nach seiner Auferstehung, auch unser Muster und Vorbild; erwarten wir da, der weisen und heiligen Ordnung Gottes zuwider, nicht oft Alles, von seiner Gnade und der Kraft seines Geistes, damit nur unsere Trägheit nicht gestört und unser knechtischer Geist nicht aus seinem faulen Schlum­ mer geweckt werde; sind einzelne gesenkte Blicke, leichte Seufzer, flüchtige Rührungen, sind die schnell hervorquellenden Thränen, wie sie die büßende Magdalena weinte, nicht das Aeußerste und Höchste, was wir für unsere Besserung und

Frömmigkeit zu thun und zu leisten gedenken? O jene un­ glückliche Empfindelei, welcher fast immer Flachheit und Heu­ chelei zur Seite geht, jenes leichtfertige Spiel mit frommen Gefühlen, welches fast immer das klare Bewußtseyn unserer selbst verhindert, jene traurige Scheu vor großen und erhabe­ nen Gedanken, die sich immer engherzig von dem reinen Lichte des Himmels abwendet, jene unheilbringende, von jedem Eindrücke des Augenblickes abhängige Beugsamkeit des Willens, die keinen festen und durchgreifenden Entschluß bei uns gedeihen läßt, alle diese Fehler eines im Geiste un­ mündigen und verzärtelten Geschlechtes sind es, die der Aus­ bildung eines großen, edlen, frommen und wahrhaft christ­ lichen Charakters die beklagenswcrthesten Hindernisse in den Weg legen. Soll daher der heilige Ernst der ersten Christen in den Angelegenheiten der Religion zu euch zurückkehren, so verbindet mit dem Bewußtseyn eurer sittlichen Schwach­ heit auch das Gefühl der unendlichen Kraft zum Guten, welche Gott in euch gelegt; den »treuen Gebrauch der Mittel, die er euch zu ihrer Belebung und Stärkung verliehen, das kindliche Vertrauen auf den siegenden Beistand seines Geistes, den er euch verheißen hat; so erhebt euch frei und muthig zu dem reinen Lichte der himmlischen Wahrheit, daß kein blinder, oder spielender Glaube die lautere Erkenntniß Gottes und

Christi in eurer Seele verdunkeln» so ringet vor Allem nach der Kraft und Stärke des Willens, die den besseren Entschluß auch in daS Werk setzen, der Begierden des sündlichen Leibes mächtig werden, dem Körper und seiner Lust etwas versagen, den Thorheiten und Ungerechtigkeiten der Menschen Trotz bieten und die Welt im Glauben überwinden

kann. Das Wesen des Christenthums besteht ja nicht in schönen Worten, oder äußeren Gebchrden, sondern in der Kraft des Geistes, der That und Wahrheit; wir wer­ den nie, den ersten Christen gleich, zur wahren Voll, kommenheit auffahren, wenn wir nicht mit dem Apostel aus eigener Ueberzeugung sprechen können; e S ist ein köstlich Ding, daß daS Herz fest werde. Zuletzt ist auch die Tugend, die wir üben, zu unlauter und rücksichtsvoll, als daß wir, wie die ersten Freunde Jesu, die Religion als die höchste Aufgabe un­ sere- Lebens betrachten könnten. Wie Christus, der Aufersiandene, das, was er lebte, Gott lebte, um sich Don einer Herrlichkeit zur anderen zu erheben; so lebten auch seine ersten Bekenner ein stilles, göttliches Geistesleben, daß durch Liebe von reinem Herzen und gutem Ge­ wissen ihr innerer Mensch vonTag zu Tag er­ neuert würde. Diese Gesinnungen sind auch uns nicht fremd; auch wir sind in unserem Berufe wirksam und thätig; auch wir üben fleißig die Tugenden der Gerechtigkeit, Dienst, fertigkeit und Menschenliebe; auch wir sind unserer Christenpflichten eingedenk, zu geben dem Kaiser, was deS Kaisers, und Gott, was Gottes ist. Aber voll­ bringen wir denn das Gute, was uns obliegt, auch immer aus reiner Ehrfurcht und Liebe zu Gott; blicken wir da, wo wir die Hand an den Pflug legen, ein gutes Werk zu vollbringen, nicht fast immer rückwärts, um zu sehen, was uns das bei Menschen für Frucht bringt; beten wir nicht, damit es unserer Familie wvhlgehe; sind wir nicht freundlich, weil man uns wiedergrüßt; geben wir nicht Al­

mosen , um dem Himmel auf Wucher zu leihen; stellen wir uns nicht andächtig, demüthig und bußfertig, um Menschen zu gefallen; sind nicht die meisten unserer Lugenden zunächst

auf irdisches Glück und dann erst auf Gottes Beifall und

die Ererbung des Himmelreiches berechnet? O darum leben wir'gerade so wenig Gott in Christo unserem Herrn, weil wir immer zuerst uns selbst, unseren irdischen Verhält­ nissen und Vortheilen leben; darum kommt es gerade bei uns nie zu einent wahren und heiligen Ernste für die Reli­ gion, weil wir immer abwechselnd Gott und dem Mam­ mon di en en; darum sind unsere Tugenden zuletzt nur glän­ zende Sünden, weil fast immer eine verborgene, schlechte Ab­ sicht ihren Werth vor Gott verdunkelt; darum fallen wir end­ lich so häufig in unsere alten Fehler und Vergehungen zurück, weil die Pflicht für uns keinen Reiz mehr hat, sobald uns die Frage dunkel scheint, was wird mir dafür? Soll daher die Frömmigkeit der ersten Christen auch unter uns wieder aufleben, o so reißet euch bei euren Tugenden von jenen irdischen Rücksichten und Berechnungen los, durch die

ihr Schaden an eurer Seele leidet; so sorget vor Allem dafür, daß euer Herz vor Gott lauter und rechtschaffen erfunden werde; ss haltet nur dieje­ nigen Handlungen für gut und dem Herrn wohlgefällig, die aus reinem Herzen und gutem Gewissen und unverfälschtem Glauben fließen; so rühmet- euch nur dann eines göttlichen Sinnes und Lebens, wenn ihr an­ hängt dem vorgcsteckten Ziele, daß euer innerer Mensch von Tag zu Tag erneuert werde. Dann wird die Taufe auf den Tod Jesu auch an euch ihre himm­ lische Kraft bewähren; dann wird die Gnade Gottes auch in eurer Schwachheit immer mächtiger wer­ den; Jesus, der Auferstandene, wird dann das heilige Vor­ bild eures Sinnes und Wandels seyn; immer näher wird er euch zu sich ziehen durch seinen Geist und seine Seele und mit euch bald die Herrlichkeit theilen, die ihm der Vater verheisen hat. Amen.

XLI.

Am siebenten Dreieinigkeitssonntage. Text: Hebr. K. XIII. V. 9. Die weise Festigkeit deS Glaubens, die der Christ im steten Wechsel des menschlichen Wissens erstreben soll.

v. AmnroriS Pked. B. H.

Der Herr verleihe uns Allen

ein wahrhaftiges Herz

und

völligen Glauben, daß wir mit Freudigkeit einen Zugang finden in das himmlische Hciligthum und nicht wanken in der Hofnung,

M. a. Z.

die er uns verheißen hat.

Amen.

Aus dem Munde freisinniger, gebildeter und

einsichtsvoller Männer hört man in unseren Tagen häufig die eigenthümliche Behauptung, daß es jedem freien Men­ schen gestattet seyn müsse, seinen eigenen Glauben und seine eigene Religion zu haben. Eigenthümlich, wo nicht auffallend und sonderbar ist diese Behauptung gewiß; denn wenn man sie in den Tagen Mosis und der Propheten, zu den Zeiten Jesu und der Apostel, wenn man sie im Laufe deS Mittelalters und noch in der Mitte unserer Vä­ ter hätte laut werden lassen, so würde man wahrschein­ lich für einen Zweifler, für einen Unchristen, für einen

Feind Gottes und seiner heiligen Offenbarung gehalten worden seyn. Wird sie also dennoch von Vielen vernom­ men, welchen man Geist, Verstand und Bildung nicht ab­ sprechen darf, so gehört sie zu den merkwürdigen Zeichen unserer Zeit und deutet von der einen Seite auf eine sichtbare Ungewißheit im Reiche des Glaubens, von der anderen hingegen auf die entschiedenste Liebe zu einer un­ beschränkten Duldung und Freiheit des Gewissens hin. Sie hat zugleich etwas Gefälliges und Ansprechen­ des; denn da der Glaube, wie der Apostel sagt, nicht Jedermanns Ding ist, so können wir es nach jenem Ausspruche mit ihm halten, wie wir wollen, und jeder widrige Kirchenzwang, jeder ärgerliche Priesterkampf hat nun zu unserer großen Bequemlichkeit und Genugthuung fein gänzliches Ende erreicht. Und da wir endlich Alles, 17 •

was anspricht und jusagt, auch gern j« glauben pflegen, so wird es uns überdies nicht an scheinbaren Grün­ den fehlen, jene Behauptung zu vertheidigen; denn die Religion, sagt man, gehört ja nicht zu den sinnlichen Ge­ genständen, die man gerade so und nicht anders sehen muß; sie ist vielmehr eine Frucht des freiesten.Denkens und Fürwahrhaltens; sie ist überdies reich und unerschöpf­

lich an Meinungen und Geheimnissen; sie ist ein Licht auS weiter Ferne, das ein Jeder von seinem Standpunkte aus mit anderen Augen und in einer anderen Strahlenbrechung zu betrachten pflegt. Seine Ansichten von ihr müssen daher nothwendig von den Anschauungen Anderer verschieden seyn, und es hat wenigstens Niemand das Recht, ihn hierüber zur Rede zu stellen, ihm seine Meinung aufzudringen, oder ihm die Freiheit zu rauben, die ihm Gott selbst ge­ schenkt und verliehen hat. Wie blendend und verführerisch indessen diese Gründe auch seyn mögen, so ist es doch nicht schwer, ihren trügerischen Schein zu entdecken und sie in ihrer Zweideutig­ keit, in ihrer ganzen Nichtigkeit und Blöße darzustellen. Die Religion, sagt ihr, ist kein heimlicher Gegenstand; das ist unleugbar; aber gerade darum ist sie auch nicht Sache der Empfindung, oder des Geschmackes, sondern eine Frucht des Geistes und Herzens, die nur unter dem Einflüsse des ewigen Lichtes gedeihen und reifen kann. Die Religion, sprecht ihr, geht nicht aus dem Zwange, sondern aus der Freiheit hervor; das laßt sich abermals nicht bezweifeln; aber die achte Freiheit ist nicht Willkühr, sondern sich selbst «in Gesetz nach dem Ausspruche Jesu; ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen. Die Menschen, fahrt ihr fort, haben nach der Mannichfaltigkeit ihrer Stellungen auf Erden von jeher verschiedene Ansichten von der Religion gehabt: daS bewährt die ganze Geschichte unseres Geschlechtes; aber sie haben auch die Sonne am Himmel aus Osten und Wesien, aus Süden und Norden beschauet und doch aus allen diesen Standpunkten nur einen und denselben Mittelpunkt des Lichtes für unsere Erdenwelt entdeckt. Der mensch­ liche Geist, erinnert ihr zuletzt, ist veränderlich, wandelbar

261 und einer unendlichen Vervollkommnung fähig, also muß auch seine Religion veränderlich seyn. Da6 ist ein fal­ scher Schluß aus einem richtigen Satze; denn ob auch eure Erkenntniß wechselt, so wechselt doch darum die Wahr­ heit nicht; ihr kennt den Glauben besser», womit ihr glaubt, so lange ein Hauch eure Brust bewegt, und ver­ mögt doch überall nichts an dem Glauben zu ändern, den

ihr glaubt, wenn ihr ihn als vernünftige Menschen und denkende Christen auS der reinen und lauteren Quelle der göttlichen Offenbarung schöpfet. Das näher zn erwägen und die Festigkeit des wahren christlichen Glaubens in dem unvermeidlichen Wechsel menschlicher Meinungen als Pflicht und Vorschrift zu betrachten, wird daher ohne Zweifel ein eben so wichtiger, als fruchtbarer Gegenstand unserer heu­ tigen Andacht seyn. Eine bestimmte und ausdrucksvolle Stelle der heiligen Schrift soll hierüber unsere Lehrerin und Führerin werden; darum sammlen wir uns auch, ihren wahren Sinn zu fassen, vor Allem in stillem Gebete rc.

Text:

Hebr. K. XIII. V. 9.

Lasset euch nicht mit mancherlei und fremden Lehren um« treiben; denn es ist ein köstlich Ding, daß das Herz fest werde, welches geschiehet durch Gnade, nicht durch Speisen, davon kei­ nen Nutzen haben, die damit umgehen.

Der Apostel Jesu Christi, welcher die so eben vernom­ mene Ermahnung an uns richtet, hatte in seinem Send­ schreiben nicht nur den Unterschied zwischen der Religion des Buchstabens und des Geistes genau bezeichnet, sondern es auch seinen Lesern ausdrücklich zur Pflicht gemacht, nicht immer bei den Anfangs grün den der wahren Got­ tesverehrung stehen zu bleiben, sondern frei und unverrückt zur Vollkommenheit aufzustreben. Das gebot ihm auch die Klugheit und Nothwendigkeit, da seine He­ bräer unter den Griechen lebten, die in ihren wissenschaft­

lichen Forschungen niemals stillstanden, sondern jeden Irrthum und Aberglauben unter Heiden, Juden und Chri­ sten ohne Schonung bekämpften. Dennoch ist ihm Jesus als bet' Anfänger und Vollender unseres Glau­ bens, unverändert derselbe gestern, heute und in

Ewigkeit; und so will er ihn auch von allen seinen Freunden erkannt und verehrt wissen. Es sind aber seine Motte so bestimmt und gemessen, daß wir ihrer Kraft nicht cmszuweichen vermögen; darum wird auch die weise Fe­ stigkeit des Glaubens, die der Christ im steten Wechsel des menschlichen Wissens erstreben soll, ein würdiger Gegenstand unserer heutigen Andacht seyn. Wir wollen hierbei zuerst sehen, warum, dann aber, wie er sie erstreben soll, um einem dringenden Bedürfnisse unseres Geistes und HerzenS Genüge zu leisten.

I. Eine weise Festigkeit seines Glaubens soll aber jeder Christ erstreben, weil ochne sie seine ganze Reli« gionserkenntniß weder tiefgedacht und wohl, begründet, noch herzlich und lebendig, noch christlich und Gott wohlgefällig seyn kann. Ohne eine weise Festigkeit des Glaubens kann unsere Religionserkenntniß nicht tiefgedacht und wohlbegründet seyn. Lasset euch nicht mit man­ cherlei und fremden Lehren umhertreiben, ge­ bietet der Apostel. Dieselbe Warnung hören wir aus dem Munde Paulir Lasset euch nicht wiegen und wägen

von jedem Winde der Lehre; und wieder an einem andern Orte spricht Jesus selbst zu dem Volker was seid ihr hinausgegangen in die Wüste zu sehen? Wollt ihr ein Rohr sehen, das vomWinde hin und her getrieben wird? Alle diese Stellen handeln von der flachen und seichten Religionskenntniß des thörichten Mannes, der das Haus seines Glaubens auf den Sand bauet, im Gegensatze des weisen und klu­ gen, der es auf einen Felsen gründet, wo es von keinem Platzregen, von keinem Winde der Zweifel mehr erschüttert werden kann. Festigkeit des Glaubens und Gründ­

lichkeit der Erkenntniß stehen also gegenseitig in der ge­ nauesten Verbindung; wir können von Gottes weisem und heiligem Walten nur dann lebendig überzeugt, wir können in unserem Vertrauen und unserer Zuversicht zu ihm nur dann beständig, treu und unerschütterlich seyn, wenn wir

diese erhabenen Gegenstände gründlich durchdacht, reif er­ wogen, alle Einwürfe der Schalkheit und Täu schere i, womit uns die Menschen verführen, wohl geprüft, und so die wahre Einheit des Glaubens und der Er­ kenntniß in dem Maaße des vollkommenen Alters Christi errungen haben. So hat Moses, wohl unterrich­ tet in der Weisheit der Aegypter, lange Zeit in den Ebe­ nen Midkans über die künftige Gesetzgebung der Israeliten tiefe Betrachtungen genährt; so hat Paulus nach seiner Bekehrung auf dem Wege nach Damaskus drei Jahre hin­ durch die himmlische Erscheinung erwogen, die seiner Got­ tesverehrung eine ganz andere Richtung gab; so hat Chri­ stus selbst von Zeit zu Zeit die Einsamkeit gesucht, zu den­ ken, zu forschen und zü beten. Eine weise Festigkeit des Glaubens erstreben, heißt also eben so viel, als tief und gründlich über die göttlichen Wahrheiten des Christenthums nachdenken, und die heilige Schrift nicht allein lesen, sondern in ihr forschen, damit man auch verstehe, was man liefet; es ist das folglich zu allen Zeiten, es ist namentlich in unseren Tagen heilige Pflicht, weil Festig­ keit des Glaubens ohne Gründlichkeit der Erkenntniß nicht möglich und denkbar ist. Ohne diese Festigkeit ist aber auch keine Herzlichkeit und Lebendigkeit unserer Religionserkenntniß zu erwarten. Es ist ein köstlich Ding, heißt es in unserem Texte, daß das Herz fest werde; oder, wie Paulus spricht, so du mit deinem Munde beken­ nest, daß Jesus der Herr sei, und glaubest in deinem Herzen, daß ihn Gott von den Todten erweckt hat, so wirst du selig. Beide heilige Man­ ner stimmen folglich darinnen überein, daß der Glaube nicht bloß Sache des Gedächtnisses und Verstandes, sondern des ganzen Herzens und Gemüthes seyn müsse, wenn er den Menschen erleuchten, bessern, erbauen und zur Seligkeit ge­ schickt machen soll. Wird das aber möglich seyn, wenn er nicht in uns festgewurzelt und begründet ist; wenn

er nicht Klarheit, Kraft und Starke hat, die Welt zu überwinden; wenn sein Licht in uns nicht eine heilsame Warme wird, die unsere ganze Seele durchdringt; wenn

mit einem Worte -er Glaube nicht ungefärbt ist/ daß er zu allen Zeiten, also auch in der Stunde der Prüfung

und Versuchung wirksam, thätig und herrschend seyn kann! Du glaubst, wie du sprichst, an die Verheisung Jesu: selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen; und störst doch deine Seligkeit wieder durch deine Unmäßigkeit, Lust und Ueppigkeit. Du glaubst an das Wort des Apostels: es trete ab von der Un­ gerechtigkeit, wer Christi Namen nennt; und kannst doch der Versuchung nicht widerstehen, dein Geld auf Wucher zu leihen, oder dem.treuen Arbeiter sei­ nen sauer verdienten Lohn zu verkürzen. Du glaubst an den tröstlichen Ausspruch: der Herr läßt unsere Ver­ suchung ein Ende gewinnen, daß wir sie zu er­ tragen vermögen; und murrest doch gegen Gott kn schwerer Anfechtung, oder giebst wohl selbst Gedanken und Anschlägen der Verzweiflung Raum. Ist aber in allen die. sen Fallen dein Glaube lebendig, kräftig und herzlich; gleicht er nicht vielmehr dem Saamenkorn, das unter die Dor­ nen fiel und von den Sorgen und Lüsten des Le­ bens erstickt wird; beweisest du es nicht offenbar durch die That, daß deine Erkenntniß Gottes und seines heiligen Willens noch flüchtig, unsicher, herzlos und unfruchtbar ist? Soll daher dein Glaube herzlich, lebendig und durch die Liebe thätig werden, so muß er Festigkeit und Be­ ständigkeit, so muß dir das, was du glaubst, kein Wahn, keine Meinung, keine ferne Möglichkeit, sondern eine volle, gewisse und unumstößliche Wahrheit seyn; so muß dein Fürwahrhalten nicht auf eitlen Muthmaßungen, auf einem blinden Nachsprechen, auf bloßer Einbildung, oder weiche» Gefühlen, sondern auf nothwendigen Gründen und einer das Innerste des Gemüthes umfassenden Ueberzeugung be­ ruhen. Die Liebe Christi bringt uns-, das, was wir noch zu leben haben, nicht uns, oder dem Fleische, sondern dem zu leben, der für uns gestorben und auferstanden ist; daran erkennen wir den wahren, fruchtbringenden Glauben, der nur darum so lebendig und herzlich ist, weil ihm Festigkeit und Beständig­

keit zur Seite geht.

Unter dieser Bedingung kann er aber auch nur christ­ lich und Gott wohlgefällig seyn. Welches ge­ schieht durch Gnade, setzt der Apostel hinzu, und nicht durch Speisen, von welchen keinen Nutzen ha­ ben, die damit umgehen. Das Herz, will er sagen, kann nicht fest werden, wenn sich der Verstand nur mit Nebensachen und Kleinigkeiten beschäftigt, wie die mosai­ schen Speiseverbote, die für die Tugend und Seligkeit der Menschen von keiner Bedeutung sind; nein, es kommt hier auf die Gnade Gottes, auf die Erlösung und Befrei­

ung des Menschen durch die seligmachende Wahrheit, auf die lebendige Erkenntniß Gottes und Christi an, der in dem ewigen Reiche seines Vaters derselbe ist, ge­ stern, heute und in Ewigkeit. Das ist der Geist und das Wesen unserer Religion, von welcher Jesus spricht: Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen; das ist das ewige, Evangelium, welches der Engel durch die Himmel trägt und der Geist des lebendigen Got­ tes in unsere Herzen schreibt; das ist das unbe­ wegliche Reich der Gnade, das wir von Gott empfangen haben, daß wir ihm dienen, ihm zu gefallen mit Zucht und Furcht; das ist das selig­ machende Christenthum, welches der Herr mit den Worten bezeichnet: es werden nicht Alle, die zu mir sagen Herr, Herr, in das Himmelreich kommen, son­ dern die den Willen thun meines Vaters im Himmel. Könnet ihr nun noch sprechen: der Glaube des Christen sei etwas Zufälliges, Willkührliches und Wandel­ bares; er sei nur eine bloße Meinung, die sich vor dem Lichte der forschenden Vernunft nicht langer verbergen lasse; er bestehe nur aus menschlichen Satzungen, die man mit der Zeit wohl verlassen und abschaffen werde; es könne, es dürfe, es müsse also wohl zuletzt dahin kommen, daß jeder Mensch seinen eigenen Glauben und seine eigene Re­ ligion habe? Nein, wer es weiß, daß das Wort des Herrn in Ewigkeit bleibt; wer dem Worte Jesu

traut, wird

wahrlich, bis Himmel und Erde vergeht, nicht untergehen der kleinste Buchstabe

des Gesetzes, web endlich die Verheißung Gottes kennt, es sollen wohl Berge weichen «nd Hügel hin­ fallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens nicht hin fallen; der wird zwar nicht aufhören, an sich und seiner Erkenntniß, und an Allem, was Menschen je gesagt, oder verordnet haben, zu bessern und es der Vollkommen­ heit naher zu bringen; aber er wird auch nicht zweifeln, daß der Grund der Wahrheit fest steht und daS Siegel trägt, der Herr kennt die Seinen; er wird also seinen Glauben so lange lautern, starken und ver­ edeln, bis er das hohe Ziel der Einheit und Vollendung erreicht; er wird in jedem Falle nie müde werden, dahin emporzustreben, damit er es auch an sich selbst erfahre; es ist ein köstlich Ding, daß das Herz fest werde. Das führt von selbst zu der Frage, wie dieser hohe Preis des Glaubens zu erringen sei, und wird also unserer Andacht noch ein neues Feld zu wichtigen Vor­ sätzen und Entschließungen öfnen.

II. Eine rühmliche Festigkeit des Glaubens können wir als Christen nur erstreben, wenn wir das Ziel der ewigen Wahrheit im steten Wechsel menschlicher Mei­ nungen mit Sicherheit in dasAuge fassen, uns mit einem reinen Gemüthe zu ihm erheben, uns hiebei von dem Geiste Christi leiten lassen und fleißig auf die Erfahrungen des Lebens achten, in welchen sich unser Glaube bewährt hat. Das Ziel der ewige» Wahrheit des Him­ mels, im steten Wechsel menschlich er Meinungen, mit Sicherheit in das Auge zu fassen, ist das Erste, was uns obliegt, wenn wir ihm näher zu kommen entschlossen sind. Wohl sehen wir überall, wo der mensch­ liche Geist waltet und sich bewegt, ein stetes Wogen, Fluthen, Sammle» und Zerstreuen, Aufbauen und Niederreißen. Blicken wir hinaus in das Reich der Wissenschaft, da sind die Bauleute unaufhörlich beschäftigt, einen Grund zu legen und auf ihm das Haus ihrer Erkenntniß aufzurichten; da häuft man Gold, Silber, köstliche Steine,

267

Holj und Stoppeln, das ««gefangene Werk zu voll­ enden ; da erhebt sich ein Sturm und Ungewitter, den Bau zu erschüttern, oder es bricht plötzlich ein Feuer aus, ihn in die Asche zu legen; man entwirft abermals Grundrisse, und grabt und arbeitet, den Thurm von Neuem zu bauen. In unserem eigenen Gemüthe findet sich dieselbe Unbe­ ständigkeit; wir lesen, schauen, denken, forschen, urtheilen und schließen; aber ein Tag lehrt den andern; ein Irr­ thum, ein Vorurtheil, ein Zweifel und Bedenken folgt dem andern; wir sind nur stolz und hochfahrend, so lang wir nichts wissen, und werden erst bescheiden und demüthig, wenn wir wissen, wie und waS man wissen soll. Kann uns aber diese Erscheinung irre machen an der ewi­ gen und unveränderlichen Wahrheit; war eS anders unter Griechen und Römern, unter Juden und Heiden, als Chri­

stus sprach, das Himmelreich ist herbeigekommen; haben nicht auch die Propheten und Apostel gelesen, gedacht, geforscht und dennoch im Wechsel der Meinungen ihren Freunden zugerufen: prüfet Alles, aber behal­

tet das Beste? O das ist ja gerade der Vorzug des wahren Glaubens, daß er höher steht, als alles Wissen, daß er uns über alles Sichtbare und Vergängliche zu dem Unsichtbaren und Ewigen erhebt, daß er uns jenseits der unruhigen Welt menschlicher Gedanken und Meinungen ein Reich des Lichtes, der Gnade, der Vollkommenheit und Seligkeit aufschlicßt, welches unvergänglich ist, wie Gott und sein heiliger Wille; er allein ist die lebendige Quelle und in seinem Lichte sehen wir das Licht. Das kann indessen nur geschehen, wenn wir uns mit einem reinen Herzen zu ihm erheben. In welt­ lichen Angelegenheiten ist das freilich anders; man kann eines Gewerbes, einer Kunst, einer Wissenschaft vollkommen mächtig, und dabei dennoch ein unwriser, unsittlicher, von rohen Begierden und Leidenschaften beherrschter Mensch seyn; die Kinder dieserWelt sind oft klüger, als die

Kinder des Lichtes in ihrem Geschlechte und wis­ sen sich auch ihrer Klugheit mit scheinbarem Erfolge zu rüh­ men. Aber auf dem Gebiete des Glaubens und der Religion verhält sich das ganz anders; da scheidet uns jede Sünde

von Gott und seiner ewigen Klarheit; da verdunkelt jede un­ lautere Begierde und Leidenschaft unseren Verstand und unser Bewußtseyn; da geht uns dann an dem Himmel des Glau­ bens die Sonne finster auf und der Mond scheint uns dunkel; da wird jedes herrschende Laster eine Erschütterung unseres Fürwahrhaltens, daß wir unsere Thorheit schmerz­ lich bereuen müssen, ehe wir unsere Gemeinschaft mit Gott

erneuern und das zerrissene Band seiner Erkenntniß wieder anknüpfen können. Soll daher unser Herz fest im Glau­

ben werden, so muß es frei und lauter bleiben, daß sich in ihm des Herrn Klarheit spiegele; so müssen wir sein heiliges Bild in uns unbefleckt und in seiner himmlischen Reinheit bewahren; die Liebe von reinem Her­ zen und gutem Gewissen muß unseren Glauben nicht nur ungefärbt erhalten, sondern ihn auch durch gute Thaten nähren, starken und veredeln; selbst unter Leiden und Trübsalen muß unsere Hofnung ein Anker werden, wel­ cher hinüberreicht in das Innere des himmlischen Heiligthumes. Dann wird nicht nur unsere Besser, ung zunehmen und unsere Gerechtigkeit schnell wachsen, sondern auch unser Glaube stark und kräftig wer. den; wie ein Senfkorn wird er dann aufsprießen und bald sein Haupt zum Himmel erheben; der Herr selbst wird ihn pflegen, daß er auch unter Sturm und Ungewitter wachse, blühe und Früchte bringe in Geduld; mit Freudigkeit werden wir dann zu ihm einen Zugang haben in aller Zuversicht und die Wonne derErlößten wird über unserem Haupte seyn. Namentlich dann, wenn wir hiebei von dem Geiste Christi geleitet werden. Denn wie geneigt und fähig wir auch bei einem reinen Gemüthe find, uns in die übersinn­ liche Welt emporzuschwingen; so ist das doch zuletzt immer unsere eigene Erhebung und ein Schwung des Geistes, welcher wieder ermattet; es ist das immer nur ein Fürwahrhalten, welches von uns selbst ausgeht, und also auch nur die Bürg­ schaft unserer Vernunft und unseres wandelbaren Bewußt­ seyns hat. Ist hingegen Christus der Anfänger unseres Glaubens, so wird unsere Gemeinschaft mit dem Vater eine thätige und wirkliche; so wird er selbst für »ns der Weg,

die Wahrheit und das Leben; so sendet er uns den Geist, der vom Vater ausgeht und uns in alle Wahrheit leitet; wir bleiben dann in seiner Liebe, wenn wir seine Gebote halten, wie er seines Vatets Gebote hält und, in feiner Liebe bleibt. Wie treu und sicher leitet uns aber dieser Geist Christi nicht auf dem Wege der Erkenntniß, der zur unsichtbaren Welt führt; auf einem Pfade, wo der natürliche Mensch nichts siehet, wo der Sünder von Nacht und Dun­ kelheit umgeben ist, wo dem Entzückten und Begeisterten zwar ein flammendes Licht umglanzt, welches nur aufgeht und wie« der verschwindet; auf einem Pfade endlich, wo auch der Wei­ seste strauchelt und nicht weit über das dunkle Thal des Todes hinauskommt, ehe ihm der Aufgang aus der Höhe er­ scheint, der seine Schritte hinlenkt auf den Weg des Frie­ dens! Christen, die ihr die Ordnung der Natur, die ihr die Schranken der Vernunft, die ihr die Unvollkommenheit und Wandelbarkeit alles menschlichen Wissens kennet, mögtet ihr nie vergessen, was ihr dem Eingeborenen des Vaters schuldig seid, welcher Leben und unvergängliches We­ sen für euchansLichtgebrachthat; mögtet ihr nie aufhören, euch zu freuen, daß ihr Reben an diesem himm­ lischen Weinstocke seid, die nicht Frucht bringen von sich selber, sondern wenn sie in ihm sind; mögtet ihr aber auch durch die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit, an ihm täglich mehr heranwachsen zur göttlichen Größe, daß er an euch sein großes Wort erfülle, wer mich liebt, der wird vonmeinemVatergeliebtwerdenundichwerde ihn lieben und mich ihm offenbaren! Und so darf ich euch denn, damit euer Herz fest werde, nur noch die Aufmerksamkeit auf die eigenen Er­ fahrungen eures Lebens empfehlen, in welchen sich euer Glaube bewährt hat. Suchen sollen wir Alle den Herrn, ob wir ihn fühlen und finden mögten, sintemal er nicht ferne ist von einem Jeg, lichen unter uns; dieses Suchen würde immer ungewiß und fruchtlos seyn, wenn er nur Anderen begegnete und uns nicht; wenn er nur anderen das Licht aufgehen ließe und

dennoch uns und unseren Blicken sein heiliges Angesicht ver­ bärge. Aber wo ist der Mensch, den er nicht leitete, den er nicht herausrisse und zu Ehren brachte, den er nicht zu fichzöge aus lauter Güte, dem er, als der rechte Vater über Alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden, nicht über­ schwenglich mehr gäbe, als er bittet und be­ gehrt? Hast du das aber nicht schon oft auf deiner kur­ zen Pilgrimschaft erfahren; hat er dich nie erleuchtet, wenn es in deiner Seele dunkel war, hat er dich nicht getröstet und erquickt, wenn dein Auge in stillen Thränen schwamm, hat er dir in drohenden Gefahren, in schweren Anfechtungen und Versuchungen nie seine starke Hand gereicht; hat er sich deiner nie in der Noth erbarmt und dein kindliches Gebet erhört; hat er seine Liebe nie ausgegossen in dein Herz und dichmitFriede undFreudein dem heili­ gen Geiste erfüllt? Diese Wohlthaten rufe dir in das Gedächtniß zurück, wenn du es vergessen kannst, daß dein

ganzes Leben Wohlthat ist; an diesen Beweisen der Gnade Gottes halte in dankbarer Erinnerung fest, wenn du es auch nicht begriffen hast, daß sein ganzes Wesen Huld und Liebe ist; dann wird dein Glaube wachsen und gedeihen; dann wird er rechtschaffen und köstlich erfunden werden, wie daS vergängliche Gold, daS durchsFeuer bewährt ist; dann wirst du dich nicht mehr umtrei­

ben lassen mit mancherlei fremden Lehren, son­ dern mit den Augen deines Geistes Gott und sein ewi­ ges Heil schauen. Selige Zeit, wo die Predigt des Wortes diese Erkenntniß schafft, und diese Erkenntniß Got­ tes solche Früchte bringt; dann werden wir nicht mehr streiten und kämpfen und als Zweifler umhcrwandeln, welche ungewiß in allen ihren Wegen sind; dann wird sich unser Wissen nicht mehr blähen und unser Glaube nicht mehr das Wissen scheuen; nein, er­ leuchtet, frei und stark in der Liebe wird er dann sich er­ heben und die Welt überwinden; denn fürwahr es ist ein köstlich Ding, daß das Herz fest werde. Amen.

XLIL

Am achten Dreieinigkeitssonntage. Text; Evangel. Matth. K. VII. V. 15 — 23.

Was wir bei der traurigen Wahrnehmung be« herzigen sollen, daß wir so oft die wahre Absicht unserer Handlungen verbergen.

Herr, wenn wir vor dir erscheinen, so sei unser Ruhm das Zeugniß unserer Gewissens, daß wir in Einfalt und gött­ licher Lauterkeit vor dir gewandelt haben. Amen.

M. a. Z.

Wenn ein Mensch sich selbst achten und da­

bei eines guten Namens bei Anderen erfreuen will; so muß er eine dreifache Vorschrift unverrückt vor Augen haben. * Er muß zuerst besonnen seyn und wohl überlegen, was er beginnt; denn wenn er sich blindlings den ersten sinnlichen Eindrücken überläßt, so wird immer etwas Thö­ richtes und Uebereiltes beschlossen, dessen er sich schämen, was er bald beklagen und bereuen muß. Mit dieser klaren Ansicht seines Endzweckes muß sich aber auch ein kräftiger und starker Wille vereinigen; denn wenn er anders denkt und anders handelt, oder wenn er das, was er als weise und gut erkennet, nur halb, oder aus unlauteren Nebenabsich­ ten vollbringt; so kommt er mit sich selbst in offenen Widerspruch, und kann dann auch den Vorwurf der Heu­ chelei, oder doch der Schwachheit und Charakterlosigkeit nicht von sich ablehnen. Ebendaher muß er noch gern bereit seyn, an das Licht zu treten und von seinen Handlungen Rechenschaft zu geben; denn wenn er sich dessen schämt, wenn er sich vor Gott und aller Welt nicht so zu zeigen wagt, wie er ist; so kann ihn immer noch der Tadel der Einseitigkeit, der Beschränktheit und des Eigensinnes treffen, und er wird zuletzt der schmerzlichen Nothwendigkeit nicht ausweichen, seine Grundsätze zu ändern und seiner Ehrliebe eine bessere Richtung zu geben. Steht v. Ammon'S Pred. D. ll. 1b

hingegen der klaren Einsicht noch ein guter und fester Wille, und beiden wieder ein freies und offenkundiges Betragen zur Seite; so fehlt ihm auch der Muth nicht, sich wohl zu beweisen gegen aller Menschen Gewissen vor Gott, und-er kann sich dann auch rühmen, den Weg der Wahrheit und des Lichtes zu wandeln, den ihm der Anfänger und Vollender seines Glaubens gebahnt hat und auf dem er ihm so herrlich zu seiner höheren Voll­ endung vorangegangen ist.

Leider sind diesen Vorschriften drei Klippen gefährlich, an welchen schon die Wohlfahrt und Tugend von Tausenden ge­ scheitert ist und die eben daher auch unserer Frömmigkeit und sittlichen Würde große Gefahr drohen. Wahre Beson­ nenheit ist nur der Wiederschein der Weisheit, die von oben kommt; wie begreiflich ist es daher, daß uns bei der Schwachheit unseres Glaubens eine Neigung, eine Begierde und Leidenschaft nach der anderen verblendet und uns zu Handlungen verleitet, in welchen man überall Zweckmäßig­ keit, Ordnung und Ueberlegung vermißt! Die wahre Kraft und Festigkeit des Willens kommt nur von dem Geiste Gottes, der uns stark macht an der Kraft des in­ neren Menschen; wie begreiflich ist es daher bei un­ serer Schwachheit und. unserem Selbstvertrauen, daß wir so oft in unseren Vorsätzen und Entschließungen wanken und so selten das Gute vollbringen, das wir uns vorsetz­ ten! Und dennoch würde diese gedoppelte Schwäche un­ seres Verstandes und Herzens noch nicht unheilbar seyn, wenn wir nur ehrlich und aufrichtig genug seyn, wollten, sie zu gestehen; wenn wir nur immer auf die Ursachen un­ serer Verblendung und Ohnmacht des Willens zurückgieifi gen; wenn wir nur unser Licht und die Starke unseres Geistes in der Versuchung immer in der Höhe suchten, von welcher jede gute und vollkommene Gabe zu uns herabkommt. Aber statt dessen bieten wir unsere ganze Klugheit auf, diese Schwachheiten zu verheimlichen; statt dessen sind wir im hohen Grade erfinderisch, anders

zu scheinen, als wir wirklich sind; statt dessen verbergen wir die böse Absicht, die wir mit Wohlgefallen in dm Tie­

fen unseres Herzens nähren, hinter erlaubten, verständigen, ja selbst tugendhaft scheinenden Handlungen, bis früher, oder später diese Täuschung verschwindet und eine große Uebelthat, oder ein schändliches Verbrechen es vor aller Welt beweißt, wie wir in unserem Inneren gestaltet sind. Daher die lau­ ten Klagen über die Falschheit und Treulosigkeit der Welt,

die man so oft aus dem Munde der Edelsten unseres Geschlechtes vernommen hat; daher die demüthigende Be­

hauptung, daß jeder Mensch ein Schauspieler auf der gro­ ßen Bühne dieses Lebens sek, der in stetem Widerspruche mit seiner Natur nur eine künstlich erlernte Rolle spielt; daher endlich die traurige Entdeckung, daß unseren menschen­ freundlichsten Worten und Handlungen oft genug eine selbst­ süchtige und böse Absicht zu Grunde liegt, und daß selbst unsere Vertrauten vor uns erschrecken würden, wenn sie in die Tiefen unseres Herzens einblicken könnten. Dieser, wenn schon schmerzlichen, Beobachtung weiter nachzuforschen, ist an sich schon wichtig für unsere Selbstkenntniß und Besserung, und wird uns noch dringender zur Pflicht ge­ macht werden, wenn wir die höheren Belehrungen zu Hülfe

nehmen, die uns Jesus, der Herr, in unserem Evangelium mittheilen wird. Auf sie sei daher unsere ganze Aufmerk­ samkeit mit der stillen Andacht gerichtet, zu der wir uns

im vereinten Gebete samnilen rc. Cvangel. Matth.

K. VII.

V. 15 — 23.

Sehet euch vor, -vor den falschen Propheten, die in Schaafskleidern zu euch kommen; inwendig aber sind sie reißende Wölfp. An ihren Früchten sollt ihr sic erkennen. Kann man auch Trau­ ben lesen von den Dornen, oder Feigen von den Disteln? Also ein jeglicher guter Baum bringt gute Früchte; aber ein fauler Baum bringt arge Früchte. Ein guter Baum kann nicht arge Früchte bringen, und ein fauler Daum kann nicht gute Früchte bringen. Ein jeglicher Baum, der nicht gute Früchte bringet, wird abgchauen, und ins Feuer geworfen. Darum an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Es werden nicht alle, die zu mir

18»

sagen : Herr, Herr! in daS Himmelreich kommen; sondern die den Willen thun meiner Vaters im Himmel. Es werden viele zu mir sagen an jenem Tage: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen gcweiffagct? Haben wir nicht in deinem Na­ men Teufel ansgetrieben? Haben wir nicht in deinem Namen viele Thaten gethan? Dann werde ich ihnen bekennen: ich habe euch noch nie erkannt; weichet alle von mir, ihr Uebclthäter! Wenn wir vor der Obrigkeit, oder überhaupt vor ei­ nem menschlichen Richterstuhle erscheinen; so handelt es sich da immer nur um das, was wir gethan, oder unter­ lassen haben. Was wir dabei gedacht, gewollt, welche Absicht, welchen Endzweck wir uns hierbei vorgesetzt hat­ ten, kommt hier minder in Erwägung, weil die weltliche Macht sich in der Regel nur auf den Erfolg der äußeren That zu beschränken pflegt. Vor dem Richterstuhle Got­ tes und unseres Gewissens hingegen ist die innere Rich­ tung unserer Gedanken und unseres Willens die eigentliche Seele unserer Thaten, die unseren Werth, oder Unwerth, und mit ihm unser ganzes Schicksal entscheidet. Das ist offen­ bar der Hauptgedanke unseres Evangelik, welchen wir nun näher in die Betrachtung zusammenfasscn wollen, was wir bei der traurigen Wahrnehmung zu beher­ zigen haben, daß wir so häufig die wahre Ab­ sicht unserer Handlungen verbergen. Es wird hiebei nöthig seyn, zuerst diese Wahrnehmung nä­

her zu beleuchten, dann aber uns zu den Lehren zu wenden, die wir zu beherzigen haben.

I. Daß wir die wahre Absicht unserer Hand­ lungen häufig verbergen, ist eine Wahrneh­ mung, die wir nicht leugnen können, weil uns

unser eigenes Bewußtseyn sagt, daß wir das, was wir eigentlich wollen, Gott, unseren Mitmenschen

«nd uns selbst zu verheimlichen pflegen. Merkwürdig genug ist es, daß wir daS, was wir

eigentlich wollen^und zu erstreben suchen, oft schon vor Gott selbst zu verbergen pflegen. Sehet euch vor vor den falschen Propheten, spricht der Herr; er deutet hier offenbar auf die Phari­ säer hin, welche Gott dankten, daß sie nicht seien, wie andere Leute, welche Mücken säugten und Kamecle verschluckten, welche Land und Wasser umzogen, einen Judengenossen zu machen, und doch aus ihm ein Kind der Hölle bildeten, zwie­ fach mehr, als sie selbst waren. Daß cs ihnen hiebei nur um- den äußeren Schein, um die Vermehrung ihrer Parthei und um den Ruhm von Menschen zu thun sei, waren sie sich zwar nicht ohne Vorwurf bewußt; sie hatten es ja oft genug in ihren Schulen gehört, daß man kein wahrer Jude sei, wenn man nur Münze, Till und Kümmel verzehnte und dafür daS Schwerste im Gesetze dahinten ließe, das Gericht, die Barmherzigkeit und den Glauben. Das bedachten, das erwogen sie aber in ihrem Stolz und Eifer nicht und wähnten doch die innere Unlauterkeit ihres Herzens auch dem Allwissenden verheimlichen zu können. Etwas Aehn« lichcs nehmen wir aber noch immer an uns selbst und an der Beschaffenheit unseres eigenen Gemüthes wahr; wir ahnen es wohl, daß wir noch fern sind von der Heili­ gung, ohne welche Niemand kann den Herrn schauen; wir wissen es wohl, daß wir nur Ehre vor Menschen suchen, aber nicht vor dem, der unkennt und richtet; wir fühlen es wohl, daß wir die Welt und ihre Lust mehr lieben, als den, der einzig unseres Herzens Trost und Theil seyn soll. Aber entweder denken wir in unserem Leichtsinne, er sieht es nicht, er achtet nicht darauf; oder wir flüchten uns hinter übertriebene Vorstellungen von der Schwachheit und Verdorbenheit unserer sittlichen Natur; oder wir stellen das weltversöhnende Verdienst des Heilan­ des zwischen uns und den gerechten Vater, nicht nm egläubig und dankbar zu ergreifen und uns anzueignen, son-

dem um uns gegen die Strafen des ewigen Richters zu schützen und sein heiliges Auge von unserer inneren Ver­

kehrtheit abzuwenden. Daher die Seltenheit der Stunden und Augenblicke, in welchen der Herr der Welt in seiner ganzen Reinheit und Herrlichkeit vor unserer Seele steht; daher die zunehmende Schwache unseres Glaubens und die Kalte und Andachtslostgkeit unseres Glaubens; daher die dichten, dunklen Wolken, in die wir uns oft täglich mehr gegen die unsichtbare Welt verhüllen; daher die oft unglaubliche Verblendung über die Folgen unserer Handlungen und über den Ernst der nahen Rechenschaft. Unsere Werke würden oft nicht so ungöttlich und böse seyn, wenn wir die wahre Absicht dessen, was wir wollen und thun, nicht pnaufhörlich vor Gott zu verbergen suchten.

Nun tragen wir um soviel weniger Bedenken, den ei­ gentlichen Endzweck unserer Handlungen auch unseren Mitmenschen zu verheimlichen. Sehet euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafsklei­ dern zu euch kommen, aber inwendig sind sie reißende Wölfe. Das waren abermals die Pharisäer, die lange Gebete vorwendeten und doch der Witwen Häuser verzehrten, welche Becher und Schüsseln reinigten, aber selbst voll Gierde ün.d Raubes waren; die unter lauten Klagen über die Grausamkeit ihrer Väter der Propheten Gräber schniückten ünd doch selbst geißelten, verfolgten und tödte« t-en, die zu ihnen gesandt waren; man konnte die Doppelsinnigkeit, die Heuchelei und den Betrug nicht weiter treiben, als diese Schriftgelehrten, über die der Herr das Wehe so ernst und feierlich ausruft. Können wir aber im vollen Ernste dasselbe Urtheil über die falschen Pro­ pheten des Judenthums aussprechen, ohne uns selbst für schuldig und sträflich zu erklären? Wir kommen den Unse­ rigen mit Wohlwollen und Zärtlichkeit zuvor, um bei An­ deren eine- gute Meinung von unserem Häuslichen Glücke zu erregen; so wie es uns aber gelungen ist, sie zu täu-

sch en, tritt im engern Kreise der Familie unsere Selbstsucht wieder unverhüllt in ihrer ganzen Rohheit hervor. Vor

unseren Eltern, Lehrern und Oberen erscheinen wir mit scheinbarer Unterwürfigkeit und Ehrerbietung; aber kaum haben sie ihr Auge von uns abgewendet, so spotten wir ihrer Leichtgläubigkeit und lassen allen unseren Thorheiten steten Lauf. Einem Gönner und Wohlthäter, der uns be­ fördern und Unser Glück begründen kann, sagen wir le­ benslängliche Treue und Dankbarkeit zu; aber kaum sind wir so weit, daß wir ihn entbehren können, so legen wir die Larve ab und halten unseren Stolz und unsere Feindseligkeit nicht mehr zurück. Um des Nächsten Heil und seiner Seele Seligkeit scheinen wir mit großem Ei­ fer bekümmert zu seyn; aber kaum ist er der Unsrige, so halten wir ihn in unseren Stricken fest und entgeg­ nen ihm spottend, da siehe du zu, wenn er sich be­ trogen und von Schaam und Reue durchdrungen fühlt.

Erscheinungen dieser Art sind so häufig, daß man kaum mehr darauf achtet, wenn man von Freunden freundlich begrüßt und empfangen wird; daß man im Handel und Ver­ kehr sich immer vorsichtig gegen eine nahe Ueberlistung und Vervortheilung verwahrt; daß man einem Unbekannten, der uns mit plötzlichem Wohlwollen entgegenkommt, fast immer eine geheime Falschheit und Tücke zutraut; daß man selbst bei dem Bunde der Herzen für das ganze Leben kaum sicher seyn kann, ob nicht, bei allen Versicherungen persönlicher Achtung und Liebe, doch der Erwerb an Geld und Gut nicht der wahre Gegenstand der schlauen verbor­ genen Neigung- sei. Ueberall finden wir der Ehen, der Freundschaften, der Verträge und Bündnisse viele, die zwar betheuert und beschworen, aber doch mit dem geheimen Vorbehalte geschlossen werden, sie bei der nächsten günsti­ gen Gelegenheit wieder zu verletzen und aufzulösen, wie sehr man auch diese sträfliche Absicht zu verschleiern und zu verheimlichen sucht. Was aber fast unbegreiflich scheinen mögte, ist die Wahrnehmung, daß wir auch oft geneigt sind, die wahre

Absicht unserer Handlungen «ns selbst zu ver« bergen. Nicht sprechen wir hier von der Unwissenheit dessen, was uns bei den engen Schranken unserer Einsicht unbekannt ist und bleiben muß; nicht von den verborgenen Wegen und Rathschlüssen Gottes in der Leitung unserer Schicksale, oder von anderen Ereignissen, die unser Wissen und Glauben übersteigen. Nein, die Verheimlichung, die wir meinen, ist eine Verbergung dessen, was wir denken, wissen, wollen und beabsichtigen, und was wir un6 den« noch anders vorstellen, oder in ein anderes Licht setzen, um. uns über uns selbst und die wahre Beschaffenheit unseres inneren Menschen zu täuschen. Du häufest Schulden auf Schulden, ohne die geringste Hofnung, deine Gläubiger einst befriedigen zu können; dennoch nennst du das nicht Betrug, oder Treulosigkeit, sondern guten Glauben auf unbestimmte Frist, nach deren Verlauf sich wohl Rath und Auskunft finden soll. Du greifest in der Verlegenheit ein dir an­ vertrautes Gut, oder das Eigenthum des Staates an; dennoch findest du darinnen keine Verletzung deiner Pflicht, sondern nennst das ein stilles Anleihen, welches du in Ge­ danken wieder zurückzuzahlen und zu tilgen versprichst. Mit einer Freundin, oder der Gattin eines Anderen ein inniges Verhältniß anzuknüpfen, findest du unbedenklich; denn du nennst das weder Treulosigkeit, noch falsche Liebe, sondern nur eine Gemeinschaft, welche die gegenseitige Zuneigung entschuldigen soll. Heißt das aber nicht offenbar sich täu­ schen und selbst berücken; heißt es das, was man wohl weiß, sich nicht so lang selbst ablcugnen, bis man glaubt, man wisse es nicht; heißt es nicht sein inneres Auge ver­ dunkeln, und sich dann wundern, daß es nichts gesehen hat; heißt das nicht mit einem Worte unserem gemeinen, sinnlichen Bewußtseyn den Zugang zu dem besserem Selbst verhüllen, daß dieses nicht mehr warnen, strafen und er­ leuchten kann? Doch wer vermag die dunklen Tiefen un­ seres Herzens zu durchschauen, das, wenn es einmal die Liebe zu seinem Schöpfer verloren hat, auch aus dem Lichtkreise seiner höheren Bestimmung hrraustritt und dann

von einer Irrbahn des Widerspruches und der Finsterniß in die andere verschlagen wird! Hier genügt uns schon die traurige Erscheinung, daß das unglückliche Bestreben, etwas Anderes zu wollen und wieder etwas Anderes zu scheinen, uns zuletzt nothwendig dahin führen muß, die wahren Absichten unserer Handlungen zuerst Gott, dann unseren Mitmenschen und zuletzt uns selbst zu verbergen und so, wie Flüchtlinge, mit immer neuer Verstellung und Arglist durch dieses Leben zu wandeln« Diese Wahrnehmung ist es nun, die wir nach ihren Folgen und Lehren naher beherzigen wollen, wie sie uns der

reiche Inhalt unseres Evangelii darbieten wird.

n. Drei Lehren sind es aber, welche Jesus,

der Herr,

mit der Warnung vor den falschen Propheten verbindet: man darf von Menschen, die ihre Absichten ver­ bergen, nie etwas Gutes erwarten; sie zeigert sich vielmehr durch die offene That bald in ihrer ganzen Verworfenheit; wenn das aber auch nicht geschieht, so sind doch alle ihre scheinbaren Tugenden für die Ewigkeit ver­ loren. Das sind Wahrheiten, welche tief in unser Le­ ben eingreifen, und die wir ebendaher wohl zu beherzigen haben.

Zuerst also lernen wir, daß man von Menschen, welche die Hauptabsicht ihres Lebens verbergen, nie etwas Gutes erwarten darf. Kann man auch Trauben lesen von den Dornen, oder Feigen von den Disteln? Ein dem Wei'tzen ähnliches Unkraut wird zwar auf jedem Acker gefunden; es gehet auf, es grünt und blüht oft wie die gute Saat; erst dann, wenn man die volle Aehre erwar­ tet, sieht man sich in seiner Erwartung getauscht und rauft es mit Unwillen und Verachtung aus. Das ist genau das Bild der falschen Tugend bei allen denen, welche die

höheren Absichten und Endzwecke ihres inneren Lebens ver­

bergen; sie sehen zwar aus, wie gute und wohlgesittete Menschen; sie sprechen und handeln auch so, wenn sie von Anderen gehört und beobachtet werden. So wie man hin­ gegen zur Erntezeit von ihnen eine freie, volle und nütz­ liche Tugend erwartet, ist man getauscht und betrogen; es sind das nur übertünchte Graber, die zwar von außen glanzen, aber in ihrem Inneren Unreinig­ keit und Moder tragen. Welche Warnung, uns im Umgänge mit Anderen vorzusehen vor den falschen Propheten, die uns zwar freundschaftlich ansprechen und manche Tugend zur Schau tragen, die aber in ihren Blik« ken und Mienen etwas Heimliches und Falsches verrathen und bei Allem, was sie beginnen und thun, von einer ge­ heimen und undurchschaulichen Nebenabsicht geleitet werden! Welche Ermahnung für Eltern und Erzieher, die Offenheit und Aufrichtigkeit der noch unverdorbenen Kind­ heit als den Grund ihrer künftigen Tugend und Sittlich­ keit zu pflegen, und alle Versuchungen zur Eitelkeit, jur Verstellung und Arglist, und namentlich zum Prunke mit erborgten Kenntnissen und Fertigkeiten sorgfältig von ihnen abzuwenden! Welche Lehre endlich für uns selbst, wenn wir zurückhaltend und verschlossen sind, wenn wir überall auf heimlichen Wegen unserem Ziele zuwandeln, wenn wir außer den Geheimnissen des Berufes und der Familie, die Jeder treu bewahren soll, noch viele sittliche Geheimnisse des Herzens haben, die wir Niemanden offenbaren, die wir keinem Freunde anvertrauen, die wir nicht einmal unS selbst aufklaren und von dem Lichte Gottes durchdringen lassen mögen! O we.r da Arges thut, der hasset auch das Licht, daß seine Werke, nicht offen­ bar und, von dem Lichte gestraft werden; man kann nicht Trauben lesen von den Dornen, oder Feigen von den Disteln) wir müssen also das zuerst, merken und feststcllen, daß man von dem versteckten und die Hauptabsichten seines Willens und Strebens ver­ bergenden Menschen nie etwas Gutes und Heilsames erwarten darf.

Er zeigt sich vielmehr durch die offene That bald in seiner ganzen Verworfenheit. Ein guter Baum kann nicht arge Früchte bringen und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. Menschen, die in Schafskleidern zu uns kommen, gewinnen zwar oft eine gewisse Achtung und ein gewisses Vertrauen; man öfnet ihnen den Zutritt in die Familien, man trägt ihnen wichtige Geschäfte auf, man lobt und preißt sie und stellt sie Anderen als Muster dar, man erwartet nur Großes und Rühmliches von ihrem Glauben, von ihrer Tugend und Frömmigkeit. Aber un­ erwartet vernimmt inan ein großes Unrecht, einen kühnen

Frevel, ein schändliches Verfahren von ihnen; sie machen sich mancher Sünde schuldig, die nicht etwa aus Schwach­ heit und Uebereilung, sondern frei, bedächtlich und mit bösem Vorsatze vollbracht ist; wir können nicht begreifen, wie diese Menschen so schnell haben fallen, so tief haben sinken können; wir staunen, sind bewegt und bestürzt und werden zuletzt in dem Glauben an die Menschheit und in dem Vertrauen auf ihre Tugend irre. Freunde, die ihr so sprecht und urtheilt, wundert euch nicht über di« Ge­ fallenen, sondern über euch selbst und eure Blindheit; die Heuchler, die euch so lang betrogen haben, sind nicht erst böse geworden, wie ihr wähnet, sondern sie zeigen sich jetzt nur in ihrer wahren Gestalt; sie haben da> wo sie von euch nicht mehr gesehen wurden, mir die Larve abgcworfcn, hinter der sie sich so lang zu verbergen wußten ; sie mögten sie auch jetzt, wo man sie unerwartet in ihrer wahren Gestalt erblickt hat, gern wieder nufnehmen und sich in Enget des Lichtes verstellen, wenn nur die offenkundige und nun kaum mehr zu verheimlichende That den Belial nicht enthüllt und in seiner unwürdigen Per­ sönlichkeit der Welt vor Augen gestellt hätte. Habt ihr daher Bekannte und Freunde, die sich zwar eurer Offen­ heit und Zutraulichkeit freuen, die aber ihr eigenes Trei­ ben und Wirken euch sorgfältig verbergen und, wie ein scheues Wild, ihre eigene Spur verkehren, o so hütet euch,

ihnen zu trauen und von ihnen etwas Gutes zu erwarten; so gebt es ihnen vielmehr zu erkennen, daß ihr sie durchschauet und eurer Achtung nicht werth findet; so wundert euch wenigstens nicht, wenn euch ein großer Frevel von ihnen berichtet und eine ihrer schändlichen Thaten an das Licht gebracht wird. Und wäret ihr euch erst dieser Heimlichkeit und Verschlossenheit eures sittlichen Wirkens selbst bewußt; wäre euch bei eurer Erziehung, bei eurer Abhängigkeit von den Menschen, bei eurer Schwachheit und Unvollkommenheit, Verstellung und Heuchelei selbst zur Gewohnheit geworden; o so rechnet nicht auf die Dauer eurer tauschenden Klugheit; so wisset, daß die Stunde nahe ist, wo ihr fallen, wo ihr euch an Gott und Menschen durch die offene That versündigen und unter der Last der über euch einbrechenden Schmach und Strafe erliegen werdet. Es ist nichts so verborgen, daß es nicht offenbar und nichts so heimlich, daß man die­ ses nicht wissen werde; denn ein faulerBaum, wie schön er auch grünen und blühen mag, kann doch nicht gute Früchte bringen, sondern wird ab­ gehauen und in das Feuer geworfen. Geschähe das aber auch hier auf Erden nicht, so sind doch gewiß alle scheinbare Tugenden deS Menschen, der seine Absichten verbergen muß, für die Ewigkeit verloren. Es werden Viele zu mir sagen an jenem Tast': Herr, Herr, ha. ben wir nicht in deinem Namen geweissagt, haben wir nicht in deinem Namen Teufel aus­ getrieben, haben wir nicht in deinem Namen viel Thaten gethan? Gewiß sind es also große Ta­ lente und ausgezeichnete Kräfte, es sind geistvolle und feurige Männer, von welchen Christus spricht, und die er, sich preisend und ihre Thaten rühmend in jener Welt vor sich erscheinen läßt. Dennoch erklärt er im Voraus, er werde sie nicht für die Seinen erkennen, son­ dern sie als Uebelthäter zurückweisen, weil sie nur Herr,

Herr sagten,

aber in ihrem Inneren

ganz

anders

dachten und das Evangelium nur aus Heuchelei, aus Ei­ gennutz und Ruhmsucht verkündigten. DaS gilt aber auch von uns und allen unseren irdischen Tugenden und Ver­ diensten, wenn fie nicht eine Frucht unseres Glaubens und unserer lebendigen Ueberzeugung, sondern nur ein Werk deS Scheines, des Menschendienstes und der Lohnsucht waren. Du kannst alle Tugenden deS geselligen Lebens üben, kannst dich in deinem Berufe durch große Thätigkeit auszeichnen, kannst mit Menschen, und mit Engeljungen spre­ chen, Land und Wasser umziehen, einen Genos­ sen deines Glaubens zu gewinnen, und selbst deinen Leib brennen lassen. Ist dein Herz dabei nicht rein und aufrichtig vorGott, hast du keine Liebe, kein Vertrauen, keine Zuversicht zu ihm, geht, mit einem Worte, das, was du willst und vollbringst, nicht aus einer würdigen, klaren, und aus dem Glauben kommenden Absicht hervor; so hast du auch deinen Lohn dahin; so wirst du auch mit der Welt verdammt, der du gedient und die du selbst wieder durch deine Verstellung betrogen hast; so sind alle deine scheinbaren Verdienste für die Ewigkeit verloren; es kann, es wird der Herr sich nicht zu dir bekennen, sondern dir deinen Lohn geben bei den Heuchlern und Ucbelthätern. So wichtig ist es für uns Alle, als Christen die Hofnung unseres himmlischen Berufes nicht nur dadurch in uns zu begründen, daß wir Gutes thun und nicht müde werden, sondern auch jede Theilung unseres Herzens, jede geheime Nebenabsicht, jede Heuchelei und jeden Mcnschendienst zu vermeiden und den verborgenen Menschen mit sanftem und stillem Geiste rein und unverrückt zu bewahren, welcher köstlich vor Gott ist. Das wirkt in uns nicht weltliche Klugheit und nicht die bloße Sittenlehre der Vernunft, sondern die Kraft des gött­ lichen Wortes und der Glaube an den Sohn Gottes, der uns von aller Ungerechtigkeit er­ läßt und dem Vater dargestellt hat, daß wir vor

ihm rein, lauter und unsträflich wandeln sol­ len in der Liebe, die da ist das Band der Voll­ kommenheit. Er der keine Sünde that, weil kein Betrug in seinem Munde gefunden ward, reinige auch unsere Herjen von aller Unlauterkeit und Falschheit; er ziehe uns immer naher zu sich durch das Wort der Wahrheit, daß wir eins werden mit ihm, wie er eins ist mit seinem ewigen Vater; er verklare sich in uns Allen durch einen neuen und gewissen Geist und mache uns stark an der Kraft des inneren Menschen, daß wir würdig werden, ihn bald naher zu schauen in seiner himmlischen Herrlichkeit! Amen.

XLIII.

Am neunten Dreieinigkeitssonntage. Text: Epistel 1 Cor. St. X. V. 6 — 13.

Wie nöthig es sei, uns gegen die Versuchungen zum Götzendienste zu wafnen, von welchen wir noch in unseren Tagen bedroht sind.

Preis, Ehre und Anbetung sei dir, dem lebendigen Gott und dem ewigen König; wer dir mit Lust und von Herzen dient, der ist dir angenehm und sei« Gebet dringt durch die Wolken. Amen. M. «. Z.

Wenn wir auf die Taufende und Millionen,

die um uns her diese Erde bewohnen, einen aufmerksamen Blick werfen, so kann unS die große Zahl und das ent­ schiedene Uebergewicht der Heiden und Götzendiener über die Verehrer des wahren Gottes durch Jesum nur mit Unmuth und Traurigkeit erfüllen. Zwar ist eö gerade nicht erfreulich, daß wir Christen, etwa der fünfte Theil unserer Zeitgenossen, unter einander selbst nichts weniger, als ein­ verstanden und einträchtig sind; es ist uns noch unange­ nehmer, daß die Bekehrung Israels, die unS der Apostel verheißt, noch immer große Schwierigkeiten findet und sehr langsam von Statten geht: es ist uns endlich im hohen Grade mißfällig, daß ein mit allen Naturgaben herrlich ausgerüstetes Volk seinen Propheten stolz über Jesum ge­ rade in den Gegenden und Ländern erhebt, wo der Hei­ land der Welt gelehrt, gelitten und sein Leben für die Brüder gelassen hat. Dennoch ist es uns noch viel schmerz, kicher, den größten, schönsten und fruchtbarsten Theil der Erde in den Händen roher Völker zu wissen, zu welchen die Kenntniß deS wahrhaftigen GotteS noch gar nicht ge­ kommen ist; in den Händen zahlreicher Nationen und Stämme, die den Schöpfer der Welt in eitlen, schnöde«, v. Ammvn's Pred, P. II. 19

verzerrten, oft schrecklichen Bildern erfassen; in den Hän­

den von Menschen endlich, die vor diesen Truggestalten einer bethörten Einbildungskraft zittern, beben, niederfallen, ihnen Geschenke und Gaben aller Art, ja selbst noch das Blut von Thieren und Menschen zum Opfer bringen. Eine Erfahrung von Jahrtausenden lehrt unS ja, daß die gesellige, geistige und sittliche Bildung eineS Volke- mit seinem Glauben und seiner Religion immer in der genaue­ sten Verbindung steht; wer nun weder den wahren, leben­ digen Gott, noch da- Licht seiner heilsamen Offenbarung kennt, der kann auch nicht wissen, wozu er bestimmt und berufen ist; dem ist auch das himmlische Reich der Weis­ heit und Lugend, der Vollkommenheit und Freude ver­ schlossen; der kann sich in seiner Lebensordnung, in seinen Wünschen und Hofnungen nur wenig über die Thiere des Feldes erheben, und eben daher auch niemals wahrhaft zufrieden und glücklich seyn. Betrachtungen dieser Art sind für den christlichen Men­ schenfreund nicht nur an sich schon beunruhigend, sondern sie stören auch häufig seine Zufriedenheit mit Gott und sei­ ner weisen und heiligen Weltregierung. Hat denn, fi> spricht er bisweilen zu sich selbst, der himmlische Vater seinen Eingebornen nicht in die Welt gesandt, daß Alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben; warum ist doch die größere Zahl unseres Geschlechtes noch immer

beschlossen unter den Unglauben; warum macht das Christenthum so langsame Fortschritte auf Erden; war­ um sind die Tempel und Altare der Götzen nicht längstens vertilgt und ausgerottet; warum gehen noch immer Tau­ sende und Millionen ohne den Segen wahrer Tugend und Frömmigkeit, ohne die gewisse Hofnung und Zuversicht ei-

nes besseren Lebens aus der Welt? So sprechen wir mit Gott und seiner Vorsehung rechtend, und übersehen doch häufig, waS täglich im Schooße des Christenthums, waS überall in unserer Mitte, ja, was wohl häufig an und in «ns selbst geschieht.

Oder wie, sind auch wir Alle durch

unseren äußerlich bekannten Glauben an Jesum gegen die Gefahr gesichert, nicht verloren zu gehen; ist auch

daS Auge unsres Geistes schon überall so sehr Licht

geworden, daß wir nirgends mehr in der Fin­ sterniß wandeln; nähren nicht auch wir in den Ange­ legenheiten der Religion oft einen Wahn, der dem Heidin-

schen

Aberglauben nahe genug verwandt ist; finden wir

unter unS nicht Menschen genug, welchen der Reichthum,

die Sinnenlust, die Prachtliebe, der Ehrgeiz und die Ruhm­ sucht Götter find; dauert also, um es frei zu sagen, der Götzendienst des Geistes, HerzenS und

Lebens nicht

auch unter uns noch in einer anderen Gestalt,

denselben schädlichen Einflüssen und

Wirkungen,

aber mit

wie in

dem alten Heidenthume, fort? O ein großer Theil der Menschen glaubt ja weniger an Gott, wie er sich durch Christum geoffenbart hat, als an sich selbst, seine Ver­ nunft, sein Herz und seine Liebe; er vergöttert sich mit

allen seinen Unvollkommenheiten und Schwächen

und fällt

dadurch unvermeidlich in die Abgötterei der alten Welt zu­

rück, die er an Anderen so verwerflich und beklagenswerth

findet. Ein eigener Abschnitt der heiligen Schrift, den wir heute zu erklären haben, wird uns hierüber die Be­

lehrungen und Warnungen

mittheilen, die wir bedürfem

Möge sie unS Allen das Licht und die Erbauung gewäh­ ren, die wir unS wünschen!

Wir flehen hierzu um einen

höheren Beistand in vereinter Andacht rc. Epistel 1 Kor. K. X. V. 6 — 13. Das ist aber uns zum Vorbilde geschehen, daß wir unS nicht gelüsten lassen des Bösen, gleichwie jene gelüstet hat. Werdet auch nicht Abgöttische, gleichwie jener etliche wurden; als ge­ schrieben stehet: das Volk setzte sich nieder zu essen und zu trin­ ke«, und stand auf zu spielen. Auch laßt unS nicht Hurerei treiben, wie etliche unter jenen Hurerei trieben, und fielen auf Einen Tag drei und zwanzig tausend. Laßt uns aber auch Chri­ stum nicht versuchen, wie etliche von jenen ihn versuchten, und wurden von den Schlangen umgcbracht. Murret auch nicht, gleichwie jener etliche murreten, und wurden umgebracht durch 19 *

len Verderber. Solches alles widerfuhr ihnen zum Borbilde; es ist aber geschrieben uns zur Warnung, auf welche das Ende der Welt gekommen ist. Darum, wer sich laßt dünken, er stehe, mag wohl zuschcn, daß er nicht falle. Es hat euch noch keine, denn menschliche, Versuchung betreten; aber Gott ist getreu, der euch nicht läßt versuchen über euer Vermögen, sondern macht, daß die Versuchung so ein Ende gewinne, daß ihr es könnet er­ tragen.

Wie Gott, der Herr, die Menschen von jeher durch seinen Geist zur Kenntniß seines reinen und herrlichen Lich­ tes erhoben hat; so haben sie wieder von ihrer Seite einen steten Hang bewiesen, zur Abgötterei, und mit ihr zu allen den Sünden und Lastern zurückzukehren, welche diesen ver­ derbliche« Irrthum zu begleiten pflegen. Das war der Fall bei den Israeliten, als sie sich in der Wüste von dem Dienste Jehova's wieder zu den ägyptischen Götzen wandten; es war das der Fall bei den Korinthern, als sie von dem Tische Jesu zu den Opferfesten der Heiden abfielrn; es geschieht das noch täglich unter uns, wie wenig wir auch glauben mögen, von ähnlichen Gefahren umgebe« zu seyn. Gerade darum wollen wir heute erwä­ gen,! wie nöthig es sei, uns gegen die Ver­ suchungen zum Götzendienste zu wafnen, von welchen wir auch in unseren Tagen bedroht sind. Wir wollen diese Versuchungen zuerst näher kennen lernen, dann aber sehen, wie wir uns ge­ gen sie wafnen sollen.

I. Auch in unseren Tagen umgeben unS von Allen Sei­ ten Versuchungen zum Götzendienste deS BitdeS, die unseren Glauben, der Lust, die unsere Liebe und der Furcht, die unsere Hvfnung be­ drohen. Da nun daS Christenthum selbst nur aus Glau­ ben, Liebe und Hvfnung besteht; so sind es gerade diese Gefahren, die unS aller Wohlthaten unserer Religio« ver­ lustig machen könne«.

Züerst umgeben uns also Berfuchnngen zu dem Gö­ tzendienste deS Bildes, die unseren Glauben bedrohen. Werdet nicht Abgöttische, gebietet der Apostel, gleichwie Jener etliche wurden, als ge­ schrieben steht: daS Volk setzte sich nieder, z« essen und zu trinken, und stand auf zu spielen. Ohne Zweifel beziehen fich diese Worte auf den Dienst des gegossenen KalbeS, den die Israeliten durch Aaron in der Wüste aufrichteten, um sich von Jehovah und sei­ nem Gesetze zu «enden. Gegen eine Thorheit dieser Art ist zwar Jeder unter unS durch die ersten Grundsätze un­ serer Religion vollkommen gesichert; der äußere Bilderdienst, der unter den Christen sonst so ärgerliche Streitigkeiten veranlaßte, hat in unserer Kirche längstens alle Anhänger verloren; wir haben es von Kindheit an gelernt, daß der unsichtbare Schöpfer und Herr der Welt nicht außer unS, sondern in uns selbst wohnt, und eben daher nur im Glau­ ben gedacht und erkannt werden mag. Aber giebt es denn nicht auch einen inneren Bilderdienst GotteS, der für die wahre Frömmigkeit nicht minder gefährlich ist, als der äußere; schwebt da nicht Jedem unter uns eine eigene Gestalt und Form vor Augen, in die er Gottes unsichtba­ res Wesen kleidet; denkt sich ihn der Eine nicht als einen ehrwürdigen Greis, der Andere alS einen barmherzigen Va­ ter, ein Dritter als einen strengen und eifrigen Richter, ein Vierter als einen stillen und ruhigen Geist, der sich wenig um die Welt und ihre Leitung bekümmert? Und wenn wir auch einsehen, daß sich die Größe des Unendlichen mit allen diesen menschlichen Schwachheiten und Unvollkommen­ heiten nicht verträgt: geht da nicht wieder das Leben und die ewige Herrlichkeit Gottes in einem leeren Begriffe un­ ter; wird dann der Gedanke an ihn nicht eine todte Form und ein Umriß ohne Kraft und Fülle; giebt eS nicht auch ein bloßes Bild der Vernunft, welches, gleich einem Stern in weiter Ferne, unser Bewußtseyn nicht mehr erleuchten, also auch unser Herz nicht mehr erwärmen und gute Früchte schaffen kann? Ja, nicht allein die sinnlichen Götterge-

294 stakten deS alten Heidenthums, auch die eitlen Gestalten vnserer Einbildungskraft, auch die leeren und wesenlosen Begriffe unseres Verstandes können uns von dem Glauben

an den allein wahren und lebendigen Golt entfernen und uns zu einem Götzendienst« führen, der unS aller Erg« nungen deS Christenthums verlustig macht. Noch gefährlicher sind die Versuchungen zu dem Gö­ tzendienste der Lust, di« unsere Liebe bedroht. Auch lasset uns nicht Hurerei treiben, fahrt der Apo­ stel fort, wie etliche unter Jenen Hurerei tritt ben und fielen auf einen Tag drei und zwanzig tausend. Als nemlich ein großer Theil des jädi. schen Volkes sich in der Wüste dem BaalSdienste ergeben und mit den Moabitern befreundet hatte, nahmen mit der Abgötterei auch die wildesten Ausschweifungen der Sinn­ lichkeit überhand; so daß Moses zuerst über die Obrigkei­ ten ein strenges Gericht ergehen und dann im Eifer prie­ sterlicher Gewalt dem herrschenden Greuel durch ein furcht­ bares Blutbad Einhalt thun ließ. Unordnungen dieser Art ist nun zwar unter Christen durch die Reinheit und sitt­ liche Strenge ihrer Religion hinreichend vorgebeugt. Aber warum warnt denn Paulus seine Korinther so nachdrück­ lich vor dem Rückfall zu dieser heidnischen Lüsternheit; warum gedenkt er an einem Orte derer mit großem Ern­ ste, welcher Ende ist die Verdammn iß, welchen der Bauch ihr Gott ist; warum können wir noch im­ mer mit einem andern Apostel nicht oft genug daran er­ innern, daß Augenlust, Fleischeslust und hof­ färtiges Leben nicht vom Vater, sondern von der Welt ist; warum wird nicht leicht unter uns ein Wort mit so großem Mißfallen und innerem Widersprüche vernommen, als das Gebet: habt nicht lieb die Welt, noch waS in der Welt ist; denn so Jemand die Welt liebt, in dem ist keine Liebe des Vaters mehr? Darum, weil die Lust und Begierde noch mit der. selben Gewalt und Starke in unseren Gliedern herrscht,

wie in den Tagen der Vorzeit; darum, weil die Bildung der großen und kleinen Welt von der Verfeinerung^ der Sinnlichkeit ausgeht und mit ihrer Befriedigung aufhört;

darum, weil Alles reich werden und sich in Purpur und köstliche Leinwand kleiden will; darum, weil man die Freuden der Tafel, der Unmäßigkeit und Ueppig­ keit, des Spiels und Vergnügens weit höher achtet, als die Freuden eines guten Gewissens; darum namentlich, weil die Liebe deS Geschlechtes alle Schranken der Zucht und Ordnung durchbrochen und sich, wie bei den unedelsten Thieren, in ein gemeine- Bedürfniß verwandelt hat; darum endlich, weil die Mehrzahl nicht nur das Alles thut, sondern auch ein Gefallen an denen hat, die also

handeln. Getaufte und Christen des Namens versam­ meln sich zwar schaarenweise an jedem Tage des Herrn: aber im Leben und Wandel betet häufig Jeder wieder einen Götzen seiner Selbstsucht bei einem reichen Mahle, unter lautem Becherklang, in den Schätzen und Vorräthen seines HauscS, in der Pracht seines Gewandes, im bethörenden Glücksspiele, in den berauschenden Umarmungen einer fal­

schen und unwürdigen Liebe an; vergessen, verschwunden ist der lebendige, der heilige, der einzig wahre Gott aus der armen, betrogenen Seele, weil mitten im Schooße des Christenthums die schnöde Abgötterei der Lust sich der Menschen bemächtiget hat. Eben so häufig sind zuletzt die Versuchungen zu dem Götzendienste der Furcht, die unsere lieb­ sten Hofnungen bedroht. Murret auch nicht, spricht der Apostel, gleichwie Jener etliche murre»

ten, und wurden umgebracht durch den Ver­ derber. Das waren die furchtsamen, welche erschraken vor der Nachricht der Kundschafter des gelobten LandeS; sie murreten gegen Gott, wollten mit Weib und Kind zurückjiehen nach Aegypten, und mußten deswegen ohne Trost und Hofnung in der Wüste sterben. Gewiß ein sprechen­ des Bild der Furcht, mit der wir Alle am Schlüsse unse-

rer irdischen Laufbahn fu kämpfen haben. So lange zwar das Blut sich rasch in unseren Adern bewegt; so lange

die Kraft des Lebens mächtig auö unserem Herzen vor­ dringt und nirgends Ziel und Grenze zu finden scheint; so lange sind wir auch sicher und getrost, und wandeln freudig und übermüthig auf unserer Bahn, als ob wir

den Schauplatz unseres irdischen Wirkens nie verlassen dürften. Hat hingegen unser sinnliches Leben den höchsten Gipfel seiner Kraft erreicht; fangen wir an zu verblühen und die Schwachheiten des Alters zu fühlen; bleiben end­ lich alle Mittel ohne Erfolg, unS zu verjüngen und An­ deren die Hinfälligkeit unserer Gestalt zu verbergen; dann verschwindet unser Leichtsinn, unser Muth und Uebermuth; dann sehen wir mit Bangigkeit in die nahe Zukunft hin­ aus ; dann ist der wirderkehrende Herbst, dann ist der An­ blick eines offenen Grabes, dann ist der Abschied von einem sterbenden Freunde so ergreifend für uns, daß wir uns in die traurigsten und schwermüthigsten Betrachtungen versenken: wir werden dann, den Israeliten gleich, aus Furcht des Todes Knechte, und zittern vor dem Gedanken, daß wir in dieser Wüste «mkommen und das gelobte Land einer besseren Zukunft nicht schauen werden. Warum nun ist diese Stimmung des Gemüthes so allgemein und herr­ schend; warum ist der Glaube scheidender Männer und Greise oft viel schwächer, als das Gottvertrauen sterben­ der Jünglinge und Jungfrauen; warum sind oft gerade diejenigen die Muthlosesten, die sich so laut ihrer gebildeten Vernunft und hohen Weisheit rühmten; warum geschieht das endlich unter Christen, die es wissen können und sollen, der Herr werde unsere Versuchung ein Ende gewinnen lassen, daß wir sie zu ertragen ver­ mögen? CS ist der Götzendienst der Furcht, die über uns einbricht, wie ein gewapncter Mann; es ist die

Dienstbarkeit des Schreckens vor dem Tode und der Zer­ störung, unter deren unwürdiges Joch sich Reiche und Arme, Vornehme und Niedrige, Weise und Thoren mit gleicher Ohnmacht deS Glaubens beugen; es ist die Herr-

schäft der Eitelkeit und des knechtischen Geistes, die

uns nichts Gutes von Gott erwarten laßt, sondern un­ ter Seufzern und Klagen den letzten Hauch dec Angst unserer kämpfenden Brust entreißt. Sind das nicht aber dieselben traurigen Gedanken, mit welchen die scheidenden Israeliten aus der Welt giengen; find das nicht dieselben Bilder der Furcht und des Entsetzens, die den sterbenden Heiden auf seinem Lager umschwebten; ist «S endlich zu viel gesagt, wenn wir alle diese Regungen des Wahnes, der Lust und Furcht Versuchungen zum Götzendienste nennen, die wir bekämpfen, gegen die wir uns wafn en Und sichern müssen? Das ist noch der ändere Ge­ genstand, dem fich unsere Betrachtung zuwenden wird.

II. Die mancherlei Versuchungen zur Abgötterei, die wir mitten im Schooße des Christenthums noch zu fürchten haben, können nur überwunden werden, wenn wir Gott als unseren liebevollen Vater in Christo ver­ ehren, die höheren Freuden des göttlichen

Reiches fleißig vor Augen haben, und ein lebendiges Vertrauen zu Gott aus der Ge­ schichte unseres eigenen Lebens schöpfen.

Nichts kann unseren Glauben so-sehr gegen jede Ab­ götterei deS Bildes fichern, als wenn wir Gott als unseren liebevollen Vater in Christo vereh­ ren. So haben wir nur einen Gott und Va­ ter, lehrt der Apostel, von welchem alle Dinge sind, und einen Herrn Jesum Christ, durch wel­ chen alle Dinge find, und wir durch ihn. Wohl wußte Paulus, daß wir in der ganzen weiten Welt nichts finden, was dem Ewigen ähnlich sei, als den Gedanken des Höchsten in uns selbst; darum lehrt er an einem anderen Orte, er ist nicht fern von einem Jeglichen un­ ter uns, denn in ihm leben, weben und sind wir. Auch war es ihm nicht unbekannt, daß dieser gött«

liche Gedanke in uns nur durch «ine aufmerksame Be­ trachtung der Natur geweckt, belebt und auSgebildet wer. den könne; darum erinnert er: Gottes unsichtbares Wesen wird ersehen an den Werken, nemlich an der Schöpfung der Welt, also, baß sie keine Ent­ schuldigung haben. Aber nun setzt er auch de« Glau­ ben an einen Gott und Vater, von welchem all« Dinge sind, -in die genaueste Verbindung mit dem Glauben an einen Herrn, durch welchen alle Dinge sind; er will also den rechten Vater über AlleS, waS da Kinder beißt im Himmel und auf Erden, zugleich als den Vater unseres Herrn Jesu Christi verehrt wissen, durch welchen er unS sitt« lich umgeschaffen und z« Erben seines seligen Himmelrei­ ches bestimmt hat. Ist das nicht aber der einzig sichere Weg deS Glaubens zur Wahrheit und zum Leb e n; wird nun unsere Einbildungskraft, welche die Gott­ heit so gern in ein eigenes Gewand kleidet, nicht in weisen Schranken gehalten; hat die Vtrnunft nun nicht vollen Raum gewonnen, sich den unendlichen Schöpfer, so weit wir das bei unserer Schwachheit vermögen, in seiner vol­ len Größe und Herrlichkeit zn denken: und wenn sie dann, wie wir Alle dazu versucht werden, ihre Grenzen über­ schreiten und bei dem Anblicke des unendlichen Weltalls in der unendlichen Ewigkeit seines Schöpfers versinken will, gewinnt sie dann nicht wieder einen festen Grund in der Gewißheit, daß dieser unbegreifliche Herr der Majestät unser Freund und Vater in Christo ist, durch den er uns im Glauben mit sich vermählen, durch den er uns stufen, weise zur näheren Gemeinschaft seiner Liebe und Herrlich­ keit erheben will? Ja, nun erst haben wir einen Sinn erhalten, den Wahrhaftigen zu erkennen und in ihm in seinem Sohne zu seyn; nun kann das Licht seiner Erkenntniß in unS nicht erlöschen, oder verdunkelt werden; nun fühlen wir uns gegen alle Trugbil­

der des Aberglaubens und Unglaubens, und was damit vollkommen gleichbedeutend ist, gegen alle Versuchungen

deS Götzendienstes gesichert, weil wir durch den Sohn Gottes das Leben haben und mit dem Vater eins sind.

Nichts kann uns gegen alle Versuchungen zum Götzendienste der Lust kräftiger schützen, als der Gedanke, daß in Gottes Reiche nur der erlaubte Sinnengenuß rin Uebergang zur hö­ heren Freude wird. Gewiß ist an sich in der Schöpf­ ung Alles gut, und nichts verwerflich, waS mit Danksagung empfangen wird; die Himmel er­ zählen nicht umsonst die Ehre GotteS, und die Erde ist nicht zum bloßen Anschauen seiner Güter voll; nein, er will uns sättigen mit Wohlgefal­ len und unsere Herzen mit Speise und Freude er­ füll en. Aber gerade deßwegen, weil diese Sinnenfreuden flüchtig und vergänglich sind, will Gott, daß wir sie mä­ ßig und mit reinem Herzen genießen; darum warnt er uns bei jeder Regung sinnlicher Begierden, daß wir nicht Schaden an unserer Seele leiden; darum richtet er unsere Blicke in die Höhe und läßt uns hoffen, baß unS etwas Besseres vorher versehen ist; darum belehrt er uns, daS Reich GotteS sei nicht Essen und Trinken, sondern Friede und Freude jn dem heiligen Geiste; darum gebietet er uns, ein reines Gewissen vor Gott und Menschen zu bewahren, daß unsere Freude vollkommen werde und wir immer mehr Theil nehmen an seiner gött­ lichen Natur. Wer urtheilt nun richtiger und weiser, der, welcher Alles, waS unsere Sinne reitzen kann, nur als den Anfang deS wahren Wohlseyns betrachtet, oder der, welcher mit den Thieren die irdische Lust für daS Höchste und Einzige hält? Wer sorgt mehr für sein wah­ res Heil, der, welcher mäßig und zufrieden in Gott und feiner Liebe bleibt, oder der, welcher im Taumelsei­ ner Begierden sich von seinem Schöpfer losreißt und ein unreines und beflecktes Gewissen in seiner Brust

trägt? Wer kann ruhiger diese Welt verlassen, der, welcher sich sagen muß, du hast dein Gutes genossen in diesem Leben und nimmst nun deinen Lohn da­ hin, oder der, welcher sprechen kann, ich habe mei­ nen Lauf vollendet, ich habe Glauben gehal­ ten, forthin ist mir beigelegt btt Krone der Gerechtigkeit, die mir Gott, der gerechte Rich­ ter geben wird? Diese Ansicht der wahren Vollkom­ menheit, der wahren Liebe und Freude fasset, und euer Herz wird sich erweitern, es wird sich ein Verlangen nach höheren, geistigen, himmlischen Gütern in eurer Seele re­ gen; ihr werdet dürsten nach dem lebendigen Gott, daß ihr sein Angesicht schauet in Gerech­ tigkeit und selig erwachet nach seinem Bilde; wie PauluS werdet ihr Alles für gering und für Schaden achten, auf daß ihr Christum gewin­ net. Wie der Mann abthut, was kindisch ist, so werdet auch ihr abthun die weltlichen Lüste, die gegen die Seele streiten, und muthig euer Haupt erheben, bis der Tag eurer Erlösung kommt; die Herrschaft deS vergänglichen Wesens, der entwürdigende Götzendienst gemeiner Lüste und Begierden wird verschwinden, und ihr werdet durch Geduld in guten Werken nach dem ewigen Leben trach­ ten, wo Preis, Ehre und unvergängliches We­ sen über eurem Haupte ist. Nichts kann unS kräftiger gegen alle Versuchungen zu dem Götzendienste der Furcht sichern, alS das Vertrauen zu Gott, welches wir aus der Geschichte unseres eigenen Lebens schöpfen. Gott ist getreu, lehrt der Apostel, oder wie der Pro­ phet spricht, es mag wohl eine Mutter ihres Kindes vergessen, aber der Herr vergißt dei­ ner nicht; er hat dich in seine Hand gezeich­ net, er wird dich herausreißen und zu Ehren bringen und dich schauen lassen sein Heil. Mit

dieser Wahrheit verbindet jedoch Paulus noch die Erin­ nerung, es hat euch noch keine, denn mensch­ liche Versuchung betreten; auch künftig wird euch der Herr nicht über euer Vermögen versuchen, sondern die Versuchung ein Ende gewinnen lassen, daß ihr sie zu ertragen vermögt. Ist denn aber das, was die korinthische Gemeinde in einer bedrängten und leidensvollen Zeit erfuhr, -nicht noch die Geschichte jedes Einzelnen unter uns; hat dich der Herr nicht dein ganzes Leben hindurch weise und väterlich ge­ leitet; hat er dir unter schweren Anfechtungen und Ge­ fahren nicht immer seine schützende Hand gereicht; hat er deine Leiden, deine Trübsale und Prüfungen nicht immer zu deinem Besten gelenkt; hat es da, wo es dir um Trost und Hülfe bange war, nicht immer der Ausgang bewie­ sen, daß der Rath des Herrn zwar wunderbar ist, aber daß er Alles herrlich hinausführt? Und der Ewige und Wahrhaftige, welcher treu ist in al. len seinen Worten, sollte nur dich allein in seiner Ver« heißung täuschen; er, dessen Aufsehen so lange bis. her deinen Athem bewachte, sollte nun von dir seine Hand abziehen, wo dich Mangel und Noth umgiebt; er, der so lang bisher deine Unwissenheit und Schwach, heit getragen hat, sollte dich nun verlassen, wo du ihn kennest, verehrest, liebest, wo du sein Kind und sein Erlö­ ster bist; er, der dich so viele Jahre mit Wohlgefallen gesättigt hat, sollte dich nun verstoßen, wo das ewige Leben mit seinckn Lichte und seiner Herrlichkeit dein einzi­ ger Wunsch und deine höchste Sehnsucht ist? Nein, du treuer Gott und Vater, die Furcht ist nicht in der Liebe, denn die vollkommene Lsebe treibet die Furcht aus; daS fühle und empfinde ich, wenn ich gerührt und dankbar auf die Laufbahn meines Lebens zuruckschaue; das nehme ich in den Stunden frommer Erhebung wahr, wenn ich leidend, duldend und kämpfend meine kindlichen Blicke zu dir emporrichte; diese Erfahrung zieht mich naher an dich und an dein Vaterherz und rüstet mich aus mit Kraft

und Muth und Hofnung, die nicht zu Schanden werden läßt. Und so verschwinde dann auf immer auS unserer Mitte der Götzendienst des WahneS und deS Bildes, der uns von dir und deinem ewigen Lichte trennt; der Götzendienst der Furcht, und Bangigkeit, der uns die Zukunft verdunkelt und das nahe Grab in eine Nacht deS Schreckens hüllt! Vor dir zu wandeln im Lichte, in der Wahrheit, in der Gerechtigkeit und Liebe, das soll unsere Pflicht, unser Beruf, unser treuer und beständiger Got­ tesdienst seyn; denn wer ein heilig Leben führt, der ist dir nahe undwird dich schauen imLande der Lebendigen. Amen.

XLIV. Am zehnten Dreieinigkeitssonntage. Text: 1 Petr. K. III. V. 4.

Daß der Christ nur durch eine fortgesetzte Veredelung seines Inneren Gottes Freund werden kann.

Dem, der überschwenglich thun kann über Alles, was wir bitten und verstehen, nach der Kraft, die in uns wirket, dem sei Ehre in der Gemeine Christi von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

M.

a. 3. Bei der nöthigen Kenntniß der Welt wird jeder unbefangene Beobachter gestehen müssen, daß in un­ seren Tagen die Bildung des äußeren Menschen einen Grad der Vollkommenheit erreicht hat, welcher schwer zu über­ treffen seyn wird. Denn werfen wir einen Blick auf die Bedürfnisse des sinnlichen Lebens und ihre Befriedi­ gung; so finden wir einen Reichthum von Bequemlichkei­ ten, Hülfsmitteln und Genüssen, welcher Alles zu erschöp­ fen scheint, was die lebhafteste Einbildungskraft zu er­ sinnen und selbst die überreizte Begierde zu wünschen ver­ mag. Wenden wir uns zu den Künsten, die das Leben verschönern, und zu den Wissenschaften, die den Ver­ stand bereichern und unS die Natur unterwerfen; es bietet sich uns eine Thätigkeit, ein Wetteifer, eine Mannichfal« tigkeit und ein Tausch von Gedanken dar, der unseren gan­ zen Welttheil in Bewegung setzt und uns immer neue Blüthen und Früchte geistiger Bildung darbietet. Begreif­ lich müssen durch diese Vortheile auch die Freuden des Umgangs und der Mittheilung gewinnen; denn wie sehr sich die verschiedenen Stande und Ordnungen der Ge­ sellschaft auch wieder abzustufen und in sich abzuschließen versuchen, so zieht sie doch das gemeinschaftliche Ver­ gnügen, und vor Allem die gemeinschaftliche Anregung der Gemüthswelt wieder in gemischte Kreise herein, in welchen sich Achtung und Wohlwollen begegnet, oder doch den Schein beider durch freundliche Manier und Sitte zu be». Ammons Pred. B. 11. 20

Häupten strebt. Kein Wunder also, wenn die Bildung deS äußeren Menschen fich auch durch eine lebhaftere Theil­ nahme an den öffentlichen Angelegenheiten der Gesellschaft kund thut. Denn überall, wo der LuxuS die Sinnlichkeit verfeinert, wo Kunst und Wissenschaft die Kräfte des Geistes weckt und in Anspruch nimmt, da er­ wacht auch die Freiheitsliebe und bas Ehrgefühl des Men­ schen ; da verlangt und fordert er auch mehr, weil er mehr bedarf; da ist ihm auch jeder Druck des Unrechts em­ pfindlicher und schmerzlicher, und er ist daher unaufhörlich auf Mittel bedacht, feinen Zustand zu verbessern, seine Lasten zu erleichtern und fich in seinem äußeren Berufe mit einer Freiheit zu bewegen, die nur durch die unerbittliche Nothwendigkeit des Gesetzes begrenzt wird. Wie beifällig wir indessen aus dem Gefichtspunkte des Weltbürgers diesen Zustand der Dinge auch würdigen mö­ gen, so macht uns doch an ihm wieder die Bemerkung irre, daß Vielen unserer Zeitgenossen ein wesentlicher Be­ standtheil des wahren Glückes und Lebensgenusses zu feh­ len scheint, die Zufriedenheit. Mehr, als jemals, find unseren sinnlichen Wünschen und Bestrebungen alle Reiche der Natur, alle Künste und Erfindungen und

durch den lebhaften Verkehr des Handels fast alle Welt­ theile zinsbar; aber je mehr wir sehen, schauen, hören, empfinden und genießen, desto weniger genügt uns die Gegenwart; kaum ist uns ein neues Vergnügen und ein

neuer Sinnenreiz bereitet, so folgt ihm schon Gleichgültig­ keit und Ueberdruß; wir eilen von einer Lust zue anderen und werden doch zuletzt immer unmuthiger und trauriger, je mehr wir uns erlustigen wollten. Keine Kraft unseres Gemüthes wird so sehr angeregt, beschäftigt, gereizt und genährt, als die Einbildungskraft; aber je mehr wir unsere Anschauungen häufen, ihre Formen wechseln, unsere Dichtungen vervielfältigen und sie bis zum Unglaublichen und Unnatürlichen steigern, desto bewegter und unruhiger fühlen wir uns; unsere Entzückung, unsere Bezauberung verschwindet, wie ein Traum, und die herrlichsten Blumen deS Lebens verdorren unter unseren Händen, noch ehe wir auS

ihnen den unverwelklichen Kranz himmlischer Schönheit ge« flochten haben. Nicht einmal die Wissenschaft und der gesellige Umgang gewähren uns immer die Hei­ terkeit und Freude, die wir uns wünschen; denn je unge­ duldiger wir jene zu ergründen streben, desto unfehlbarer versinken wir in ihre bodenlose Tiefen, und je vertrauter wir mit allen Erheiterungen fröhlicher Geselligkeit gewor­ den sind, desto ärmer und verlassener fühlt sich oft daS Herz von jenem Muthe, jenem Troste und jener Zuversicht, die nur die wahre und innige Freundschaft gewähren kann. Lernen wir aber hieraus nicht deutlich, daß die Bildung des äußeren Menschen uns nicht das wahre Ziel deS Le­ bens darzubieten vermag; würden wir sonst bei unserem Wissen so ungewiß, bei unseren Genüssen und Vergnü­

gungen so unglücklich seyn können; muß es also nicht ein anderes, ein höheres, ein kn uns selbst liegendes Ziel wahrer Würde, Vollendung und Seligkeit geben, das wir in das Auge fassen, dem wir mit der vollen Kraft unseres Herzens zustreben sollen, wenn wir unsere Bestimmung erreichen, Gottes Freunde werden und in seinem Lichte wandeln wollen? Hierüber ernstlich nachzudenken, ist nicht nur eine wichtige Aufgabe der Religion, zu der wir uns bekennen, sondern auch ein dringendes Bedürfniß Unserer Zeit. Darum treten wir zuerst vor den Thron des Va­ ters, der uns aus der Finsterniß berufen hat ju seinem wunderbaren Lichte, und flehen um seinen Beistand

in

stiller Andacht rc.

Text:

1 Petr. K. III. V. 4.

Der verborgene Mensch des Herzens ünverrückt, mit sanftem und stillem Geist, daS ist köstlich vor Gott.

Wie die Apostel unseres Herrn jede Gelegenheit wahr­ nahmen, die Mitglieder ihrer Gemeinden zur Ausbreitung des Evangelii durch Wort und That zu ermuntern, so for­ dert Petrus diesesmal auch die Frauen auf, diejenigen, welche noch nicht glaubten, ohne Wort zu ge­ winnen. Diesem wichtigen Berufe sollten sie also nicht durch Lehre, Vortrag, Schmuck und Geräusch, sondern

20 *

einzig und allein durch stille Würde, durch einen frommen Wandel, durch die Reinheit und Veredelung des inneren Menschen genügen, welcher köstlich vor Gott ist. Bestimmt und deutlich spricht demnach Petrus in diesen Worten die wichtige Wahrheit aus, daß nach den Grund­ sätzen des Christenthums die äußere Gottesverehrung dann erst einen Werth hat, wenn sie den Verstand erleuchtet, das Gemüth erhebt, das Herz veredelt und ihm eine nie verfiegende Quelle des Friedens und der Freude öfnet.

Das ist es denn, was auch wir irt dieser Stunde beherzt gey wollen, indem wir gemeinschaftlich erwägen, daß der Christ nur durch eine fortgesetzte Veredelung

seines Inneren Gottes Freund werden kann. Wir wollen zuerst diese Ueberzeugung bei uns 6e» gründen, dann aber überhaupt sehen, wie wir uns dieser Veredelung befleißigen sollen.

I Der

Christ kann nur durch die fortgesetzte

Veredelung seines Inneren Gottes Freund werden, weil nur sein innerer Mensch der wahre Mensch, der sittlichen Veredelung fähig, der Gemeinschaft mit Gott würdig, und mit allen Anlagen zu einer seligen Unsterblichkeit ausgerüstet ist. Nur der innere Mensch ist de.r wahre, oder wie der Apostel sagt, der verborgene Mensch des Herzens, in dem wir das eigentliche Wesen unserer Na­ tur zu suchen haben. Im gemeinen Leben urtheilen wir zwar anders; wir suchen das Unterscheidende und Persön­ liche des Menschen fast ansschließend in seiner Gestalt, in seinen Blicken und Mienen, in der Art und Weife, wie er unS erscheint und unsere Sinne anspricht; wir find daher so ängstlich um sein Daseyn und Wesen bekümmert, wenn

er von einer schweren Krankheit befallen wird; und wenn er sein Auge schließt, wenn sein entseelter Körper in das Grab gesenkt und der Erde wicdergegeben wird, von der er genommen ist, so können wir uns oft

der Bcsorgm'ß nicht entschlagen, er möge aus dem Lande der Lebendigen ganz verschwunden und eine Beute der Ver­ nichtung geworden seyn. Aber ist denn Alles, was wir an dem Menschen sehen, schauen und fühlen, mehr als ein bloßer Wiederschein seines inneren Wesens; ist die Kraft seines Lebens, die Würde seines Antlitzes, der Sinn seiner Töne und Worte nicht der bloße Ausdruck einer unsicht­ baren Natur; bewegt sich, denkt, will und handelt nicht ejn Geist in ihm, der mit unseren sinnlichen Wahrneh­ mungen nichts gemein hat; ist er bei allen Veränderungen seines Körpers in seinem Inneren nicht unwandelbar der­ selbe noch am Rande des Grabes, der er in den Tagen seiner Kindheit war? Denkt euch nur einen Gespielen, einen Freund, einen Vertrauten eurer Jugend, den ihr unvermuthet nach Jahren wiederfindet; ihr sehet, schauet, betrachtet ihn aufmerksam und wisset nicht mehr, wer er ist; nun spricht er ein einziges Wort, und ihr erkennt seine Stimme, feilten Sinn, sein Gefühl und sein treues Herz; es ist sein innerer, unsichtbarer Mensch, der mit unverrückter Wahrheit, Redlichkeit und Liebe, mit einem seelenvollen Blicke euer eigenes Herz berührt; nicht in der äußeren, flüchtigen Erscheinung also, sondern in dem ununmittelbaren Ausdrucke seines Geistes und inneren Lebens findet ihr das Wesen des Freundes wieder, daS vor euren Augen verborgen ist. Dieser innere Mensch ist aber auch allein der sittlichen Veredelung fähig. Zum gewöhnli­ chen Fortkommen in der Welt reicht zwar oft schon eine gewisse äußere Bildung hin; wer mit den nöthigen Kennt­ nissen und Fertigkeiten seines Berufes Klugheit, Manier­ lichkeit, und ein anständiges Benehmen verbindet, der bahnt sich oft schon den Weg zu seinem Glücke; die Kinder dieser Welt sind hier gemeiniglich klüger, als die Kinder des Lichtes in ihrem Geschlechte, und haben ihren Lohn dahin. Dringt ihr hingegen tiefer in den Endzweck eures irdischen Daseyns ein; findet ihr, daß Weisheit, Vollkommenheit, Sittlichkeit und Tu­ gend wesentliche Bedingungen unserer Würde und Wohl-

fahrt sind; so weiset euch auch Alles auf euren inneren Menschen zurück, der allein mit stillem und sanftem Geiste zu erfassen vermag, was zu seinem Frieden dient. Hier findet ihr die Freiheit des Gemüthes, an der sich alle Stürme unserer Begierden und Leidenschaften brechen; hier die reinen Quellen der Wahrheit und Erkenntniß, die uns über die Thiere erhebt; hier das heilige Gesetz der Pflicht und des Gewissen-, welches alle unsere Handlungen ordnet; hier die Liebe und das Verlangen nach dem Hö­ heren, Besseren und Himmlischen, welches alle unsere Wün­ sche und Neigungen adelt; hier endlich die Ruhe, Zufrie, denheit und Freude, die alle unsere irdischen Genüsse erst weihen und verklaren kann. Ist eS denn nicht aber diese sittliche Veredelung allein, die uns erst zu wahren Men­ schen bildet; wird sie nicht unter allen Völkern und Stam­ men, selbst von den Thoren und Sündern geachtet; ver­ lieren nicht alle unsere Fertigkeiten, Künste und Einsichten ihren Werth, wenn sie der höheren Leitung des Rechtes und der Pflicht ermangeln; kann irgend eine Schmach, irgend ein Unglück und Elend größer seyn, als wenn wir durch unsere Thaten mit dem Gewissen entzweiet, oder doch in der Blindheit unseres Leichtsinnes von seiner wessen und richtigen Leitung verlassen sind? Nein, nicht umsonst spricht Paulus: ich beuge meine Kniee vor dem Vater unseres Herrn Jesu Christi, daß er euch Kraft verleihe nach dem Reichthums seiner Herrlichkeit, stark zu werden durch seinen Geist an der Kraft des inneren Menschen, damit er durch Christum in sein heiliges Bild verklärt und von Tag zu Tag erneuert werde. Der Natur der Sache gemäß kann uns auch nur un­ ser Inneres einer näheren Gemeinschaft mit Gott würdig machen. So lang die Religion noch in ihrer Kindheit war, gefielen sich die Menschen zwar in dem Wahne, daß sie durch Bilderdienst, durch Opfer und Beobachtung äußerer Gebräuche sich mit dem Herrn der Welt .befreunden und seiner besonderen Huld theilhaftig werden könnten. Dieser Aberglaube ist nun vor den höhe-

rett Belehrungen der Offenbarung verschwunden;

wir wis­

sen, daß nur der Gott nahe ist, der ein heilig Leben führt; wir haben als Christen die Ueberzeugung, daß Gott nicht in Tempeln von Menschenhänden gemacht, sondern in der Tiefe eines reinen HerzenS wohnt; nur dann, wenn wir im Lichte wandeln, haben wir Gemeinschaft mit ihm und sind in dem Wahrhaftiger durch seinen Sohn Jesus Christus. In diesen wenigen Worten finden wir den Inbegriff dessen, was uns das Christenthum über unsere Verbindung mit dem höchsten Wesen sagt; 'wir können

zwar nie hoffen, den Vater aller Vollkommenheit mit un­ seren Wünschen und Bestrebungen in die Welt fichtbarer Erscheinungen herabzuzkehcu, weil er in einem Lichte wohnt, zu dem kein sterbliches Auge dringt; Aber als freie, denkende einer unendlichen Sehnsucht und Liebe fähige Wesen können wir ihn suchen, finden, uns durch Glauben, Wahrheit, Andacht, Gehorsam und Heili­ gung mit ihm vermählen; durch freudiges Rechtthun vor­ dringen zu den Quellen deS ewigen Lichtes und unser eigenes Bewußtseyn immer reiner und herrlicher in der Klarheit seines heiligen Lichtes spiegeln. Ist das nicht aber die höchste Würde und Vollendung unserer Natur; können wir als Menschen und vernünftige Geschöpfe ei­ nen innigeren Wunsch nähren, als den, unserem Herrn und Schöpfer zu gefallen; können wir als würdige Be­ kenner Jesu etwas Höheres erstreben, als durch Christum mit dem Vater eins zu werden und an ihm heranzüwachsen zur göttlichen Größe? O wie elend

und beklagcnswerth würden wir seyn, wenn wir das nicht ahneten, nicht wüßten, es nicht aus den Regungen unse-

res Gewissens, aus dem ganzen Laufe unseres Schicksals erführen! Gott selbst bekennt sich ja zu dieser Hof« nung unseres himmlischen Berufes durch seinen Geist, der unS das Zeugniß giebt, daß wir seine Kinder sind, und daß uns weder Tod, noch Leben von seiner Liebe zu scheiden vermag. So bleibt unS denn noch die Bemerkung übrig, daß

nur unser innerer Mensch mit allen Anlagen zu einer seligen Unsterblichkeit ausgerüstet ist. Könnten wir uns mit Gott nach unserer äußeren und sinnlichen Natur befreunden, so würde diese Gemeinschaft nur sehr kurz und vorübergehend seyn. Ihr sehet und wisset es ja, daß unsere Gestalt verblüht, daß unser Leben ver­ schwindet, daß unsere irdischen Fertigkeiten und Kenntnisse schon in der Rahe des Grabes ihren Werth verlieren, und daß wir in dem unvermeidlichen Kreisläufe der Zerstörung zuletzt Alle wieder zu dem Staube zurückkehren, von dem wir genommen sind. Aber wie mächtig und unwiderstehlich mich die Verwesung uns als irdische Er­ scheinungen in ihre dunklen Tiefen hcrabzicht; so bleibt im Tode doch der innere Mensch mit stillem und sanftem Geiste, welcher köstlich vor Gott ist; der innere Mensch, der seinen höchsten Freund und Wohlthäter erkannt, geliebt, verehrt, und sich im Glauben mit ihm vermählt hat; der innere Mensch, welchen Christus erlößt und in das himmlische Wesen ver­ setzt hat; der innere Mensch endlich, der noch in der Stunde des Scheidens die ©einigen gesegnet und sie mit kindlichem Gebete seinem Schöpfer empfohlen hat. Könnt ihr fürchten, der Allwissende werde dieses Gebet nicht erhören; er werde am Rande des Grabes sein bestes und edelstes Werk zerstören; er werde den Zögling seines Gei­ stes, seiner Huld und Liebe verstoßen und von der ihm ge­ weihten, ihm vertrauenden, zu ihm sich erhebenden Seele gerade da seine starke Hand abziehen, wo sie mehr als jemals seines Beistandes, feiner alles durchdringenden Kraft, seiner verherrlichenden Macht und Gnade bedarf? Nein, er wird fie vom Untergange erretten und zu sich zie­ hen aus lauter Güte; wie seinen Augapfel wird er sie bewahren und sie zur Freiheit der Kinder Gottes, zum neuen und seligen Leben er. wachen lassen; mit dem vollen Bewußtseyn ihres bes­ seren Selbst, mit allen Schätzen ihrer himmlischen Erkennt­ niß, mit allen Früchten deS Glaubens und der Liebe, in dem vollen Besitze der ihr durch Christum erworbenen himm-

lischen Güter wird sie in das reine Licht einer höheren

Vollendung treten; sie wird sich eines neuen und herrli­ chen Baues erfreuen, von Gott erbaut, und ihren Erlöser preisen, der sie von den brückenden Banden irdi­ scher Sinnlichkeit befreiet und ihr ausgeholfen hat zu seinem ewigen und himmlischen Reiche. Das ist der verborgene Mensch des Herzens, mit sanftem und stillem Geiste, welcher köstlich vorGott ist; das ist der bessere Theil unseres Wesens, an dessen Ver­ edelung wir unverrückt arbeiten müssen, wenn wir uns mit ihm befreunden und feinet Gnade würdig werden

wollen; es ist das bekanntlich ein Gegenstand, der nicht nur nach seinen einzelnen Pflichten in jeder unserer an­ dächtigen Versammlungen besprochen wird, sondern der auch überhaupt unsere ganze Aufmerksamkeit verdient, wenn wir uns die Frage vorlegen, wie wir uns dieser Ver­ edelung befleißigen sollen? Das ist das Zweite, was wir noch vor Gott zu erwägen haben.

II. Hier kommt aber Alles darauf an, daß wir uns weder scheu von der Welt zurückziehen, noch iy ihren äußeren Reitzen untergehen, sondern

fleißig auf die Anregungen achten, die uns in unser Inneres zurückführen, und namentlich das Bewußtseyn unsere- besseren Selbst täg­ lich durch Christum in Gott erneuern. Uns nicht scheu von der Welt zurückzuziehen, ist das Erste, was wir zu beachten haben, wenn uns die Veredelung unseres Inneren am Herzen liegt. Die Versuchung hiezu liegt ^ms zwar nahe genug; denn sind wir nur dem Geiste nach göttlichen Geschlech­ tes, so scheint es allerdings, daß wir am Besten für das Heil unserer Seele sorgen, wenn wir die Welt mei­ den, die im Argen liegt, und uns in einem stillen, beschaulichen Leben einzig und allein mit Gott und himm­ lischen Dingen beschäftigen. Bei näherer Beobachtung muß indessen das Einseitige und Nachtheilige dieses Vorsatzes

bald einleuchten. Unser innerer Mensch ist ja, wenn wir diese Erde betreten, noch eine verborgene und schlummernde Seelenkraft; durch die Mannichfaltigkeit äußerer Eindrücke, durch widerstrebende Empfindungen und Gefühle kann fie erst geweckt und zum Bewußtseyn gebracht werden; je mehr du daher stehest, schauest, empfindest, fühlst und im Widerstreite derGedanken, die fich unter einander an­ klagen und entschuldigen, an deine Pflicht erinnert wirst, desto freier bildet, erhebt und bewegt fich dein in­ nerer Mensch; je enger du hingegen den Kreis deiner Anschauungen und Erfahrungen ziehst, desto ungebildeter, unversuchter und unveredelter wird dann dein innerer Mensch werden. Darum hat dir Gott die Natur, die Welt der Freiheit, die lehrreiche Schule des Lebens geöfnet; darum find die vielseitig erfahrenen und geprüften Menschen, wenn fie fest in der Versuchung stehen, auch immer die weisesten und besten; darum mußten selbst Christus und feine Aposiel allenthalben versucht, inMühe und Arbeit, in Hunger und Durst, in Frost und Blöße geübt werden, um zu jener sittlichen Größe und Vollendung her­ anzureifen, in der fie uns ein so schönes und herrliches Vorbild wurden. Auch uns führt daher die Ordnung Got­ tes zur Bildung unseres inneren Menschen nicht durch eine selbsterwählte Geistlichkeit und Absonderung, son­ dern durch vielseitige Erfahrung, durch mannichfache Ge­ schäfte, Leiden und Prüfungen hindurch; wer nie gezwei­

felt hat, der wird auch nie von Herzen glauben, und wer keinen Feind seiner Unschuld und Tugend bekämpft hat, der wird auch nie als Sieger fein Haupt erheben. Nicht der ist aus Gott gebohren, der die Welt flieht, sondern der fie gläubig überwindet, daß sein Hexz fest und Gott in ihm Alles in Allem werde. Wohl aber müssen wir dafür sorgen, daß unsere Freiheit nicht in den äußeren Reitzen und Lü­ sten der Welt untergehe. Es giebt Viele, die, von steter Unruhe getrieben, nirgends lang an einem Orte aus. harren, sondern unaufhörlich ihre Anschauungen, ihren Auf­ enthalt und Wirkungskreis wechseln; daö find Sprößlinge,

di» oft verpflanzt werden und niemals Wurzel schlagen; bei ihnen erwacht und gedeiht daher der innere Mensch mit sanftem und stillem Geiste nicht, welcher köstlich vor Gott ist. Es giebt wieder Andere, die, von den Lüsten und Begierden ihrer finnlichen Natur über, waltigt, den äußeren Genuß des Leben- für ihr höchsteGlück achten; auch bei ihnen ist der innere Mensch noch blind, noch unerleuchtet und geistig todt; denn wer die Welt und ihreLust liebt, in dem ist keine Liebe des Vaters mehr. Abermals andere, dem Anscheine nach bessere Naturen sind zwar von diesen Fehlern frei; sie widmen fich den Arbeiten ihres Berufes mit der Höch« sten Anstrengung; «berste sind der Ewigkeit und sich selbst durch das Drangen und Treiben ihrer Geschäfte entfremdet; auch bei diesen hat die Sorge der Welt den inneren Menschen betäubt, daß er nicht erwachen und zu Gott sich erheben kann. Selbst die Kirche, als eine äußere Verbindung zur gemeinschaftlichen Andacht, kann dem stillen und from­ men Geiste Eintrag thun, welcher köstlich vor Gott ist, wenn wir mit blindem Eifer an ihren Lehern, Gebräuchen und Vorschriften halten und nicht in der Freiheit beharren, die uns Christus erworben hat. Willst du dich daher durch die Veredelung deines inneren Menschen mit Gott befreunden, so wache über dich, daß dich die Reitze und Anregungen der Außenwelt nie gefangen nehmen; so halte fest an dem Gedanken, daß du dem Geiste nach etwas Höheres, Besseres und Edleres bist, als Alles, was du schauen und empfinden kannst; so hüte dich namentlich, daß keine Begierde, die gegen die Seele streitet, kein blindes Ver­ langen der Leidenschaft dein göttliches Geschlecht ent­ weihe und dich, mit Schuld und Unwürdigkeit beladen, in die Tiefe der Vergänglichkeit hinabziehe. Denn wie groß auch unsere natürliche Schwachheit uvd Unvollkommenheit ist, so hat uns doch Gott Alle so in der Welt gestellt und ist uns mit dem Beistände seines Geistes immer so nahe, daß wir, von ihm geleitet, auch in das himmlische

Gesetz der Freiheit durchschauen und selig wer­ den können durch unsere That. Freilich ist es hiebei vor Allem nöthig, fleißig auf die vielfachen Anregungen zu achten, die uns unaufhßrlich in das Innere unseres Herzens zurückfüh­ ren. Bei dem Thiere endigt zwar jede Empfindung nur mit einer dunklen Vorstellung, weil ihm das Bewußtseyn seines Inneren verschlossen ist; bei dir aber soll jede An­ schauung der Außenwelt sich in den klaren Gedanken einer höheren Weltordnung auflösen; du irrest und fehlest und sündigest nur darum so oft, weil du schon urtheilest und handelst, noch ehe deine Gefühle in dir Licht und Klar­

heit geworden sind. Das Thier empfindet wohl die Uebel seiner sinnlichen Natur mit einem dumpfen Schmerzge­ fühle ; für dich aber soll jedes deiner Leiden eine Hemmung deiner sinnlichen Begierden, eine Erweckung deiner geistigen Thätigkeit, eine Anregung der himmlischen Liebe werden, deren heiliges Verlangen der Schöpfer in dein Herz ge­ legt hat, daß du suchest, was droben und nicht das, was auf Erden ist. Das Thier wird wohl durch sinnliche Eindrücke unwiderstehlich zur Begierde fortgerissen, weil es nur Triebe der Willkühr, aber keinen freien Willen hat; in dir aber regt sich ein heiliges Gesetz der Freiheit, wel­ ches dir Gott selbst in dein Inneres geschrieben, das er durch das himmlische Wort seiner Offenbarung gepflegt und im Kampfe des getheilten Gewissens durch die kräftigsten Erweckungen seines Geistes bis auf diese Stunde in dir lebendig und wirksam erhalten hat. Werdet ihr nun euren inneren Menschen mit Gott befreunden können, wenn ihr nicht auf die Ordnung achtet, in der er euch zu sich ziehen und vergeistigen will; wenn ihr Alles, was ihr sehet und höret, leichtsinnig erfasset, ohne es durch stilles Denken und Prüfen in das reine Gold der Wahrheit zu verwan­ deln; wenn ihr noch viel weniger auf die sittlichen Be­ wegungen eures Gemüthes achtet, die aus einer höheren Welt kommen; wenn nicht einmal eure Leiden und Trüb­ sale euch in euer Inneres hereinführen und einen himmli­ schen Sinn in eurer Seele wecken? O daß doch Jeder unter

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uns die mannichfachen Uebel und Anfechtungen, mit welchen er an Geist und Körper zu kämpfen hat, in dieser Beziehung und Abzweckung erfaßte; er würde dann nicht allein ruhiger

und mit seinem Schicksale zufriedener, sondern auch weiser, besser und dankbarer werden; denn, wen Gott lieb hat, den züchtigt er, daß sein innerer Mensch er­

neuert und vollendet werde, wenn er nicht aufdaö Sichtbare sicht, sondern auf das Unsichtbare. Kräftiger, als durch das Alles, werden wir indessen die Veredelung unseres Inneren bewirken, wenn wir das Bewußtseyn unseres besseren Selbst täglich durch Christum in Gott erneuern. Wie uns die Kräfte unserer sinnlichen Natur mit blinder Gewalt in den Schooß der Eitelkeit und Vergänglichkeit hinabzichen; so zieht uns Gott durch die sittlichen Kräfte unseres Gemüthes zu seinem Lichte, zu seiner Vollkommenheit und Herrlichkeit empor; man hat sich selbst und Gottes heiliges Walten noch nicht begriffen, wenn man das noch nicht gelernt und ge­ faßt hat. Aber anders wird unser Gemüth von der Gewalt der Natur, und wieder anders von den himmlischen Mächten ergriffen; denn wer zu Gott kommen will, der muß ihn denken, muß ihn suchen, muß ihn mit einem gläubigen, kindlichen und liebevollen Sinne in sein Inneres aufnehmen, daß er den Geist seiner Wahrheit und Liebe in unser Herz ausgicße und durch seine unverrückte Gemeinschaft uns stufenweise heranbilde zu seiner göttlichen Größe. Wird das aber anders geschehen können, als wenn wir das Bewußt­ seyn unseres sinnlichen Lebens, mit dem wir am Morgen er­ wachen, zur höchsten Freiheit und Klarheit erheben durch das Bewußtseyn unseres besseren Selbst in Gott; als wenn wir das Anschauen des neuen Tages mit dem geistigen Aaschauen seines ewigen Lichtes, das neue Gefühl des wiedergeschenkten Lebens mit der dankvollen Erinnerung an seine ewige Huld und Treue verbinden; als wenn wir der Sehnsucht und Liebe unseres Herzens nun freien Lauf lassen und uns mit der vollen Rührung der Andacht in seine Vaterarme werfen? Und da wir als schwache und sündige Menschen den Vater des Lichtes und der Herrlichkeit immer nur menschlich zu

erfassen vermögen, werden wir ihn besser kn uns aufnehmen können, als durch Christum, das Ebenbild seines Wesens; alS durch den Sohn, in dem er uns geliebt hat, noch ehe der Welt Grund gelegt ward; als durch den göttlichen Menschenfreund, der uns er­ leuchtet, der unser Gewissen von todten Werken reinigt, der unser verwundetes Herz mit seinem Troste, mit seiner Huld und Liebe erfüllt und die Hofnung deS ewi­ gen Lebens in unserer Seele versiegelt? Ja, dir, erhabener Mittler, verdanken wir die Erkenntniß unseres Heils, die da ist in der Vergebung unserer Sünden, dir verdanken wir die erneuerte Gemeinschaft mit dem Vater, zu der uns keine menschliche Weisheit erheben konnte; dir verdanken wir die Heiligung des in unserem Her­ zen verborgenen Menschen, den stillen und sanften Geist, welcher köstlich vor Gott ist. An dir wollen wir uns erheben und aufrichten, wenn uns die Zerstreuungen, die Sorgen und Lüste der Welt von unserem höheren Berufe abjiehen; dich wollen wir vertrauensvoll in unser Herz schließen, daß du an unserem inne­ ren Menschen das große Werk unserer Erlö­ sung' Veredelung und Heiligung vollendest; du sollst unser Führer durch die Versuchungen dieses Lebens, unser Führer durch die dunkle Nacht des Todes seyn. Wer könnte uns besser leiten, als du? Du hast Worte des ewigen Lebens. Amen.

XLVI.

Am fitsten DreieinigkcitSsonntage. Text: Evangel. Luk. K- XL V. 9 — 14.

Wie wichtig es für uns sei- den geistlichen Stolz in seiner ganzen Nichtigkeit zn er­ kennen.

Der Herr verleihe unS Allen herzlicher Erbarmen, Sanftmuth und Geduld, daß wir nichts thun durch Zank oder

eitle Ehre, sondern nur durch Demuth einander höher achten, als uns selbst.

SU Z.

Amen.

Obschon der Hochmuth Anderer in allen fei­

nen Gestalten für uns immer etwas Unangenehmes und Widriges hat? so ist doch der Stolz auf geistige Vorzüge unter allen der beleidigendeste und drückendeste. Macht Jemand seine Schönheit, den Prunk seines Gewandes und seiner Wohnung gegen uns geltend; so find wir bald und leicht getröstet, weil das eine gemeine Eitelkeit ist, die dec

Mensch mit den Thieren gemein hat. Erhebt ein reicher und begüterter Mann, unsere Armuth verächtlich messend, fein schweres Haupt; so fühlen wir unS auch da nicht sehr gedrückt, weil seine Anmaßung eine niedrige, noch an der Erde hängende Denkart verräth. Drängt unS endlich ein Dritter durch die Ansprüche seiner Geburt, seines Ran­ ges und Standes zurück, so ist das mehr empfindlich für den Ehrgeizigen, als für den Besonnenen und Weisen, der auf die äußere Stellung in der Gesellschaft keinen hohen Werth legt. Ganz andere Gefühle regt hingegen der Stolz auf Vorzüge deS Geistes und Herzens in unserem Inne­ ren auf. ES ist unS schon unangenehm, wenn fich Je­ mand einbildet, verständiger und klüger, alS wir zu seyn; eS ist unS noch empfindlicher, wenn er fich durch seinen Geschmack, durch seine Bildung und Gelehrsamkeit über uns erheben will; wir können unseren Widerwillen kaum

mehr zurückhalten, wenn er unS zu erkennen giebt, daß er das Wahre und Gute weit tiefer, als wir, erfaßt, daß er ungleich höhere und reinere Ansichten deS Glaubens ». Ammvn's Prcd. B. TL 21

und der Religion gewonnen habe, als die unsrigen sind. Und dehnt er diese Anmaßung vollends auf seine Person, auf seine Thaten und Tugenden auS, will er uns auch an innerem Werthe, an Sittlichkeit und Frömmigkeit überle­ gen seyn; giebt er es mit einem Worte zu erkennen, daß er uns für unfreie, unwürdige, Gott mißfällige Menschen und gemeine Sünder hält; so erreicht unsere Erbitterung den höchsten Grad, und wir haben dann oft Mühe, uns bei der Abwehr deS Unrechtes in den Schranken der Mä­ ßigung zu erhalten, die wir als Weife und als Christen nie durchbrechen, oder überschreiten sollen. Erfahrungen dieser Art, wie traurig sie auch an sich seyn mögen, haben doch für den aufmerksamen Menschen, beobachtet etwas Lehrreiches und Unterrichtendes. weiter Zwischenraum trennt das stolze Roß von dem zen Geiste, den die Hoffart zur Empörung und zum falle von feinem Schöpfer reizte; dennoch herrscht

Ein stol­ Ab. der Hochmuth auf diesem weiten Gebiete der Kräfte mit großer und immer wiederkehrender Gewalt und ist unS folg­ lich Allen mit seinen Versuchungen und Gefahren nahe. Ein weiter Abstand trennt den rohen Naturmenschen von dem klugen Weltmann«, und dennoch bringt auch die fein­ ste Bildung in dem Wesen des Stolzes keine Veränderung hervor; es sind nur Eigenthümlichkeiten, nur einzelne Stu­ fen und Grade, die den stolzen Künstler, den stolzen Ge­ schäftsmann, den stolzen Gelehrten von dem eitlen Kinde und dem hoffärtigen Landmanne unterscheiden. Die Re­

ligion selbst, die uns doch Alle vor Gott gleich stellen, oder doch an unsere gemeinschaftliche Niedrigkeit vor ihm erinnern sollte, vermag nicht immer unS die wahre Kennt­ niß unserer selbst und das demüthigende Bewußtseyn unse­ rer Schwachheit zu gewähren; denn gerade da, wo sich Jeder zu ihr bekennt, will er auch weiser, erleuchteter, rechtgläubiger und besser, als Andere seyn; die Menschen würben sich als Kinder und Verehrer Gottes nie so hef. tig entzweiet und in die blutigsten Kämpfe verwickelt haben, wenn sie der Stolz des Wahnes und der Hochmuth einer falschen Frömmigkeit nicht vorher verblendet und zu

schweren

Sünden

verleitet

hätte.

Ist denn

nicht ober

gerade diese Aeußerung der Hoffart die gefährlichste und verderblichste: werden wir hoffen dürfen, je zur genaueren Kenntniß Gottes und unserer Pflichten zu gelangen, wenn

wir unS selbst und unsere Unvollkommenheit nicht kennen; wird nicht gerade der Wahn, wir seien schon durch unsere äußere Stellung im Reiche Gottes weiser, besser und wür­ diger, als Andere, unS von der wahren Frömmigkeit und Seligkeit entfernen; werden wir da nicht endlich im An­ gesichte Gottes den höchsten Stolz beweisen, wo Demuth und Selbsterniedrigung unsere erste Pflicht und Tugend seyn soll? Hierüber nachzudenken und durchzuschauen in das himmlische Gesetz der Freiheit,

daß wir

inne werden, wie wir vor Gott gestaltet sind, ist daher dem Zwecke unserer andächtigen Versammlung voll­ kommen angemessen;

Christus, der Herr, wird uns .selbst

dazu auffordern und uns zeigen, daß wir aller und jeder Versuchungen des Hochmuthes mächtig werden, wenn wir

den geistlichen Stolz überwinden, der als.der höchste Gi­ pfel dieser Versündigung zu betrachten ist. Wir erflehen

unS hierzu vor Allen den Geist der Wahrheit, der Selbst­ erkenntniß und Anspruchlosigkeit

in stiller,

vereinter An­

dacht rc.

Cvangel. Luk. K- XVIII. V- 9 — 14. Er sagte .aber zu etlichen, die sich selbst vermaßen, daß sie fromm waren, und verachteten die andern, ein solches Glcichniß: Es gingen zween Menschen hinauf in den Tempel zu beten; einer ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand, und betete bei sich selbst also: Ich danke dir, Golt, daß ich nicht bi« wie andere Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner; ich faste zweimal in der Wache, und gebe den Zehnten von allem, das ich habe. :Und der Zöll­ ner stand von ferne, wollte auch feine Augen nicht aufheben ,ge» Himmel; sondern schlug an seine Brust, und sprach: Gott, sey mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging hinab gerechtfertiget in sein Haus vor jenem. Denn wer sich selbst erHöhet, der wird erniedriget werden; und wer sich selbst erniedri­ get, der wird erhöhet werden.

Daß sich unter allen jüdischen Steten gerade die Pha­ risäer durch eine ungemessene Hoffart in allen Bejiehung. en deS Lebens auszeichneten, ist aus vielen Stellen der heiligen Schrift bekannt. Eie sprachen, wir haben Abraham zum Vater; das ist der Stolz der Geburt, der sie zur bitteren Feindschaft gegen die übrigen Völker der Erde reizte. Sie faßen gern oben über Ti­ sche und in den Schulen; das ist der Rangstolj, der ihnen unter ihrem eigenen Volke so viele Feinde erweckte. Das Volk, das nichts vom Gesetze weiß, spra­ chen sie, ist verflucht; das ist der Stolz der Schrift­ gelehrsamkeit, in dem sie selbst auf Jesum mit der kühn­ sten Anmaßung herabsahen. Der Pharisäer in unserem heutigen Evangelium beweißt nun überdies einen Stolz auf seine Tugend und Frömmigkeit, welchen Jesus, der Herr, in seiner ganzen Blöße und Verwerflichkeit vor Au­ gen stellt. Dadurch sind denn auch wir berufen, es wohl zu erwägen, wie wichtig rS für uns sei, den geistlichen Stolz in seiner ganzen Nichtigkeit zu erkennen. Wir wollen diese Erkenntniß zu­ erst aus unserem Evangelium schöpfe», dann aber sehen, wie wichtig uns diese Ueberzeugung für unser ganzes Leben und Wirken ist.

I. Wenn wir den sittlichen Stolz den geistli­ chen nennen, so folgen wir hier dem Sprachgebrauche der Schrift, welche die Tugenden als Werke des Geistes be­ trachtet und sie immer mit dem Glauben und der Reli­ gion in die genaueste Verbindung setzt. Diesen geistlichen Stolz lehrt uns nun unser heutiges Evangelium in seiner ganzen Nichtigkeit erkennen, weil er seine Anspräche entweder auf die Unterlassung gemeiner Sünden, oder doch nur auf den Besitz geringer Lugenden gründet, und bei aller Unvollkom­ menheit dennoch mit kühner Anmaßung vor Gott zu erscheinen wagt.

Zunächst besteht also die Nichtigkeit des geistlichen Stol­ zes darinnen, daß er seine Ansprüche auf die Un­ terlassung gemeiner Sünden gründet. Als der Pharisäer hinauf gieng in den Tempel, zu beten, erhob er sich sofort bei dem Gedanken, daß er nicht sei wie andere Leute, Räuber, Unge­ rechte und Ehebrecher; er fieng also seine Andacht nicht, wie er sollte, mit einer strengen Selbstprüfung nach dem Gesetze, sondern mit einer Vergleichung an; er wählte dazu nicht etwa die Besseren und Frömmeren, die er in der Versammlung hätte finden können, sondern die gali­ läischen Räuber, die Betrüger und Wucherer, die gemein­ sten und treulosesten Wollüstlinge der Hauptstadt, und weil er von diesen rohen Lastern sich frei wußte, so hielt er sich sofort auch für einen Reinen und Heiligen. Genau so handeln noch immer die Geistlichstolzen auch unter un­ seren Zeitgenossen; sie fangen immer damit an, sich über diejenigen zu erheben, die sie gemeiner Sünden und Ver­ gehungen schuldig wissen; sie gefallen sich sehr, daß sie nicht, wie diese, ausgeschweift, sich nicht mit dem Vor­ wurfe eines Betruges, eines Diebstahls, oder einer öf­

fentlichen Treulosigkeit beladen haben, und weil ihnen Men­ schen hier nichts vorjurücke» wissen, so glauben sie nun auch gerecht vor Gott und seinem heiligen Gerichte zu seyn. Sind das nicht aber AlleS gemeine Ungerechtigkei­ ten, in die nur ganz rohe und von Gott verlassene Men­ schen verfallen; sind das nicht bloße Unterlassungen deS Bösen, die schon das bürgerliche Gesetz von uns fordert; kann man nicht aus mangelnder Gelegenheit alle diese Ver­ bote unterlassen, und dennoch in dem Inneren seines Her. zens ein ganz ungebesscrter Mensch seyn; ja kann mit der Freiheit von diesen Verschuldungen nicht die Falschheit, die Verleumdung, die Heuchelei, die Selbstsucht und eine Menge von Sünden bestehen, die vor Gott noch verwerf, sicher und sträflicher, als die unüberlegten Ausbrüche ro.

her Begierden und Leidenschaften sind? O die wahre Tu­ gend und Frömmigkeit besteht ja nicht in einzelnen Hand­ lungen, sondern in der Einheit und unverrückteu Laurer-

feit der Gesinnung und der inneren' That; wer das ganze Gesetz hält und an einem sündigt, der ist deS Ganzen schuldig; die Unterlassung einzelner Sünden, wie löblich sie auch sonst bei unserer Schwach, heit seyn mag, berechtigt uns also schon darum nicht zum Stolze auf unsere Lugend, weil sie mit einer anderweiten Unreinigkeit und Verwerflichkeit deS Herzens vor Gott nicht bestehen kann. Nichtig ist der geistliche Stolz aber auch deswegen, weil er feine Ansprüche nur auf geringe und zweideutige Tugenden gründet. Ich fast.e zweimal in der Woche, spricht der hoffartige Pharisäer, und gebe den Zehnten von Allem, waS ich habe. Offenbar begeht er in dieser Selbstpreisung einen gedoppelten Irrthum; er halt daS Fasten und Zehnt­ geben für an sich schon gute und fromme Handlungen, da sie doch beide nur Mittel zur Beförderung der Mäßigkeit und des äußeren Gottesdienstes sind; dann aber steht er in dem gefährlichen Wahne, daß, wenn man in diesen kleinen Pflichten mehr thue, als geboten ist, man dadurch den Mangel großer und wesentlicher Tugenden ausgleichen und aufwiegen könne. So giebt Mancher unter uns reich­ licher Almosen, als die bürgerliche Ordnung von ihm for­ dert, und schmeichelt sich nun, manches geheime Unrecht und manche stille Sünde vollkommen getilgt und ausgelöscht zu haben. So gründet ein Anderer den Ruf sei­ ner Frömmigkeit auf die Niedergeschlagenheit seines Bli­ ckes, auf die häufige Wiederholung eines GebeteS, auf die fleißige Theilnahme an andächtigen Versammlungen, und wahnt nun sich einen Reichthum von Verdiensten erworben zu haben, der seinen Neid, seine Bosheit, seine Verleumd­ ung und seine stille Feindseligkeit vor Gott entschuldigen soll. Heißt das nicht aber einen unseligen Geist der Klei­ nigkeit und Engherzigkeit auf dem weiten Gebiete der Tugcnd pflegen, welche JesuS an den Pharisäern tadelt, weil sie Mücken feigten und Kameele verschluckten? Heißt das nicht bei einer schweren Krankheit heute Arzeneien im Uebermaße nehmen, und morgen sich wieder al«

len Ausschweifungen der Unmäßigkeik und Völlerei über« lassen? Heißt das nicht mit einem Worte vergessen, daß uns Gott in jedem Augenblicke unseres Lebens eine eigene Pflicht angewiesen hat, und daß, wenn wir Alles ge­ than haben, wir doch juletzt unnütze Knechte find, die nur thaten, was sie zu thun schul­ dig waren? Wenn du daher fastest, wenn du von Allem, was du hast, den Zehnten giebst, wenn du fleißig den Tempel besuchest, oder das Gebet des Herrn sprichst; so sind das zwar lauter gute und löbliche Hand­ lungen, sobald du sie alö Mittel deiner Erleuchtung, dei­ ner Andacht und Erbauung betrachtest. So wie du dir hingegen einbildest, sie seien an sich schon gut und dem Herrn wohlgefällig; so wie du diese kleinen Tugenden vor Gott geltend machen und den Mangel der Unschuld und Reinigkeit des Herzens durch sie ersetzen willst, fällst du auch in den von Jesu verworfenen Wahn der jüdischen Werkheiligkeit zurück. Dein sittlicher, dein geistlicher Stolz ist vollkommen nichtig und eitel, weil du in der Rech­ nung deines Lebens auf kleine und geringe Tugenden einen viel zu hohen Werth setzest. Diese Nichtigkeit deS geistlichen Dünkels erhellt end'lich auch daraus, daß er bei aller inneren Unvoll­ kommenheit dennoch mit kühner Anmaßung vor Gott zu erscheinen wagt. Ich danke dir Got(, sprach der Pharisäer, daß ich nicht bin, wie andere Leute; er vermaß sich also selbst im Heiligthume, daß ersromm sei, und verachtete die Anderen; noch im Angesicht» des Allgegenwärtigen und Heiligen gefiel er sich in seiner eitlen Hoffart und sprach sie in einem freventlichen Dankgebete vor seinem Richter aus. Und was konnte, was mußte hiezu sein Herz und sein eigenes Gewissen sagen? Es mußte ihn strafen, daß er Anderen schwere Bürden auflegte und sie doch selbst mit keinem Finger regte; es mußte ihm vorwerfen, daß er Anderen das Him­ melreich verschließe und doch selbst nicht hinringehe; es mußte ihn beschämen, daß er lange

Gebete hersagte und doch zugleich der Wit« wen Häuser verschlang; es mußte ihm mit einem Worte sagen, daß er noch «in ganz unerleuchteter und tut« gebesserter Mensch sei, weil er zwar Münze, Till und Kümmel verzinset«, aber dafür das Schwer« sie im Gesetz dahinten lasse, daS Gericht, die Barmherzigkeit und den Glauben. Das ist aber noch immer der Fall bei denen, die bei den grundlosesten Anmaßungen, fromm zu seyn, die Armuth ihres Geistes und die große Unlauterkeit ihres Herzens vergessen. Sie wissen eö, daß vor Gott nur der Glaube gilt, der durch di« Liebe thätig ist; aber sie wollen schon heilig seyn, wenn fie für die Sache Gottes mit Unverstand eifern und daS nur mit dem Munde bekennen, waS mit der Kraft des Geistes daS ganze Herz durchdringen soll. Sie wissen, daß Christus gekom« men ist, uns von der Ungerechtigkeit zu erlösen und uns dem Vater rein und ohne Flecken dar« zustellen; aber sie fahren fort, zu sündigen und wollen nicht erlöset seyn, weil eö ihnen kein Ernst mit der Heiligung ist, ohn« welche Niemand wird den Herrn schauen. Sie entschließen sich zwar gern zu einem guten Werke, solang sie von den Leu­ ten gesehen werden; wenn es aber darauf ankommt, das Auge auszureißen, das sie ärgert und eine schon tiefgewurzelte Lieblingssünde mit innigem Gebet« um Gottes Beistand aus ihrem Herzen zu tilgen, so weichen sie feig und kraftlos zurück und der Zorn des Him­ mels bleibt über ihnen. So kann es uns denn nicht schwer werden, an dem Beispiele des eitlen Phari­ säers den geistlichen Stolz und Dünkel in seiner ganzen

Nichtigkeit zu erkennen; ein Jeder unter uns, der sich ein« bildet, fromm zu seyn, weil er frei von einzelnen Sünden und Lastern ist, der auf geringe, oder doch nur vorberei­ tende Tugenden einen hohen Werth setzt, und der, bei al. ler Unlauterkeit seines noch ungebesserten Herzens, doch mit kühnen Ansprüchen auf die seligmachende Gnade Got­ tes vor seinem Richter erscheint, der ist auch noch fern

von dem Reiche

Gottes und in einem Wahne befangen,

den er nicht bald genug aufgeben und zerstreuen kann. Es erhellt nemlich schon aus unserem heutigen Evange­ lium, wie ungemein wichtig für unser ganzes Leben und Wirken die volle Ueberzeugung von der gänzlichen Nichtigkeit des geistlichen Stol­

zes sei. Ihren genauen Zusammenhang mit unseren Pflichten näher zu erwägen, soll daher auch der zweite Gegenstand unserer heutigen Andacht seyn.

II. Wichtig ist aber die Ueberzeugung, die wir bis­ her zu beleben suchten, aus drei Hauptgründen: weil sie nemlich erstens alle übrige AuSbrüche des ©toi, zes zurückhalten, dann uns gegen die unbe­ fugte Verachtung Anderer schützen und zuletzt unS die Augen öfnen muß, wie viel wir noch zu thun haben, der Gnade Gottes würdig zu werden. Wenn wir die Nichtigkeit des geistlichen Stolzes er­ kennen, so werden wir auch aller übrigen Aus­ brüche des Hochmuthes mächtig werden. Ein stolzes Herz ist dem Herrn ein Gräuel und wird nicht ungestraft bleiben, weil alle stolzen Herzen fern von der Gerechtigkeit sind; das gilt von allen Aeußerungen der Hoffart ohne Ausnahme, gleichviel, ob wir über die Vorzüge unserer Gestalt, unseres Reichthum-,

unserer Talente und Tugenden vor Gott verblendet find. Hat denn aber der, welcher sittlich besser und vollkomme­ ner, als Andere seyn will, nicht einen viel scheinbareren Vorwand seines Wohlgefallens an sich.selbst, alS der, wel­ cher sich nur wegen einzelner Gaben des Glückes und Zu­ falls erhebt? Du hältst dich für erneuert und wiederge» bohren in deinem Inneren; ist das nicht etwaS Besseres, als wenn du dich deiner Geburt nach dem Fleische von edlen Ahnen rühmst? Du willst dir Schatze für die Ewigkeit erworben haben, die weder Motten, noch Rost vermehre»; ist das nicht etwas Köstlicheres, als wenn

du mit äußeren Gütern prunkest, die heute gewonnen wer­ den und morgen verloren gehen? Du preisest die Voll­ kommenheit deiner Werke, deiner Thaten, deines Herzens und Gemüthes; ist das nicht etwas viel Herrlicheres und Lreflicheres, als bas gebildete Talent, als die Fertigkeit in dec Kunst, als die Fülle aller Kenntniß und Gelehr­ samkeit, die so oft mit unreinen und verwerflichen Sitten verbunden ist? Hast du nun die klare Ueberzeugung ge­ wonnen, selbst der geistliche Stolz fei nichtig, eitel und ein Inbegriff der gefährlichsten Täuschung; wird dann nicht jede Hoffart mit der Wurzel aus deinem Herzen gerissen werden; wirst du dich dann nicht auch schämen müssen, anmaßend wegen deiner Schönheit, deiner Macht, deiner Schätze, deines Ranges, deiner Kunst und Wissenschaft zu seyn; wird nun nicht der Gedanke klar, wie das Licht deS Himmels, vor deiner Seele stehen: hier ist kein Un­ terschied, wir sind allzumal Sünder und man­ geln deS RuhmeS, den wir vor Gott haben sollen? Ja, fürwahr, wenn vor dem, der daS Herz anspricht, nicht einmal der Stolz deS Geistes bestehen kann; so ist noch vielmehr dm: Hochmuthe auf sinnliche Vorzüge und Güter, als einer viel größeren Thor­ heit das Urtheil der Verwerfung gesprochen. Wenn nicht einmal der vor Gott gerecht ist, der sich rühmen durfte, kein Räuber, kein Ungerechter, kein Ehebre­ cher zu seyn; so darf noch viel weniger der auf Gnade rechnen, welcher stolz auf frevelhaft erworbene Güter, oder auf an sich gerissene Macht und Ehre ist. W er sich selbst erhöhet, der wird erniedrigt werden: das gilt von allen Gattungen und Ausbrüchen der menschlichen Hoffart; wir werden, wir können das nicht mehr leug­ nen, wenn wir nur einmal die Nichtigkeit des geistlichen Stolzes klar erkannt und durchschauet haben. Diese Ueberzeugung wird uns aber auch gegen die unbefugte Verachtung Anderer schützen. Ich danke dir, Gott, spricht der Pharisäer, daß ich nicht bin wie andere Leute, oder auch wie dieser Zöllner. Nicht darum dankt er Gott, daß er gesünder,

reicher, angesehener und mächtiger, sondern daß er besser und frömmer sei, alS jener; er erklärte also den Zöllner, schon seines Standes und Berufes wegen, für einen ge« meinen, nichtswürdigen Sünder, und warf ihm selbst in seinem Gebete einen Blick der Verachtung zu. Aehnliche schnöde, wegwerfende und beleidigende Urtheile erzeugt der geistliche Stolz noch immer unter den Menschen; wie die Juden alle heidnische Völker ju den Flammen der Unter­ welt verurtheilten, so haben einzelne Partheie» der Chri­ sten sich in der Hoffart ihres Glaubens mit einem ähn­ lichen Spruche der Verdammniß gegen ihre Brüder gewaf. net; wie der Pharisäer den Zöllner schon darum, weil er mit den heidnischen Römern in Verbindung stand, für einen Verworfenen hielt, so ist der Unterschied des Stan­ des, der Bildung , des Berufes auch bei uns oft hinrei­ chend, beleidigende Zweifel an der Rechtlichkeit und Tu­ gend unseres Nächsten zu wecken. Sehen wir hingegen ein, wie nichtig der Stolz auf unsere Einsicht und auf unsere Werke ist; sind wir un6 bewußt, wie viele unlau. tere Wünsche, Begierden und Bestrebungen wir in den dunklen Tiefen unseres Herzens tragen; müssen wir uns an jedem Abende gestehen, daß der verflossene Tag mehr als einmal Zeuge unserer Schwachheit, unserer UebereilUng, ja wohl gar unserer Ungerechtigkeit und Bosheit war; werden wir dann in unserem Urtheile über Andere nicht nachsichtiger und milder werden; werden wir dann nicht einsehen, wie wenig eS unS gebühre, einen frem­ den Knecht zu richten; werden wir dann nicht die ganze Strenge unseres Tadels gegen unS selbst wenden, unsere eigene Seligkeit mit Furcht und Zittern zu schaffen? Wollt ihr euch daher vor der ungerech­ ten Derurtheilung Anderer hüten, die dem Geiste deS Chri­ stenthums so fremd ist; vor dem seelengrfährlichen Wahne, besser und frömmer, als die zu seyn, deren Inneres ihr nicht durchschauen und prüfen könnet; o so betet an je­ dem Morgen zu Gott um den Geist der Selbsterkenntniß und Erleuchtung; so betet, daß er euch vor jeder Hoffart des Glaubens, vor jedem Dünkel höherer Erkenntniß, vor

332 1« jeder Eitelkeit auf einjelne Tugenden und Verdienste gnä­ dig bewahre; so flehet ihr von ganzem Herzen um die Weisheit von oben, welche ohne Heuchelei, unpartheiisch, gelinde, voll Barmherzigkeit und guter Früchte ist. Sie wird euch mit Beschei­ denheit und Demuth, mit Achtung und Wohlwollen gegen eure Brüder erfüllen; sie wird in den Angelegenheiten der Religion von euch die Kämpfe der Zwietracht und Erbit­ terung entfernen, die fast immer eine Frucht des Dünkelö und des geistlichen Stolzes sind; sie wird euch gegen die harten und wegwerfenden Urtheile über die Tugend und Ehre eures Nächsten verwahren, die noch viel empfindli­ cher und schmerzlicher sind, als die Beeinträchtigung an Haab' und Gut; und wenn er wirklich von einem Fehler übereilt wird, so wird sie euch Muth verleihen, ihm zurecht zu helfen mit sanftmüthigemGeiste, die ihr geistlich seid. Selig sind die Sanftmüthigen und Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen. Wie wichtig es endlich für unser Leben fei, den geist­ lichen Stolz in seiner ganzen Nichtigkeit zu erkennen, er­ hellt besonders daraus, daß wir nun einsehen, wie viel uns noch zu thun übrig ist, der Gnade GotteS würdig zu werden. Der Zöllner stand von ferne, wollte auch seine Augen nicht auf­ heben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach, Gott sei mir Sünder gnä­ dig. So betete er, nicht etwa deßwegen, weil er schiechter und sündenbeladener gewesen wäre, als der Pharisäer, oder weil er es für hinreichend gehalten hatte, sich im Allgemeinen für einen großen Missethäter und Verbrecher zu erklären; sondern darum, weil die Heiligkeit des Tem­ pels und der Gedanke an die Allgegenwart Gottes daS innige Gefühl der Unvollkommenheit und Schwachheit in seiner Seele weckte; er sah es ein, daß er vor Allen der Gnade Gottes und der Vergebung seiner Schuld bedürfe, ehe er sich zu neuen und besseren Vorsätzen ermannen kön­ ne; und darum gieng er auch vor Jenem gerecht-

fertigt in sein HauS hinab.

Das ist aber noch

immer die Geschichte unseres eigenen Herzens und inneren Lebens; unser Stolz entfernt uns von Gott, wenn wir ihm wohlgefällig unsere Werke und Tugenden vorzählen und bei aller ihrer Gebrechlichkeit und Unlauterkeit doch wähnen, das schon zu seyn, was wir durch den Beistand seines Geistes erst werden sollen; und von der anderen Seite entfernt uns auch unsere Heuchelei und falsche De­ muth von Gott, wenn wir uns zwar für Sünder, ja für größere und verwerflichere Sünder erklären, als wir wirk­

lich sind, aber nicht in der Absicht, uns zu bessern, sondern nur wie Knechte, die sich ihrer Fesseln freuen, unS seine Gunst und Barmherzigkeit zu erschmeicheln. In einer ganz anderen Verfassung des Gemüthes erscheint der Mensch vor Gott, der, wie der besonnene Zöllner, die Nichtigkeit

des geistlichen Stolzes erkennt; er will vor dem Allwis­ senden nicht besser, aber auch nicht schlechter seyn, als er wirklich ist; er kann eö wohl wissen und empfinden, daß er bisher nicht umsonst gelebt hat und daß die Gnade GotteS auch an ihm nicht vergeblich war; aber er wagt es doch nicht, sein Auge zum Himmel zu erheben, weil er es schmerzlich fühlt, wie mangelhaft, wie unlauter und befleckt bisher sein sittliches Leben und Wirken war; darum schlägt er reuevoll an feine Brust und fleht um die Gnade Gottes durch Christum für eine sündenvolle Vergangenheit, die er selbst in der Rechnung seines Lebens nicht auslöschen, oder vertreten kann; darum freuet er sich aber auch herzlich der ihm durch seinen Er­ löser und Heiland erworbenen Huld und Liebe des Vaters und bietet von nun an seine ganze Kraft auf, dem und nur dem zu leben, der für ihn gestorben und auferstanden ist. Co wollen auch wir, Geliebte, den geistlichen Stolz bekämpfen, der in unserer sinnlichen und selbstsüchtigen Natur so tiefe Wurzeln geschlagen hat; den Stolz der Vernunft, der nicht wissen will, waS deS Geistes GotteS ist; den Stolz des Glaubens, der daS äußere Bekenntniß und den äußeren Lippendienst schon für

334

christlich« Andacht und Eottesverehrung hält; de« Stolz deS eitlen und kethörten Herzens endlich, der die einzelne, gebrechliche und scheinbar gute That mit der wahren Gerechtigkeit und Heiligung verwechselt und so in der Eitelkeit des bethörten Sinnes von dem Reiche Gottes ferne bleibt. Der Herr öffne uns Allen die Au. gen, daß wir einsehen, wie wir vor ihm gestaltet find; er demüthige «ns, daß wir vor ihm groß wer. den; er rüste uns aus mit Kraft auS der Höhe, daß wir muthig dem Ziele entgegeneilen und anhäng en dem Kleinode, welches uns vorhalt die himmli. sche Berufung GotteS in Christo Jesu. Amen.

XLVI.

Am zwölften Dreicinigkcitssonmage. Evangel. Mark. K. VII. D. 31—37.

Wie wir die Wahrnehmung der vielen und mannichfachen Körperübel unseres Geschlech­ tes mit der Weisheit und Güte Gotte­ vereinigen sollen.

Wer dich,

o Herr, von ganzer Seele fürchtet,

fährt kein Unheil,

sondern

wenn

wird er auch wieder erlöset werden.

M. a. 3«

Der wahre Christ,

dem wider­

er angefochten wird,

Amen.

der sich den himmlischen

Vater als den Geber des höchsten Gutes durch Jesam zu denken gewohnt ist, wird in seinem Glauben durch nichts so leicht erschüttert, als durch die vielen körperlichen

Uebel, mit welchen die Menschheit zu kämpfen hat. Daß ein so zarter und vielfach zusammengesetzter Körper, wie der unsrige, sich im Laufe der Zeit allmählich erschöpft und in Krankheiten aufzehrt, die man natürliche und unver­ meidliche nennen mögte, finden wir zwar begreiflich. Aber leider sind diese Uebel nicht nur ein bleibendes Erbtheil unseres Geschlechtes, sondern sie erhalten auch täglich neuen Zuwachs; wir werden noch immer von denselben Krank­ heiten geplagt, mit welchen die Stammvater unseres Ge­ schlechtes zu kämpfen hatten; es haben sich in der Folge der Zeit bei uns Unvollkommenheiten und Schwachheiten gehäuft, die in immer neuen Gestalten wiederkehren; und wenn wir unbefangen in die Zukunft hinausblicken, so müssen wir fürchten, daß. sich ihre Zahl nicht vermindern, sondern anhäufen und vermehren wird. Nicht genug, daß wir nun Alle einen Keim des Todes zur Welt bringen, der sich bei der Hälfte unseres Geschlechtes schon in den Jahren der Kindheit entwickelt; nicht genug, daß wir Alle durch eine Reihe bedenklicher, ja selbst gefährlicher Krankheiten hindurchgehen müssen, ehe wir zu einer dauer­ haften Gesundheit gelangen; nein, jeder Wcltthril, jedes v. Bmmon's Pred. B. II.

Land, jeder Ort bringt durch seine Lage und seine Mischung der Elemente auch eigene Leiden hervor; es entwickeln sich aus dem Körper einzelner Menschen Uebel und Schmerzen, die ihnen eigenthümlich sind; es ist auch bei dem Stärk­ sten und Rüstigsten unter uns keine vollkommene Gesund­ heit anzutreffen, so, daß man auch in dieser Rücksicht mit dem Propheten von uns sagen kann: das ganze Haupt ist krank, das ganze Herz ist matt. Dennoch würden wir als Christen uns allen diesen Duldungen noch mit Muth und Fassung unterwerfen, wenn sie nur mehr, oder weniger vorübergehend waren und der Hofnung Raum gaben, daß sie durch Hülfe der Kunst be­ siegt und überwunden werden könnten. Aber leider ist ein

großer Theil unseres Geschlechtes von Uebeln heimgesucht, die er, als eine schwere Bürde, durch das Leben hindurch­ tragen muß und erst in den Tiefen des Grabes abwerfen und niederlegcn kann. Da sehen wir Unglückliche, die von ihrer Geburt an nie einen Strahl des milden Sonnen­ lichtes erfassen konnten; da erblicken wir Andere, deren Ohr jeder freundlichen Rede, jedem Tone und Gesang der Schöpfung verschlossen ist; da sind wieder Andere der freien Bewegung ihrer Glieder beraubt und, wie eine schwere, unbehülfliche Last, an einen Ort gebannt; da bricht mit­ ten im Schooße der Bildung über uns eine Schaar von Nervenkrankheiten herein, die aller Kunst und Wissenschaft trotzen und uns unsägliche Schmerzen bereiten; da giebt es endlich Uebel des Geistes und Gemüthes, die von der höchsten Wuth an bis zur gemeinen Ueberspannung, unsere Gefühle trüben, unsere Gedanken verfälschen, unsere Ver­ nunft betäuben und uns mit der Schmach der Thorheit und Verrückung beladen. Warum ist nun gerade der Mensch­ heit eine so schwere Last von Leiden und Beschwerden auf­ gebürdet ; warum ist gerade unser Körper so vielen schmerz­ lichen Unvollkommenheiten zugänglich, mit welchen Pflanzen und Thiere verschont sind; warum hat der himmlische Va­ ter uns, die wir seine Kinder heißen, in ein Daseyn ein­ geführt, welches so peinlich und leidensvoll ist; warum

kann uns unsere Weisheit,

unsere Unschuld und Tugend„

nicht gegen Gefahren schützen, welche überall heimlich auf uns lauern und sich unserer, als einer sicheren Beute, be­

mächtigen?

Diese Fragen liegen uns Allen nahe genug;

cs ist Keiner unter uns, bei dem sie nicht, Heller oder dunkler, durch schmerzliche Empfindungen geweckt worden waren; Viele werden sich sogar gestehen müssen, daß sie öfter, als einmal, durch diese und ähnliche Gedanken in ihrem Glauben gestört und irre gemacht worden sind; sie führen

daher auch Bedenklichkeiten, Zweifel und Versuchungen her­ bei, die wir als Christen aufzuklaren, zu lösen und durch die Kraft des Geistes

zu überwinden berufen sind.

Unser

heutiges Evangelium wird uns von dieser Betrachtung so wenig abziehen,

daß er uns mehr von selbst zu ihr auf­

fordert; Christus, der Herr, wird uns in demselben als der

Heiland und Retter erscheinen, der uns, dem Geiste und dem Körper nach, beizustehen und zu helfen vermag; zu ihm und seinem ewigen Vater erheben wir daher zuerst unser furcht­ sames und bedrängtes Herz in stiller Andacht rc.

Evangel. Mark. K. VII. V. 31 — 37. Und da er wieder ansging von den Grenzen Tyrus und Si­ don: kam er an das galiläische Meer, mitten unter die Grenze der zehn Städte, Und sic brachten ihm einen Tauben, der stumm war, und sic baten ihn, daß er die Hand auf ihn legte. Und er nahm ihn von dem Volk besonders, und legte ihm die Finger in die Ohren und spützctc, und rührctc seine Zunge. Und sahe auf gen Himmel, scuszcte, und sprach zu ihm: Hcphatha, das ist, thue dich auf. Und alsobald thaten sich seine Ohren auf, und das Band seiner Zunge ward los, und redete recht. Und er verbot ihnen, sie sollten es niemand sagen. Je mehr er aber verbot, je mehr sie es ausbrcikcten, und verwunderten sich über die Maaße, und sprachen: Er hat alles wohl gemacht: die Tauben macht er hörend, und die Sprachlosen redend.

Wenn der Gedanke für uns tröstlich seyn kann,

Ge­

fährten des Unglücks und Leidens zu haben, so bietet uns

der im Lande des Elendes nm Her­ und überall den Kranken wohlthat und ihre Schmerzen linderte, reiche Beruhigung und Stärkung dar. die Geschichte Jesu, gien g

Nicht genug, daß er in seinem Vaterlande von Besessenen, Gichtbrüchigen und anderen Leidenden umgeben war, die

sein Mitleid und seine Erbarmung anflehten; auch an der heidnischen Grenze brachte man ihm einen Unglücklichen ent­ gegen, der seines gedoppelten Sinnes beraubt und dadurch in einen äußerst kläglichen Zustand versetzt worden war. Dennoch war auch das traurige Leiden dieses Fremdlings nicht stark und mächtig genug, der himmlischen Kraft sei­ nes Geistes und Wortes zu widerstehen, sondern lößte sich auf sein Gebot in eine freie Thätigkeit des Lebens und der gebundenen Sinne des Tauben und Stummen auf. Dieses wunderbare Ereigniß veranlaßt uns also von selbst zu der Frager wie wir die Wahrnehmung der vielen und mannichfachen Körperübel unseres Geschlech­ tes mit der Weisheit und Güte Gottes ver­ einigen sollen? Es kommt hier aber Alles auf fol­ gende Punkte an: die Möglichkeit derselben ist unzertrennlich von der Entwickelung unserer freien Natur; ihre Wirklichkeit ist sehr be­ schränkt, wenn wir sie nicht durch eigene Schuld vermehren; ihr Einfluß auf den Geist ist viel wohlthätiger als wir glauben; ihre Hartnäckig­ keit endlich führt uns, nach manchen Versuchen der Kunst, in die Arme der Religion, die allen Uebeln ein Ende macht. Ich behaupte, daß jede die­ ser Bemerkungen uns eine neue Ansicht unserer Leiden er« öfnen und uns zu ihrer stillen Duldung auffordern kann. I. Die Möglichkeit der vielen Körperübel un­ seres Geschlechtes ist unzertrennlich von der Entwickelung unserer freien Natur. Das ist der erste Grund, auf dem ihre Vereinigung mit der Weisheit und Güte Gottes beruht. Der Stein und was ihm gleich

ist, weiß nichts von Uebeln und Leiden, weil es ihm an dem Leben fehlt, welches der Sitz und die Quelle aller Empfindungen und Gefühle ist. Mit dem Daseyn der Pflanze beginnt erst die Bewegung des Lebens und mit diesem wieder das Vorspiel der Freude und des Schmerzes; sie öfnet sich dem Lichte und der Warme und verschließt sich der Finsterniß und Kalte; je lieblicher ihre Blüthe

und je köstlicher ihre Frucht ist, desto zarter und empfäng« kicher wird sie auch für äußere Eindrücke, und was für sie damit gleichbedeutend ist, für angenehme und unangenehme Empfindungen seyn. Noch höher steht das thierische Le­ ben auf der Stufenleiter der Kräfte; je freier sich das Herz des Thieres bewegt, desto größer ist auch der Wech­ sel seiner Gefühle; es ist schon fröhlicher, aber auch betrübter, als die Pflanze, und je edler und trefflicher seine

Anlagen sind, desto sichtbarer wird es auch froher und schmerzlicher Eindrücke fähig seyn. Auch der Mensch tritt zuerst nur mit der Regung des thierischen Lebens in die Welt ein; es ist darum auf der ersten Stufe seines Daseyns die Zahl seiner Uebel sehr beschrankt und gemes­ sen; so wie hingegen sein Bewußtseyn erwacht und das sinnliche Leben sich mit dem geistigen vermahlt, beginnt auch ein größerer Umfang und Wechsel seiner Gefühle; die Uebel und Krankheiten der Jugend sind schon zahlrei­ cher, als die der Kindheit; sie wechseln mit dem reiferen und höheren Alter, weil sich in dem Laufe desselben auch die Summe seiner Genüsse und Vergnügungen häuft; je freier sich sein inneres Leben in der Richtung zur Unend­ lichkeit bewegt, desto tiefer dringt es in seiner Gegcnbe« wegung in das Gebiet der Reizbarkeit und feineren Sinn­ lichkeit zurück. Zuwachs an Bildung ist also auch Zu­ wachs an Freude und Schmerz, weil beide sich wie Licht und Schatten immer in ihren Endpunkten berühren. Wenn wir nun verlangen, daß der Mensch frei von Uebeln und Krankheiten seyn soll, fordern wir da nicht etwas Thö­ richtes und Unmögliches; sprechen wir dadurch nicht den kühnen Wunsch aus, daß Gott das Grundgesetz der Welt hätte ändern sollen, welches jeder Kraft ihre abgemessene Bewegung sichert; würden wir dann mit der Empfänglichkeit für den Schmerz nicht auch den Reiz des Vergnügens und der Freude verlieren; würde diese Beschränkung unseres Lebens nicht den VrrW unseres Bewußtseyns, unserer Persönlichkeit, ja selbst der Möglichkeit unserer geistigen

Bildung und Veredelung zur Folge haben? Ja, Freunde, die ihr so oft die Vorsehung tadelt» daß sie über unser

Geschlecht so viele Leiden und Schmerzen verhängt

hat,

gesteht es nur, daß ihr die Stellung des Menschen zu dem Thiere und zu dem Engel, und mit ihr das Geheimniß der Freiheit nicht begriffen habt; ihr würdet viel besser thun, dem Worte des Propheten nachzuforschen r ich mache das Licht und schaffe die Finsterniß, ich gebe Frieden und schaffe das Uebel, ich bin der Herr, der solches Alles thut. Bei tieferem Nachdenken wird es euch ohne Zweifel klar und deutlich werden, daß die Möglichkeit, also auch die göttliche Zulassung der vielen Uebel unserer körperlichen Natur von der Entwicke­ lung unseres freien Lebens unzertrennlich ist.

II. Dennoch ist die Wirklichkeit dieser Uebel sehr beschrankt, wenn wir ihre Zahl nicht durch eigene Schuld vermehren; das ist eine zweite Be­ merkung, die uns die Weisheit und Güte Gottes in dem schönsten Lichte erscheinen läßt. Sie brachten ihm ei­ nen Tauben, welcher stumm war, heißt es in un­ serem Evangelium; das kann uns nicht auffallen, wenn wir uns erinnern, wie viel dazu gehört, Schall und Ton in den künstlichen Gängen unseres Ohres zu erfassen, und wieder verständliche Töne mit den künstlich verbundenen Werkzeugen unserer Sprache zu bilden. Dennoch vernimmt und hört, dennoch spricht und redet bei Weitem der grö­ ßere Theil unter uns ohne Hinderniß und Anstand, und es ist daher immer nur als eine Ausnahme anzusehcn, wenn ein Unglücklicher dieser Art in unsere Mitte tritt. Dasselbe gilt auch von allen übrigen Unfällen und Be­ schwerden; die schwache Kindheit ist bei der ersten Ent­ wickelung deö Lebens unzähligen Gefahren ausgesetzt; Gott aber wacht über fie mit einer Sorgfalt, die uns mit tie­ fer Bewunderung und Ehrfurcht erfüllt. Luft, Feuer, Was­ ser, Erde sind reich an zerstörenden Kräften für unser

ganzes Geschlecht; Gott aber hält sie in abgemessenen Schranken, daß sie nur Wenigen nachtheilig und verderb­ lich werden. Seuchen und Krankheiten schleichen überall

3-13 im Finstern einher; der Herr aber deckt uns n: it seinen Fittichen, daß wir nicht erschrecken müs­ sen vor dem Grauen der Nacht und vor den Pfeilen, die des Tages fliegen. Finden wir aber hier nicht einen deutlichen Beweis, daß Glück und Vollkommcnhcit die Regel der Natur, Unglück und Elend aber nur ihre Verirrung ist; sehen wir es nicht täglich klar vor Augen, daß der Herr nur so viele Uebel wirklich wer­ den laßt, als es die Natur und beschrankte Ordnung der Dinge fordert; hat unser Körper nicht eine Kraft und Starke, die allen Gefahren des Berufes, der Lebensweise und des Himmelsstriches zu trotzen vermag; ist nicht selbst die wiederkehrcnde Fruchtbarkeit dieses Jahres eine Be­ stätigung der Wahrheit, daß Wohlseyn und Fülle in Got­ tes Schöpfung immer ein merkliches Uebergewicht über Mangel und Entbehrung hat? Seht ihr daher zuweilen die Uebel des Lebens sich Haufen; nehmt ihr namentlich in großen Städten eine Zahl von Kranken, Elenden und Unglücklichen wahr, die euch mit Wehmuth erfüllt; so ver­ gesset nicht, daß die Wohnsitze des Luxus und der Bildung auch durch die Schuld der Menschen Wohnsitze der Ver­ dorbenheit und des Jammers sind; so achtet darauf, wie häufig unter uns die Ordnung dcr Natur durch Unniaßigkeit, Weichlichkeit, Ueppigkeit und Wollust unterbrochen wird; so bemerkt die Ausschweifungen der Eltern, durch welche ihre Schwachheit und Gebrechlichkeit auf das künftige Ge­ schlecht übergeht; so klagt nicht den Herrn dcr Welt, son­ dern die Sünde an, die in unseren Gliedern herrscht, und deren Ende der Tod ist, Dcr All­ wissende, der alle Haare unseres Hauptes zahlt, hat auch alle unsere Uebel und Leiden gemessen und ihrer Wirklich, keit Schranken gesetzt, die sehr eng seyn würden, wenn wir sie nicht selbst täglich durch unsere Thorheit durch­ brachen und so dem Elende Bahn bereiteten.

unseres Geschlechtes

seine

II. Die vielen Uebel und Gebrechen unserer körperlichen Natur haben aber auch auf un-

seren Geist einen viel wohlthätigeren Einfluß,

als wir zu glauben geneigt find; daS ist die dritte Bemerkung, die unseren Zweifeln an der Weisheit und Güte Gottes künftig begegnen wird. Nach unseren gemeinen Ansichten der Welt ist zwar der Mensch, der nicht sehen, hören, sprechen und sich nach Willkühr bewegen kann, höchst unglücklich und beklagenswerth; wir sehen gar nicht ein, warum er auf Erden vorhanden ist und betrach« ten ihn daher häufig als einen Verlorenen, welcher sich und Anderen zur Last sei. Aber finden denn alle diese Leidenden selbst ihren Zustand so traurig und Mitleidswerth; werden in eben dem Verhältnisse, als einer oder der andere ihrer Sinne beschränkt ist, nicht die übrigen desto scharfer und lebendiger; bauen sie eben daher die in­ nere Welt ihres Gemüthes nicht viel fleißiger und un­ unterbrochener, als wir an; und wachst daher ihr innerer Mensch nicht oft zu einer Vollkommenheit und Reife her­ an, die man nicht selten bei der großen Vollständigkeit körperlicher Bildung vermißt? Beobachtet doch nur dieje­ nigen unserer Brüder, welche die Sonne am Himmel nicht sehen, und vernehmt es aus ihren Gesprächen, wie be­ gierig sich das Auge ihres Geistes zu dem inneren Lichte der Wahrheit erhebt; werft einen Blick auf diejenigen, welchen das Reich der Töne verschlossen ist, und sehet, wie eifrig sie sich mit lehrreichen Schriften, oder mit stillen Betrachtungen beschäftigen; richtet eure Aufmerksam« keit auf die Verlassenen, die zu einem ewigen Stillschweigen verurtheilt sind, und nehmet es wahr, mit welcher An­ strengung das reiche Gefühl in Blicken, Mienen, Gebehrden und Zeichen hervorbrechen will; übersehet es endlich nicht, welche tiefe Wurzeln der Sinn für Wahrheit, Ord­ nung, Gott und die Ewigkeit in ihren Gemüthern schlägt. Hat nun Gott selbst schon dafür gesorgt, daß der innere Sinn unserer leidenden Brüder beschäftigt und durch ihn ihr Geist gebildet und veredelt werde; wie dürfen wir gegen seine Schickung murren, oder an seiner Weisheit und Güte zweifeln» wie dürfen wir jene hintansetzen, oder ver-

achten, da fie uns so oft durch höhere Einsichten und Tu­ genden beschämen; wie sollten wir nicht vielmehr unsere Achtung und Liebe gegen fie verdoppeln, um ihnen das zu ersetzen, was ihnen auf ihrer irdischen Laufbahn versagt ist; wie sollten wir endlich nicht des Glaubens leben, daß ihnen der Herr, wenn die Bande ihres Körpers gelößt

find, eine Welt der Freiheit, des Lichtes und der Voll­ endung aufschließen wird, wo Trost, Wonne und Klarheit die Fülle über ihrem Haupte ist? Ja, du ewiger Herr und Vater unseres Lebens, du bedarfst bei Allem, was du thust und anordnest, unserer Vertheidigung und Rechtfer­ tigung nicht; wir aber bedürfen der Erinnerung an unsere Kurzsichtigkeit, daß unsere Kühnheit schweige und unsere Voreiligkeit verstumme; du lässest alle unsere Ver­ suchungen ein Ende gewinnen, daß wir fie zu ertragen vermögen; du bist auch in unserer Schwachheit mächtig und giebst uns mehr, als wir bitten und verstehen; auch aus dem Munde der Blinden, der Tauben, der Stummen und Gebrechlichen hast du dir einen stillen, oder lauten Lobgesang berei­ tet, deine Feinde und Gegner zu beschämen. Fern von den Zerstreuungen der Welt, unter deren Reißen wir so ost erliegen, lässest du in den Herzen und Ge­ müthern unserer leidenden Brüder oft Früchte der Geduld,

des Muthes, der Hofnung und Zuversicht gedeihen, die wir bewundern müssen, weil, wenn auch ihr äußerer Mensch zu Grunde geht, doch der innere täglich erneuert und bewahret wird auf den Tag deiner herr­ lichen Zukunft!

IV. Was indessen bei den vielen Uebeln unseres KörperS jeden Zweifel an der Weisheit und Güte Gottes nieder­ schlägt, ist die letzte Bemerkung, daß nemlich ihre Beharrlichk-eit durch viele Versuche der Kunst in die Arme der Religion führt, die allen Ue­ beln ein Ende macht. Jeder Leidende sucht Beistand,

Linderung und Rettung; die Natur ist auch so reich an heilenden Mitteln und Kräften, daß er oft findet, was er sucht; Bedürfniß und Leiden waren daher zu allen Zeiten die kräftigsten Antriebe zur Bildung unseres Geistes; ihnen allein verdanken wir die vielen Heilmittel und wohlthä­ tigen Erfindungen, die unser kümmerliches Daseyn fristen, oder uns doch vorübergehende Erleichterung und Hofnung gewähren. Aber oft genug find unsere Uebel so verwickelt und hartnäckig, daß fie aller Kunst und Wissenschaft spot­ ten; es giebt der Dulder und Dulderinnen viele, die mit dem armen Weibe im Evangelio sprechen müssen, ich habe viel gelitten von vielen Aerzten und habe all mein Gut verzehrt, und half mir nichts, vielmehr wurde es ärger mit mir; auch dem Lau­ ben, welcher stumm war, blieb nichts weiter übrig, als der Glaube und das Vertrauen, mit dem seine Freun­ de Jesum baten, daß er die Hand auf ihn legte. Da nahm ihn der Herr von dem Volke beson­ ders und legte ihm die Finger in die Ohren und rührete seine Zunge, sah gen Himmel, seufzte und sprach, Hephatha, thue dich auf; und alsbald thaten sich seine Ohren auf, und das Band seiner Zunge ward los und er redete recht. Aehnliche Heilungen würden gewiß auch unter uns noch Statt finden, wenn unter uns ein Mittler und Heiland lebte, wie der Heilige und Gerechte, der mit dem Vater eins und dem eben daher auch alle Gewalt im Himmel und auf Erden verliehen war. Die­ ser Mittler erschien nun zwar nur einmal, hinwegznnehmcn unsere Krankheit und auf sich zu nehmen unsere Schmerzen; Alle, die nach ihm Wunder und Zeichen vollenden wollten, blieben immer weit hinter ihm und sei­ ner göttlichen Größe zurück; und namentlich haben es Manche, die ihm in unseren Tagen gleich seyn wollten, zu ihrer Demüthigung und Schmach erfahren, wie wenig sie über die Kräfte des Himmels zu gebieten vermö­ gen. Aber sind denn die vielen Krankheiten und körper-

lichcn Uebel

unserer Tage nicht noch immer ein kräftiges

Mittel, unsere Forschungen zu beleben und unseren Geist in Thätigkeit zu versetzen; sind in dem Schooßc der Na­ tur nicht fortdauernd viele lindernde und treibende Kräfte verborgen, welche gesucht, gefunden und zum Troste der leidenden Menschheit benützt seyn wollen; hat unser Leben nicht eine viel tiefere, geistige Wurzel, als das Leben der

Pflanzen und der Thiere; und wenn diejenigen, welchen wir unsere Heilung so gern verdanken wogten, nicht allein Be­ obachter der sinnlichen Natur, sondern zugleich Seelcnforscher und Menschenfreunde sind und geistige Mittel mit den kör­ perlichen verbinden, werden wir da nicht hoffen dürfen, mancher Uebel Meister zu werden, die-wir jetzt noch für unheilbar und unüberwindlich halten? ,Wcnn wir uns aber auch von dieser Hofnung verlassen sehen, führen uns dann unsere Leiden nicht aus den Handen der Menschen in die Arme des lebendigen Gottes; nähren sie in uns nicht die Hofnung, der Herr werde uns erlösen von allem Uebel und einführen in sein himmlisches und ewi­ ges Reich; geben sie uns nicht die Zuversicht, alle Widerwärtigkeit dieser Zeit sei nicht werth der Herrlichkeit, die an uns soll offenbar werden; wecken sie also nicht den Muth des Glaubens in unserer Brust, der die Welt überwindet, während die Gesunden und Lebenslustigen oft leichtsinnig und ungläubig ihre kurze Laufbahn endigen? Und so soll denn die große Zahl von-Uebeln und Leiden, unter wel­ chen wir seufzen, uns von heute an nicht mehr beunruhi­ gen, oder an der Weisheit und Güte Gottes irre machen; so wollen wir uns recht oft daran erinnern, daß ein Mcnschcnherz, welches der Freude offen steht, auch Leiden den Zugang zu sich nicht verschließen kann; so wollen wir es nicht vergessen, wie viel stärker die siegende Kraft des Le­ bens als die vorübergehende und nur auf einen Augen­ blick siegende Macht des Todes ist; wir wollen es tief erwägen, welche befreiende, sündentilgende, bessernde und veredelnde Kraft in unseren Leiden und Duldungen liegt;

wir wollen den Herrn preisen, daß er durch unsere Trüb­ sale den Geist weckt, lautert, erhebt und ihn zu sich zieht aus lauter Güte. Dein Rath, Herr, ist wunderbar, aber du führest Alles herrlich hin­ aus; denen, die dich lieben, muß Alles zu ihrem Besten dienen, wie unerforschlich auch deineGerichte und wie unbegreiflich auch deine Wege seien; du machst die Tauben hörend und die Sprachlosen redend, wenn sie das Wort des Lebens durchdringt, das aus deinem Mun­ de kommt; du hast Alles wohl gemacht, darum sind wir gewiß, daß uns weder Höhe noch Tiefe, weder Gegenwart noch Zukunft, weder Tod und Leben von dir und deiner Liebe scheidet. Amen.