Predigten über die Geschichte des Reiches Gottes: Zum Gebrauch für Nachmittags- und Abendgottesdienste und für häusliche Erbauung [Reprint 2020 ed.] 9783112331828, 9783112331811


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German Pages 496 [528] Year 1901

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Predigten über die Geschichte des Reiches Gottes: Zum Gebrauch für Nachmittags- und Abendgottesdienste und für häusliche Erbauung [Reprint 2020 ed.]
 9783112331828, 9783112331811

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Predigten über die

zum Gebrauch

für Nachmittags- und Abendgottesdienste

und für häusliche Erbauung von

Hermann Philipp Schnabel evang. Pfarrer em.

Gießen

I. Ricker'sche Verlagsbuchhandlung (Alfred Töpelmann)

1901.

Das Inhaltsverzeichnis befindet sich am Schluffe.

Druck von C. G. Röder, Lel-ilg.

Uovwort. Während meiner Amtsführung habe ich die Ueberzeugung ge­

wonnen, daß die Geschichte des Reiches Gottes, die geschichtliche

Ausführung des Erlösungsratschlusses, nachdem sie in wissenschaft­ lichen Werken von Hengstenberg, Kurtz, Köhler, Bestmann, und in

Lehrbüchern für den Jugendunterricht von Zahn, Kurtz, Thomasius, Kahle.dargestellt worden ist, ebenso der christlichen Gemeinde in

der Predigt vorgetragen werden nicht nur darf, sondern soll. Zum

völligen Verständnis des Christentums gehört meines Erachtens not­ wendig die Kenntnis des Verlaufs, den die Entwicklung des gött­

lichen Heilsplans in der Geschichte genommen hat.

Sie ist auch

das einzige Mittel, um die in unseren Tagen unter dem chrisllichen

Volke weit verbreitete, höchst bedenlliche Abneigung gegen das Alte Testament und die von diesem berichtete Geschichte zu überwinden.

Aus diesen Gründen halte ich die Behandlung dieses Gegen­ standes in der Predigt für ein dringendes Bedürfnis.

Und da

mir bis daher kein Predigtbuch bekannt geworden ist, welches diesem Bedürfnis abhülfe, so habe ich den Versuch gewagt, den historischen Gang der göttlichen Heilsökonomie in einer Reihe von Predigten darzulegen.

Ueber die Auswahl dessen, was aus dem vorliegenden reichen

Stoff der christlichen Gemeinde in derartigen Predigten dargeboten, wie über das Maß, das dabei eingehalten werden soll, sind selbst­

verständlich verschiedene Meinungen möglich.

Möge es mir ge­

lungen sein, in dieser Hinsicht wenigstens annähernd das Rechte getroffen zu haben.

Dabei habe ich mir zur Aufgabe gestellt,

überall zu zeigen, daß und wie das Neue Testament im Alten

IV verhüllt und das Alte im Neuen Testament enthüllt ist (novum testamentum in vetere latet et vetus testamentum in novo

patet).

Die dargebotenen Predigten sind für Neben- (Nachmittags­ und Abend-) Gottesdienste berechnet.

In diesen darf und kann der

besprochene Gegenstand gewiß ebensowohl, wie die Aeußere und

Innere Mission und die Kirchengeschichte mit den auf diesen Gebieten hervortretenden Persönlichkeiten, Ereignissen und Veranstaltungen, oder auch

die

das

gegenwärtige Geschlecht bewegenden socialen

Fragen hinsichtlich ihrer religiös-sittlichen Seite, das Recht in An­

spruch nehmen, behandelt zu werden.

Und dieses Recht, welches

die vorliegenden Predigten beanspruchen, wird man denselben um

so williger einräumen, wenn man wahrnimmt, daß ich, indem ich die Idee des Reiches Gottes als den Mittelpunkt des Evangeliums Hinstelle, in die Darstellung der geschichtlichen Entwicklung dieses

Reiches die christliche Glaubens- und Sittenlehre, wenigstens ihrem hauptsächlichen Inhalt nach, eingeordnet und eingewoben habe.

Daß ich die Darlegung in diesen Predigten, sowohl die histo­

rische als die dogmatische, aus der einzigen und rechten Quelle, aus der Heiligen Schrift, geschöpft habe, war für mich selbst­

verständlich, weil mir dies Buch in allem, was es von dem Er­ lösungswerk und seiner Ausführung, von dem Reich Gottes und

seiner Entwicklung berichtet, als die theopneustischc zuverlässige Ur­ kunde der göttlichen Offenbarung gilt.

Dabei ist es mein Be­

streben gewesen, den durch die Natur des behandelten Gegenstandes veranlaßten lehrhaften Ton der Predigten durch anschauliche Diction und erweckliche Paränese zu beleben.

Und so schließe ich dieses Vorwort mit dem innigen Wunsche,

daß das vorliegende Buch sowohl meinen Amtsbrüdern als brauch­ bar, wie auch recht vielen Gemeindegliedern als belehrend und er­

baulich sich erweisen möge.

Dazu wolle es der Herr, unser Hei­

land, der Begründer und Vollender des Reiches Gottes, segnen!

Darmstadt, im Februar 1901.

Der Uorfassev.

1. Tert: Müh. 6, 10.

„Dem Reich komme!"

In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Wenn wir die Lebensgeschichte unseres Heilands in den Evangelienbüchern, namentlich in den drei ersten derselben, lesen, so entdecken wir bald, daß sich die Predigt des Herrn ganz und gar um den Gedanken des Reiches Gottes bewegt, das er auch häufig das Reich der Himmel, oder, wie es in unserer Bibelübersetzung lautet, das Himmelreich nennt. Ins­ besondere sind es die herrlichen und lehrreichen Gleichnisse, in welche der Heiland seine religiösen und sittlichen Belehrungen vielfach einkleidet, welche sich fast sämtlich mit diesem Begriff beschäftigen und denselben von den verschiedensten Seiten be­ leuchten, Daraus erkennen wir, daß der Begriff des Reiches Gottes von einer ungemein hohen Bedeutung ist im Christen­ tum, in der christlichen Lehre sowohl, wie im christlichen Leben. Daneben sagt uns unser Text, daß der Heiland seine Jünger in dem Mustergebet, das er sie lehrt, beten heißt: „dein Reich komme!" Und auch hieraus ersehen wir, welches Gewicht er auf den Gedanken des Reiches Gottes legt. Dieser Gedanke zieht sich in der That wie ein roter Faden durch die ganze heilige Geschichte, die Geschichte der göttlichen Offenbarung und der Erlösung des Menschengeschlechts hindurch. Deshalb ist es auch von der größten Wichtigkeit, daß wir Christen diesen voten Faden entdecken und beobachten, mit anderen Worten, daß wir den Verlauf der Entwicklung des Reiches Gottes kennen lernen. Ich darf wohl sagen: erst dadurch Schnätel, Predigten.

1

2 gelangen wir zu einem richtigen und für unser christliches Be­ wußtsein segensreichen Verständnis des in der Heil. Schrift uns vorliegenden Wortes Gottes. Ich habe es aus diesem Grunde für nötig und ersprießlich gefunden, daß bereits den christlichen Kindern, am füglichsten im Konfirmandenunterricht, nachdem sie die einzelnen biblischen Geschichten oder Erzählungen nach ihrem religiösen und sittlichen Inhalt und Wert kennen gelernt haben, ein Ueberblick über den Entwicklungsverlauf des Reiches Gottes gegeben werde. Ich halte es aber auch für höchst wünschenswert und erforderlich, daß die Gemeinde der konfirmierten, erwachsenen Christen mit diesem Gegenstand ver­ traut gemacht, daß sie in die Geschichte der Gründung, Aus­ gestaltung, Ausbreitung und Vollendung des Gottes- oder Himmelreiches eingeführt werde. Wenn das nicht geschieht, so versteht und begreift sie nicht die letzten Zwecke und Ziele Gottes mit dem menschlichen Geschlechte. Dann erfährt und weiß sie auch nichts von der Bedeutung des Alten Bundes und seiner Geschichte, und kennt und ermißt nicht die Wichtigkeit dessen, was uns die Schriften des Alten Testaments berichten. Da kann es denn wohl vorkommen, daß sie sich auflehnt gegen den Wert, der im Religionsunterricht auf die biblischen Geschichten des Alten Testaments gelegt wird, daß sie die Zeit, die darauf verwandt wird, für unnütz und zwecklos vergeudet erachtet. Ja, da geschieht es auch wohl, daß sie sich beschwert über die Verlesung alttestamentlicher Schriftabschnitte im Gottesdienste und deren Verwendung zu Predigttexten. Die christliche Ge­ meinde muß notwendigerweise zu der Erkenntnis gebracht werden, daß alles, was Gott thut, auf die Erhaltung und Herstellung seines Reiches abzweckt und hinzielt. Und so muß sie auch zu dem Verständnis dessen angeleitet werden, was Gott an dem Volk Israel gethan hat. Sie muß einsehen lernen, daß dieses Volk, das, seitdem es den ihm verheißenen und in der Fülle der Zeit es besuchenden Erlöser und Heiland ver­ worfen hat, in Verblendung und Verstockung dahin geht, einst das auserwählte Gottesvolk, das Bundesvolk, das Religions­ volk der alten Welt war, mit dem allein Gott in unmittelbarem Verkehr stand, dem allein er seine Heilsoffenbarung zukommen

s ließ, das allein er in seine besondere göttliche Leitung und Er­ ziehung genommen hatte, während er alle übrigen Völker der Erde, die ins Heidentum versunken waren, einstweilen bis auf die spätere Zeit der Gnadenheimsuchung sich selbst überließ und ihre eigenen Wege wandeln ließ. Die christliche Gemeinde muß. dahin verständigt werden, daß das jetzt von Gott verstoßene Volk Israel es war, in welchem Gott sein Reich zuerst auf dieser Erde zur äußeren Erscheinung kommen ließ, dieses Reich, zu dem darnach im Neuen Bunde von dem Erlöser durch sein hohepriesterliches Versöhnungswerk die eigentliche Grundlage ge­ legt wurde, und das dann in der Gemeinde des Erlösers, in der Kirche Jesu Christi, deren Glieder wir sind, sichtbare Gestalt annahm. Es ist gewiß, daß wir nur dann das Christentum unddasNeueTestament verstehen und zu würdigen wissen, wenn wir das Alte Testament verstehen und den Alten Bund begreifen. Aus diesen Gründen habe ich es für zweckmäßig gehalten, in unseren Nachmittagsgottesdiensten in einer fortlaufenden Reihe von Predigten dieGeschichtedesReichesGottes dir, liebe Christengemeinde, vorzutragen. Es ist ein Versuch, den ich, soviel ich weiß, zum erstenmal mache. Wohl haben namhafte Gottesgelehrte die Geschichte des Reiches Gottes in wissenschaftlichen Büchern dargelegt. Auch sind einige Bücher erschienen, in welchen diese Geschichte zum Zweck des Jugend­ unterrichts allgemein verständlich behandelt wird. Aber ich kenne kein Predigtbuch, das der christlichen Gemeinde den Ent­ wicklungsverlauf des Gottesreiches vorführte. Möge es mir durch Gottes Gnade und unter des Heiligen Geistes Leitung gelingen, dieser Aufgabe in meinen Predigten gerecht zu werden! Ich werde euch, liebe Christen, in diesen Predigten durch die ganze Bibel hindurch führen. In ihr haben wir die Quelle, und zwar die einzige Quelle, aus welcher wir Unterricht und Belehrung über den Gegenstand, den ich behandeln will, schöpfen können. Die Bibel oder die Heil. Schrift ist das Buch oder die Sammlung von Schriften, in welchen alles das enthalten ist, was Gott den Menschen über seinen Heilsplan durch seine prophetischen Werkzeuge mitteilen zu lassen für nötig und heil1*

4 sam gefunden hat. Sie enthält die Offenbarung Gottes oder das Wort Gottes. Und zwar ist das, was Gott vor Zeiten manchmal und mancherlei Weise zu den Vätern im Alten Bunde durch die Propheten, und schließlich in den letzten Tagen, an der Neige des gegenwärtigen Weltalters im Neuen Bunde durch seinen Mensch gewordenen Sohn und darnach durch dessen erste Jünger und Apostel zu den Menschen geredet hat, unter der außerordentlichen Erleuchtung des Heil. Geistes so nieder­ geschrieben, daß wir daran eine durchaus zuverlässige, ja un­ fehlbare Urkunde der göttlichen Offenbarung oder des Wortes Gottes haben. Daran kann und darf bei uns Christen kein Zweifel obwalten, denn als solche hat sich die Heil. Schrift wie im Innenleben der einzelnen Christen, so auch in der geist­ lichen Erfahrung der Gesamtkirche durch alle Zeiten hindurch hinreichend erwiesen und bewährt. Doch kann ich euch un­ möglich den ganzen Inhalt der Bibel mitteilen. Ich muß viel­ mehr eine Auswahl dessen treffen, was aus ihr über den Gang des Reiches Gottes zu entnehmen ist. Da gilt es denn für mich, in dieser Auswahl das rechte Maß zu treffen. Ich muß darauf sehen, daß ich euch nicht zu viel und nicht zu wenig darbiete und mitteile. Und ich wünsche nichts mehr, als daß mir das gelingen möge, damit der Zweck, den ich bei diesen Predigten habe, erreicht werde, und sie dazu helfen, euch einen Einblick in den Verlauf der geschichtlichen Entfaltung des göttlichen Heilsplans zu gewähren, und euch als Wegweiser zu dienen in das Verständnis der geheimnisvollen, aber geoffenbarten Haushaltung des gnädigen Gottes. Die Geschichte des Reiches Gottes, die ich in diesen Pre­ digten darlegen will, ist ein Teil der Weltgeschichte, ja, ich darf mehr sagen, sie ist der Kern und Stern der Welt­ geschichte. Ein berühmter Geschichtsforscher hat den Aus­ spruch gethan: Jesus Christus ist der Mittelpunkt der Welt­ geschichte. Und Jesus Christus, das wissen wir, ist der Be­ gründer und Vollender des Gottesreiches. Die innere Ent­ wicklung der Menschheit in der vorchristlichen Zeit strebt auf ihn zu, und die innere Entwicklung der Menschheit in der christlichen Zeit geht von ihm aus. Aus diesem Grunde nimmt auch nur der-

5 jenige Teil des Menschengeschlechts, welcher sich dem Christentum zuwendet und diesem Einfluß gestattet, Teil an der geistigen Entwicklung der Menschenwelt. Zwar handeln die Menschen, wie uns das die Weltgeschichte lehrt, als Wesen, die von Gott zur Freiheit erschaffen sind, nach freiem Willen und freien Ent­ schließungen. Und da sie sündhaft geworden sind, so geht ihr Wille vielfach auf anderen Wegen und strebt anderen Zielen zu, als auf welchen und zu welchen der heilige Gott sie führen will. Ihr Thun ist im Einzelnen und Ganzen oft sehr verkehrt, und sie müssen dafür die züchtigende Hand des gerechten Gottes erfahren. Die Weltgeschichte ist darum in vielfacher Hinsicht ein Bericht über die Verkehrtheiten, Verirrungen und Sünden der Menschen, und über die Strafgerichte, die von feiten des gerechten Gottes darum über sie ergehen. Wer aber tiefer in die Welt- und Menschheitsgeschichte hinein schaut, der bemerkt doch, wie der Gott aller Gnade in derselben sein Werk thut, wie er seinen Erlösungsratschluß zur Ausführung bringt und sein Reich erhält und ausgestaltet trotz dem Widerstreben und feindseligen Verhalten der Menschen. Ja, er merkt, daß alles auf den schließlichenSieg der Erlösung, auf die schließliche Vollendung des Gottes- und Himmelreiches hinaus läuft. Kurz, er er­ kennt, wie in Wahrheit die Geschichte des Reiches Gottes der Kern und Stern der Menschheitsgeschichte ist. Wenn ich nun die Geschichte des Reiches Gottes darstelle, so kann ich das nicht anders, als daß ich zugleich die göttliche Offenbarung hereinziehe und ihren Inhalt darlege. Die christ­ liche Religionslehre beruht auf der Offenbarung, die Gott ge­ geben hat, und sie ist aufs engste verflochten mit der Entwick­ lung des Gottesreiches, denn sie besteht sowohl in den Heils­ thatsachen, die Gott vollzogen hat, als in den Lehren, die er durch seine prophetischen und mittlerischen Werkzeuge verkün­ digen läßt. Indem ich also die Geschichte des Reiches Gottes in meinen Predigten euch vor Augen stelle, werde ich euch zu­ gleich in unsere christliche Glaubens- und Sittenlehre einführen, die ich der Geschichte des Himmelreiches einordne. Vor allem aber müssen wir uns klar werden über das, was im Wort Gottes und in der Sprache des Christentums mit dem

— 6 — Namen des Reiches Gottes bezeichnet wird. So laßt uns denn in dieser ersten Predigt ernstlich über diesen Gegenstand nach­ denken, und auf Geheiß unseres Textgebetes: „dein Reich komme!" im göttlichen Worte Aufschluß suchen über die Frage:

Was ist das Reich Gottes?

Gottes Wort giebt uns auf diese Frage die dreifache Ant­ wort: 1. es ist nicht ein von Menschen herzustellen­ des, sondern ein von Gott gegründetes Reich, 2. es ist ein zukünftiges, vollkommenes, aber auch ein gegenwärtiges, werdendes Reich, 3. es ist ein innerliches, unsichtbares, aber auch ein äußerliches, sichtbares Reich. I. Manche verstehen unter dem, was unser Heiland „Reich Gottes" nannte und wovon er so viel predigte, eine Einrich­ tung, welche die Menschen machen und machen sollen. Sie denken, die Menschen würden allmählich samt und sonders oder wenigstens zum größten Teil gute Christen werden, rechte Jünger des Heilands und wahre Kinder Gottes, und darum sich zu einer Gemeinschaft in gegenseitiger Liebe und zu thätiger Liebesübung zusammenschließen. Demnach wären es die Menschen, welche das Reich Gottes machen. Liebe Christen, das ist eine falsche, verkehrte Meinung. Ihr widerspricht ja auch geradezu der Ausspruch, mit welchem unser Heiland seine Pre­ digt eröffnete: die Zeit ist erfüllet und das Reich Gottes ist herbei gekommen, oder in buchstäblicher Uebersetzung: hat sich genahet. Geht aus diesen Worten nicht deutlich genug hervor, daß das Gottesreich nicht von Menschen hergestellt wird, sondern daß es Etwas ist, das von außen her zu ihnen kommt? Und wenn ihr fraget: woher kommt es denn zu uns?, so giebt uns darüber schon genügenden Aufschluß die andere Bezeichnung, welche der Heiland dem Gottesreiche bei­ legt, wenn er es „Himmelreich" oder wörtlich „Reich

7 der Himmel" nennt. Vom Himmel kommt es h er, also aus der oberen, unsichtbaren Gotteswelt. Dort hat es seine ursprüngliche Heimat, dort besteht es seit dem Anfang der Schöpfung. Und siehe, es besteht als ein wirkliches Reich, ein Königreich, dessen König oder Regent Gott ist und dessen Bürger die heiligen Engel sind. Ausdieserseligenund herrlichen Gotteswelt kam das Reich Gottes einst zu dem ersten Menschenpaar auf der Erde, das Gott nach seinem Ebenbilde erschaffen hatte. Und nach­ dem dieses es durch den Sündenfall zerstört hatte, istesunser Heiland gewesen, der es den Menschen aufs neue wieder zugebracht hat. Darum nennen wir es auch jetzt das Reich Jesu Christi. So sehen wir denn, liebe Christen, das Reich Gottes ist eine göttliche Stiftung. Er hat es gestiftet zuerst in der überirdischen Welt und er hat es dann auch auf diese unsere Erde verpflanzt und unter uns Menschen aufgerichtet. Es ist also ganz und gar göttlichen Ursprungs. Es tritt den Menschen von außen her entgegen und ladet sie zum Eintritt ein. So giebt es uns der Heiland zu verstehen, wenn er spricht: von der Zeit Johannis des Täufers wird das Reich Gottes durch das Evangelium gepredigt und jedermann dringet mit Gewalt hinein! (Luk. 16, 16) oder wenn er bezeugt: So ich die Teufel durch den Geist Gottes austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen! (Matth. 12, 28) oder wenn er dem Nikodemus eröffnet: wahrlich ich sage dir, es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er das Reich Gottes nicht sehen und nicht hineinkommen! (Joh. 3, 3. 5). Das Reich Gottes ist nicht von dieser Welt, aber es besteht in der Welt. Das spricht auch unser Heiland aus in seiner berühmten Antwort, die er dem Landpfleger erteilt auf dessen Frage: bist du der Juden König? Er erwidert: mein Reich ist nicht von dieser Welt! (Joh. 18, 36). Er will auch dies damit sagen: mein Reich ist keine menschliche Einrichtung, sondern eine göttliche Veranstaltung, die aus der himmlischen Welt stammt und zu den Erdbewohnern kommt. Darum heißt er uns auch beten, wie wir in unserem Texte lesen: „dein Reich komme!"

8 II. Nach manchen Aussprüchen unseres Heilands erscheint das Reich Gottes als ein zukünftiges. Achtet, liebe Christen, auf seine Einladung, welche er dereinst an seinem großen Gerichtstage an seine Jünger ergehen lassen will: Kommet her, ihr Gesegneten meines Vaters, und ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! (Mtth. 25, 34). Bedenket ferner seinen Ausruf nach der Heilung des Knechts des Hauptmanns zu Kapernaum: ich sage euch, viele werden kommen von Morgen und von Abend und mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich sitzen! (Mtth. 8, 11). Er­ wäget endlich seine herrliche Verheißung, die er seinen Jüngern dafür erteilt, daß sie bei ihm beharret haben in seinen An­ fechtungen: ich will euch das Reich Gottes bescheiden, wie mir es mein Vater beschieden hat, daß ihr essen und trinken sollt über meinem Tische in meinem Reiche und sitzen auf Stühlen und richten die zwölf Geschlechter Israels! (Luk. 22, 29—30). Tritt uns nicht aus solchen Aussprüchen deutlich der Gedanke entgegen, daß das Gottesreich ein zukünftiges sei? Um so mehr müssen wir diese Frage bejahen, wenn wir den Heiland dieses Zukunftsreich in die Wiedergeburt oder Wiederherstellung verlegen hören, da des Menschen Sohn wird sitzen auf dem Stuhle seiner Herrlichkeit (Mtth. 19, 28). Ja, als ein zukünftiges stellt sich uns das Gottesreich dar in all den Stellen des Wortes Gottes im Neuen Testament, in welchen von einem Ererben desselben die Rede ist. Und wenn ihr, liebe Christen, auf die Weissagungen der Propheten des Alten Bundes höret, so könnt ihr leicht merken, daß auch ihnen das Gottesreich als ein in der Zukunft liegendes vor Augen steht. Das kann ja auch nicht anders sein, weil den Propheten des Alten Bundes derjenige eine Person der Zukunft ist, welcher das Reich Gottes bringen soll, der Messias oder Heiland. Laßt mich zum Beweise dessen euch nur Hinweisen auf die euch aus der Weihnachtsfeier wohl­ bekannten Weissagungen: uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, dessen Herrschaft ist auf seiner Schulter, und er heißt Wunderbar, Rat, Kraft, Held, Ewig-Vater, Friede­ fürst, auf daß seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Stuhle Davids und in seinem Königreich

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(Jes. 9, 5—6), und auf die andere: du, Bethlehem-Ephratha, die du klein bist unter den Tausenden in Juda, aus dir soll mir kommen, der in Israel Herr sei, welches Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist (Mich. 5, 1). Deutet nicht auch das Gebet in unserem Texte: „dein Reich komme!" darauf hin, daß das Reich Gottes zukünftig ist? Ja, es ist unverkennbar, liebe Christen, daß das Gottes­ reich laut dieser Erklärungen des Wortes Gottes als ein zu­ künftiges anzusehen ist. Denselben stehen jedoch andere Aus­ sprüche gegenüber, welche dasselbe als ein bereits in der Gegenwart bestehendes erscheinen lassen. Wie sehr in die Augen springend tritt das hervor in manchen Gleichnissen unseres Heilands, wie in dem von dem Säemann und vier­ fachen Ackerfeld (Mtth. 13, 1—11), oder in dem vom Unkraut unter dem Weizen (Mtth. 13, 24—30). Ist es nicht so, daß, wenn der Heiland das Gottesreich in eine Vergleichung bringt mit der Aussaat und dem Wachstum des Samens des Evan­ geliums, er dasselbe als ein gegenwärtiges angesehen wissen will? Oder denkt an die Gleichnisse, in welchen das Reich Gottes verglichen wird einem Senfkorn, das allmählich zu einem baumartigen Strauch erwächst, oder mit einem Sauer­ teig, der unter Weizenmehl gemischt wird und dasselbe all­ mählich ganz durchsäuert, oder mit einem im Acker vergrabenen Schatz, der von dem Finder gehoben wird, oder mit einer kost­ baren Perle, die gesucht und durch Drangabe des ganzen Ver­ mögens errungen wird, oder mit einem Netz, das zum Fisch­ fang ausgeworfen und in welchem gute und faule Fische ge­ fangen werden, oder mit einem Weinberg, zu dessen Bearbei­ tung der Besitzer Arbeiter dingt. Tritt uns nicht aus all diesen Gleichnissen das Reich Gottes als ein gegenwärtiges entgegen? Ja, als ein in der Gegenwart und in der jetzigen Weltzeit bereits vorhandenes und zugleich als einnochimWerden begriffenes. Erblickten wir es vorher als ein zukünftiges und vollkommenes, so erscheint es hier als ein erst sich bildendes und deshalb auch noch unvollkommenes, das aber dereinst zu herrlicher Vollendung gelangen wird. HI. Liebe Christen, wir lesen im Evangelienbuche St. Lucä

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(17, 20—21), daß unser Heiland zu den Pharisäern auf ihre Frage: wann kommt das Reich Gottes? die Antwort giebt: das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden; man wird auch nicht sagen: siehe, hier oder da ist es! Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch! Damit bezeichnet er das Gottesreich aufs deutlichste als ein innerliches und unsichtbares. Es wollen zwar manche behaupten, dieser Ausspruch sei nicht so zu übersetzen und zu verstehen, sondern er besage: Das Gottesreich ist unter euch, in euerer Mitte; der Heiland wolle damit bezeugen, daß das Reich Gottes in ihm selbst verkörpert und in die sichtbare Erscheinung getreten sei. Aber der Gegensatz zu seiner vorhergehenden Erklärung: das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden! er­ fordert doch bestimmt die Auffassung: es ist inwendig in euch, wozu wir allerdings ergänzen müssen: sofern ihr die Bedingung erfüllt, die ich mit der Aufforderung gestellt habe: thut Buße! oder die ich aufgestellt habe in der Forderung der Wiedergeburt aus Wasser und Geist. In solchen Seelen, welche diese Bedingungen erfüllen oder an welchen sie erfüllt werden, ist das Reich Gottes verwirklicht und zwar als ein innerliches und unsichtbares. Da besteht es in der christlichen Frömmigkeit, die durch Wiedergeburt und Buße zustande kommt, in dem LebenausundinGott,in dem „ewigen Leben". Dieselbe Anschauung hegt der Apostel Paulus, wenn er (Röm. 14, 7) die Behauptung aufstellt: das Reich Gottes ist Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist. Das Reich Gottes ist die Gerechtigkeit, die der Heiland den Sündern erworben hat und die wir im bußfertigen Glauben an ihn uns aneignen. Es ist der Friede, der das Bewußtsein mit sich führt, daß wir durch unsern Heiland an Gott einen ver­ söhnten Vater im Himmel haben. Es ist die Freude, welche das Herz derer empfindet, welche erfahren, daß sie durch den Glauben an den Helland Kinder Gottes und damit auch Erben der Seligkeit geworden sind. Mit einem Worte: es ist die Gottseligkeit, welche die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens hat. Ja, das Reich Gottes ist das ewige Leben, denn dieses ist keineswegs bloß etwas Jenseitiges und Zukünftiges,

11 sondern zuerst und zunächst etwas Gegenwärtiges und als solches ist es innerlich in dem Menschen. Wer den Sohn siehet und glaubet an ihn, der hat das ewige Leben (Joh. 6, 40). Er hat es vor allem innerlich in der zuversichtlichen Gewißheit und seligen Empfindung seiner Begnadigung. Aus Gnaden seid ihr selig geworden durch den Glauben, nämlich an den Mittler und Versöhner (Eph. 2, 8); selig schon jetzt im Innern in dem Bewußtsein der wiedererlangten Gotteskindschaft. Saget selbst, liebe Christen, wie geläufig ist uns doch der Ausdruck „Reich Gottes" gerade in diesem Sinne, in der Bedeutung des ewigen Lebens und der Seligkeit. Ja, so sehr ist dies der Fall, daß es uns fest steht: nur im Reiche Gottes ist Leben und Seligkeit zu finden, und außerhalb des Reiches Gottes ist kein Heil. Gerade damit aber bezeugen wir, daß wir das Reich Gottes zunächst als ein innerliches Gut ansehen. Auf der anderen Seite aber erscheint es auch in Gottes Wort als ein äußerliches und sichtbares. Zwar er­ klärt unser Heiland vor seinem Richter: mein Reich ist nicht von dieser Welt. Allein damit bestreitet er nicht dessen Aeußerlichkeit, sondern nur dies, daß es ein weltliches Reich sei, wie die irdisch-menschlichen Königreiche und Staaten. Sein Wesen und Charakter ist ein anderer. Es ist ein religiöses, geistliches Reich, eine Gemeinschaft der religiösen Gesinnung, des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung. Diese Gemeinschaft tritt zu Tage als Gemeinde Jesu Christi auf der Erde, als die ch r i st l i ch e Kirche. Diese besteht aus sichtbaren Gliedern, sie hat eine äußere Verfassung, äußerliche Gnadenmittel, äußeren Gottes­ dienst und sichtbare Gotteshäuser. Die Kirche ist die sichtbare Er­ scheinung des Gottes- oder Himmelreichs auf der Erde in dem gegenwärtigen Aeon oder Weltalter. Wie das Gottesreich wäh­ rend der Periode des Alten Bundes in dem leiblichen Volk Israel sich veräußerlichte, so stellt es sich in der Zeit des Neuen Bundes dar in der Kirche Jesu Christi. Damit haben wir denn allerdings zugestanden, daß es zur Zeit noch i m W e r d e n b e g r i f f e n ist. Als ein wachsendes und in der Entwicklung sich befindendes haben wir es bereits kennen gelernt. Es ist aber zugleich auch während des Verlaufs der gegenwärtigen

12 Weltzeit ein streitendes, ein Kreuzesreich, bekämpft von der im Argen liegenden Welt, die teils durch Verführung teils durch Verfolgung es zu vernichten strebt. Es wird jedoch nicht immer ein sich entwickelndes und unvollkommenes, ein strei­ tendes und leidendes sein und bleiben. Es wird einmal zur Vollendung und zum Sieg gelangen. Das wird allerdings nicht, wie viele sich einbilden, auf dem Wege allmählichen Fort­ schritts zustande kommen, sondern durch eine große Katastrophe in der Zukunft, durch die Wiederkunft des Heilands in Herrlich­ keit. Diese hat zum ersten Zweck die Aufrichtung des voll­ endeten Gottesreiches, als eines Reiches des Friedens und der Seligkeit. Und dieses hat wohl unser Heiland be­ sonders im Auge, wenn er uns beten lehrt: „dein Reich komme!" So erkennen wir denn, liebe Christen, daß das Reich Gottes in gewissem Sinne doch auch mit „äußerlichen Ge­ bärden" kommt, während der jetzigen Weltzeit in der sichtbaren Kirche und im zukünftigen Weltalter in einem Herrlichkeits­ reiche, das freilich in einer Aeußerlichkeit auftreten wird, wie sie der neuen Welt angemessen ist. Mr verstehen also jetzt, wie der Heiland jenen Ausdruck gemeint hat, daß er die Aeußerlichkeit des Gottesreiches nicht gänzlich ausschließen, sondern ihr gegen­ über die Innerlichkeit desselben besonders betonen und hervor­ heben wollte. Und mit diesem nach außen hervortretenden Gottesreiche, das ein werdendes, jetzt noch unvollkommenes, aber seiner Vollendung entgegen reifendes ist, haben wir es hier zu thun, wenn ich mich anschicke, in einer Reihe von Predigten die Geschichte des Reiches Gottes, seine geschichtliche Entwicklung euch vor Augen zu führen. Liebe Christen, wir haben das Reich Gottes nach seinen verschiedenen Seiten betrachtet und nach seinen verschiedenen Beziehungen kennen gelernt. Fassen wir diese zum Schluß zu­ sammen, dann müssen wir sagen: das Reich Gottes ist ein aus der oberen Welt auf die Erde verpflanzter, hienieden während des gegenwärtigen Weltalters noch in der Entwicklung be­ griffener, im zukünftigen Weltalter sich vollendender Gottesstaat, in welchem Gott unumschränkt herrscht, seinen heiligen Willen als

13 unverbrüchliches Gesetz aufrichtet und die Erfüllung desselben mit Seligkeit lohnt, und in welchem seine geistigen Geschöpfe als Unterthanen und Reichsbürger ihn als alleinigen Herrn und Gebieter in Gesinnung, Wort und That willig anerkennen und mit ihm in seliger Gemeinschaft stehen. Verhält es sich so mit dem Reiche Gottes, daß in dem­ selben für uns das ewige Leben und die Seligkeit zu finden ist, dann laßt uns, liebe Christen, mit allem Ernste dahin streben, daß wir die Bürgerschaft in demselben erlangen. Laßt uns unseres Heilands Mahnung befolgen: trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes (Mtth. 6, 33)! Ja, laßt uns die Ge­ walt anwenden, die er hierzu empfiehlt, die Gewalt über uns selbst, die in der Buße und Bekehrung geschieht, die er fordert in der Ermahnung: thut Butze, denn das Himmelreich hat sich genahetl, die er als Bedingung für den Eintritt in dasselbe stellt in den Worten an Nikodemus: es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen I Erringen wir dasselbe schon jetzt, wo es noch ein Kreuzesreich ist, dann werden wir auch dereinst als seine Bürger begrüßt werden von unserem Heiland und Richter mit den Worten: kommet her, ihr Gesegneten meines Vaters, und er­ erbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt (Mtth. 25, 34) 1 Amen.

2. Tert: Offb. 7, 9—12.

„Danach sahe ich, und siehe, eine große Schar, welche niemand zählen konnte, aus allen Heiden und Völkern und Sprachen, vor dem Stuhle stehend und vor dem Lamme, an­ gethan mit weißen Kleidern, und Palmen in ihren Händen, schrieen mit großer Stimme und sprachen: Heil sei dem, der auf dem Stuhle sitzt, unserem Gott, und dem Lamme! Und alle Engel stunden um den Stuhl und um die Aeltesten und um die vier Tiere (Lebewesen), und fielen vor dem Stuhle

13 unverbrüchliches Gesetz aufrichtet und die Erfüllung desselben mit Seligkeit lohnt, und in welchem seine geistigen Geschöpfe als Unterthanen und Reichsbürger ihn als alleinigen Herrn und Gebieter in Gesinnung, Wort und That willig anerkennen und mit ihm in seliger Gemeinschaft stehen. Verhält es sich so mit dem Reiche Gottes, daß in dem­ selben für uns das ewige Leben und die Seligkeit zu finden ist, dann laßt uns, liebe Christen, mit allem Ernste dahin streben, daß wir die Bürgerschaft in demselben erlangen. Laßt uns unseres Heilands Mahnung befolgen: trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes (Mtth. 6, 33)! Ja, laßt uns die Ge­ walt anwenden, die er hierzu empfiehlt, die Gewalt über uns selbst, die in der Buße und Bekehrung geschieht, die er fordert in der Ermahnung: thut Butze, denn das Himmelreich hat sich genahetl, die er als Bedingung für den Eintritt in dasselbe stellt in den Worten an Nikodemus: es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen I Erringen wir dasselbe schon jetzt, wo es noch ein Kreuzesreich ist, dann werden wir auch dereinst als seine Bürger begrüßt werden von unserem Heiland und Richter mit den Worten: kommet her, ihr Gesegneten meines Vaters, und er­ erbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt (Mtth. 25, 34) 1 Amen.

2. Tert: Offb. 7, 9—12.

„Danach sahe ich, und siehe, eine große Schar, welche niemand zählen konnte, aus allen Heiden und Völkern und Sprachen, vor dem Stuhle stehend und vor dem Lamme, an­ gethan mit weißen Kleidern, und Palmen in ihren Händen, schrieen mit großer Stimme und sprachen: Heil sei dem, der auf dem Stuhle sitzt, unserem Gott, und dem Lamme! Und alle Engel stunden um den Stuhl und um die Aeltesten und um die vier Tiere (Lebewesen), und fielen vor dem Stuhle

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auf ihr Angesicht, und beteten Gott an, und sprachen: Amen, Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke fei unserem Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen!" In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Die vorige Pre­ digt zeigte uns, daß das Reich Gottes seinen Ursprung und seine erste Heimat im Himmel hat und von dort auf diese Erde verpflanzt worden ist. Dahin weist uns die Offenbarung Gottes, wenn wir nach dem Anfang desselben forschen. Und schon dadurch thut sie dies, daß sie dem Gottesreich auch den Namen „Himmelreich" beilegt. Unser Heiland selbst ist es, der sich der Bezeichnung „Himmelreich" abwechselnd mit der gewöhnlichen und auch uns am meisten geläufigen Benennung „Reich Gottes" bedient. Zeigt uns der letztere Name, wer der Gründer und Stifter dieses Reiches ist, so weist uns die erstere Bezeichnung darauf hin, daß dasselbe nicht dieser Erde entsprossen ist, sondern einer anderen, der Himmelswelt entstammt, und daß es dort nicht nur seine erste Heimstätte hatte, sondern d a ß e s daselbst noch fortwährend Bestand hat. Seitdem es vom Himmel auch auf die Erde verpflanzt ist, hat es zwar dort nicht mehr seinen alleinigen, aber jedenfalls seinen zahl­ reichsten Bestand. Beschäftigen wir uns denn in unserem heu­ tigen Gottesdienste mit dieser himmlischen Abteilung des Gottes­ reiches und betrachten wir an der Hand des verlesenen Schrift­ abschnittes Das Reich Gottes im Himmel,

indem wir erwägen:

1. seine Stätte, 2. seine Bürger, und 3. seine Bedeutung. I. Die ursprüngliche und immer noch bestehende Stätte des Reiches Gottes ist der Himmel. Dahin weist uns auch unser Text. Was versteht das Wort Gottes, in dem wir unsere Belehrung über alle religiösen Fragen suchen, unter dem Ausdruck „Himmel"? Daß nicht der Luft- oder Wolkenhimmel gemeint ist, wenn es sich um die Stätte des überirdischen Gottesreiches handelt, das begreifen

15 wir, liebe Christen. Aber auch der über diesem erhabene Sternenhimmel ist nicht als die obere Stätte desselben an­ zusehen, denn auch dieser gehört zur sichtbaren Schöpfung, wäh­ rend das himmlische Gottesreich ein unsichtbares für uns ist. Deshalb heißt uns das Wort Gottes die Stätte desselben in der unsichtbaren Welt suchen. Der König nicht allein, sondern auch die Bürger desselben sind unsichtbare Wesen und können in der sichtbaren Schöpfung ihren Wohnplatz nicht haben. Sie gehören der Welt an, die der Apostel Paulus meint, wenn er von seiner wunderbaren Verzückung in den dritten Himmel redet, in das Paradies (2. Kor. 12, 2—4). Das ist nach der gesamten Darstellung des Wortes Gottes eine vollkommene Welt, in welcher es bereits so ist, wie es einmal nach der Wieder­ herstellung auf der verklärten Erde werden soll, wo keine Sünde und darum auch kein Leid vorhanden ist, wo die Geschöpfe in innigster Gemeinschaft mit Gott stehen, seinen Willen mit Freu­ digkeit erfüllen (Mtth. 6, 10) und darum auch in vollständiger und ungestörter Seligkeit leben, denn, so sagt das Wort Gottes: vor dir ist Freude die Fülle und lieblich Wesen zu deiner Rechten ewiglich (Ps. 16, 11). In diese Welt verlegt die göttliche Offenbarung die Wohnung des unsichtbaren Gottes. Ist das nicht auffallend, da sie uns doch belehrt, daß Gott ein unendliches Wesen ist, das von keiner Räumlichkeit eingeschlossen werden kann? Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel mögen dich nicht fassen, so betet der König Salomo, und ohne Zweifel unter Erleuchtung des Heil. Geistes (1. Kön. 8, 27). Gott ist allgegenwärtig, er ist, wie uns das Wort Gottes sagt, nicht ferne von einem jeglichen unter uns, denn in ihm leben, weben und sind wir (Apg. 17, 27—28). Aber trotzdem weist uns das Wort Gottes auf eine bestimmte Oertlichkeit hin, wo wir Gott suchen sollen und wo wir ihn finden werden. So, wenn uns der Heiland beten lehrt: Vater unser im Himmel (Mtth. 6, 9). Und es nennt diese überirdische Welt „Himmel". Wie der unendliche und allgegenwärtige Gott in gnädiger Herablassung es sich gefallen ließ, in den Zeiten des Alten Bundes unter seinem Bundesvolk im Allerheiligsten der Stistshütte und des Tempels zu wohnen (2. Mos. 25, 8; 1. Kön.

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8, 29); wie er dereinst innerhalb des Neuen Jerusalems auf der verklärten Erde wohnen will (Offb. 21, 3); wie er sogar schon in der gegenwärtigen Weltzeit nach der ausdrücklichen Ver­ sicherung unseres Heilands in den Gläubigen Wohnung machen will (Joh. 14, 23), — so hat er von Anfang an sich herab­ gelassen, zu wohnen in der Höhe und im Heiligtum (Jes. 57, 15), dem Urbild des irdischen Tempels (2. Mos. 25, 8—9), und daselbst zu thronen in einem Lichte, da niemand zukommen kann (l.Tim. 6, 16). Was will damit anders gesagt sein, als daß der unendliche Gott in dieser Himmelswelt seine göttliche Majestät und Herrlichkeit am deutlich st en und strahlendsten offenbart und kundthut? Wir aber, liebe Christen, lernen daraus, daß es eine überirdische, für unsere Augen unsichtbare Gotteswelt giebt, einen Himmel, und daß dieser die Stätte des oberen Gottes­ reiches ist. II. Wer aber sind seine Bürger? Das soll uns der Schriftabschnitt, den wir unserer Predigt zu Grunde gelegt haben, nunmehr enthüllen. Es giebt nach demselben noch andere geistige Geschöpfe, als wir Menschen. Das sind die Engel, und diese bezeichnet unser Text als die Bürger des oberen Gottes- oder Himmelreiches. Was sind das für Wesen? fragt ihr, liebe Christen. Darüber kann uns nur die göttliche Offenbarung Aufschluß geben. Und welchen giebt sie uns? Sie sagt uns: die Engel sind ähnliche Wesen, wie wir Menschen, doch bestehen wesentliche Unterschiede zwischen ihnen und uns. Sie sind von Gott vor den Men­ schen erschaffen, denn wir lesen, daß Gott den Hiob fragt: wo warst du, da ich die Erde gründete, da mich die Morgensterne miteinander lobten und jauchzten alle Kinder Gottes? (Hiob 38, 4. 7). Kinder Gottes ist einer der Namen, welchen das Wort Gottes den Engeln beilegt. Sie sind jedoch nicht, wie später die Menschen, so geschaffen, daß sie von einem Paar abstammen sollten, sondern Gottes Allmacht hat sie alle gleich­ zeitig ins Dasein gerufen. Ihre Natur ist eine andere, als die der Menschen, sie sind nicht mit Körpern von Fleisch und Blut ausgestattet, sie sind Geister (Hebr. 1, 14). Doch

17 haben wir uns dieselben nicht ganz ohne Leiblichkeit vorzu­ stellen, denn wenn unser Heiland sagt, daß diejenigen Menschen, welche jene Welt und die Auferstehung erlangen (Luk. 20, 35—36), den Engeln gleich sein werden, so ist diesen damit doch eine Leiblichkeit zugedacht, freilich eine der Himmelswelt an­ gemessene, denn den erlösten Menschen wird die Auferstehung eine verklärte, vergeistigte Leiblichkeit bringen. Wenn wir das Wesen unserer menschlichen Gottesebenbildlichkeit vornehmlich in die sittliche Eigenschaft der Heiligkeit setzen, so müssen wir auch von den Engeln annehmen, daß sie nach Gottes Ebenbild, also heilig erschaffen sind, denn aus der Hand des heiligen Gottes kann nur Gutes hervorgehen, wie auch sein Wort be­ zeugt in dem Ausspruch: Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut (1. Mos. 1, 31). Sind sie wohl auch alle gleicher Gottesähnlichkeit teilhaftig, so hat doch der Schöpfer eine bestimmte Rangordnung unter ihnen gestiftet, denn Gottes Wort unterscheidet unter ihnen: Cherubim, Sera­ phim, Thronen, Herrschaften, Fürstentümer, Obrigkeiten, Erz­ engel und Engel (Jes. 6, 2; Kol. 1, 16; 1. Thess. 4, 16). Aber wie auf Erden ein Sündenfall eingetreten ist, so trat schon vor­ her auch in der Himmelswelt ein solcher ein. Einer dieser heilig erschaffenen Engel, und ohne Zweifel ein hochgestellter, hat sich gegen Gott empört, ist böse geworden und hat auch andere Engel noch in seinen Sündenfall hineingezogen. Die übrigen jedoch haben der Versuchung widerstanden, sind Gott treu und gehorsam geblieben und infolgedessen wohl im Guten dermaßen befestigt worden, daß sie vor der Gefahr zu sündigen gesichert sind (Mtth. 18, 10; Luk. 15, 10). Welches ist nun deren Aufgabe und Beruf? Das Wort Gottes nennt sie „dienstbare" Geister (Hebr. 1, 14). Daraus erkennen wir, daß Gott sie zur Ausrichtung seiner Thaten und Werke gebraucht, und zwar sowohl im Reiche der Natur als in der Geschichte der Welt. Gott gebraucht sie zur Ausführung seiner Werke im Reiche der Natur, denn, so sagt uns Gottes Wort, er macht seine Engel zu Winden und seine Dimer zu Feüerflammen (Ps. 104, 4; Hebr. 1, 7). Gott ge­ braucht sie zur Ausführung seiner Thaten in der Geschichte der Schnabel, Predigten.

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18 Menschen, insbesondere in der Heilsgeschichte, in der Geschichte der Erlösung und des Gottesreiches. Gottes Wort läßt uns in dieser Hinsicht tiefe Einblicke thun in sein Walten und in seine Weltregie­ rung. So müssen die Engel den Frommen zum Schutze und zur Hilfe dienen. Ein Engel beschützt die drei Israeliten, welche sich nicht mit Götzendienst beflecken wollten, in dem Feuerofen Nebukadnezars (Dan. 3) und den Daniel in der Löwengrube (Dan, 6). Ein Engel führt die Apostel Johannes und Petrus aus dem Gefängnis des Hohenpriesters (Apg. 5, 18 ff.), den letzteren Apostel aus dem Kerker des Herodes (Apg. 12, 7 ff.). So bedient sich Gott der Engel auch häufig bei den Offen­ barungen, welche er den Menschen läßt zu teil werden. Engel sind thätig bei der Schöpfung der Erde (Hiob 38, 7), indem sie dies Gotteswerk mit Jauchzen begrüßen; bei der Gesetzgebung, denn es ist gestellt von Engeln durch die Hand des Mittlers (Gal. 3, 19; Hebr. 2, 2; 5. Mos. 33, 2). Engel sind geschäftig bei den wichtigsten Ereignissen des Lebens unseres Heilands: bei seiner Geburt, die sie vor und nach ihrem Eintritt ver­ kündigen (Luk. 2)'; bei seiner Versuchung, nach welcher sie ihm dienen (Mtth. 4, 11); bei seinem Leiden, in welchem ein Engel ihn stärkt (Luk. 22, 43); bei seiner Auferstehung, die sie den Jüngern bestätigen (Matth. 28, 2; Luk. 24, 4); bei seiner Himmelfahrt, welche sie ihnen erklären (Apg. 1, 10). Engel werden auch den Herrn begleiten, wann er wiederkommt in seiner Herrlichkeit (Mtth. 25, 31; 2. Thess. 1, 7; Offb. 19, 11), um dann die Auserwählten zu sammeln von den vier Winden, von einem Ende des Himmels zum anderen (Mtth. 24, 31). Die wichtigsten Offenbarungen Gottes geschehen durch einen ausgezeichneten Engel, welcher vorzugsweise den Namen „der Engel des Herrn" (Jehovas) trägt. Dieser ist es, der als der besondere Abgesandte Gottes vielfach so auftritt und spricht, als ob er der Herr (Jehova) selbst wäre. So thut er dem Abraham gegenüber, als er ihm die Geburt eines Sohnes verspricht, ihm das Gericht über Sodom anzeigt, ihn von der Opferung Isaaks abhält (1. Mos. 18; 20). Dem Moses er­ scheint er in Midian im brennenden Busch und ordnet ihn zum Befreier des Volkes Israel aus der ägyptischen Knechtschaft

19 (2. Mos. 3). Er erscheint der Jungfrau Maria in Nazareth unter dem Namen Gabriel und eröffnet ihr, daß sie die Mutter des Heilands werden soll (Luk. 1, 26—38). Er ist auch der Herold, der den Hirten bei Bethlehem die Geburt des Messias anmeldet (Luk. 2, 9 ff.). Wie sich sonst Gott offenbaret durch Träume, durch Gesichte, durch innere Eingebung, oder verhüllt in der Wolkensäule (2. Mos. 13, 21; 40, 34), so bedient er sich in anderen Fällen dieses Engels als des Vermittlers seiner Kundgebungen. Indes auch hiermit ist die Aufgabe und der Beruf der Engel noch nicht erschöpft. Gott gebraucht sie auch als seine Werkzeuge bei den Strafen, mit welchen er die Menschen heim­ sucht, als seine Gerichtsvollstrecker. Ein Cherub verschließt den ersten Sündern das Paradies (1. Mos. 3, 24). Ein Engel wird zum Würgengel an der Erstgeburt in Aegypten (2. Mos. 12, 29). Ein Engel straft den sich überhebenden König Herodes mit schrecklicher Krankheit und frühem Tode (Apg. 12, 23). Zum öfteren treten im Verlaufe der Geschichte des Reiches Gottes Engel sichtbar auf. Es wohnt ihnen demnach die Mög­ lichkeit bei, aus ihrer natürlichen Unsichtbarkeit, die sie für unsere Augen haben, herauszutreten und sich sichtbar zu machen. Sie erscheinen dann in Menschengestalt, etwa angethan mit weißen und glänzenden Kleidern (Luk. 24, 4; Apg. 1, 10). Ja, sie nehmen zuweilen eine gewisse Leiblichkeit an, die es ihnen ermöglicht, Speise zu sich zu nehmen, wie bei Abraham, oder sogar mit einem Menschen zu ringen, wie es Jakob erfuhr (1. Mos. 18; 32, 25ff). Die Engel sind nach der Aussage des Wortes Gottes mit den Eigenschaften der Weisheit und Macht in höherem Maße ausgestattet, als wir Menschen (Ps. 103, 20 ; 2. Petr. 2, 11). Aber die höhere Würde legt das Wort Gottes doch damit den Menschen bei, daß es uns lehrt, die Menschen, wenn sie sich zum Heiland bekehren, werden diesem schon während des Erden­ lebens eingeleibt, der göttlichen Natur theilhaftig, Tempel des Heiligen Geistes, und dereinst zur Herrlichkeit des erhöheten Heilands erhoben, um dann mit ihm die Engel zu richten und über sie zu herrschen (Hebr. 2, 11; Gal. 3, 27; 2. Petr. 1, 4; 2*

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Hebr. 2, 5; 1. Kor. 6, 2—3). Schon aus diesen Gründen ist es verkehrt, wenn in der Papstkirche den Engeln der Rang einer Mittelstufe zwischen Gott und den Menschen eingeräumt und gelehrt wird, daß die Christen dieselben verehren und ihre Für­ sprache bei Gott anrufen sollen. Das widerstreitet der An­ schauung, welcher wir in Gottes Wort begegnen, wo der Engel, vor dem der Seher Johannes im Gesicht anbetend niederfällt, diesem wehrt mit den Worten: thu' es nicht, ich bin dein und deiner Brüder Mitknecht.(Offb. 19, 10). Vor solcher Verirrung des Glaubens wollen wir uns hüten, liebe Christen. Im übrigen aber soll uns der Unter­ richt, den uns Gottes Wort über die Engel erteilt, trostreich sein. Sind sie doch unsere Freunde und unsere Beschützer. Sie freuen sich über und mit uns, wenn wir Sünder Buße thun und uns bekehren (Luk. 15, 10). Der Engel des Herrn lagert sich um die her, die ihn fürchten und hilft ihnen aus (Pf. 34, 8). Gott befiehlt seinen Engeln, daß sie die Frommen behüten auf ihren Wegen (Pf. 91, 11). Ja, Gott läßt durch seine Engel der Frommen Seelen heimholen in das obere Gottes­ reich (Luk. 16, 22). in. Wir haben die Bürger des himmlischen Gottesreiches kennen gelernt, liebe Christen. Uebrigens sind die Engel nur die ersten und ursprünglichen Bürger desselben. Indem wir nun über die Bedeutung des oberen Himmelreiches zu sprechen kommen, begegnen uns noch andere Reichsgenossen und Teil­ haber dieses Reiches. Da, wo das Wort Gottes von dem Erb­ teil der gläubigen und bekehrten Jesusjünger redet, sagt es: ihrseid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, zu dem himmlischen Jerusalem und zu der Menge vieler tausend Engel und zu der Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel angeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und zu den Geistern der voll­ kommenen Gerechten, und zu dem Mittler des Neuen Bundes Jesu (Hebr. 12, 22—23). Was ist damit anderes gesagt, als daß die Seelen derjenigen, welche im Herrn sterben, von denen bezeugt wird, daß sie selig sind (Offb. 14, 13), nunmehr, nach­ dem der Heiland das Versöhnungswerk vollbracht hat, bei ihrem

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Scheiden aus diesem Leben ausgenommen werden in das himm­ lische Gottesreich? Das ist das Vaterhaus mit seinen vielen Wohnungen, in welches der Heiland seinen Jüngern voran­ gegangen ist, in welchem er ihnen Quartier gemacht hat und in welches er uns heimholen will bei unserem Sterben (Joh. 14, 1—2). Seht, liebe Christen, diese hohe Bedeutung hat das obere Himmelreich für uns. In demselben werden wir nach diesem Erdenleben Reichsgenossen sein mit den Engeln. Denn wenn in dem Gesicht, das unser Text uns beschreibt, der Seher eine unzählbare Schar aus allen Heiden und Völkern vor dem Thron Gottes und des Lammes erblickt, angethan mit den weißen Kleidern der Gerechtigkeit und in ihren Händen Siegespalmen schwingend, und Gott und dem Lamme Lobpreis darbringend, so sind damit gemeint die Seelen derjenigen, welche im Herrn gestorben sind (Offb. 14, 13) und deren nunmehrige Seligkeit in dem unserem Texte unmittelbar folgenden Abschnitt in herrlichen Worten geschildert wird. Sind auch in dieser Schilderung diese Seligen zunächst als die Seelen derjenigen bezeichnet, welche in der großen Trüb­ sal der letzten Zeit ihren Tod finden, so sind wir doch ohne Zweifel berechtigt, ihnen alle Jesusjünger aller Zeiten in dieser Hinsicht gleich zu stellen, wenn sie, wie jene, ihre Kleider gewaschen und helle gemacht haben im Blute des Lammes (Offb. 7, 14). Ihre Bleibstätte nach Vollendung der Erdenpilgcrschaft ist das Gottesreich des Himmels. Nach diesem ging die Sehnsucht des Apostels, als er schrieb: ich habe Lust, abzu­ scheiden und bei Christo zu sein! Auf dieses ist unsere Sehn­ sucht gerichtet, liebe Christen, wenn wir singen: Jerusalem, du hochgebaute Stadt, wollt' Gott, ich wär' in dir! Indes auch an und für sich hat das Gottesreich des Himmels seine wichtige Bedeutung und seinen erhabenen Zweck. Wie für uns Erdenpilger das Reich Gottes das ewige Heil und die Seligkeit in sich schließt, so ist es auch für die ursprünglichen Himmelsbewohner, für die heiligen Engel derZustand der Seligkeit. Auch das leuchtet deutlich aus unserem Schrift­ abschnitt hervor, aus dem Lobgesang, den sie Gott darbringen. Sie sind aber zu dieser Seligkeit fähig und würdig, weil sie.

22 heilig und gut erschaffen, der Versuchung zum Ungehorsam und zur Empörung gegen Gott, zum Bösen und zur Sünde wider­ standen haben und in ihrer anerschaffenen Gottesebenbildlich­ keit geblieben sind. So erfreuen sie sich in Ewigkeit der innigsten Gemeinschaft und des engsten Verkehrs mit Gott, der die Quelle aller Seligkeit ist. Ihr Geist ist voll Dankbarkeit gegen Gott, den Geber aller guten und vollkommenen Gaben, den Spender ihrer Seligkeit, und strömt über von Lob, Preis und Ruhm, den sie ihm in einem beständigen Halleluja darbringen. Wie entzückend lauten die Schilderungen, die uns das Wort Gottes, und auch unser Text von diesen himmlischen Gottesdiensten entwirft! O liebe Christen, lassen wir diese himmlischen Reichs­ genossen uns zu Vorbildern der Reinheit, Gottergebenheit und Heiligkeit dienen, und ihnen mit allem Eifer nachstreben l Nehmen wir sie uns zu Mustern der Lobpreisung, Anbetung, Verehrung und Dankbarkeit gegen unseren Gott und Heiland, und laßt uns ihnen nachfolgen! Dann werden wir dereinst nach Vollendung der Erlösung, wenn das himmlische Jerusalem sich herabläßt auf die verklärte Erde, im Neuen Jerusalem die ewigen Genossen und Mitbürger der heiligen Engel im vollen­ deten Gottesreiche sein, wie wir in solcher Hoffnung schon jetzt singen: von zwölf Perlen sind die Pforten an deiner Stadt, wir sind Konsorten der Engel hoch um deinen Thron! Amen.

3.

Tert: Äoh. 8, 44 und 2, Petr. 2, 4.

„Derselbige (der Teufel) ist ein Mörder von Anfang und ist nicht bestanden in der Wahrheit, denn die Wahrheit ist nicht in ihm; wenn er die Lüge redet, so redet er von seinem Eigenen, denn er ist ein Lügner und ein Vater derselbigen." — „Denn so Gott der Engel, die gesündigt haben, nicht verschonet hat, sondern hat sie mit Ketten der Finsternis zur Hölle verstoßen und über­ geben, daß sie zum Gericht behalten werden." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Wir haben in

22 heilig und gut erschaffen, der Versuchung zum Ungehorsam und zur Empörung gegen Gott, zum Bösen und zur Sünde wider­ standen haben und in ihrer anerschaffenen Gottesebenbildlich­ keit geblieben sind. So erfreuen sie sich in Ewigkeit der innigsten Gemeinschaft und des engsten Verkehrs mit Gott, der die Quelle aller Seligkeit ist. Ihr Geist ist voll Dankbarkeit gegen Gott, den Geber aller guten und vollkommenen Gaben, den Spender ihrer Seligkeit, und strömt über von Lob, Preis und Ruhm, den sie ihm in einem beständigen Halleluja darbringen. Wie entzückend lauten die Schilderungen, die uns das Wort Gottes, und auch unser Text von diesen himmlischen Gottesdiensten entwirft! O liebe Christen, lassen wir diese himmlischen Reichs­ genossen uns zu Vorbildern der Reinheit, Gottergebenheit und Heiligkeit dienen, und ihnen mit allem Eifer nachstreben l Nehmen wir sie uns zu Mustern der Lobpreisung, Anbetung, Verehrung und Dankbarkeit gegen unseren Gott und Heiland, und laßt uns ihnen nachfolgen! Dann werden wir dereinst nach Vollendung der Erlösung, wenn das himmlische Jerusalem sich herabläßt auf die verklärte Erde, im Neuen Jerusalem die ewigen Genossen und Mitbürger der heiligen Engel im vollen­ deten Gottesreiche sein, wie wir in solcher Hoffnung schon jetzt singen: von zwölf Perlen sind die Pforten an deiner Stadt, wir sind Konsorten der Engel hoch um deinen Thron! Amen.

3.

Tert: Äoh. 8, 44 und 2, Petr. 2, 4.

„Derselbige (der Teufel) ist ein Mörder von Anfang und ist nicht bestanden in der Wahrheit, denn die Wahrheit ist nicht in ihm; wenn er die Lüge redet, so redet er von seinem Eigenen, denn er ist ein Lügner und ein Vater derselbigen." — „Denn so Gott der Engel, die gesündigt haben, nicht verschonet hat, sondern hat sie mit Ketten der Finsternis zur Hölle verstoßen und über­ geben, daß sie zum Gericht behalten werden." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Wir haben in

23

unserer letzten Predigt das Gottesreich in der überirdischen Himmelswelt kennen gelernt. Das hat von Anfang an, von der Zeit der Erschaffung der Engel an bestanden, und zwar als das Reich des Guten, in welchem der Wille Gottes als das einzig gültige Gesetz von den Bürgern willig anerkannt und gethan wird, wie uns unser Heiland dessen versichert, wenn er uns im Vaterunser beten lehrt: dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel. Gerade darum aber besteht das obere Gottesreich auch als das Reich der Seligkeit, denn nur wenn die geistigen Geschöpfe Gottes mit ihm in Gesinnung und That in Uebereinstimmung sind, sind sie glückselig. Mit der Entfernung von Gottes Willen, mit der Empörung und Widerspenstigkeit gegen denselben ist das Unheil, die innere und äußere Unseligkeit verknüpft. Gegen dieses Himmelreich des Guten und der Seligkeit ist jedoch schon früh ein Gegensatz in der unsichtbaren Welt entstanden, und dieser Gegensatz hat sich zu einem Reich des Bösen und der Unseligkeit ausgebildet. So besteht seit­ dem neben dem überirdischen Lichtreiche ein überirdisches Reich der Finsternis, und diese beiden Reiche stehen sich im Kampfe gegenüber. Das Reich der Finsternis hat seinen bösen Einfluß und seine Herrschaft auch auf unsere Erde und ihre geistigen Bewohner, die Menschen, ausgedehnt, und auf der Erde und durch die Menschen soll nach Gottes Anordnung der Kampf vornehmlich gestritten und zu Ende gebracht, zum Sieg des Gottesreiches über das Reich des Bösen geführt werden. Wir, liebe Christen, sind also mitten in diesen Kampf hinein ge­ stellt, und müssen für das eine oder andere der beiden Reiche Partei ergreifen. Darum sind wir verpflichtet, beide Reiche in ihrem Wesen und Zweck kennen zu lernen, und heute suchen wir Aufschluß in Gottes Wort über das feindliche Reich. Laßt uns auf Grund der verlesenen Schriftworte reden über

des Reiches Gottes Gegensatz: das Reich der Finsternis; wir erforschen: 1. seine Entstehung, 2. seinen Bestand, 3. sein Ende.

24 I. Wie ist das Reich des Bosen in der unsichtbaren Welt entstanden? Das ist, liebe Christen, die erste Frage, die uns entgegen tritt. Aufschluß über dieselbe giebt uns der erste Schriftabschnitt, den ich dieser Predigt zu Grunde gelegt habe. Das Reich der Finsternis ist entstanden, in der Zeit entstanden, es ist also kein ewiges Reich. Und sein Stifter ist Satan. Wer aber ist Satan? Unser Text sagt es uns, nament­ lich wenn wir ihn in Verbindung mit anderen Aussprüchen des Wortes Gottes und ihn nach der Gesamtanschauung desselben auslegen. Satan, d. i. der Widersacher, oder der Teufel, d. i. der Verkläger, ist ein persönliches Geisteswesen aus der unsicht­ baren Welt, ein von Gott erschaffener Engel. Und von diesem sagt unser Heiland in unserem Texte reristnichtbestanden in der Wahrheit. Demnach war er ursprünglich in der Wahrheit. Die Wahrheit aber ist die geistliche und sittliche Recht­ beschaffenheit. Diese hat Satan ursprünglich besessen, wie alle Engel, die sämtlich als heilige Wesen vom heiligen Gott er­ schaffen sind. Aber er hat sich gegen seinen Schöpfer und Gott empört und hat ihm gleich sein, wohl gar sich über ihn setzen wollen. Damit ist er aus der Wahrheit herausgefallen und in die Lüge, in geistliche und sittliche Verirrung geraten. Er ist der Feind Gottes und damit auch des Reiches Gottes geworden, und sucht seitdem Gott auf alle Weise entgegen zu arbeiten und sein Reich zu hindern und zu nichte zu machen. Er ist ganz böse geworden, sein Verstand und sein Wille ist nur auf das Gottwidrige gerichtet. Seine anerschaffene Gottesliebe ist in Hcß gegen Gott verwandelt. Er ist aus der ihm von seinem Schöpfer ins Dasein mitgegebenen Harmonie und Uebereinstimmung mit dem Wesen und Willen Gottes ganz heraus- und in völlige Gegnerschaft und Feindschaft gegen Gott und das Gute einge­ treten. Das Böse, die Sünde, ist ihm zur anderen Natur ge­ worden und macht nun seinen Charakter aus. Ja, er ist nicht nur ein Kind der Lüge und Sünde, sondern ein Vater, ein Erzeuger derselben. Er hat sie in die Schöpfung Gottes eingeführt und geht seit seinem Abfall von Gott darauf aus, sie in der Welt unter den geistigen Geschöpfen zu verbreiten. Das hat er zunächst in der Engelwelt, der er angehört, bewiesen.

25 denn er hat viele Engel zum Abfall von Gott verleitet. Wenigstens ist das die gewöhnliche Annahme. Oder sollte in allen gefallenen Engeln selbständig und zu gleicher Zeit der Ge­ danke der Empörung gegen Gott entstanden sein? Es ist uns darüber nichts Bestimmtes gesagt. Doch spricht für die allge­ meine Annahme der Umstand, daß der Heiland Satan allein als denjenigen bezeichnet, der nicht bestanden ist in der sittlichen Wahrheit und ihn den Vater der Lüge, also den Urheber der sittlichen Unwahrheit nennt. Schließen wir uns deshalb der Annahme an, daß er der eigentliche Erfinder der Sünde und der Verführer seiner Mitengel ist.. Diese sind es, welche unser zweites Texteswort meint, wenn es von Engeln redet, die gesündigt haben und die Gott dafür be­ reits gerichtet hat, wenn auch dieses Gericht noch nicht voll­ ständig vollzogen ist, sondern seiner Vollstreckung am Tage des Weltgerichts wartet. Das gilt von den Verführten und von dem Verführer, denn nirgends ist in dem Worte Gottes die Rede davon, daß es für sie eine Erlösung gebe. Vielmehr versichert uns dasselbe ausdrücklich, daß sich der Sohn Gottes als Er­ löser wohl des Samens Abrahams (und, so dürfen wir er­ gänzen, der gesamten Menschheit), aber keineswegs der Engel annimmt (Hebr. 2, 3). Das einstweilige Gericht und die Vorläufige Strafe, welche die gefallenen Engel bereits be­ troffen hat, besteht darin, daß sie von der seligen Gemein­ schaft mit Gott ausgeschlossen, des geistlichen Verständnisses beraubt, in ihrer bösen Willcnsrichtung verstockt und von aller Hoffnung entblößt sind. Ueber diese Engel führt nun Satan die Oberherrschaft und war hierzu wohl durch die ihm von Gott ursprünglich angewiesene hervorragende Stellung in der Engel­ welt berechtigt. Er hat sie zu einem Reiche zusammen­ geschlossen, welches den Gegensatz zu dem Reiche Gottes bildet. In diesem ist er der König und Regent und führt als solcher in Gottes Wort die Namen: der Fürst der Finsternis, der Oberste der Teufel, der Fürst dieser Welt (Eph. 6, 2; Matth. 9, 34; Joh. 12, 31). II. Nachdem wir die Entstehung des Reiches der Finster­ nis kennen gelernt haben, wollen wir nun auch, liebe Christen,

26 seinen Bestand und damit zugleich seine Wirksamkeit auf Grund des Wortes Gottes erforschen. Nun, was sagt es uns denn darüber? Vor allem sagt es uns, daß das Satansreich noch fortwährend besteht. Schon das kann uns Wunder nehmen, so daß wir fragen: warum hat es Gott nicht gleich nach oder bei seiner Entstehung vermöge seiner Allmacht vernichtet, oder, wenn das nach Gottes Weisheit und Gerechtigkeit nicht anging, warum hat er es nicht nach der Besiegung seines Obersten durch unseren Heiland aufgehoben? Indes noch größeren Anstoß könnte es bei uns erregen, wenn wir erfahren, daß das Reich der Finster­ nis nicht bloß fortbesteht, sondern fortwirkt, seine bösen, schlimmen Wirkungen fortwährend ausübt. Darüber läßt uns Gottes Wort nicht im Zweifel, und auch unser Text widerspricht dem keineswegs, denn wenn es in diesem heißt, daß Gott die gefallenen Engel mit Ketten der Finsternis zur Hölle verstoßen hat, so will dies nur besagen, daß Gott sie in geistliche Ver­ finsterung hat geraten lasten und daß er ihnen an Stelle ihres ursprünglichen Aufenthaltes im Himmel den Ort zur Bleibstätte angewiesen hat, der die vorläufige Stätte der Unseligkeit, die Vorhölle ist, bis sie am jüngsten Gericht dem ewigen Feuerpfuhl, der eigentlichen Hölle verfallen. Mit der Frage: warum Gott das Reich der Finsternis fortbcstehen und fortwirken läßt, stehen wir, liebe Christen, allerdings vor einem tiefen Geheim­ nis, an dem uns nur so viel klar ist, daß gemäß der göttlichen Gerechtigkeit das Böse vorerst in rechtmäßiger Weise über­ wunden werden muß, ehe es gerichtet und abgethan werden kann. Ob die böse Wirksamkeit des Reiches der Finsternis auch noch nach dem Fall eines Teils der Engel in der unsichtbaren Geisterwelt sich noch geltend macht, um das dort bestehende Gottesreich zu bekämpfen und zu schädigen, darüber giebt uns die göttliche Offenbarung keinen Aufschluß. Doch dürfen wir wohl mit Sicherheit annehmen, daß der Versucher über die Gott treu und gehorsam gebliebenen Engel keine Macht mehr hat, sie haben sich einmal für Gott und dessen heiligen Willen ent­ schieden und beharren in dieser richtigen Entscheidung. Desto deutlicher aber redet das Wort Gottes über die üble Wirksamkeit

27 Satans und seines Reiches auf der Erde. Auf diese Erde hatte Gott sein Reich damit verpflanzt, daß er Menschen schuf nach

seinem Ebenbilde. Da war es denn dem Satan darum zu thun, dasselbe alsbald dadurch zu zerstören, daß er die Menschen zum Ungehorsam und Mißtrauen gegen Gott, also zur Sünde verführte.

Das bezeugt unser Text damit, daß er Satan den

Menschenmörder von Anfang nennt, ihn also als den­

jenigen bezeichnet, der den ersten Adam zu Fall gebracht hat. Das war der erste und verhängnisvollste Schlag, den er dem irdischen Gottesreiche versetzte. Einen anderen, noch empfind­ licheren Schlag, ja den eigentlichen Todesstoß gedachte er dem­ selben zuzusügen, als er sich daran begab, den zweiten Adam, unseren Heiland, zum Abfüll von Gott zu verlocken. Aber daß dieser seine Versuchung abwies und überwand, das war auch Satans erste Niederlage und der Anfang seines Endes. Wie er dem Heiland gleich beim Beginn von dessen pro­ phetischer Laufbahn als der Versucher entgegen trat, so setzte er seine Anfechtungen während dessen ganzer Wirksamkeit auf Erden fort. Er brachte alles in Bewegung, die kirchliche und die welt­ liche Obrigkeit, und hetzte sie auf zum Morde desjenigen, von dessen Unschuld sie überzeugt war. Doch gerade in diesem Punkte

offenbarte es sich, daß ihm von seinem ancrschaffenen Geistes­ vermögen wohl verstandesmäßige Klugheit, List und Schlau­ heit geblieben, daß ihm aber die höhere, geistliche Weisheit und Erkenntnis abhanden gekommen ist. Wie sehr hat er sich doch

bei seinen: mordsüchtigen Wüten gegen den Heiland der Welt verrechnet! Und ergeht es ihm denn nicht ebenso bei den blut­ dürstigen Verfolgungen, die er von jeher gegen die Jünger des Herrn Jesus anrichtete? Wie diese nur zur inneren Erstarkung und äußeren Ausbreitung des Gottesreiches beitrugen, so grub er sich mit der Ermordung des Erlösers sein eigenes Grab, denn dessen Opfertod am Kreuze war Satans Besiegung und die Rettung des Reiches Gottes auf der Erde. So müssen auch die gottfeindlichen Pläne und Werke Satans wider seinen Willen den Zwecken Gottes dienen und seinen Heilsratschluß ausführen helfen. Auf alle mögliche Weise sucht der Fürst der Finsternis seine

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Bekämpfung des Gottesreiches zu betreiben, und zwar thut ec es auf der Erde, denn dahin hat er durch die Verführung des ersten Menschenpaares sein Reich und seine Herrschaft ausge­ dehnt. Die sündhaft gewordenen Menschen sind seitdem seinen schlimmen Einflüssen und Einwirkungen ausgesetzt. Hört doch, liebe Christen, was Gottes Wort alles darunter rechnet! Es ist die Abwendung der Seelen von Gott, ihrem Schöpfer und Er­ löser. Denkt an Petrus und seine Mitjünger, in Bezug auf welche der Heiland sagte: Satanas hat euer begehrt (Luk. 22,31)! Es ist die Erregung von Unglauben und Sündenlust in den Menschenherzen. Denkt an das Gleichnis vom Unkrautsamen, den der Feind unter den Weizen säete (Matth. 13, 24)! Es ist die Verhinderung der Seelen an der Buße und Bekehrung und damit an der Erlangung der Seligkeit. Denkt an die Bemerkung unseres Heilands in seinem Gleichnisse vom vierfachen Acker­ feld: darnach kommt der Teufel und nimmt das Wort Gottes von ihren Herzen, damit sie nicht glauben und selig werden (Luk. 8, 12)! — Zu den erwähnten schlimmen satanischen Ein­ flüssen gehört aber auch die Bewirkung von Unglücksfällen und Krankheiten. Denkt an den frommen Hiob, den Gott, um seine Frömmigkeit zu erproben, in die Hände Satans giebt, damit er ihn mit allerlei schweren Schicksalsschlägen und schrecklicher Krankheit heimsuche (Hiob 1; 2)! Darunter gehört auch die Besitzergreifung der Körper und Vergewaltigung der Seelen der Menschen durch böse Geister. Denkt an die zahlreichen Fälle, in welchen der Heiland und nach ihm seine Jünger solche unglück­ liche Menschen aus ihrer Gebundenheit befreiten (Matth. 8, 16. 28—32; 12, 22—29; Apg. 8, 7; 16, 16—18)! Die gewaltsamen Verfolgungen, welche je und je über das Volk Gottes von feiten der „im Argen liegenden Welt" er­ gangen sind, sind nach Gottes Wort ein Werk Satans, denn wie die verführten Engel, so gebraucht er auch die sündhaft ge­ wordenen Menschen zu seinen Werkzeugen. Lesen wir doch in der Offenbarung St. Johannis: wehe denen, die auf Erden wohnen und auf dem Meer, denn der Teufel kommt zu euch hinab und hat einen großen Zorn (12, 12), und im Anschluß hieran: da der Drache sah, daß er verworfen war auf die Erde, per-

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folgte er das Weib (die Gemeinde des Herrn)! Ebenso sind auch die geistlichen Anfechtungen, welche die Gottseligen je und je zu erfahren gehabt haben, eine Wirkung aus dem Reiche der Finsternis. Sagt doch der Apostel: wir haben nicht nur mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Fürsten und Gewal­ tigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in der Finsternis dieser Welt herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel (Eph. 6, 12). Die Lüge ist nach unseres Heilands Ausspruch Satans Eigenes, sein Lebenselement. Was ist aber die Lüge? Wie wir ihr Gegenteil, die Wahrheit, aufgefaßt haben als die religiöse und sittliche Rechtbeschaffenheit, so ist die Lüge die religiöse und sittliche Verirrung und Verkehrtheit, der Un- und Aber­ glaube und die Gesetzwidrigkeit und Sünde. Ist diese nun Satans Lebenselement, dann ist die Versuchung und Verführung zu derselben sein selbsterwählter Beruf. Die Geisteswesen, die er in die Verirrung hincinzieht, macht er dadurch unglücklich und setzt sie den Strafgerichten des heiligen und gerechten Gottes aus, die sie an sich in Zeit und Ewigkeit erfahren. Anderseits gebraucht er die Verführten auch als seine ihm unterworfenen Werkzeuge, um Böses zu thun, andere zur Verkehrtheit zu ver­ leiten und sie an Leib und Seele zu schädigen. Die Lüge und Sünde zur herrschenden Macht in der Welt zu erheben, dahin geht sein Streben. Und er wird es laut den Weissagungen des Gotteswortes dahin bringen in der Menschenwelt, daß sie in immer schlimmeren Erscheinungen zu Tage treten und schließ­ lich in einer dem Christentum entgegen gesetzten religiösen und sittlichen Weltanschauung die Oberherrschaft gewinnen, und sich sogar in einer Einzelpersönlichkeit, einem Weltherrscher, dem Widerchrist, den das Wort Gottes den Menschen der Sünde und das Kind des Verderbens, den sich über Gott Erhebenden und Gesetzlosen nennt, zusammenfassen wird, den der Heiland bei der Erscheinung seiner Wiederkunft mit seinem Allmachtsworte um­ bringt (2. Thess. 2, 3—8). Ja, liebe Christen, Satans verderbliche Einwirkungen auf die Menschenwelt sind groß und weitreichend. Groß Macht und viel List sein grausam Rüstung ist. Aber eins steht doch un-

30 zweifelhaft fest. Seine Macht reicht nur so weit, als Gott in seiner Weisheit sie reichen lassen will. Er steckt ihr die Grenzen, über welche sie nicht hinaus kann. Das mag uns zu großem Troste gereichen. Gottes Wort zeigt uns das besonders deutlich am Beispiel des frommen Hiob. Als Gott denselben in die Hand Satans gab, gestattete er diesem, über Hiob Unglücksfälle her­ beizuführen, bestimmte aber zugleich: allein an ihn selbst lege deine Hand nicht (Hiob 1, 12)! Und als Gott dem Satan er­ laubte, Hiobs Gesundheit zu schädigen, ordnete er an: er sei in deiner Hand, aber schone seines Lebens (Hiob 2, 6)! Wie seit dem ersten Sündenfall, so geht Satan noch immer umher auf der Erde wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge (1. Petr. 5, 8). Seine Absicht geht darauf hinaus, die Menschen in den Unglauben und Sündendienst zu ziehen, darin zu erhalten und sie dadurch um die Bürgerschaft im Reiche Gottes zu bringen. Auch die bekehrten Christen sind nicht sicher vor seinen listigen Anläufen (Eph. 6, 11). Darum werden wir, liebe Christen, so eindringlich durch Gottes Wort gemahnt, die geistliche Waffenrüstung anzulegen, welche der Apostel Paulus eingehend beschreibt, damit wir mit dieser die feurigen Pfeile des Bösewichts auslöschen können (Eph. 6, 16). Achtet wohl darauf: wir sollen sie nicht bloß von uns abwenden, sondern sie aus lösch en, also dazu mithelfen, daß die Macht der Finsternis geschwächt und schließlich gebrochen werde. Auf der Erde und unter dem Menschengeschlecht hat Satan mit seinem Reiche seine Hauptwirksamkeit und unberechenbar ist das Unheil, das er auf diesem seinem Wirkungsgebiet anrichtct. Aber hier muß und soll auch nach Gottes Bestimmung der große Kampf zwischen dem Reiche Gottes und dem Reiche Satans zu Ende und zum Sieg des ersteren über das letztere geführt werden, in. Wir brauchen eigentlich, liebe Christen, gar nicht zu fragen: Wird dieser Kampf auch einmal ein Ende nehmen? Im Grunde genommen ist er bereits beendigt, und zwar zu Gunsten des Reiches Gottes und zum Untergang des Reiches der Finsternis. Und wer hat ihn beendigt? Unser Herr Jesus ist der große Siegesheld. Und wie und wodurch hat er diesen Sieg errungen? Nicht mit Ge-

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Waltmitteln und mit fleischlichen Waffen, sondern auf geist­ lichem und sittlichem Wege, durch die Glaubenstreue und Gehorsamsbeharrlichkeit, welche er unter allen Versuchungen und Anfechtungen, die Satan und die diesem unterthänige Welt ihm verursachten, alle Zeit seines Erdenlebens bis in seinen Opfertod am Kreuze bewies. Satan hat alle seine Macht gegen ihn aufgeboten und sie damit verbraucht. Das Ende dieses per­ sönlichen Kampfes Satans gegen den Heiland war dies, daß der Heiland sagen konnte: es kommt der Fürst dieser Welt und hat nichts an mir (Joh. 14, 30)! und: jetzt gehet das Gericht über die Welt, nun wird der Fürst dieser Welt ausgestoßen (Joh. 12, 31)! Diesen Erfolg herbeizuführen, war die Aufgabe unseres Heilands, die in den Worten beschrieben ist: dazu ist erschienen der Sohn Gottes, daß er die Werke des Teufels zerstöre (1. Joh. 3,8)! Auf der Erde mußte dieser Kampf und Sieg voll­ zogen werden. So war es in Gottes Rat beschlossen. Das er­ sehen wir schon aus dem ersten Evangelium von dem zukünf­ tigen Schlangentreter, das der gnädige Gott offenbarte (1. Mos. 3, 15). Um dieser Schlangentreter zu werden, wurde der Sohn Gottes Mensch und starb am Kreuze. Wie die Menschenkinder Fleisch und Blut haben, so ist er es gleichermaßen teilhaftig ge­ worden, auf daß er durch den Tod die Macht nähme dem, der des Todes Gewalt hatte, das ist dem Teufel (Hebr. 2, 14). Ist das aber nicht ein unlösbarer Widerspruch, werdet ihr einwerfen, liebe Christen, daß ich auf der einen Seite sage: der Sieg über das Reich der Finsternis ist durch unseren Heiland bereits errungen! und auf der anderen Seite behaupte: der Kampf dieses Reiches und seines Obersten gegen das Reich Gottes besteht noch immer fort und muß erst noch zum Siege geführt werden? Der Widerspruch, liebe Christen, ist nur ein scheinbarer. Der Sieg, den unser Heiland über den Fürsten der Finsternis und sein Reich errungen hat, besteht eben darin, daß er seinen Jüngern die Möglichkeit und die Kraft erworben hat, nunihrerseits den Kampf gegen das Satans­ reich siegreich zu bestehen, dessen Versuchungen und An­ fechtungen zu überwinden und dadurch die Stunde herbeizu­ führen, wo der Gebetswunsch des Apostels Paulus in Erfüllung

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geht: der Gott des Friedens zertrete den Satan unter euere Füße in kurzem (Nöm. 16, 20) 1 Wie wird denn aber dieses Zertretenwerden vor sich gehen? So fragt ihr weiter, liebe Christen. Gottes Wort zeigt uns, daß dies in einer dreifachen Gerichtsthat erfolgen wird. Der erste dieser Gerichtsvorgänge besteht darin, daß der Erzengel Michael und seine Gefährten mit dem Drachen und dessen Anhängern streiten, diese besiegen und dadurch ihre Verbannung aus dem Himmel bewirken (Offenb. 12, 7—9). Fragen wir aber, was diese Verwerfung und Niederlage Satans verursacht hat, so be­ zeugt uns Gottes Wort: sie (die Jünger des Heilands) haben ihn überwunden durch des Lammes Blut und durch das Wort ihres Zeugnisses und haben ihr Leben nicht geliebt bis an den Tod (Offenb. 12, 11). Der zweite Gerichtsvorgang erfolgt bei der Wiederkunft unseres Heilands, bei welcher einer der ihn begleitenden Engel den Satan ergreift und ihn auf tausend Jahre in den Abgrund verschließt (Offenb. 20,1—3). Und das Schlußgericht ergeht über ihn am jüngsten Tage beim Weltge­ richt, wo der Teufel geworfen wird in den Feuerpfuhl, die eigentliche Hölle (Offenb. 20, 10). Damit ist das Reich der Finsternis völlig abgethan und das Reich Gottes zum end­ gültigen Sieg gelangt. Zur Herbeiführung dieses Ziels haben die rechten Jünger des Heilands, haben wir, liebe Christen, das unserige beizutragen. Wir müssen unsere Schuldigkeit thun und uns in dem uns ver­ ordneten Kampfe bewahren und bewähren. Zu dem Ende haltet euch stets vor Augen, daß unser Heiland bereits dem bösen Feinde die Macht genommen hat für diejenigen, die durch den Glauben und Gehorsam in seiner Gemeinschaft stehen. Wir können und sollen in seiner Kraft die Versuchungen zur Sünde überwinden und uns also bewahren. Aber mehr noch liegt uns ob und ist uns möglich. „ Wenn wir unmittelbaren satanischen Angriffen gegenüber gestellt werden, die in geistlichen Anfecht­ ungen oder leiblichen Vergewaltigungen uns selbst oder andere heimsuchen, und wir dann in ein persönliches Ringen mit der Macht der Finsternis geraten, dann können und müssen wir aus dem Siege unseres Heilands die Kraft schöpfen zur Ueber-

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Windung derselben im Glauben und Gebet, und uns dadurch als rechte Streiter Jesu Christi bewähren. Das laßt uns thun, liebe Christen, und dadurch an unserem Teil beitragen zur be­ schleunigten Herbeiführung des vollständigen Sieges des Reiches Gottes über das Reich der Finsternis (2. Petr. 3, 12) l Amen.

4. Tert: 1. Mos. 1, 26—27 und 2, 7—9. „Gott sprach: laßt uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kreucht; und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib. — Gott, der Herr, machte den Menschen aus einem Erdenkloß und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase; und also ward der Mensch eine lebendige Seele; und Gott, der Herr, pflanzte einen Garten in Eden gegen Morgen und setzte den Menschen darein, den er gemacht hatte; und Gott, der Herr, ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, lustig anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Bösen und Guten." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Als wir in der vorigen Predigt den Gegensatz besprachen, der sich in der über­ irdischen Welt gegen das daselbst bestehende heilige und selige Gottesreich gebildet hat, da mußten wir bereits mehrfach Bezug nehmen auf diejenige Abteilung des Reiches Gottes, welche auf unserer Erde besteht, denn gerade gegen dieses irdische Gottes­ reich hat der Fürst der Finsternis mit seinem Reiche einen ver­ hängnisvollen Angriff unternommen, und das Gelingen dieses Angriffs hat ihm unsere Erde und ihre Bewohnerschaft als seinen Hauptsächlichsten Wirkungskreis eröffnet. Jetzt müssen wir nun Schnabel, Predigten.

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Windung derselben im Glauben und Gebet, und uns dadurch als rechte Streiter Jesu Christi bewähren. Das laßt uns thun, liebe Christen, und dadurch an unserem Teil beitragen zur be­ schleunigten Herbeiführung des vollständigen Sieges des Reiches Gottes über das Reich der Finsternis (2. Petr. 3, 12) l Amen.

4. Tert: 1. Mos. 1, 26—27 und 2, 7—9. „Gott sprach: laßt uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kreucht; und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib. — Gott, der Herr, machte den Menschen aus einem Erdenkloß und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase; und also ward der Mensch eine lebendige Seele; und Gott, der Herr, pflanzte einen Garten in Eden gegen Morgen und setzte den Menschen darein, den er gemacht hatte; und Gott, der Herr, ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, lustig anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Bösen und Guten." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Als wir in der vorigen Predigt den Gegensatz besprachen, der sich in der über­ irdischen Welt gegen das daselbst bestehende heilige und selige Gottesreich gebildet hat, da mußten wir bereits mehrfach Bezug nehmen auf diejenige Abteilung des Reiches Gottes, welche auf unserer Erde besteht, denn gerade gegen dieses irdische Gottes­ reich hat der Fürst der Finsternis mit seinem Reiche einen ver­ hängnisvollen Angriff unternommen, und das Gelingen dieses Angriffs hat ihm unsere Erde und ihre Bewohnerschaft als seinen Hauptsächlichsten Wirkungskreis eröffnet. Jetzt müssen wir nun Schnabel, Predigten.

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34 aber das ursprüngliche Gottesreich auf der Erde näher kennen lernen und als Schlüssel zum Verständnis desselben soll uns der eben verlesene Schristabschnitt dienen. Das irdische Himmel­ reich, seine Beschaffenheit und seine Schicksale gehen uns ja am allernächsten an, denn wir gehören zu den Erdbewohnern, welche der Gott, der die Liebe ist, in seinem ewigen Ratschluß zu Mitgliedern, Genossen und Bürgern seines Reiches bestimmt hat. Faßen wir deshalb nunmehr das Gottesreich auf Erden ins Auge und reden wir heute auf Grund unseres Textes über

die Gründung des Reiches Gottes auf der Erde, und legen wir uns die Fragen zur Beantwortung vor:

1. 2.

wie seine Gründung geschah, und welches seine Beschaffenheit war.

I. Wie die Gründung des Reiches Gottes auf der Erde vor sich ging, das ist, liebe Christen, die erste Frage, deren Be­ antwortung wir suchen. Wir suchen sie in Gottes Wort, denn nur die göttliche Offenbarung kann uns den rechten Aufschluß über diese Frage geben. Achten wir zunächst auf das, was uns die an die Spitze dieser Predigt gestellten Schriftabschnitte über dieselbe sagen. Sie berichten uns, daß Gott die Menschen und zwar ein Menschenpaar im Anfang erschaffen habe, und zwar nachseinemEbenbilde, und er habe dieses erste Menschen­ paar in den von ihm gepflanzten Garten in Eden gesetzt. Da­ mit war das Reich Gottes auf der Erde gegründet. In dieser inhaltreichen Aussage des göttlichen Wortes sind verschiedene höchst wichtige Wahrheiten eingeschlossen, welche wir nach einander erwägen müssen, liebe Christen. Die Urkunde der göttlichen Offenbarung sagt zuerst, daß die Menschen von Gott erschaffen sind. Sie lehrt uns also Gott als den Schöpfer kennen. Sind aber die Menschen von Gott er­ schaffen, dann ist auch, so dürfen wir getrost folgern, ihr Wohn­ platz, die Erde, von Gott geschaffen, und wie diese so die ganze Welt, welche das Wort Gottes als Himmel und Erde bezeichnet. Schenken wir nun dem Gotteswort Glauben, dann erscheint uns das als grober Irrtum, was die Weltweisheit zuweilen be-

35 hauptet hat und behauptet, daß die Welt von Ewigkeit her be­ stehe oder daß sie in ihrer jetzigen Gestalt von selbst aus einem ewig vorhandenen Stoffe allmählich entstanden sei. Nein, sie ist nicht ewig und auch der Stoff derselben ist nicht ewig. . Sie ist geschaffen worden. Wisset ihr, was das besagt? Damit ist behauptet, daß der allmächtige Gott das Weltall aus Nichts ins Dasein gerufen hat, und zwar im Anfang der Zeit, wie der erste Ausspruch des Gotteswortes bezeugt: Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde (1. Mos. 1, 1), und wie auch die Himmelsbewohner in dem Lobgesang bestätigen: du hast alle Dinge geschaffen und durch deinen Willen haben sie das Wesen und sind geschaffen (Offenb. 4, 11). Wie der Himmel, so ist auch die Erde im Anfang von Gott geschaffen. Das lehrt deutlich das erste Wort der Heiligen Schrift. Aber nach diesem allgemeinen Ausspruch entrollt das Wort Gottes vor unseren erstaunten Augen ein auffallendes Bild. Auf diesem Bilde erscheint der Erdball in einem Zustande, von dem wir nicht wissen, ob wir ihn als einen unfertigen oder als einen verwüsteten bezeichnen sollen. Die Erdoberfläche ist wüste und leer, mit Wasser überflutet und mit Finsternis bedeckt. Und nun macht sich der Schöpfer-Gott daran und gestaltet in einem Sechstagewerk die Erdoberfläche zu einem passenden Wohnplatz für das Menschen­ tz c s ch l e ch t, das nach seinem Ratschluß künftig darauf wohnen und in dem das Reich Gottes zu Bestand und Erscheinung kommen soll. Und am Schlüsse des Sechstagewerks Gottes sehen wir den ersten Menschen ins Leben treten. Auffallend habe ich, liebe Christen, die Beschreibung des Sechstagewerks genannt. Und in der That wird sie von jeher nicht recht erwogen und verstanden. Man hält sie für die Schilder­ ung der Erschaffung des Weltalls. Allein das ist sie nicht. Die Er­ schaffung des Weltalls wird nur im ersten Verse dieses Schriftab­ schnitts berichtet. In dem darauf folgenden haben wir nichts anderes, als die Schilderung, wie Gott die Oberfläche des Erd­ körpers zur Wohnstätte für die Menschen herrichtet, welches Wer! er, der Allmächtige, sich herabläßt, in sechs Tagen zu verrichten, um darauf am siebenten Tage zu ruhen. Er will damit den 3*

36 Menschen ein Vorbild geben, das sie bei ihrer Arbeit und Ruhe nachahmcn sollen. Nun bringt allerdings in diesem Sechstagewerk die Erde, nachdem sie der Schöpfer von dem sie umhüllenden Dunkel und Wasser befreit hat, Gewächse und Tiere hervor. Und das könnte auf den ersten Blick so erscheinen, als ob die Ansicht von der Selbstentstehung des Vorhandenen im Rechte wäre. Aber sagt uns nicht das Wort Gottes ausdrücklich, daß dies die Erde nicht selbständig und aus eigener Kraft, sondern auf Geheiß des Schöpfers und darum auch in der ihm von diesem verliehenen Kraft gethan habe? Die Menschen sind, wie die Erde und das ganze Weltall von Gott erschaffen. So lehrt uns Gottes Wort, liebe Christen. Demnach ist es nichts mit dem, was die Weltweisheit zuweilen be­ hauptet hat und behauptet, daß die Menschen aus der Erde selbst hervorgesproßt, daß sie erdgeborene Wesen seien. Wir haben eben erkannt, daß selbst die Pflanzen und Tiere nur scheinbar ein Erzeugnis der Erde, daß sie vielmehr durch das göttliche Allmachtswort geschaffen worden sind. Was berichtet aber Gottes Wort von der Entstehung der Menschen? Sie sind nicht einmal scheinbar ein Erzeugnis der Erde, sondern sie sind von Gott unmittelbar erschaffen, wenn auch ihrem Körper nach aus irdischem Stoffe, wie das unser Text erklärt in den Worten: „Gott, der Herr, machte den Menschen aus einem Erdenkloß". Er fügt aber hinzu: „und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase und also ward der Mensch eine lebendige Seele". Wißet ihr, was damit gesagt ist? Daß der Mensch göttlicher Art und Natur ist. Wir sind göttlichen Geschlechts, so bezeugt der Apostel Paulus (Apg. 17,28) in seiner Rede an die heidnischen Athener. Ebenso ist es aber auch nichts mit der anderen Behauptung, welche die Naturforschung neuerdings aufgebracht hat, daß die Menschen wie auch das gesamte Pflanzen- und Tierreich in langsamer, allmählicher Entwicklung aus einigen oder gar einem einzigen Urkeim entstanden seien. Sie will mit dieser kühnen Behauptung die Schöpfung und den Schöpfer beseitigen, aber sie vermag es nicht, denn schließlich müßte doch die Urzelle

37 geschaffen sein. Sie widerstreitet auch dem Worte Gottes, denn dieses belehrt uns, daß alle Pflanzen- und Tierarten neben ein­ ander und zu gleicher Zeit entstanden sind, denn es heißt im biblischen Schöpfungsbericht: die Erde ließ aufgehen Gras und Kraut, das sich besamete, ein jegliches nach seiner Art, und Bäume, die da Frucht trugen und ihren Samen bei sich selbst hatten, ein jeglicher nach seiner Art (1. Mos. 1,12), und wieder­ um: Gott schuf große Walfische und allerlei Tier, das da lebt und webt, davon das Wasser sich erregte, ein jegliches nach seiner Art (1. Mos. 1, 21), und schließlich: Gott machte die Tiere auf Erden, ein jegliches nach seiner Art, und das Vieh nach seiner Art, und allerlei Gewürm auf Erden nach seiner Art (1. Mos. 1, 25). Am wenigsten hat Gottes Wort einen Platz für die Be­ hauptung, welche mit jener verbunden worden ist, daß zuletzt auch die Menschen durch diese allmähliche, langsame Entwick­ lung aus der Tierwelt geworden, also auch nicht wesentlich von dieser verschieden, sondern nur eine höhere Gattung des Tier­ reichs seien. O, wie ganz anders und wie viel würdiger stellt doch das Wort Gottes die Entstehung der Menschen dar. Unser Text berichtet: „Gott sprach: laßt uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei!" Am Schlüsse des Sechstagswerks hebt er ein ganz Neues und Besonderes an, das er in einer innergöttlichen Entschließung fcstgestellt hat. Nicht mehr wendet er sich an die Luft, das Wasser, an das Erd­ reich, wie vorher bei der Erschaffung der Tiere, sondern unmittel­ bar schaffend tritt er auf. Und jauchzend und frohlockend er­ zählt der prophetisch erleuchtete Berichterstatter: „Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn". Was Gott da schafft, das ist das Meisterwerk und die Krone der Schöpfung. Erschafftsich einmensch­ liches Ebenbild. Und damit hat er sein Reich auf der Erde aufgerichtet. Allein aus einem Menschen sollte nach Gottes Ratschluß das Reich Gottes nicht bestehen. Der biblische Schöpfungsbe-richt sagt uns weiter: „und erschuf sie einenMannund ein Weib". Und er fügt hinzu: Gott segnete sie und sprach:

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seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde (1. Mos. 1, 27—28)! Ein Menschenpaar hat demnach Gott im An­ fang erschaffen und hat angeordnet, daß aus diesem eire Menschheit erwachsen sollte, welche das ganze Erdenrund anfüllt. Gott hat gemacht, daß von einem Blut aller Menschen Geschlechter auf dem ganzen Erdboden wohnen, so pre­ digt der Apostel Paulus den Athenern (Apg. 17, 26). So ist es auch geworden. Und diese ganze Menschenfamilie sollte, das war die Absicht des Schöpfers, der Bürgerschaft des Reiches Gottes teilhaftig sein. Ist auch das in Erfüllung gegangen? Wir werden später sehen, was diese Erfüllung vereitelt Hit. Jetzt, liebe Christen, haben wir es noch mit dem Einwurf zu thun, den die Weltweisheit gegen die Abstammung der ganzm Menschheit von einem Paare erhebt. Aber es sind doch nur ein­ zelne Naturforscher, welche diesen Widerspruch einlegen. Andere pflichten dem biblischen Schöpfungsbericht bei und erweisen mit gelehrten Gründen die Richtigkeit desselben, und dieser Umstand giebt uns das Recht, jenen Widerspruch nicht weiter zu beachten und dem Worte Gottes auch in diesem Punkte den Glauben zu schenken, den es verdient.

n. Wenden wir uns nun, liebe Christen, der zweiten Frage zu, deren Beantwortung wir heute suchen wollen, .der Frage: welches die Beschaffenh eit dieses ursprüng­ lichen Gottesreiches war. Unser Text verkündet uns in begeistertem Tone: „Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn". In diesen Worten liegt die Beant­ wortung der von uns aufgeworfenen Frage. Das auf die Erde verpflanzte Gottesreich hatte zu Bürgern das er st e Menschenpaar, und diese er st enMenschen waren Bürger des Himmelreichs aus keinem anderen Grunde, als weil sie nach Gottes Eben­ bilderschaffenwaren. Was ist doch dieses göttliche Eben­ bild und worin besteht die Gottebenbildlichkeit des Menschen?

Wir müssen die geschöpfliche und die sittliche Gottähnlichkeit des Menschen unterscheiden. Was der Schöpfer bei keinem

39 anderen Erdenwesen gethan hat, das hat er bei dem Menschen gethan, denn Gottes Wort bezeugt in unserem Texte: „Gott, der Herr, machte den Menschen aus einem Erden­ kloß und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase, und also ward der Mensch eine leben­ dige Seele". Auch das Tier hat eine Seele und wir ent­ decken und gewahren bei ihm seelische Kräfte des Fühlens, Denkens und Wollens, wenn auch nur in schwachem Grade. Aber durch das Einhauchen göttlichen Odems hat der Mensch Geist empfangen. Er ist ein geistiges Wesen geworden, eine Persönlichkeit mit Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Das Tier hat beides nicht, es weiß nichts von sich und folgt seinem Naturtriebe. Der Mensch kennt sich und beherrscht seine Natur. Er unterscheidet sich von der ihn umgebenden Natur, übt Herrschaft über dieselbe und zwingt sie in seinen Dienst. Dazu spiegelt sich in seinem Denkvermögen Gottes Weisheit, in seiner Willenskraft Gottes Allmacht, in seinem Gefühl Gottes Liebe ab. So ist er Gottes geschöpfliches Ebenbild, und in dieser Hinsicht ist er es auch geblieben nach dem Sündenfall, denn seine natürlichen Geistesanlagen und Geisteskräfte sind ihm nicht ver­ loren gegangen. Aber in diesen natürlichen Geisteskräften besteht nicht allein die Gottähnlichkeit, zu welcher die ersten Menschen erschaffen waren. Ihre Gottebenbildlichkeit war auch eine sittliche, eine Aehnlichkeit mit Gottes Heiligkeit. Wie haben wir uns die an­ erschaffene Heiligkeit oder Gerechtigkeit der ersten Menschen zu denken? Beachten wir, liebe Christen, den gegenwärtigen sitt­ lichen Zustand des natürlichen Menschen! Jetzt erfährt der Mensch in seinem natürlichen Zustand eine ihn beherrschende Neigung zum Bösen, zum Ungehorsam gegen Gott, zur Sünde, und eine Abneigung gegen Gottes Willen und Gesetz, ja gegen Gott, den Gesetzgeber, selbst. Diese verkehrte Neigung und Ab­ neigung flößt ihm die Empfindung des inneren Unfriedens, des göttlichen Mißfallens ein, und diese Empfindung macht ihn un­ glücklich in seinem Herzen. So war es bei den ersten Menschen nicht. — Beachten wir ferner das Lebensbild, welches Gottes Wort von dem Herrn Jesus entwirft, welcher der andere Adam

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ist. Da tritt uns ein wirkliches und vollkommenes Eberblld Gottes entgegen. Unser Heiland war mit Gott in religiöser und sittlicher Hinsicht so völlig ei»§, daß er erklären konnte: neime Speise ist die, daß ich thue den Willen deß, der mich gesantt hot (Joh. 4, 34). Und in dieser seiner religiösen und sittlichen Einigkeit mit Gott war sein Gottvertrauen, seine Gottergrbenheit, seine Gottseligkeit begründet. Siehe, so war es Bei den ersten Menschen. — Beachten wir endlich auch das Bild des durch den Heiligen Geist erneuerten Menschen, welches das Wort Gottes zeichnet, wenn es uns ermahnt: ziehet den reuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in rechtschaffener Ge­ rechtigkeit und Heiligkeit (Eph. 4, 24). Zwar jetzt, während seines Erdenlebens steht der Wiedergeborene noch im Kampfe des neuen Menschen mit dem alten, aber er geht einer Vollendung seiner Heiligung entgegen, in welcher Christus in ihm eine Ge­ stalt gewonnen hat (Gal. 4,19). Und in diesem Zustand seiner sittlichen Vollkommenheit waren die ersten Menschen ihm ähnlich. Wenn wir das beachten, liebe Christen, dann werden wir zu einem Verständnis der ursprünglichen Gottesebenbildlichkeit gelangen. Die ersten Menschen hatten nicht nur Selbsterkennt­ nis, sondern auch Gotteserkenntnis und Gottesliebe. Sie hatten nicht nur Willensfreiheit, sondern auch willige Unterordnung ihres Willens unter den Willen und das Gesetz Gottes, das ihnen ihr reines, unversehrtes Gewissen bezeugte. Sie kannten und liebten Gott und standen im Umgang und Verkehr mit ihm. Sie lebten in glückseliger Gottesgemeinschaft und waren in ihrem Willen völlig einig mit dem göttlichen Willen. Das Gegenteil des heiligen Gotteswillens, das Böse, die Sünde, war ihnen fremd und unbekannt. Es kam nichts dem guten göttlichen Willen Widersprechendes, nichts Böses und Sündhaftes in ihren Sinn. Sie wußten gar nicht, daß es ein solches giebt. Ihr Sinn war unschuldig. Deshalb genossen auch ihre Herzen und Seelen den Frieden mit Gott und waren selig in diesem Friedens­ gefühl. — Allerdings Eins ist, was den religiös-sittlichen Zu­ stand der ersten Menschen von dem des Heilands und seiner voll­ endeten Jünger unterscheidet. Während dieser ein auf eigener freier Willensentscheidung beruhender ist, war jener ein aner-

41 schaffener Naturzustand. Doch darüber laßt mich in der nächsten Predigt ausführlicher reden! Nun lehrt es uns aber unsere Erfahrung, liebe Christen, in Uebereinstimmung mit Gottes Wort, daß die gegenwärtige Entzweiung, in welcher sich die Menschen seit dem ersten Sünden­ fall mit Gott befinden, sie nicht bloß innerlich, sondern auch äußerlich unglücklich macht, daß sie eine Flut von Uebeln, Leiden, Noten, Beschwerden, Hemmungen und Störungen, die wir in unserem Erdenleben verspüren, über sie hereingezogen hat. Waren die ersten Menschen in ihrem ursprünglichen Zustand frei von der Sünde und einig mit Gott, dann war ihnen auch all dieses Ungemach fremd und fern. Sie waren auch in ihrem äußeren Ergehen glücklich, und kein Unglück störte und trübte ihre innere Seligkeit. Jetzt kennen wir den Tod und Gottes Wort lehrt uns, daß er der Sünde Sold ist (Nöm. 6,23). In ihrer anerschaffencn Un­ schuld waren die ersten Menschen frei vom Tode, der die verhäng­ nisvollste Strafe des Sündenfalls ist. Wohl wohnt Gott allein Unsterblichkeit, daß wir so sagen, von Natur bei (1. Tim. 6,16). Aber er hatte sie den Menschen gewährt als höchste Gabe, wenn sie in seinem Dienst und Gehorsam verblieben. Zu dem Ende hatte er ihnen im Garten Eden den Baum des Lebens geschenkt. Der Genuß seiner Früchte schützte sie vor dem Verfall ihrer Körper­ kräfte und damit vor dem leiblichen Tode. So waren sie ihrem ganzen Wesen nach unsterblich. „Gott, der Herr, pflanzte einen Garten in Eden gegen Morgen und setzte den Menschen dar­ ein,denergemachthatte." So erzählt unser Text. Das irdische Paradies gehörte mit zu dem auf die Erde verpflanzten Gottesreiche. Seine Bürger haben wir kennen gelernt. Jetzt erblicken wir auch seinen Schauplatz. Um den äußeren Glückszustand der ersten Bürger des Gottesreiches voll zu machen, war ihnen von Gott eine herrliche Wohnstätte auf der erst eben durch Gottes Schöpferkraft neu hergestellten Erde eingeräumt. Nichts fehlte ihnen hier an den Genüssen, welche die irdische Natur dem zu ihrem Beherrscher bestimmten Menschen zu gewähren vermochte. Weil aber der Mensch zu

42 seiner inneren und äußeren Befriedigung der Arbeit und Thätig­ keit bedarf, so übertrug der Schöpfer gleich dem ersten Menschen die Bewahrung und Bebauung des Paradiesgartens und wies ihm die Früchte desselben zu seiner Speise und Nahrung an. In diesem Garten sollten die Menschen die ihnen anvertraute Herrschaft über die Erde beginnen. Von hier aus sollten sie die­ selbe in immer weiteren Kreisen über die ganze Erde ausdehnen und diese zum Paradiese hinzuziehen, die ganze Erde also all­ mählich paradiesisch machen. Hier in diesem Paradiese gab der gütige Schöpfer dem ersten Menschen auch eine wesens­ gleiche Gehilfin, dasWeib,undstiftete damit denEhest a n d, aus dem die Menschheit hervorwachsen sollte. O, wie viel würdiger und darum auch für uns, liebe Christen, befriedigender stellt doch das Wort Gottes den inneren und äußeren Zustand der frühesten Menschheit dar, als es die Weltweisheit zuweilen thut, wenn sie behauptet, das Menschengeschlecht habe sich aus uranfänglicher tierischer Roh­ heit und Wildheit allmählich zu immer höherer Bildung und Gesittung emporgerungen. Ist es doch vielmehr so, daß in­ folge des Sündenfalls der Stammeltern ihre Nachkommen viel­ fach von jenem ursprünglichen hohen Stande bis zur Vertierung herabgesunken sind! So lehrt Gottes Wort, und ebenso geht durch alle Völker der Erde die Sage von einem ursprünglichen glückseligen Zustand des Menschengeschlechts, von einem goldenen Zeitalter der Menschengeschichte. Liebe Christen, wir haben ge­ sehen, was an dieser Sage Wahres ist. Das irdische Paradies ist verschwunden. Und wir müßten über diesen Verlust in Trüb­ sinn verfallen und in Trauer vergehen, wenn uns nicht Gott eröffnet hätte, daß es wiederkehren und zwar in verklärter Ge­ stalt wiederkehren soll für alle diejenigen unter den Menschen, welche sich aus ihrem sündigen Zustand erretten lassen durch die Erlösung, die durch Jesum Christum geschehen ist. Ihm wollen wir uns im Glauben und Gehorsam ergeben, damit wir dereinst das verlorene Paradies wieder erlangen im vollendeten Gottes­ reiche.

Amen.

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5. Tert: 1. Mos. 3,1—7. 14—19. „Und die Schlange war listiger, denn alle Tiere auf dem Felde, die Gott der Herr gemacht hatte, und sprach zu dem Weibe: ja, sollte Gott gesagt haben: ihr sollt nicht essen von allerlei Bäumen im Garten? Da sprach das Weib zur Schlange: wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: esset nicht davon, rühret's auch nicht an, daß ihr nicht sterbet. Da sprach die Schlange zum Weibe: ihr werdet mit Nichten des Todes sterben, sondern Gott weiß, daß welches Tages ihr davon esset, so werden euere Augen aufgethan und werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. Und das Weib schaute an, daß von dem Baume gut zu essen wäre und lieblich anzu­ sehen, daß es ein lustiger Baum wäre, weil er klug machte, und nahm von der Frucht und aß, und gab ihrem Manne auch davon und er aß. Da wurden ihrer beider Augen aufgethan und wurden gewahr, daß sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze. — Da sprach Gott der Herr zu der Schlange: weil du solches gethan hast, seiest du verflucht vor allem Vieh und vor allen Tieren auf dem Felde; auf deinem Bauche sollst du gehen und Erde essen dein Leben lang; und ich will Feindschaft sehen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Samen und ihrem Samen; der­ selbe soll dir den Kopf zertreten und du wirst ihn in die Ferse stechen. Und zum Weibe sprach er: ich will dir viel Schmerzen schaffen, wenn du schwanger wirst; du sollst mit Schmerzen Kinder gebären; und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein und er soll dein Herr sein. Und zu Adam sprach er: die­ weil du hast gehorchet der Stimme deines Weibes und gegessen von dem Baume, davon ich dir gebot und sprach: du sollst nicht davon essen! — verflucht sei der Acker (die Erde) um deinet­ willen, mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen und sollst das

44 Kraut auf dem Felde essen, im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis daß du wieder zu Erde werdest, von der du genommen bist, denn du bist Erde und sollst zu Erde werden." In dem Herrn, geliebte Christengemeinde! Das war ein herrlicher Zustand, in welchem sich die ersten Menschen befanden, ein Zustand innerer und äußerer Glückseligkeit. Es war das Reich Gottes auf der Erde. Es bestand aus Gott, dem helligen himmlischen Könige, und aus Adam und Eva, seinen sündlosen irdischen Unterthanen. Und es hatte seine Stätte im Paradiese. Dies war das irdische Abblld des überirdischen himmlischen Paradieses, das der gekreuzigte Heiland dem reuemütigen Schächer verspricht (Luk. 23, 43) und in welches der heilige Paulus einst entzückt ward (2. Kor. 12, 4), und das Vorbild des zukünftigen Paradieses im vollendeten Gottesreiche auf der verklärten Erde, das dem Ueberwinder zugesagt wird (Offb. 2, 7). Völliger Friede herrschte auf der Erde; wie in der jungen Menschheit, die innerlich den Frieden mit Gott genoß, und äußerlich von keiner Not angefochten und vom Tode nicht be­ rührt wurde, so auch in der die Menschen umgebenden Natur. Da war noch kein Kampf gegen den, welchen Gott zum Be­ herrscher derselben bestimmt hatte. Die Naturkräfte wirkten nicht zerstörend und wilde Raubtiere gab es nicht. Die ge­ samte Tierwelt huldigte dem Menschen, der sein Herrscherrecht über dieselbe durch Namengebung bekundete (1. Mos. 2,19—20). Dieser Friedens- und Glückseligkeitszustand des Gottesreiches sollte aber nach Gottes Willen nicht auf einen Menschen be­ schränkt bleiben. Um dessen irdisches Glück zu vervollständigen schuf Gott das Weib und verband Mann und Weib zur Ehe, damit aus dieser gottgestifteten Einrichtung eine die ganze Erde erfüllende Menschheit erwachse, welche der Bürgerschaft im Reiche Gottes teilhaftig sei. Welch herrliche Entfaltung stand dem Reiche Gottes auf Erden bevor! Da trat eine jähe Unter­ brechung desselben ein, und von dieser haben wir auf Grund des verlesenen Schriftabschnittes jetzt zu reden, nämlich über:

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Die Zerstörung des ursprünglichen SotteSretcheS auf der Erde.

Wir thun dies, indem wir erwägen:

1. den Sündenfall der ersten Menschen, und 2. dessen Folgen. I. Der Stand der Unschuld und anerschaffenen Heiligkeit unserer Stammeltern, liebe Christen, und damit derBestand des Reiches Gottes war nicht von langer Dauer. Die ersten Menschen waren gut und sündlos von Natur. Sie unterschieden sich von der sie umgebenden Tierwelt dadurch, daß sie einen gottähnlichen Geist empfangen hatten, daß sie Geisteswesen waren. Zum geistigen Wesen gehört aber die Willensfreiheit. Diese Willensfreiheit mußte sich also bei ihnen geltend machen in Bezug auf ihre Frömmigkeit und Sittlichkeit. Nicht bloß eine anerschaffcne Naturgabe sollte diese bei ihnen sein, sondern auf freier Willensentscheidung und Selbstbestim­ mung mußte sie beruhen. Wenn es jedoch zu dieser kommen sollte, dann mußten sie das Gegenteil ihrer religiösen und sitt­ lichen Güte kennen lernen, das Böse. Davon wußten sie zunächst noch gar nichts, und kannten weder dessen Möglichkeit, noch dessen bereits vorhandene Wirklichkeit. Das Böse war bereits in der Welt vorhanden, in der außerirdischen, in der Welt der höheren Geister. In dieser Engelwelt hatte es Einer aus der­ selben durch selbständigen Entschluß eingeführt und war da­ durch zum Fürsten der Finsternis geworden. Aber damit hatte er sich und seine verführten Genossen auf ewig von Gott und der Seligkeit geschieden und war endgültig mit ihnen dem Bösen und der Verdammnis verfallen. Vor einer gleichen selbständigen Erwählung des Bösen blieben die Menschen bewahrt. Da sie jedoch das Böse kennen lernen mußten, so trat ihnen nach Gottes Willen die Versuchung zu demselben von außen entgegen, und zwar aus dem Reiche der Finsternis. Aber, so fragt ihr, liebe Christen, hat sie denn diese Ver­ suchung nicht aus dem Tierreiche angegangen? Nach dem Wort­ laut unseres Textes hat es allerdings den Anschein, denn die Schlange tritt als die Versucherin auf. Allein wir würden den Sinn des biblischen Berichts vom Sündenfall nicht treffen, wenn

46 wir hierbei stehen bleiben wollten. Schon das Urteil Gottes über die Schlange läßt uns tiefer blicken. Dazu kommen die übrigen Andeutungen des Wortes Gottes, unter welchen der schon früher von uns besprochene Ausspruch unseres Heilands: der Teufel ist ein Menschenmörder von Anfang! unstreitig der wichtigste ist. Sie lassen uns nicht im Zweifel darüber, woher die Versuchung stammt, die für unsere Stammeltern und ihre gesamte Nachkommenschaft einen so verhängnisvollen Ausgang genommen hat. Satan war es, der sich der Schlange als seines Werkzeugs bediente bei dieser Versuchung. Das ist die Erkenntnis, welche sich uns unabweisbar aufdrängt, wenn auch Gottes Wort uns keinen Aufschluß darüber giebt, wie er dies bewerkstelligt und dem Tiere Verstand und Sprache gegeben hat. Genug, es ist ihm gelungen. Er hat seinen Zweck erreicht und die Menschen zu Fall gebracht. Ich behauptete, liebe Christen, daß eine Versuchung der nach Gottes Ebenbild erschaffenen Menschen eintreten mußte. Gewiß, aber nicht zu dem Zweck, daß sie sich verführen ließen, sondern daß sie das sich ihnen zu erkennen gebende Böse ab­ wiesen, die Versuchung also überwanden und sich sündlos er­ hielten. Konnten sie denn das? fragt ihr. Freilich konnten sie das. Die sittliche Kraft dazu wohnte ihnen bei. Nicht dazu hatte ihnen der heilige Gott die freie Willensentschließung ver­ liehen, daß sie sich gegen ihn und seinen Willen, sondern daß sie sich für ihn und seinen Gehorsam entscheiden sollten. Also hätten sie zur Versucherin sprechen sollen: wohl könnten wir dem Gebot Gottes zuwider handeln und dasselbe übertreten, aber das wollen wir nicht; wir wollen uns solchen Undanks gegen unseren gütigen Gott nicht schuldig machen, sondern ihm gehorsam bleiben! So hat viertausend Jahre nach ihnen der andere Adam, unser Heiland, gehandelt, als Satan ihn ver­ suchte, und damit hat er ihn besiegt. O, daß unsere Stamm­ eltern so gehandelt hätten! Dann wäre der Menschheit das ursprüngliche Gottesreich mit seiner Glückseligkeit erhalten, und sie wäre von all dem inneren und äußeren Sündenelend ver­ schont geblieben, unter dem sie seitdem seufzt. Die Selbstentscheidung der versuchten Menschen ist anders

47 gefallen, sie haben sich zum Bösen verführen lassen. Wir wun­ dern uns mit Recht über die listige Weise, mit welcher der Ver­ sucher zu Werke ging. Er erregt zuerst Zweifel an Gottes Wort und Gebot, indem er spricht: „sollte Gott gesagt haben?" Dann zeiht er Gott geradezu des Neides mit den Worten: „Gott weiß, daß welches Tages ihr da­ von esset, so werden euere Augen aufgethan und werdet sein, wie Gott, und wissen, was gut und böse ist." Endlich beschuldigt er Gott sogar der Lüge, indem er behauptet: „ihr werdet mit nichten des Todes sterben!" Merket darauf, wie der Vater der Lüge bei der Versuchung Lüge und Wahrheit gar künstlich mischt. Ja, den Unterschied des Guten und Bösen lernten sie kennen, aber statt dadurch wie Gott zu werden, büßten sie ihre selige Gott­ ähnlichkeit ein. Allerdings, leiblich sterben thaten sie nicht am selbigen Tage, aber dem Tode verfielen sie dennoch alsbald, denn die Sünde ist geistlicher Tod und zieht den leiblichen Tod nach. Es gelang dem Versucher, ungöttliche Lust in die Seele des Weibes zu senken, und damit verlief die erste Sünde gerade so, wie alle folgenden Sünden verlaufen und wie deren Verlauf das Wort Gottes schildert, wenn es sagt: wenn die Lust em­ pfangen hat, gebieret sie die Sünde, und die Sünde, wenn sie vollendet ist, gebieret den Tod (Jak. 1, 15). Dem Weibe fiel es leicht, nachdem es selbst das gottwidrige Gelüste in sich hatte ausgenommen, dieselbe böse Begierde auch in ihrem Manne zu erwecken und also auch ihn in die Sünde zu verstricken. Dazu diente ihr der mächtige Einfluß, der ihr vom Schöpfer über den Mann gegeben war, gegeben zum Guten, aber nicht zum Bösen. Zu einer Gehilfin im Gottwohlgefälligen war das Weib dem Manne zugesellt, und siehe, der erste Dienst, den es ihm leistete, war ein solcher zu seinem Unheil. Darum wird von ihm be­ zeugt in Gottes Wort: Adam ward nicht verführet (nämlich nicht zuerst und nicht direkt vom bösen Feinde), das Weib aber ward verführet und hat die Ucbertretung eingeführt (näm­ lich unter dem Menschengeschlecht) (1. Tim. 2, 14). Gewiß schwebt euch noch die Frage auf den Lippen, liebe Christen: was war es mit dem rätselhaften Baum der Erkennt-

48 nis des Guten und Bösen? Daß er diesen Namen erst infolge­ dessen, was bei ihm geschah, empfangen hat, das unterliegt keinem Zweifel. Aber was hat es mit diesem Baume selbst auf sich? Warum verbietet ihn Gott den ersten Menschen, da er doch nicht nur auf der von ihm erschaffenen Erde, sondern sogar in dem von ihm gepflanzten Garten stand? Auch hier sollte kein Zweifel obwalten, daß dieses Verbot seinen guten und ge­ wichtigen Grund gehabt hat und daß es kein willkürliches ge­ wesen ist. Allein Gottes Offenbarung giebt uns über diesen Grund keinen Aufschluß, und wir enthalten uns deshalb müßiger Vermutungen, und forschen statt dessen den Folgen nach, welche der erste Sündenfall gehabt hat. II. Der Sündenfall war geschehen und damit das Reich Gottes auf der Erde zerstört. Das war die belangreichste Folge, die derselbe hatte. Ihr fragt, liebe Christen, inwiefern durch den Sündenfall unserer Stammeltern das Gottesreich auf der Erde zerstört ward? Besinnet euch darauf, daß es auf die sittliche Gottebenbildlichkeit der ersten Menschen gegründet war, auf ihre Sündenreinheit. Solange diese ihnen verblieb, blieben sie auch glückselige Bürger des Gottesreiches. Mit ihrer Ergebung an den Sündendienst ver­ loren sie diese Bürgerschaft. Und da sie die einzigen Reichs­ genossen auf der Erde waren, so war mit ihrem Sündenfall das irdische Himmelreich zu Ende. Sie selbst aber hatten mit der Aufnahme der gottwidrigen Lust in ihr Inneres und mit der ersten Zuwiderhandlung gegen den göttlichen Willen ihre sittliche Gottähnlichkeit eingebüßt. War denn wirklich, so höre ich euch weiter fragen, liebe Christen, mit dem Sündenfall die Gottebenbildlichkeit der ersten Menschen vollständig vernichtet? Darauf antworte ich euch auf Grund des Wortes Gottes: Gott sei Dank, nein! Nicht völlig und ganz verloren war bei unseren Stammeltern das ihnen anerschaffene göttliche Ebenbild, es war nur entstellt und verunstaltet. Die ersten Sünder waren nicht ganz böse und sündhaft geworden, sondern es war ein guter Kern, ein nicht zerstörter Rest des göttlichen Ebenbildes ihnen geblieben. Aber neben denselben war allerdings ein ent­ schiedener Hang zum Bösen, eine vorherrschende Neigung zur

49 Sünde getreten, mit welcher sich eine Unlust zum Guten und ein Widerwille gegen Gottes heiliges Gesetz verband. So war es bei den ersten Sündern geworden und so ist es bei allen ihren Nachkommen. In diesem Zustand vererbt sich das göttliche Ebenbild von Geschlecht zu Geschlecht. Darum wird auch von Adam nach dem Sündenfall berichtet: er zeugte einen Sohn, der seinem Bilde ähnlich war (1. Mos. 5, 3). Und darum geschieht es auch, daß im Worte Gottes die Gott­ ebenbildlichkeit der Menschen zuweilen als noch vorhanden hin­ gestellt wird, wie wenn es heißt: der Mann ist Gottes Bild und Ehre (1. Kor. 11, 7), während auf der anderen Seite das­ selbe als ein verlorenes erscheint, das wiederhergestellt werden soll, wie wenn wir lesen: erneuert euch im Geiste eueres Ge­ mütes und ziehet den neuen Menschen an, der nach Gott ge­ schaffen ist in rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit (Eph. 4, 23—24). Wie es jetzt mit uns Menschen steht, das bezeugt der Psalmist mit den Worten: ich bin in sündigem Wesen geboren und meine Mutter hat mich in Sünde empfangen (Psalm 51, 7). Jetzt gilt von den Menschen, was der Heiland ausspricht: was vom Fleische geboren wird, das ist Fleisch (Joh. 3, 6). Und wir müssen alle mit dem Apostel bekennen: ich bin fleischlich, unter die Sünde verkauft, denn ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleische, wohnet nichts Gutes (Röm. 7, 14. 18). Wir müssen dem Liede zustimmen: durch Adams Fall ist ganz ver­ derbt menschlich Natur und Wesen. Sehet, liebe Christen, das war das Verhängnisvolle bei dem Sündenfall unserer Stamm­ eltern, daß durch denselben nicht bloß diese beiden erstenMenschen sündhaft wurden, sondern daß sich ihre verderbte Natur auf ihre Nachkommen überträgt und fortpflanzt. Mit dem über­ wiegenden Hang zum Bösen, den man die Erbsünde nennt, treten alle Menschen seitdem in die Welt ein, und in geringerem oder höherem Grade ergeben sie sich ausnahmslos dem Dienste der Sünde. Darum fällt mit Recht das Wort Gottes über sie das Urteil: sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollten (Röm. 3, 23). Hier müssen wir eine Irrlehre abweisen, welche die päpstSchnabel, Predigten. 4

50 liche Kirche aufgebracht hat. Sie lautet: das göttliche Eben­ bild hat gar nicht zum Wesen des Menschen gehört, sondern es war nur eine außerordentliche Zugabe zu demselben, durch welche der Mensch in den Stand gesetzt werden sollte, daß der Geist in ihm allezeit über das Fleisch das Uebergewicht behaupten könne; nun ist ihm durch den Sündenfall diese Zugabe Wohl verloren gegangen, aber da sie nicht zum eigentlichen Wesen des Menschen gehörte, so hat dieses durch den Sündenfall keine Störung er­ litten, sondern nur die Anlage zum Guten ist dadurch geschwächt worden. Wenn die päpstlichen Kirchenlehrer so aussagen, dann stellen sie sich mit den Vernunftgläubigen auf einen und den­ selben Standpunkt, welche behaupten, daß die sinnliche Seite der Menschennatur gleich von Anfang an in den erstgeschaffenen Menschen ein Uebergewicht über die Vernunft oder den Geist gehabt habe. Sie bedenken nicht, daß sie damit die Schuld an dem Sündenfall dem Schöpfer zuschieben, der die Menschen so fehler- und mangelhaft geschaffen habe, daß sie notwendiger­ weise fallen mußten. Das ist grundfalsch, liebe Christen. Ganz anders lehrt uns das Wort Gottes. Vergegenwärtigt euch doch, wie die erste Sünde entstanden ist! Nicht die sinnliche Lust hat die Menschen zu derselben getrieben, sondern der Verführer er­ regte in ihrem Geiste den Unglauben an der Güte Gottes und den Hochmut des Gottgleichseinwollens, und damit war die Sünde schon innerlich begangen. Erst infolgedessen erwachte die Sinnenlust, welche die Sünde äußerlich ausführte. So hat die Sünde im geistigen Wesen des Menschen ihren Ursprung ge­ nommen und im Geiste haben die meisten Sünden ihren Sitz. Denkt nur an den Hochmut, Stolz und Unglauben, an die Eitelkeit, Ehr-, Ruhm- und Herrschsucht, an die Hab- und Gewinnsucht, an den Zorn, Haß und Neid, an die Mißgunst und Schadenfreude! Darnach hat sie auch die leibliche Seite unserer Natur ergriffen und die mannigfachen Sünden der Un­ mäßigkeit und Unkeuschheit erzeugt; und jetzt ist diese aller­ dings so sehr ein Sitz derselben geworden, daß die sündhaft erregte Sinnlichkeit im natürlichen Menschen ein trauriges Uebergewicht über den Geist hat. Die Gottebenbildlichkeit gehörte allerdings zum Wesen

51 des Menschen und deshalb ist mit der Entstellung derselben durch die Sünde auch unsere Natur verletzt und geschädigt worden. Die Sünde hat unser ganzes Wesen durchdrungen und vergiftet. Du hast zwar, lieber Mensch, in deinem natür­ lichen Zustand noch die sittliche Kraft zu einer sogenannten bürgerlichen Gerechtigkeit, zu einer äußeren Rechtschaffenheit. Du kannst die Gebote Gottes ihrem äußerlichen, buchstäblichen Sinne nach halten, aber ihrem innerlichen, geistlichen Sinne nach kannst du sie nicht erfüllen. Allem, was die Menschen in ihrem nunmehrigen natürlichen Zustand thun und denken, klebt die Sünde an. Und wir müssen mit dem Katechismus auf die Frage: können wir denn auch mit unseren guten Werken Gottes Gesetz und Gebote erfüllen? antworten: ach nein, denn unsere guten Werke sind nicht vollkommen gut, dieweil wir arme Sünder sind, und wenn wir schon wollen Gutes thun, so liegt uns doch das Böse an. Dennoch hat die Sünde unsere sittliche Natur nicht ganz zerstört. Geblieben ist uns das Gewissen. Dies ist zwar seit dem Sündenfall ein „böses Gewissen" ge­ worden, das uns ob unserer Sündhaftigkeit anklagt und richtet. Doch haben wir in demselben ein Ueberbleibsel des göttlichen Ebenbildes, das der Sünde widerspricht und worin sich eine Sehnsucht nach Erlösung ausspricht. Und siehe, daran knüpft die Erlösung, die der menschgewordene Gottessohn Jesus Christus vollbracht hat, an, um die Gottebenbildlichkeit in uns wiederherzustellen und uns in die Bürgerschaft des Reiches Gottes zurückzuführen. Du hast, lieber Mensch, in deinem natürlichen Zustand keine sittliche Kraft, dich selbst zu erlösen, aber die göttliche Gnade findet in dir einen Anknüpfungspunkt, den sie zu deiner Erlösung benutzen kann. Vielen hat es schon großen Anstoß erregt, daß die Er­ gebung unserer Stammeltern an die Sünde die Folge gehabt hat, daß das ganze Menschengeschlecht sündhaft geworden ist. Laßt euch das nicht anfechten, liebe Christen. Das war aller­ dings unvermeidlich nach der Anlage, die der Schöpfer dem Menschengeschlecht gegeben hatte, daß es nämlich eine auf Fort­ pflanzung beruhende Familie sein sollte. Aber gerade in dieser Anlage liegt ja auch die Möglichkeit der Erlösung aus der Sünde, 4*

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denn die Erlösung konnte nur dadurch zu stände kommen, daß der heilige Gottessohn in das Menschengeschlecht leiblich eintrat und ein Mensch, unser Bruder, ward. Wir haben gesehen, liebe Christen, was aus den Menschen in sittlicher und religioserHinsicht geworden ist durch denSündenfall unserer Stammeltern. Aber damit sind dessen schlimme Fol­ gen noch keineswegs erschöpft. Das Reich Gottes, dessen Bürger­ schaft die ersten Menschen um ihrer anerschaffenen Gottähnlich­ keit willen genossen, war nicht nur inneres, sondern auch äußeres Glück und Wohlbefinden. Der Sündenfall, der es zerstörte, hat Unglück, Elend, Jammer, Not, Krankheit und Tod über die Menschheit hereingezogen. Er hat das Paradies hinweg­ genommen und diese Erde zu einem Jammer- und Thränenthal für die Menschen gemacht. Ja, auch über den Wohnplatz der Menschen, über die Erde, hat er Unheil hereingeführt, denn die irdische Natur seufzt seitdem unter dem göttlichen Fluche, der die Entwicklung und Entfaltung des Pflanzenreiches hemmt und die Tierwelt in gegenseitigen Kampf verwickelt, ja, der die Natur in Auflehnung gegen die Herrschermacht des Menschen hineintreibt, daß in vieler Hinsicht die leblose ihm ihren Dienst versagt und die lebendige sich feindselig gegen ihn stellt. Ihr habt ja die Urteile aus dem verlesenen Schriftabschnitt ver­ nommen, die der gerechte Gott über die Schuldigen ausspricht, über die Schlange, über das Weib, über den Mann. Sie ver­ kündigen der Schlange ihre Erniedrigung in der Tierwelt und die zwischen ihr und den Menschen eintretende Abneigung; dem Weibe ihre Unterwerfung unter den Mann und ihre ge­ schlechtlichen Beschwerden; dem Manne seine anstrengende und oft erfolglose Arbeit und das schließliche Sterben. In diesen Gottesurteilen sind die übelen Folgen des Sündenfalls ange­ droht, und sie sind, — das erfahren wir alle, liebe Christen — sämtlich und in vollstem Maße in Erfüllung gegangen. Die Erde mit ihren Pflanzen und Tieren seufzt unbewußt dar­ unter (Röm. 8, 19—23), die Menschheit aber empfindet sie mit Bewußtsein und darum am tiefsten (Röm. 8, 23). Am allerschmerzlichsten verspürt sie die Allgewalt des Todes, den das Wort Gottes mit Recht den König der Schrecken und den

53

letzten Feind des Menschen nennt (Hiob 18,14; 1. Kor. 15, 26), und der den armen Menschen in dreifacher Gestalt als geistlicher, leiblicher und ewiger Tod bedroht, ängstet und verfolgt. Er war es hauptsächlich, den Gott als Strafe auf die Uebertretung seines Gebotes gesetzt hatte, und deshalb nennt ihn auch Gottes Wort „der Sünde Sold" (Röm. 6, 23) und bezeugt von ihm: durch einen Menschen ist die Sünde in die Welt gekommen und der Tod durch die Sünde und ist also der Tod zu allen Menschen hindurchgedrungen, dieweil (darum, daß) sie alle gesündigt haben (Röm. 5, 12). Zwar trat er als leiblicher Tod nicht alsbald nach dem Sündenfall ein, da doch die göttliche Drohung lautete: welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben (1. Mos. 2,17)! Aber denket nicht, daß dieses Drohungs­ wort Gottes damit hinfällig geworden sei. Stellte sich doch der geistliche Tod, der Verlust der heiligen und seligen Gottesgemein­ schaft, sofort ein. Daß aber der leibliche Tod mit seinem Ein­ tritt verzog, das war eine unschätzbare Gottesgnade, denn mit diesem Verzug eröffnete sich sowohl dem Sünder eine Buß- und Bekehrungsfrist, als auch dem Menschengeschlecht die Möglich­ keit seiner Fortdauer und seiner Erlösung. Wäre dagegen der leibliche Tod sofort nach dem Sündenfall eingetreten, so war es damit mit den ersten Sündern und mit dem ganzen Menschen­ geschlecht auf ewig aus. Um den Menschen auch leibliche Unsterblichkeit zuzuwendcn, hatte ihnen der Schöpfer den Baum des Lebens geschenkt. Jetzt nach dem Sündenfall verliert der Mensch das Recht wie an das Paradies selbst, so auch an den Genuß der Frucht des Lebensbaumes. Die Heil. Schrift berichtet: Gott der Herr sprach: nun aber, daß er nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich; da ließ ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, daß er das Feld bauete, davon er genommen ist, und trieb Adam aus und lagerte vor den Garten Eden die Cherubim mit dem bloßen hauenden Schwert, zu bewahren den Weg zu dem Baume des Lebens (1. Mos. 3, 22—24). War es nicht eine Wohlthat für den Menschen, daß er nunmehr in Sünde und Not nicht ein ewiges Dasein auf dieser Erde vor sich hatte? So legt Gott auch in

54 seine härtesten Strafgerichte einen Segen. Es war für den gefallenen Menschen eine Strafe und eine Gnade Gottes zugleich, daß er endlich sterben mußte.

Wohin aber ist das Paradies gekommen, aus dem die Sünder weichen mußten? Was an demselben der Erde an­ gehörte, verblieb dieser. Was es jedoch an himmlischer Zugabe besaß, das wurde den Cherubim zur Bewahrung übergeben, damit sie es für die jenseitige und zukünftige Welt aufbewahrten, wo es die Erlösten einst in verklärter, verherrlichter Form und Gestalt wiederfinden werden (2. Kor. 12, 4; Offb. 22, 2).

Woher stammt das Uebel in der Welt? Das ist, liebe Christen, die Frage, die von jeher alle denkenden Menschen er­ wogen haben. Woher rührt die Störung im Menschenleben und in der Natur? Woher stammen die mannigfachen Be­ schwerden, Krankheiten und der Tod, die wir Menschen erfahren, woher die Kämpfe und Leiden, die in der Tierwelt auftreten, woher die Hemmungen im Wachsen der Pflanzenwelt und die Zerstörungen, welche die Naturkräfte anrichten? Wir wissen die Antwort auf diese Fragen. Die göttliche Offenbarung hat sie uns gegeben. Die Weltweisheit hat sie nicht gefunden. Erkennt sie die Schöpfung der Welt durch den allmächtigen Gott an, dann kann sie nicht erklären, warum Gott eine so unvollkommene Welt ins Dasein gestellt hat. Behauptet sie, die Welt sei von selbst entstanden oder sie bestehe von Ewigkeit, dann kann sie die weise Zweckmäßigkeit, die in derselben herrscht, nicht erklären. Das Wort Gottes lehrt uns: die von Gott erschaffene Welt war gut und vollkommen, aber die Sünde der Menschen ist die Ursache des Uebels, und das Uebel in seiner mannigfacher! Gestalt ist die Folge der Sünde. O, wie niederbeugend ist diese Erkenntnis für uns Sünder! Wir sind es, die wir all das Ungemach, unter dem wir jetzt leiden, auf uns hereingezogen haben. Unsere Stammeltern haben den Anfang dazu mit ihrem Sündenfall gemacht, und wir, ihre Nachkommen, liefern die Fortsetzung mit unseren Sünden. Wäre die Sünde nicht eingetreten, dann gäbe es auch keinUebel in der Welt, dann bestände noch der glückselige Para-

55 dieseszustand, das ursprüngliche Gottesreich auf der Erde. Wohl müssen wir sagen, liebe Christen: der erste Angriff Satans auf das irdische Reich Gottes war gelungen, es war mit dem Sündenfall der ersten Menschen zerstört. Müssen wir denn aber mit dieser trostlosen Erkenntnis schließen? Giebt es in dieser leidvollen Geschichte nicht einen Punkt, an dem sich unsere Hoffnung aufrichten darf? Ja, es ist ein solcher Punkt vorhanden. Er liegt in dem zweiten Teil des göttlichen Urteils­ spruches über die Schlange. Dieser lautet: „ichwillFeindschäft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem und ihrem Samen;' derselbe soll dir den Kopf zertreten und du wirst ihn in die Ferse stechen!" Die volle Bedeutung dieses „ ersten Evangeliums" zum Verständnis zu bringen, soll die Auf­ gabe der nächsten Predigt sein. Heute entnehmen wir demselben nur den Trost, daß es bei dem vorläufigen Siege Satans und des Reiches der Finsternis sein Bewenden nicht haben, sondern daß der endliche Sieg, dank dem Werke des an­ gekündigten Schlangentreters, doch Gott und dem Reiche Gottes verbleiben soll. Und im Vor­ gefühl dieses schließlichen Sieges frohlocken wir: wie durch eines Sünde die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, also ist auch durch eines Gerechtigkeit die Rechtfertigung des Lebens über alle Menschen gekommen (Röm. 5, 18). Amen.

6. Tert: 1. Mos. 3,14—15. „Da sprach Gott der Herr zu der Schlange: . . . und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Samen und ihrem Samen; derselbe soll dir den Kopf zertreten und du wirst ihn in die Ferse stechen." In dem Herrn, geliebte Christengemeinde! Wir schlossen die vorige Predigt mit der niederbeugenden Erkenntnis, daß das

55 dieseszustand, das ursprüngliche Gottesreich auf der Erde. Wohl müssen wir sagen, liebe Christen: der erste Angriff Satans auf das irdische Reich Gottes war gelungen, es war mit dem Sündenfall der ersten Menschen zerstört. Müssen wir denn aber mit dieser trostlosen Erkenntnis schließen? Giebt es in dieser leidvollen Geschichte nicht einen Punkt, an dem sich unsere Hoffnung aufrichten darf? Ja, es ist ein solcher Punkt vorhanden. Er liegt in dem zweiten Teil des göttlichen Urteils­ spruches über die Schlange. Dieser lautet: „ichwillFeindschäft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem und ihrem Samen;' derselbe soll dir den Kopf zertreten und du wirst ihn in die Ferse stechen!" Die volle Bedeutung dieses „ ersten Evangeliums" zum Verständnis zu bringen, soll die Auf­ gabe der nächsten Predigt sein. Heute entnehmen wir demselben nur den Trost, daß es bei dem vorläufigen Siege Satans und des Reiches der Finsternis sein Bewenden nicht haben, sondern daß der endliche Sieg, dank dem Werke des an­ gekündigten Schlangentreters, doch Gott und dem Reiche Gottes verbleiben soll. Und im Vor­ gefühl dieses schließlichen Sieges frohlocken wir: wie durch eines Sünde die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, also ist auch durch eines Gerechtigkeit die Rechtfertigung des Lebens über alle Menschen gekommen (Röm. 5, 18). Amen.

6. Tert: 1. Mos. 3,14—15. „Da sprach Gott der Herr zu der Schlange: . . . und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Samen und ihrem Samen; derselbe soll dir den Kopf zertreten und du wirst ihn in die Ferse stechen." In dem Herrn, geliebte Christengemeinde! Wir schlossen die vorige Predigt mit der niederbeugenden Erkenntnis, daß das

56 irdischeGottesreich durch denSündenfall seiner ersten Bürger zerstört war. Wir beginnen die heutige Predigt mit der Behauptung: dabei sollte es sein Bewenden nicht haben; vielmehr war es in Gottes Rat beschlossen,daß seinReich trotz der eingebrochenen Sünde auf der Erde fortbestehen sollte. Zu dem Ende mußte selbstverständlich auch das Menschengeschlecht fort­ bestehen. Deshalb ließ Gott den leiblichen Tod nicht alsbald über die ersten Sünder hereinbrechen, sondern er ließ ihnen wie ihren Nachkommen Frist wie zur Fortpflanzung ihres Ge­ schlechtes, so auch zur Bekehrung ihres durch die Sünde ver­ derbten Sinnes und Willens. Gott wußte ja vermöge seiner Allwissenheit von Ewigkeit her, daß die ersten Menschen, die er sündlos und unschuldig erschaffen hatte, sich der Sünde ergeben und dadurch die Bürgerschaft in seinem Reiche einbüßen würden. Das hat ihn aber nicht abgehalten, die Menschen zu erschaffen, denn von. Ewigkeit her war es auch sein Beschluß, sein Reich dennoch aufrecht zu erhalten auf der Erde, ja es zum Siege über das Reich der Finsternis gelangen zu lassen. Wie er diesen Ratschluß im Laufe der Menschheitsgeschichte zur Ausführung gebracht hat, das ist der Gegenstand, mit welchem sich die fol­ genden Predigten und zunächst auch die heutige Predigt be­ schäftigen soll, und zwar auf Grund des verlesenen kurzen, aber inhaltreichen Abschnittes der Heil. Schrift. Reden wir also jetzt über Die Wiederherstellung des zerstörten GotteSretcheS auf der Erde, und beachten wir:

1. worauf das wiederhergestellte Gottes­ reich gegründet wird, 2. welchen Charakter es trägt, 3. welche Forderungen es stellt und welche Segnungen es bietet.

I. Wenn unser Text verkündigt: „ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Samen und ihrem Samen; derselbe soll dir den Kopf zertreten und du wirst ihn in

57 die Ferse stechen", so geht dieses Gottesurteil, liebe Christen, allerdings dem Wortlaut nach auf die Schlange. Allein damit ist das Verständnis desselben keineswegs erschöpft. Die Schlange war ja nur das Werkzeug der Verführung in der Hand des eigentlichen unsichtbaren Verführers aus der Geister­ welt. So viel ist jedem Offenbarungsverständigen klar, daß in dem verlesenen Ausspruch das Tier angeredet, aber Satan ge­ meint ist. Und welches ist nun der geistliche Sinn dieses Aus­ spruchs? Derselbe kündigt an, daß hinfort ein beständiger Krieg zwischen dem aus Adams Lenden entsprießenden Menschen­ geschlecht und dem Reiche der Finsternis stattfinden soll. Die ersten Menschen und ihre Nachkommen sind durch die Aufnahme der Sünde in ihr Inneres nicht ganz böse geworden, wie wir erkannt haben. Merken wir es doch deutlich an uns, daß noch ein Widerstreben gegen die Sünde in uns lebt und eine Sehn­ sucht in uns sich regt, von ihr frei zu sein. Zwar kommt das nicht allen Menschen so zum Bewußtsein, daß sie nun auch ernstlich gegen die Sünde ankämpften und sich von ihr möglichst frei zu erhalten suchten. Vielmehr ist es leider so, daß viele und wohl die meisten Menschen die Sünde über sich herrschen lassen, bis der eine oder der andere von ihnen doch einmal aus dem Sündcnschlaf erwacht. Diejenigen aber, welche auf ihr der Sünde widerstreitendes und sich aus ihrer Knechtschaft heraussehnendes besseres Selbst achten, die sind der Weibessame, der mit dem Schlangensamen, das ist mit dem Satan und seinem Anhang in der unsichtbaren Geister- und in der sichtbaren Menschenwelt in einem Kampfe liegen, der schließlich zum Siege des Weibessamens über den Schlangensamen führen soll. Aller­ dings wird es einen gewaltigen, ja furchtbaren Kampf kosten. Dieser Kampf würde auch für das Menschengeschlecht nicht sieg­ reich ausgehen, wenn es auf sich und seine noch übrig gebliebene sittliche Kraft angewiesen wäre. Deshalb wird ihm eine wunder­ bare Hilfe zu teil, und diese Hilfe bringt ihm der im göttlichen Urteil verheißene Schlangentreter, der der Schlange, dem Bösen den Kopf zertreten, dieselbe überwinden, und den die Schlange, das Böse dafür in die Ferse stechen, zu Tode bringen wird.

58 Wir kennen diesen Schlangentreter, liebe Christen. Es ist unser Heiland Jesus Christus. Er ist ein Glied unseres Geschlechts, der rechte, wahre Menschensohn in zweifacher Hinsicht. Erstlich ist er ein wirklicher, rich­ tiger Mensch, unser leiblicher Bruder (Mtth. 25, 40; Joh. 20, 17; Hebr. 2, 11), geboren von einem Weibe, wie wir alle (Gal. 4,4), teilhastig unseres Fleisches und Blutes, unserer menschlichen Natur (Hebr. 2, 14), erschienen in der Gestalt unseres durch die Sünde geschädigten Fleisches (Röm. 8, 3). Zweitens ist er der vollkommene Mensch, der Ideal­ mensch, der zweite Adam (1. Kor. 15, 45), der zwar allent­ halben versucht ward, gleich wie wir, doch ohne Sünde (Hebr. 4, 15), der von sich rühmen durste: welcher unter euch kann mich einer Sünde zeihen? (Joh. 8, 46), der Sündlos-Heilige. Aber wie konnte er das sein, wenn er doch ein Glied der sündigen Menschheit war? so fragt ihr. Er konnte es sein, weil er durch seine wunderbare Geburt von der Erbsünde verschont blieb (Luk. 1, 31—35), und er ist es geworden, weil er die Ver­ suchungen, die ihm während seines Erdenlebens begegneten, im Gehorsam gegen seinen himmlischen Vater überwand (Luk. 4, 1 ff; Joh. 4, 34). — Allein all dies hätte ihn noch nicht be­ fähigt, der Schlangentreter zu werden und das wieder gut zu machen, was der erste Adam verdorben hatte. Dazu gehörte noch mehr. Unser Heiland mußte mehr sein, als ein vollkom­ mener Mensch, und er war auch mehr. Er war der ein­ geborene, ewige Sohn Gottes, der nach göttlichem Ratschluß Mensch ward, als die Zeit erfüllet war (Gal. 4, 4) und als Mensch die Zertretung des Schlangenkopfes, die Be­ siegung Satans und die Befreiung der Menschen aus der Sünde vollzog. Mit einem Wort: er vollzog die Erlösung. Dadurch ermöglichte und begründete er die Wiederherstellung des Reiches Gottes auf der Erde. — Doch da begegne ich einer weiteren Frage aus euerer Mitte, liebe Christen, der Frage: ist denn diese Wiederherstellung des irdischen Himmelreiches erst viertausend Jahre nach dem ersten Sündenfall, bei der Erscheinung des Heilands auf der Erde erfolgt? Ich antworte: nein, sie ist alsbald erfolgt da-

59 mals, als Gott den Schlangentreter im Paradiese ankündigte. Aber freilich, sie ist erfolgt und konnte nur erfolgen mit Rück­ sicht und im Hinblick auf das zukünftige Werk des Schlangentreters. Auf diesen und sein Erlösungswerk ist das wieder­ hergestellte Reich Gottes auf Erden gegründet. II. Und nun fragen wir: welchen Charakter trägt denn dasselbe? Wir können uns wohl denken, daß es seinen Cha­ rakter in gewisser Hinsicht geändert hat gegen seinen ursprüng­ lichen. Zwar darin blieb es seinem uranfänglichen Wesen gleich, daß es von seinen Bürgern Gehorsam gegen den König des Himmelreiches forderte und ihnen dafür Glückseligkeit verlieh. Aber während es in seiner ursprünglichen Gestalt sich auf die Schöpfung gründete, ist es nunmehr gegründet auf die Erlösung, und zwar auf die Erlösung, welche der Mensch gewordene Gottessohn vollbracht hat. Das Reich Gottes war fortan ein Erlösungsreich. Das ist sein Charakter seit seiner Wiederherstellung. Wenn ich nun sage: das wiederhergestellte Gottesreich ruht auf der Erlösung, so werdet ihr wissen wollen, liebe Christen, inwiefern dies der Fall ist. Ich antworte: insofern sie die Zertretung der Schlange, und der, welcher sie vollzogen hat, unser Heiland Jesus Christus, der Schlangentreter ist. Wir haben erkannt, daß er dazu befähigt war, seiner Person und feinen Eigenschaften nach. Dadurch, daß er alle Versuchungen und Anfechtungen abwies und heilig blieb, überwand er den Versucher, die Sünde und ihren Urheber, den Satan. Jndesien damit war die Erlösung der Menschen doch noch nicht bewerk­ stelligt. Es mußte für den Erlöser doch noch etwas hinzu­ kommen, wenn sein Werk vollständig werden sollte. Und was war das? Das war es, was der Urteilsspruch Gottes über die Schlange in den Worten: „du wirst ihn in die Ferse stechen !" andeutet. Der Schlangentreter und Erlöser mußte den Fersenstich der Schlange erfahren, um das zu werden, was er sein sollte und sein wollte. Könnet ihr euch denken, liebe Christen, was unter diesem Fersenstich zu verstehen ist? Es ist das Leiden und Sterben unseres Heilands. Das erscheint in dem göttlichen Urteil als ein solches, das ihm Satan bereitet

60 hat. Und so ist es auch in der That. Aeußerlich waren es allerdings Menschen- welche den Heiland in Not und Tod ge­ bracht haben, aber hinter ihnen stand der Fürst der Finsternis, der sie durch seine innerlichen Einflüsterungen und geistigen Ein­ flüsse zu ihren Frevelthaten gegen den Heiligen Gottes anregte und anspornte. Fuhr er doch, wie uns das Wort Gottes ent­ hüllt, in den Verräter Judas Jscharioth selbst ein und nahm von seinem Geist und Willen Besitz (Joh. 13, 27). Gott aber war es, der dem Satan und seinen Werkzeugen diesen Fersen­ stich zuließ, denn es war in seinem Rat beschlossen, daß die Erlösung auf diesem Wege zu stände gebracht werden sollte. Soweit uns die göttliche Offenbarung Einblick in Gottes Ge­ danken und Absichten gewährt, müssen wir auch sagen: sie konnte nur durch das Leiden und Sterben des Erlösers voll­ zogen werden. Warum? Erstlich darum, weil der Erlöser gerade im Leiden und Sterben sich im Gottesgehorsam und in der Heiligkeit bewähren mußte. Und zweitens darum, weil die Sünde der Menschenkinder durch das stellvertretende Leiden und Sterben des Heilands gesühnt und der ob dieser Sünde ent­ brannte Zorn des heiligen Gottes gestillt und versöhnt werden mußte. Die Ueberwindung Satans, die Sühnung der mensch­ lichen Sündenschuld, die Versöhnung Gottes, mit einem Worte: die Erlösung, das alles verdanken wir dem Fersenstich der „alten Schlange". Und siehe, auf dieser Erlösung beruht das wiederhergestellte Reich Gottes auf der Erde. Gott wollte sein Reich nicht unter­ gehen lassen auf Erden. Deshalb stiftete er die Erlösung und gründete es auf diese. Daß er aber das that, das war von seiner Seite Gnade, von den Menschen unverdiente Liebe, von der das Wort Gottes bezeugt: also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben (Joh. 3, 16). Achtet, liebe Christen, auf diesen Ausspruch unseres Heilands! Er sagt uns, auf welchem Wege die für die Sünder bereitete Erlösung diesen zu teil wird und wie sie also trotz ihrer Sündhaftigkeit wieder Bürger im Reiche Gottes, im Gnaden- und Erlösungsreich, werden können. Die Auf-

61 nähme der Sünder in das wiederhergestellte Gottesreich geschieht auf Grund ihres Glau­ bens an den Erlöser Jesus Christus. Ist es nicht so, liebe Christen? Auf Grund eueres Glaubens an unseren Heiland habt ihr die Bürgerschaft im Reiche Gottes erlangt. "Und nicht wahr, ihr wisset auch, was es mit diesem selig* machenden Glauben auf sich hat. Ihr habt in eueren Herzen selbst erfahren, daß dieser Glaube eine Zuversicht ist auf die Erlösung, welche der Heiland vollbracht hat, und daß er zu seiner Unterlage und Voraussetzung die göttliche Traurigkeit hat, welche zur Seligkeit eine Reue wirket, die niemand gereuet (2. Kor. 7, 10), mit einem Worte: daß er ein reumütiges, bußfertiges Vertrauen auf das ist, was der Heiland für uns Sünder zu unserer Erlösung gethan hat, der Bußglaube an den Sünderheiland. Seht, so ist dieser Glaube die Bedingung für die Aufnahme der sündhaft gewordenen Menschen in das durch die Gnade Gottes als Erlösungsreich wieder hergestellte Himmelreich auf Erden. Ja, sagt ihr, der Glaube an den Heiland hat uns das Reich Gottes aufgeschlossen, uns und allen, welche ihn in ihren Herzen haben erwachen lassen, seitdem der Erlöser in der Welt erschienen ist und sein Werk vollbracht hat. Aber wie war es vor seiner Erscheinung? War auch da der Glaube an ihn die Bedingung, unter welcher die Sünder Eintritt in das Reich Gottes fanden? Ja, liebe Christen. Nur daß der Glaube in der Zeit vor der Erscheinung des Heilands, in den Zeiten des Alten Bundes, eine andere Form hatte. Es war ein Glaube an den angekündigten, verheißenen Erlöser, während unser jetziger Glaube sich auf den erschienenen Heiland richtet. Der Glaube hatte in der vorchristlichen Zeit die Form der Hoffnung. Wie wir jetzt an den Erlöser glauben, so hofften die Alten auf ihn und wurden in dieser Hoffnung selig. Welch eine große Gnade unseres Gottes war es doch, daß er nicht allein eine Erlösung von Ewigkeit her beschlossen und alsbald nach dem ersten Sündenfall angekündigt, sondern daß er auch zugleich mit dieser Ankündigung derselben den Sündern -auf Erden das Himmelreich zum Eintritt geöffnet hat! Das

62 war der erste Bund, den Gott mit den sündhaft gewordenen Menschen-machte. Die Verheißung des Schlangentreters war die Schließung des Alten Bundes im weiteren Sinne. Wir sehen unsere Stammeltern in ernstlicher Reue über ihre Sünde, und wir können uns lebhaft vorstellen, wie heilsbegierig sie die große Verheißung werden ergriffen haben. Gewiß, sie sind die ersten Bürger des wieder­ hergestellten Gottesreiches geworden, wie sie vorher die einzigen Genossen des ursprünglichen Himmelreiches auf der Erde waren. Möchten doch alle ihre Nachkommen darin ihre Nachfolger werden, wie sie es auf der Betretung des Sündenweges ge­ worden sind! HI. DasReichGottesistdieaufihrerHeiligkeit beruhende Seligkeit seiner Bürger. Das haben wir schon früher erkannt, als wir von dem ursprüng­ lichen Himmelreich auf Erden redeten. Nun fragt es sich: ist es auch also mit dem wiederhergestellten Gottesreiche? Welche Bedingungen stellt es für den Eintritt und welche Wirkungen übt es auf seine Genossen? Seine Bürger sind sündhafte Menschen, welche durch den bußfertigen Glauben an den Er­ löser Aufnahme in das Erlösungsreich gefunden haben. Auch wir, liebe Christen, rechnen uns zu denselben, sofern wir uns das Zeugnis geben können, daß wir den Heilsglauben in unseren Herzen haben aufkommen lassen. Wohlan, so laßt uns an uns selbst auch die Wirkungen erforschen, welche das Gnadenreich an uns übt. Wenn du, lieber Christ, im Bußglauben stehst, dann bist du bekehrt. Worin zeigt sich nun deine Bekehrung? Du hast in diesem Glauben den Heiland ergriffen und dir damit sein Verdienst zugeeignet. Dadurch hast du Vergebung deiner Sündenschuld und die Gerechtigkeit erlangt, die vor Gott gilt. Eine eigene Gerechtigkeit hast du damit noch nicht; eine fremde, die Gerechtigkeit des Heilands ist dein eigen geworden. Und diese dir durch die Gnade Gottes zugerechnete Gerechtigkeit ver­ schafft dir die Bürgerschaft im wiederhergestellten Gottesreiche. Aber allerdings, dabei bleibt es nicht. Deine Bekehrung zeigt sich zugleich in einer Umkehr, die bei dir stattgefunden hat. Schon das Wort deutet auf eine solche hin. Das ist zunächst

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eine innere Umwandlung. Dein Wille hat sich umgewandt. Er war vorher dem Bösen zugekehrt, dem, was dem Gesetz Gottes widerstreitet; und jetzt ist er auf das Gute gerichtet, auf das, was mit dem Gesetz Gottes übereinstimmt. Dein Herz war vorher Gott, seiner Liebe und seinen: Gehorsam abgeneigt; uni) jetzt hat es die Liebe und den Gehorsam gegen Gott in sich ausgenommen. Mit einem Worte: du bist wiedergeboren, ein neuer Mensch ist in dir erstanden, der erneuert ist nach dem Ebenbilde des, der ihn geschaffen hat. Und diese innere Um­ wandlung offenbart sich auch in deinem Leben und Wandel. Du dienest nun nicht mehr der Sünde, sondern deinem Gott, und dieser Dienst ist dir eine Lust. Du liebst Gott und erfüllst gerne und mit Freuden seine Gebote. Was man gerne thut, sagt das Sprichwort, das wird einem nicht schwer. So fällt es dir auch leicht, in den Wegen Gottes zu wandeln. Erschwert wird dir das nur durch den alten Menschen, der neben dem neuen noch in dir vorhanden ist. Hat er auch bei deiner Er­ weckung zum Glauben den Todesstoß empfangen, so regt er sich doch noch immer, und du hast mit seinen Regungen zeitlebens zu kämpfen, und mußt wachen, daß er in dir nicht zu neuem Leben erwacht und die Oberhand über den neuen Menschen ge­ winnt. Da du in diesem steten Kampfe stehst, so ist deine Gottebenbildlichkeit noch nicht ausgestaltet und deine Heiligkeit noch nicht vollkommen geworden. Du bist erst auf dem Wege zur sittlichen Vollkommenheit und stehst noch in der Arbeit der Heiligung. Du mußt mit dem Apostel Paulus sprechen: nicht daß ich es schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei, ich jage ihm aber nach, ob ich es ergreifen möchte, nachdem ich von Jesu Christo ergriffen bin (Phil. 3, 12). Aber in deiner geist­ lichen Erneuerung und in diesem Anfang der Heiligkeit hast du die sicherste Gewähr und Anwartschaft auf die zukünftige Vollendung deiner eigenen Gerechtigkeit, auf die vollkommene Herstellung deiner sittlichen Gottebenblldlichkeit und frohlockest einstweilen mit dem heiligen Johannes: wir sind nun Gottes Kinder und ist noch nicht erschienen, was wir sein werden; wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, daß wir ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist (I.Joh. 3, 2).

64 Laßt uns den Zustand des Bekehrten noch von einer anderen Seite ansehen! Indem du, lieber Christ, im Bußglauben den Heiland ergreifst, der der Versöhner und Mittler zwischen Gott und den Sündern ist, gelangst du bei Gott zu Gnaden und trittst wieder ein in seine Kindschaft. Nun weißt du dich mit Gott versöhnt und schmeckest und fühlest den Frieden mit Gott, den der Heiland seinen Jüngern erworben und den er ihnen hinterlassen hat mit der Versicherung: den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch! (Joh. 14, 27) und mit dem Auferstehungsgruße: Friede sei mit euch! (Joh. 20, 19). Dieses Friedebewußtsein weiß das Wort Gottes nicht hoch ge­ nug zu rühmen. Und in der That, in demselben beruht die Seligkeit der Bürger des Erlösungsreiches. Du bist wohl selig, lieber Christ, aber zunächst nur in Hoffnung (Röm. 8, 24). Mehr giebt dir das Gottesreich zunächst nicht. In deinem äußeren Leben stehst du noch fortwährend unter dem Elend, das die Sünde über die Menschen gebracht hat, und bleibst dem Tode unterworfen, der der Sünde Sold ist. So ist es wenig­ stens äußerlich. Innerlich freilich steht es auch in dieser Hinsicht anders und besser bei dir nach der Bekehrung, als vor derselben, innerhalb des Gottesreiches, als außerhalb desselben. Jetzt sind dir die Leiden dieser Zeit nicht mehr Sündenstrafen, sondern Frömmigkeitsprüfungen und Heiligungsmittel. Jetzt ist dir der Tod nicht mehr Sündensold, sondern Eingangspforte in den Himmel. So fühlst du dich selig auch unter Not und Tod, selig in deinem Innern, und diese innere Seligkeit ist dir die sicherste Gewähr und Anwartschaft auf die dereinstige voll­ kommene Glückseligkeit im vollendeten Gottesreiche. Siehe, das sind die Wirkungen und Segnungen, welche das wiederherge­ stellte Himmelreich auf Erden mit sich führt, die verheißungs­ vollen Anfänge der vollkommenen Gerechtigkeit und Seligkeit. Gelobt sei Gott, der die von ihm abtrünnig gewordene Menschheit nicht in seinem gerechten und heiligen Zorne ver­ worfen und sein Reich auf Erden aufgegeben, sondern dasselbe auf Grund des Werkes, das der Schlangentreter vollbracht, wiederhergestellt hat als Gnaden- und Erlösungsreich, dessen Bürgerschaft allen Sündern gewährt ist, welche sich im büß-

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fertigen Glauben der Gnade und Erlösung zuwenden! Laßt uns, liebe Christen, unsere Lebens- und Bekehrungsfrist dazu benützen, daß wir die Bürgerschaft im wiederhergestellten Gottes­ reiche erlangen! Amen.

7. Tert: 1. Mos. 6,11.12. 3. 5—9.13—19. 22.

„Die Erde war verderbt vor Gottes Augen und voll Frevels. Da sah Gott auf die Erde, und siehe, sie war verderbt, denn alles Fleisch hatte seinen Weg verderbt auf Erden. — Da sprach der Herr: die Menschen wollen sich von meinem Geist nicht mehr strafen lassen, denn sie sind Fleisch; ich will ihnen noch Frist geben hundert und zwanzig Jahre. — Da aber der Herr sah, daß der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reuete es ihn, daß er die Menschen gemacht hatte auf Erden und es bekümmerte ihn in seinem Herzen und sprach: ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis auf das Vieh und bis auf das Gewürm und bis auf die Vögel unter dem Himmel, denn es reuet mich, daß ich sie gemacht habe. Aber Noah fand Gnade vor dem Herrn . . . Noah war ein frommer Mann und ohne Tadel und führte ein göttliches Leben zu seinen Zeiten. — Da sprach Gott zu Noah: . . . mache dir einen Kasten von Tannen­ holz und mache Kammern drinnen und verpiche ihn mit Pech inwendig und auswendig, . . . denn siehe, ich will eine Sint­ flut mit Wasser kommen lassen auf Erden, zu verderben alles Fleisch, darin ein lebendiger Odem ist unter dem Himmel. Alles, was auf Erden ist, soll untergehen. Aber mit dir will ich einen Bund aufrichten, und du sollst in den Kasten gehen mit deinen Söhnen und mit deinem Weibe und mit deiner Söhne Weibern. Und du sollst in den Kasten thun allerlei Tiere von allem Fleisch, je ein Paar, Männlein und Weiblein, daß sie lebendig bleiben bei dir. — Und Noah that alles, was ihm Gott gebot." 5 Schnabel, Predigten.

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fertigen Glauben der Gnade und Erlösung zuwenden! Laßt uns, liebe Christen, unsere Lebens- und Bekehrungsfrist dazu benützen, daß wir die Bürgerschaft im wiederhergestellten Gottes­ reiche erlangen! Amen.

7. Tert: 1. Mos. 6,11.12. 3. 5—9.13—19. 22.

„Die Erde war verderbt vor Gottes Augen und voll Frevels. Da sah Gott auf die Erde, und siehe, sie war verderbt, denn alles Fleisch hatte seinen Weg verderbt auf Erden. — Da sprach der Herr: die Menschen wollen sich von meinem Geist nicht mehr strafen lassen, denn sie sind Fleisch; ich will ihnen noch Frist geben hundert und zwanzig Jahre. — Da aber der Herr sah, daß der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reuete es ihn, daß er die Menschen gemacht hatte auf Erden und es bekümmerte ihn in seinem Herzen und sprach: ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis auf das Vieh und bis auf das Gewürm und bis auf die Vögel unter dem Himmel, denn es reuet mich, daß ich sie gemacht habe. Aber Noah fand Gnade vor dem Herrn . . . Noah war ein frommer Mann und ohne Tadel und führte ein göttliches Leben zu seinen Zeiten. — Da sprach Gott zu Noah: . . . mache dir einen Kasten von Tannen­ holz und mache Kammern drinnen und verpiche ihn mit Pech inwendig und auswendig, . . . denn siehe, ich will eine Sint­ flut mit Wasser kommen lassen auf Erden, zu verderben alles Fleisch, darin ein lebendiger Odem ist unter dem Himmel. Alles, was auf Erden ist, soll untergehen. Aber mit dir will ich einen Bund aufrichten, und du sollst in den Kasten gehen mit deinen Söhnen und mit deinem Weibe und mit deiner Söhne Weibern. Und du sollst in den Kasten thun allerlei Tiere von allem Fleisch, je ein Paar, Männlein und Weiblein, daß sie lebendig bleiben bei dir. — Und Noah that alles, was ihm Gott gebot." 5 Schnabel, Predigten.

66 In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Wir haben in der vorigen Predigt behauptet, daß Gott sein durch den ersten Sündenfall zerstörtes Reich auf der Erde wiederhergestellt hat und zwar als ein Erlösungsreich. Es wird gegründet auf die Gnade Gottes und auf das Werk, welches der verheißene Schlangentreter in der Zukunft vollbringen sollte und das vor Gottes Augen als bereits vollbracht dastand. Der Eintritt in dasselbe steht den ersten und allen nachfolgenden Sündern offen unter der Bedingung der Bekehrung, der Reue über ihre Sünde und des Glaubens an die Erlösung. Durch den Sünden­ fall der Stammeltern war zwar das gesamte Menschengeschlecht in die Knechtschaft der Sünde und damit auch Satans geraten. Aber die Menschen waren doch nicht ganz und gar böse ge­ worden, sondern es verblieb ihnen noch ein Rest des göttlichen Ebenbildes, ein Widerstreben gegen die Sündenmacht und eine Sehnsucht nach Befreiung von derselben. Deshalb trat das ein, was Gott in seinem Urteil über die Schlange vorausgesagt hatte: der Kampf des Weibessamens gegen die Schlange und ihren Samen. Und dieser Kampf muß fortwähren bis der Sieg errungen ist. Die gesamte Menschheit soll diesen Kampf führen, und sie führt ihn in denjenigen ihrer Glieder, welche durch die Bekehrung in die Bürgerschaft des wieder aufgerich­ teten Gottesreiches eingehen. Sie haben aber bei diesem Kampf einen großen Anführer, der zuerst einen vollständigen Sieg über Satan und die Sünde gewinnt. Das ist der Herr Jesus. Auf ihn geht von Adam an die ganze Menschheitsentwicklung hin. Er konnte nicht alsbald nach dem Sündenfall erscheinen, denn die Menschheit mußte durch göttliche Erziehung auf sein Erscheinen vorbereitet, der Boden mußte für sein Auftreten zu­ bereitet werden. Wie das geschehen ist, das wollen die folgenden Predigten zeigen. Und die heutige Predigt will sich beschäf­ tigen mit der Gestaltung, welche das Reich Gottes in der nächsten Nachkommenschaft der Stamm­ eltern angenommen, und mit den Anfechtungen, die es dabei erfahren hat. Reden wir demnach jetzt auf Grund der verlesenen Schriftworte über

67 Das Reich Gottes vor u«d bet der Sintflut und zwar in der Weise, daß wir erwägen:

1. die eintretende Scheidung und überhand­ nehmende Gottentfremdung, 2. das allgemeine Gottesgericht und die wunderbare Rettung. I. Als Gott in seinem Urteil über die Schlange den zu­ künftigen Heiland verhieß, richtete er einen Bund mit den Men­ schen auf und zwar mit der Menschheit im ganzen. Er wandte sich mit der Wiederherstellung seines Reiches als eines Erlosungsreiches nicht etwa an einen Teil der Menschen, sondern an das gesamte Menschengeschlecht. Wir nennen dieses Bündnis den Alten Bund im weiteren Sinne. Ihm folgte später die Schließung des Alten Bundes im engeren Sinne, die unter der Mittlerschaft des Moses am Berge Sinai mit dem Volke Israel geschah. Und worin bestand das Wesen des Alten Bundes int weiteren Sinne? Ihr wisset, liebe Christen, daß ein Bündnis immer auf Gegenseitigkeit beruht. Diejenigen, welche ein solches schließen, übernehmen beiderseits bestimmte Pflichten. So war es auch bei dem Bunde, von dem wir reden. Gott in seiner Gnade versprach den Menschen Er­ lösung aus der Sünde und Satansknechtschaft, aber unter der Bedingung, daß sie ihre Hingabe an die Sünde und den Satans­ dienst ernstlich bereuten, die Erlösung daraus sehnsüchtig be­ gehrten und freiwillig in seinen Dienst und Gehorsam zurück­ träten. Wie haben sich nun die Menschen zu diesem Gottes­ bunde gestellt? Seht, liebe Christen, da hat sich gleich dasselbe Verhalten gezeigt, welches die Menschen stets bis auf diese Stunde eingehalten haben. Es trat die Scheidung ein, welche seitdem in der Menschheit geblieben ist, zwischen Bekehrten und Unbekehrten, zwischen solchen, welche auf die angebotene göttliche Gnade und Er­ lösung eingehen, und solchen, welche sie verschmähen und ab­ lehnen. Gewahren wir diese Scheidung doch schon bei den ersten Söhnen der Stammeltern in der traurigsten Weise, indem der älteste derselben die göttliche Warnung vor der Leidenschaft des 5*

68 Neides, Zornes und Hasses in den Wind schlägt und zum Bruder­ mörder wird! Es ist der Unterschied zwischen Gottesreich und Welt, der sich gleich von vornherein in der Menschheit herausstellt. Der Anfänger der einen Menschenreihe, welche die Bürgerschaft des Gottesreiches erwählt, ist Abel oder später an seiner Stelle und als sein Ersah Seth, und der Anfänger der anderen Reihe, welche die Welt darstellt, ist Kain. Unter der ersten Reihe hat hinfort das Reich Gottes seine Heimstätte. Bei den Bürgern desselben herrscht gläubige und gehorsame Hingebung an Gott, während die Weltkinder sich hartnäckiger Gottentfremdung und Gott­ losigkeit ergeben. Welche dieser Menschenreihen wird den Sieg davon tragen? Wird die Gottseligkeit oder die Gottlosig­ keit die Oberhand und Herrschaft gewinnen? Seht, liebe Christen, das ist die Frage, die seitdem in der Geschichte der Menschheit schwebt und die bis aus diese Stunde noch nicht aus­ getragen ist. Gottesreich und Welt ringen mit ein­ ander in heißem Kampfe. Der Weg zum Sieg des Gottesreiches ist wohl durch den Heiland gebrochen und ge­ bahnt. Es ist der schmale Weg der Gottseligkeit, der an der engen Pforte der Buße und Bekehrung beginnt und zur Selig­ keit führt. Aber nur der kleinere Teil der Menschen betritt ihn, während der bei weitem größere Teil derselben durch die weite Pforte der Leichtfertigkeit auf die breite Straße der Weltförmigkeit und des Sündendienstes strömt und im Verderben endet (Mtth. 7, 13—14). Das Reich Gottes kommt da allezeit zu kurz. Besinne dich auf deiner Lebensbahn, lieber Christ, wie du es halten willst, und laß dich beizeiten auf den Weg führen, den im Anfang des Menschengeschlechts der fromme Seth und seine Nachkommen einschlugen. Wohin dieser Weg führt, das erblicken wir ganz besonders deutlich an Einem der­ selben, an Henoch, den Gott um seines gottwohlgefälligen Lebens und Wandels willen von der Erde hinweg und in den Himmel aufnahm, ohne daß er den Tod zu schmecken hatte (1. Mos. 5, 21—24). Aber nicht allein zu jenseitiger Seligkest führte dieser Weg die ersten Bürger des Gottesreiches,

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sondern auch zu irdischem Wohlsein und Glück, das sich vor­ nehmlich in einer langen, fast ein Jahrtausend erreichenden Lebensdauer kundgab (1. Mos. 5). Wie diese ältesten Bürger des Gottesreiches einen gottseligen Wandel führten, so standen sie auch in der rechten Gotteserkenntnis und im rechten Gottes­ glauben. Das ersehen wir deutlich aus der Hoffnung auf den verheißenen Erlöser, welche sie fest hielten. Wie schon Eva bei der Geburt ihres ersten Sohnes der Hoffnung sich hingab, daß in ihm dem Menschengeschlecht der Schlangentreter ge­ schenkt sei (1. Mos. 4, 1), so nannte der fromme Lamech seinen Sohn Noah, das ist Trost, Ruhe, weil er hoffte: der wird uns trösten in unserer Mühe und Arbeit auf der Erde, die der Herr verflucht hat (1. Mos. 5, 28—29). Wie lebendig diese Hoffnung auf den Erlöser in den Herzen dieser ältesten Reichsgenossen war, das spricht sich ganz besonders deutlich darin aus, daß Gottes Wort schon aus der Zeit Seths berichtet: zu derselben Zeit fing man an zu predigen von des Herrn Namen (1. Mos. 4, 26). Das ist eine höchst beachtenswerte Nachricht. Die Bezeichnung „der Name des Herrn" birgt ein Ge­ heimnis in sich. Der „Name des Herrn Jehova" ist nichts anderes, als Jehova selbst, aber Jehova als derjenige, der die Absicht hat, zum Zweck ihrer Erlösung in die Reihe der Men­ schen selbst einzutreten, einen menschlichen Namen, also mensch­ lich Natur und Wesen anzunehmen, mit einem Wort: Mensch zu werden. Der „Name des Herrn" (Jehova) ist der Mensch werden wollende und schließlich Mensch werdende Jehova, der Weltheiland. Von dem wußten die ältesten Bürger des Gottes­ reiches, auf den hofften und den bekannten sie. Ersehen wir nicht aus all dem, liebe Christen, daß es in dem Geschlechte Seths mit dem Reiche Gottes einen erfreu­ lichen Anfang und hoffnungsvollen Fortgang genommen hatte? Anders freilich stand es mit der Nachkommenschaft Kains. Wie unter den Kindern Seths die wahre Frömmigkeit bewahrt und gepflegt wurde, so herrschte unter dem Geschlechte Kains von Anfang an der weltliche Sinn, welcher sich vom Ueberirdischen und Ewigen ab- und dem Irdischen und Diesseitigen

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zuwandte. Daher kam es, daß sich unter diesen Weltkindern die menschlichen Künste und Gewerbthätigkeiten zuerst aus­ bildeten. Baukunst, Landwirtschaft, Schmiedekunst, Dichtkunst und Musik blühten unter ihnen auf (1. Mos. 4, 17. 20—22). Das war allerdings ein Verdienst derselben und diese Erfin­ dungen sollten dem ganzen Menschengeschlecht zustatten kommen. Aber bedenklich war es, daß zugleich mit diesen nützlichen Er­ findungen auch weltliche Thorheiten und Unsitten aufkamen. Ein anderer Lamech führte die Vielweiberei ein (1. Mos. 4, 19), und brachte die Selbstrache und das gewaltthätige Vergel­ tungsrecht auf (1. Mos. 4, 23—24), und damit war der sitt­ lichen Entartung des menschlichen Geschlechts Thor und Thür aufgethan. Mit dem überhand nehmenden Sündendienst war dann notwendigerweise geistliche Verfinsterung, Abnahme der wahren Gotteserkenntnis und Zunahme des Unglaubens ver­ knüpft, denn Gottentfremdung auf sittlichem Gebiete zieht alle­ mal auch solche auf religiösem Gebiete nach sich, wie umgekehrt. Und da zeigte sich denn, liebe Christen, eine Erscheinung, die seitdem oft genug erlebt worden ist, ich meine die Erscheinung, daß das böse Beispiel gute Sitten verdirbt, daß es auf die Menschen einen verführerischen Einfluß übt, dem sie in den meisten Fällen nicht zu widerstehen vermögen, oft selbst dann nicht, wenn sie, wie die Nachkommen Seths, bereits in der Bürgerschaft des Reiches Gottes stehen. Bleibt doch, wie wir an uns selbst wahrnehmen, liebe Christen, auch bei den Be­ kehrten noch der alte Mensch bestehen, der fortwährend be­ kämpft werden muß, wenn er nicht wieder die Oberhand ge­ winnen soll. Darum werden wir durch das Wort Gottes so eindringlich zur geistlichen Wachsamkeit ermahnt, denn wer steht, mag wohl zusehen, daß er nicht falle (1. Kor. 10, 12). Wohl uns, wenn wir stets dessen eingedenk sind, was unser Heiland von seinen Jüngern fordert: wachet und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet, denn der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach! (Mtth. 26, 41). Die ältesten Reichsgenossen haben diese Wachsamkeit nicht geübt. Darum wurden sie von der Macht des schlimmen Beispiels überwunden, vom rechten Wege ab und in die Gottvergessenheit und den Sündendienst hineingezogen.

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Und beides nahm nun in derMenschheit so sehr überhand, daß der heilige Gott das Urteil über sie fällen mußte: „die Men­ schen wollen sich von meinem Geist nicht mehr straf en lassen, denn sie sind Fleisch!" Dies Gottes­ urteil macht uns die Schilderung des Gotteswortes verständlich, die wir in unserem Texte lesen: „dieErdewarverderbt vor Gottes Augen und voll Frevels; da sah Gott auf die Erde und siehe, sie war verderbt, denn alles Fleisch hatte seinen Weg verderbt auf Erden." Das Reich Gottes auf der Erde stand in der höchsten Gefahr unterzugehen. n. Aber Gott wollte es nicht untergehen lassen, er wollte es trotz dem Abfall der Menschen erhalten. Zu diesem Zwecke wendete er ein zweifaches Mittel an, ein schreckliches Gericht und eine gnädige Bewahrung. Das Gericht bestand darin, daß er das für sein Reich untüchtig gewordene Menschen­ geschlecht durch eine ungeheuere Wasserflut vertilgte; die Be­ wahrung aber darin, daß er die von ihm für das Gottesreich allein würdig erfundene Familie des Noah in wunderbarer Weise rettete. Reden wir, liebe Christen, zuerst von dem Gericht. Das war nötig geworden, weil alles Fleisch auf Erden seinen Weg dermaßen verderbt hatte, daß die Menschen sich vom Geiste Gottes nicht mehr wollten zurechtweisen lassen. „Da", so berichtet unser Text, „reuete es Gott, daß er die Menschen ge­ macht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen und sprach: ich will die Men­ schen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, . . . dennesreuetmich,daßichsiegemacht habe." Das ist ein Ausspruch von zermalmendem Gewicht: „es reuete Gott, daß er die Menschen geschaffen hatte." Ihr werfet mir ein: steht doch geschrieben in Gottes Wort: Gott ist nicht ein Mensch, daß er lüge, oder ein Menschenkind, daß ihn etwas gereue (4. Mos. 23, 19; 1. Sam. 15, 29)! Ich entgegne: gewiß, eine Aenderung der inneren Gesinnung, wie sie bei uns Menschen vorkommt, ist bei Gott nicht denkbar. Seine Ge­ sinnung bleibt stets dieselbe, aber sein äußeres Verhalten zu

72 den Menschen richtet sich nach deren Verhalten zu ihm. Wenn es also von ihm heißt, daß ihn die Erschaffung der Menschen, gereuete, so ist mit Worten, welche von menschlicher Schwache heit hergenommen sind, gesagt, daß Gott die Vertilgung der Men­ schen beschlossen habe, weil sie seine Absicht vereitelten. Seine Reue ist die Erkenntnis, daß der Erfolg der guten Absicht, welche er bei Erschaffung der Menschen hatte, nicht ensprochen hat, und der Entschluß, seine gute Absicht auf anderem Wege zu verwirk­ lichen. Nicht ein Fehler ist es, den Gott zu bereuen hat, sondern er sieht ein, daß er mit diesem entarteten Men­ schengeschlecht sein Reich nicht Herstellen kann, und darum beschließt er, es zu vertilgen und aus der einzigen fromm erfundenen Fa­ milie ein neues Menschengeschlecht zu erbauen. Den ersten Teil seines Beschlusses führte Gott durch die große Wasserflut aus, welche mit Recht Sund flut ge­ nannt wird, weil sie das göttliche Gericht über die Sünde der Menschen war. Wahrlich, liebe Christen, es muß weit mit der Sünde der Menschen gekommen gewesen sein, daß sie durch ein Gottesgericht, das seines Gleichen nicht hat, gestraft wurden. Ob­ wohl es wahrlich an erschütternden Heimsuchungen der Sünde in der Geschichte der Menschen nicht fehlt, ist diese Strafe doch so furchtbar, daß sie manchen Anlaß zum Zweifel an der Wahr­ heit des biblischen Berichts giebt. Allein der Bericht des Wortes Gottes wird durch die Sage der Völker in allen Teilen der Erde bestätigt. So erkennen wir denn aus dieser Heimsuchung, wie schrecklich der Zorn Gottes über die Sünde und welch ein Greuel die Sünde in den Augen des heiligen und gerechten Gottes sein muß. Wir gedenken mit erschrockenem Gewissen des Ausrufes im Worte Gottes: schrecklich ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen (Hebr. 10, 31), und Angst und Bangigkeit erfaßt uns bei dem Gedanken an unsere eigene Sünde. Diese Sündenangst würde uns gewiß in die Verzweiflung treiben, wenn wir nicht wüßten, daß der Herr Jesus uns Vergebung unserer Schuld und Versöhnung mit Gott erworben hat und daß wir derselben teilhaftig geworden sind, so wir anders im bußfertigen Glauben den Heiland und sein Verdienst ergriffen

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haben. Heil uns, daß uns ein Entrinnen aus dem Zorne des heiligen Gottes möglich gemacht ist, wenn wir auch unter seinen Heimsuchungen noch schwer genug zu leiden haben. Stehen wir im Glauben an den Versöhner und dadurch in der Versöhnung mit Gott, dann ist unser Leiden und Sterben kein Strafgericht mehr für uns, sondern eine Züchtigung der Liebe Gottes 31t unserem ewigen Heil. Welchen der Herr lieb hat, den züchtigt er, und er stäupt einen jeglichen Sohn, den er aufnimmt; so ihr die Züchtigung erduldet, so erbietet sich euch Gott als Kindern, denn wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt? Seid ihr aber ohne Züchtigung, welcher sie alle sind teilhaftig geworden, so seid ihr Bastarde und nicht Kinder (Hebr. 12, 6—8). Und, liebe Christen, die Liebe Gottes war auch bei dem Strafgericht der Sintflut beteiligt. Höret doch auf das, was uns Gottes Wort über die Seelen der in der Sintflut Um­ gekommenen sagt! Wir lesen: Christus ist getötet nach dem Fleisch, aber lebendig gemacht nach dem Geist; in demselben ist er auch hingegangen und hat gepredigt den Geistern im Ge­ fängnis, die vor Zeiten nicht glaubten, da Gott harrete und Ge­ duld hatte zu den Zeiten Noahs, . . . denn dazu ist auch den Toten das Evangelium verkündigt, auf daß sie gerichtet werden nach dem Menschen am Fleische, aber im Geiste Gott leben (1. Petr. 3, 18—20; 4, 6). Was lernen wir aus diesem Aus­ spruche? Daß die Menschen der damaligen Zeit zwar der Her­ stellung des irdischen Himmelreiches hinderlich waren und darum vertllgt wurden, daß sie aber damit keineswegs von der Liebe Gottes aufgegeben waren, sondern noch im Jenseits das Heil angeboten bekamen. Wie herrlich offenbart sich da vor dem Blicke unseres Geistes die Liebe Gottes, die uns unter dem Blick auf das entsetzliche Sintflutgericht fast zu entschwinden droht! Und doch haben wir von ihr einen erfreulichen Beweis auch bei der Ausführung dieses Gerichts, wenn wir aus unserem Texte hören, daß Gott vor derselben beschließt: „ich will ihnen noch Frist geben hundert und zwanzig Jahre." Eine Gnaden-, Buß- und Bekehrungsfrist ist gemeint. Ja, liebe Christen, die gab Gott damals, und er giebt sie den Menschen fortwährend, trotzdem daß sie dieselbe in den seltensten Fällen

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nach seinem Willen zu ihrem Heil benützen. Laßt das nicht von uns gelten, sondern laßt uns unser Seelenheil bedenken, solange es „heute" für uns heißt (Hebr. 3, 7—8) 1 Der zweite Teil des Beschlusses, den Gott zur Erhaltung seines Reiches auf Erden faßte, bestand in der Bewahrung und Rettung der Familie des fromm erfundenen Noah. Davon sagt unser Text: „aber Noah fand Gnade vor dem Herrn...Noah war ein frommer Mann und ohne Tadel und führte ein göttliches Leben zu seinen Zeiten". Warum fand Noah Gnade? Weil von ihm bezeugt werden konnte, daß er ein frommer Mensch war. Suchen wir nun nach einer näheren Beschreibung seiner Frömmigkeit, so finden wir sie im Neuen Testament, wo wir lesen: durch den Glauben hat Noah Gott geehret und die Arche zubereitet zum Heil seines Hauses, da er einen göttlichen Befehl empfing von dem, das man noch nicht sah, und er verdammte durch denselben die Welt und hat ererbet die Gerechtigkeit, die durch den Glauben kommt (Hebr. 11, 7). Noahs gottwohl­ gefälliges Leben beruhte auf seinem Glauben. So ist es, liebe Christen, von jeher gewesen, und so ist es noch jetzt. Es giebt keine wahre Sittlichkeit ohne den rechten Glauben. Wo der Glaube fehlt, kann zwar eine äußere Rechtschaffenheit bestehen, aber cs mangelt ihr die gottwohlgefällige Gesinnung, die ihr allein Wert verleiht. Und auf die Dauer hält sich ohne Glauben auch die äußere Gerechtigkeit nicht. Dieser heiligende Glaube ist aber der Rechtfertigungsglaube, mit dem der Sünder die Sünden vergebende Erlösungsgnade ergreift. Er wird in Gottes Wort dem Noah in gleicher Weise zugeschrieben, wie später dem Abraham, dem Vater der Gläubigen. Dieser Rechtfertigungs­ glaube an den Sünderheiland birgt in sich die Kraft der sittlichen Erneuerung und Heiligung. Hast du diesen Glauben, lieber Christ? Wisse, daß es der seligmachende ist! Fürwahr, es war eine schwere Probe, auf welche der Glaube Noahs gestellt wurde. Gottes Wort bezeichnet Noah als einen Prediger der Gerechtigkeit (2. Petr. 2, 5). Was ist damit gemeint? Es war seine Aufgabe, einer in religiöser und sittlicher Hinsicht verderbten Welt Buße zu predigen, und zwar



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nicht mit dem Wort allein, sondern mit der That und im Werk, durch den Bau der Arche. Wie mag das gottlose Volk ihn als einen Narren verlacht, verspottet, verachtet haben. So ergeht es dem Glauben zu allen Zeiten, liebe Christen! Auch unser Glaube muß ernste Proben bestehen. Der Inhalt desselben ist den Weltmenschen Thorheit und Aergernis, denn es hat Gott wohl gefallen, durch thörichte Predigt selig zu machen, die daran glauben (1. Kor. 1, 21. 23). Und wie oft muß unser Glaube sich gerade da bewähren, wo uns Gottes Gedanken und Absichten ganz unverständlich sind, denn wir wandeln hienieden im Glau­ ben und nicht im Schauen (2. Kor. 5, 7) und müssen es lernen, daß selig sind, die nicht sehen und doch glauben (Joh. 20, 29). Ja, der Glaube, von dem das Wort Gottes bezeugt, daß er nicht jedermanns Ding ist (2. Thess. 3, 2), er war Noahs Haupttugend, und er hat sich bei ihm bewährt, denn er hat ihn vor dem Untergang bewahrt. Es war eine wunderbare Rettung, die er und seine Familie erfuhr. Wohl mag ihm bei dem Bau seines wunderlichen Schiffes das Bedenken und der Zweifel aufgestiegen sein, ob dasselbe auch im stände sein werde, die ungeheuere Flut mit ihren Wogen zu bestehen und ihn samt den Seinen und allen Tieren, die er aufnehmen sollte, zu bergen. Aber er traute dem Gott, der ihm befohlen hatte, wie wir in unserem Texte lesen: „mache dir einen Kasten von Tannenholz und mache Kammern drinnen und verpiche ihn mit Pech inwendig und auswendig, . . . dennsiehe,ichwilleineSintflutmitWasser kommen lassen auf Erden, zu vertilgen alles Fleisch,darineinlebendigerOdemistunterdem Himmel, . . . aber mit dir will ich einen Bund aufrichten." Er glaubte an das versprochene Bündnis und „that in diesem Glauben alles, was ihm Gott gebot", so verwunderlich es ihm erscheinen mochte. Ganz gewiß wäre Noahs Arche nicht im stände gewesen, das zu leisten, was sie geleistet hat, wenn sie nicht Gottes Allmacht durch wunderthätiges Eingreifen tüchtig dazu gemacht hätte. So wunderbar, wie die Entstehung der großen Flut und die Mög­ lichkeit der Einführung der Tiere in die Arche, so wunderbar

76 vollzog sich auch die Bewahrung der Noachischen Familie. Ja, durch ein großes Wunder hat Gott sein Reich auf Erden vor dem Untergang beschützt, durch ein großes Wunder hat er es hinüber gerettet in eineneueZeit. Wo blieb das Reich Gottes während des Untergangs der alten, vorsündflutlichen Welt? Es schwamm in der Arche Noahs auf den Wassern der Sintflut. Amen.

8. Tert: 1. Mos. 8,14—22; 9, 8—15.

„Also ward die Erde ganz trocken am siebenundzwanzigsten Tage des anderen Monats. Da redete Gott mit Noah und sprach: gehe aus dem Kasten, du und dein Weib, deine Söhne und deiner Söhne Weiber mit dir; allerlei Tier, das bei dir ist, von allerlei Fleisch an Vögeln, an Vieh und an allerlei Ge­ würm, das auf Erden kriecht, das gehe heraus mit dir, daß sie sich regen auf Erden und fruchtbar seien und sich mehren auf Erden. Also ging Noah heraus . . . Noah aber baute dem Herrn einen Altar und nahm von allerlei reinem Vieh und von allerlei reinem Gevögel und opferte Brandopfer auf dem Altar. Und der Herr roch den lieblichen Geruch und sprach in seinem Herzen: ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen, denn das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf; und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebet, wie ich gethan habe; so lange die Erde steht, soll nicht mehr aufhören Samen und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. — Und Gott sagte zu Noah und seinen Söhnen mit ihm: siehe, ich richte mit euch einen Bund auf und mit euerem Samen nach euch und mit allem lebendigen Tier bei euch; . . und ich richte meinen Bund also mit euch auf, daß hinfort nicht mehr alles Fleisch verderbt soll werden mit dem Wasser der Sintflut, und soll hinfort keine Sintflut mehr kommen, die die Erde verderbe. Und Gott sprach: das ist das Zeichen des Bundes, den ich gemacht

76 vollzog sich auch die Bewahrung der Noachischen Familie. Ja, durch ein großes Wunder hat Gott sein Reich auf Erden vor dem Untergang beschützt, durch ein großes Wunder hat er es hinüber gerettet in eineneueZeit. Wo blieb das Reich Gottes während des Untergangs der alten, vorsündflutlichen Welt? Es schwamm in der Arche Noahs auf den Wassern der Sintflut. Amen.

8. Tert: 1. Mos. 8,14—22; 9, 8—15.

„Also ward die Erde ganz trocken am siebenundzwanzigsten Tage des anderen Monats. Da redete Gott mit Noah und sprach: gehe aus dem Kasten, du und dein Weib, deine Söhne und deiner Söhne Weiber mit dir; allerlei Tier, das bei dir ist, von allerlei Fleisch an Vögeln, an Vieh und an allerlei Ge­ würm, das auf Erden kriecht, das gehe heraus mit dir, daß sie sich regen auf Erden und fruchtbar seien und sich mehren auf Erden. Also ging Noah heraus . . . Noah aber baute dem Herrn einen Altar und nahm von allerlei reinem Vieh und von allerlei reinem Gevögel und opferte Brandopfer auf dem Altar. Und der Herr roch den lieblichen Geruch und sprach in seinem Herzen: ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen, denn das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf; und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebet, wie ich gethan habe; so lange die Erde steht, soll nicht mehr aufhören Samen und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. — Und Gott sagte zu Noah und seinen Söhnen mit ihm: siehe, ich richte mit euch einen Bund auf und mit euerem Samen nach euch und mit allem lebendigen Tier bei euch; . . und ich richte meinen Bund also mit euch auf, daß hinfort nicht mehr alles Fleisch verderbt soll werden mit dem Wasser der Sintflut, und soll hinfort keine Sintflut mehr kommen, die die Erde verderbe. Und Gott sprach: das ist das Zeichen des Bundes, den ich gemacht

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habe zwischen mir und euch und allen lebendigen Seelen bei euch hinfort ewiglich: meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken; das soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde; und wenn es kommt, daß ich Wolken führe über die Erde, so soll man meinen Bogen sehen in den Wolken, alsdann will ich gedenken an meinen Bund zwischen mir und euch und allerlei lebendigen Seelen in allerlei Fleisch." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Wohl konnte der fromme Noah, als er in die Arche ging, die Gott hinter ihm zuschloß, sprechen, wie wir später den Psalmdichter seufzen hören: Gott hilf mir, denn das Wasser gehet mir bis an die Seele (Ps. 69, 2)! Aber er durfte sich auch im Glauben der Gnaden­ versicherung seines Gottes getrosten, welche später der Prophet in die Worte faßte: fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöset; ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein; denn so du durchs Wasser gehest, will ich bei dir sein, daß dich die Ströme nicht sollen ersäufen (Jes. 43, 1—2)! Noah hatte mit seiner Bußpredigt nichts ausgerichtet unter seinen sittlich verkommenen Zeitgenossen. O, wie mag ihn das in seiner Seele geschmerzt haben! Aber er stand mit seiner Trauer nicht allein. Der gnädige Gott, welcher der entarteten Menschheit eine hundertzwanzigjährigeBekehrungsfrist gewährte, teilte seine Trauer. Ein wie viel glücklicherer Bußprediger war doch in einer späteren Zeit der Prophet Jonas, auf dessen Mah­ nung die heidnische Weltstadt Ninive Buße that in Sack und Asche! Die Menschheit zu Noahs Zeit war in ihrer Unbußfertig­ keit ein Vorbild der Menschenwelt, auf welche das Ende des gegenwärtigen Weltalters kommen wird. So bezeugte unser Heiland, als er sprach: gleich wie es zu der Zeit Noahs war, also wird auch sein die Zukunft des Menschensohnes, denn gleichwie sie waren in den Tagen vor der Sintflut, sie aßen, sie tranken, sie freieten und ließen sich freien, bis an den Tag, da Noah zu der Arche einging, und sie achteten es nicht, bis die Sintflut kam und nahm sie alle dahin, also wird auch sein die Zukunft des Menschensohnes (Mtth. 24, 37—39). Die Sintflut kam, denn die Menschen waren reif für den Untergang, weil sie der Herstellung des Gottesreiches hinderlich geworden waren.

78 Aber das Reich Gottes ging nicht mit unter, sondern es wurde erhalten in den acht Seelen, von welchen wir lesen im Gottes Wort: in welcher (Arche) wenige, das ist acht Seelen gerettet wurden durchs Wasser, welches nun auch uns selig macht in der Taufe, die durch jenes bedeutet ist (1. Petr. 3, 20—21). Da macht der Apostel die Sintflut zu einem Vorbild des Tauf­ sakraments. Er will sagen: wie die Familie Noahs durch die Sintflut hindurch vom drohenden Tode zum irdischen Leben errettet ward, so werden wir durch das Taufwasser, in welchem der Heilige Geist seine Wirkung übt, aus dem geistlichen und ewigen Tod zum geistlichen, ewigen Leben gerettet. Und er hat Recht, denn die Taufe ist das Bad der Wiedergeburt und Er­ neuerung. Ja, noch weiter dürfen wir den Vergleich ausdehnen: wie in der Taufe Gott mit dem Täufling einen Bund schließt, der auf dem von seiner Sündenschuld gereinigten Gewissen des Getauften beruht, so schloß Gott mit Noah nach der Sintflut einen Bund, auf dem die Neugründung seinesReichesaufErdenberuht. Von diesem Bunde haben wir heute zu handeln. Laßt uns reden über Das Reich Gotles unter dem Bunde Gottes mit Noah

und kennen lernen: 1. dessen Schließung, 2. dessen Wesen und Bedeutung, 3. dessen Zeichen, Segen und Verpflichtung. I. Der dieser Predigt vorangestellte Abschnitt der Heiligen Schrift berichtet uns, daß die Sintflut sich verlief, nachdem sie ihr grausiges Zerstörungswerk vollbracht hatte, und daß Gott den Noah hieß aus der Arche herausgehen mit den Seinen und allen Tieren, welche er in dieselbe ausgenommen hatte. Dann fährt er fort: „Noah aber bauete dem Herrn einen Altar und nahm von allerlei reinem Vieh und von allerlei reinem Gevögel und opferte Brandopfer auf dem Altar . . . Und Gott sprach zu Noah und seinen Söhnen mit ihm: siehe, ich richte mit euch einen Bund auf und mit euerem Samen nach euch und mit allem lebendigen Tier

79 bei euch." Wenn ihr also fraget, liebe Christen: wie wurde der Bund Gottes mit Noah geschlossen?, dann antworte ich: durch eine feierliche gottesdienstliche Handlung, durch ein Opfer. Das ist hochbedeutsam, denn alle Bünd­ nisse, die seitdem Gott mit Menschen eingegangen ist, werden geweiht durch eine Opferhandlung. So geschah es später bei dem Bunde, den Gott mit Abraham, den er noch später mit dem Volk Israel am Sinai und den er schließlich mit der Mensch­ heit unter der Mittlerschaft seines Mensch gewordenen Sohnes auf Golgatha einging. Was hat das Opfer für einen Zweck und Bedeutung? Schon vor Noah tritt dasselbe in der biblischen Erzählung einmal auf. Es begegnet uns in dem Opfer, das die beiden ersten Söhne der Stammeltern Gott darbrachten. Seit diesem ersten Opfer, von dem das Wort Gottes Kunde giebt, bildet dieser Brauch den Mittelpunkt alles Gottesdienstes der Menschen. Ist das nicht eine höchst auffallende Wahrnehmung, und woher mag dieser eigentümliche gottesdienstliche Brauch stammen? Wir zweifeln nicht, daß er auf einer Anweisung beruht, die Gott den ersten Menschen schon zu teil werden ließ und die dann durch Ueber­ lieferung aus der Anfangszeit zu allen Völkern durchgedrungen ist. Es ist ein Ueberbleibsel der Urreligion, das aber die Men­ schen später, als sie keine Offenbarung mehr von Gott empfingen, vielfach verkehrt und sogar grauenhaft entstellt haben. Unter dem einzigen Volk, dem Gott in der Folgezeit noch seine über­ natürliche Offenbarung zu teil werden ließ, wurde der Opfer­ gebrauch gesetzlich angeordnet und geregelt durch göttliche Be­ stimmung. Ist das nicht ein deutlicher Beweis dafür, daß er von Anfang an auf einer göttlichen Einsetzung beruhete. Wir fragen nochmals, liebe Christen, was soll das Opfer als gottesdienstlicher Brauch? Die Opfer sind Darbringungen teils aus dem Pflanzen-, zumeist aber aus dem Tierreich, und diese letzteren als die weitaus wichtigste Art des Opfers habe ich hier im Auge. Seine vornehmste Bedeutung besteht darin, daß es die durch die Sünde entstandene Scheidung zwischen dem heiligen Gott und den sündigen Menschen aufheben soll. Das Opfer ist eine Versöhnungshandlung, und zu dieser wird es

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dadurch, daß es ein Sühnungswerk ist. Durch die Hingabe eines schuldlosen Tieres in den Tod an der Stelle des sündigen Men­ schen, der diesen Sold der Sünde verdient hat, also durch Stell­ vertretung wird die Sündenschuld abgebüßt oder gesühnt, und dadurch wird dem schuldbeladenen, aber reuigen Sünder die Ver­ söhnung mit Gott verschafft. Ihr werdet vielleicht einwerfen, liebe Christen, daß Gottes Wort im Neuen Testament die Behauptung aufstellt: es ist un­ möglich, durch Ochsen- und Bocksblut Sünden wegnehmen (Hebr. 10, 4), und ihr seid im Recht mit diesem Einwurf. An und für sich können Tieropfer allerdings keine Versöhnung zwischen Gott und den Menschen bewirken. Sie sind aber Vorbilder und Abschattungen des allein vollgültigen und heilskräftigen Opfers, das Jesus Christus damit Gott darbrachte, daß er frei­ willig den Tod an unserer Statt erlitt. Von seinem Opfer gilt der Ausspruch des Wortes Gottes: wir sind geheiligt auf ein­ mal durch das Opfer des Leibes Jesu Christi (Hebr. 10, 10). Nach diesem Opfer sollte die Sehnsucht geweckt werden in den Herzen der Sünder durch die Tieropfer. Und im Hinblick auf dieses Opfer wurden auch die Sünd- und Schuldopfer des Alten Bundes, die Gott selbst angeordnet hatte, heilskräftig und tüchtig, die Versöhnung zwischen Gott und den Menschen zu bewirken und ihnen Vergebung der Sünden zu verschaffen. So ist das Opfer Sündenbekenntnis von feiten des Menschen und Sündenvergebung von feiten Gottes. So enthält auch das Opfer, mit welchem der gottselige Noah die neue Zeit, die nach der Sintflut anbricht, einleitete, ein Bekenntnis seiner Sündhaftigkeit und das Verlangen nach Versöhnung und Gemeinschaft mit dem Gott, der ihn und die Seinen so wunderbar gerettet hatte. Diese demütige und heils­ begierige Gesinnung ist es, was Gott an dem Opfer Noahs so wohl gefällt, welches Wohlgefallen unser Text mit den Worten bezeugt: „der Herr roch den lieblichen Geruch." Daß wir diesen kindlichen Worten die rechte Deutung geben, geht klar aus dem ganzen vor uns liegenden Bericht hervor. So war es auch vordem bei dem Opfer Abels gewesen, wie Gottes Wort im Neuen Testament bezeugt, indem es von diesem

81 Opfer sagt, daß Abel es im Glauben dargebracht habe (Hebr. 11, 4). Gott sah es gnädig an, weil es ihm in dieser heils­ begierigen Gesinnung dargebracht wurde. Merken und lernen wir doch hieraus, liebe Christen, wie unsere Herzensstimmung sein muß, wenn Gott unsere Opfer gnädig ansehen soll! Unsere Opfer? fragt ihr; haben wir, Kinder des Neuen Bundes, auch noch Opfer zu bringen? Gewiß, antworte ich. Wisset ihr nicht, wie es im Liede heißt: du willst ein Opfer haben, hier bring' ich meine Gaben: mein Weihrauch, Farrn und Widder sind mein Gebet und Lieder! n. Nachdem wir, liebe Christen, erfahren haben, wie der Noachische Bund geschlossen worden ist, muß es uns jetzt darum zu thun sein, zu erforschen, welchesdasbesondere Wesen dieses Bundes ist und worin seine Be­ deutung besteht. Das werden wir aber entdecken, wenn wir auf die Zusage achten, welche Gott dem Noah auf sein Opfer gab. Sie lautet nach unserem Texte: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen, denn das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf; und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebet, wieichgethanhabe; . . . siehe,ichrichtemiteuch einen Bund auf, daß hinfort nicht mehr alles FleischverderbtsollwerdenmitdemWasserder Sintflut und soll hinfort keine Sintflut mehr kommen, die die Erde verderbe." Klar ist in diesen Worten Gottes das eigentümliche Wesen des Bundes enthüllt, den Gott nach der Sintflut mit den Menschen aufrichtete. Es besteht darin, daß Gott beschließt, das Menschengeschlecht zu er­ halten trotz feiner Sündhaftigkeit. Ihr fragt: wie kann der Heilige und Gerechte das? Er kann es, weil er von Ewigkeit den Beschluß gefaßt hat, der Menschheit eine Erlösung zu be­ reiten. Und für diese Erlösung will er sie aufbewahren. Ihr fragt weiter: aber warum hat er diesen gnädigen Beschluß nicht schon vor der Sintflut gefaßt? Hier stehen wir, liebe Christen, vor einem Geheimnis der göttlichen Weltregierung, das uns die Offenbarung nicht aufdeckt. Wir müssen uns deshalb daran Schnabel, Predigten.

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82 genügen lassen, daß wir aus Gottes Wort ein Zwiefaches er­ fahren. Erstlich, Gott hat das vorsintflutliche Menschengeschlecht vertilgt, weil es sich der Herstellung seines irdischen Himmel­ reichs hinderlich erwies, denn es achtete weder auf die Buß­ predigt noch benutzte es die Gnadenfrist. Sodann, G o t t l i e ß nach der Sintflut eine neue Zeit in seiner Welt­ regierung eintreten, die Zeit der Geduld und Langmut mit den Menschen. Seht, das ist der unterscheidende Charakter dieser Zeit, daß der heilige und gerechte Gott die Sünde der Menschheit unter seine Geduld nimmt und sie in seiner Langmut erträgt. Und was hat er für einen Grund dazu? Er giebt ihn selbst an in seiner Zusicherung an Noah, wenn er spricht: „denn das Dichten des Menschenherzens ist doch nun ein­ mal böse von Jugend auf." So war es infolge des Sündenfalls der Stammeltern geworden. Diese verhängnis­ volle Folge hat dieser für ihre gesamte Nachkommenschaft ge­ habt, daß der sündige Trieb und Hang sich fortpflanzt von Geschlecht zu Geschlecht und die menschliche Natur vergiftet und verdirbt. So bestätigt es auch unser Heiland mit den Worten: aus dem Herzen kommen arge Gedanken, Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsch Zeugnis, Lästerung (Mtth. 15, 19). Hätte Gott dieses dem Bösen zugeneigte Menschengeschlecht sich selbst überlassen, so würde es dem geistlichen und ewigen Ver­ derben anheimgefallen sein, und mit seinem Reiche wäre es aus gewesen auf der Erde. Das will er aber nicht. Sein Reich soll auf der Erde und unter den Menschen fortbestehen, und den Sündern soll Gelegen­ heit gegeben werden, in dasselbe einzutreten und damit ihre Seelen zu retten. Deshalb faßt er den Beschluß: ich will die Menschen nicht mehr vertilgen, wenn sie auch fortfahren, der Sünde zu dienen; ich will sie erlösen und zu diesem Zwecke das Versöhnungswerk vollbringen, wenn die Zeit erfüllt ist. Für diese Erlösung erhält er die Mensch­ heit und duldet ihr sündig Wesen und Treiben in bewunderns­ werter Langmut. Aber merket wohl, liebe Christen: auch nur um deswillen, daß diese Erlösung beschlossen ist, kann und darf

83 er dies, ohne seine Heiligkeit und Gerechtigkeit zu verletzen. So geschieht es denn, daß seitdem die Menschenwelt scheinbar un­ gescheut und ungehindert der Sünde fröhnt. Das will den­ jenigen ihrer Glieder, welche sich von diesem Sündendienst los­ sagen, gar unbegreiflich erscheinen, daß Gott sie so gewähren läßt. Dieses Gewährenlassen hat eben seinen Grund in der Ge­ duld und Langmut, zu welcher sich Gott im Noachischen Bunde verpflichtet hat. Und die Geduld Gottes hat wieder ihren Grund in seinem Erlösungsratschluß. Er duldet das böse Thun und Treiben der Menschen, aber er giebt auch den Sündern fort­ während seit der Schließung jenes Bundes mit Noah, ja sogar seit seiner Verheißung der Erlösung im Paradiese Gelegenheit, der versprochenen Erlösung teilhaftig zu werden und damit die Bürgerschaft im Reiche Gottes zu erlangen. Auf welche Weise er das thut? Wie schon die frommen Nachkommen Seths von dem „Namen des Herrn Jehova" pre­ digten und damit die Menschen zur Ergreifung der Erlösung, zur Bekehrung aufforderten, so werden es die frommen Nach­ kommen Noahs fortgesetzt haben. So hat es nie an der Predigt des Evangeliums unter den Menschen gefehlt, und je und je sind durch dieselbe Seelen in das Reich Gottes gerettet worden. Hat Gott schon hiermit der Entwicklung und Ausbreitung der Sünde ein mächtiges Gegengewicht entgegengestellt, so hat er anderseits ihre zügellose Ausgestaltung auch gehemmt durch fortgehende Strafgerichte, die im Vergleich mit der Sintflut allerdings klein, aber doch den Menschen fühlbar genug sind. Läßt er den Sündern auch vieles hingehen ohne sofort ein­ tretende Züchtigung, so ereilen seine Strafen die Menschen doch entweder alsbald auf ihrem bösen Wege, oder sie stellen sich nach längerem Verzug ein, wie das alte Liedeswort bezeugt: Gottes Mühlen mahlen langsam, mahlen aber trefflich klein; ob aus Langmut er sich säumet, bringt mit Schärf' er alles ein. So erfährt es die Menschheit im großen und im kleinen, so er­ fahren es die Völker und die Einzelnen. Weißt du nicht auch davon zu sagen, lieber Christ, daß Gott die Sünden oft sehr empfindlich straft? Wie er dich dadurch vom ungescheuten Sün­ dendienst abhalten und zurückziehen will, so verfolgt er dieselbe 6*

84 flute Absicht bei den Züchtigungen, die er über Familien, Stämme und Völker hereinbrechen läßt. Er will den Sündendienst da­ durch eindämmen und die Sünder zur Abkehr vom Bösen er­ wecken. Seine Sündenstrafen sollen der Einladung zum Reich Gottes, welche er fortwährend an die Menschen ergehen läßt, zur Verstärkung und Bekräftigung dienen. Liebe Christen, lassen wir sie uns dazu dienen und beherzigen wir, daß unser Gott nicht Gedanken des Leids über uns hat, wenn er uns Heim­ sucht um unserer Sünden willen, sondern Gedanken des Friedens (Jer. 29, 11), und daß er nicht will, daß jemand verloren gehe, sondern daß sich jedermann zur Buße kehre und lebe en sollte, und das sollte eine Weltstadt sein. Unser Text erzählt: „sie sprachen untereinander: wohlauf, lajt unls

93 eincStadtundTurmbauen,desSpitzebisanden Himmel reiche, daß wir uns einen Namen machen". Drei Punkte sind in diesem Beschluß der Beachtung wert. Sie wollen eine Weltstadt gründen; dieselbe soll einen Turm haben, der bis an den Himmel reicht; damit wollen sie sich einen Namen machen. Laßt uns, liebe Christen, darüber weiter Nachdenken I Also schon in dieser Frühe der Weltzeit regte sich der Plan, welcher seitdem aus der Welt nicht mehr verschwunden ist, der Plan der Herstellung eines einheitlichen Weltreichs mit einer Welthauptstadt. Nachdem der erste Versuch dazu durch das Dazwischentreten Gottes mißglückt war, machte den nächsten Versuch ein Enkel Hams, der gewaltige Jäger Nimrod, der sich wohl durch Ausrottung wilder reißender Tiere den Menschen nützlich und angenehm machte. Andere spätere Gründungen von Weltreichen geschahen von Sanherib, Nebukadnezar, Cyrus, Alexander, Cäsar, Napoleon I. Diese Welt­ reiche sind aber allesamt nach längerer oder kürzerer Dauer wieder untergegangen, weil sie der Absicht Gottes zuwider waren. Gott wollte keine derartige von Menschen gemachte Einheit des Menschengeschlechts, nachdem dieses in eine religiöse und sittliche Verirrung geraten war, die es für das Reich Gottes untauglich machte. An seinem Widerwillen wird auch das jetzt noch zukünftige, letzte und bedeutendste dieser Weltreiche zerscheitern, das des Widerchrist. Die endliche richtige Herstellung der Einheit des menschlichen Geschlechts hat sich Gott selbst Vor­ behalten, und er wird sie nach der Vernichtung des Widerchrist­ ischen Reiches zu stände bringen im vollendeten Gottesreich. Und dieses wird dann seinen Mittelpunkt haben im neuen Jeru­ salem, welches den Gegensatz bildet zu der Weltstadt Babel. Die zu erbauende Weltstadt soll einen Turm erhalten, dessen Spitze bis an den Himmel reicht. Man könnte das für einen kindischen Gedanken halten, aber leider liegt ihm eine em­ pörerische Gesinnung gegen Gott zu Grunde. Diese verirrten Menschen wollen nicht nur ohne Gott über die Erde gebieten, sondern sie gedenken auch den Himmel durch ihre eigeneKraft zu erobern. Damals, in jener Frühe des

94 Menschengeschlechtes, glaubte man noch an eine überirdische, himmlische Welt, während die heutige Welt diesen Glauben auf­ gegeben hat. Mit Ausführung dieser Pläne wollen sich diese thörichten Menschen einen „Namen" machen. Liebe Christen, erinnert uns dieses Wort nicht an das, was wir früher erfahren haben über den „Namen des Herrn", von dem die Menschen schon zu Seths Zeit anfingen zu predigen und zu zeugen (1. Mos. 4, 26) ? Gott, so erkannten wir, hat den Menschen seinen „Namen" zu ihrer Erlösung gegeben. Dieser sein „Name" ist der Heiland, der da kommen sollte und der endlich in Jesus erschienen ist. Wenn jene Menschen nun beschließen, daß sie sich selbst einen „Namen" machen wollen, so enthält dieser Beschluß eine Ver­ werfung des „Namens", welchen Gott ihnen schenken will. War demnach schon der Entschluß zur Er­ bauung einer Weltstadt und zur Errichtung eines himmeler­ strebenden Turmes eine Empörung gegen Gottes Absicht, so trat diese gottwidrige Gesinnung noch deutlicher zu Tage in dem Beschluß, sich einen menschlichen „Namen" zu machen. Aus all dem leuchtet eine Gesinnung hervor, welche das Gegenteil der wahren Religion ist. Was ist die wahre Religion? Sie ist die Gemeinschaft des Menschen mit dem überweltlichen Gott. Was tritt aber in der Gesinnung zu Tage, welche dem Plane der Menschen nach der Sintflut zu Grunde lag? Es ist die Abwendung von dem lebendigen Gott und das Ver­ sinken in das Heidentum. Das Heidentum ist die Ver­ gottung des Menschen und derNatur, und dieMeinung, der Mensch könne und müsse sich durch eigene Kraft und Weisheit sein Heil erwerben, sein Himmelreich schaffen. So ersehen wir denn, liebe Christen, aus dem, was uns Gottes Wort von dem Plane des da­ maligen Menschengeschlechts berichtet, daß zu jener Zeit die neue Menschheit bereits von dem Glauben an den wahren per­ sönlichen Gott abgefallen und in den heidnischen Aberglauben und damit in eine beklagenswerte geistliche und sittliche Ver­ finsterung hinein geraten war. Das Heidentum war mit diesem Beschluß zur vollen Ausgeburt und den Menschen zum deutlichen Bewußtsein gekommen. Es hatte bereits das gesamte Menschen-

95 geschlecht ergriffen. So hoch- und übermütig es aber ins Leben trat, so endete es schließlich doch mit einem religiösen und sitt­ lichen Bankerott und führte die verblendete Menschheit zur Ver­ zweiflung an aller Wahrheit. II. Das war die heillose Verirrung der neuen Mensch­ heit. In ihr schien das Reich Gottes auf Erden untergehen zu wollen, ja bereits untergegangen zu sein. Allein so weit war cs doch noch nicht gekommen, und so weit sollte und durfte es auch nach Gottes Willen nicht kommen. Das Gottesreich wurde auch in dieser Periode, gleichwie in der vorigen, in wenigen Menschenseelen aus dieser babylonisch enVerirrung hinüber gerettetin eine günstigere Zeit, in der es Gott in einer neuen Weise be­ gründete. Wie diese spätere Neubegründung geschieht, das sollen uns die folgenden Predigten zeigen. Vorerst müssen wir sehen, wie Gott in das thörichte und frevelhafte Be­ ginnen der Menschen eingreift. Er thut dies in wunderbarer Weise. Unser Text berichtet darüber: „der Herr sprach: siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen Allen und haben das ange­ fangen zu thun; sie werden nicht ablassen von Allem, das sie vorgenommen haben zu thun; wohlauf, laßt uns hernieder fahren und ihre Sprache daselbst verwirren, daß Keiner des An­ dern Sprache vernehme; also zerstreuete sie der Herr von dannen in alle Länder, daß sie mußten aufhören, die Stadt zubauen". Die Menschen konnten doch nicht aufkommen gegen Gottes Willen. Er hat sie wohl als Wesen mit freiem Willen geschaffen, und läßt ihnen einen nicht geringen Spielraum zur Bethätigung ihrer Willensfreiheit. Aber dieser Spielraum ist doch immerhin ein begrenzter und über seine Schranken können die Menschen nicht hinaus. Das hat sich auch in dem vorliegenden Falle erwiesen. Die Menschen konnten zwar den Glauben an den wahren Gott und den Ge­ horsam gegen seinen Willen aufgeben, aber ihren Plan konnten sie doch nicht ausführen. Seine Ausführung wurde zwar be­ gonnen, aber auch jählings unterbrochen, und zwar durch ein



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höchst wunderbares Eingreifen Gottes. Gott verwirrte die Sprache der Menschen. Diese war bis dahin noch eine, die von allen Menschen gesprochen und verstanden wurde. Jetzt trat mit einemmal eine Sprachentrennung ein. Wir fragen: Wie ist diese geworden? Auf diese Frage wird uns jedoch in Gottes Wort kein Aufschluß erteilt. Wir stehen hier vor einem großen Wunder. Darum habe ich auch das gött­ liche Eingreifen in das vermessene Unternehmen dec Menschen ein wunderbares genannt. Ich denke, liebe Christen, dem Gott, der dem ersten von ihm geschaffenen Menschen das Sprachvermögen gegeben hat, der hat auch später den Menschen ver­ schiedene Sprachen geben können. Dem Allmächtigen Gott ist kein Ding unmöglich (Luk. 1, 37). Hat er doch auch dem Taub­ stummen auf den Gebetsseufzer unseres Heilands: Hephatha! nicht nur die Ohren aufgethan und das Band der Zunge gelöst, sondern auch die Fähigkeit verliehen, mit einemmal recht zu reden (Mk. 7, 31 ff.). Ja, noch mehr: hat er doch auch am großen Pfingstfest in Jerusalem den Jüngern seines Sohnes, über welche er den Heil. Geist ausgoß, die Gabe geschenkt, mit verzücktem Geiste die großen Thaten Gottes so zu bezeugen, daß die in der Stadt zum Fest anwesenden Fremden staunten, weil ein jeglicher sie in seiner Sprache reden härten (Apg. 2, 6)! Laßt uns darum, liebe Christen, keinen Anstoß nehmen an den: Wunder der Sprachverwirrung bei dem Turmbau zu Babel. Wann und wo Gott es zur Erreichung seiner Zwecke und ins­ besondere zur Erhaltung und Förderung seines Reiches für nötig erachtet, da thut er Wunder, denn er ist der Gott, der Wunder thut (Ps. 77,15). Er kann sie noch heute thun, wie in den Zeiten, da er sich den Menschen offenbarte und sein Reich unter ihnen begründete. Das laß dir zum Trost gesagt sein, lieber Christ, wenn du in Angst und Sorge versinken willst, sei es ob des kümmerlichen und angefochtenen Standes des Gottesreiches auf Erden, sei es ob einer verzweifelten Notlage, in welcher du oder dein Nächster sich befindet. Stehe nur fest im Glauben und halte an am Gebet, so kannst du heute noch Wunder erleben! Wir fragen weiter, warum Gott gerade diesen Eingriff in

97 das seiner Absicht zuwider laufende Treiben der Menschen ge­ wählt hat. Ohne Zweifel, er hätte dasselbe auch in anderer Weise unterbrechen und hindern können, wie etwa durch Er­ regung von Erdbeben oder Krankheiten. Aber wir staunen über die Weisheit, Güte und Langmut Gottes, die ihn bestimmt hat, dieses Mittel zu seinem Zwecke anzuwenden. Bedenken wir doch seinen Zweck! Es handelt sich um die Erhaltung seines Reiches, das in Gefahr steht, im hereinbrechenden Heidentum unterzu­ gehen. Gott erkennt, daß die noch bestehende Einheit des Menschengeschlecht es ist, welche die Verbreitung und Ausbildung des Heidentums fordert, wie überhaupt die Verbreitung und Ausbildung der Sünde. Tonangebend wäre die Haupt- und Weltstadt in dieser Hinsicht geworden. Wir sehen es ja in der Gegenwart, welchen Einfluß die Weltstädte auf das gesamte Denken und Wollen der übrigen Bevölkerung ausüben, und in welcher verführerischen Weise sie diese beeinflussen. Und das geschieht um so mehr, je mehr ein Volk seinen geistigen Mittel­ punkt in seiner Hauptstadt sieht. Deshalb verhindert der all­ weise Gott vor allem den Bau der Weltstadt. Aber das genügt noch nicht zur Erfüllung seines Zwecks. Um diesen zu erreichen, muß er auch die Einheit des Menschen­ geschlechts aufheben. Diese Einheit ist gewiß von Anfang an die Absicht Gottes mit der Menschheit gewesen und würde ihr auch wohl geblieben sein, wenn nicht der Eintritt der Sünde sie den Menschen zum Schaden und Nachteil gewandt hätte. Das veranlaßte Gott, sie aufzüheben; und dazu diente am besten die Sprachentrennung. Aus dieser entstanden in der Folge getrennte Stämme und Völker. Und das war Gottes Wille. Dem Mißbrauch der Einheit zur schrankenlosen Aus­ bildung und Ausbreitung der Sünde war damit wenigstens ein starker Damm entgegen gestellt. Wohl sagt das Sprichwort: Einigkeit macht stark. Und das ist auch wahr; es kommt nur darauf an, worin sie stark macht, im Bösen oder im Guten. Beides kann stattfinden; es kommt eben ganz und gar darauf an, welcher Sinn und Geist die Vereinigung regiert. Ist es ein guter Sinn und Geist, dann wird sich die Vereinigung als eine segensreiche erweisen. Waltet jedoch ein böser Sinn und Geist in Schnätel, Predl-len.

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98 ihr, dann gereicht sie den Menschen zum Schaden. Nachdem es in dem nachsintflutlichen Geschlecht zu dem Abfall vom rechten .Gottesglauben, zu der geistlichen Verfinsterung, zu der Em­ pörung gegen Gottes Willen gekommen war, die sich in dem babylonischen Unternehmen kund gab, da war die Einheit der Menschheit bereits zum Nachteil ausgeschlagen und die Trennung der Menschen in Stämme und Völker war zur Notwendigkeit geworden, wenn die Menschen nicht ganz dem Verderben an­ heimfallen sollten. Ihr sehet also, liebe Christen: was in erster Linie ein gött­ liches Gericht über die hoch- und übermütigen Menschen sein sollte, das erwies sich zugleich als eine That der göttlichen Gnade und Langmut. Daß sich diese von fetten Gottes wohl gemeinte und reichen Segen in sich schließende völkerweise Scheidung der Menschen im Laufe der Weltgeschichte dennoch als eine unversiegliche Quelle gegenseitiger Befeindung und Befehdung aus Neid und Mißgunst, Habgier und Herrschsucht erwiesen hat, das fällt wiederum als Schuld auf die Menschen und ihre zum Bösen geneigte Natur zurück. Nach Gottes Willen sollte die Menschheit Völkerweise fortbestehen zu ihrem Heil. Zu dem Ende stattete Gott jedes Volk mit besonderen natürlichen Geistes-Gaben und Anlagen aus, die es zum Gedeihen des Ganzen ausbilden und anwenden sollte, bis er selbst durch den Welterlöser die Menschett, soweit sie sich im Glauben diesem anschließen, wieder zur rechteit Einheit zusammenführt, von welcher der Heiland zeugt, wenn er verheißt: es wird e i n eHerde und e i nHirte werden (Joh. 10,16). Hat er ja doch schon einen Anfang mit dieser Einigung gemacht in der Kirche, deren gläubige Glieder eine unsichtbare Einheit bilden, die dereinst zur äußeren Einheit werden wird. Eine Herde und ein Hirt! Wie wird dann dir sein, o Erde, wann sein Tag erscheinen wird! Freue dich, du kleine Herde, mach dich auf und werde Licht: Jesus hält, was er verspricht! Amen.

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10. Tert: 1. Mos. 12, 1—3. „Der Herr sprach zu Abram: gehe aus deinem Vater­ land und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will; und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen und sollst ein Segen sein; ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Mir hast du Arbeit gemacht mit deinen Sünden und hast mir Mühe gemacht mit deinen Missethaten (Jes. 43, 24), so hören wir Gott durch den Mund seines Propheten klagen über sein Volk Israel. Ist cs uns nicht, als tönte auch aus unseren seitherigen Betrach­ tungen diese Klage Gottes über das Menschengeschlecht heraus? Sein gnädiges Absehen ist darauf gerichtet, es aus der Sünde zu erlösen und ihm sein Reich zu sichern. Aber wie schwer macht es ihm die Erfüllung dieser Absicht! Die Menschheit vor der Sintflut ergab sich dermaßen dem Sündendienst, daß Gott kein anderes Mittel zur Rettung seines Reiches auf Erden blieb, als die Vertilgung derselben bis auf eine Familie. Die neu ent­ standene Menschheit nach der Sintflut geriet in eine so große Gottentfremdung, daß das Reich Gottes auf Erden abermals vor feinem Untergange stand. Gott mußte zur Erhaltung des­ selben die Einheit des Menschengeschlechts in gewaltsamer Weise aufheben. Bei all dem ermüdet seine Geduld und Langmut nicht. In den zwei Zeitabschnitten der Geschichte des Gottesreiches nach dem ersten Sündenfall, die wir seither kennen gelernt haben, hat es Gott versucht, seinReich der Gesamtheit des Menschen­ geschlechts zu erhalten und dasselbe alsbald in dieser Gesamtheit aufzurichten. An der Schuld der Menschen ist diese Absicht Gottes gescheitert, und in beiden Zeit­ abschnitten kam es schließlich so weit, daß das irdische Himmel7*

100 reich unterzugehen drohte. Als dieser Fall zum zweitenmal ein­ trat, da schlug Gott einen anderen Weg ein, um

seine Gnadenabsicht zu verwirklichen. Das ist jedoch nicht so zu verstehen, als ob Gott erst in diesem Zeitpunkt einen neuen Entschluß gefaßt hätte. Bei Gott ist keine Vergangenheit und Zukunft, wie bei uns endlichen, zeitlichen Geschöpfen. Bei ihm ist stete Gegenwart. Sein Ratschluß steht von Ewigkeit her

fest. Seiner Allwissenheit war es nicht verborgen, daß der menschliche Eigenwille seine Pläne vereiteln würde. Dennoch versuchte er es mit den Menschen. Hat er sie doch als Wesen mit

freiem Willen geschaffen, die sich selbst für oder gegen Gott und sein Reich entscheiden müssen. Und außerdem weiß Gott wohl, daß ihm die Erhaltung und Vollendung seines Reiches trotz allem Widerstreben der Menschen dennoch gelingen wird. Ent­

ziehen sich auch die meisten Menschen seiner gnädigen Absicht, so bleiben doch immer einzelne, welche darauf eingehen. Und schließlich wird nicht nur das Reich Gottes zur Vollendung ge­ langen, sondern es werden auch seine Bürger unzählbar sein (Offenb. 7, 9). — Fragen wir aber jetzt: welches ist der neue Weg, den Gott zur Herstellung seines Reiches einschlägt? Die heutige Predigt soll uns darüber Belehrung bringen. Sie wird uns zeigen, daß Gott seinen Plan, sein Reich in der Gesamtmensch­

heit alsbald aufzurichten, zunächst verläßt, und sich an ein einzelnes Volk wendet, um in diesem das Heil und

die Erlösung zu bereiten, die für die gesamte Menschheitbestimmtist. Reden wir also jetzt im Anschluß an den verlesenen Schriftabschnitt über Das Reich Gottes i« der Gottesfamilie unter dem Bunde Gottes mit Abraham und beachten wir 1.

die Schließung des Bundes,

2. 3.

dessen Zweck und Bedeutung, und dessen geschichtliche Ausführung.

I. Der letzte Zeitabschnitt in der Geschichte des Reiches Gottes, den wir betrachtet haben, liebe Christen, war der des Noachischen Bundes. Er war von feiten Gottes mit der gesamten

101 Menschheit geschlossen, und er macht nun einem anderen Bunde Platz, den Gott mit einem einzelnen kleinen Volk eingeht, und zwar zunächst mit dem Stammvater dieses Volks. Doch verliert der Bund Noahs noch nicht seine Geltung. Wir haben erkannt, daß. seine Eigentümlichkeit darin besteht, daß Gott die Sünde der Menschheit unter seine Geduld nimmt, weil er im Sinne hat, eine Erlösung der Menschen aus der Sünde ins Werk zu setzen. Diese Geduld und Langmut Gottes aber ist es, unter welcher das Menschengeschlecht noch immer steht, auch jetzt noch, nachdem das Versöhnungswerk längst vollbracht ist. Solange Gott den sündigen Menschen diese Versöhnung verkündigen, und solange er sie durch das Amt, das die Versöhnung predigt, zur An­ eignung derselben berufen und einladen läßt, währt noch der Bund der Geduld. Anderseits aber war allerdings die Zeit dieses Bundes vorüber in dem Augenblick, wo der Bund Gottes mit Abraham ins Leben trat. Achten wir vor allem auf den Vorgang der Schließung dieses Bundes, den das 15. Kapitel des 1. Buches Moses ausführlich berichtet. Gott wendet sich an den Stammvater des Volks, mit welchem er fortan in besondere Beziehung treten will. In ihm hat er einen Menschen entdeckt, der noch in der Er­ kenntnis und Verehrung des wahren Gottes stand. Ihm offen­ bart er sich. Und wie fängt er das an? Unser Text belehrt uns, daß er ihn aussonderte von seiner Familie, well diese bereits ins Heidentum verstrickt war, und aus seinem Vaterlande, weil in diesem das Heidentum bereits die Herrschaft erlangt hatte. Er hieß ihn auswandern in ein Land, das zwar auch von einem heidnisch gewordenen Volke bewohnt war, in welchem er sich aber von einer engeren Berührung mit diesem Volke fern halten konnte. Dieses Land war Kanaan, das später den Namen Palästina erhielt. Gott versprach dem Abraham, daß er dieses Land in der Zukunft seinen Nachkommen zum Eigentum einräumen wolle. Auf dem Boden dieses Landes fand auch die feierliche Bundesschließung statt, von der wir reden. Sie geschah auf Grund des Glaubens, welchen Abraham bewies. Er war bereits alt und hatte keinen Sohn aus seiner Ehe mit Sara. Als er darüber klagte, stellte ihn Gott unter

102

den freien Himmel und sprach: siehe den Himmel und zähle die Sterne; kannst du sie zählen? also soll dein Same sein! Abra­ ham glaubte dem Herrn, und das ward ihm zur Gerechtigkeit gerechnet. Durch diesen Beweis seines Glaubens ist er der „VwterderGläubigen" geworden. Wie Abraham durch diesen seinen Glauben Gott angenehm ward, so werden auch wir durch den bußfertigen Glauben an den Mittler Gott angenehm, daß er uns losspricht von unserer Sündenschuld und uns für gerecht erklärt. So lehrt uns Gottes Wort und bezeichnet uns deshalb als Nachfolger des gläubigen Abraham, als seine Kinder im Glauben (Röm. 4; Gal. 3). Merket wohl, liebe Christen. Wir Sünder können das Wohlgefallen Gottes nicht erlangen durch das vollkommene Halten seines Gesetzes. Wir können auf diesem Wege nicht gerecht werden vor Gott. Deshalb eröffnet uns der gnädige Gott einen anderen Weg zur Erlangung der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, und dieser Weg ist der Glaube an die Erlösung, die Gott für die Sünder beschlossen, die Hin­ gabe an das Heil, das er ihnen bereitet hat. Diesen Glauben bewies Abraham damit, daß er es Gott zutraute, ihn trotz seiner Kinderlosigkeit zum Stammvater des Volkes zu machen, in dem er sein Reich aufrichten wollte. Er hatte ihn schon damit be­ wiesen, daß er dem Befehle Gottes Folge leistete bei seiner Aus­ wanderung aus der Heimat. Er hatte ihn damit bewiesen, daß er der Versicherung Gottes Vertrauen schenkte, durch welche das Land Kanaan seiner Nachkommenschaft zugesprochen ward. Den stärksten Beweis seines Glaubens legte er aber da­ durch ab, daß er später, als ihn Gott mit der Forderung auf die Probe stellte, er solle seinen einzigen Sohn, das Kind und den Erben der Verheißung, opfern, sich auch anschickte, diese Forde­ rung zu erfüllen in der Zuversicht, daß Gott den Isaak auch von den Toten erwecken könne (Hebr. 11,17—19), um seinen Heils­ plan dennoch zur Ausführung zu bringen. In all dem offen­ barte sich Abrahams Glaube als ein Glaube an die Erlösung, die Gott beabsichtigte, an das Reich Gottes, das er aufrichten wollte. Deshalb kann von ihm gesagt werden: er wartete auf eine Stadt, die einen Grund hat, deren.Baumeister und Schöpfer Gott ist (Hebr. 11, 10; bergt 11, 13—16). Deshalb konnte

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auch unser Heiland von ihm bezeugen: Wraham ward froh, daß er meinen Tag sehen sollte, und er sah ihn und freute sich (Joh. 8, 56). In diesem Glauben müssen wir Abraham nach­ folgen, wenn wir die Bürgerschaft im Gottesreiche gewinnen wollen. Die Bundesschließung geschah durch ein Opfer, das Abraham auf Geheiß Gottes darbrachte. Liebe Christen, wir haben die Bedeutung der Opfer bereits kennen gelernt. Sie sind Vorbilder des Selbstopfers, das der Heiland am Kreuze brachte, und sie bewirken eine vorläufige Versöhnung zwischen Gott und dem opfernden Sünder und verschaffen diesem Vergebung. Darum bezeugt Gottes Wort von denselben: ohne Blutvergießen geschieht keine Vergebung. Wenn aber Gott mit Menschen eine Verbindung eingeht, dann muß Sündenvergebung für dieselben voraus gehen. So geschieht es ja auch bei dem Bunde, den Gott mit jedem von uns geschlossen hat bei der Taufe. Ist sie doch nach seinem Worte der Bund eines guten, d. i. eines durch das Blut des Heilands von seiner Sündenschuld gereinigten Gewissens mit Gott! Auch dem Bunde, den Gott mit Wraham schloß, mußte ein Opfer vorangehen, durch welches ihm Vergebung seiner Sünden verschafft wurde. Das war die Bedeutung des Opfers, das er darbrachte und das Gott selbst anzündete, indem er unter der Hülle einer Rauch- und Feuer­ säule sich offenbarte (1. Mos. 15, 9ff.). Ich habe bereits gesagt, Gott habe sich dem Wraham g e offenbart. Hier sehen wir eine der Weisen, in welchen diese Offenbarungen erfolgten. Es ist eine Gotteserscheinung. Sie ist aber mit einer göttlichen Ansprache verbunden, denn wir lesen: „der Herr (Jehova) sprach zu Abraham". Nicht immer geschehen diese Ansprachen Gottes äußerlich und verbunden mit einer Erscheinung Gottes. Oft erfolgen die göttlichen Mitteilungen auch durch innerlichesAnsprechen Gottes, das sich im Geiste des Menschen bemerklich machte. Dann heißt es aber auch wieder: zu Wraham geschah das Wort des Herrn im Gesicht. Wir erfahren dadurch, daß sich Gott auch zuweilen in Gesichten oder auch in Träumen kund gab. Wenn nun bei diesem Bundesopfer davon die Rede ist, daß eine

104 Rauch- und Feuersäule die Opferstocke in Brand setzte, so ist damit auf eine Offenbarungsweise hingewiesen, die dann im Laufe der Geschichte des Reiches Gottes ost vorkam. Sie begiebt sich durch eine Gotteserscheinung unter der Hülle einer Rauch- und Feuersäule. Doch ist dies nicht die einzige Form der Gotteserscheinungen. Häufig ereigneten sich diese auch unter Vermittlung des „Engels des Herrn (Jehovas)", der mit den Menschen verkehrt im Auftrag und an Stelle des un­ sichtbaren Gottes. — O, wie dankbar müssen wir doch unserem Gott dafür sein, daß er sich den Menschen geoffenbart hatl Schon das ist eine seiner größten Wohlthaten, daß er seinen menschlichen Geschöpfen das Bewußtsein von seinem Dasein ins Leben mitgiebt, wie auch, daß er ihnen die Fähigkeit verleiht, ihn aus der Schöpfung und aus dem Gewissen zu erkennen. Aber das allein würde uns steilich nicht genügen. Deshalb gewährt er uns noch eine übernatürliche Offenbarung. In dieser deckt er uns sein Innerstes auf, läßt uns in sein Herz blicken, erschließt uns seine Gedanken, thut uns kund seinen Ratschluß, den er zu der Welt Heil und zu seines Reiches Herstellung ausführen will. Merken wir uns aber schon jetzt, daß die Offen­ barung über seinen Heilsratschluß damit vollendet ist, daß er, nachdem er vor Zeiten manchmal und auf mancherlei Weise durch Propheten, zuletzt zu den Menschen durch seinen Sohn geredet hat (Hebr. 1, 1—2). Eine weitere Offen­ barung darüber hinaus giebt es nicht, sondern nur eine Erleuchtung durch den Heiligen Geist zum Verständnis derselben. Und seht, liebe Christen, an dieser Erleuchtung nehmen auch wir teil, wenn wir im Bußglauben den Heiland ergreifen. Dann eröffnet auch uns der Heil. Geist das Ver­ ständnis des Evangeliums. n. Unter einer Opferhandlung hat Gott mit Abraham einen Bund geschlossen. Es ist der letzte Vorgänger des eigent­ lichen „Alten Bundes". Wir haben nun den Zweck und die Bedeutung dieses Bundes zu erforschen. Ist es euch, liebe Christen, nicht bereits klar geworden, worin Bedeutung und Zweck dieses Bundes bestehen? Gott wendet sich damit von seinen seitherigen Versuchen, sein Reich in der Gesamtmenschheit

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äufzurichten, ab, und macht den Anfang damit, es zunächst nur in einem einzelnen Volke zu verwirklichen. Zu dem Ende knüpft er mit dessen Stammvater eine Ver­ bindung an. Dessen Nachkommenschaft soll das auserwählte Bundesvolk werden, in welchem Gott das Heil für die ganze Welt bereiten will und welches die Erstlingsschaft im Gottes­ reiche bilden soll. Gott muß dies Volk, das israelitische Volk, deshalb schon gleich von seinem Ursprung an in seine besondere Erziehung nehmen und ihm schon bei seiner Entstehung seine außerordentliche Offenbarung zu teil werden lassen. Das thut er denn auch und überläßt einstweilen die übrige Menschheit sich selbst, läßt sie, wie sein Wort sich ausdrückt, ihre eigenen Wege wandeln (Apg. 14, 16). Sie sollte ihn mit dem Lichte der Vernunft ohne besondere Offenbarung suchen, ob sie ihn aus seiner natürlichen Offenbarung in Schöpfung und Gewissen fühlen und finden möchte, da er ja allgegenwärtig ist, die ganze Welt erfüllt, also auch nicht ferne von einem jeden unter uns, sondern uns so nahe ist, daß wir beständig in ihm leben, weben und sind (Apg. 17, 27—28). Gott sieht wohl in seiner All­ wissenheit voraus, daß die Menschen das nicht thun, sondern daß sie, sich selbst überlassen, immer weiter von ihm abkommen und damit auch immer tiefer in religiöse Unwissenheit und in die Knechtschaft der Sünde hineingeraten werden. Dennoch muß er diesen Weg einschlagen in seiner Weltregierung, nachdem sich die Menschheit im ganzen seinem Gnadenrat widersetzt hat. Der Allwissende sieht es vorher, daß es kommen wird, wie es wirklich gekommen ist, daß die Menschen nämlich in geistlicher und sittlicher Hinsicht einen jämmerlichen Schiffbruch erleiden werden (Röm. 1, 21 ff.). Aber er konnte es dahin kommen lassen, weil er nicht minder wußte, daß sie in diesem ver­ zweifelten Zustand endlich seiner Heilsanerbietung und Ein­ ladung zum Reiche Gottes zugänglich werden würden. Und das war sein Plan, daß ihnen beides doch schließlich zu teil werden sollte. Verstehet ihr jetzt, liebe Christen, was Gott will? Im israelitischen Volke soll das Heil und die Er­ lösung für die Menschheit beschafft werden, und

106 im Heidentum, dem die übrigen Völker anheim fallen, sollen die Menschen für die endliche Sehn­ sucht nach der Erlösung, für das Heilsverlangen zubereitet werden. Diese göttliche Absicht liegt einge­ schlossen in dem Segen, der zuerst dem Abraham erteilt, und dann den anderen Erzvätern wiederholt wird. Er lautet nach unserem Texte: „ich will dich zum großen Volk machen und will dich segn en und dir einen großen Namen machen und sollst ein Segen sein; ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich ver­ fluchen, und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden!" Das ist der bedeutendste und inhaltschwerste Segen, der jemals über einen Menschen aus­ gesprochen worden ist. Er ist die Fortsetzung desjenigen Segens, den einst Noah über seinen Sohn Sem aussprach. Abraham war ein Nachkomme Sems. Was ursprünglich von Gott dem ganzen Geschlechte Sems zugedacht war, daß in ihm das Reich Gottes seine Heimstätte haben sollte: dieser Plan Gottes ver­ engert sich nun und beschränkt sich auf einen einzelnen Zweig des Semitischen Geschlechts, auf die Nachkommenschaft Abra­ hams. In ihr soll das Reich Gottes erhalten werden. Aus ihr soll der Erlöser seinerzeit nach seiner menschlichen Natur hervorgehen, um in ihrer Mitte das Versöhnungswerk zu voll­ ziehen und damit das Gottesreich zu begründen. Wann das geschehen ist, dann soll es der übrigen Menschenwelt zu gut kommen, damit das gesamte Geschlecht zur Bürgerschaft im Reiche Gottes berufen werde (Gal. 3, 8. 14). So segnet Gott den Abraham und in ihm und durch ihn, wie durch seine Nach­ kommen alle Geschlechter auf Erden. Und dieser Segen ist so bedeutungsvoll, daß seine Worte noch nachklingen in dem Urteilsspruch, mit welchem unser Heiland am Tage des Welt­ gerichts „die Gesegneten seines Vaters" herbeirufen will und wird, daß sie ererben sollen das Reich, das ihnen bereitet ist von Anbeginn der Welt (Matth. 25, 34). Damit nun aber das Große seinerzeit geschehen und der Sohn Gottes in der Nachkommenschaft Abrahams Mensch werden könne, dazu traf Gott in seiner Gnade Anstalt. Ihr

107 fraget: Welche? Ich habe es bereits gesagt, liebe Christen, daß er das Geschlecht Abrahams in seine besondere Erziehung nahm. Er unterrichtete es durch seine Offenbarung über seinen Willen und Ratschluß. Er ließ aber auch dessen Mitglieder durch den Heil. Geist bekehren und heiligen. Nur aus einem über Gottes Ratschluß und Willen unterrichteten und durch den Heil. Geist bekehrten und geheiligten Geschlechte konnte der Erlöser geboren werden. Das gab Gott dem Stammvater und damit zugleich dessen Nachkommenschaft dadurch zu verstehen, daß er bei der Schließung seines Bundes mit Abraham alsBundeszeichen die Beschneidung einsehte und anordnete. Sie sollte für Abraham und seine Kinder und Enkel ein Symbol sein, eine sinnbildliche Hinweisung darauf, daß die menschliche Kinder­ zeugung an und für sich zwar mit Sünde befleckt, aber durch die Bekehrung und Heiligung der Menschen gereinigt werden solle, damit endlich eine bekehrte und geheiligte Jungfrau gefunden werde, welche würdig und fähig wäre, die Mutter des durch die schöpferische Allmacht Gottes in ihrem Schoße erzeugten Welt­ heilands zu werden. Die Beschneidung war demnach ein sinn­ bildlicher Brauch, der ein Vorbild eines Brauches ist, den wir, liebe Christen, im Neuen Bunde haben. Ich meine die heilige Taufe. Wie jener Brauch des Alten Bundes die feierliche Auf­ nahme der einzelnen Glieder in die Gemeinschaft des Bundes­ volks, also in das Gottesreich unter dem Alten Bunde war, so geschieht die Aufnahme der Menschen in die Kirche Jesu Christi, also in das Gottesreich des Neuen Bundes durch die Taufe. Wir wissen aber, liebe Christen, aus Gottes Wort, daß sie nicht wie ihr alttestamentliches Vorbild ein bloßes Sinnbild, sondern eine wirksame Handlung ist, durch welche der Sünder wieder­ geboren und sittlich erneuert wird. Freuen wir uns dessen als Kinder des Neuen Bundes, daß wir dieses Bad der Wieder­ geburt und Erneuerung durch den Heil. Geist besitzen, und danken wir es unserem Heiland, daß er auch uns durch dasselbe in die Bürgerschaft des Gottesreiches ausgenommen hat! HL Nachdem wir den Zweck des Abrahamitischen Bundes darin erkannt haben, daß er zur Verwirklichung des irdischenHimmelreiches zunächst in einerFamilie

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dienen sollte, wenden wir schließlich unsere Aufmerksamkeit der geschichtlichen Ausführung dieses Bundes zu. Die Familie der Erzväter, Abrahams, Isaaks und Jakobs, stand in einer reinen Erkenntnis Gottes. Wir haben schon gesehen, daß sich Abraham fern gehalten hatte von dem Heidentum, das bereits in dem Hause seines Vaters Ein­ gang gefunden hatte (1. Mos. 31, 80ff.). Wie traulich mag es ihn doch berührt haben, als er mitten unter dem bereits in die tiefste religiöse Verfinsterung und sittliche Verirrung versunkenen Volke in Kanaan einst einem Manne begegnete, in dem er einen Glaubensgenossen entdeckte, der nicht nur ein Verehrer des wahren Gottes, sondern sogar ein Priester desselben war. ES war Melchisedek, der König der Gerechtigkeit, und er herrschte in Salem, der Friedensstadt. Bereitwillig erkannte Abraham dessen Priestertum an, indem er ihm den Zehnten entrichtete. Und noch zweitausend Jahre später belehrt uns der Verfasser des Briefes an die Hebräer und zwar auf Grund des göttlichen Schwurs im 110. Psalm, daß dieser Mann ein Vorbild unseres Heilands sei, der ebenfalls Priester- und König­ tum in seiner Person vereinigte und Priester war nach der Weise .Melchisedeks (Hebr. 7). Standen nun auch die Erzväter teils durch Bewahrung der Urreligion, teils durch die ihnen gewordene übernatürliche Offenbarung gegenüber ihrer ins Heidentum versunkenen Um­ gebung auf einer hohen Stufe der religiösen Erkenntnis, so gilt doch in Bezug auf sie das, was einmal unser Heiland von seinem Vorläufer sagte: wahrlich, ich sage euch, unter allen, die von Weibern geboren sind, ist nicht aufkommen, der größer sei, wie Johannes der Täufer; der aber der kleinste ist im Himmel­ reich, ist größer, denn er (Matth. 11,11). Wir Kinder des Neuen Bundes, so unbedeutend auch die Stelle sein mag, die wir im Reiche Gottes einnehmen, stehen an geistlicher Erkenntnis doch über einem Abraham, der ein Freund Gottes (Jak. 2, 23) und der Vater der Gläubigen heißt (Röm. 4 ,16; Gal. 3, 7). Wenn die Erzväter auch wirklich bereits die Erkenntnis hatten, daß ein persönlicher Heiland kommen sollte (1. Mos. 49, 10), so waren sie doch noch im unklaren über seine gottmenschliche Person

109 und über sein die Sündenschuld der Welt sühnendes und den Menschen die erneuernde und heiligende Gabe des Hell. Geistes erwerbendes Bersöhnungswerk, während wir im vollen Verständ­ nis der Person und des Werkes unseres Heilands stehen. Die Heilslehre, die uns in ihrer Vollständigkeit im Neuen Testamente vorliegt, war den Erzvätern nur in den ersten Grundzügen ge­ offenbart. Ihr Gottesdienst bestand in der Errichtung von Mären, in der Darbringung von Opfern, in der Anrufung und Predigt „des Namens des Herrn" (Jehovas). Das war nur eine Abschattung des wahren Gottesdienstes im Neuen Bunde von welchem unser Heiland bekennt: es kommt die Zeit und ist schon jetzt, daß die wahrhaften Anbeter werden den Vater an­ beten im Geist und in der Wahrheit, denn der Vater will haben, die also anbeten: Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten (Joh. 4, 23—24). Wie glücklich sollten wir, liebe Christen, uns preisen, daß wir in dieser Zeit des Neuen Bundes leben! Wir haben, liebe Christen, noch einen Punkt zu berühren im Leben der Erzväter, der vielen schon ernste Bedenken verur­ sacht hat. Ich meine die Sittlichkeit, die allerdings in mancher Hinsicht anstößig ist. Es erregt Anstoß, daß Abraham und nach ihm auch sein Sohn Isaak auf ihren Reisen nach Aegypten und Gerar aus Furcht ihre Frauen für ihre Schwestern ausgeben (1. Mos. 12, 10ff.; 20, 1 ff.; 26, 6ff.), es also mit der Wahrhaftigkeit nicht genau nehmen; ferner daß Isaak seinen älteren Sohn Esau bevorzugt, während die Mutter Rebekka den Isaak als ihren Lieblingssohn behandelt, beide also ihre Elternpflicht verletzen (1. Mos. 25, 28); weiter daß Jakob seinem leichtsinnigen Bruder sein Erstgeburtsrecht abschachert und ihm mit Hilfe seiner Mutter den väterlichen Erstgeburts­ segen stiehlt (1. Mos. 25, 29ff.; 27,1 ff), sowie daß er als Hirte seines Schwiegervaters Laban mit List sich bereichert (1. Mos. 30, 37 ff.); ferner daß die Söhne Jakobs in Neid und Grau­ samkeit sich an ihrem Bruder Joseph vergreifen (1. Mos. 37, 18 ff.) und andere schwere Vergehen sich lassen zu schulden kommen; endlich, daß Joseph, der edelste der Sohne Israels, sich in seiner hohen Stellung in Aegypten dazu hergiebt, die

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hungernden Aegypter all ihres Besitzes zu enteignen und zu Leibeigenen des Königs zu machen (1. Mos. 47, 15ff.). Wir wollen diese Sünden nicht verteidigen. Wir haben aber sünd­ hafte Menschen vor uns, wie wir alle sind. Dazu müssen wir berücksichtigen, in welcher Zeit und Umgebung die Erzväter lebten, und dürfen sie nicht von unserem christlichen Standpunkt aus beurteilen. Das ist insbesondere zu beachten, wenn wir er­ fahren, daß sie neben der rechtmäßigen Frau sich noch Kebsweiber zuthun. Sie hatten noch nicht die christliche Auffaffung der Ehe, die wir unserem Heiland verdanken. Dabei wollen wir doch auch nicht die edeln Züge in den Charakterbildern der drei vornehmsten Erzväter übersehen und uns freuen, daß ihrer mehr find, als der entstellenden. Wie liebevoll und uneigen­ nützig beweist sich Abraham seinem Neffen Lot und dem König von Sodom gegenüber (1. Mos. 13,5 ff.; 14,21 ff.); wie fried­ fertig und geduldig verhält sich Isaak in allen Lagen seines Lebens (1. Mos. 26,17ff.; 27, 30ff.); wie demütig sucht Jakob die Versöhnung mit seinem Bruder, nachdem er seine Versündi­ gung an ihm erkannt und bereut hatte (1. Mos. 32,4 ff.); welch edle Persönlichkeit tritt uns in I o s e p h entgegen, die sich nament­ lich in seiner Keuschheit und seiner Vater- und Bruderliebe kund giebt (1. Mos. 39, 7ff.; 45, 1 ff.) I Zwei Wahrnehmungen find es, liebe Christen, die sich uns bei der Betrachtung des religiösen und sittlichen Verhaltens der Erzväter aufdrängen. Die Heil. Schrift schildert uns dieselben sowohl in ihren Tugenden wie in ihren Fehlern. Wie zuver­ lässig und wahrheitsgetreu muß uns doch die biblische Erzählung erscheinen, die selbst bei ihren Helden, die sie als Säulen des Gottesreiches hinstellt, deren sittliche Mängel nicht verschweigt! Wahrlich, die Bibel verdient es, daß wir ihr volles Vertrauen auch in ihren geschichtlichen Mitteilungen entgegen bringen. — Die Erzväter sind sündige Menschen. Gewiß, aber sie. find es nicht mehr, als es im Durchschnitt alle Menschen sind, ja, ihre Tugenden erheben sie weit über diesen Durchschnitt. Auch wir find Sünder, und doch nimmt uns der heilige Gott zu Bürgern seines Reiches an, wenn wir die rechte religiöse Gesinnung be­ weisen. So hat er auch mit jenen gethan, weil er bei ihnen diese

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Gesinnung vorfand. Sie standen in aufrichtiger Bußfertigkeit und dem ernstlichen Streben, Gott gehorsam zu sein. Seine Bußfertigkeit bezeugt Jakob, wenn er bekennt: ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und Treue, die du an deinem Knechte gethan hast (1. Mos. 32, 11)! Den Gehorsam bezeugt Gott selbst seinem Freunde Abraham, wenn er von ihm rühmt: ich weiß, er wird befehlen seinen Kindern und seinem Hause nach ihm, daß sie des Herrn Wege hallen und thun, was recht und gut ist (1. Mos. 18, 19) l Am größesten aber stehen sie da in ihrem Heilsglauben und daraus entspringenden Gottvertrauen. Den Höhepunkt dieses Heilsglaubens erblicken wir in der Ver­ suchung, welche über Abraham auf dem Berge M o r i j a erging, als Gott die Opferung seines einzigen Sohnes von ihm ver­ langte und er nicht schwach ward im Glauben und nicht in Un­ glauben zweifelte an der Verheißung, daß die Erlösung in seiner Nachkommenschaft bereitet werden solle, sondern stark ward im Glauben, indem er die Erfüllung dieser Verheißung selbst in dem Augenblick erhoffte, da nichts zu hoffen war (Röm. 4,18—20). Und den Gipfelpunkt des Gottvertrauens erstieg Jakob in dem geheimnisvollen Gebetskampf, den er bei seiner Rückkehr in das gelobte Land mit dem Herrn Jehova kämpfte und mit dem Gebetsruf beschloß: ich lasse dich nicht, du segnest mich denn! worauf ihm die göttliche Anerkennung wurde: du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel, denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und bist obgelegen (1. Mos. 32, 25ff.; Hos. 12, 4—5)! In dieser geistlichen Seelenverfassung waren die Erzväter dessen würdig, daß sie Gott nicht allein zu Bürgern seines Reiches annahm, sondern sie auch zu Trägern seiner Offenbarung und zu Werkzeugen bei Errichtung seines Reiches auf Erden machte. So hat das Gottesreich in einer Gottesfamilie seine irdische Heimstätte in der nächsten Zeit nach der Zersplitterung der Menschheit in verschiedene Völker und während der Ausbildung des Heidentums in der Völkerwelt. Gelobt sei der Gott des Heils, der auch diesmal für die Erhaltung seines Reiches auf Erden gesorgt hat! Amen.

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11. Tert: 2. Mos. 3,13—15.

„Moses sprach zu Gott: siehe, wenn ich zu den Kindern Israel komme und spreche zu ihnen: der Gott euerer Väter hat mich zu euch gesandt! und sie mir sagen werden: wie heißt sein Name? Was soll ich ihnen sagen? Gott sprach zu Moses: ,ich werde sein, der ich sein werde'. Und sprach: also sollst du zu den Kindern Israel sagen: ,ich werde sein' hat mich zu euch gesandt. Und Gott sprach weiter zu Moses: also sollst du zu den Kindern Israel sagen: der Herr, euerer Väter Gott, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt. Das ist mein Name ewiglich; dabei soll man mein gedenken für und für." In dem Herrn, geliebte Christengemeinde! Wir stehen mit unseren Betrachtungen über die Geschichte des Reiches Gottes in der Zeit, da Gott sein Reich zunächst auf ein einzelnes Volk beschränkte, weil seine vorausgegangenen Versuche, es in der Gesamtmenschheit zu verwirklichen, an der Widerspenstigkeit der Menschen gescheitert waren. Ich habe in der vorigen Predigt nachgewiesen, daß er sich -zur Erreichung seines Zweckes zuerst eine geeignete Persönlichkeit aussuchte, den Abraham, wel­ chem er seine Offenbarungen zu teil werden ließ, mit welchem er einen Bund einging, den Vorläufer des eigentlichen Alten Bundes, und in dessen Familie er seinem Reiche eine vor­ läufige Heimstätte bereitete. Die heutige Predigt soll uns nun zeigen, wie diese Gottesfamilie zu einem Volke erwuchs, mit welchem Gott in der Folgezeit den „Alten Bund" im engeren Sinne schloß und in welchem das Reich Gottes seine irdische Aus­ gestaltung für die nächsten anderthalb Jahr­ tausende fand, bis auf die Zeit, von der Gottes Wort spricht: als die Zeit erfüllet ward, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesetz gethan» auf daß er die, so unter dem Gesetz waren, erlösete, daß wir die

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Kindschaft empfingen (Gal. 4, 4—5), also bis zu der Zeit, da das Versöhnungswerk vollbracht und damit die eigentliche Grundlegung des Reiches Gottes auf Erden bewerkstelligt wurde. Reden wir demnach jetzt, nachdem wir unmittelbar vorher den Bestand des Gottesreiches in der Gottesfamilie kennen gelernt haben, über:

Das Reich Gottes im Gottesvolk des Alten Bundes und beachten wir: 1. die Entstehung des Gottesvolkes, 2. dessen Auszug aus dem fremden Lande, und 3. die Schließung des Alten Bundes. I. Ihr kennet, liebe Christen, die auffallende Gottesfügung, welche die Gottesfamilie der Erzväter aus dem Lande, in welches sie Gott vordem eingewiesen und das er ihr für die Zukunft zur eigentlichen Heimat versprochen hatte, nach Aegypten führte. Die in viel sündiges Treiben verirrten Söhne des Erzvaters Jakob hatten den ihnen verhaßten tugendhaften Bruder Joseph als Sklaven nach Aegypten verkauft, und Joseph war in diesem Lande durch eine wunderbare göttliche Fügung zu hohen Ehren gekommen und der oberste Beamte, der Staatskanzler des Königs geworden, der im Namen des Pharao die Re­ gierung des Landes führte, und in dieser Stellung durch An­ sammlung des in sieben fruchtbaren Jahren gewachsenen Ge­ treides die Bevölkerung Aegyptens und der Nachbarländer in den sieben nachfolgenden unfruchtbaren Jahren vor Hungers-, not schützte. Die Hungersnot trieb auch die Brüder Josephs nach Aegypten, und als er sich ihnen nach vorausgegangener Prüfung zu erkennen gegeben hatte, zog er seinen alten Vater mit dessen gesamter Familie ins Land, in welchem ihnen der König die Landschaft Gosen zum Wohnplatz anwies. In Joseph haben wir, liebe Christen, in mancher Beziehung ein Vorbild unseres Heilands. Wie Joseph, so wurde auch der Herr Jesus von seinen Menschenbrüdern gehaßt und von einem derselben verkauft. Wie jener, so wurde auch dieser durch Leiden zur Erhöhung geführt, und es bewahrheitete sich an ihm das Schnabel, Predigten.

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114 Wort, das Joseph zu seinen Brüdern sprach: ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, Gott aber gedachte es gut zu machen (1. Mos. 50, 20). Wie dieser, so benutzt auch der Heiland seine Erhöhung, um seinen menschlichen Brüdern Wohlthat und Segen

zu erweisen. Es drängt sich uns die Frage auf, liebe Christen: was hatte Gott für eine Absicht dabei, daß er die von ihm erwählte Gottesfamilie aus dem versprochenen oder gelobten Lande Kanaan in ein fremdes Land leitete? Er wollte dieselbe während ihres Heranwachsens zu einem Volke vor der Vernnschung mit den heidnischen Kanaanitern bewahren. Zwar waren dieAegypter ebenfalls Heiden, aber in ihrem Lande konnte die erzväterliche Familie abgesondert wohnen. Dazu kam, daß sie als Hirten in den Augen der Aegypter verabscheut waren. Da war keine Gefahr der Vermischung mit diesen vorhanden. Doch noch andere Gründe bestimmten Gott zu dieser Führung seines werdenden Volks. In Aegypten war zur damaligen Zeit die höchste Gelehrsamkeit und Bildung zu finden, und davon sollten die Israeliten Nutzen ziehen. Auch waren sie in Gosen an einen festen Wohnplatz gebunden, und dadurch wurden sie von ihrem seitherigen unsteten Nomadenleben entwöhnt und an die Betreibung des Ackerbaues gewöhnt. Wie weise vor­ bedacht ist doch das göttliche Walten in den Geschicken der Menschen! Wohl könnte jemand denken: das hat Gott doch nicht gut gemacht, daß er sein Volk in ein Land führte, in welchem es nachgehends so unsägliches Leid zu erfahren hatte. Und doch war auch das von Gott sehr wohl versehen. Das Leid war für das Volk eine gar heilsame Kreuzesschule, in welcher es für seinen in der Zukunft zu erfüllenden Beruf in der Geschichte des Gottesreiches vorbereitet wurde. In diesem Punkte war Joseph auch ein Vorbild seines Volkes, denn von ihm sagt das Liedeswort: eh' Joseph stieg auf der Aegypter Thron, mußt' er zuvor den finstern Kerker sehen. Ja, es ist mit dem Gottesvolk wie mit jedem Gotteskinde. Es geht durchs Kreuz zur Krone. Und es gilt hier das Gotteswort: es ist gewißlich wahr, dulden wir, so werden wir mit herrschen; sterben wir mit, so werden wir mit leben (2. Tim. 2, 11—12).

115 Euch ist bekannt, liebe Christen, in welch harte Not Gott sein erwähltes Volk in Aegypten geraten ließ. Jakob war, nachdem er seine Enkel, die beiden Söhne Josephs, adoptiert und allen seinen Söhnen in prophetischer Rede ihr zukünftiges Los vorausgesagt hatte, mit dem Segensspruch über seinen Sohn Juda aus dem Leben geschieden: es wird das Szepter von Juda nicht entwendet werden, noch der Stab des Herrschers von seinen Füßen, bis der Held (Schiloh — Friedefürst) komme, und demselben werden die Völker anhangen. Achtet darauf, wie die Weissagung hier einen wichtigen Schritt vorwärts thut. Bis daher hatte sie zuerst als kommenden Weltheiland den Weibessamen, also einen Sprößling der Gesamtmenschheit be­ zeichnet. Dann hatte sie die Nachkommenschaft Abrahams als den Mutterschoß desselben kund gegeben. Jetzt verengert sie sich zu der Versicherung, daß er ein Abkömmling des einen der zwölf Jakobsöhne, des Juda, sein werde, und charakterisiert ihn als den Friedebringer. Jakob war im Alter von einhundertsiebenundvierzig Jahren gestorben. Das Lebensalter der Menschen war zur Zeit dec Erzväter schon weit herabgegangen gegen die vorsintflutliche Periode. Er starb mit den Worten: ich werde versammelt zu meinem Volk! In diesen Worten spricht er seine Jenseits­ hoffnung aus. Das ist der Ausdruck, dessen sich das Wort Gottes bedient, wenn es den Tod der Erzväter berichtet (l.Mos. 25, 8; 35, 29). Damit wird die Totenwelt bezeichnet. Welche Vorstellung die Erzväter von dieser, also von dem jenseitigen Zustand der Seelen hatten, darüber teilt das Wort Gottes nichts mit. Wir erfahren aus demselben nur ein zwiefaches. Erstlich, sie glaubten an ein Fortleben in einer jenseitigen Welt, und zweitens, sie sahen in diesem eine ruhevolle Gemeinschaft der Frommen. Wesentlich auf dieser Stufe hat sich der Jenseits­ glaube erhalten, bis der Erlöser kam und seinen Anhängern einen tieferen Einblick in die jenseitige Welt eröffnete. Preisen wir uns glücklich, liebe Christen, daß wir im Lichte seiner Offen­ barung unsere Erdenwallfahrt vollziehen dürfen. Israels Leiche wurde nach ägyptischer Sitte einbalsamiert und nach seiner Anordnung nach Kanaan gebracht und in der 8*

116 Familiengruft zu Mamre beigesetzt. Ihr fragt, welche Be­ deutung dies hatte. Es sollte damit bezeugt werden, daß der Familie Jakobs die göttliche Verheißung fest stand, nach welcher das Land Kanaan für die Zukunft ihr Eigentum sein sollte. In der ersten Zeit nach Israels und Josephs Tod ging es den Israeliten gut in der Fremde, und sie vermehrten sich stark (2. Mos. 1, 7). Dann aber kam ein anderes Königs­ geschlecht in Aegypten auf, das nichts von der Wohlthat wußte, die Joseph dem Lande erwiesen hatte, und dem das israelitische Volk für seine Herrschaft gefährlich erschien. Die diesem Königs­ geschlecht angehörigen Pharaonen hielten es für geraten, die Israeliten mit harter und unbezahlter Frohnarbeit zu drücken, und als diese Maßregel die Vermehrung des Volks nicht ver­ hinderte, befahlen sie die Tötung aller Knaben, die geboren wurden. Da ward eine ungeheuere Not und ein unbeschreib­ licher Jammer unter dem Volk. Es hatte den Anschein, als ob es in grausamer Weise ausgerottet werden sollte, und es war nahe am Verzagen und an der Verzweiflung. Aber Gott war mächtiger, als der ägyptische König. Trotz dem grausamen Druck, den dieser auf die Israeliten ausübte, wuchsen sie dennoch unter Gottes Segen während ihrer vierhundertjährigen Fremdlingschaft in Aegyp­ tenland zu dem Völklein heran, mit dem er be­ schlossen hatte, in. ein inniges Bündnis ein­ zutreten. II. Wenn die Not am größten, dann ist Gottes Hllfe am nächsten. Dies in unserer christlichen Erfahrung so oft be­ währte Wort bewahrheitete sich auch hier. Gott hatte die Kinder Israels nicht vergessen und nicht verlassen. Sie erfuhren es als Wahrheit, was das Liedeswort sagt: denk nicht in deiner Drang­ salshitze, daß du von Gott verlassen seist! und das andere: wenn ich und du ihn nicht mehr spüren, tritt er herzu, uns wohl zu führen! Als sie in ihrer Drangsal verzweifeln wollten, bereitete der treue Gott schon ihre Rettung und Befreiung vor. Und worin bestand diese? In der Ausführung des Volks aus dem Diensthause. Das war nun eine schwere Arbeit. Aber sie gelang dem Manne, den sich Gott

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zum Werkzeug für dieselbe erwählt hatte, dem Moses. In wie merkwürdiger Weise hat sich doch Gott dieses Werkzeug zu­ gerüstet l Durch eine besondere göttliche Fügung wurde er als Kind vor dem Tode bewahrt, kam in den Schutz der könig­ lichen Familie, und genoß die Erziehung und Ausbildung in aller ägyptischen Weisheit (Apg. 7, 22). Da lag denn aller­ dings für ihn die große Gefahr vor, daß er in das ägyptische Heidentum geriet und dadurch für Gottes Absicht verloren ging. Wunderbar ist seine Bewahrung vor diesem Abfall. Er blieb seinem väterlichen Glauben treu, und wollte, wie wir aus Gottes Wort vernehmen, viel lieber mit dem Volke Gottes Un­ gemach leiden, als die zeitliche Ergötzung der Sünde haben; er achtete die Schmach Christi, der aus seinem Volke hervor­ gehen sollte, für größeren Reichtum, denn die Schätze Aegyptens, weil er auf die Belohnung sah, die denjenigen sicher ist, welche sich um des Heilands willen schmähen lassen (Hebr. 11,24—26; vergl. Mtth. 5, 11). Ohne Zweifel lebte in dem jungen Moses eine klare Er­ kenntnis des Berufes für das Reich Gottes, welcher seinem Volke von Gott in dieser Welt zugewiesen war, und ein leb­ haftes Verlangen, seinem Volke die Stellung zu verschaffen, die es zur Erfüllung dieses hohen Berufes nötig hatte. Ja, dieses Verlangen trieb ihn dazu an, sich eigenmächtig zum Beschützer und Retter seiner bedrückten Brüder aufzuwerfen. Das sollte aber nach Gottes Rat nicht sein, und führte auch zu nichts weiter, als daß er als Flüchtling dem Lande den Rücken kehren und sein Volk im Stiche lassen mußte. Jetzt nahm ihn Gott erst in der Sinaitischen Wüste in eine lange Schule, in welcher er lernen mußte, daß in der Geschichte des Reiches Gottes nichts durch eigenen sündhaften menschlichen Willen und Entschluß, sondern alles nach Gottes Rat und in seiner Kraft ausgeführt werden soll. Erst nachdem er zu dieser demütigenden Erkennt­ nis hindurchgedrungen war, berief ihn Gott feierlich zum Be­ freier des Gottesvolks. Jetzt aber hieß es bei ihm: wer bin ich, daß ich zu Pharao gehe und führe die Kinder Israel aus Aegypten? (2. Mos. 3, 11). Jetzt war er in der Stimmung, welche später der große Heidenapostel ausdrückte in den Worten:

118 nicht daß wir tüchtig sind von uns selber, etwas zu denken als von uns selber, sondern daß wir tüchtig sind, ist von Gott(2. Kor. 3, 5). Seht, liebe Christen, zu dieser Erkenntnis müssen auch wir kommen, wenn wir für das Reich Gottes wirken wollen. Mit menschlichen Mitteln und Künsten ist da nichts auszu­ richten. Das erfahren vor anderen die berufenen Prediger des Evangeliums. Wir können es indes alle erfahren, wenn es uns darum zu thun ist, Seelen zum seligmachenden Glauben zu erwecken und sie zur Heiligung anzuregen. Wir sollen ja alle Menschenfischer sein, aber wir fangen in Wahrheit keinen Fisch für das Reich Gottes, den uns der Heiland nicht ins Garn treibt. Deshalb ist es thöricht und verwerflich, durch Schönrederei oder Nervenerschütterung Erweckungen und Be­ kehrungen erzielen zu wollen. Uns liegt es nur ob, das Evangelium mit Wort und Wandel zu bezeugen, die Wirkung aber unseres Zeugnisses auf die Seelen müssen wir dem Heiligen Geiste anheim stellen.

Mit seiner Berufung zu der Aufgabe, die ihm Gott zu­ gedacht hatte, tritt Moses in einen Kreis von göttlichen Wunderthaten ein, der ihn bis zu seinem Tode umgab. In wunderbarer Weise erfolgte schon seine Berufung. Gott er­ scheint ihm am Berge Horeb in einem brennenden Busche, und antwortet dem Moses auf seine Frage, unter welchem Namen er ihn den Kindern Israel verkündigen soll, nach unserem Texte: „ich werde sein, der ich sein werde! und sprach: also sollst du zu den Kindern Israel sagen: ,ich werde fein' hat mich zu euch ge­ sandt; und Gott sprach weiter zu Moses': also sollst du zu den Kindern Israel sagen: der Herr (Jehova), euerer Väter Gott, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt: das ist mein Name ewiglich, dabei soll man mein gedenken für und für!" Und alsobald rüstete Gott seinen Diener Moses mit der Gabe der Wunderthätigkeit aus, die er nachmals so ge­ waltig übte, daß Gottes Wort von ihm bezeugt: er that Wunder

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und Zeichen in Aegypten, im roten Meer und in der Wüste vierzig Jahre (Apg. 7, 36). Zweierlei laßt uns hier berücksichtigen, liebe Christen: die Offenbarung Gottes als Jehova und die Wunderthätigkeit des Moses. Wie wir aus unserem Texte ersehen, so giebt sich Gott bei seiner Offenbarung an Moses den Namen „Jehova". Dieser Name ist in unserer deutschen Bibelübersetzung wiedergegeben mit „der Herr". Gott giebt auch eine Erklärung dieses Namens. Darnach bedeutet derselbe den Gott, der in seinem Gnadenratschluß und in seinen Gnadenverheißungen unver­ änderlich ist. Der Name „Jehova" ist eigentlich gar nicht in eine andere Sprache zu übersetzen. Die zutreffendste Deutung giebt Gott seinem Namen im Neuen Testament, wenn er spricht: Ich bin das A und das O, der da ist, der da war und der da kommt! (Offb. 1, 8). Unter diesem Namen hatte sich Gott vorher noch nicht geoffenbart (2. Mos. 6, 2—3). Deshalb ist derselbe dem Moses neu. Es ist fortan die Bezeich­ nung für Gott, sofern er sich den Menschen offenbart und zu erkennen giebt, sofern er mit ihnen in persönliche Beziehung tritt und in eine Geschichte mit ihnen eingeht. Wir wissen aber aus dem Neuen Testament, daß der dreieinige Gott durch seinen eingeborenen Sohn nach außen hervortritt. Von diesem be­ zeugt deshalb das Wort Gottes: niemand hat Gott je gesehen; der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat es uns verkündigt (Joh. 1, 18). Darum haben wir in dem Je­ hova des Alten Bundes den Sohn Gottes zu erkennen, den Jesus Christus des Neuen Testaments. So sieht es der Apostel an, wenn er erklärt, daß die Israeliten in der Wüste getrunken hätten von dem geistlichen Fels, der mitfolgte, Christus, und daß sie daselbst Christum versucht hätten (1. Kor. 10, 4. 9). Sagt selbst, liebe Christen, müssen wir es unter diesen Um­ ständen nicht geradezu als eine besondere göttliche Fügung an­ sehen, daß das Wort „Jehova" im Alten Testament mit dem­ selben Namen „der Herr" in unserer deutschen Bibel wieder­ gegeben ist, mit der im Neuen Testament unser Heiland ge­ nannt wird? Ja, er ist derjenige, durch welchen der unsicht-

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bare verborgene Gott im Alten und Neuen Bunde sich offenbart. Im Alten Bunde tritt der Sohn Gottes bei seinen Offen­ barungen unter verschiedenen Verhüllungen auf, bald in der Wolkensäule, bald als „der Engel Jehovas". Daß er als dieser Engel dem Moses bei dessen Berufung erschien, wissen wir aus Gottes Wort, das uns belehrt: über vierzig Jahre erschien ihm in der Wüste an dem Berge Sinai der Engel des Herrn in einer Feuerflamme im Busch (Apg. 7, 30). Derselbe Herr Jehova, der im Alten Bunde sich dieses Engels bei seinen Offen­ barungen bediente, der tritt im Neuen Bunde als der Mensch gewordene Gottessohn, als der Christus Jesus unter den Men­ schen auf. Wir wissen also beides: erstlich, wen wir in dem Herrn Jehova im Alten Bunde vor uns haben, nämlich unseren hochgelobten Heiland; und zweitens, wer unser Heiland ist, näm­ lich der Herr Jehova des Alten Bundes. So ist Altes und Neues Testament für uns in die rechte Harmonie gebracht, als das Zeugnis von dem, welcher der einzige Mittler ist zwischen Gott und den Menschen (1. Tim. 2, 5). Der Herr Jehova macht den Moses, den er auch zu einem Mittler, nämlich zu dem vorbildlichen Mittler des Alten Bundes erwählt hatte (5. Mos. 5, 5; 2. Mos. 32, 30) zu einem Wunderthäter. Als solcher hat er sich in der Folge mächtig erwiesen, denn unter gewaltigen Zeichen und Wundern geschah der Auszug der Kinder Israel aus Aegypten. In der Geschichte des Reiches Gottes sind Wunder eine häufige Erscheinung. Sie begegnen uns im Leben des Moses und der nachfolgenden Pro­ pheten des Alten Bundes. In besonderer Fülle aber treten sie uns entgegen in dem Leben unseres Heilands. Und in der Ge­ meinde seiner Jünger, in der ersten Christenheit gewinnen sie sogar eine bleibende Stätte. Was sind aber Wunder? Es sind Wirkungen und Vorgänge, welche nicht durch die Kräfte der Erdennatur zu stände kommen, sondern durch das Eingreifen des allmächtigen Gottes in den Gang der Dinge. Wie geschieht aber dieses göttliche Eingreifen in den Naturlauf? Es erfolgt auf zweifachem Wege. Teils geschieht es durch Verstärkung der Naturkräfte, teils durch neuschöpferisches Wirken Gottes. Was wir an Wundern, welche Moses mit seinem Stabe verrichtete.

121 vor uns haben, ist wohl meist auf eine übernatürliche Ver­ stärkung der Naturkräfte zurückzuführen. So sind die Plagen, welche Moses über Aegypten verhängte, als der Pharao das Volk nicht ausziehen lassen wollte, und durch welche der Aus­ zug endlich erzwungen wurde, ohne Zweifel meist öfters auf­ tretende Landplagen in Aegypten. Wunderbar ist daran nur die Verstärkung und Zusammenhäufung derselben. Hier drängt sich uns die Frage auf: warum bediente sich Gott dieser den Aegyptern wohlbekannten, aber jetzt von ihm wunderbar vergrößerten Landplagen? Er wollte damit den heidnischen Aegyptern vor Augen stellen, daß er nicht ein israe­ litischer Volksgott sei, wie die einzelnen heidnischen Völker ihre Nationalgötter hatten, sondern daß er der einzige wahre Gott sei, der über die ganze Natur allmächtig verfügt. Und noch eine Absicht hatte er dabei: er ließ durch diese Ereignisse, welche natürlich und übernatürlich zugleich waren, den Aegyptern die Wahl, ob sie durch dieselben sich zum Glauben an ihn wollten erwecken, oder im Unglauben und Ungehorsam verstocken lassen. Er hat die Menschen zu freien Wesen erschaffen, und so läßt er ihnen ihre Willensfreiheit auch bei der Entscheidung für oder wider ihn. Wir kennen die Entscheidung, welche die Aegypter und insbesondere ihr König traf. Er verstockte sich. Deshalb erscheint er inGottesWort als abschreckendes Beispiel der Selbstverstockung. Aber heißt es nicht von ihm: der Herr sprach zu Moses: ich will Pharaos Herz verstocken und verhärten? (2. Mos. 4, 21). Und sagt nicht auch das Neue Testament unter Beziehung auf diesen Pharao: so erbarmt er sich nun, welches er will, und verstockt, welchen er will? (Röm. 9, 18). Wie stimmt das mit anderen Aussprüchen desselben Gotteswortes, welche behaupten: Gott will, daß allen Menschen geholfen werde und daß alle zur Er­ kenntnis der Wahrheit kommen (1. Tim. 2, 4), und: Gott will nicht, daß jemand verloren werde, sondern daß sich jedermann zur Buße kehre? (2. Petr. 3, 9). Das Wort Gottes will aus sich selbst erklärt sein, und die Lösung des Rätsels liegt darin, daß der Mensch durch sein widerspenstiges Verhalten der Gnade Gottes und der Heilswirksamkeit des Heiligen Geistes gegen­ über seine Verstockung herbeiführt, welche dann als das schwerste

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Gottesgericht über ihn kommt. O, laßt uns zu Herzen nehmen die ernste Warnung und Mahnung des göttlichen Wortes: verstocket eure Herzen nicht! (Hebr. 3, 8) und, liebe Christen, er­ mahnet euch selbst, . . , daß nicht jemand unter euch verstockt werde durch Betrug der Sünde! (Hebr. 3, 13). Gott hat seine hauptsächliche Absicht, welche er bei den Gerichtswundern in Aegypten verfolgte, erreicht, und seinen Plan durchgeführt. Moses führte die während ihres vierhundert­ jährigen Aufenthalts in Aegypten zu einem Volke von sechs­ hunderttausend Männern, also wohl zwei bis drei Millionen Seelen herangewachsene Nachkommenschaft der Erzväter aus dem Diensthause aus zur Bundesschließung mit dem Herrn Jehova am Sinaiberge. ZU. Eine Bundesschließung beabsichtigte GottmitdemVolkeJsrael. Daher tritt Moses mit seinem Bruder Aaron vor den Pharao mit der Forderung: laß mein Volk ziehen, daß es mir ein Fest halte in der Wüste! (2. Mos. 5, 1). Gott macht damit, daß er nicht sofort die gänzliche Entlassung des Volks verlangt, dem König den Ge­ horsam leichter. Als er aber auch diese kleine Forderung ver­ weigert, zwingt ihn Gott zur schließlichen Bewilligung derselben. Und als er mit der Verfolgung der Israeliten sich auf den Kriegsfuß mit diesen stellt, da entscheidet der Kriegserfolg, der ihm den Untergang im roten Meere und den Kindern Israel volle Befreiung cinbringt. Die letzte und schrecklichste Plage, welche Gott anwandte, um die Aegypter und ihren Pharao zum Gehorsam gegen seine Forderung zu bewegen, war das Sterben der Erstgeburt. Merkwürdig war dabei die Bewahrung der Israeliten. Sie war verknüpft mit der Einsetzung und Anordnung des P a s s a h opfers, und dieses selbst war das erste der beiden Opfer, durch welche die Bundesschließung des Herrn Jehova mit dem Volk Israel geschah. Auf Gottes Befehl mußte in der Schreckens- und Sterbensnacht jeder israelitische Hausvater ein fehlloses Lamm schlachten und mit dessen Blut seine Thürpfosten bestreichen, damit der Würgengel vorüber gehe. Dann sollten sie in voller Reisebereitschaft die Opfermahlzeit mit dem Fleische

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des Lammes und mit ungesäuertem Brot halten. Während das geschah, erfolgte das Sterben der Erstgeburt, infolgedessen der König mit seinem Volke in Heller Verzweiflung die Israeliten zum Auszug drängten, und diese auszogen mit dem goldenen und silbernen Geschmeide und den Feierkleidern, die sie von den Aegyptern zu ihrem Mahle begehrt und empfangen hatten und nun als Beute und Entschädigung für die von ihnen ge­ leisteten Frohndienste davon brachten (2. Mos. 12, 35—36). Fragen wir, liebe Christen: was bedeutet das Pass ah opfer? Es ist ein Sühnopfer, durch welches die Sühnung der Sündenschuld der Opfernden und deren Entsündigung oder Begnadigung von feiten Gottes verursacht wird. Und warum werden die Pfosten der Hausthüren mit dem Blute des Opfertieres bestrichen? Damit wird diese Entsündigung und Begnadigung den Hausbewohnern zugeeignet. Auf die Opferung folgte dann die Opfermahlzeit. Das geopferte Tier gehörte Gott an. Indem er es nun den Opfernden zur Mahlzeit giebt, macht er sie zu Gästen an seiner Tafel und so bildet diese Mahlzeit die Gottesgemeinschaft ab, in welche die Speisenden eingetreten sind. Daß aber bei diesem Mahl nur ungesäuertes Brot genossen werden durfte, diese Anordnung verpflichtet die Gäste Gottes zur Ablegung aller Untugend, denn der Sauer­ teig ist in Gottes Wort ein Bild der sittlichen Unreinheit. Zum Gedächtnis ihrer wunderbaren Errettung, welche die Kinder Israel infolge des Passahopfers erfuhren, wurde die jähr­ liche Feier des Passahfestes mit dem immer wieder­ holten Passahopfer von Gott angeordnet. Diese Feier hatte aber eine hohe prophetische Bedeutung. Es sollte durch dieselbe auf eine noch ganz andere Errettung hingewiesen werden, welche dem Bundesvolk, ja der gesamten Menschheit in der Zukunft bevorstand. Das Passahopfer schattet das Opfer ab, welches der Heiland als das urbildliche Passahlamm am Kreuze voll­ bracht hat (1. Kor. 5, 7), und das Passahmahl ist ein Vorbild der Opfermahlzcit, welche bei der Feier des zweiten Sakraments im Neuen Bunde stattfindet. Bei dieser Opfermahlzeit sind wir, liebe Christen, Gäste unseres durch das Sühnopfer seines Sohnes versöhnten himmlischen Vaters, in welcher er uns speist

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und tränkt mit dem Leib und Blut des Gotteslammes, das der Welt Sünde getragen und abgebüßt hat. Wir treten durch dieses Mahl in die innigste Gemeinschaft mit unserem Heiland und dadurch mit dem dreieinigen Gott, und wir haben in dieser Gemeinschaft den Vorschmack der ewigen Gottesgemeinschaft im vollendeten Himmelreiche. O, wie glücklich sollten wir uns preisen als Gäste an der Gnadentafel Jesu Christi! Das Volk Israel gelangt nach seinem Auszug aus dem Lande seiner Knechtschaft unter der Anführung des Moses oder eigentlich des Herrn Jehova selbst, der unter der Hülle der Wolken- und Feuersäule seinem Volke voranzieht, durch das rote Meer hindurch in die Wüste, an das Sinaigebirge. Da sollte es zum Gottesvolk durch ein zweites feierliches Bundesopfer geweiht werden. Das geschah denn auch. Moses errichtete einen Altar mit zwölf Säulen gemäß den zwölf Stämmen des Volks. Darauf ließ er von Jünglingen Brandopfer darbringen. Nachdem er so­ dann dem versammelten Volke das Bundesbuch, in welches er alle ihm bis dahin von Gott gegebenen Gebote geschrieben, vorgelesen und das Volk versprochen hatte: Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir thun! — sprengte er die eine Hälfte des Opferblutes auf den Altar und die andere Hälfte auf das Volk, indem er sprach: sehet, das ist Blut des Bundes, den der Herr mit euch macht über allen diesen Worten! (2. Mos. 24, 4—8). So war der Heils- und Reichsplan Gottes so weit gediehen, daß Gott nun ein besonderes Volk hatte, in welchem er die der Gesamtmenschheit zugedachte Erlösung bereiten konnte und in welchem sein Reich eine vorläufig beschränkte Heimstätte fand, bis auf die Zeit, da es zu allen Völkern dringen sollte. Von diesem Volke ist das Heil auch uns zugekommen, liebe Christen, und durch seine Vermittlung sind auch wir zur Bürgerschaft im Reiche Gottes gelangt. Lob, Preis und Dank sei unserem Gott dafür! Amen.

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12. Tert: 2. Mos. 20,1—17. „Gott redete alle diese Worte: ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Aegyptenland, aus dem Diensthause geführt habe; du sollst keine anderen Götter neben mir haben; du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden oder des, das im Wasser unter der Erde ist: bete sie nicht an und diene ihnen nicht, denn ich der Herr, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missethat an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied, die mich hassen, und thue Barm­ herzigkeit an vielen Tausenden, die mich lieb haben und meine Gebote halten. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen, denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht. Gedenke des Sabbath­ tages, daß du ihn heiligest; sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Dinge beschicken, aber am siebenten Tage ist der Sab­ bath des Herrn, deines Gottes, da sollst du kein Werk thun, noch dein Sohn, noch deine Tochter, noch dein Knecht, noch deine Magd, noch dein Vieh, noch dein Fremdling, der in deinen Thoren ist, denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhete am siebenten Tage; darum segnete der Herr den Sabbathtag und heiligte ihn. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß du lange lebest im Lande, das dir der Herr, dein Gott, giebt. Du sollst nicht töten. Du sollst nicht ehe­ brechen. Du sollst nicht stehlen. Du sollst kein falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Laß dich nicht gelüsten deines Nächsten Hauses, Weibes, noch seines Knechts, noch seiner Magd, noch seines Ochsen, noch seines Esels, noch alles, das dein Nächster hat." In dem Herrn, geliebte Christengemeinde! Der Alte Bund im eigentlichen oder engeren Sinne war nun geschlossen. Es war ein Bündnis, das der Herr Jehova mit dem von ihm hierzu aus der Gesamtmenschheit erwählten und ausgeson-

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betten Volke Israel einging. Die Schließung dieses Bundes war geschehen durch den Mittler Moses, und zwar durch eine zweifache Opferhandlung. Das hat uns die vorige Predigt vor Augen geführt. Sie hat uns damit gezeigt, daß aus dem israelitischen Volke durch diese Bundesschließung ein Gottesvolk geworden war, von dem Gott selbst angiebt, was es nach seinem Willen sein sollte, in den erhabenen Worten: werdet ihr meiner Stimme gehorchen, und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern, denn die ganze Erde ist mein; und ihr sollt mir ein priesterlich Königreich und ein heiliges Volk sein (2. Mos. 19, 5—6). Somit nahm das Volk Israel in der Zeit des Alten Bundes dieselbe Stelle im Reiche Gottes ein, in welche im Neuen Bunde die Christen­ heit als das geistliche Israel eingetreten ist, denn auf sie wendet der Apostel jenen Ausspruch 'Gottes über das leibliche Israel an, indem er die Christen anredet: ihr seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum, das heilige Volk, das Volk des Eigentums (1. Petr. 2, 9). Nun wissen wir und sehen es durch die Weltgeschichte bestätigt, daß jedes Volk, das in geordneten Verhältnissen leben und den ihm von Gott in der Welt angewiesenen Beruf erfüllen will, einen Staat bilden muß. Das Gottesvolk aber sollte nach Gottes Willen einen Gottesstaat bilden, und in diesem Gottes st aate sollte das Reich Gottes für die Zeitdauer des Alten Bundes sichtbare Gestalt gewinnen. Zu einem Staate gehören feste Anordnungen und Einrichtungen, welche durch Gesetze gestiftet und eingeführt werden. Diese Gesetze bilden die Grundlage des Staates, die Staatsverfassung, und wenn sie niedergeschrieben sind, so ist diese Niederschrift die Verfassungsurkunde des Staates. Bei allen übrigen Völkern, welche es zu einem Staatswesen bringen, ist die Staats­ verfassung ein Werk von Menschen. Diese haben sich selbst ihre Staatsverfassung gemacht und können sie deshalb auch, selbst­ verständlich auf gesetzlichem Wege, abändern. Anders ist es im Gottesstaate. Dem ist seine Verfassung von Gott gegeben, und zwar gegeben in dem Gesetz, welches Gott am Sinai durch übernatürliche Offenbarung seinem Bundesvolk mitteilte.

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Erst durch dieses Gottesgesetz wurde im Gottesvolk des Alten Bundes der Gottesstaat aufgerichtet. Es ist nun die Aufgabe der folgenden Pre­ digten, das Wesen und den Zweck dieses Gottesstaates darzu­ legen. Zu dem Ende müssen wir die einzelnen wichtigsten Teile des göttlichen Gesetzes nach einander betrachten. Heute wollen wir den vornehmlichsten und wichtigsten Teil des Gesetzes be­ handeln, indem wir besprechen:

Das Reich Gottes tm Gottesstaat des Alten Bundes, insbesondere: Die Verfassung des GotteSstaateS, und zwar zunächst: Das Sittengesetz. Wir beachten zu dem Ende:

1. den Inhalt des Sittengesetzes, und 2. den Zweck desselben.

I. Ihr habt gesehen, was ich den Aegyptern gethan und wie ich euch auf Adlersflügeln getragen habe und habe euch zu mir gebracht! So hatte Gott zu seinem Bundesvolk durch den Mund seines Dieners Moses gesprochen. Mit erhobenem Arm hatte er die Israeliten aus der ägyptischen Knechtschaft heraus, durchs rote Meer hindurch bis an die Stätte gebracht, wo er ihnen seine Offenbarung wollte zu teil werden lassen, an das Sinaigebirge. Auf den Mosesberg ließ sich der Herr Jehova hernieder, verhüllt in der Wolkensäule, in welcher er seinem Volke bis hierher vorangegangen war, und unter Donner und Blitz, Feuer und Rauch und durchdringendem Posaunenton erfolgte von dort aus die Verkündigung des wich­ tigsten Teils seines Gesetzes, der zehn Gebote, welche er selbst vom Berge herab dem an dessen umzäunten Fuße in fest­ licher Bereitschaft versammelten Volk zurief. So erzählt uns die Heil. Schrift Alten Testaments, und das Neue Testament fügt dem hinzu, indem es die Christen anredet: ihr seid nicht gekommen zu dem Berge, der . . mit Feuer brannte, noch zu dem Dunkel, Finsternis und Ungewitter, noch zu dem Hall der Posaune und zur Stimme der Worte, welcher sich weigerten, die sie hörten, daß ihnen das Wort ja nicht gesagt würde, denn sie mochten es nicht ertragen, was da gesagt ward, . . . und

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also erschrecklich war das Gesicht, daß Moses sprach: ich bin er­ schrocken und zittere (Hebr. 12, 18—21). In der That, so er­ schrecklich war des Gesetzes Offenbarung auf dem Sinai, daß das Volk, von Schrecken und Furcht ergriffen, zurückwich und den Mittler Moses anrief: rede du mit uns, wir wollen ge­ horchen, und laß Gott nicht mit uns reden, wir mochten sonst sterben (2. Mos. 20, 18—19). Warum diese Schrecken erregende Offenbarung? so fragt ihr, liebe Christen. Man hat derselben schon oft die Berg­ predigt unseres Heilands mit ihren Seligpreisungen gegenüber gestellt, und mit Recht. Hier ist die Predigt des Evangeliums, dort die Verkündigung des Gesetzes. Damit ist der Charakter beider Teile der göttlichen Offenbarung, des Gesetzes und des Evangeliums, äußerlich abgebildet. Das Gesetz ist für den sündigen Menschen ein Schrecken, während das Evangelium ihm eine Friedens- und Freudenbotschaft ist. Drum stellt auch das Wort Gottes den Israeliten die Christen gegenüber als diejenigen, welche nicht zum Gesetzesbund berufen sind, und ruft ihnen zu: ihr seid gekommen zu dem Berge Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, zu dem himmlischen Jerusalem, und zu der Menge vieler tausend Engel, und zu der Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel angeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und zu den Geistern der voll­ kommenen Gerechten, und zu dem Mittler des Neuen Bundes, Jesu, und zu dem Blute der Besprengung, das da besser redet, denn Abels (Hebr. 12, 22—24). Freuen wir uns, liebe Christen, daß wir uns zu denjenigen zählen dürfen, an welche die Berufung des Evangeliums gekommen ist, und preisen wir den dafür, dem wir diese Gnaden- und Heilsberufung ver­ danken. Ja, das Gesetz ist seinem ganzen Umfang nach eine schwere Last, welche dem sündigen Menschen aufgebürdet wird, und ganz besonders ist das der Fall bei dem Zehngebot. Wir teilen das dem Volke Israel als die Verfassung des Gottes­ staates mitgeteilte Gesetz in drei Teile. Das Sittengesetz schreibt vor allem in den zehn Geboten den Kindern Israel ihr sittliches Verhalten vor. Das Zeremonialgesetz

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regelt den Gottesdienst und dessen Einrichtungen, Uebungen und Gebräuche. Das bürgerliche Gesetz bestimmt die Ordnungen, welche dem Bundesvolk für sein staatliches und ge­ sellschaftliches Leben vorgeschrieben sind. So umfaßt das ge­ offenbarte Gesetz das ganze Leben der Bürger des Gottesstaates, des Reiches Gottes im Alten Bunde. Für heute wollen wir uns an den ohne Zweifel wichtigsten Teil des Gesetzes halten, an das Sittengesetz, das der Herr Jehova seinem Volke von Sinai herab zurief und hernach in zwei steinerne Tafeln einschrieb. Merket, liebe Christen, wie gleich der Eingang zum Zehngebot es feststellt, daß Gott in seinem Bundesvolk einen Gottesstaat aufrichten will, in welchem das Gottesreich unter dem Alten Bund äußere) sichtbare, greif­ bare Gestalt gewinnen soll. Von welcher Art soll dieser Gottes­ staat sein? Unumschränkter König in demselben ist Gott, und die Israeliten sind seine ihm zu unbedingtem Dienst und Ge­ horsam verpflichteten Unterthanen. Wir würden jedoch sehr irren, wenn wir annehmen.wollten, das Sittengesetz sei bloß für die Bürger des Gottesreiches im Alten Bund bestimmt. Das, was diese zehn Gebote fordern, stimmt es nicht mit dem überein, was dem Menschen sein Ge­ wissen vorschreibt? Daraus schließen wir zweierlei: erstlich, daß die Forderungen dieses Gesetzes allen Menschen gelten, so gewiß als ihnen allen der Schöpfer das Gewissen anerschaffen hat, und zweitens, daß es nicht wie die übrigen Gebote bloß für die Zeit des Alten Bundes gegeben ist, sondern für alle Zeiten. Das Zehngebot hat allgemeine und ewige Gül­ tigkeit. Wir sind Kinder des Neuen Bundes, aber auch uns gelten die zehn Gebote. Wenn wir noch daran zweifeln wollten, so muß es uns zur Gewißheit werden, wenn wir vernehmen, daß unser Heiland von diesen sprach: ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, das Gesetz und die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen, denn ich sage euch wahrlich: bis daß Himmel und Erde zergehen, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe noch ein Titel vom Gesetz, bis daß es Alles geschehe (Mtth. 5, 17—18). Nicht die Gebote für das gottesdienstliche und bürgerliche Leben des Schnabel, Predigten.

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130 Volkes Israel kann er im Sinne haben, wenn er so spricht, denn erstlich sollten die nur Geltung haben für die Dauer des Alten Bundes und haben auch mit diesem ihre Endschast er­ reicht, und zweitens sind es die zehn Gebote, welchen er in seiner Bergpredigt die rechte Auslegung giebt. Wollt ihr dieselben recht verstehen, dann müßt ihr euch von ihm über ihren wahren Sinn belehren lassen. Er hat uns den unter dem buchstäblichen verborgenen geistlichen Sinn der Gebote aufgeschlossen. Und damit hat er uns aufs deutlichste zu verstehen gegeben, daß dieselben für alle Menschen und Zeiten gelten sollen, und damit auch für die Bürger des Reiches Gottes im Neuen Bunde. Von ihm wollen wir uns in das volle Verständnis des Sitten­ gesetzes einführ^n lassen. Das Sittengesetz zerfällt in zwei Teile. In den drei ersten Geboten sind den Unterthanen im Gottesreich die Pflichten vor­ gestellt, welche sie ihrem Gott-König gegenüber zu erfüllen haben. Und die sieben anderen Gebote schreiben ihnen ihre Pflichte» vor gegen ihre Mitbürger im Reiche Gottes, wie gegen ihre Mitmenschen überhaupt. Wenn aber das Zweitafel­ gesetz mit dem ungeschriebenen Gesetz im Gewissen überein­ stimmt, das fragt ihr mich, liebe Christen, warum hat es Gott denn nochmals besonders geoffenbart? Deshalb weil durch die Sünde, in welche die Menschen versunken sind, das Gewissen aufs schwerste geschädigt, unsicher und unzuverlässig geworden ist. Danken wir es Gott, daß er sein Gesetz den Menschen nochmals klar und bestimmt vor Augen gestellt hat, damit sie seinen Willen genau erkennen und verstehen.

Laßt uns nun besonders das erste und das letzte der Gebote ins Auge fassen! Das erste Gebot lautet: „dusollst keine anderen Götter neben mir haben!" Es verbietet sowohl den groben heidnischen Götzendienst, als auch die feine Ab­ götterei, die Erhebung der geschaffenen Dinge über Gott; und es gebietet, daß wir Gott über alle Dinge fürchten, lieben und ver­ trauen sollen. Das ist das Hauptgebot, das den Menschen ihre Grün dp flicht vorhält, welche unser Heiland dem Schrift­ gelehrten gegenüber auf dessen Frage: welches ist das vor-

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nehmste Gebot im Gesetz? nach 5. Mos. 6, 5 in die Mahnung faßte: du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte! und welche sein Apostel uns vorhält in der Aufforderung: lasset uns ihn lieben, denn er hat uns zuerst geliebet! (1. Joh. 4, 19). Ja, das Wort Gottes hat Recht, wenn es sagt: die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung (Röm. 13, 10). Die Liebe zu Gott ist die Wurzel und Quelle aller menschlichen Tugenden und guten Werke und giebt diesen erst den rechten Adel und Wert. Aber nicht von Natur wohnt sie im sündigen, selbstsüchtigen Menschenherzen. Sie erwacht erst in dem Herzen, das die Liebe Gottes in Christo Jesu im Glauben erkannt hat und dadurch wiedergeboren ist. In solche Herzen wird sie durch den Heil. Geist, der die Bekehrung und Er­ neuerung in uns vollbringt, ausgegossen (Röm. 5, 5). O, daß sie auch in unsere Herzen ausgegossen würde, damit wir mit Erfolg an die Erfüllung des ersten Gebotes gehen und in Wahr­ heit sprechen könnten: ich will dich lieben, meine Stärke; ich will dich lieben, meine Zier; ich will dich lieben mit dem Werke und immerwährender Begier; ich will dich lieben, schönstes Licht, bis mir das Herze bricht! Aber müssen wir nicht noch klagen: dies Eine nur bekümmert mich, daß ich nicht g'nug kann lieben dich, nicht lieben, wie ich sollte; ich fühl's von Tag zu Tage mehr, daß ich doch lange nicht so sehr dich liebe, als ich wollte? Wie das erste der zehn Gebote den Quell aller rechten Gesetzeserfüllung aufzeigt, so deckt das letzte derselben den Aus­ gangspunkt aller Gesetzesübertretung auf. Jener ist die Liebe und dieser ist die böse Lust, von welcher unser Heiland sagt, daß aus ihr hervorgehen die argen Gedanken: Mord, Ehebruch, Hurerei, Unzucht, Dieberei, falsch Zeugnis, Lästerung, Geiz, Hoffart, List und Schalkheit (Mtth. 15, 19; Mk. 21, 22), und von welcher sein Jünger bezeugt: ein jeder wird versucht, wenn er von seiner eigenen Lust gereizt und gelockt wird, darnach wenn die Lust empfangen hat, gebieret sie die Sünde (Jak. 1,14—15). Das letzte Gebot lautet: „laß dich nicht gelüsten (bit foIIft nicht begehren) deines Nächsten Hauses, 9*

132 Weibes, noch seines Knechts, noch seiner Magd, nochseinesOchsen,nochseinesEsels,nochalles dessen, was dein Nächster hat" (2. Mos. 20, 17). Was lernen wir aus diesem Schluß des Zehngebots? Vor allem dies, daß das innere Gelüste nach dem, was das Gesetz ver­ bietet, in Gottes Augen bereits Sünde ist. Sonst wäre es ja nicht im Gesetz untersagt. Laßt euch darum nicht irre machen von denen, welche euch einreden wollen, nur die Ausübung dessen, worauf die böse Lust gerichtet ist, sei Sünde, nicht aber das verkehrte Gelüste selbst. Wisset vielmehr, daß auch dieses allein uns schon befleckt vor Gott und uns zu verdammungs­ würdigen Sündern stempelt. Noch weniger laßt euch von denen bethören, welche euch ausreden möchten, daß böse Lust im Innern des Menschen wohne, welche euch überreden möchten, euch von Natur für rein und unschuldig und die im späteren Leben hervortretenden sittlichen Mängel für übele Angewohn­ heiten zu halten. Achtet vielmehr darauf, daß die zehn Gebote fast sämtlich Verbote sind. Damit ist ja erwiesen, daß alle Menschen mit der Erbsünde behaftet sind. — Sodann, liebe Christen, lernet aus dem Schluß des Zweitafelgesetzes, daß ihr die böse Lust bekämpfet. Ihr könnt sie allerdings nicht völlig vermeiden, denn sie steigt in unserem Innern auch ohne unseren Willen auf. Aber achtet auf das, was Luther sagt: wir können zwar den Vögeln nicht wehren, daß sie über unsere Häupter dahinfliegen, aber das können wir verhindern, daß sie sich in unseren Haaren einnisten. Versteht ihr den Sinn dieses Gleich­ nisses? Das Aufsteigen der schlimmen Neigungen im Herzen können wir sündhaften Menschen wohl nicht verhindern, aber wir können ihnen wehren, daß sie sich in unserem Innern fest­ setzen und zu Leidenschaften werden, die uns zu sündigen Worten und Thaten drängen. Wir können und müssen sie unterdrücken und ausrotten. Wird uns das gelingen? Die Erfahrung lehrt uns, daß der Ankampf gegen die gottwidrige Lust in uns so lange aussichtslos ist, bis wir durch die Bekehrung in die heiligende Gemeinschaft unseres Heilands gelangt sind. Aus dieser erst schöpfst du, lieber Christ, die Kraft zum Sieg im Kampfe mit dir selbst, zur Kreuzigung deines Fleisches mit seinen

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Lüsten und Begierden, zur fortschreitenden Reinigung und Heiligung. n. Zwischen diesem Anfang und Schluß des Zehngebots stehen die übrigen, euch allen, liebe Christen, wohlbekannten Gebote, in welche Gott sein Sittengesetz gefaßt hat. Wir haben nun nach dem Zweck und der Bedeutung dieses Sitten­ gesetzes zu fragen. Aber, so werdet ihr vielleicht einwerfen, was ist da viel zu fragen? Der Zweck jedes Gesetzes ist, so werdet ihr sagen, und also auch der Zweck dieses Sittengesetzes besteht darin, daß es von denjenigen, welchen es gegeben wird, gehalten werde. Gewiß, ihr habt Recht. Gott fordert von ben ® liebern seines Bundesvolkes, daß sie seine Gebote erfüllen sollen. Aber können sie das auch? Ich habe im ersten Teil der Predigt gezeigt, welch hohe Anforderungen das Gesetz an die Menschen stellt. Gott ge­ bietet: ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott (3. Mos. 19, 2), und unser Heiland mahnt: darum sollt ihr vollkommen sein, wie auch euer Vater vollkommen ist (Mtth. 5, 48). Der Anfang dieses Gesetzes fordert eine Liebe zu Gott, welche nicht nur die Beobachtung des buchstäblichen, sondern auch des geistlichen Sinnes der Gebote leistet. Und auf der anderen Seite haben wir aus dem Schluß des Gesetzes erkannt, daß wir in unserem Inneren die Quelle aller Gesetzesüber­ tretungen tragen, die Lust und Neigung zum Bösen. Wenn wir das Beides bedenken, die Größe der Forderung auf der einen Seite und die Schwäche der menschlichen Natur auf der anderen Seite, dann kann uns wohl angst und bange werden bei dem Gedanken daran, daß den Menschen ein solches Gesetz aufgelegt ist. Sind sie im stände es zu erfüllen? Es winkt ja freilich der Erfüllung ein hoher Lohn. Dem Gesetz ist eine herrliche Verheißung beigefügt, die Verheißung: ich bin der Herr, euer Gott, . . . darum sollt ihr meine Satzungen halten und meine Rechte, denn welcher Mensch die­ selben thut, der wird dadurch leben, denn ich bin der Herr (3. Mos. 18, 2. 5). Und haben wir nicht eine Bestätigung dieser Verheißung darin, daß der Heiland den, der ihn fragte, was er thun müsse, um das ewige Leben zu ererben, auf das

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Halten der Gebote verwies mit den Worten: du weißt die Gebote wohl: du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis reden; du sollst niemand täuschen; ehre deinen Vater und Mutter! (Mk. 10, 17 ff.) — ja, daß er einem Schriftgelehrten, der ihm dieselbe Frage vorlegte, und ihm als die Hauptforderung des Gesetzes die Liebe angab, geradezu die Mahnung erteilte: thue das, so wirst du leben!? (Luk. 10, 25ff.). Wahrlich, an­ gesichts solcher Lohnverheißung fällt die Frage mit zwiefachem Gewicht auf unser Gemüt: können die Menschen das Gesetz Gottes auch halten? Dazu kommt noch ein Anderes. Das Gesetz enthält nicht nur eine Seligkeitsverheißung; es ist ihm auch die Androhung eines Fluches beigefügt. Als das Bundesvolk durch Josua, den Nachfolger des Moses, in das gelobte Land eingeführt war, ließ der neue Anführer vor den auf den beiden Bergen E b a l und G a r i z i m aufgestellten zwölf Stämmen durch die Priester, welche im Thale zwischen den zwei Bergen mit der Bundeslade standen, Segen und Fluch ausrufen, und das Volk antwortete mit Amen. Damals schloß die Fluchandrohung mit den Worten: verflucht fei, wer nicht alle Worte dieses Gesetzes erfüllet, daß er darnach thue (5. Mos. 27, 26). Und auch diese Verfluchung findet ihre Bestätigung im Neuen Bunde, denn der Apostel schreibt: die mit des Gesetzes Werken umgehen, die sind unter dem Fluche, denn es steht geschrieben: verflucht sei jedermann, der nicht bleibet in alledem, das geschrieben steht in dem Buche des Gesetzes, daß er es thue (Gal. 3, 10). Muß nicht dieser Gottesfluch, der die Uebertreter des Gesetzes trifft, uns das Gewicht der Frage: können die Menschen das Gesetz erfüllen? verdreifachen? Liebe Christen, die Erfahrung im Alten Bunde hat diese Frage verneint, und durch die fortgehende Erfahrung wird sie fortwährend verneint. Die Menschen in ihrem natürlich, sündhaften Zustande sind nicht vermögend, das Gesetz Gottes in seinen hohen sittlichen Anforderungen zu erfüllen. Darum können sie auch auf dem Wege der Gefetzeserfüllung die Selig-

135 feit nicht erlangen, sondern verfallen dem Fluche desselben und

damit der Verdammnis. Aber, so fragt ihr nun weiter, liebe Christen: warum hat denn Gott dieses Gesetz den Menschen, zunächst seinem Bundes­ volke auferlegt, von dem sie doch nichts, denn Verdammnis haben und von dem deshalb das Wort Gottes sagt: das Gesetz richtet nur Zorn an? (Röm. 4,15). Er muß noch einen anderen Zweck bei der Offenbarung seines Gesetzes gehabt haben, als denjenigen, welchen wir bis jetzt kennen gelernt haben. Und welches wird dieser Zweck gewesen sein? Das Wort Gottes enthüllt ihn uns in den Worten: aus dem Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde (Röm. 3, 20). Der allwissende Gott wußte gar wohl, daß die sündigen Menschen insgemein und so auch die Glieder seines Volkes die Gebote nicht würden vollkommen erfüllen können. Dennoch offenbarte er ihnen sein Gesetz und legte es ihnen auf, denn er wollte sie da­ durch zur Erkenntnis ihrer Sünde, ih rer Sün­ denschuld, Sündenknechtschaft und ihres Sün­ denelends führen. Das Sittengesetz sollte den Sündern ein Spiegel sein, in welchem sie ihre sittliche Gestalt deutlich erblickten. Aber machte Gott sie damit nicht überaus unglück­ lich, wenn sie nun einsahen: wir müßten die Gebote erfüllen, aber in unserer Sündhaftigkeit vermögen wir es nicht, darum stehen wir unter dem Zorn des heiligen Gottes und sind der Verdammnis verfallen? Gewiß machte sie diese Erkenntnis un­ glücklich, und das sollte sie auch. Nur wenn die Menschen in Erkenntnis ihrer Sündhaftigkeit sich innerlich unglücklich fühlen, nur dann wird die Sehnsucht nach Erlösung, nach Befreiung von der Sündenschuld und Sündenknechtschaft in ihnen lebendig. Erst nachdem die Kinder Israel durch das Gesetz ihrer Sünd­ haftigkeit sich bewußt geworden waren, war unter ihnen dem Erlöser, der da kommen sollte, der Boden bereitet. Und die­ jenigen unter ihnen, welche sich durch das Gesetz zur Sünden­ erkenntnis hatten führen lasten, die empfingen ihn bei seinem Auftreten mit Freuden und schlossen sich ihm an als seine Jünger. Ist es nicht immer noch so, liebe Christen, daß nur die Seele ein Verständnis hat für die Erlösung, die unser

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Heiland gestiftet hat, und für ihn, den Heiland selbst, in welcher ein lebendiges Sündengefühl erwacht ist? Und wird dieses Sündengefühl nicht noch immerfort in den Seelen erweckt durch die Verkündigung des Gesetzes? Darum stellt ja auch der Kate­ chismus Luthers in seinem ersten Hauptstück das Gesetz auf, ehe er im zweiten Hauptstück das Evangelium lehrt. Vor allem vom Gesetz gilt die Frage des Propheten: ist nicht mein Wort wie ein Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der die Felsen zerschmeißt? (Jer. 23, 29). Das göttliche Ge­ setz ist das Feuer, das da zerschmilzt, und der Hammer, der da zerschlägt die verstockten Sünderherzen, daß von ihnen als­ dann gilt: ein geängstet und zerschlagen Herz wirst du, Gott, nicht verachten (Ps. 54,19), und: der Herr ist nahe bei denen, die zerbrochenen Herzens sind, und hilft denen, die ein zer­ schlagen Gemüt haben (Ps. 34, 19). Jetzt verstehen wir, liebe Christen, was der Apostel meint, wenn er sagt: also ist das Gesetz unser Zuchtmeister gewesen auf Christum, daß wir durch den Glauben gerecht würden (Gal. 3, 24). Indem das Gesetz die Sündenerkenntnis und das Sündengefühl in uns er­ weckt, erzieht es uns für den seligmachenden Glauben an den Sünderheiland. — Ja, jetzt ver­ stehen wir auch die andere Darlegung des Apostels: das Testa­ ment, das von Gott zuvor bestätigt ist auf Christum, wird nicht aufgehoben, daß die Verheißung sollte durch das Gesetz aufhören, welches gegeben ist über vierhundertdreißig Jahre hernach, denn so das Erbe durch das Gesetz erworben würde, so würde es nicht durch die Verheißung gegeben, Gott aber hat es dem Abra­ ham durch die Verheißung frei geschenkt. Was soll denn das Gesetz? Es ist hinzu gekommen um der Sünde willen, bis der Same käme, dem die Verheißung geschenkt ist (Gal. 3, 17—19). Erst war die Verheißung Gottes da, daß die Er­ lösung der Sünder geschehen und allen, die im bußfertigen Glauben den Erlöser erfaßten, das Reich Gottes aufgethan werden solle. Dann kam die Offenbarung des Gesetzes. Damit soll den Sündern nicht ein anderer Weg zum Heil, als der des Glaubens gewiesen werden. Nein, das Gesetz kam nur da-

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zwischen, um den Sündern das Gewissen zu wecken und sie dadurch zum Glauben an die Erlösung willig zu machen. So­ bald es diesen Dienst geleistet hat, tritt die Heilsverheißung wieder in Kraft für alle, in welchen das Gesetz das heilsbegierige Sündenbewußtsein geweckt hat. O, daß wir beides an uns erfahren möchten: die Zucht des Gesetzes und den Trost des Evangeliums! Indessen der Apostel sagt noch mehr, als das, vom Gesetz aus. Wir lesen: das Gesetz ist neben einkommen, auf daß die Sünde mächtiger würde (Röm. 5, 20). Was will er damit sagen? Zunächst gewiß dies, daß das Gesetz dazu dienen soll, daß den Menschen die Sünde als das, was sie ist, als Zuwider­

handlung gegen den göttlichen Willen kund würde. Daß er dies meint, geht hervor aus seinen Worten: die Sünde er­ kannte ich nicht ohne durch das Gesetz (Röm. 7, 7). Allein sein Ausspruch hat noch einen weiteren Sinn, und den giebt er zu erkennen in den Worten: da nahm die Sünde Ursach am Gebot und erregte in mir allerlei Lust, denn ohne Gesetz war die Sünde tot (Röm. 7, 8). Begreift ihr seine Meinung? Er meint, das Gesetz diene auch dazu, daß die Sünde, die im Menschenherzen wohnt, an den Tag komme, denn nur dadurch, daß sie in Worten und Werken zum Vorschein kommt, lernt sie der Sünder kennen, und lernt damit sich selbst als einen crlösungsbedürftigen Menschen erkennen und fühlen. Das ist der andere Zweck des Gesetzes. Ihr sollt aber nicht meinen, liebe Christen, daß mit diesem der erstgenannte Zweck desselben aufgehoben wäre. Nein, der bleibt bestehen neben jenem. Das Gesetz bleibt die Regel und Richtschnur für unser sittliches Verhalten. Wenn wir es in unserem natürlich-sündigen Zustand nicht so erfüllen können, wie es der heilige Gott fordert, so wissen wir ja, daß es eine Erlösung giebt. Die Erlösung setzt uns in den Stand, unsere Heiligung mit Erfolg zu betreiben und endlich zur voll­ kommenen Erfüllung des Gesetzes hindurchzudringen, wenn wir sie uns in auftichtiger Bekehrung zueignen. Dann wird an den Sündern zur Wahrheit die prophetische Weissagung: das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel machen will

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nach dieser Zeit, spricht der Herr: ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben (Jer. 31, 33), und: ich will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und darnach thun (Ezech. 36, 27). Das bewirkt die Erlösung an denjenigen Menschen, in welchen zuvor durch das Gesetz die Erlösungssehnsucht geweckt worden ist. Und seht, liebe Christen, darauf kommt alles an. Als erlösungsbedürftig mußten sich die Kinder Israel erkennen, wenn unter ihnen die Erlösung und Gründung des Reiches Gottes vor sich gehen und wenn sie zur Bürgerschaft im Erlösungsreiche gelangen sollten. Als erlösungsbedürftig müssen auch wir uns erkennen, wenn wir das Heil gewinnen und am Reiche Gottes Teil haben wollen. Wie weit das Gesetz seinen Zweck an dem Volk der Wahl erreicht hat, wird uns der Verlauf unserer Be­ trachtung zeigen. Möge es an uns allen seinen Heilszweck er­ füllen! Amen.

13. Tert: 4. Mos. 18,1. 6—7. „Der Herr sprach zu Aaron:... Denn siehe, ich habe die Leviten, euere Brüder, genommen aus den Kindern Israel, dem Herrn zum Geschenk, und euch gegeben, daß sie des Amts pflegen an der Hütte des Stifts; du aber und deine Söhne mit dir sollt eueres Priestertums warten, daß ihr dienet in allerlei Geschäft des Altars und inwendig hinter dem Vorhang, denn euer Priestertum gebe ich euch zum Amt, zum Geschenke. Wenn sich ein Fremder herzu thut, der soll sterben." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Daß Gott in seinem Bundesvolk einen Gottesstaat errichtete, hat uns die vorige Predigt gezeigt, und uns zugleich belehrt, daß der wich­ tigste Teil der Verfassung dieses Gottesstaates das Sittengesetz war, welches Gott in zehn Gebote gefaßt und durch eine lange Reihe anderer Vorschriften näher erläutert und bestimmt hatte.

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nach dieser Zeit, spricht der Herr: ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben (Jer. 31, 33), und: ich will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und darnach thun (Ezech. 36, 27). Das bewirkt die Erlösung an denjenigen Menschen, in welchen zuvor durch das Gesetz die Erlösungssehnsucht geweckt worden ist. Und seht, liebe Christen, darauf kommt alles an. Als erlösungsbedürftig mußten sich die Kinder Israel erkennen, wenn unter ihnen die Erlösung und Gründung des Reiches Gottes vor sich gehen und wenn sie zur Bürgerschaft im Erlösungsreiche gelangen sollten. Als erlösungsbedürftig müssen auch wir uns erkennen, wenn wir das Heil gewinnen und am Reiche Gottes Teil haben wollen. Wie weit das Gesetz seinen Zweck an dem Volk der Wahl erreicht hat, wird uns der Verlauf unserer Be­ trachtung zeigen. Möge es an uns allen seinen Heilszweck er­ füllen! Amen.

13. Tert: 4. Mos. 18,1. 6—7. „Der Herr sprach zu Aaron:... Denn siehe, ich habe die Leviten, euere Brüder, genommen aus den Kindern Israel, dem Herrn zum Geschenk, und euch gegeben, daß sie des Amts pflegen an der Hütte des Stifts; du aber und deine Söhne mit dir sollt eueres Priestertums warten, daß ihr dienet in allerlei Geschäft des Altars und inwendig hinter dem Vorhang, denn euer Priestertum gebe ich euch zum Amt, zum Geschenke. Wenn sich ein Fremder herzu thut, der soll sterben." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Daß Gott in seinem Bundesvolk einen Gottesstaat errichtete, hat uns die vorige Predigt gezeigt, und uns zugleich belehrt, daß der wich­ tigste Teil der Verfassung dieses Gottesstaates das Sittengesetz war, welches Gott in zehn Gebote gefaßt und durch eine lange Reihe anderer Vorschriften näher erläutert und bestimmt hatte.

139 Es versteht sich leicht, daß der Gottesstaat sich im Volk Israel erst ordentlich entfalten und gestalten konnte, nachdem es in dem ihm von seinem Gott verheißenen oder gelobten Lande ein­ gezogen und heimisch geworden war. In den vierzig Jahren, während welcher Gott es um seiner schweren Versündigungen willen in der arabischen Wüste zurückhielt und auf wunderbare Weise mit der Himmelsspeise des Manna ernährte, konnte von einem entwickelten und ausgebildeten Staatswesen noch keine Rede sein. Und so war denn auch das gottesdienstliche Leben und Thun der Israeliten in dieser Wüstenzeit noch keineswegs vollständig nach Gottes Vorschrift umgestallet. Höret doch die Klage Gottes aus dem Munde des Propheten: habt ihr vom Hause Israel mir in der Wüste die vierzig Jahre lang Schlacht­ opfer und Speiseopfer geopfert (Amos 5, 25) ? Und das Neue Testament bestätigt diese Klage, und fügt hinzu, daß sie in dieser Zeit trotz der ihnen gewordenen Offenbarung der Abgötterei ergeben waren (Apg. 7, 40—43). Fingen sie damit doch schon an, während ihr Führer auf dem Sinai verweilte und das Gesetz von Gott empfing, indem sie unmittelbar nach dem Bundesschluß den schweren Bundesbruch begingen, ein goldenes Kalb aufrichteten, ein Götzenfest feierten, und es dadurch mit ihrem Bundesgott so gründlich verdarben, daß es der ganzen Glaubenskraft und Gebetsenergie des Mittlers bedurfte, um den mit Recht erzürnten Bundesgott zu versöhnen. Indem wir nun das gottesdienstliche Gesetz des Gottesstaates in seinen hauptsächlichsten Bestimmungen kennen lernen wollen, reden wir in dieser Predigt über

Die Verfassung des Gottesstaates, DaS gottesdienstliche Gesetz,

insbesondere: und zwar:

1. das Priestertum, 2. das Opferwesen, 3. das Heiligtum. I. Daß das Priestertum von Gott selbst für sein Volk und seinen Staat im Alten Bunde gestiftet war, das ist deutlich in Gottes Wort ausgesprochen. Gott erklärt in unserem Texte:

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„ich habe die Leviten, euere Brüder, genommen aus denKindernJsrael, demHerrn zum Geschenk, und euch gegeben, daß sie des Amtes pflegen an der Hütte des Stifts; du aber (Aaron) und deine Söhne mit dir sollt eueres Priestertums warten, daß ihr dienet in allerlei Geschäft des Altars und inwendig hinter dem Vorhang, denn euer Priestertum gebe ich euch zum Amt, zum Ge­ schenk". Und bei anderen Gelegenheiten spricht Gott: ich will die Hütte des Stifts mit dem Altar heiligen und Aaron und seine Söhne mir zu Priestern weihen (2. Mos. 29, 44). Der ganze Stamm Levi sollte zum Dienst am Heiligtum bestimmt sein. Aus ihm aber wurde die Familie Aaron zur Verwaltung des eigentlichen Priesteramtes aus­ gesondert. Und an der Spitze der Priesterschaft sollte ein Oberster stehen, der Hohepriester (3. Mos. 8, lff.). Mannigfach waren die Aufgaben, welche Gott den Priestern stellte. Ihnen war die Pflege und Ausübung des ganzen Gottesdienstes befohlen, und zwar ihnen aus­ schließlich, denn wenn sich ein Fremder dieses Recht anmaßte, so hatte er sein Leben verwirkt, wie es in unserem Texte heißt: „wenn sich ein Fremder herzu thut, der soll sterben". Demnach hatten die Priester das ganze von Gott gegebene Gesetz zu bewahren, es aufrecht zu erhalten und das Volk über dasselbe zu belehren; sie waren die Wächter des Gesetzes (3. Mos. 10, 11; 5. Mos. 31, 9—13; 33, 10), und der Prophet sagt von ihnen: des Priesters Lippen sollen die Lehre bewahren, daß man aus seinem Munde das Gesetz suche, denn er ist ein Engel des Herrn Zebaoth (Mal. 2, 7). — Ins­ besondere hatten die Priester das Räuchern auf dem Räucher­ altar im Heiligen morgens und abends zu besorgen (2. Mos. 30,1—8), womit das Gebet versinnbildet wird, das von feiten des Gottesvolks ohne Aufhören zu Gottes Thron aufsteigen soll. — Ferner war es die Aufgabe der Priester und vorzüglich des Hohepriesters, das Volk zu segnen, ihm den Segen Gottes zu vermitteln und mitzuteilen, denn Gottes Wort berichtet: der Herr redete mit Moses und sprach: sage Aaron und

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seinen Söhnen und sprich: also sollt ihr sagen zu den Kindern Israel, wenn ihr sie segnet: der Herr segne dich nnd behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr erhebe sein Ange­ sicht über dich und gebe dir Frieden! denn ihr sollt meinen Namen auf die Kinder Israel legen, daß ich sie segne (4. Mos. 6, 22—27). Diesen Segensspruch hatten die Priester nach voll­ brachtem Opfer zu erteilen. Er besteht darin, daß der Name des Herrn Jehova auf die gelegt wird, über welche er ausge­ sprochen wurde. Der Name des Herrn ist aber, wie wir früher erkannt haben, derjenige, durch welchen Gott überhaupt die Menschen segnet durch allerlei geistlichen Segen in himmlischen Gütern, der dem Volke des Alten Bundes als der zukünftige Heiland in Aussicht gestellt war und der in der Fülle der Zeit als der Christus Jesus erschien. Wir haben in diesem euch wohl­ bekannten Segensspruch, mit welchem auch die Diener der christ­ lichen Kirche noch immer die Gemeinde des Heilands segnen, eine Andeutung des Geheimnisses der göttlichen Dreieinigkeit, das im Alten Bunde nur erst angedeutet, im Neuen Bunde aber enthüllt wird. Wir gehen gewiß nicht fehl, wenn wir diesen Spruch dahin deuten: Gott der Vater verleihe euch seinen Schutz und seine guten Gaben für Leib und Seele; Gott der Sohn gebe euch Anteil an der von ihm vollbrachten Erlösung und Ver­ söhnung, an der von ihm erworbenen Gnade Gottes; Gott der Heilige Geist befähige euch zur Ergreifung des Heils, zum Em­ pfang der Rechtfertigung und des Friedens mit Gott, zur Bürger­ schaft im Reiche Gottes! Wenn ihr aber wissen wollet, liebe Christen, worin der wichtigste Beruf der Priester bestand, dann verweise ich euch auf die Erklärung, welche Moses gab in den Worten: morgen wird der Herr kund thun, wer sein sei, wer heilig sei und zu ihm nahen soll; welchen er erwählet, der soll zu ihm nahen (4. Mos. 16, 5). Achtet auf die Veranlassung, bei welcher diese Erklärung abge­ geben wurde. Ein Jsraelite mit Namen Kora hatte mit anderen eine Rotte gebildet gegen Moses und Aaron, also gegen die von Gott gestiftete Regierung und vornehmlich gegen das von Gott verordnete Priestertum, indem er erklärte: die ganze

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Gemeinde ist überall heilig und der Herr ist unter ihr! Der Herr aber erklärte sich für seine Stiftung, für das levitische Priestertum, und ihr wisset, daß die Auflehnung der Rotte Kora mit deren schauerlichem Untergang endete (4. Mos. 16). Und als sich darauf das Volk der untergegangenen Aufrührer an­ nehmen wollte, bestätigte Gott seine Stiftung noch zum Ueberfluß durch das Wunder des über Nacht blühenden und Frucht tragenden Mandelstabs Aarons (4. Mos. 18). Was bedeutet aber die Erklärung Gottes durch Moses? Sie bezeichnet die Aufgabe der Priester. Diese besteht darin, daß sie Mittler sind zwischen Gott und dem Volke, daß sie den durch die Sünde der Menschen erzürnten Gott zu versöhnen und die Sünder zu entsündigen haben. Da der Sünder nicht ohne weiteres Gott nahen und mit ihm in Umgang und Verkehr treten kann, so bedarf er eines Mittlers zwischen Gott und sich, und dieser Mittler ist nach göttlicher An­ ordnung der Priester. Diesen erwählt und heiligt Gott zu seinem Mittlergeschäft, und in diesem verrichtet er im Vorbild das, was der Heiland in Wirklichkeit thun sollte, wenn die Stunde seiner Erscheinung geschlagen hätte. Schon gleich hier merken wir, daß das Gesetz des Alten Bundes, wie das Wort Gottes es ausdrückt, nur den Schatten hat von den zukünftigen Gütern des Neuen Bundes, nicht das Wesen der Güter selbst (Hebr. 10, 1), daß dieses Wesen oder der Körper ist in Christo (Kol. 2, 17). Was das Priestertum des Alten Bundes vorbildet, hat sich in dem Priestertum unseres Heilands erfüllt. Es wird euch wohl aufgefallen sein, liebe Christen, daß Gott in seinem Volke ein besonderes Priestertum aufrichtet, während er doch anderseits das ganze Volk für ein priesterlich Volk erklärt (2. Mos. 19, 5—6). Liegt darin nicht ein Wider­ spruch? Wir wissen, daß das Wort Gottes den Kindern des Neuen Bundes, den gläubigen, bekehrten Christen das allge­ meine Priestertum zuspricht. Das thut es, indem es sie anredet: ihr seid das königliche Priestertum (1. Petr. 2, 9). Sie selbst bekennen deshalb von sich: Jesus Christus hat uns zu Königen und Priestern gemacht vor Gott, seinem Vater (Offenb. 1, 6). Im Neuen Bunde ist das allgemeine Priestertum der Gläubigen .

143 zur Wahrheit geworden. Es beruht auf dem besonderen Hohepriestertum ihres Heilands. Er hat seinen Anhängern einen freien Zugang zu Gottes Gnadenthron gebahnt (Röm. 5, 2; Hebr. 4,16), denn er hat durch seinen Opfertod eine Versöhnung gestiftet zwischen Gott und den Menschen. Und sie kommt uns zu gut, wenn wir sie im bußfertigen Glauben uns aneignen (Eph. 2, 16; Kol. 1, 20). Hast du das gethan, lieber Christ, dann hast du teil am allgemeinen Priestertum, du darfst nun ohne weiteres Mittlertum zu Gott nahen und mit ihm Umgang pflegen im Gebet. So war es bei den Kindern des Alten Bundes noch nicht. Sie mußten nach jeder neuen Versündigung durch das besondere Priestertum immer wieder durch Opfer mit Gott versöhnt, d. h. entsündigt werden. Wenn sie dennoch als ein priesterliches Volk bezeichnet werden, so hat das die Bedeutung, daß sie ein von Gott gestiftetes besonderes Priestertum unter sich haben. Und zugleich ist diese Bezeichnung für sie eine Weis­ sagung auf das, was der Neue Bund in vollem und ganzem Sinne bringen sollte. Gern rühmen sich namentlich die evan­ gelischen Christen ihres allgemeinen Priestertums,und sie gründen darauf allerlei Rechte in der Kirche, insbesondere in deren Ver­ waltung und Regierung. Ich will jetzt nicht darüber streiten, ob sich das allgemeine Priestertum auch auf dieses Gebiet er­ streckt. Nur soviel laßt euch sagen, daß das allgemeine Priester­ tum nur denjenigen zusteht, welche durch den Bekehrungsglauben in die Gemeinschaft des Mittlers und Heilands eingetreten sind. Darum möge sich jeder Christ ernstlich prüfen, ehe er für sich dieses hohe Vorrecht in Anspruch nimmt. n. Die Priesterschaft im Gottesstaate übte ihr Mittler­ amt aus durch die von Gott angeordnete Darbringung von Opfern. Sie war darin in ihrer Gesamtheit und insbesondere in ihrem Hohepriester ein Vorbild des wahren und rechten Priesters und Hohepriesters der Welt Jesu Christi. Und die Opfer? Alle Opfer, welche im Alten Bunde nach Gottes An­ ordnung geschahen, bezogen sich auf die Sünde der Menschen. Es gab vier Klassen von Opfern: Brand- und Dank-, Sündund Schuldopfer. Bei den Sünd- und Schuldopfern handelte es sich um einzelne Uebertretungen und Vergehungen, jedoch

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nur um solche, welche ohne Vorsatz begangen wurden. Die vorsätzlichen, aus Frevel verübten Sünden sollten nach göttlichem Befehl mit dem Tode, also mit Ausrottung aus der Gemeinschaft des Bundesvolks bestraft werden (4. Mos. 15, 27—30). Alle Sünden, auch die unvorsätzlichen oder Schwachheits- und Uebereilungssünden schlossen allerdings den Sünder aus dieser Ge­ meinschaft aus. Durch die vorgeschriebenen Opfer konnte aber seine Wiederaufnahme in dieselbe und damit seine Begnadigung bei Gott bewirkt werden. Doch mußte zu den Schuldopfern noch irdischer Schadenersatz hinzukommen. — Etwas anders verhielt es sich mit den Brand- und Dankopfern. Zwar hatten auch diese ihre Beziehung auf die Sünde der Opfernden, jedoch nicht auf einzelne Missethaten, sondern auf den sündhaften Zu­ stand der Menschen im allgemeinen. Dieser sollte damit gesühnt, und dem Opfernden sollte seine Stellung im Gottesstaate und in der Gottesgemeinschaft gestärkt und befestigt werden. Während die Brandopfer ganz verbrannt wurden auf dem Altar, geschah dies bei den Dankopfern nur mit den Fettstücken. Die Fleischteile dagegen wurden zu einer Opfermahlzeit verwandt. Dadurch wurde die Gemeinschaft, in welcher die Opfernden mit dem Herrn Jehova standen, versinnbildlicht. Aus diesem Grunde mußte dem Dankopfer stets ein Brandopfer voraus­ gehen, denn erst mußte der Opfernde die Versicherung em­ pfangen, daß seine Gemeinschaft mit dem Herrn fortbestehe, ehe er das Gemeinschaftsmahl feiern durfte. Und ebenso mußten auf die Sünd- und Schuldopfer stets Brand- und Dankopfer folgen, durch welche dem Entsündigten und Versöhnten seine Wiederaufnahme in die Gottesgemeinschaft versiegelt wurde. Wenn ihr euch, liebe Christen, über dieBedeutungder Opfer verlässigen wollt, dann müßt ihr die Erklärung be­ achten, welche Gott erteilt in den Worten: des Leibes Leben ist im Blut, und ich habe es euch auf den Altar gegeben, daß euere Seelen damit versöhnet werden, denn das Blut ist die Ver­ söhnung, weil das Leben in ihm ist (3. Mos. 17,11). Hieraus geht vor allem hervor, daß durch das Opfer Versöhnung bewirkt werden soll. Es fragt sich nun: was oder wer soll ver­ söhnt werden? In der angeführten Stelle heißt es: die Seele

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Les Sünders soll versöhnt werden. Demselben Ausdruck be­ gegnen wir öfters in der Heiligen Schrift. Wir lesen von dem Opfer des Hohepriesters am Versöhnungstag: er soll versöhnen sich und sein Haus und die ganze Gemeinde Israel (3. Mos. 16, 17). Ist hier nicht etwa gemeint, daß die Gesinnung der Opfernden aus einer Gott feindlichen zu einer Gott freundlichen umgeändert werden soll? Das soll ja wohl geschehen und wird bei jedem Opfer vorausgesetzt, aber diese Sinnesänderung oder Buße vollzieht sich doch nicht vermittelst des Opfers. Wir müssen also einsehen, daß unter diesem Versöhnen der Sünder deren Entsündigung zu verstehen ist oder deren Recht­ fertigung und Begnadigung. Diese geschieht vermittelst -es Opfers. Wie ist das zu erklären? Gottes Wort erklärt es uns, wenn es sagt: ohne Blutvergießen geschieht keine Verge­ bung (Hebr. 9, 22). Wie die Seele, so hat auch die Sünde ihren Sitz im Blute und der Tod ist der Sünde Sold (Röm. 6, 23). Das Opfertier wird getötet und sein Blut wird ver­ gossen. Stellvertretend erleidet es den Tod für den Sünder, der ihn verdient hat. Das wird dadurch versinnbildet, daß derselbe es zum Altar brachte und ihm die Hände auf den Kopf legte. Dadurch übertrug er sinnbildlich seine Sündenschuld auf das Tier und weihte es zu seinem Stellvertreter. Dann schlachtete er es, um damit seine todeswürdige Schuld anzuzeigen, und der Priester sprengte das Blut an den Altar, um damit die sühnende und versöhnende Kraft des Opfers zu bezeugen. Ge­ sühnt war dadurch die Sündenschuld des Opfernden, und ver­ söhnet war Gott, sein Zorn über die Sünde des Opfernden war gestillt. Freilich konnte das Tieropfer diese Wirkungen nur als Sinn- und Vorbild desjenigen Opfers üben, welches der Gott­ mensch Jesus später am Kreuze brachte. War es auch an und für sich mit diesen Tieropfern so, wie das Wort Gottes bezeugt, wenn es sagt: es ist unmöglich, durch Ochsen- und Bocksblut Sünden wegzunehmen, so hatten dieselben doch im Hinblick und mit Rücksicht auf das vor Gott vollgültige Opfer seines Mensch gewordenen Sohnes eine die Sündenvergebung bewirkende Kraft (Hebr. 10, 4). Gab es aber durch die Tieropfer im Alten Bunde wirklich schon eine Sündenvergebung, um wie viel mehr Schnabel, Predigten.

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dürfen wir, liebe Christen, uns dessen getrosten, daß das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, uns rein macht von aller Sünde (1. Joh. 1, 7). Ich weiß zwar, liebe Christen, daß manche das bezweifeln, daß im Alten Bunde durch die Opfer den Sündern wirkliche Vergebung bewirkt worden sei. Sie berufen sich für ihren Zweifel wohl auf die Stelle des göttlichen Wortes, in welcher es heißt, daß Gott die Sünde der Menschen bis zum Opfertode des Heilands in Geduld getragen habe (Röm. 3,25). Aber saget selbst, steht denn das im Widerspruch zu unserer Behauptung, daß es auch im Alten Bunde schon eine Sündenver­ gebung gegeben habe? Gott trägt die Sünde der Menschen auch jetzt noch, nachdem der Neue Bund längst angebrochen ist, in Geduld, bis sich dieselben bekehren und die Vergebung em­ pfangen. So war es gerade im Alten Bunde. Kann man denn das bestreiten solchen Aeußerungen der Frommen des Alten Bundes gegenüber, wie sie die Psalmen darbieten in der Bitte: Gott sei mir gnädig nach deiner Güte und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit; wasche mich wohl von meiner Sünde und reinige mich von meiner Missethat (Ps. 51, 3—4) 1 und in dem Jubel: wohl dem, welchem die Uebertretungen ver­ geben sind, dem die Sünde bedecket ist; wohl dem Menschen, dem der Herr die Missethat nicht anrechnet (Ps. 32, 1—2)!? HI. Wir haben gesehen, liebe Christen, daß die Priester­ schaft als ihre vornehmste Aufgabe die Leitung des Opferwesens zu üben hatte. Diese Aufgabe vollzog sie im Volks- oder Gemeindeheiligtum, das Gott zu diesem Zwecke ange­ ordnet hatte. Dieses Heiligtum war für die Zeit des Wüsten­ aufenthalts des Gottesvolks und überhaupt bis zur Erbauung des Tempels ein Zelt, die Stiftshütte. Sie war die Stätte des gesamten Gottesdienstes, und war dazu geweiht dadurch, daß der Herr Jehova sich herabgelassen hatte, in ihr seine Wohnung aufzuschlagen. Was ist damit gesagt? Wie uns sein Wort von ihm, dem Allgegenwärtigen und Unendlichen, den aller Himmel Himmel nicht zu umschließen vermögen (1. Kön. 8,27), sagt, daß er im Himmel wohne, und damit andeuten will, daß er daselbst seine göttliche Herrlichkeit in besonderer Weise offenbare, so haben wir es auch zu verstehen, wenn es uns be-

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zeugt, daß er im Heiligtum des Wen Bundes Wohnung ge­ nommen habe, um daselbst seinem Bundesvolke seine Heiligkeit und Gnade zu offenbaren (2. Mos. 40, 34—35; 1. Kön. 8, 11). Die Einrichtung dieses Nationalheiligtums ist euch bekannt. Es bestand aus zwei Räumen, dem Heiligen, in welchem der Räucheraltar stand, und dem durch einen Vorhang ver­ schlossenen Allerheiligsten, in welchem die Bundeslade mit den Gesetzestafeln sich befand. Die Bundeslade war mit einem Deckel, dem Sühndeckel oder Gnadenstuhl (2. Mos. 25, 22; Röm. 3, 25) versehen, auf welchem zwei Cherubsbilder mit ausgebreiteten Flügeln aufgerichtet waren. Zwischen diesen war der Thron des Herrn Jehova. Dieses Merheiligste war stets verschlossen, und nur einmal im Jahre am großen Versöhnungstage betrat es der Hohepriester, nachdem er vorher das vorgeschriebene Opfer für die Sünde des Volks vollzogen hatte. Er trug das Blut des Opfertieres vor das Angesicht Gottes, sprengte davon gegen den Sühndeckel und erwirkte da­ durch dem Volke die Vergebung seiner Sündenschuld.. Im Heiligen thaten die übrigen Priester ihren Dienst, namentlich mit täglichem Räuchern. Der ganze Zelttempel war mit einem Vorhof umgeben, in welchem der Brandopferaltar seinen Platz und zu welchem das Volk Zugang hatte. Höchst merkwürdig ist, daß uns Gottes Wort ausdrücklich berichtet, Moses habe die Stiftshütte, nach deren Muster später von Salomo auch der Tempel erbaut wurde, nach einem himm­ lischen Vorbild anfertigen lassen, das ihm der Herr auf dem Berge Sinai im Gesicht gezeigt hatte (2. Mos. 25, 9; Apg. 7, 44; Hebr. 8, 5). So war das Heiligtum des Gottesvolks ein Nachbild desHimmels. Wenn ihr verstehen wollt, liebe Christen, wie das gemeint ist, dann müßt ihr die Beschreibung des Himmels bei dem Propheten Ezechiel und in dem Buch der Offenbarung lesen (Ezech. 1; Offenb. 4 und 5). Da ist ein Allerheiligstes: und siehe, ein Stuhl war daselbst gesetzt und auf dem Stuhl saß Einer, und der da saß, war gleich anzusehen wie der Stein Jaspis und Sarder, und ein Regenbogen war um den Stuhl gleich anzusehen wie ein Smaragd. So thront Gott in einem Lichte, da niemand zukommen kann (1. Tim. 6, 16). io*

148 Da ist ferner ein Heiliges: mitten am Stuhl und um den Stuhl Gottes waren vier Lebewesen, die hatten keine Ruhe Tag und Nacht und sprachen: heilig, heilig, heilig ist Gott, der Herr, der Allmächtige, der da war und der da ist und der da kommt! und um den Stuhl waren weiter vierundzwanzig Stühle und auf den Stühlen saßen vierundzwanzig Aelteste mit Weißen Kleidern angethan und hatten auf ihren Häuptern goldene Kronen, und da die Lebewesen gaben Preis, Ehre und Dank dem, der auf dem Stuhle saß, fielen die Aeltesten nieder und beteten an den, der da lebet von Ewigkeit zu Ewigkeit. Da ist endlich auch ein Vorhof: und ich sah und hörte eine Stimme vieler Engel um den Stuhl und um die Lebewesen und um die Aeltesten, und ihre Zahl war viel tausendmal tausend und sprachen mit großer Stimme: das Lamm, das erwürget ist, ist würdig zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob! So leitet uns das Wort Gottes allerdings an, die Himmelswelt als eine Oertlichkeit anzusehen, wenn auch anderer Art, als die irdischen Räumlichkeiten und also auch anderer und höherer Art, als die Stiftshütte und der Tempel. Dieses Heiligtum war ein Nachbild des Himmels, aber auch ein Abbild des Reiches Gottes, wie es unter dem Alten Bunde bestand. Der Vorhof versinnbildlicht die Wohnung des Volks, das Zelt die Wohnstätte Gottes unter seinem Volke. Das sündige Volk kann noch nicht unmittelbar zu Gott nahen und mit ihm Umgang pflegen. Es bedarf eines priesterlichen Amtes, das Gott gestiftet hat. Es wird allerdings von sündigen Gliedern des Volks verwaltet. Aber das ihnen anvertraute Amt giebt ihnen das Vorrecht, zu Gott zu nahen und im Helligen Dienst zu thun. Doch nur die Spitze der gesamten Priesterschaft, der Hohepriester, darf in die unmittelbarste Nähe Gottes kommen und wenigstens einmal im Jahre ins Allerheiligste eingehen, um für sich und die ganze Gemeinde Versöhnung und Entsündigung, Begnadigung und Rechtfertigung zu holen. Das Heiligtum Israels ist schließlich auch ein Vorbild der Kirche Jesu Christi im Neuen Bunde. Der Vorhof schattet ab die sichtbare Kirche, die Gesamtheit aller Getauften; das Heilige die unsichtbare Kirche, die eigentliche Gemeinde der

149 Heiligen, die aber noch die kämpfende ist; und das Merheiligste die zum Sieg durchgedrungene, triumphierende Kirche, das voll­ endete Gottes- und Himmelreich, welches das Wort Gottes schil­ dert in den Worten: ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde, und sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herab fahren, und hörte eine Stimme: siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen (Offenb. 21, 1—3)! Im Alten Bunde mußte die Gottesgemeinde noch vorlieb nehmen mit dem Vorhof als ihrem gottesdienstlichen Aufenthalte. Wir Christen, sofern wir wirklich in der Gemeinschaft des Heilands stehen, sind eine Stufe weiter gerückt und haben unseren Platz im Heiligen, denn wir sind im Glauben nicht bloß Glieder der sichtbaren, sondern auch der unsichtbaren Kirche. Doch ist noch nicht erschienen, was wir sein werden und wozu uns unser Heiland führen will (1. Joh. 3, 2). Wir warten seiner, daß er uns an seinem großen Tage in das Allerheiligste, in die trium­ phierende Kirche, in das vollendete Gottesreich einweisen wird (Matth. 25, 34). Das Heiligtum des Alten Bundes war dierechtmäßige und allein gültige gottesdienliche Stätte für das Bundesvolk. Da offenbarte sich Gott seinem Volke, und da brachte ihm das Volk seine Verehrung und Anbetung dar. Mit dieser war es an das Heiligtum gebunden. Hier allein wollte sich Gott verehren lassen, und zwar nach der Weise, die er im gottesdienstlichen Gesetz vorgeschrieben hatte. Wie das Volk des Alten Bundes mit seinem Gottesdienste streng an diese Stätte gebunden war, so auch an dieses Gesetz mit seinen Einrichtungen, Vorschriften und Ordnungen (5. Mos. 12, 11. 13. 14). Das war dem Charakter des Alten Bundes ent­ sprechend, denn er war ein Gesetzesbund und seine Religion eine Gesetzesreligion. So mußte es sein. Tas erforderte einerseits die Gefahr, welcher das Bundesvolk ausgesetzt war, ins Heiden­ tum zu versinken, und anderseits die Unvollkommenheit der Gnadenmittel und der Wirksamkeit des Heil. Geistes im Alten Bunde. Ganz anders ist das Wesen des Neuen Bundes, denn seine Religion ist eine Religion der Freiheit. Ihr erinnert euch, liebe Christen, an das ernste und lehrreiche Gespräch, welches

150 unser Heiland einst mit der Samariterin am Brunnen zu Sichar am Fuße des Berges Garizim hatte. Als sie ihm die damalige Streitfrage der Juden und Samaritaner zur Entscheidung vor­ legte: unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet, und ihr sagt, zu Jerusalem sei die Stätte, da man anbeten solle, — da gab er die bedeutungsvolle Antwort: Weib, glaube mir, es kommt die Zeit, daß ihr weder auf diesem Berge noch zu Jeru­ salem werdet den Vater anbeten; es kommt die Zeit und ist schon jetzt, daß die wahrhaften Anbeter werden den Vater anbeten im Geist und in der Wahrheit, denn der Vater will haben, die ihn also anbeten; Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten (Joh. 4, 20—24). Preisen wir uns glücklich, liebe Christen, daß wir Kinder des Neuen Bundes sind, für welche die Religion des Buchstabens und Gesetzes zur Religion des Geistes und der Freiheit sich um­ gewandelt hat, und welche im Genuß der vollkommenen Gnaden­ mittel und vollkräftigen Wirksamkeit des Heil. Geistes stehen! Danken wir Gott, der uns durch die Offenbarung und das Versohnungswerk seines eingeborenen Sohnes gewürdigt und befähigt hat, seine Anbeter zu werden im Geist und in der Wahr­ heit! Amen.

14. Tert: 5. Mos. 5, 27—30.

„Gehe hin und sage ihnen: gehet heim in euere Hütten! Du aber sollst hier vor mir stehen, daß ich mit dir rede alle Gesetze und Gebote und Rechte, die du sie lehren sollst, daß sie darnach thun im Lande, das ich ihnen geben werde einzu­ nehmen. So habt nun Acht, daß ihr thut, wie euch der Herr, euer Gott, geboten hat, und weicht nicht weder zur Rechten noch zur Linken, sondern wandelt in allen Wegen, die euch der Herr, euer Gott, geboten hat, auf daß ihr leben möget und es euch wohl gehe und lange lebet im Lande, das ihr einnehmen werdet."

150 unser Heiland einst mit der Samariterin am Brunnen zu Sichar am Fuße des Berges Garizim hatte. Als sie ihm die damalige Streitfrage der Juden und Samaritaner zur Entscheidung vor­ legte: unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet, und ihr sagt, zu Jerusalem sei die Stätte, da man anbeten solle, — da gab er die bedeutungsvolle Antwort: Weib, glaube mir, es kommt die Zeit, daß ihr weder auf diesem Berge noch zu Jeru­ salem werdet den Vater anbeten; es kommt die Zeit und ist schon jetzt, daß die wahrhaften Anbeter werden den Vater anbeten im Geist und in der Wahrheit, denn der Vater will haben, die ihn also anbeten; Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten (Joh. 4, 20—24). Preisen wir uns glücklich, liebe Christen, daß wir Kinder des Neuen Bundes sind, für welche die Religion des Buchstabens und Gesetzes zur Religion des Geistes und der Freiheit sich um­ gewandelt hat, und welche im Genuß der vollkommenen Gnaden­ mittel und vollkräftigen Wirksamkeit des Heil. Geistes stehen! Danken wir Gott, der uns durch die Offenbarung und das Versohnungswerk seines eingeborenen Sohnes gewürdigt und befähigt hat, seine Anbeter zu werden im Geist und in der Wahr­ heit! Amen.

14. Tert: 5. Mos. 5, 27—30.

„Gehe hin und sage ihnen: gehet heim in euere Hütten! Du aber sollst hier vor mir stehen, daß ich mit dir rede alle Gesetze und Gebote und Rechte, die du sie lehren sollst, daß sie darnach thun im Lande, das ich ihnen geben werde einzu­ nehmen. So habt nun Acht, daß ihr thut, wie euch der Herr, euer Gott, geboten hat, und weicht nicht weder zur Rechten noch zur Linken, sondern wandelt in allen Wegen, die euch der Herr, euer Gott, geboten hat, auf daß ihr leben möget und es euch wohl gehe und lange lebet im Lande, das ihr einnehmen werdet."

151 In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Einen Teil des gottesdienstlichen Gesetzes im Sitten Bunde haben wir in der vorigen Predigt besprochen. Heute wollen wir einen anderen Teil desselben behandeln. Gott hat es für nötig gefunden, seinem Volke im Alten Bunde ganz genau vorzuschreiben, wie es ihn verehren solle. Warum das? Wir haben bereits erkannt, daß der Alte Bund eine Gesetzesreligion war und daß erst der Neue Bund die Religion der Freiheit gebracht hat. Im Neuen Bunde gelten diese Vorschriften über die gottesdienstlichen Gebräuche nicht mehr. Derselbe bringt die innerliche religiöse und sittllche Erneuerung. Da heißt es in Bezug auf das Sittengesetz nicht mehr: du sollst! sondern der wiedergeborene Mensch spricht dem Gesetze gegenüber: ich will! Weil er innerlich zum Ebenbild Gottes erneuert ist, so bedarf er auch keiner Vorschriften mehr für seinen Gottesdienst, sondern sein Inneres treibt ihn zur Gottesverehrung und lehrt ihm auch die rechte Art und Weise dieser Verehrung. Im Alten Bunde herrschte die äußere Vor­ schrift und das strenge Gebot, wie in Bezug auf das sittliche Verhalten der Menschen, so auch in Bezug auf ihr gottesdienst­ liches Thun. Wir haben bereits eingesehen, daß auch das gottesdienstliche Gesetz nach Gottes Willen und in seiner Hand ein Erziehungsmittel für sein Volk war. Alle diese Vorschriften über den Gottesdienst sind zu dem Zweck gegeben, daß unter den Kindern Israel dadurch die Erkenntnis und das Bewußtsein der Sünde geweckt und wach erhalten werde. Dadurch sollten dann die Seelen zu der Sehnsucht nach Erlösung von der Sünde angeregt, es sollte das Gefühl der Erlösungsbedürftigkeit in ihnen ins Leben gerufen werden. Dieses Gefühl mußte sie fähig machen, den erscheinenden Heiland und sein Werk zu ver­ stehen und anzunehmen. Nun wissen wir aus der Geschichte des israelitischen Volkes, daß es gerade diese auf den Gottes­ dienst bezüglichen Gebote ernstlich beobachtet hat. Die Kinder Israel haben in Bezug auf diese Verordnungen sich in der That die Ermahnung zu Herzen genommen, welche ihnen Moses, im Auftrage des Herrn Jehova in unseren Textesworten erteilt: „sohabtnunAcht,daßihrthut,wieeuchderHerr, euer Gott, geboten hat, und weicht nicht weder

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zur Rechten noch zur Linken, sondern wandelt in allen Wegen, die euch der Herr, euer Gott, ge­ botenhat!" Haben sie doch sogar zu den vielen gottesdienst­ lichen Geboten, die Gott ihnen in seiner Offenbarung gegeben hatte, in der Folge noch andere Vorschriften, Aufsätze ihrer Aeltesten und Schriftgelehrten hinzugefügt, als ob ihnen die von Gott geoffenbarten Regeln nicht genug wären. Eine andere Frage ist freilich, ob sie sich diese gottesdienstlichen Vorschriften auch wirklich haben dazu dienen lassen, wozu sie ihnen dienen sollten, nämlich zur Erweckung der Sündenerkenntnis und der Erlosungssehnsucht, wodurch allein sie die Verheißung unseres Textes erlangen konnten: „auf daß ihr leben möget". Die Geschichte hat vielmehr gezeigt, daß diese heilsame Wirkung durchaus nicht an dem gesamten Volke des Alten Bundes ein­ getreten ist. Doch ist das gottesdienstliche Gesetz gar manchen Seelen ein wirklicher Zuchtmeister auf den Heiland geworden. — Wir fahren in der angefangenen Betrachtung desselben fort und reden in dieser Predigt über

Die Verfassung des Gottesstaates, insbesondere: Das gottesdienstliche Gesetz, nämlich: 1. die Festordnung, 2. die Reinigkeitsvorschriften, und 3. die Speisegebote.

I. Für seinen Gottesdienst war dem Bundesvolk eine Festordnung von Gott gegeben. Es waren ihm bestimmte Feste zur Feier vorgeschrieben. Auch diese hatten eine erzieher­ ische Bedeutung für das Volk. Um das zu verstehen, laßt uns die wichtigsten derselben näher kennen lernen, liebe Christen. Da war vor allem der S a b b a t h t a g. Seine Anordnung ist allerdings ein Stück des gottesdienstlichen Gesetzes, denn wir finden sie in der Festordnung, welche das Gesetz aufstellte (3. Mos. 23, lff.). Aber wie merkwürdig, wir lesen die Be­ stimmung des Sabbaths auch im Sittengesetz (2.Mos.20,8—11). Was lernen wir daraus, daß das Sabbathgebot sowohl unter den vergänglichen gottesdienstlichen Vorschriften, als auch unter

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den ewigen sittlichen Geboten steht? Wir lernen hieraus, daß es einen doppelten Charakter hat. Nach der einen Seite ist es ein nur für die Zeit des Alten Bundes berechnetes, nach der anderen Seite ein auch für den Neuen Bund und seine Dauer bestimmtes Gebot. Hinsichtlich der einzelnen Festsetzungen, w i e der Sabbathtag von den Israeliten gehalten werden soll, ist das Sabbathgebot nur für die Zeit des Alten Bundes berechnet (2. Mos. 31, 14—16; 35, 2—3; 4. Mos. 15, 32—36; 28, 9). Aber hinsichtlich der Feier des siebenten Wochentages überhaupt hat es Gültigkeit bis zum Anbruch des ewigen Sabbaths im vollendeten Gottesreiche. Für uns, die Kinder des Neuen Bundes, gilt nicht mehr das Sabbathgebot, sofern es der gottesdienstlichen Gesetzgebung des Alten Bundes angehört. Aber es gilt für uns, weil die Feier des siebenten Wochentages auf der göttlichen Einsetzung im Anfang der Menschheit beruht. Ihr wisset ja, liebe Christen, wie die göttliche Einsetzung erfolgt ist. Gott stellte am siebenten Tage seine an den sechs voraufgehenden Tagen geübte schöpferische Thätigkeit an der Erde ein. Sein Wort sagt, daß er am siebenten Tag geruht, ihn zu einem heiligen Tage geweiht und ihn mit seinem Segen gekrönt habe. Darum soll er den Menschen allgemein ein Ruhetag, ferner ein heiliger, dem Gottesdienst und der Sorge für das Seelenheil gewidmeter Tag, und endlich bei richtiger Feier ein Tag zeitlicher und ewiger, leiblicher und geistlicher Segnung sein. Wohl ihnen, wenn sie sich ihn dazu dienen lassen! Der Sabbath ist ein Ge­ schenk des allgütigen Gottes, das einem leiblichen und geistigen Bedürfnis des Menschen entgegen kommt und das die Menschen nur zu ihrem zeitlichen und ewigen Schaden verschmähen. Es wendet mir wohl jemand ein, daß der Sabbathtag im Neuen Bunde, also für uns Christen, überhaupt keine Bedeutung und Geltung mehr habe, denn der Heiland habe erklärt: des Menschen Sohn ist ein Herr auch über den Sabbath (Matth. 12, 8)! und: der Sabbath ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbath willen (Mk. 2, 27)! Aber er hat damit den Sabbath nicht aufheben, sondern ihn nur von seinem Mißbrauch befreien und ihn in seinen wahren Gebrauch einsetzen wollen. Oder ist etwa der Ausspruch des

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Apostels: Einer hält einen Tag vor dem anderen; der Andere aber hält alle Tage gleich; ein jeglicher sei in seiner Meinung gewiß; welcher auf die Tage hält, der thuts dem Herrn; und welcher nichts darauf hält, der thuts auch dem Herrn (Rom. 14, 5—6)! — oder der andere: so lasset euch nun niemand Ge­ wissen machen über. . bestimmte Feiertage oder Neumonde oder Sabbathe, welches ist der Schatten von dem, das zukünftig war, aber der Körper ist in Christo (Kol. 2, 16—17) 1 — so zu verstehen, daß im Neuen Bunde keine Sabbathfeier mehr statt­ finden solle? Gewiß nicht, denn das würde dem übrigen Gottes­ worte widersprechen. Aber was will der Apostel sagen? Daß die Christen die Feier bestimmter, namentlich selbsterwählter Festtage nicht als eine Bedingung zur Seligkeit ansehen sollen. Die christliche Kirche hat die ihr von ihrem Oberhaupte einge­ räumte freie Stellung zum Sabbathgebot des Alten Bundes damit kund gegeben, daß sie von Anfang an den Sabbath auf den Sonntag, als den Tag der Auferstehung ihres Herrn und ihrer Gründung, verlegt hat. Sie hat eingesehen, daß wesentlich nur die Feier des siebenten Wochentages, unwesentlich aber die Wahl des Tages ist. So feiert sie den ersten Wochentag als Nachbild der Ruhe Gottes nach der Schöpfungswoche (1. Mos. 2, 2—3) und als Vorbild der ewigen Sabbathruhe, welche vor­ handen ist dem Volke Gottes (Hebr. 4, 9). Wir kommen zum P a s s a h f e st. Es war der Erinnerung an den Auszug aus Aegypten geweiht und beruhte auf göttlicher Stiftung (2. Mos. 12, 24—27). Am Vorabend des Festes wurde das Passahopfer und die Passahmahlzeit wiederholt und mit dem Blute des Passahlamms der Altar besprengt. Die Feier währte acht Tage, und während dieser Zeit mußte aller Sauer­ teig aus den Häusern entfernt werden. Alles dies erinnerte an die Nacht, in welcher das Gottesvolk auszog aus Aegyptenland. Das war eine Erlösung, die Gott ihm zu teil werden ließ durch einen Erlöser oder Befreier. Aber freilich, es war eine irdische Erlösung, eine Befreiung aus leiblicher Knechtschaft und Ge­ fangenschaft, und es war ein menschlicher Erretter, der dem Volke in Moses erstanden war. Allein das Opfer, welches in dem Passahlamm Gott dargebracht wurde, und das Opfermahl,

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Welches sodann gehalten wurde, hatte eine tiefere Bedeutung. Es war ein Versöhnungsopfer, durch welches eine Versöhnung Gottes bewirkt, und es war ein Gemeinschaftsmahl, durch welches die wiederhergestellte Vereinigung der Sünder mit Gott gefeiert wurde. Nun, Opfer und Mahl ist ein Vorbild dessen, was wir Kinder des Neuen Bundes an unserem Heiland und seiner Erlösung haben. Mit Recht sagt deshalb das Wort Gottes: wir haben auch ein Passahlamm, das ist Christus, für uns geopfert (1. Kor. 5, 7). Ja, liebe Christen, unser Heiland ist das wahrhaftige Passahlamm, dessen Blut uns rein macht von aller Sünde (1. Joh. 1, 7), von ihrer Schuld und Knecht­ schaft. Und das von ihm bei seiner letzten Passahfeier mit seinen Jüngern eingesetzte Abendmahl ist die rechte Passahmahlzeit, in welcher uns der Heiland seinen am Kreuze für uns ge­ brochenen Leib und sein am Kreuz zur Vergebung der Sünden vergossenes Blut als Speise des neuen Menschen zur geistig­ leiblichen Gemeinschaft mit ihm darreicht. Wir gedenken noch des großen Versöhnungstages. Bei dieser Feier handelt es sich um das Volk in seiner Gesamt­ heit. Wir dürfen eben nicht außer Acht lassen, daß das Volk des Alten Bundes vor Gottes Augen stets als ein Ganzes, als ein Leib dasteht. Gott will eine fromme, geheiligte Gemeinde haben, nicht bloß einzelne fromme Menschen. Das tritt uns deutlich entgegen, wenn wir die Schriften des Alten Testaments lesen. Da erkennen wir es klar, daß was die einzelnen Glieder des Volkes thun, sei es Gutes oder Böses, immer auf das ganze Volk zurückfällt. Besonders auffallend tritt das hervor bei den Sünden der Einzelnen. Als Achan sich an dem Verbannten vergriff, mußte es das ganze Volk büßen (Josua 7). Als David wider Gottes Willen eine Volkszählung vornahm, hatte das ganze Volk darunter zu leiden (2. Sam. 24). Weil nun das Gottesvolk stets als ein Ganzes vor Gottes Augen dasteht, so hat er auch eine gottesdienstliche Handlung angeordnet, durch welche das Volksganze entsündigt werden soll. Diese Handlung geschieht bei der Feier des Versöhnungstages. — Wenn wir Christen uns doch diese Betrachtung allezeit gegenwärtig halten wollten! Aber wir vergessen meist ganz, daß auch wir, die

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Glieder des Neuen Bundes, ein Ganzes bilden, daß die ganze Christenheit ein Leib mit vielen Gliedern, ein Tempel aus vielen Bausteinen ist (1. Kor. 12, 12—27; Eph. 4, 4. 16; Eph. 2, 21; 1. Petr. 2, 5). Würden wir das nicht vergessen, dann würde uns über vieles ein Licht aufgehen, was uns jetzt dunkel und unverständlich erscheint. Der Einzelne kann es oft nicht verstehen, daß der Herr ihm nicht mit seiner Hilfe zur Hand ist, wie er wünscht und erfleht. Er bedenkt nicht, in wie schwere Verschuldung die ganze Christenheit vor dem Herrn geraten ist, und daß diese Verschuldung ihn hindert, so mit seinen Gnadenbezeugungen hervorzutreten, wie er wohl mochte. Wahr­ lich, es thäte not, daß die Christen insgesamt an ihrem Ver­ söhnungsfeste, am heiligen Karfreitag, zu einer allgemeinen Buße sich vereinigten und den Heiland um einen allgemeinen Sündenerlaß anflehten, damit er seine volle Gnade seiner Ge­ meinde auf Erden zuwenden könnte! Der große Versöhnungstag war dementsprechend ein Volks­ bußtag. An demselben verwaltete der Hohepriester selbst das priesterliche Amt. Zuerst entsündigte er sich und seine Familie durch ein Opfer. Darauf opferte er einen Bock für das Volk und trug das Blut dieses Opfertieres in das Allerheiligste vor das Angesicht des daselbst über der Bundeslade zwischen den Cherubim gegenwärtigen Herrn Jehova, sprengte auch siebenmal davon gegen den Deckel der Bundeslade, den Gnadenstuhl und that damit auf Grund dieses Opferblutes Fürbitte für die Ge­ meinde. Darauf folgte noch eine weitere sinnbildliche Handlung. Ein zweiter Bock ward herzugebracht. Auf desselben Kopf legte der Hohepriester seine Hände, indem er ein Sündenbekenntnis im Namen des Volkes ablegte und des Volkes Sündenschuld dem Tiere auflud. Dasselbe wurde darauf von einem Manne in die Wüste zum Asasel getrieben, damit er die gesühnte und vergebene Sündenschuld des Volks dem Verkläger zutrage, auf daß auch er erkenne, sie biete ihm keinen Anlaß mehr zur Be­ schuldigung (3. Mos. 16). Wir sehen, liebe Christen, in dem Versöhnungstag des Alten Bundes ein Vorbild unseres christlichen Karfreitags. Dieser ist so gewiß der Versöhnungstag des Neuen Bundes,

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als unser Heiland der wahrhaftige Hohepriester der gesamten Menschheit ist. Von ihm bezeugt das Wort Gottes: er ist durch sein eigenes Blut einmal in das Heilige (des Himmels) eingegangen und hat eine ewige Erlösung erfunden (Hebr. 9, 12). Was am Versöhnungsfeste des Alten Bundes alle Jahre aufs neue durch den Hohepriester für das Bundesvolk in sinnbildlicher Weise geschah, das ist für die ganze Menschheit durch den Mittler des Neuen Bundes, unsern Herrn Jesus, an zwei Tagen in Wirklichkeit vollbracht worden. Am Tage seiner Kreuzigung hat er das Sühn- und Versöhnungsopfer vollzogen, und am Tage seiner Himmelfahrt hat er den Eingang in das himmlische Allerheiligste vollbracht, wo er mit seiner Fürbitte auf Grund seines Opfers die Sünder vertritt vor seinem himm­ lischen Vater. Auf diesem Thun unseres Hohepriesters beruht unsere Begnadigung, Entsündigung und Rechtfertigung, unsere Wiederaufnahme in die Kindschaft Gottes und in die Bürger­ schaft seines Reiches. O, liebe Christen, laßt uns bußfertig Karfreitag und Himmelfahrttag feiern, damit wir dieser geist­ lichen Güter und Wohlthatcn teilhaftig werden! II. Außer der Festordnung erstreckte sich das gottesdienst­ liche Gesetz im Gottcsstaat des Alten Bundes auch auf die Reinigkeit. Das war eine Reinigkeit für den Gottesdienst. Wer am Gottesdienst des Alten Bundes teil­ nehmen wollte, der mußte diese gottesdienstliche Reinigkeit be­ sitzen. Sie wurde aber verletzt durch einzelne Zustände des leiblichen Lebens. Das sind Zustände, die teils zum Entstehen, teils zum Vergehen des menschlichen Lebens in Beziehung stehen, also auf der einen Seite Zeugung und Geburt und auf der anderen Seite Krankheit und Tod. Durch diese Reinigkeits­ vorschriften sollten die Kinder Israel unaufhörlich hinge­ wiesen werden auf die sittliche Reinheit, welche von den Menschen fortwährend durch die Sünde unterbrochen und zerstört wird. Sie sollten für die Glieder des Alten Bundes eine fortgehende Mahnung zur Buße und zur Bekehrung bilden. Auch durch sie sollte das Bewußtsein der Sündhaftigkeit rege erhalten und die Sehnsucht nach der Erlösung von der Sünde geweckt werden, damit das Volk fähig würde zum Empfang des Heilands.

158 Alle Vorgänge des natürlichen Lebens, die zur Zeugung und Geburt gehören, verunreinigten die Israeliten in gottesdienstlicher Hinsicht. Die gottesdienstliche Reinigkeit mußte nach den gesetzlichen Vorschriften teilweise durch Waschungen, teilweise durch sühnende Opfer wiederhergestellt werden, damit der Ver­ unreinigte wieder Teil und Gemeinschaft am Gottesdienste haben könne. An der gottesdienstlichen Gemeinschaft hing ja auch die Gottesgemeinschaft. Fragt ihr aber, warum die Vorgänge der Zeugung und Geburt verunreinigten, so lautet die Antwort: weil diese Zustände bei den sündhaft gewordenen Menschen mit Sünde befleckt sind. Nicht minder verunreinigten Krankheit und Tod, und auch hierbei mußte die gottesdienstliche Reinigkeit teils durch Wasser­ besprengung, teils durch Opfer erneuert werden. Ganz be­ sonders tritt dies hervor bei derjenigen Krankheit, bei welcher die Todesverwesung schon bei lebendigem Leibe zu Tage kam, bei dem Aussatz. Der Aussatz vereinigt gewissermaßen alle menschlichen Krankheiten, diese Vorläufer des Todes, diese kleinen Tode, in sich. Deshalb nannte das Altertum den Aus­ satz den erstgeborenen Sohn des Todes und die Geißel Gottes. So ist diese Krankheit ein rechtes Bild der Sünde und des Todes. Sie schloß die von ihr befallenen Glieder des Gottesvolks aus der Volksgemeinschaft aus. Auch hier muß ich auf die Frage: warum? antworten: weil dadurch der Abscheu vor der Sünde, als der Ursache der Krankheit und des Todes, geschärft werden sollte. Daraus erklärt sich die scheinbare Unbarmherzigkeit, welche die armen Aussätzigen aus dem Verkehr und Umgang mit den Gesunden ausschied. Nur nach Heilung des Aussatzes konnte der Genesene in die Volks- und Gottesdienstgemeinschaft wieder ausgenommen werden. — Sehen wir schon an dieser Krankheit, wie sehr sie die Glieder des Gottesvolks verunreinigte, so tritt dies noch deutlicher hervor bei dem Tod. Die Berührung eines Toten hatte die stärkste Verunreinigung zur Folge und er­ forderte demgemäß auch die ernsteste Reinigung. Auch dafür besteht kein anderer Grund, als der, daß der Greuel und die Macht der Sünde im Tod in der abschreckendsten Gestalt sich dem Menschen vor Augen stellt. Zur Herstellung der gottes-

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dienstlichen Reinigkeit geschah das Besprengen mit einem Spreng­ wasser, das mit der Asche einer geopferten roten Kuh vermischt war. Wer diese Reinigung verweigerte, ward dadurch der Strafe der Ausrottung aus der Bundesgemeinschaft schuldig. So ist es, liebe Christen, mit der Verschmähung des von der Sünden­ schuld reinigenden Blutes Christi. Sie überliefert den Sünder der Verdammnis, denn sie ist die Verwerfung des einzigen Mittels zur Seligkeit (Hebr. 10, 29). HI. Alle Gebote des Alten Bundes sollten dazu dienen, den Sündenabscheu und das Erlösungsbedürfnis in den Seelen zu erwecken und lebendig zu erhalten. Das haben wir erkannt. Diesen Zweck hatten auch die Speisegebote. Sie machen in Betreff der Fleischnahrung einen Unterschied zwischen reinen und unreinen Tieren (3. Mos. 11; 5. Mos. 14). Unter den Landtieren erklären sie für unrein alle, die nicht Wiederkäuen und deren Klauen nicht durchaus gespalten sind; unter den Wassertieren alle, welche nicht Floßsedern und Schuppen haben; unter den Lufttieren namentlich die Raubvögel; und unter dem Gewürm insbesondere die Schlangen. Wie kommt es doch, daß von dem, was dem Menschen zur Nahrung dient, nur im Tierreich ein solcher Unterschied zwischen rein und unrein gemacht wird, und nicht auch im Pflanzenreich? Der Grund liegt darin, daß das Tierreich dem Menschen näher steht, als das Pflanzenreich, und daß das Tierreich in viel mehr er­ kennbarer und schmerzlicher Weise in die schlimmen Folgen der menschlichen Sünde hineingezogen ist, als das Pflanzenreich. Die ganze Erdennatur ist durch die Sünde der Menschen unter den göttlichen Fluch geraten und seufzt unter dem Todesbann (Röm. 8, 18—23). Um nun die Menschen, die doch aus dieser Natur ihre Nahrung ziehen mußten, hierauf aufmerksam zu machen, sondert Gott einzelnes aus derselben zur Nahrung aus und erklärt das andere für unrein. Ist nun aber die Auswahl der reinen und die Aussonderung der unreinen Tiere im ein­ zelnen eine willkürliche, oder hat sie auch einen tieferen Grund? Ich finde diesen Grund mit anderen darin, daß einzelne Tier­ gattungen Abbilder der menschlichen Sünden und Leidenschaften geworden sind. So sind Schweine und Hunde Abbilder der

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Wollust und Unzucht; Raubtiere Abbilder der Gewaltthätigkeit; Schlangen Abbilder der Falschheit und Hinterlist. Seht, liebe Christen, so sollte auch durch diese Unterscheidung der Wider­ wille gegen die Sünde genährt werden. Diesen Widerwillen sollte auch noch ein anderes Verbot schärfen. Ich meine das, welches den Israeliten den Genuß des Fleisches von gefallenen oder durch Raubtiere zerrissenen Tieren untersagte (2. Mos. 22, 31; 3. Mos. 17,15). In diesem Fleische spiegelt sich die sittliche Unreinheit ab, vor welcher die Glieder des Gottesvolks zurückschrecken sollten. Doch lag diesem Verbot noch ein anderer Grund unter. Es hing zusammen mit dem Verbot des Blutgenusses. Weil aus gefallenen und zerrissenen Tieren das Blut nicht regel­ recht und vollständig ausgeflossen war, war ihr Fleisch den Kindern Israel verboten. Der Blutgenuß war ihnen so streng untersagt, daß auf der Verletzung dieses Verbots die Todes­ strafe stand. Welcher Mensch — so lautet das Gesetz —, er sei vom Hause Israel oder ein Fremdling unter euch, irgend Blut isset, wider den will ich mein Antlitz setzen und will ihn mitten aus seinem Volk rotten (3. Mos. 17, 10). Und fraget ihr, liebe Christen, nach dem Grunde dieses Verbots, so giebt ihn das Wort Gottes in der Hinzufügung: denn des Leibes Leben ist im Blut, und ich habe es euch auf den Altar gegeben, daß euere Seelen damit versöhnet werden, denn das Blut ist die Ver­ söhnung, weil das Leben in ihm ist (3. Mos. 17,11). Weil das Blut zum Versöhnungsmittel dienen soll, deshalb ist sein Genuß verboten. Und zum Bersöhnungsmittel soll es dienen, weil das Leben in ihm ist. Wir haben darüber bereits in früheren Pre­ digten geredet. Nun wissen wir recht wohl, liebe Christen, daß die Speisegebote, wie das ganze Gesetz des Alten Bundes, im Neuen Bunde ihre Geltung verloren haben (Matth. 15, 11; Apg. 10,15). Doch lesen wir, daß auf der Apostelversammlung in Jerusalem beschlossen wurde, den Heiden, welche sich zu Christo bekehrten, zwar nicht das ganze gottesdienstliche Gesetz des Alten Bundes aufzulegen, aber doch das Gebot, daß sie sich enthalten sollten vom Erstickten und vom Blut (Apg. 15, 20). Wir würden irre gehen, wenn wir annehmen wollten, hier sei für

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die Christen ein neues, ewig gültiges Gesetz aufgestellt. Aus dem ganzen Zusammenhang geht vielmehr deutlich hervor, daß es eine vorläufige und vorübergehende Anordnung sein soll für die Christen der damaligen Zeit, die sich aus dem Heidentum zum Christentum gewandt hatten. Die Apostel wollten dadurch einen Anstoß wegräumen, den die aus dem Judentum hervor­ gegangenen Christen am Blutgenuß ihrer Mitchristen nahmen. Das Gebot sollte also dazu dienen, die Gemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen zu erhalten bis auf die Zeit, wo dieser Unterschied in der Christenheit überhaupt seine Bedeutung ver­ loren haben würde. Diese Zeit ist längst da, und wir Christen sind deshalb nicht mehr an jenes Gebot gebunden. Mit dem Aufhören der blutigen Tieropfer hat auch das Verbot des Blut­ genusses seine Geltung eingebüßt. Wenn wir von den Speiseregeln des Alten Bundes reden, bann müssen wir auch der Gelübde gedenken. Es war auch unter dem Volk Israel eine alte Sitte, Gott aus freiem Ent­ schluß, ohne daß er es fordert, etwas zu geben oder zu leisten oder sich eines Genusses zu enthalten,- um sich damit etwa die Hilfe Gottes in einer bestimmten Lebenslage zu erwerben oder um Gott damit für eine von ihm erfahrene Hilfe zu danken. Man unterschied Weihgelübde und Entsagungsge­ lübde. Man konnte dem Herrn eine Person oder ein Besitz­ tum weihen. Der geweihete Mensch wurde dadurch Leibeigner des Heiligtums; das geweihete Tier wurde geopfert; das ge­ weihete Gut fiel dem Tempel zu. Uns gehen hier besonders die Entsagungsgelübde an. Für diese, wenn ein Israelit sich selbst Gott gelobte, oder etwa von seinen Eltern Gott gelobt ward, bestand eine besondere göttliche Verordnung (4. Mos. 6). In dieser war dem Verlobten unter anderem auch vorgeschrieben, daß er sich des Weins und alles starken Getränks enthalte. Ihr fraget: was sollte dieses Gottverlöbnis bezwecken und bedeuten? Wie sich der Verlobte äußerlich von der Welt absonderte und sich wie überhaupt der weltlichen Genüsse so auch des Weinge­ nusses enthielt, so wollte er sich innerlich vor den Befleckungen der Sünde hüten. Was aber im Alten Bunde meist nur für vorübergehende Zeiträume geschah, das sollen wir Christen zeitSchnabel, Predigten.

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lebens üben. Wir begeben uns Gott mit allem, was wir sind und haben zum Opfer, das da lebendig, heilig und darum Gott wohlgefällig ist: das ist unser vernünftiger Gottesdienst (Röm. 12,1). So sind wir, liebe Christen, Verlobte unseres Heilands, die täglich ihr Taufgelübde erneuern, abzusagen dem Teufel, der Welt und dem Fleische, und züchtig, gerecht und gottselig zu leben in dieser Welt (Tü. 2,12). Besondere Gelübde verlangt Gott nicht von uns. Hat er sie schon im Alten Bunde nicht ge­ fordert, so noch weniger im Neuen Bunde. Aber das muß dir gelten, lieber Christ: bringst du Gott ein Gelübde in irgend einer besonderen Lebenslage und es enthält nicht etwa ein Unrecht, daß seine Erfüllung Sünde wäre, so bist du verpflichtet, dein Ge­ löbnis zu halten. Endlich müssen wir bei Betrachtung der Speisegebote noch vom Fasten reden. Das Fasten kommt in allen Religionen vor. Auch im Alten Bunde bestanden göttliche Verordnungen über das Fasten. Das Gesetz des Alten Bundes verstand dar­ unter vornehmlich Enthaltung von Speise und Nahrung, und bestimmte den Versöhnungstag zum allgemeinen Fasttag (3. Mos. 16, 29—31). Doch sollten die Glieder des Gottesvolks nicht meinen, daß sie mit ihrem Fasten die Sünde abbüßen und die göttliche Gnade erwerben könnten. Vielmehr sollte es einerseits eine Handlung der Demütigung und ein Ausdruck der bußfertigen Gesinnung, und anderseits ein Mittel der Selbst­ zucht sein, wodurch der Mensch seine Sündenlust ertötete, sich von der Knechtschaft des Fleisches befreiete und seinen Geist ge­ schickter machte zum Verkehr mit Gott im Gebet. Es kam vor, daß bei Unglücksfällen und Gefahren von Einzelnen oder von Städten oder vom ganzen Volk gefastet wurde. Aber die Pro­ pheten warnten ihre Volksgenossen davor, daß sie ihr Fasten ja nicht als ein an sich schon Gott wohlgefälliges Werk ansehen sollten, und drangen auf die rechte Gesinnung, die sich auch im rechten Verhalten kund geben müsse. Sollte das ein Fasten sein, ruft der Prophet Jesaia, das ich erwählen soll, daß ein Mensch seinem Leibe des Tags übel thue oder seinen Kopf hänge wie ein Schilf oder auf einem Sack und in der Asche liege? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, dem Herrn

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angenehm? Das ist aber ein Fasten, das ich erwähle: laß los, welche du mit Unrecht gebunden hast; laß ledig, welche du be­ schwerest; gieb frei, welche du drängest; reiß weg allerlei Last; brich dem Hungrigen dein Brot; und die, so im Elend sind, führe ins Haus; wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn und entzieh dich nicht von deinem Fleisch (Jes. 58, 5—7). Und seht, das stimmt überein mit dem, was uns Christen der Neue Bund in Bezug auf das Fasten sagt. Er stellt kein Fastengebot mehr auf. Aber er seht voraus, daß auch wir zuweilen uns noch ein Fasten auferlegen. Ist uns doch unser Heiland mit einem vierzigtägigen Fasten in der Wüste vorangegangen! Und er sagt uns: wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer sehen, wie die Heuchler . . . .; wenn du fastest, so salbe dein Haupt und wasche dein Angesicht, auf daß du nicht scheinest vor den Leuten mit deinem Fasten, sondern vor deinem Vater, welcher . . in das Verborgene sieht (Mtth. 6, 16—18) I So haben sich denn die Christen allezeit zuweilen freiwillig Fasten auferlegt und sie hatten dabei keinen anderen Zweck, als den, daß sie dabei ihren Geist freier machen wollten vom Fleische und seinen Lüsten und Begierden und geschickter und williger zum Umgang mit Gott im Gebet. Das eigentliche Fasten für uns, liebe Christen, ist und bleibt aber die stete Mäßigkeit im Essen und Trinken, die Ent­ haltung von fleischlichen Lüsten, welche wider die Seele streiten, und die selbstverleugnende Uebung der Nächstenliebe. Das ist das rechte Fasten im diesseitigen Gottesreiche. Das laßt uns fleißig und ernstlich üben! Amen.

15. Tert: 5. Mos. 4, 5—8.

„Siehe, ich habe euch gelehret Gebote und Rechte, wie mir der Herr, mein Gott, geboten hat, daß ihr also thun sollt im Lande, darein ihr kommen werdet, daß ihr es einnehmet. So be­ haltet's nun und thut's! Denn das wird euere Weisheit und 11*

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angenehm? Das ist aber ein Fasten, das ich erwähle: laß los, welche du mit Unrecht gebunden hast; laß ledig, welche du be­ schwerest; gieb frei, welche du drängest; reiß weg allerlei Last; brich dem Hungrigen dein Brot; und die, so im Elend sind, führe ins Haus; wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn und entzieh dich nicht von deinem Fleisch (Jes. 58, 5—7). Und seht, das stimmt überein mit dem, was uns Christen der Neue Bund in Bezug auf das Fasten sagt. Er stellt kein Fastengebot mehr auf. Aber er seht voraus, daß auch wir zuweilen uns noch ein Fasten auferlegen. Ist uns doch unser Heiland mit einem vierzigtägigen Fasten in der Wüste vorangegangen! Und er sagt uns: wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer sehen, wie die Heuchler . . . .; wenn du fastest, so salbe dein Haupt und wasche dein Angesicht, auf daß du nicht scheinest vor den Leuten mit deinem Fasten, sondern vor deinem Vater, welcher . . in das Verborgene sieht (Mtth. 6, 16—18) I So haben sich denn die Christen allezeit zuweilen freiwillig Fasten auferlegt und sie hatten dabei keinen anderen Zweck, als den, daß sie dabei ihren Geist freier machen wollten vom Fleische und seinen Lüsten und Begierden und geschickter und williger zum Umgang mit Gott im Gebet. Das eigentliche Fasten für uns, liebe Christen, ist und bleibt aber die stete Mäßigkeit im Essen und Trinken, die Ent­ haltung von fleischlichen Lüsten, welche wider die Seele streiten, und die selbstverleugnende Uebung der Nächstenliebe. Das ist das rechte Fasten im diesseitigen Gottesreiche. Das laßt uns fleißig und ernstlich üben! Amen.

15. Tert: 5. Mos. 4, 5—8.

„Siehe, ich habe euch gelehret Gebote und Rechte, wie mir der Herr, mein Gott, geboten hat, daß ihr also thun sollt im Lande, darein ihr kommen werdet, daß ihr es einnehmet. So be­ haltet's nun und thut's! Denn das wird euere Weisheit und 11*

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Verstand sein bei allen Völkern, wenn sie hören werden alle diese Gebote, daß sie müssen sagen: ei, welch weise und verständige Leute sind das und ein herrlich Volk! Denn wo ist so ein herrlich Volk, zu dem Götter also nahe sich thun, als der Herr, unser Gott, so oft wir ihn anrufen? Und wo ist so ein herrlich Volk, das so gerechte. Sitten und Gebote habe, als all dies Gesetz, das ich euch heutiges Tags vorlege?" In dem Herrn, geliebte Christengemeinde! Ja, so ist es in der That, wie Moses in unserem Texte es ausspricht: „das wird euere Weisheit und Verstand sein bei allen Völkern, wenn sie hören werden alle diese Ge­ bote, daß sie müssen sagen: ei, welch weise und verständige Leute sind das und ein herrlich Volk, denn wo ist ein so herrlich Volk, zu dem Götter also nahe sich thun, als der Herr, unser Gott, . . . und das so gerechte Sitten und Gebote hat, als dies Gesetz?" Die Weisheit und Vortrefflichkeit dieses Gesetzes spricht sich aus wie im Sittengebot und in den gottes­ dienstlichen Vorschriften, so nicht minder in demjenigen Teil, den wir das bürgerliche Recht nennen. Darin wird von Gott bestimmt, wie es im gesellschaftlichen, wirt­ schaftlichen und staatlichen Leben der Israeliten her­ gehen soll und welche Einrichtungen und Rechte da bestehen sollen. Wir haben es bereits ausgesprochen, daß die gottesdienst­ lichen Vorschriften noch nicht vollständig ausgeführt werden konnten, so lange das Volk Israel in der Wüste zurückgehalten war. Zur Strafe für ihr ungläubiges und aufrührerisches Verhalten bei der Rückkehr der nach dem Lande Kanaan ent­ sandten Kundschafter war über die Kinder Israel ein vierzig­ jähriges Verbleiben in der arabischen Wüste verhängt worden (4. Mos. 13; 14). Zehnmal, so klagt der Herr Jehova (4. Mos. 14, 22), hatten sie sich bereits gegen ihn aufgelehnt. Nun sollten sie dafür dadurch gestraft werden, daß alle über zwanzig Jahre Alten in der Wüste sterben sollten. Selbst Moses, der Mittler des Alten Bundes, verfällt bei einer späteren Veranlassung diesem Gerichte. Er stand mit dem

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Herrn Jehova in so engem Umgang, daß sein Angesicht von dem­ selben glänzend wiederstrahlte und er genötigt war, dasselbe zu verschleiern, wenn er mit der Gemeinde redete (2. Mos. 34, 29—35; 2. Kor. 3, 7—18). Er hatte es wagen dürfen, vor dem Herrn Jehova eine Sprache zu führen, wie kein anderer sündiger Mensch, denn als der Herr sein Volk um seines ersten Abfalls willen verwerfen wollte, um ihn und seine Nachkommen­ schaft dafür zu seinem Bundesvolk zu machen, da erbot er sich zum stellvertretenden Opfer des göttlichen Zornes und erhielt dadurch dem Volk die göttliche Gnade (2. Mos. 32, 32). Er war der Freund Gottes, mit dem Gott redete von Angesicht zu Angesicht (4. Mos. 12, 8), der das Verlangen an den Herrn Jehova stellen durfte, daß er ihn seine unverhüllte Majestät schauen lasse, und der, wenn ihm der Herr auch das nicht ge­ währen konnte, doch eine außerordentliche Offenbarung des­ selben empfing, in welcher er ihm seinen Namen, das ist: seinen Erlösungsratschluß verkündete (2. Mos. 33, 18—23; 34, 5—7). Dazu war er das Werkzeug gewesen, durch welches der Herr Jehova Wunder über Wunder gethan hatte bei der Befreiung seines erwählten Volks (Psalm 105, 26—42). Und doch konnte es geschehen, daß dieser Mann, den Gott mit seinem ganzen Hause betraut hatte (4. Mos. 12, 7), den er zum Priester, Prophet und König in seinem Volke gemacht hatte, der aber bei all dem doch ein schwaches Menschenkind blieb, einer Ver­ suchung zum Unglauben erlag. Das alte, aus Aegypten aus­ gezogene Geschlecht war während des vierzigjährigen Wüsten­ aufenthaltes ausgestorben, da ereignete es sich, daß das neue Geschlecht ebenfalls einen Aufstand machte, weil sie an Wasser Mangel litten. Und obwohl Moses und Aaron von Gott den bestimmten Auftrag erhielten, Wasser aus dem Felsen zu schlagen, gab sich Moses doch einem ungläubigen Zweifel hin, wenn auch nicht an der Macht, so doch an der Gnade Gottes, den er in der leidenschaftlichen Frage vor der Gemeinde aus­ sprach: ihr Ungehorsamen, werden wir auch Wasser bringen aus diesem Fels?, und den er in einem ungeduldigen zweimaligen Schlagen auf den Fels kund gab. Darauf erging an ihn und Aaron das göttliche Gerichtsurteil: darum, daß ihr nicht an

166 mich geglaubt habt, mich zu. heiligen vor den Kindern Israel, sollt ihr diese Gemeinde nicht in das Land bringen, das ich ihnen geben werde! (4. Mos. 20, 1—12). Nach wenigen Mo­ naten ging dies Urteil zunächst an Aaron in Erfüllung. Er starb auf dem Berge Hor (4. Mos. 20, 23—29). Und Moses, nachdem er noch eine große Thätigkeit entfaltet, dem Volke ernste Vermahnung gethan und ihm Segen und Fluch vorge­ halten hatte, bestieg den Berg Nebo, um „das gute Land" aus der Ferne zu überschauen und starb „nach dem Worte des Herrn", vielleicht nach der rabbinischen Uebersetzung „am Munde Jehovas", das ist: an einem Kusse des Herrn. Der Herr Je­ hova bestattete seinen Leichnam durch den Dienst der Engel (Brief Judä Vs. 9), und hat niemand sein Grab erfahren bis auf den heutigen Tag (5. Mos. 34, 1—8). So schloß die ge­ waltige Wirksamkeit dieses Gottcsmannes, die uns die ersten Bücher der Heiligen Schrift erzählen. Mit Moses war eines der bedeutendsten Rüstzeuge Gottes in der Entwicklungsgeschichte des Reiches Gottes auf Erden vom Schauplatz seiner irdischen Thätigkeit abgetreten. Aber damit stand die Entwicklung dieses Reiches doch nicht füll. Zu derselben gehörte die Einführung des Bundesvolks in das ihm von Gott gelobte Land, und für diese schwierige Aufgabe hatte sich Gott bereits ein anderes Werkzeug ausersehen. Josua ward der Nachfolger des Moses. Erst in diesem verheißenen Heimatlande konnte die Aus­ gestaltung des Gottesstaates zu stände kommen. Das wird uns klar werden, wenn wir in dieser Predigt das von Gott seinem Volke gegebene bürgerliche Gesetz genauer betrachten. Reden wir also jetzt über:

Die Berfassung des Gottesstaates, insbesondere: Das bürgerliche Gesetz, nämlich: 1. die Gesellschaftsregeln, 2. die Wirtschaftsordnung, und 3. die Staatsverfassung.

I. Die Regeln für das gesellschaftliche Leben, die Gott seinem Bundesvolk gegeben hatte, erstreckten sich über

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alle Gebiete des Erdenlebens und enthielten die Anwendung der einzelnen Gebote der zweiten Tafel des Sittengesetzes auf die Beziehungen der Menschen zu einander. Sie bezogen sich zunächst auf die Heiligkeit und Unverletzlichkeit der Person. Sie waren also eine Auseinanderlegung des fünften Gebots. Sie verboten nicht nur den Mord eines Mitmenschen und bedrohten ihn mit der Todesstrafe, sondern dies galt auch vom Diebstahl und Ver­ kauf eines Nebenmenschen (5. Mos. 24, 7). Und dies Verbot bezog sich keineswegs bloß auf die Freien, sondern auch auf die Sklaven, und es schützte sie nicht allein vor dem Morde, sondern auch vor der Mißhandlung, denn es ordnet die Freilassung des Sklaven an, wenn ihn sein Herr um ein Auge oder auch nur um einen Zahn gebracht hat (2. Mos. 21). Diese Regeln verboten die Unterdrückung der Fremdlinge im Lande, denn die Israeliten sollen bedenken, daß sie Fremdlinge in Aegypten gewesen sind. Aufs strengste verboten, sie die Bedrängung der Witwen und Waisen, die Gott in seinen besonderen Schutz nimmt, denn er ist ein Vater der Waisen und ein Richter der Witwen (2. Mos. 22, 21; Psalm 68, 6). In gleicher Weise werden die Tauben und Blinden in Schutz genommen (3. Mos. 19, 14). Es wird untersagt die Verleumdung, der Haß und die Rachsucht und eingeschärft wird die Liebe zum Nächsten, denn es heißt: du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst (3. Mos. 19, 16—18). Die Gesellschaftsregeln richteten das Ansehen der Obrigkeit auf und verboten das Verfluchen und Lästern der obrigkeitlichen Personen (2. Mos. 22, 27). Diesen aber machten sie gerechtes Richten und Regieren zur Pflicht und warnten sie vor Bestechlichkeit, Parteilichkeit und Beugung des Rechts (2. Mos. 23, 6—8). Für solche, die einen Totschlag unversehens begehen, wurden einzelne Freistädte bestimmt, da­ hin sie fliehen dürfen und die ihnen Sicherheit gewährten, bis ihre Sache vor Gericht geschlichtet war (4. Mos. 35, 9 ff.). Ein außerordentlich mildes Kriegsrecht entband diejenigen vom Kriegsdienst, welche ein neu erbautes Haus noch nicht einge­ weiht, einen neu angelegten Weinberg noch nicht geerntet, ein Weib sich anverlobt oder kurz vorher als. Ehefrau genommen.



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ja selbst die, welche ein furchtsames, verzagtes Herz hatten (5. Mos. 20, 5-8). Die Gesellschaftsregeln bezogen sich sodann auf die Hei­ ligkeit und Unverletzlichkeit der Ehe und waren eine Ausführung des sechsten Gebots. Sie verboten alle und jede außereheliche geschlechtliche Vermischung (2. Mos. 22, 15 ; 5. Mos. 22, 22—29), alle Hurerei (5. Mos. 23, 18), allen blutschänderischen Umgang und die Verheiratung von Bluts­ verwandten (3. Mos. 18, 6 ff.), alle widernatürliche Unzucht (3. Mos. 18, 22—23; 20,15—16), endlich allen Ehebruch, denn die Ehe galt als ein heiliger Bund zwischen einem Manne und einem Weibe, als ein Bund, der die beiden Ehegatten nicht nur zu einem Fleisch, sondern auch zu einem Geist, zu einer Seele verschmilzt (1. Mos. 1, 27; 2, 24). Auf der­ artige Vergehungen, wie der Ehebruch, war die Todesstrafe gesetzt (3. Mos. 20,10). Wenn auch das Gesetz die Vielweiberei nicht geradezu verbot, so hatte das denselben Grund, welchen unser Heiland für die Zulaffung der Ehescheidung im Gesetz des Alten Bundes anführt, wenn er zu den Juden sagt: Moses hat euch erlaubt, euch zu scheiden von eueren Weibern von eueres Herzens Härtigkeit wegen; von Anbeginn aber ist es nicht also gewesen (Mtth. 19, 8). Wir wissen es ja, liebe Christen: zu zu ihrer vollen Würde hat e r erst der Ehe verhalfen, indem er die Einehe für einen von Gott gestifteten unauflöslichen Bund erklärte (Mtth. 19, 4—6). Ja, er läßt die Ehe im Worte des Neuen Testaments als ein Abbild der Verbindung darstellen, in welcher er mit seiner Gemeinde auf Erden steht (Eph. 5, 23—32). Das gesellschaftliche Gesetz betraf weiter die Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Eigentums oder Besitzes, und wir sehen in seinen Anordnungen eine Zergliederung des siebenten Gebotes. Es ordnete bei Diebstahl in den meisten Fällen die doppelte Wiedererstattung an (2. Mos. 22, 1—14). Es setzte bei Darlehen an Arme, die unter Verpfändung von Kleidern geschahen, die Rückgabe dieser Pfänder vor Sonnen­ untergang fest (2. Mos. 22, 25—26). Es befahl dem Israe­ liten liebevolle Fürsorge und Hilfeleistung für das Eigentum

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des Nächsten (2. Mos. 23, 4—5), daß er den verirrten Ochsen seines Feindes selbst zurückführe und seinen unter der Last er­ liegenden Esel erleichtere, selbst unter Versäumnis seiner eigenen Arbeit. Es verbot aufs strengste die Beugung des Rechts bei Streitigkeiten (2. Mos. 23, 6—8). Es sorgte für die Armen, indem es ihnen für die Getreide- und Weinernte eine Nachlese sicherte (3. Mos. 19, 9—10). Es verbot die Vorenthaltung des Lohnes der Arbeiter und Taglöhner (3. Mos. 19, 13). Es untersagte allen Betrug (3. Mos. 19, 11), die Anwendung von falschem Maß und Gewicht (5. Mos. 25, 13—16; 3. Mos. 19, 35—36), allen Wucher, der darin bestand, daß der Dar­ leiher von seinen Volksgenossen Zinsen für Darlehen nahm (5. Mos. 23, 20). Auf Grenzverengerung setzte es einen Fluch (5. Mos. 27, 17). Das gesellschaftliche Gesetz erstreckte sich auch auf die dem Menschen unterworfene Tierwelt und zeichnete sich aus durch Einschärfung eines menschlich-gütigen Verhaltens gegen die Tiere (5. Mos. 25,4; 22, 6—7). Es ordnete sogar die Schonung der Obstbäume an (5. Mos. 20, 19—20). Was ersehen wir aus dem allen, liebe Christen? Ich meine: daraus leuchtet deutlich hervor, daß das göttliche Gesetz des Alten Bundes in seinen sittlichen Vorschriften eine würdige Vorstufe des Gesetzes ist, das den Kindern des Neuen Bundes gegeben ist. Wir müssen in der That einstimmen in das Urteil, das in unserem Texte den heidnischen Völkern in den Mund gelegt wird: „woisteinVolk.dassogerechteSitten und Gebote hat, als dieses Gesetz?" Wahrlich, es bezeugt sich selbst als ein von Gott geoffenbartes Gesetz. Doch wollen wir nicht verkennen und ableugnen, daß ihm noch eine gewisse Einseitigkeit anklebt. Seine Bestimmungen er­ strecken sich nur auf die eigenen Volksgenossen, und auf die unter ihnen lebenden Fremdlinge. Sie lassen aber das Verhalten der Israeliten gegen die Angehörigen anderer Völker außer Acht. Darin aber besteht der Vorzug des Gesetzes des Neuen Bundes, daß das, was es seinen Angehörigen für ihr sittliches Verhalten gegen die Nächsten vorschreibt, sich nicht bloß auf die Glieder der christlichen Gemeinde erstreckt, sondern auf alle

170 unsere Mitmenschen. Denket nur an die Erzählung unseres Heilands vom barmherzigen Samariter! Im Neuen Bunde ist die enge Volksgrenze durchbrochen, und darin besteht seine sittliche Erhabenheit über dem Alten Bunde. n. Wenn wir von den Verordnungen reden, welche Gott im Alten Bunde hinsichtlich des Eigentums gegeben hat, dann dürfen wir nicht außer Acht lassen, welches Ackerbau- oder Landwirtschaftsgesetz er erlassen hat. Es war sein Wille, daß sein Bundesvolk, wenn es erst das gelobte Land eingenommen hätte, sein früheres Nomadenleben aufgeben und ein seßhaftes Bauernvolk werden sollte. Der Ackerbau war die geeignetste Beschäftigung für das Volk, das Gott in seine be­ sondere Erziehung genommen hatte. Ist doch die Landwirtschaft, mehr wie Handel, Gewerbe, Wissenschaft und Kunst, eine Glaubensschule. Der Landwirt ist fortwährend auf den Segen angewiesen, der von Oben kommt, und sieht sich ohne Unter­ brechung genötigt, denselben zu erhoffen und zu erbeten im Glauben und Gottvertrauen. Um nun den Ackerbau dem Volke des Alten Bundes zu einer rechten Erziehungsschule für das Himmelreich zu machen, ordnete der Herr Jehova an, daß die all­ jährlichen Wohlthaten, die er ihm durch Segnung des Ackerbaues zuwies, durch besondere Feste gefeiert werden sollten. Das Laubhüttenfest am Ausgang des Jahres war ein Dankfest für die gesamte Jahresernte, besonders für die Obst-, Wein- und Oelernte (5. Mos. 16, 13), das mit Fröhlichkeit begangen werden sollte. Aber auch das Pfingstfest war ein Erntefest, das Fest der ersten Ernte (2. Mos. 23, 16). Es wurde nach Vollendung der Getreideernte begangen (5. Mos. 16, 9—11). Daß diese beiden Feste noch eine andere Bedeutung erhielten, das Laubhüttenfest als Gedächtnisfeier des Wohnens des Volks in Zelten während seines Wüstenaufenthalts, und das Pfingst­ fest als Erinnerungsfeier der Sinaitischen Gesetzgebung, ist euch, liebe Christen, bekannt. Nach der Einnahme des gelobten Landes bekam jede Fa­ milie, mit Ausnahme des Stammes Levi, der den Tempeldienst hatte und dafür den Zehnten als Erbgut erhielt (4. Mos. 18, 21—24), ihr Eigentum an Grund und Boden. Sie trug das-

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selbe zu Lehen von dem Herrn Jehova, welcher der einzige Grundherr war. Deshalb durfte dieser Grundbesitz selbst nicht verkauft werden, sondern nur der Meßbrauch desselben und dieser nur bis zum Halljahr. In demselben fiel auch dieser wieder an den ursprünglichen Besitzer zurück (3. Mos. 25). Das war ein treffliches Mittel, zwei Notständen vorzubeugen, welchen die menschliche Gesellschaft ausgesetzt ist. Es verhinderte die Anhäufung des Grundbesitzes in einzelnen Händen, die Ent­ stehung großer Güter, aber ebenso auch die Besitzlosigkeit und Verarmung. Leider sind diese Uebelstände in späterer Zeit im Gottesvolke durch Uebertretung dieser Vorschriften doch ein­ getreten. Laßt uns jedoch auf die von Gott seinem Volke vorgefchriebene Wirtschaftsordnung noch genauer achten! Nach sechs­ jähriger Benutzung des Feldes sollte ein allgemeines Brach­ jahr eintreten, denn auch das Feld sollte seinen Sabbath haben. Aber, so fragt ihr, liebe Christen, mußte nicht infolge­ dessen Teuerung oder gar Hungersnot entstehen? Ohne Zweifel, wenn nicht Gott die Verheißung gegeben und erfüllt hätte, daß die Ernte des sechsten Jahres eine dreifache sein werde. Das Feierjahr kam auch den Armen zu gut, denn, was von selbst wuchs, das durfte von jedermann eingeheimst werden. Dazu durften auch keine Schulden im Laufe desselben von Gliedern des Volks eingetriebcn, sondern mußten erlassen werden, denn nach Gottes gnädiger Absicht sollte niemand unter seinem Volk Mangel leiden (5. Mos. 15, 1. 4). Solche Israeliten, welche sich zur Leibeigenschaft aus Not verkauft hatten, erhielten im Sabbathjahr ihre Freilassung (5. Mos. 15, 12). Waren dies schon in zeitlicher Hinsicht sehr wohlthätige Einrichtungen, so sollte die ganze Einrichtung des Jahressabbaths dem Gottes­ volk auch geistlichen Segen bringen; sie sollte ihm zur Stärkung im Glauben dienen. Aber wir können doch nicht umhin, zu fragen: brachte sie dem Volk nicht doch auch eine schwere Versuchung zum Müßiggang? Dieser Versuchung wehrte indessen schon die Freigebung der Viehzucht und Jagd. Daneben konnte dieses Jahr zum Bau und zur Herstellung der Häuser und sonstigen Gebäude, wie zur Bereitung der landwirtschaftlichen Werkzeuge

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benutzt werden. Und endlich war es auch dazu bestimmt, daß das Volk und insbesondere die Jugend im Gesetz unterrichtet werde (5. Mos. 31, 10—13). War schon dies siebente Jahr ein Erlaßjahr, so war dies noch in vollständigerem Sinne das Halljahr, welches nach sieben mal sieben Jahren eintrat. Mit diesem schloß sich der Sabbathkreis, der das zeitliche Abbild der ewigen Sabbathruhe im vollendeten Gottesreiche ist, ab. Der Wochensabbath, das Sabbathjahr und das Halljahr dienten dazu, daß die Bürger des Gottesreiches im Alten Bunde sich über die Unruhe und Nichtigkeit des zeitlichen Lebens und Treibens erheben und der Ruhe in Gott nachtrachten sollten. Durch diesen Sabbathkreis wurde der Gedanke an die ewige Ruhe, welche vorhanden ist dem Volke Gottes, gepflegt, und das Verlangen nach der herr­ lichen Freiheit der Kinder Gottes (Röm. 8, 21) genährt. Das ist der religiöse Zweck, welcher dieser Einrichtung zu Grunde liegt. Und dieser Zweck tritt besonders deutlich in der Anord­ nung des Halljahres zu Tage. Das zeigt sich in den Vorschriften, durch welche das Recht der persönlichen Freiheit und das Recht des Privateigentums geschützt wurde. Durch diese Vorschriften wurde den Kindern Israel das Bewußtsein erhalten, daß sie das Eigentum des Herrn Jehova und ein Volk von Brüdern seien, daß sie demgemäß ihren Besitz von Gott zu Lehen trügen und daß sie nicht Knechte der Menschen sein dürften. Deshalb mußten alle im Laufe der Zeit eingetretenen Storungen der ursprünglichen Gottesordnung, welche die Haushaltung Gottes mit seinem Volke beeinträchtigten, und die Ungleichheiten, welche hinsichtlich des Besitzes und der Freiheit entstanden waren, im fünfzigsten Jahre beseitigt werden. Solche Zustände, wie Massenarmut auf der einen und Uebcrreichtum auf der anderen Seite, Rechtlosigkeit der Sklaven und Uebermut der Herren sollten auf die Dauer nicht einreißen im Volke Gottes. Wie göttlich weise erwies sich doch die Einrichtung des Halljahres l Sie war das sicherste Mittel zur Verhütung von gewaltsamen Umwälzungen der Staats- und Gesellschaftsordnung, und die beste Bürgschaft für die bürgerliche Freiheit und Gleichheit. Mit Posaunenschall bliesen die Priester das Halljahr im ganzen

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Lande an. Daher führt es den Namen: Jobeljahr. Dieser Schall rief das ganze Volk gleichsam zur Musterung vor dem Herrn Jehova zusammen, zur Erneuerung des Bundes mit ihm auf den ursprünglichen Grundlagen. Es war das eigentliche Erlaßjahr, der jedermann wieder zu dem Seinen kommen soll (3. Mos. 25, 13), zu seinem veräußerten Erbgut, zu seiner eingebüßten Freiheit. Wir haben bereits erwähnt, daß der Israelit sein Erbgut von Gott zu Lehen hatte. Die Folge davon war, daß er das­ selbe selbst nicht verkaufen, sondern nur die Ernten desselben veräußern durfte. Kam er wieder zu Kräften, so konnte er jederzeit die bis zum Halljahr noch ausstehenden Ernten Wieder­ erstehen. Im Halljahr fiel das verpachtete Gut samt dem dazu gehörigen Haus und Hof an den ersten Eigentümer zurück. — Wohl konnten sich Israeliten bei Verarmung einem Volks­ genossen in Knechtschaft oder Leibeigenschaft verkaufen. Im Halljahr aber gelangte der Leibeigene mit seiner Familie wieder zur Freiheit, und damit war ihm die Möglichkeit gegeben, durch Fleiß wieder zur Selbständigkeit zu kommen. Wer könnte die Wohlthätigkeit dieser Einrichtung verkennen! Doch haben wir dabei etwas zu bedenken. Da das neun­ undvierzigste Jahr bereits ein Sabbathjahr war, so folgten mit dem fünfzigsten Jahr als Halljahr zwei Feierjahre unmittelbar hinter einander. Nicht wahr, liebe Christen, da liegt die Frage nahe: war das nicht des Guten zu viel, war das nicht eine allzu starke Versuchung zum Müßiggang und eine Veranlassung zu Teuerung und Hungersnot? Darauf antwortet Gott selbst seinem Volk: iß dies Jahr, was von ihm selber wächst; das andere Jahr, was noch aus den Wurzeln wächst; des dritten Jahres säet und erntet! (Jes. 37, 30). Dazu wollte der Herr seinem Segen gebieten, daß er im sechsten Jahre Getreide auf drei Jahre machte (3. Mos. 25, 21). Das galt auch für das Halljahr. Aber wir fragen weiter: ist denn diese merkwürdige Wirtschaftsordnung auch vom Volk des Alten Bundes aus­ geführt worden? Gewiß wohl, so lange die Sabbathfeier über­ haupt geübt wurde. In solchen Zeiten jedoch, wo diese Uebung erschlaffte, mag auch das Sabbath- und Halljahr in Vermach-

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lässigung geraten sein. Dann fehlte es allerdings auch nicht, daß solche Mißstände eintraten, wie sie die Propheten schildern in den Worten: wehe boten, die ein Haus an das andere ziehen und einen Acker zum anderen bringen, bis daß kein Raum mehr da sei und sie allein das Land besitzen! (Jes. 5, 8). Dann mußte sich aber auch das Volk dessen gewärtigen, daß der Herr über es hereinbrechen ließ, was er drohte in den Worten des Propheten: siehe, ich gedenke über dies Geschlecht Böses. . ., denn es soll eine böse Zeit sein; zur selbigen Zeit wird man einen Spruch von euch machen: es ist aus, wird man sagen, wir sind verstört; meines Volkes Land wird eines fremden Herrn! (Mich. 2, 2—4). Können wir es verkennen, liebe Christen, daß auch die Anordnung des Halljahres der Erziehungsabsicht Gottes an seinem Volke dienen sollte? Das Halljahr war für dasselbe eine Erinnerung an den ursprünglichen paradiesischen Zustand, in welchem der Mensch in Ruhe und Freiheit sich des Besitzes und Genusses der ihm von Gott geschenkten irdischen Güter erfreute, und zugleich eine Weissagung auf das, was die Er­ lösung bringen wird, ein Vorbild des großen Weltsabbaths, der alle Knechtschaft löst, alle Schuld tilgt, alles Verlorene wieder­ erstattet und ein neues Weltalter heraufführt (Jes. 61, 1—2). Um dies anzudeuten begann das Halljahr am großen Ver­ söhnungstage. Das war eine deutliche Hinweisung darauf, daß das rechte Halljahr der Welt mit dem großen Versöhnungs­ tag des Neuen Bundes eingeführt und durch den alle Lande durchdringenden Posaunenschall der Predigt des Evangeliums eingeleitet wird, bis die letzte Posaune es wirklich bringt (1. Kor. 15, 22; 2. Thess. 4,16). Dahin sollte die Sehnsucht der Kinder des Alten Bundes gehen; dahin geht auch unsere Sehnsucht und wir achten der Aufforderung unseres Heilands: wenn aber solches anfähet, zu geschehen, so sehet auf und hebet euere Häupter auf, darum daß sich euere Erlösung nahet! (Luk. 21,28). HL Es war die Absicht Gottes, daß sein Volk einen Gottes st aat hüben sollte. Das Reich Gottes sollte in der Zeit des Alten Bundes in einem Gottesstaate zur Erscheinung kommen. Ihr fraget: was ist unter einem Gottesstaate zu

175 verstehen? Wenn ein Volk sich unter eine Obrigkeit stellt und sich von dieser regieren läßt, so bildet es einen Staat. Die Verbindung von Obrigkeit und Unterthanen nennt man Staat. Die Spitze der Obrigkeit ist der Regent, gemeiniglich König genannt. Da nun der Herr Jehova selbst der Regent, der König seines erwählten Volkes sein wollte, so war der israelitische Staat ein Gottes st aat. Anders ist es im Neuen Bunde, in dem wir stehen, liebe Christen. Die Gemeinde des Neuen Bundes soll nach Gottes Absicht kein irdisches Staatswesen bilden, sondern sie soll eine rein religiöse, geistliche Gemeinschaft sein, bis der Tag der Wiederkunft des Heilands anbricht, an welchem er den Gottes- oder Christusstaat des Neuen Bundes aufrichtet, in dem seine wahren . Jünger aus allen Völkern der Erde ge­ sammelt sind. Das ist das vollendete Gottesreich, von dem der Gottesstaat des Alten Bundes nur ein schwaches Vorbild war. Wie hat nun Gott seine Regentschaft über sein Bundesvolk geübt? Da er ein unsichtbarer Herrscher ist, so bedurfte er menschlicher Werkzeuge und Stellvertreter. Erst nachdem das Volk Israel aus der Herrschaft des ägyptischen Pharao befreit und unter das ihm von Gott geoffenbarte Gesetz gestellt war, konnte es ein Gottesvolk heißen und so heißt es denn auch von da an Gottes Eigentum und Erbe. Gott führte seine Regentschaft an ihm aus durch seinen Knecht Moses und nach diesem durch dessen Nachfolger Josua. Und erst nach­ dem dieser Josua das Volk in das gelobte Land gebracht hatte, konnte der Gottesstaat sich bilden. Alle Bedingungen zur Bil­ dung desselben waren nun da: ein eigenes Land und ein be­ sonderes göttliches Gesetz. Wenn auch die außerordentlichen Erscheinungen des Herrn Jehova, wie sie seither stattgefunden hatten, von jetzt an seltener wurden, so ließ sich der unsichtbare Regent doch nicht unbezeugt. Insbesondere offenbarte er sich jetzt durch Urim und Thummim. Der Hohepriester trug auf seiner Brust ein Amtsschild, das mit zwölf Edelsteinen besetzt war, auf denen die Namen der zwölf Stämme eingegraben standen. In diesem Brustschild besaß der Hohepriester das Urim und Thummim, das Licht und Recht, aus dem er in allen

176 schwierigen Angelegenheiten des Gottesstaates die Entscheidung des unsichtbaren Königs ersah (2. Mos. 28, 80). Trotzdem traten vielfach ungeordnete gesellschaftliche Zustände, mißliche politische Lagen und mannigfacher Abfall vom wahren Gottes­ glauben und vom geoffenbarten Gesetz ein. Auf solchen Abfall folgten Züchtigungen durch fremde Volker. Wenn die Kinder Israel in solchen Nöten dann ihre Zuflucht zu ihrem Gott nahmen, so erweckte er ihnen aus ihrer Mitte Helfer und Retter, welche unter dem Namen Richter die Regierung im un­ mittelbaren Auftrag des Herrn führten. Der bedeutendste dieser Richter war Samuel. Am Schlüsse dieses mehr denn dreihundertjährigen Zeitraums stellte das Volk an diesen das Verlangen, ihm einen'König zu geben, wie ihn die übrigen Völker hatten (1. Sam. 8). Nun wisset ihr, liebe Christen, daß schon dem Abraham geweissagt war, es sollten Könige aus seinem Samen kommen (1. Mos. 17, 6). Aber jedenfalls hatte es Gott seiner Weisheit Vorbehalten, zu welchem Zeitpunkte er seinem Volke Könige geben wollte. Demnach war die Forde­ rung des Volks gegen seinen Willen und Vorsatz, und deshalb gab er ihm zwar einen König durch Samuel, aber nicht zu seinem Heil. Saul war ein Mann nach dem Sinne des Volks, zwar persönlich höchst ansehnlich, aber trotzig, ungeduldig und ungehorsam, wie es selbst. Ein König nach dem Herzen Gottes erstand dem Volke erst in dessen Nachfolger David, der denn auch den Gottesstaat des Alten Bundes zur vollen Ausgestal­ tung brachte. Für uns, liebe Christen, ist es von größter Wichtigkeit, die Bedeutung und den Zweck des Königtums im Gottesstaat zu verstehen. Zu diesem Verständnis werden wir aber kommen, wenn wir das Königsgesetz näher betrachten, das Gott seinem Volk schon durch Moses gegeben hatte (5. Mos. 17, 14—20). König über Israel darf nur der sein, den Gott selbst, sei's durch Prophetenwort, sei's durch das heilige Los angiebt (1. Sam. 10, 17 ff; 16, 4ff). Er muß ein Glied des Gottesvolks sein, denn aus dem Königsstamm sollte der Heiland hervorgehen. Er darf nicht viele Rosse halten, denn er soll ein Friedensfürst sein. Er darf auch nicht viele Weiber nehmen,

damit er nicht zum Abfall vom Glauben verführt werde. Auch darf er nicht Schätze an Silber und Gold sammeln, denn er soll nicht nach äußerer Prachtentfaltung streben. Er muß endlich eine Abschrift des Gesetzbuches in Händen haben, um nach demselben zu regieren. Merket ihr nicht, liebe Christen, daß das Königtum des Gottesstaates ein ganz anderes sein sollte, als das der heidnischen Völker des Altertums war? Das Volk sollte in seinem König den irdischen Stellvertreter seines himmlischen Königs erkennen. Und der König in Israel sollte ein Vorbild des zukünftigen Königs im Gottesreiche sein, des Messias-Heilands. Wie dessen priesterliches Amt, so mußte auch seine königliche Würde im Gottesstaat des Alten Bundes vorgebildet werden. Wahrlich, auch in der Staatsverfassung des Allen Bundes tritt uns die Vortrefflichkeit des Gesetzes entgegen, die unser Text bezeugt in den Worten: „wo ist ein so herrlich Volk, das so gerechte Sitten und Gesetze habe, als all dies Gesetz?" O, wie segensreich für das Volk und wie förderlich für die Entwicklung des Reiches Gottes hätte sich doch auch das bürgerliche Gesetz des Alten Bundes erweisen können, wenn es in rechter Weise gehalten und gehandhabt worden wäre! Leider aber ist es vom Volk und von seinen Königen fortwährend verletzt und übertreten worden. Trotz­ dem hat Gott auch hier das, was die Menschen böse machten, zum Guten gewandt. Erwuchs doch unter der Not und dem Elend, in welches das Volk Gottes durch seine Schuld geriet, die Sehnsucht nach dem vollkommenen Gottesstaat des Messias­ reiches, den die Propheten verhießen. Und das war es, was Gott erzielen wollte. Amen.

Schnabel, Predigten.

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16. Tert: 5. Mos. 18,17—19. „Der Herr sprach zu mir: ... ich will ihnen einen Pro­ pheten wie du Bist, erwecken aus ihren Brüdern und meine Worte in seinen Mund geben, der soll zu ihnen reden alles, was ich ihm gebieten werde; und wer meine Worte nicht hören wird, von dem will ich es fordern." In dem Herrn, geliebte Christengemeinde! Wir haben das Gesetz des Alten Bundes kennen gelernt und zwar in seiner dreifachen Gestalt, als das sittliche, das gottesdienstliche und das bürgerliche Gesetz. Wir haben erkannt, daß es auf dem wahren Gottesglauben ruht und deshalb auch den Geist der wahren Sittlichkeit atmet. Das zeigt sich vornehmlich darin, daß es die Liebe zu Gott an die Spitze aller seiner Vorschriften stellt: nun, Israel, was fordert der Herr, dein Gott, von dir, denn daß du ihn . . . liebest und ihm dienest von ganzenl Herzen und von ganzer Seele (5. Mos. 10, 12). Davon ist die natürliche Folge die Forderung: du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst (3. Mos. 19, 18). Damit hat es den Höhepunkt der Sittlichkeit erstiegen. Das ersehen wir aus der Antwort unseres Heilands auf die vcrsuchliche Frage des Schrift­ gelehrten: Meister, welches ist das vornehmste Gebot im Gesetz. Sie lautet: du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte, dies ist das vornehmste und größte Gebot; das andere aber ist dem gleich: du sollst deinen Nächsten lieben, als dich selbst! (Mtth. 22, 37—39). Diesem seinem Ausspruch fügt nun der Heiland hinzu: in diesen zweien Geboten hanget das ganze Gesetz und die Propheten. Daß das Doppelgebot die Summe des Gesetzes angiebt, das haben wir erkannt. Wir fragen aber weiter: was ist es mit den Propheten? Diese Frage laßt uns jetzt erwägen und reden über:

179 Das Reich Gottes im Gottesstaat des Alten Bundes, insbesondere Das Prophetentum,

indem wir erörtern:

1. seinen Beruf, und 2. sein Zeugnis. I. Liebe Christen, die Propheten des Alten Bundes sind eine Erscheinung, die dem Gottesvolk eigentümlich ist. Es hat zwar auch unter den heidnischen Völkern von jeher eine ähn­ liche Erscheinung gegeben, Leute, welche behaupteten, die Gabe des Blickes in die Zukunft zu besitzen und zukünftige Ereignisse Vorhersagen zu können. Doch ist zwischen ihnen und den Pro­ pheten des Alten Bundes ein großer Unterschied. Die Pro­ pheten des Alten Bundes sind Werkzeuge der religiösen Offenbarung Gottes. Allerdings er­ streckte sich das, was Gott den Menschen in religiöser Hinsicht offenbarte, der Aufschluß, den er ihnen über seinen Erlösungs­ ratschluß gab, vielfach auf die Zukunft. Insofern sind die Pro­ pheten des Alten Bundes auch Vorhersager. Allein zum guten Teil bezog sich die göttliche Offenbarung auf die Gegenwart. Denket doch an das Gesetz, von dem wir seither gehandelt haben. Der Beruf der. Propheten des Alten Bundes besteht also wesentlich darin, daß sie Werkzeuge der Heilsoffenbarung Gottes sind. Wohl sagten sie zuweilen auch gleich den heid­ nischen Vorhersagern irdische Vorkommnisse voraus. Diese Vorkomninisse bezogen sich jedoch stets auf den göttlichen Heils­ plan und hingen zusammen mit der geschichtlichen Entwicklung des Gottesreiches. Das war bei den Wahrsagereien der heid­ nischen Seher nicht der Fall. Dazu kommt der mit dem Wesen der beiderseitigen Seher zusammenhängende Unterschied, daß die Propheten des Alten Bundes zu ihrem Berufe mit dem Heil. Geist begabt waren. Und das kann von den heidnischen Sehern nicht gesagt werden. Ihre Wahrsagerei beruhte auf einer natürlichen Begabung oder wohl gar auf einer Einwirkung aus dem Reiche der Finsternis. Was der Prophet des Men Bundes dem Volke verkündigen sollte über den Heilsratschluß, das wurde ihm von Gott durch den Heil. Geist mitgeteilt, und das geschah zumeist durch innerliche Eingebung, zuweilen in 12*

180 einem Zustand von Verzückung. Darum ist er ein Sprecher oder Dolmetscher Gottes, ein Herold und Ausleger seiner Offen­ barung, ein Bote, ein Abgesandter oder Engel des Herrn Jehova an sein Bundesvolk, mitunter auch an andere Völker, ja an die gesamte Menschheit. Was muß das für ein Mensch sein, den Gott zum Werkzeug seiner Heilsoffenbarung gebraucht? Ein solcher Mensch muß ohne Zweifel mit Gott in inniger Verbindung und in vertrautem Verkehr stehen. Daß Gott einen ihm fern und fremd gegen­ über stehenden Menschen in solcher Weise verwendet, das kommt nur ganz ausnahmsweise vor. Wir gewahren ein solches Bei­ spiel an Bileam, den Gott zwingt, wider seine Absicht als Seher göttlicher Offenbarung von dem zukünftigen Messias und seinem Reiche zu weissagen (4. Mos. 24, 17). Sonst waren die Propheten gottergebene, geheiligte Persönlichkeiten, mit welchen Gott als mit seinen Freunden verkehren und denen er seine Pläne enthüllen konnte. In diesem Sinne kann schon Abraham als Prophet angesehen werden, denn Gott sagt in Bezug auf ihn: sollte ich Abraham verbergen, was ich thun will? (1. Mos. 18, 17). So nennt Gott die Erzväter überhaupt seine Propheten (Psalm 105, 15). Sind die Propheten Werkzeuge des sich offenbarenden Gottes, kann es uns dann, liebe Christen, wundernehmen, daß sie sich dessen bewußt sind: sie sprechen nicht ihre eigenen Ansichten und Meinungen aus, sondern Gott redet durch ihren Mund? Dies ihr Bewußtsein drücken sie vielfach dadurch aus, daß sie ihre Rede einführen mit dem Ausspruch: der Herr spricht! Sie stehen zu Gott, wie Aaron zu seinem Bruder Moses stand, von dem Gott sagt: er soll dein Mund sein und du sollst sein Gott sein! (2. Mos. 4, 16). In ganz vorzüglichem Sinne war Moses ein Prophet. Von ihm bezeugt Gott: mündlich rede ich mit ihm und er sieht den Herrn in seiner Gestalt, nicht durch dunkle Worte oder Gleichnisse (4. Mos. 12, 8). Was will das sagen? Das soll damit gesagt sein, daß Gott mit ihm nicht in Verzückungen, sondern in wachem Zustande redete, nicht in Gesichten und Träumen, sondern in klaren Worten. Das ist jedenfalls die

181 vollkommenste Weise, in welcher Gott sich Menschen kund giebt oder offenbart. Bei Moses that er es meist aus der Wolken­ umhüllung heraus. Sonst thut er es auch durch Engel, und da ist es insbesondere derjenige, welcher den auszeichnenden Namen führt „der Engel des Herrn" (2. Mos. 34, 5ff; 2. Mos. 3—4). Weil Gott den Moses dieser Offenbarungs­ weise vornehmlich würdigte, so rühmt ihm Gottes Wort nach: es stand hinfort kein Prophet in Israel auf, wie Moses, den der Herr erkannt hätte von Angesicht zu Angesicht (5. Mos. 34, 10). Auf eine Eigentümlichkeit des prophetischen Schauens und Darstellens muß ich euch besonders aufmerksam machen, liebe Christen. Sie besteht darin, daß die Propheten die zukünf­ tigen Ereignisse in der Entwicklungsgeschichte des Gottesreiches, welche sie weissagen, meist nicht getrennt von einander schauen, sondern so, wie man von einem Berge aus die Gegend über­ blickt. Da gewahrt man die zwischen den Bergen liegenden Thäler nicht und die näheren und entfernteren Berge fließen in ein Bild zusammen. So fließt den Propheten in eins zusammen die Erlösung des Vundesvolks aus der babylonischen Ver­ bannung und seine schließliche Sammlung aus allen Völkern der Erde. In gleicher Weise fließt ihnen in eins zusammen die erste Ankunft des Heilands in Niedrigkeit zur Gründung des Gottesreiches und seine zweite Ankunft in Herrlichkeit zur Voll­ endung desselben. Auch das dürfen wir bei den Weissagungen der Propheten nicht außer Acht lassen, daß die Weissagung jedes einzelnen Propheten nur Stückwerk ist. Darauf macht uns der Apostel Paulus aufmerksam (1. Kor. 13, 9), wenn er unser Wissen und Weissagen Stückwerk nennt. Jeder einzelne Pro­ phet sah nur ein Stück, ein Teil von der ganzen Ausführung des göttlichen Ratschlusses, und so ergänzen sie sich unter einander. Höchst bewundernswert ist die großartige Harmonie und Uebereinstimmung, welche in der gesamten Weissagung des Gotteswortes besteht. Und doch verteilt sie sich auf Jahr­ tausende und jeder einzelne Träger derselben hat seine Be­ sonderheit. Daraus ersehen wir, wie die Einwirkung des Heil. Geistes auf die Propheten stattfand. Sie sind nicht bewußt--

182 lose Werkzeuge, deren sich der Heil. Geist gleichsam wie eines Sprachrohrs bediente. Nein, jeder hat seine besondere Darstellungs- und Sprechweise, wie sie seiner Persönlichkeit eigen­ tümlich ist. Meist ist die Sprache der Propheten eine bilder­ reiche und dichterische. Häufig stellen sie das, was sie sagen wollen, in sinnbildlichen Handlungen dar, die sie dann mit ihrer Rede deuten. Sie wollen damit einen tiefen und bleibenden Eindruck auf die Gemüter ihrer Hörer erzielen. Der Prophet Ahia begegnet dem Jerobeam im Felde, zerreißt seinen Mantel in zwölf Stücke und giebt zehn davon dem Jerobeam mit der Erklärung: ich will das Königreich von der Hand Salomos reißen, spricht der Herr, und dir zehn Stämme geben (1. Kön. 11, 29ff.). Der Prophet Jeremia geht mit den Aeltesten in das Thal Ben Hinnom, zerbricht vor ihren Augen einen irdenen Krug und verkündigt ihnen die Zerstörung Jeru­ salems (Jer. 19, 1 ff.). Dem Propheten Ezechiel läßt der Herr sein Weib sterben und er darf darüber nur innerlich seufzen, nicht äußerlich trauern; dabei weissagt er dem Volk den Unter­ gang des Heiligtums, das fein höchster Trost und feiner Augen Lust ist, und daß es darüber einen solchen Schmerz empfinden werde, für den es keine Thränen und Klagen giebt, sondern nur ein Seufzen über die Sünden, welche dieses Unglück verursachen (Ezech. 24, 18 ff.). Ja, der Prophet Hosea muß auf Gottes Geheiß ein Weib ehelichen, das sich sodann als Ehebrecherin erweist, das er aber trotzdem in Liebe an sich ketten und zur ehelichen Treue zurückführen will, — dies alles zum Zeichen, daß der Herr Israel, trotzdem es den Bund mit ihm bricht, liebt und retten will (Hof. 1—3). Es war die Absicht Gottes, daß allezeit Propheten unter feinem Volke auftreten sollten. Diese Absicht sprach er aus in den Worten, welche ich dieser Predigt als Text zu Grunde ge­ legt habe. Sie lauten: „Propheten will ich ihnen erwecken ausihrenBrüdern, wie dubist,und ich will meine Worte in ihren Mund legen, und sie sollen zu ihnen reden alles, was ich ihnen ge­ biete!" In diesem Ausspruch des Herrn Jehova ist die eigentliche und förmliche Einsetzung des Prophetentums im

183 Alten Bunde enthalten. Liebe Christen, ich habe die Worte etwas abgeändert, denn wenn in ihnen auch unzweifelhaft eine Hindeutung auf den zukünftigen Messias als das Haupt und den Gipfel des Prophetentums enthalten ist, so wollen sie doch vor allem besagen, daß das Gottesvolk immer Propheten haben soll. Erhebt sich doch Moses sogar zu dem Wunsche: wollte Gott, daß all das Volk des Herrn weissagte und der Herr seinen Geist über sie gäbe (4. Mos. 11, 29). Wir wissen, daß dieser Gebetswunsch gemäß der Weissagung des Propheten Joel an der ersten Christengemeinde auf das erste christliche Pfingstfest in Erfüllung ging (Joel 3, 1; Apg. 2, 1 ff.). Traten nun auch in der Zeit der Richter schon einzelne Propheten auf, so ist doch erst Samuel der Mann, der ein besonderes prophe­ tisches Amt und einen besonderen Prophetenstand in Israel stiftete. Unter diesem Reformator erwachte im Volk mit dem religiösen Sinn zugleich der prophetische Geist, und zahlreiche Propheten tauchten auf. Diese sammelte Samuel in Vereine zu gemeinschaftlichem Leben. Das sind die Pro­ phetenschulen. Die Mitglieder standen unter einem Vor­ steher und empfingen Unterweisung im Gesetz und Pflege des geistlichen Lebens. Auch wurde in diesen Gemeinschaften die heilige Dichtkunst, Musik und Geschichtschreibung geübt. Aber keineswegs gingen alle Propheten aus denselben hervor. Die bedeutendsten wurden unmittelbar aus ihrem bürgerlichen Be­ rufe zur Prophetenwirksamkeit von Gott berufen. Den Elisa berief der Prophet Elia vom Pfluge weg damit, daß er seinen Mantel über ihn warf. Der Prophet Amos berichtet von sich: ich bin kein Prophet, noch eines Propheten Sohn, sondern ein Hirt . . ., und der Herr nahm mich von der Herde weg und sprach zu mir: gehe hin und weissage meinem Volk Israel (1. Kön. 19, 19; Amos 7, 14). Wir müssen es anerkennen, liebe Christen: das Prophetentum war eine besondere und große Gnadengabe für sein Bundes­ volk. Aber es war auch eine Notwendigkeit, wenn das Bundes­ volk zu einem wahren Gottesvolk erzogen werden sollte. Wenn das von Gott gegebene Gesetz seinen Zweck erreichen und das Reich Gottes in seiner Entwicklung gefördert werden sollte.

184 dann war eine fortgehende unmittelbare Selbstbezeugung Gottes erforderlich. Diese Selbstbezeugung Gottes erfolgte aber nach zwei Richtungen. Die Propheten waren erstlich Wächterdes Gesetzes, welche die Gebote und Vorschriften desselben in allen Lagen des Lebens einzuschärfen, dabei aber den Sinn und Geist dieser Gebote aufzuschließen hatten. Sie waren die von Gott geordneten Gehilfen der Priester und Könige, zugleich aber auch deren Beaufsichtiger. Den vielfachen Verletzungen und Uebertretungen des Gesetzes gegenüber ergab es sich von selbst, daß sie Bußprediger waren. Doch ver­ binden sie mit ihren Bußrufen die evangelische Heilsverkün­ digung, und diese gipfelte in der Verheißung des Mes­ sias und seines Reiches. Damit aber erfüllten sie den anderen Teil ihres Berufes als Werkzeuge der fortlaufenden Offenbarung Gottes. So gilt von ihnen der Ausspruch des Neuen Testaments: Gott hat vor Zeiten manchmal und auf mancherlei Weise zu den Vätern geredet durch die Propheten (Hebr. 1, 1). Wenn sich auch ihre Reden vielfach auf die politischen Ereignisse ihrer Zeit beziehen und sie sich darin als die besten Ratgeber der Könige erweisen, so kehrt ihre Predigt doch stets wieder auf den großen Hauptpunkt zurück, nämlich auf das Reich Gottes und seine dereinstige Vollendung durch den Messias. Wohl stehen wir, liebe Christen, in der Zeit, auf welche sie Hinweisen. Aber auch von uns gilt das Wort: es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden (1. Joh. 3, 2). Noch ist das Reich Gottes in seiner Entwicklung begriffen und seine voll­ endete Herstellung liegt noch in der Zukunft. Deshalb sind die Weissagungen der Propheten des Alten Bundes auch für uns, die Kinder des Neuen Bundes, von größter Wichtigkeit und geradezu unentbehrlich. Manches, was sich auf die der­ einstige Vollendung des Himmelreiches bezieht, ist im Neuen Testament nur so kurz angedeutet, daß es erst sein Licht aus der Weissagung des Alten Testaments empfängt. Dienen schon diejenigen prophetischen Reden, welche die äußeren Schicksale des Volkes Israel und der mit ihm in Beziehung tretenden heidnischen Völker betreffen, uns zur Förderung unseres Ver-

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ständnisses des göttlichen Heilsplanes, so gilt das in noch viel höherem Grade von den eigentlichen Weissagungen über das Messiasreich. Wohl kannst du, lieber Christ, das durch den Herrn Jesus erworbene Heil im Glauben ergreifen und dir zu eigen machen, auch ohne die Geschichte des Reiches Gottes genauer zu kennen. Aber das ist doch gewiß, daß uns erst das volle ganze Licht über den göttlichen Erlösungsratschluß aufgeht, wenn wir den Entwicklungsgang des Gottesreiches auf­ merksam verfolgen und beachten. Deshalb laßt uns achten auf das, was uns von den Reden der Propheten des Alten Bundes schriftlich überliefert ist. Zu dem Ende wollen wir ihre Weis­ sagungen vom Messias und seinem Reiche an unserem geistigen Blicke in kurzem Abriß vorüberziehen lassen. n. Die Erwartung des Messias-Heilands zieht sich wie ein goldener Faden durch das ganze Alte Testament hindurch. Wir sind ja, liebe Christen, in den vorhergehenden Predigten schon einzelnen Weis­ sagungen begegnet, welche das zukünftige Auftreten desselben andeuten. Im Anfang sind diese Andeutungen noch dunkel und unbestimmt. Aber allmählich werden sie immer bestimmter und deutlicher. Der Name „Messias", zu deutsch: der Gesalbte taucht erst ziemlich spät auf in der Weissagung des Propheten Daniel. Aber seine Person und sein Beruf, als des Erlösers und Erretters der Menschen aus der Sünde und ihren schlimmen Folgen, tritt schon gleich nach dem Sünden­ fall der Stammeltern des menschlichen Geschlechts in der Weis­ sagung hervor. Ihr erinnert euch der aus dem Munde Gottes selbst ergehenden Verkündigung des Schlangentreters. Wir haben in diesem den Ueberwinder des Versuchers und Verführers erkannt, der aus dem Menschengeschlecht hervor­ geht und den Kampf des ganzen Menschengeschlechts gegen die Sünde und ihren Urheber zum Siege durchführt (1. Mos. 3, 15). Ihr habt weiter vernommen, daß die Offenbarung Gottes dem Stammvater des Volks des Alten Bundes, Abra­ ham, einen Nachkommen verspricht, durch welchen der S e g e n über alle Geschlechter der Erde kommen wird (1. Mos. 12, 3). Wir kennen diesen Segen: es ist die Erlösung. Wir kennen

186 auch den Erlöser: es ist der Herr Jesus. In ihm und durch ihn hat sich erfüllst, was Gottes Gnade in der Nachkommen­ schaft Abrahams ambahnte: das Heil (Gal. 3, 16). Ihr ge­ denket ferner der Voraussagung des sterbenden Erzvaters Jakob-Israel (1. Mos. 49, 10; Ez. 21, 32). Er schaut im prophetischen Gesicht den „Schilo", den Friedefürsten, welchem die Völker: anhangen werden. Es ist kein anderer, als unser Heiland. — 'Dann tritt vor unser Auge der wunderliche Prophet Bileam, im dem offenbar ein Rest der wahren Gottes­ erkenntnis geblieben war, der aber dieser Erkenntnis für sein sittliches Verholtem keine Folge gab. Eine ihm einwohnende natürliche Sehergmbe benutzt Gott, ihn vorübergehend zu er­ leuchten, daß er dien „Stern aus Jakob" im Geiste er­ blickt und den verrkündigen muß, der das „Szepter aus Israel" führt (-4. Mos. 24, 17). Wir kennen den, welchen er meint: es ist de:r König des Gottesreiches. Von einer andreren Seite zeigt uns die göttliche Offenbarung den Messias, wenm sie dem Moses denselben als den großen „Propheten" vor das prophetische Auge stellt, in dem alle Prophetie sich vereinigen und ihren Höhepunkt erreichen wird. Wir lesen diese Weissagung in unserem Texte: „ich will ihnen ebnen Propheten, wie du bist, er­ wecken aus ihrren Brüdern und meine Worte in seinen Mund geben; der soll zu ihnen reden alles, was ich ihm gebieten werde". Ihr erkennet hieraus: derselbe, welchen die Weissagung vorher als König hingestellt hat, dem führt sie hier als Prophet vor. Mußte er doch nach Gottes Matschluß diese beiden Aemter und Würden, die königliche mnd prophetische, in sich vereinigen, um sein Werk zu vollbrringen. Ja, er mußte zu diesem Zwecke noch eine dritte Würde,, die priesterliche, hinzunehmen. Von der Regiewungszeit des Königs Dabid an erscheint der Messias in der Weeissagung als ein König aus Davids Hause und heißt „Sohm Davids". Dem König David selbst, der ein würdiges Vwrbild des zukünftigen Messias darstellte, geht die göttliche Botschmft durch den Propheten Nathan zu: wenn nun deine Zeit hin isst,.. will ich deinen Samen nach dir erwecken,

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. . dem will ich sein Reich bestätigen, der soll meinem Namen ein Haus bauen, und ich will den Stuhl seines Königreichs bestätigen ewiglich (2. Sam. 7,12—13; vergl. 1. Chron. 17,11—17). Hier mischt sich ein Zweifaches ineinander: die Weissagung, daß Davids nächster Sohn und Nachfolger, Salomo, dem Herrn Jehova einen Tempel bauen soll, und die Ankündigung, daß der dereinstige König des Gottesreiches ein späterer Sohn Davids sein werde. Ihr erinnert euch, liebe Christen, daß unser Heiland einst seine Landsleute fragte: wie dünket euch um Christus (um den Messias), wessen Sohn ist er? Ms sie ihm antworteten: Davids Sohn! legte er ihnen die zum Nach­ denken anregende weitere Frage vor: wie nennt ihn denn David einen Herrn, da er sagt (nämlich Psalm 110, 1): der Herr hat gesagt zu meinem Herrn: setze dich zu meiner Rechten! — so nun David ihn einen Herrn nennet, wie ist er denn sein Sohn? Es wird berichtet, daß ihm niemand antworten konnte. Gott sei es gedankt, daß wir die rechte Antwort kennen, sie lautet: weil er wohl seiner menschlichen Natur nach Davids, aber seiner göttlichen Natur nach Gottes Sohn ist. Eine Ahnung von dieser Doppelnatur des Messias muß wohl schon David gehabt haben. Wie merkwürdig klingen doch die Worte, in die er nach der Eröffnung des Propheten Nathan ausbricht: du hast über das Haus deines Knechts noch voll fernem Zukünftigen geredet und du hast mich angesehen nach Menschenweise, der du in der Höhe Gott der Herr bist, das ist: gleich der Gestalt des Menschen, der droben Gott Jehova ist! Was will er damit anders sagen, als dies: du hast mich angesehen als ein Mensch, der zugleich Gott ist! Seht, liebe Christen, so haben wir hier im Alten Testament ein Zeugnis von der Gottheit unseres Heilands. Aber es ist nicht das einzige derartige Zeugnis. Wir werden noch andere kennen lernen. Bleiben wir zunächst bei denjenigen stehen, welche die Abstammung des Erlösers aus dem Hause Davids bestätigen. Der Prophet Jesaia legt ein solches ab in den Worten: es wird eine Rute aufgehen von demStammeJsai und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen, auf welchem wird ruhen der Geist des Herrn (Jes. 11,

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1—2). Nicht minder deutlich lautet die Weissagung des Pro­ pheten Jeremias: in denselbigen Tagen will ich dem David ein gerecht Gewächs aufgehen lassen und soll Recht und Gerechtigkeit anrichten auf Erden (Jer. 83, 15). Ja, geradezu als einen anderen oder zweiten David bezeichnet die Weissagung den Messias, wenn sie sagt: ich will einen einigen Hirten erwecken, der sie weiden soll, nämlich meinen Knecht D a v i d, der wird sie weiden und soll ihr Hirte sein (Ez. 34,23). Wem, der das hört, fällt da nicht der Ausspruch unseres Hei­ lands ein: ich bin der gute Hirte? (Joh. 10, 12). Eine der merkwürdigsten Bezeugungen der Davidsohnschaft des Heilands liegt uns vor in der Weissagung des Propheten Hosea (3,4—5): die Kinder Israel werden lange Zeit ohne König, ohne Fürsten, ohne Opfer, ohne Altar, ohne Leibrock und ohne Heiligtum bleiben; darnach werden sich die Kinder Israel bekehren und den Herrn, ihren Gott, und ihren König David suchen. Das rechte Licht wirft auf diese Weissagung die Versicherung, die Gott durch den Propheten Ezechiel giebt: ich, der Herr, will ihr Gott sein, aber mein Knecht David soll der Fürst unter ihnen sein, das sage ich, der Herr! (Ez. 34, 24). Dann ist die Zeit gekommen, welche der Prophet Amos beschreibt in den Worten des Herrn: zur selbigen Zeit will ich die zerfallene Hütte Davids wieder auf­ richten . . . und sie bauen, wie sie vor Zeiten gewesen ist (Am. 9, 11). Ihr versteht: die Hütte Davids ist sein Ge­ schlecht, das wieder das Königtum erlangen soll, aber ein größeres, als das erste, das Königtum im Messiasreiche. Wenden wir uns nun zu der Bezeugung der Gottes­ sohnschaft des Messias. Der Prophet Micha verkündet, daß seinAusgang vonAnfangund vonEwigkeit her gewesen ist, und in einem Atem, daß er aus Bethlehem hervorgehen werde, der Davidstadt, er, der in Israel Herr sein soll, König im vollendeten Gottesstaate (Mich. 5, 2). Da haben wir ein Doppelzeugnis, das sowohl die göttliche, als die menschliche Natur unseres Heilands bestätigt. Der Prophet Jesaia nennt den Messias Kraft und Held, was Wohl besser mit „starker Gott" wiedergegeben wird (Jes. 9, 6;

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vergl. 10, 21). In dem prophetischen zweiten Psalm bezeugt der Messias seine Gottessohnschaft mit den Worten: ich will von der Weise predigen, daß der Herr zu mir gesagt hat: du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt! (Psalm 2, 7). Daß wir nicht irren in diesem Verständnis der Stelle, das beweist uns die Deutung, welche dieselbe im Neuen Testament erfährt, wo sie geradezu auf die Gottessohnschaft des Heilands bezogen wird (Hebr. 1, 5). Wir hören den Propheten Maleachi ankündigen: bald wird kommen zu seinem Tempel der Herr, den ihr sucht; der Engel des Bundes, des ihr begehrt! (Mal. 3, 1). Saget selbst: ist hier nicht der Herr und der Bundesengel eine und dieselbe Person, nämlich der Messias? Ich sagte bereits, liebe Christen, daß unser Heiland außer dem prophetischen und königlichen auch das priesterliche Amt verwalten mußte, um die Erlösung zu vollbringen. Die h o h e priesterliche Würde des Messias bezeugt das pro­ phetische Psalmwort in den Worten: der Herr hat geschworen und es wird ihn nicht gereuen: du bist einPricstcrcwiglich nach der Weise Melchisedeks (Psalm 110, 4). Darauf beruft sich das Gotteswort im Neuen Testament (Hebr. 7, 21) und bestätigt dadurch diese Weissagung. Es erklärt uns aber dabei auch, worin das hohepriesterliche Thun des Heilands bestanden hat. Er ist der Hohepriester des ganzen Menschengeschlechts, der durch seinen Opfertod die Sünden­ schuld der Welt gesühnt und Gottes Zorn versöhnt hat, der aber nun seit seiner Himmelfahrt auf Grund seines Opfertodes Fürbitte für die Menschen bei seinem Vater einlegt (Hebr. 7, 24—27). Wir haben die Weissagung von der Person des Mes­ sias kennen gelernt. Laßt uns nun auch dem nachfragen, was sie über Zweck und Bedeutung seines Werks aus­ sagt. Da ist denn von besonderer Wichtigkeit, daß sie ihn als denjenigen beschreibt, welcher den sündigen Menschen die Ge­ rechtigkeit bringt, welche sie entbehren und doch zu ihrer Seligkeit bedürfen. Sie nennt ihn den Herrn, der unsere Ge­ rechtigkeit ist, Jehova Zidkenu (Jöb. 23, 6) und bezeugt zu-

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gleich, daß infolgedessen seine Gemeinde, mit seiner Gerechtigkeit bekleidet, ebenfalls diesen Namen tragen wird (Jer. 33, 17). Wie schön stimmt hiermit, wenn der Prophet Maleachi den Heiland als die Sonne der Gerechtigkeit darstellt, der denen, die auf ihn warten, das Heil bringt (Mal. 4, 2). Sagt uns doch auch das Wort Gottes im Neuen Testament, daß in keinem Andern das Heil und kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben ist, darin wir selig werden sollen (Apg. 4, 12). Darum nennt ihn auch der Prophet Sacharia den Gerechten und den Helfer (Sach. 9, 9). Die Hilfe und das Heil, das der Messias bringt, besteht in Vergebung der Sünden, wie derselbe Prophet bezeugt in den Worten: zu der Zeit wird das Haus David und die Bürger zu Jerusalem einen freien, offenen Born haben wider die Sünde und Unreinigkeit (Sach. 13, 1). Es ist indes noch ein anderes, worin dieses Heil besteht. Neben der Sündenvergebung oder Gerechtigkeit erwirbt er den Menschen auch den Heiligen Geist. Die Sünder bedürfen der Kraft zur Heiligung und die verleiht ihnen der Heil. Geist. Die inhaltreichste Ankün­ digung desselben bringt der Prophet Joel, wenn Gott durch ihn verheißt: nach diesem will ich ausgießen meinen Geist über alles Fleisch (Joel 3,1). Ihr kennet dieses Wort, liebe Christen. Es ist das, auf welches sich am Tage der Ausgießung des Helligen Geistes der Apostel Petrus in seiner ersten Pfingstpredigt berief (Apg. 2, 16—17). Durch diesen doppelten Er­ werb erweist sich der Messias als der Herr, der unsere Gerechtig­ keit ist. Damit geht aber auch in Erfüllung die Verheißung, die Gott dem Propheten Ezechiel in den Mund legt: ich will euch ein neu Herz und einen neuen Geist in euch geben, . . . ich will meinen Geist in euch geben und solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und darnach thun (Ez. 36, 26—27). Nahe liegend ist die Frage: wodurch vollbringt der Mes­ sias dies Große? Die Weissagung antwortet: durch sein dreifaches Amt, insbesondere durch sein Hohepriestertum. Das ist ein M i t t l e r a m t, das durch Opfern voll­ führt wird. Von dem Selbstopfer des Messias weissagt

191 der Prophet Jesaia: fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen . . er ist um unserer Missethat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen; die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Friede hätten und durch seine Wunden sind wir geheilet (Jes. 53, 4—5). Wahr­ lich, liebe Christen, das ist das Evangelium des Alten Testaments, und es empfängt seine rechte Auslegung durch den Ausspruch des Apostels Petrus: Christus hat unsere Sünden selbst hinauf getragen auf das Holz, auf daß wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben (1. Petr. 2, 24). Und wenn der Prophet Jesaia ihn dem Lamme vergleicht, das zur Schlachtbank geführt wird (Jes. 53, 7), so nimmt der letzte der Propheten des Alten Bundes, der unmittelbare Vor­ läufer des Messias, diesen Vergleich wieder auf in seinem Zeugnis: siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt! (Joh. 1, 29) und das Wort Gottes im Neuen Testament bestätigt denselben in der Versicherung: wisset, daß ihr nicht mit vergänglichem Silber oder Gold erlöst seid . . ., sondern mit dem teueren Blute Christi, als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes (1. Petr. 1, 18—19). Durch sein dreifaches Amt richtet der MessiasseinReich,dasReich Gottesauf. Darum richtet sich auf diesen vollendeten Gottesstaat die prophetische Weis­ sagung. Es hat aber das Gottesreich eine innere und äußere Seite, und auf diese beiden Seiten erstreckt sich die Weissagung. Die innere Seite ist das religiöse und sittliche Leben der Bürger des Gottesstaates. Durch sein Versöhnungswerk erwirbt der Messias den Heiligen Geist, und durch diesen Heiligen Geist macht er aus den Gliedern des Gottesstaates solche Leute, die in Gottes Geboten wandeln. Das haben wir bereits durch den Propheten Ezechiel erfahren. Er führt die Zeit herbei, wo das Land voll Erkenntnis des Herrn sein wird, wie das Wasser den Meeresboden bedeckt (Jes. 11, 9). Ja, in solchen Wogen wird das geistliche Leben sich ergehen, daß es von dem Gottesvolk hinüberflutet auch auf die anderen Völker. Wie köstlich klingt doch die bilderreiche Verkündigung der Propheten Jesaia und Micha: es wird zur letzten Zeit

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der Berg, da des Herrn Haus ist, fest stehen, höher denn alle Berge, und über alle Hügel erhaben sein, und werden alle Heiden dazu laufen und viele Völker hingehen und sagen: kommt, laßt uns auf den Berg des Herrn gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, daß er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen. Denn von Zion wird das Gesetz ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem (Jes. 2, 2—4; Mich. 4, 1—3). Diesem inneren Zustand wird nach der prophetischen Aus­ sage auch der äußere Zustand des vollendeten Gottesstaates entsprechen. Die Erde wird mit reicher Fruchtbar­ keit gesegnet sein, denn der Herr verspricht: die Wüste und Einöde wird lustig sein und das dürre Land wird fröhlich stehen und wird blühen wie die Lilien, . . . denn es werden Wasser in der Wüste hin und wieder fließen und Ströme im dürren Land; und wo es trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen; und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein (Jes. 35, 1. 6. 7). Friede soll herrschen in der Menschenwelt, wie derselbe Prophet versichert: da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen, denn es wird kein Volk wider das andere ein Schwert aufheben und werden hinfort nicht mehr kriegen lernen (Jes. 2, 4). Auch in der Tierwelt wird Friede einkehren, wie derselbe Prophet verkündet: die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen und die Pardel bei den Böcken liegen. . ., Kühe und Bären werden an der Weide gehen, daß ihre Jungen bei einander liegen (Jes. 11, 6—7). Die schlimmen Folgen der Sünde sind für die Bürger des vollendeten Gottesreiches aufge­ hoben, wie wieder der Prophet Jesaia weissagt: alsdann werden der Blinden Augen aufgethan und der Tauben Ohren geöffnet werden, alsdann werden die Lahmen löcken wie ein Hirsch und der Stummen Zunge wird Lob sagen. . .; die Erlöseten des Herrn werden . . gen Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein, Freude und Wonne werden sie ergreifen und Schmerz und Seufzen wird entfliehen (Jes. 35, 5—6. 10). Wer gedenkt nicht bei

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dieser Schilderung der leidlosen Glückseligkeit, welche die Bürger des vollendeten Messiasreiches genießen, der Hinweisung auf seine messianische Wirksamkeit, welche der Heiland den Abge­ sandten seines Vorläufers gab: die Blinden sehen, die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein, die Tauben hören, die Toten stehen auf? (Mtth. 11, 5). Und wen mahnet diese Schilderung nicht an diejenige, welche das Gotteswort des Neuen Testaments von der Glückseligkeit im neuen Jerusalem macht in den Worten: und Gott wird abwischen alle Thränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein? (Offb. 21,4). Doch noch eine Stufe höher erhebt sich die Weissagung der Propheten des Alten Bundes. Sie kündigt einen neuen Himmel und eine neue Erde an, welche Gott schaffen will (Jes. 65, 17). Und damit hat sie ihren Gipfelpunkt er­ stiegen, und erst im Neuen Bunde wird der Prophetie ein tieferer Einblick gewährt in diese zukünftige neue Welt, deren Mittelpunkt das Neue Jerusalem bildet, der Schauplatz des zu seiner Vollendung gelangten Gottesreiches (Offb. 21—22). Auf dieses ist die Sehnsucht aller Gläubigen des Alten und Neuen Bundes gerichtet, die Sehnsucht, die jeden Einzelnen seufzen läßt: Jerusalem, du hochgebaute Stadt, wollt' Gott, ich wär in dir! Amen.

17. Tert: 2. Lam. 7, 4. 8—13. „Des Nachts aber kam das Wort des Herrn zu Nathan und sprach: so sollst du nun so sagen meinem Knechte David: so spricht der Herr Zebaoth: ich habe dich genommen von den Schafhürden, daß du sein sollst ein Fürst über mein Volk Israel, und bin mit dir gewesen, wo du hingegangen bist und habe alle deine Feinde vor dir ausgerottet und habe dir einen großen Namen gemacht, wie der Name der Großen auf Erden: und ich will meinem Volk Israel einen Ort setzen, und will es pflanzen, daß es daselbst wohne und nicht mehr in der Irre gehe und es die Schnabel, Predigten.

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dieser Schilderung der leidlosen Glückseligkeit, welche die Bürger des vollendeten Messiasreiches genießen, der Hinweisung auf seine messianische Wirksamkeit, welche der Heiland den Abge­ sandten seines Vorläufers gab: die Blinden sehen, die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein, die Tauben hören, die Toten stehen auf? (Mtth. 11, 5). Und wen mahnet diese Schilderung nicht an diejenige, welche das Gotteswort des Neuen Testaments von der Glückseligkeit im neuen Jerusalem macht in den Worten: und Gott wird abwischen alle Thränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein? (Offb. 21,4). Doch noch eine Stufe höher erhebt sich die Weissagung der Propheten des Alten Bundes. Sie kündigt einen neuen Himmel und eine neue Erde an, welche Gott schaffen will (Jes. 65, 17). Und damit hat sie ihren Gipfelpunkt er­ stiegen, und erst im Neuen Bunde wird der Prophetie ein tieferer Einblick gewährt in diese zukünftige neue Welt, deren Mittelpunkt das Neue Jerusalem bildet, der Schauplatz des zu seiner Vollendung gelangten Gottesreiches (Offb. 21—22). Auf dieses ist die Sehnsucht aller Gläubigen des Alten und Neuen Bundes gerichtet, die Sehnsucht, die jeden Einzelnen seufzen läßt: Jerusalem, du hochgebaute Stadt, wollt' Gott, ich wär in dir! Amen.

17. Tert: 2. Lam. 7, 4. 8—13. „Des Nachts aber kam das Wort des Herrn zu Nathan und sprach: so sollst du nun so sagen meinem Knechte David: so spricht der Herr Zebaoth: ich habe dich genommen von den Schafhürden, daß du sein sollst ein Fürst über mein Volk Israel, und bin mit dir gewesen, wo du hingegangen bist und habe alle deine Feinde vor dir ausgerottet und habe dir einen großen Namen gemacht, wie der Name der Großen auf Erden: und ich will meinem Volk Israel einen Ort setzen, und will es pflanzen, daß es daselbst wohne und nicht mehr in der Irre gehe und es die Schnabel, Predigten.

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194 Kinder der Bosheit nicht mehr drängen, wie vorhin und seit der Zeit, daß ich Richter über mein Volk Israel verordnet habe; und will dir Ruhe geben von allen deinen Feinden; und der Herr verkündigt dir, daß der Herr dir ein Haus machen will. Wenn nun deine Zeit hin ist, daß du mit deinen Vätern schlafen liegst, will ich deinen Samen nach dir erwecken, der von deinem Leibe kommen soll, dem will ich sein Reich bestätigen; der soll meinem Namen ein Haus bauen, und ich will den Stuhl seines Königreichs bestätigen ewiglich." In dem jperm geliebte Christengemeinde! Die letzte Predigt führte uns das Bild vor Augen, welches die Prophetie des Alten Bundes von der Entwicklung und schließlichen Vollendung des Gottesreiches entwirft. Es ist eine wunderbar herrliche Aussicht, welche sie uns eröffnet. Aber freilich, ehe es zu dieser herrlichen Vollendung des Gottesreiches kommen kann, muß das Gottesvolk erst noch eine ernste Erziehung erfahren und eine schwere Kreuzesschule durchmachen. Harte Gottesgerichte werden über dasselbe ergehen um seines Ungehorsams und seiner Wider­ spenstigkeit willen, die cs dem Willen und der Absicht des gnädigen, aber auch heiligen Gottes gegenüber beweist. Auch diese göttlichen Züchtigungen thun die Propheten kund zur Warnung und Mahnung für das Bundesvolk. Wir werden diese prophetischen Wamungen und Mahnungen kennen lernen, und werden erfahren, wie sie ausgenommen worden und wie sie in Erfüllung gegangen sind. Es muß jetzt unsere Aufgabe sein, die Geschichte des Gottesvolks und des Gottesstaates in kurzen Zügen vorzuführen. Wir reden dementsprechend jetzt weiter über

Das Reich Gottes im Gottesstaat des Alten Bundes, insbesondere: Die Blüte deS GotteSstaateS, und betrachten 1. seine Geschichte unter dem König David,

und 2. seine Geschichte unter dem König Salomo. I. Die vorletzte Predigt hat uns, liebe Christen, den Zweck und die Bedeutung des Königtums im Gottesstaat des Alteir

195 Bundes enthüllt. Es war von Gott für sein Bundesvolk ge­ stiftet, daß es den Gottesstaat zu derjenigen Ausbildung und Ausgestaltung brächte, welche unter den bestehenden Verhält­ nissen überhaupt möglich war. Leider haben nur wenige unter denen, welche im Lauf der Jahrhunderte mit der Königswürde im Gottesstaat bekleidet waren, diese ihre Aufgabe begriffen und erfüllt. Von diesen haben wir denn auch vornehmlich zu reden. Wir hatten bereits gesehen, daß gleich der erste dieser Könige keineswegs den Anforderungen entsprach, welche das Königsgesetz in Israel stellt. So viel versprechend auch Sauls Persönlichkeit und der Anfang seiner Regierung war, so stark trat bald sein von Natur eigenwilliges und eigenmächtiges Wesen hervor, mit dem er sich über den göttlichen Willen und Befehl hinwegsetzte. Dafür traf ihn auch das Verwerfungs­ urteil, das ihm Gott durch den Propheten Samuel verkünden ließ. Höret doch diesen merkwürdigen Urteilsspruch, liebe Christen! Er knüpft daran an, daß der König seine Mißachtung der göttlichen Anordnung damit beschönigen wollte, er und das Volk hätten die verschonten Rinder der besiegten Amalekiter zunr Opfer gebraucht, und lautet: meinest du, daß der Herr Lust habe am Opfer gleichwie am Gehorsam gegen die Stimme des Herrn? siehe, Gehorsam ist besser, denn Opfer und Aufmerken besser, denn das Fett von Widdern, denn Ungehorsam ist eine Zauberei­ sünde und Widerstreben ist Abgötterei und Götzendienst (1. Sam. 15, 22—23). Wie tief blickt doch der Prophet und erkennt, daß das Opfer, welches den Mittelpunkt des Gottesdienstes im Alten Bunde bildete, nur dann Wert in Gottes Augen hat, wenn es mit dem Aufmerken auf das Wort Gottes und mit dem Gehorsam gegen den Willen Gottes verknüpft, daß es aber ohne dies wert­ los ist! Wie hoch steht er doch über dem toten Ceremoniendienst! So wenig Saul dem Wesen eines Königs im Gottesstaate entsprochen hatte, um so mehr war dies der Fall bei seinem Nachfolger David. Schon bei seiner Berufung und Salbung giebt sich das zu erkennen in der Erklärung, durch welche Gott den Samuel, der sein Augenmerk auf den stattlichen ältesten Sohn des Bethlehemiten Jsai gerichtet hatte, hierzu anweist:

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ein Mensch siehet, was vor Augen ist, der Herr aber siehet das Herz an (1. Sam. 16, 7) 1 Gott erkennt den frommen Sinn des jungen David, der sich denn sowohl während seiner langen Warte- und Verfolgungszeit, als auch während seiner vierzig­ jährigen Regierung so bewährte, daß ihn die biblische Geschichte als den Mann nach dem Herzen Gottes bezeichnet (1. Sam. 13, 14; Apg. 13, 22). Wahrhaft edel ist sein Ver­ halten gegen den König Saul, der ihn mit glühender Feindschaft verfolgt. Selbst in solchen Fällen, wo dessen Leben in seine Hand gegeben ist, wie das einigemal geschah, und wo seine Freunde ihn reizen, solche Gelegenheit zu seiner Befreiung von seinem Feinde zu benutzen, spricht er: das lasse der Herr ferne von mir sein, daß ich meine Hand legen sollte an den Gesalbten des Herrn (1. Sam. 24, 7)! David wartet geduldig die Zeit ab, wo feine Berufung zum Throne sich verwirklichen soll. Er straft den Amalekiter, der sich vor ihm rühmt, Saul getötet zu haben (2. Sam. 1), wie die Mörder seines Gegenkönigs Jsboseth, eines Sohnes Sauls (2. Sam. 4), und thut an einem anderen zurückgelassenen Sohne seines Vorgängers, an dem lahmen Mephiboseth edelmütige Barmherzigkeit (2. Sam. 9). Erquickend ist seine Freundschaft mit dem Königssohn Jona­ than, und so innig, daß er noch nach dessen Heldentod bezeugt: es ist mir leid um dich, mein Bruder Jonathan, ich habe große Freude und Wonne an dir gehabt, deine Liebe ist mir sonderlicher gewesen, denn Frauenliebe (2. Sam. 1, 26)! Rührend ist seine Liebe selbst zu seinem abtrünnigen und empörerischen Sohne A b s a l o m, den er seinen Kriegsmännern anempfiehlt mit der väterlichen Mahnung: fahret mir säuberlich mit dem Knaben Absalom (2. Sam. 18, 5)! und ergreifend ist sein Schmerz über dessen trauriges Ende, den er ausspricht in der Klage: mein Sohn Absalom, mein Sohn, mein Sohn, wollte Gott, ich wäre für dich gestorben (2. Sam. 19, 1)! Wie demütig beugt er sich unter die schwere Heimsuchung, die Gott über ihn hereinführt durch die Empörung seines Sohnes Absalom, als er aus seiner Hauptstadt fliehen muß und Simei ihn schmäht und schilt und steinigt, er aber seine Begleiter stillt mit den Worten: laßt ihn fluchen, der Herr hat es ihm geheißen (2. Sam. 16,10)! Wohl

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ist an seinem sittlichen Verhalten manches zu tadeln und zu ver­ urteilen. Ich erinnere euch nur an zwei schwere Vergehungen, an seinen Ehebruch mit Bathseba (1. Sam. 28) und an seine offenbar mit gottwidrigen kriegerischen Absichten unternommene Volkszählung (2. Sam. 24). Aber unverkennbar ist daneben sein frommer Glaube, sein redlicher Wille zum Gehorsam gegen Gott und dessen Gesetz, seine Bereitwilligkeit zur Erkenntnis und Bereuung seiner Sünden. Wie schmerzlich bereut er doch sein Vergehen mit Bathseba, nachdem ihn der Prophet Nathan durch das Gleichnis von dem Reichen, der dem Armen sein einziges Schäflein nahm, zur Erkenntnis seiner Sünde gebracht hatte. Das Zeugnis seiner tiefen Reue ist der 51. Psalm mit seinem Geständnis: ich erkenne meine Missethat und meine Sünde ist immer vor mir! und mit seinem Seufzer: Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit; schaff in mir, Gott, ein reines Herz und gieb mir einen neuen gewissen Geist! Wie demütigt sich David auch vor Gott um seiner ungehörigen Volkszählung willen, als die ihm vom Propheten Gad angekündigte Strafe, eine furchtbare Pest, über das Volk hereinbrach, mit dem Gebet: siehe, ich habe gesündigt, ich habe die Missethat gethan, was haben diese Schafe gethan, laß deine Hand wider mich und meines Vaters Haus sein (2. Sam. 24,17)! Höchst rühmenswert ist Davids reger Eifer für die Pflege des Gottesdienstes. Als er Jerusalem zu seiner Residenz gemacht hatte, ließ er sofort die Bundeslade in feier­ lichem Aufzug auf den Berg Zion bringen (2. Sam. 6; 1. Chron. 15—16). Da die Stiftshütte noch in der Priesterstadt Gibeon stand, so ordnete er daselbst den gesetzlichen Gottes- und Opfer­ dienst. Nachdem er sich jedoch auf Zion eine Königsburg er­ baut hatte, beabsichtigte er dem Herrn Jehova einen Tempel zu errichten, erhielt aber durch den Propheten Nathan die gött­ liche Weisung: nicht du sollst mir ein Haus bauen, denn du bist ein Kriegsmann und hast viel Blut vergossen, sondern dein Sohn und Nachfolger wird ein Mann des Friedens sein und der soll meinem Namen ein Haus bauen (2. Sam. 7; 1. Chron. 22. 8—9). Doch ließ er es sich nicht nehmen, alles, was zum

198 Tempelbau nötig war, vorzubereiten: Stein und Holz, Gold, Silber und Erz, dazu die Werkleute (1. Chron. 22). Auch nahm er alsbald eine Neuordnung der Leviten vor für den Dienst am Heiligtum. Er bildete aus Priestern und Leviten 24 Ordnungen oder Klassen, welche die gottesdienstlichen Ver­ richtungen an den hohen Festen gemeinschaftlich, in der übrigen Zeit abwechselnd besorgen mußten (1. Chron. 24). Das war eine Einrichtung, welche noch zu der Zeit bestand, als der Priester Zacharias im Tempel Dienst that und dabei die Engelsbotschaft empfing, daß ihm ein Sohn geboren werden würde, welcher zum Vorläufer des Messias bestimmt sei (Luk. 1, 5ff.). — Sehr zur Verschönerung und Hebung des Gottesdienstes trug jedenfalls eine weitere Anordnung Davids bei. Das war die B i l d u n g von drei Sängerchören aus den Leviten, die abwechselnd thätig sein sollten. Der Gesang war Psalmengesang und wurde von Musik begleitet. David selbst war dichterisch und musikalisch hochbegabt. Er ist der Verfasser vieler geistlicher Lieder, und neben ihm traten noch andere Dichter auf. Die D i ch t k u n st stand im Gottesvolk hauptsächlich im Dienste der Religion. Wie das gesamte Staatswesen im Gottesstaat des Alten Bundes auf die geoffenbarte Religion gegründet war, so sollte auch das ganze Volksleben von der Religion getragen und durchdrungen sein. Die Dichtkunst unter dem Gottesvolk ist ein Echo, ein Wiederhall der göttlichen Offenbarung aus dem Volk heraus. Moses war schon Psalmendichter. Die heilige Dichtkunst er­ reichte aber ihre herrlichste Blüte unter der Regierung Davids und Salomos. Während David die Psalmendichtung pflegte, brachte Salomo die Spruchdichtung zur voll­ kommensten Ausbildung. Die meisten der in der Heiligen Schrift enthaltenen Psalmen werden dem David und die Spruch­ sammlungen dem Salomo zugeschriebcn. Während die Sprüche der Lehrdichtung angehören, sind die Psalmen Ergüsse des frommen, vom Heiligen Geist ergriffenen Gefühls. Aus den Psalmen erkennen wir den Grad und die Stufe des geistlichen Lebens, welches in den Seelen der Dichter sich regte. Und wir müssen gestehen, daß wir bewundernd vor dem Reichtum der Frömmigkeit stehen, die in diesen geistlichen Liedern ihren Aus-

199 druck gefunden hat. Wahrlich, mit Recht sagt unser Luther von den Psalmen: da siehest du den Heiligen ins Herz; daher kommt es auch, daß der Psalter aller Heiligen Büchlein ist, und ein jeglicher, in waserlei Sachen er ist, Worte darin findet, die sich auf seine Sachen reimen und ihm so eben sind, als wären sie um seinetwillen also gesetzt, daß er sie auch selber nicht besser setzen kann noch wünschen mag! Die Psalmen zerfallen in Dank­ oder Loblieder, in Klag- oder Büßlieder, und in Lehrgedichte. Lieber Christ, du kannst mit den Psalmen deine Sündenschuld beklagen, die Gnade und Vergebung Gottes erflehen, Gott deinen Dank zollen und dein Lob opfern, ihm deine Bitten in leiblichen und geistlichen Nöten und Anfechtungen vortragen und alle deine Anliegen und Sorgen in seinen Schoß schütten. Die Psalmen sind das Vorbild unserer christlichen Liederdichtung geworden. Und wir dürfen wohl annehmen: wie unsere evangelische Lieder­ dichtung in und nach der Reformationszeit ein Zeugnis dafür ist, daß in dieser Zeit viel christliche Erkenntnis und Gottseligkeit im evangelischen Volke vorhanden war, so dienen uns auch die Psalmen samt den Sprüchen als Beweis, daß zur Zeit ihrer Entstehung im Volk des Alten Bundes reiches Glaubensleben und tiefe Frömmigkeit lebendig war. — Obwohl die Psalmen hauptsächlich dichterische Bezeugungen der religiösen Erkenntnis und des in den Seelen sich regenden Glaubens sind, so sind doch auch einzelne derselben ausgeprägt prophetischen Charakters. Gedenket des 110. Psalms, der die Verbindung der Königsund Priesterwürde des Messias schildert, und erinnert euch des 22. Psalms, der uns einzelne Züge aus der Kreuzigungsgeschichte unseres Heilands, seine Verspottung, die Verteilung seiner Kleider und seine Gottverlassenheit deutlich vor Augen stellt. Wohl war David ein Kriegsmann. Er hatte viele Kriege zu führen. Aber er hat sie nicht vom Zaun gebrochen und mut­ willig oder aus Eroberungssucht begonnen. Sie wurden ihm aufgedrungen von den Feinden des Reiches Gottes, und sie und die Siege, die ihm Gott verlieh, dienten dazu, den Gottesstaat des Alten Bundes aufzurichten und zu sichern. Nachdem er aber zum Frieden gekommen war, ließ er es seine wichtigste Sorge sein, sein Reich im Innern zu ordnen. Die biblische Geschichte

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berichtet, daß er Gericht und Gerechtigkeit übte unter seinen Unterthanen. Zu diesem Zweck setzte er bewährte Männer, be­ sonders gesetzeskundige Leviten zu Beamten ein, welche Recht sprachen und die Verwaltung führten als Beamte nicht nur des Königs, sondern Gottes. Zum Schutze des Landes und des Volks diente die Heeresordnung, welche David einführte. Und zur Verwaltung seiner Einkünfte aus seinen Landgütern, Oelgärten, Weinbergen und Herden setzte er andere Beamte ein. Kurz, es war ein wohlgeordnetes Staatswesen, welches unter Davids Regierung im Volk des Alten Bundes sich ausbildete. Der angestrebte Gottesstaat des Alten Bundes kam zur voll­ kommensten Ausgestaltung. Jerusalem hatte David zur Hauptstadt des Landes, zur Königsstadt erhoben. Fortan war es der Mittelpunkt desGottesstaates. Die Bedeutung des Namens istStadt des Friedens. Wie bezeichnend ist doch dieser Name für die Hauptstadt des Gottesstaates 1 Auf dem zur Stadt gehörigen Berge Zion baute David seine Königsburg. Zion war deshalb der wichtigste Teil der Stadt, und darum wird auch oft der Name Zion für Jerusalem gebraucht. Beide Namen aber gewinnen seitdem im Sprachgebrauch des Gotteswortes eine höhere Be­ deutung. Wie sie zunächst den Mittelpunkt des Reiches Gottes im Alten Bunde bezeichnen, so bedeuten sie hinfort das Gottes­ reich der Zukunft, das sich zuerst in der Kirche des Neuen Bundes darstellt und schließlich im Neuen Jerusalem zur Vollendung gelangt (Offenb. 21, 2). II. Ihr habt gehört, liebe Christen, daß König David eine große Verheißung empfing. Er empfing sie durch den zu seiner Negierungszeit im Gottesvolk wirkenden Propheten Na­ than. Denket nicht, daß dieser Nathan des Königs Hofprediger gewesen sei. Nein, die Propheten des Alten Bundes standen ganz unabhängig von Menschen da und empfingen ihren Auf­ trag unmittelbar von Oben. Das Prophetentum war ja dazu von Gott bestimmt, das Königtum und Priestertum zu beauf­ sichtigen und zur Befolgung und Aufrechterhaltung des Gesetzes anzuhalten. Die Verheißung, welche David erhielt, teilt uns

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unser Text mit. Sie lautet: „wenn nun deine Zeit hin ist, daß du mit deinen Vätern schlafen liegst, will ich deinen Samen nach dir erwecken, der von deinem Leibe kommen soll, dem will ich sein Reich bestä­ tigen; der soll meinem Namen ein Haus bauen, und ich will den Stuhl seines Königreichs be­ stätigen ewiglich." Diese Verheißung findet in der Folge eine zwiefache Erfüllung. Ihrem vollen Sinne nach geht sie auf den Messias-Heiland. Er ist es, welcher Gott den rechten Tempel auf Erden erbaut, die Gemeinde oder Kirche Jesu Christi, und dessen Königtum ein ewiges ist. Er ist seiner menschlichen Natur nach ein Sprößling aus Davids Familie und führt in der Weissagung den Namen „Sohn Davids". Zu­ nächst jedoch erfüllte sich die Verheißung, welche David zu teil wurde, in seinem Sohne und Nachfolger Salomo. In diesem sehen wir gleichwie in seinem Vater David ein Vorbild des Messias. Darauf deutet schon Salomos Name hin, denn dieser ist zu deutsch: Friedereich. Als Friedefürst hat er denn auch seine Regierung geführt, und er konnte es, denn sein Vater hatte die benachbarten Feinde des Gottesstaates besiegt und dadurch eine Friedenszeit begründet für das Volk Gottes. Daß Salomo seine Stellung im Gottesstaate recht verstehe, auch dafür hatte sein Vater gesorgt, denn er hatte ihm.den Propheten Nathan zum Erzieher gegeben. Dieser gab seinem Zögling den Namen I e d i d j a, das ist Liebling Jehovas. Schon aus diesem Umstand dürft ihr schließen, daß Salomo ein viel ver­ sprechender Nachfolger seines großen Vaters war. Noch deut­ licher aber tritt euch das darin entgegen, daß er beim Antritt der Regierung, als ihm der Herr im Traum erschien und ihm eine Bitte erlaubte, nicht um langes Leben, Reichtum und Kriegsruhm bat, sondern sprach: so wollest du deinem Knechte geben ein gehorsam Herz, daß er dein Volk richten möge. Gott versprach ihm, was er erflehte: ein weises und verständigesHerz, und dazu noch Reichtum und Ehre (1. Kön. 3, 5—14). Am allerdeutlichsten aber offenbart es sich euch, wenn ihr höret, wie Salomo sein erstes Regierungswerk den Bau des Tempels sein läßt, und wie er bei der Tempelweihe in

202 Handlung und Rede als ein von Gottes Geist erleuchteter König sich zeigt, der sowohl seine Stellung, wie auch seines Volkes Beruf im Reiche Gottes wohl begriffen hat (1. Kön. 8, 12ff.). Es unterliegt auch keinem Zweifel, liebe Christen, daß Salomo lange Zeit gut und im Geiste seines Vaters regiert hat. Er war ein hochbegabter Mann und besaß treffliche Re­ genteneigenschaften. Das Staatswesen war unter ihm wohlgeordnet, und das Volk erfreute sich einer seither noch nicht genossenen irdischen Wohlfahrt. Die Bevölkerung wuchs und die Fülle des göttlichen Segens ergoß sich über das Land. Die Regierung und Verwaltung geschah nach dem geoffenbarten Ge­ setz, und die Unterthanen blickten mit Vertrauen und Zufrieden­ heit zum Throne auf. Mit Recht sagt die biblische Geschichts­ schreibung von dieser Salomonischen Periode, daßJudaund Israel sicher wohnten, ein jeglicher unter seinem Weinstock und Feigenbaum (1. Kön. 5, 5). Um so tiefer betrübt es uns, liebe Christen, wenn wir nun wahrnehmen müssen, daß der König Salomo in seiner späteren Regierungszeit das nicht gehalten hat, was er bei seinem Re­ gierungsantritt versprach. Schon daß er an seinem Hofe eine bis dahin unerhörte Pracht entfaltete, und durch den eröffneten Seehandel einen ungewöhnlichen Reichtum ins Land brachte, war nicht das, was einem Regenten im Gottesstaat oblag. Gegen das Königsgesetz verfehlte er sich ferner dadurch, daß er viele und noch dazu ausländische, heidnische Weiber nahm und damit heidnischem Brauch huldigte. Das zog schwere Abweichungen vom Gesetze nach sich. Er duldete und begünstigte die heidnischen Götzendienste seiner Frauen und entfremdete sich dadurch der Liebe zu Jehova und dem Gehorsam gegen dessen Gesetz (1. Kön. 11, 1—8). Er führte damit den Abfall vom geoffenbarten Glauben und Gesetz, die Abgötterei und das Heidentum geradezu im Gottesstaate ein und begründete dadurch dessen Untergang. Ob er in seiner Verblendung bis an sein Ende verharrt ist? Diese Frage drängt sich uns unwillkürlich auf. Wir können es uns kaum denken. Zwar berichtet die biblische Geschichte nicht ausdrücklich eine Umkehr in des Königs Gesinnung und Hand­ lungsweise. Allein wenn Gott durch den Mund des Propheten

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Nathan schon dem David in Bezug auf seinen Sohn Salomo eröffnen ließ: wenn er eine Missethat thut, will ich ihn mit Menschenruten und mit der Menschenkinder Schlägen strafen, aber meine Barmherzigkeit soll nicht von ihm entwandt werden, wie ich sie entwandt habe von Saul (2. Sam. 7, 14—15): — so dürfen wir darauf doch Wohl die Hoffnung bauen, daß Gott -en Salomo noch vor seinem Ende hat zur Besinnung, zur Buße und Umkehr kommen lassen. Sollten wir nicht in dem Buch der Heiligen Schrift, welches unter dem Titel „der Prediger" dem König Salomo als dem Verfasser zugeschrieben wird, ein Zeug­ nis seiner schließlich wieder gewonnenen Erkenntnis von der Eitelkeit, das ist von der Verkehrtheit und Sündlichkeit seines Thuns während der Zeit seiner Verirrung haben? Wir sind hiermit auf eine besondere Begabung Salomos gekommen, welche ihm zu teil geworden war. Es war eine dichterische Begabung, wie sie sein Vater in so hohem Grade besessen hatte. Während aber David sich in der dichterischen Aussprache seines religiösen Gefühls hervorthat, so war es bei seinem Sohne dielehrhafteSpruchdichtung.in welcher er sich auszeichnete. Zwar sagt uns die biblische Geschichte, daß auch er über tausend Lieder verfaßt habe, aber die Heilige Schrift bietet uns unter Salomos Namen außer zwei Psalmen nur ein Lied dar, das „Hohe-Lied", welches unter dem Bilde bräutlicher Liebe die Verbindung des Herrn Jehova mit seinem Volke schildert, wie sie der Herr selbst durch seinen Pro­ pheten Hosea beschreibt in den Worten: ich will mich mit dir verloben in Ewigkeit; ich will mich mit dir vertrauen in Gerech­ tigkeit, in Gnade und Barmherzigkeit; ja, im Glauben will ich mich mit dir verloben und du wirst den Herrn erkennen (Hos. 2, 21—22). Ihr wisset, liebe Christen, daß diese Verbindung des Herrn Jehova mit dem Volk des Alten Bundes ein Vorbild der Verbindung unseres Heilands mit seiner Gemeinde ist. Nun, das giebt uns Christen das Recht, das Hohelied auch auf diesen Bund zu deuten. Die hauptsächlichste dichterische Kraft Salomos giebt sich indes in seinen Sprüchen zu erkennen. Das sind goldene Aepfel auf silbernen Schalen (Spr. 25, 11). Es sind jedoch nicht eigentliche Sprichwörter, wie sie das Volks-

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leben, die Weisheit auf der Gasse hervorbringt, sondern es sind Lehrsätze, welche eine große, durch reiche Lebenserfahrung er­ worbene Weisheit, und zwar eine auf der geoffenbarten Religion beruhende Lebensweisheit aufstellt. Von den dreitausend Lebensregeln, welche Salomo verfaßte (1. Kön. 4, 32) sind uns die kernhaftesten in dem Buche der Heiligen Schrift aufbewahrt, welches ihr unter dem Titel „Sprüche Salomos" kennet. Sie zeigen uns noch heute den Weg, den wir wandeln müssen, um zu vermeiden die Stricke des Todes unterwärts und um zu gelangen zu dem Anschauen des ewigen Lichts überwärts. Wohl uns, wenn wir sie uns zu solchem Wegweiser dienen lassen! Wir haben noch ein Lehrgedicht in der Bibel, liebe Christen, und zwar ein solches von hervorragender Bedeutung: ich meine „ d a s B u ch H i o b ". Da nun der König Salomo eine so be­ deutende Begabung als Lehrdichter besaß, so könnten wir wohl auf die Vermutung kommen, daß er der Verfasser desselben sei. Der gotterleuchtete Verfasser dieses Gedichts, das sich wohl auf ein geschichtliches Ereignis aus der Zeit der Erzväter gründet, behandelt eine der wichtigsten Fragen, welche es für uns Menschen giebt, die Frage: wie verhält sich das irdische Geschick der Menschen, wie verhält sich insbesondere das Leiden der Frommen zur göttlichen Gerechtigkeit? Das ist die schwierige Frage, von welcher der Psalmdichter Assaph sagt, daß er fast darüber gestrauchelt wäre, denn es verdroß ihn, daß es den Gottlosen so wohl ging, daß es den Anschein gewann, als ob ihr Frevel wohlgethan, und als ob seine eigene gerechte Sinnes­ und Handlungsweise umsonst sei. Er erklärt: ich gedachte ihm nach, daß ich es ergreifen möchte, aber es war mir zu schwer, bis daß ich ging in das Heiligtum Gottes und merkte auf ihr Ende, ein Ende mit Schrecken. Darum bekennt er dem Herrn: dennoch bleibe ich stets an dir! (Ps. 73). Während sich demnach der Psalmist dieser Frage gegenüber damit tröstet, daß das Glück der Gottlosen von keiner Dauer sei, löst sie das Buch Hiob damit, daß es die Leiden der Frommen als Prüfungs- und Er­ ziehungsmittel in der Hand Gottes darstellt. Gott will durch dieselben den Frommen prüfen, ob seine Frömmigkeit auch lauter und beständig sei; und zugleich will er durch dieselben

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den Frommen erziehen, ihn von seinen Fehlern reinigen und in seiner Heiligung fördern. Wenn auch Salomo nicht der Verfasser dieses inhaltreichen Lehrgedichts ist, so werden wir doch nicht irren, wenn wir annehmen, daß es in seinem Zeitalter ent­

standen ist. Wir haben angenommen, daß zu der Zeit, als die Psalm­ dichtung in Blüte stand, das Glaubensleben im Gottesvolk sich kräftig geregt habe. Ich denke, liebe Christen, ein ähnlicher Schluß ist uns gestattet, wenn wir die Spruch- und Lehrdichtung ins Auge fassen. Die sittliche Lebensauffassung, welche sich in dieser ausspricht, ist gewiß nicht bloß das Eigentum Einzelner gewesen, sondern wir dürfen die religiöse und sittliche Ge­ sinnung, aus welcher sie entsprossen ist, bei vielen Volksgenossen voraussetzen. Daraus erkennen wir, daß die Tugendhaftigkeit und Rechtschaffenheit mit dem Glauben und der Gottseligkeit im Verein sich entwickelt und entfaltet hat. Wenn es aber zu einem regen Glaubensleben und ernstem Heiligungsstreben in einem Volke kommen soll, dann muß die Uebung des Gottesdienstes eifrig gepflegt werden. Da­ für hatte schon König David Sorge getragen, und dafür sorgte auch, wenigstens in der ersten und guten Zeit seiner Regierung, sein Sohn Salomo. Dieser that es vornehmlich durch den Bau des Tempels. Der Tempel hatte für das Volk des Alten Bundes deshalb eine so hohe Bedeutung, weil in und an ihm der gesamte Gottesdienst vollzogen wurde. So hatte es Gott im Alten Bunde gewollt und angeordnet. Im Volksheiligtum, an­ fänglich in der Stiftshütte, später im Tempel, wollte er nach seiner Verheißung seine Wohnung nehmen. Hier sollte die be­ vorzugte Stätte seiner Offenbarung auf Erden sein, und sie ist es auch gewesen bis zur Zerstörung des Tempels. Zum Platz für den Tempel hatte König David den Berg Morija auser­ sehen (2. Chron. 3, 1). Das war der Berg, auf welchen vor Zeiten Abraham sich begeben hatte, um den Befehl des Herrn, seinen Sohn Isaak zu opfern, zu vollziehen, und auf welchem sich dann der Herr ein anderes Opfer ersah. Davon erhielt dieser Berg seinen Namen „der Herr siehet" (1. Mos. 22, 14). Der Tempel wurde nach dem Muster der Stiftshütte erbaut,

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welche Moses nach dem himmlischen Vorbild hatte errichtet, das ihm der Herr auf dem Berge Sinai zeigte (2. Mas. 25, 9; Hebr. 8,5). Obwohl der Tempel die doppelte Größe der Stifts­ hütte erhielt, so war dies doch keine hervorstechende Größe. Aber dessen bedurfte es auch nicht, weil der Gottesdienst, der darin geschah, nur von den Priestern vollzogen wurde. Das Volk hatte keinen Zutritt zu demselben. Er war geteilt in das größere H e i l i g e, in dem der goldene Nauchaltar, zehn goldene Leuchter und eben so viele goldene Schaubrottische ihre Ausstellung hatten, und in das kleinere Allerheilig st e, in welchem die beiden goldenen Cherubim standen, unter deren ausgebreiteten Flügeln die Bundeslade mit den Gesetzestafeln und dem Sühn­ deckel ihren Platz hatte. Dies Allerheiligste war durch eine Thüre und einen Vorhang verschlossen und nur dem Hohepriester am Versöhnungsfeste zugänglich. Gedenket daran, liebe Christen, daß dieser Vorhang bei dem Eintritt des Todes unseres gekreuzigten Heilands in zwei Stücke zerriß von oben an bis unten aus (Matth. 27, 51). Ihr wisset, daß dies geschah zum Zeichen dafür, daß durch den Opfertod des Herrn Jesus den bußfertigen Menschen der Zugang zum Gnadenthron Gottes geöffnet ist (Nöm. 5, 2). Vor dem Eingang des Tempels war eine Vorhalle mit zwei kupfernen Säulen, welche die Namen „Jachin und Boas", das ist: Festigkeit und Stärke führten. Den Tempel umgaben zwei Vorhöfe, deren äußerer dem zum Gottesdienst versammelten Volke und deren innerer den den Gottesdienst, insbesondere den Opferdienst vollziehenden Priestern zum Aufenthalt diente. In letzterem befand sich zu dem Ende der Brandopferaltar und das eherne Meer zum Waschen für die Priester. Bei der hohen Bedeutung, welche der Tempel für das Gottesvolk hatte, ist es für uns, liebe Christen, von Wichtigkeit, wie der König Salomo diese Bedeutung in seiner Weiherede er­ klärte (1. Kön. 8, 27 ff.). Es ist nicht ein Raum, der Gottes unendliches Wesen in Wirklichkeit einschließen kann, denn selbst aller Himmel Himmel vermögen nicht ihn zu fassen. Es ist nur die irdische Offenbarungsstätte Gottes, wie der Himmel seine überirdische Offenbarungs-

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stätteist. Hier will er sich von seinem Bundesvolk finden lassen, dessen Gebete erhören und dessen Opfer gnädig berücksichtigen. Die G e s ch i ch t e d e s T e m p e l s ist eng mit der Geschichte des Volkes Israel verwachsen. Kaum hatte sein Erbauer die Augen im Tode geschlossen, so hörte er schon auf, das Heiligtum für das ganze Volk zu sein, und nur noch ein Teil desselben verrichtete in ihm seinen Gottesdienst. Je mehr dann auch dieser Teil des Volks sich dem heidnischen Götzendienst hingab, desto mehr verödete der Tempel, bis er bei der Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar in Flammen aufging. Nach der babylo­ nischen Gefangenschaft wurde zwar ein anderer Tempel gebaut und dieser ward kurz vor der Geburt des Heilands mit großer Pracht umgebaut, aber auch dieser ging bei der Eroberung Jerusalems durch Titus zu Grunde. Ob es noch zur Errichtung eines dritten Tempels in der Zukunft kommen wird? Der Pro­ phet Ezechiel weissagt ausführlich von einem Zukunftstempcl, und es ist unverkennbar: seine Weissagung geht weit über das hinaus, was der nach der babylonischen Gefangenschaft erbaute Tempel war. Aber ich zweifle nicht, liebe Christen, daß diese Weissagung geistlich zu verstehen ist. Sie bezieht sich auf die christliche Kirche, welche der auf dem Grunde der Apostel und Propheten und auf dem Eckstein Jesus Christus errichtete Tempel des Herrn ist, eine Behausung Gottes im Geiste (Eph. 2, 20—22). Und zwar hat der Prophet die Endgestalt der Kirche Jesu Christi vornehmlich im Auge, wie sie nach der schließlichen Bekehrung des Volkes Israel sich darstellen und wie sie in dem Buche der Offenbarung uns vor Augen gestellt wird (Offenb. 14, 1—5). Ein rechter Gottestempel ist nur ein solcher, in welchem Gott in gnädiger Herablassung wohnt. So war es im Jerusalemitischen Tempel, in welchem der Herr Jehova zwischen den Cherubim des Allerheiligsten über der Bundeslade thronte. So war es mit dem Leibe unseres Heilands, den er selbst als einen Tempel bezeichnet (Joh. 2, 19), weil die Fülle der Gott­ heit in ihm leibhaftig wohnte (Kol. 2,19). So ist es mit dem wahren Christen, der ein Tempel Gottes, des Heiligen Geistes sein soll (1. Kor. 6, 19). So ist es mit der Kirche oder Ge­ meinde Jesu Christi, welcher er die Verheißung gegeben hat:

208 siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende (Matth. 28, 20) und welche ist sein Leib, nämlich die Fülle dessen, der alles in allen erfüllet (Eph. 1, 23). So wird es endlich auch sein mit dem vollendeten Gottesreiche im Neuen Jerusalem, das eine Hütte Gottes bei den Menschen genannt wird, weil Gott darin wohnt (Offenb. 21, 3). — Möge der Heilige Geist uns alle zu Gottestempeln weihen und uns die Bürgerschaft verleihen im Tempel des Gottesreiches! Amen.

18. Tert: Äesaia 5,1—7.

„Wohlan, ich will meinem Lieben singen ein Lied meines Geliebten von seinem Weinberg. Mein Lieber hat einen Wein­ berg an einem fetten Ort, und er hat ihn verzäunet, und mit Steinhaufen verwahrt, und edle Reben drein gesenkt. Er bauete auch einen Turm drinnen und grub eine Kelter drein, und wartete, daß er Trauben brächte, aber er brachte Herlinge. Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen mir und meinem Weinberge. Was sollte man doch mehr thun an meinem Weinberge, das ich nicht gethan habe an ihm? Warum hat er denn Herlinge gebracht, da ich wartete, daß er Trauben brächte? Wohlan, ich will euch zeigen, was ich meinem Weinberg thun will. Seine Wand soll weggenommen werden, daß er verwüstet werde, und sein Zaun soll zerrissen werden, daß er zertreten werde. Ich will ihn wüste liegen lassen, daß er nicht geschnitten, noch gehackt werde, sondern Distel und Dornen darauf wachsen, und will den Wolken gebieten, daß sie nicht drauf regnen. Des Herrn Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Wir sahen im Davidisch-Salomonischen Zeitalter den Gottesstaat zu seiner herrlichsten Ausbildung gelangt. Wir sahen dabei, welche her­ vorragende Aufgabe bei dieser Ausgestaltung des Gottesstaates

208 siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende (Matth. 28, 20) und welche ist sein Leib, nämlich die Fülle dessen, der alles in allen erfüllet (Eph. 1, 23). So wird es endlich auch sein mit dem vollendeten Gottesreiche im Neuen Jerusalem, das eine Hütte Gottes bei den Menschen genannt wird, weil Gott darin wohnt (Offenb. 21, 3). — Möge der Heilige Geist uns alle zu Gottestempeln weihen und uns die Bürgerschaft verleihen im Tempel des Gottesreiches! Amen.

18. Tert: Äesaia 5,1—7.

„Wohlan, ich will meinem Lieben singen ein Lied meines Geliebten von seinem Weinberg. Mein Lieber hat einen Wein­ berg an einem fetten Ort, und er hat ihn verzäunet, und mit Steinhaufen verwahrt, und edle Reben drein gesenkt. Er bauete auch einen Turm drinnen und grub eine Kelter drein, und wartete, daß er Trauben brächte, aber er brachte Herlinge. Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen mir und meinem Weinberge. Was sollte man doch mehr thun an meinem Weinberge, das ich nicht gethan habe an ihm? Warum hat er denn Herlinge gebracht, da ich wartete, daß er Trauben brächte? Wohlan, ich will euch zeigen, was ich meinem Weinberg thun will. Seine Wand soll weggenommen werden, daß er verwüstet werde, und sein Zaun soll zerrissen werden, daß er zertreten werde. Ich will ihn wüste liegen lassen, daß er nicht geschnitten, noch gehackt werde, sondern Distel und Dornen darauf wachsen, und will den Wolken gebieten, daß sie nicht drauf regnen. Des Herrn Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Wir sahen im Davidisch-Salomonischen Zeitalter den Gottesstaat zu seiner herrlichsten Ausbildung gelangt. Wir sahen dabei, welche her­ vorragende Aufgabe bei dieser Ausgestaltung des Gottesstaates

209 dem Königtum zugefallen ist. Wir haben aber auch wahrge­ nommen, wie schwach selbst die vornehmsten menschlichen Werk­ zeuge sind, deren sich Gott bei der Ausführung seines Heilsplans bedient und bedienen muß. David und Salomo waren un­ streitig die besten Könige, welche das Volk des Alten Bundes regiert haben. Und doch bei all dem, welche Schwächen mußte Gott auch bei diesen Männern mit in den Kauf nehmen. Giebt uns schon diese Wahrnehmung Veranlassung, die Geduld und Gnade Gottes zu bewundern, welcher trotz dem Widerstreben der Menschen und trotz der sündigen Schwäche seiner Werkzeuge doch seinen Heilsratschluß durchführt und sein Erlösungsziel erreicht, so wird uns die weitere Betrachtung der Geschichte des Gottes­ staates hierzu noch stärkeren Anlaß bieten. Im Verlauf seiner weiteren Geschichte tritt der Gottes­ staat in Berührung mit den großen Weltreichen, welche nach einander auftraten. Diese Weltreiche, in welchen sich die Weisheit und Macht der natürlichen Menschheit zusammenfaßte, waren die natürlichen Feinde des Gottesstaates. Und daß derselbe teils mit ihnen in Bündnisse sich einließ, teils sie zu bekriegen sich unterfing, führte schließlich seinen Untergang herbei. Dieser Weltreiche sind es besonders fünf, welche ich euch nahmhaft machen muß. Das erste war das assyrische Weltreich mit der Hauptstadt Ninive. Sein Hauptbegründer war Salmanassar. Als zweites trat an seine Stelle das babylonische Weltreich mit der Hauptstadt Babylon, und ihr Name tritt seitdem in der Geschichte des Reiches Gottes als Bezeichnung der Weltstadt gegenüber der Gottesstadt Jeru­ salem auf. Der Hauptherrscher dieses Reiches war Nebukadnezar. Diesem folgte als drittes das medisch-persische Weltreich, dessen Stifter Cyrus ist, den die biblische Ge­ schichte Kares nennt. An seine Stelle trat dann das griechisch-macedonische Weltreich, das von Alexander dem Großen begründet wurde, und nach dessen frühem Tode sich in vier Königreiche teilte, von welchen das syrische unter dessen König Antiochus Epiphanes in so hervor­ ragender Weise in die Geschichte des Gottesstaates eingegriffen hat, daß die prophetische Weissagung von da an in diesem Schnabel, Predigten.

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210 König den Widerchrist des Alten Bundes und den Vorläufer des eigentlichen Widerchrist sieht. Schließlich entstand aus kleinem Anfang das römische Weltreich, welches allmählich den ganzen damals bekannten Erdkreis unter seine Herrschaft brachte, und unter dessen erstem Kaiser, Augustus, der Weltheiland geboren ward, welcher ein Reich gegründet hat, das nicht von dieser Welt ist, sondern vom Himmel stammt, und das von Gott dazu bestimmt ist, die gesamte Welt zu umfassen und ewig zu bestehen. Das römische ist das letzte irdische Weltreich. Es wird laut der Weissagung der Heiligen Schrift unter oftmals sich ändernder Gestalt, wie gegenwärtig unter der Gestalt einer Anzahl von Staaten, die sich Großmächte nennen, fortbestehen, bis es am Schlüsse des gegenwärtigen Weltalters sich darstellt in dem Weltreich d es Widerchrist. Dieses aber wird der Herr Jesus Christus b ei seiner herrlichen Wiederkunft vernichten, und an seiner Stelle sein Reich, den vollendeten Gottcsstaat auf­ richten. Ich führe die Reihenfolge dieser Weltreiche deshalb an, weil wir sie kennen müssen zum Verständnis des ferneren Entwicklungsganges des Gottesreiches. Wenden wir uns nunmehr dieser Geschichtsbetrachtung wieder zu, und reden wir auch jetzt wieder über

Das Reich Gottes im Gottesstaat des Alten Bundes, insbesondere: Der Zerfall des Gottesstaates, und betrachten wir

1. die Geschichte des Königreiches Israel, und 2. die Geschichte des Königreiches Juda. I. Es ist leider nicht zu leugnen, liebe Christen, daß der König Salomo zuletzt eine Mißregierung geführt hatte. Er hatte durch die Zulassung der Abgötterei nicht nur im Gottes­ volke den Grund gelegt zu dessen immer mehr überhand nehmen­ den Abfall vom Jehovaglauben und Hinkehr zum Heidentum, sondern er hatte auch durch die Pracht und Ueppigkeit seiner Hofhaltung seine Unterthanen mit hohen Steuern gedrückt. Dieser Umstand war es, der nach seinem Tode ein schweres Ver­ hängnis über den Go-ttesstaat herbeiführte. Zehn Stämme des Volks schloffen sich zusammen und verlangten von Salomos

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Sohn und Nachfolger Rehabeam Ermäßigung der Abgaben. Da er diese Forderung mit der trotzigen und hochfahrenden Ant­ wort abwies: mein Vater hat euch mit Peitschen gezüchtigt, ich will euch mit Skorpionen züchtigen (1. Kön. 12, 14)! — so rissen sich diese zehn Stämme von ihm los mit dem auf­ rührerischen Rufe: was haben wir denn teil an David oder Erbe am Sohne Jsais? Israel hebe dich zu deinen Hütten (1. Kön. 12, 16)1 Sie machten zu ihrem König Jerobeam, wie der Prophet Ahia vorhergesagt hatte (1. Kön. 11, 28ff.). Seht, liebe Christen, so trägt gar manchmal Obrigkeit und Regierung schuld am Aufstand und an der Empörung der Unterthanen! Und was war des neuen Königs Jerobeam erste Re­ gierungsthat? Er gedachte: wenn mein Volk soll zum Gottes­ dienst nach Jerusalem gehen, so wird es bald wieder von mir ab- und dem Rehabeam zufallen. Diese Erwägung bestimmte ihn dazu, in Bethel und Dan goldene Kälber oder Stiere seinen Unterthanen zur Verehrung aufzustellen und den Opferdienst bei denselben selberwählten Priestern zu übertragen. Das sollte zunächst allerdings noch kein förmlicher Abfall von dem Herrn Jehova sein, sondern die Stiere sollten Sinnbilder desselben vorstellen. Aber in Wirk­ lichkeit war es Verletzung des ersten Gebots und wurde bald zu heidnischem Götzendienst. Daß es der Herr selbst so ansah, das bewies er damit, daß er einen Propheten beauf­ tragte dem als Priester opfernden König zu verkündigen: es wird ein König aus dem Hause Davids, Namens Josia, die Priester der Höhen opfern und des zum Zeichen wird dein Altar auseinander brechen und die Asche deines Opfers verschüttet werden (1. Kön. 13)! Ist nicht in ähnlicher Weise aus der an­ fänglichen Bilderverehrung in den beiden katholischen Kirchen­ gemeinschaften allmählich götzendienerischer Bilderdienst ge­ worden? Wohl hätte die prophetische Warnung den König Jerobeam bedenklich machen und ihm Einhalt gebieten sollen auf seinem verkehrten Wege. Aber sie änderte sein Verfahren nicht, sondern er fuhr fort in seiner gott- und gesetzwidrigen Regierung. Dadurch zog er nicht nur sich selbst die göttliche Ver­ werfung zu (2. Chron. 13, 20), sondern verführte auch sein 14*

212 Volk dermaßen, daß es fortan seinem Untergang entgegen reifte. Seine achtzehn Nachfolger wandelten alle in seinen Fußtapfen und fuhren fort in der Verführung des Volks, daß von demselben berichtet wird: sie wandelten nach der Heiden Weise, dienten den Götzen, verachteten die prophetischen Mahnungen und Warnungen, verließen des Herrn Gebote, brachen seinen Bund und trieben Zauberei (2. Kön. 17). O, wie tief war dieser Teil des Gottesvolks von der Höhe des geist­ lichen Lebens, den es in der Davidisch-Salomonischen Zeit er­ stiegen hatte, herabgesunken! Es hatte sich der Welt des Heidentums gleichgestellt. Nur Einzelnes laßt mich, liebe Christen, aus der Geschichte des Zehnstämmereichs, des Königreichs Israel, mitteilen! Der siebente König desselben war Ah ab. Dieser wurde durch seine Verheiratung mit der Sidonischen Prinzeß Isabel seinen Unterthanen verderblich, denn seine heidnische Gemahlin setzte all ihren Einfluß daran, ihren heimatlichen Baal- und Astartedienst zur Staatsreligion im Königreich Is­ rael zu machen. Es wäre ihr das auch wohl gelungen, wenn ihr und dem König der Herr Jehova nicht ein Hindernis entgegenge­ stellt hätte in der Person des Propheten Elias aus Thisbe. Das war ein zweiter Moses, ein Reformator im Gottesstaat, der zu jener Zeit so jammervoll darnieder lag. Ihn erfüllte ein feuriger Eifer für die vom Vundesvolk so schwer verletzte Ehre des Herrn Jehova. Aber er stand ganz und gar auf dem Standpunkt des gesetzlichen Prophetentums und war ein gewaltiger Vertreter des Gesetzes. Treffend schildert ihn Jesus Sirach in den Worten: der Pro­ phet Elia brach hervor wie ein Feuer und sein Wort brannte wie eine Fackel (Sir. 48, 1). Seine Wunderthaten sind vielfach Strafgerichte, die er als Bevollmächtigter des Herrn vollzieht. Er verschließt den Regenhimmel auf vierthalb Jahre (1. Kön. 18); und auf diejenigen, welche gesandt sind, ihn vor den König Ahasja zu führen, läßt er Feuer vom Himmel fallen (2. Kön. 1). So durfte er handeln als Vertreter des Gesetzes. Gedenket aber daran, liebe Christen, wie unser Heiland seinen Jüngern ein Gleiches verwehrte, weil sie Vertreter des Evangeliums sein

213 sollten (Luk. 9, 54—56). Doch ist es höchst beachtenswert, wie Gott dem Elia einmal auf sinnbildliche Weise zu verstehen giebt, daß die Strenge, welche das Gesetz atmet, nicht das eigentliche, wahre Wesen Gottes sei, sondern daß dieses vielmehr in der Milde und Freundlichkeit bestehe. Auf seiner Flucht vor der Königin Isabel gelangt er auf den Berg Horeb und verbirgt sich in einer Höhle. Daselbst kommt ihm das Wort des Herrn zu: gehe heraus, und tritt vor den Herrn! Und siehe, der Herr ging vorüber, und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriß und die Felsen zerbrach, vor dem Herrn her; der Herr aber war nicht im Winde. Nach dem Winde kam ein Erdbeben, aber der Herr war nicht im Erdbeben. Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer, aber der Herr war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein still sanft Sausen. Da das Elia hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel, und ging heraus und trat in die Thüre der Höhle (1. Kön. 19). Merket ihr nicht, wie sehr dieses Erlebnis zu demjenigen des Moses stimmt, das dieser auf dem Berg Sinai hatte, als der Herr, in einer Wolke verhüllt, an ihm vorüber ging und sich mit dem Ausruf bezeugte: Herr, Herr Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue (2. Mos. 34, 6). Liebe Christen, laßt mich bei dieser Gelegenheit einen Punkt zur Sprache bringen, über den noch viel Unklarheit herrscht. Ihr hört oft sagen, dieser oder jener Vorgang offenbare den Geist des Alten Testaments oder Alten Bundes. So namentlich die Strafwunder der Propheten. Das ist aber eine irrige An­ nahme, wenn damit gesagt sein soll, daß die Erkenntnis Gottes und die Darstellung seines Wesens bei den Gliedern des Alten Bundes eine falsche gewesen sei. Man urteilt: Im Alten Testa­ ment erscheint Gott als der Gott des Zornes, während ihn das Neue Testament als den Gott der Liebe schildert. Das ist ein Irrtum. Das Alte Testament kennt Gott gar wohl als den Gott der Liebe und das Neue Testament legt auch Zeugnis ab von dem Zorne Gottes. Das Alte Testament ruft uns zu: Der Herr handelt nicht mit uns nach unseren Sünden und vergilt uns nicht nach unserer Missethat, denn so hoch der Himmel über der Erde ist, läßt er seine Gnade walten über die, so ihn fürchten:

214 so fern der Morgen ist vom Abend, läßt er unsere Uebertretungen von uns sein; wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, so ihn fürchten (Ps. 103, 10—13). Und das Neue Testament bezeugt: Gottes Zorn vom Himmel wird offenbart über alles gottlose Wesen und Ungerechtigkeit der Menschen (Röm. 1, 18), und: wer dem Sohn nicht glaubt, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibet über ihm (Joh. 3, 36). Das Alte Testament hat auch schon Evangelium, und das Neue Testament hat noch Gesetz. Doch liegt der Aeußerung von dem Geiste des Alten Bundes eine Wahr­ heit insofern bei, als es der Zweck Gottes bei der Erziehung des Bundesvolks erforderte, daß er im Alten Bunde das Gesetz mit seiner ganzen Strenge walten ließ gegen diejenigen, welche seiner Absicht und seinen Anordnungen sich widersetzten. Indessen, liebe Christen, kehren wir nach dieser Ab­ schweifung wieder zu unserem eigentlichen Gegenstand zurück. Die gewaltigste That des Propheten Elias war ohne Zweifel die Volksversammlung, welche er auf dem Berge Karmel abhielt. Bei dieser hat es sich besonders deutlich gezeigt, daß er von Gott Berufen war, die geoffenbarte Jehova­ religion mit ihrem Gesetz von dem Untergang, dem sie damals ausgesetzt war, zu retten und dem Volk Israel zu erhalten. Er fordert in bewundernswerter Glaubenszuversicht ein unmittel­ bares Gottesurteil, und es bleibt nicht aus. Der Herr Jehova bezeugt sich als der einzige und lebendige Gott dadurch, daß er das Opfer seines Propheten durch Feuer von oben anzündet, während die Priester des Baal und die Propheten der Aschera (Astharoth, Astarte) vergeblich ihre Götzen um ein solches Wunder anrufen. Diese großartige Glaubensthat hatte einen mächtigen Erfolg. Elias hatte dem Volk zugerufen: wie lange hinket ihr auf beiden Seiten; ist der Herr Gott, so wandelt ihm nach; ist's aber Baal, so wandelt ihm nach! Jetzt fiel alles Volk auf fein Angesicht und sprachen: der Herr ist Gott, der Herr ist Gott! So hatte der Prophet erreicht, was er wollte, und er schloß diese merkwürdige Volksversammlung mit einer zweifachen Hand­ lung, deren erste den furchtbaren Ernst des Gesetzes und deren zweite die milde Freundlichkeit des Herrn Jehova offenbarte. Die

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Götzenpriester ließ er ergreifen und am Bache Kison schlachten. Dann begab er sich auf den einsamen Gipfel des Berges und erflehete in inbrünstigem Gebet den nach siebenmaliger An­ rufung einfallenden Regen (1. Kön. 18). Es war allerdings ein großartiger Erfolg, den der Eiferer für die Religion der Väter errungen hatte. Eine andere Frage ist die, ob dieser Erfolg auch Bestand gehabt hat. Und darauf muß ich leider antworten, daß das nicht der Fall gewesen ist. Die religiöse Begeisterung des Volks erwies sich als ein Stroh­ feuer, das schnell erlischt. Das Volk fiel gar rasch wieder in seinen Abfall vom Jehovadienst zurück, und der Prophet mag schweren Herzens dem Ende seiner irdischen Wirksamkeit entgegen gegangen sein. Aber dieses selbst war ein wunderbar herrliches. Nachdem er noch dem König Ahab und der Königin Isabel einen Untergang mit Schrecken vorausgesagt hatte, den Tod Ahabs selbst überlebt und noch unter dessen Nachfolger Ahasja gewirkt hatte, ward er, ohne den Tod zu schmecken, im Beisein seines Schülers und Nachfolgers Elisa in einer Gleiche mit Henoch unmittelbar — das feurige Gefährt war wohl ein Gesicht des Elisa — in die jenseitige Welt ausgenommen (2. Kön. 2). So werden einmal bei der Wiederkunft unseres Heilands diejenigen seiner rechten Jünger, welche diese auf Erden erleben, nicht sterben, sondern leiblich verwandelt und verklärt dem kommen­ den Herrn entgegen gerückt werden (1. Kor. 15, 51—52). So wäre es wohl auch mit den Menschen im allgemeinen geworden, wenn sie in der anerschaffenen Gottebenbildlichkeit geblieben und nicht der Sünde und damit dem Tode anheimgefallen wären. Aber sehen wir nicht auch in der Auffahrt des Elias ein Vorbild der Himmelfahrt unseres Heilands? Höchst , merk­ würdig ist das, was uns das Wort Gottes im Neuen Testament über den Anteil berichtet, den Elias auch noch in der jenseitigen Welt an der Entwicklung des Reiches Gottes nimmt. Erinnert euch, daß der letzte der Propheten des Alten Bundes, Maleachi, weissagte, vor dem Erscheinen des Messias solle Elias auftreten und ihm den Weg bereiten (Mal. 3, 1. 23—24). Nun, unser Heiland erklärte seinen Jüngern: alle Propheten haben geweissagt bis auf Johannes, und (so ihr es wollt annehmen) er ist

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Elias, der da soll zukünftig sein (Matth. 11, 13—14). Und als der Heiland einst auf einem Berge eine wunderbare Ver­ klärung vor den Augen dreier seiner Jünger erfuhr, erschienen Moses und Elias als Abgesandte des himmlischen Vaters, um mit dem eingeborenen Sohne von dem Ausgang zu reden, welchen er sollte erfüllen zu Jerusalem (Luk. 9, 28—31). Ihr habt jetzt bereits entdeckt, liebe Christen, was dem Propheten Elias mangelte. Es war die Ausschau in die Zeit des Messias und der Erlösung. Deshalb fehlt es ihm auch am rechten Trost in dem Jammer seiner Zeit. Wie ergreifend tritt diese seine Trostlosigkeit hervor in jenem Augenblick, da ihm die vorhin von mir erwähnte sinnbildliche Offenbarung des Herrn Jehova auf dem Berg Horeb zu teil wurde. Damals klagte er dem Herrn: die Kinder Israel haben deinen Bund verlassen und ich bin allein überblieben! Da empfing er den Trost vom Herrn: ich will lassen überbleiben siebentausend in Israel, alle Kniee, die sich nicht gebeugt haben vor Baal, und allen Mund, der ihn nicht geküsset hat (1. Kön. 19. 14. 18). Seht, das sind die Ueberbliebenen, der heilige Same, von welchem die späteren Propheten reden (Jes. 10, 20; 6, 13) und bezeugen, daß sie nimmer fehlen werden, von welchen auch der Apostel Paulus im Neuen Bunde, indem er auf das Erlebnis des Elias zurückweist, erklärt, daß sie das Heil in Christo ergreifen werden (Röm. 11, 5). Welch ein Labsal mag diese Versicherung für die ver­ zweifelnde Seele des Propheten gewesen sein! Sein Nachfolger im Prophetenamt unter den zehn Stämmen war Elisa. Er hatte sich von seinem Vorgänger auf dessen Aufforderung erbeten: daß mir werde ein zwiefältig Teil von deinem Geiste (2. Kön. 2, 9)! Er wirkte während der Regierung von vier Königen. Wie aus seinem Namen, welcher „Gotthilf" bedeutet, so leuchtet auch aus den meisten Wundern, die von ihm erzählt werden, Gottes Freundlichkeit hervor. Er nahm gleich seinem Vorgänger die Prophetenschulen in eifrige Pflege und brachte sie trotz dem allgemeinen Abfall seiner Zeitund Volksgenossen vom väterlichen Glauben und Gottesdienst zu einer solchen Blüte, daß eine Reihe von Propheten aus ihnen hervorging, welche durch ihre Predigt die Langmut des Herrn

217 Jehova gegen sein abtrünniges Volk bezeugten. Elisa starb in hohem Alter. Nun muß ich euch aber, liebe Christen, auf eine Wendung imProphetentumdes Alten Bundes aufmerksam machen, welche nach ihm eintrat. Bis dahin war unter dem fortschreiten­ den religiösen und sittlichen Verderben das Bestreben der Pro­ pheten dahin gegangen, diesem Verderben so viel als möglich Widerstand zu thun und den noch vorhandenen Glauben und Gesetzesgehorsam zu erhalten und zu stärken. Je mehr aber die Entartung des Gottesvolks zunahm, desto deutlicher erkannten die Propheten, daß sie keine gründliche und allgemeine Umkehr und Besserung zu stände bringen konnten, sondern daß ein schweres Gottesgericht dem Bestand des ohnehin schon gespal­ tenen Gottesstaates ein Ende machen werde. Dieses Gericht ver­ kündigen von nun an die Propheten und beschreiben es als die Aufhebung der Königreiche Juda und Israel durch die heid­ nischen Weltreiche. Zugleich aber stellen sie dieses Gericht dar als eine Züchtigung für das Gottesvolk, aus welcher Heil her­ vorgehen soll. Sie weisen hin auf einen neuen David, der kommen wird, viel größer als der erste, der wird den zerstörten Gottesstaat wiederherstellen und das Gottesreich vollenden. Die Ankündigung und Beschreibung des Messias und seines Reich es ist von nun an der Hauptgegenstand derprophetischenPredigt. Ihr Inhalt und Charakter ist jetzt nicht mehr der gesetzliche, sondern ein evangelischer. Weil nun aber der Blick der Propheten auf die Zukunft gerichtet war, fühlten sie auch den Trieb in sich und erkannten es als eine Notwendigkeit, ihre Reden und Aussprüche schriftlich aufzu­ zeichnen. Mit den sechzehn Schriftpropheten haben wir es nun zu thun. Da nenne ich euch, liebe Christen, zuerst den Propheten Hosea. Schon früher habe ich darauf hingewiesen, daß die Propheten ihre Verkündigungen öfters durch sinnbildliche Hand­ lungen veranschaulichen. Die auffallendste solcher Handlungen mußte dieser Prophet auf Gottes Geheiß vornehmen. Der Herr Jehova hatte sich nicht gescheut, mit dem von Haus aus sündigen Volk Israel einen unverbrüchlichen Bund zu schließen. Diesen

218 Bund brach nun das Volk in gewissenloser Weise, trotzdem der Herr noch immer sich mühte, es zur Erfüllung seiner Bundes­ pflichten anzuhalten. Um dies dem bundbrüchigen Volk recht anschaulich vor Augen zu stellen, mußte der Prophet auf Gottes Befehl mit einem Weibe einen Ehebund schließen, das schon vor der Ehe unzüchtig gelebt hatte und dieses Leben in der Ehe fort­ setzte. An den Namen, welche er den von ihr im Ehebruch ge­ borenen drei Kindern beilegt, zeigt er dem Volk wie es von seinem Bundesgott verworfen werden wird. Indem er sich aber fort­ während bemüht, seine untreue Ehegattin zur ehelichen Treue zu gewinnen, giebt er dem Volke zu verstehen, daß der Herr in seiner Treue ausharren und sein erwähltes Volk doch noch schließlich gewinnen wird, wenn es auch lange Zeit in kümmer­ lichem Stande, einer Witwe gleich, sich befinden wird. Denn die Kinder Israel, so weissagt der Prophet, werden lange Zeit ohne König, ohne Fürsten, ohne Opfer, ohne Altar, ohne Leib­ rock und ohne Heiligtum bleiben, und darnach werden sie sich bekehren und den Herrn, ihren Gott, und ihren König David suchen, und werden mit Zittern zu dem Herrn und seiner Gnade kommen in der letzten Zeit (Hos. 3, 4—5). Das ist die Zukunft des jetzt noch dem Glauben an Jesum Christum entfremdeten Volkes Israel, die ihm auch durch die neutestamentliche Weis­ sagung verbürgt ist. Ich nenne euch, liebe Christen, einen anderen Propheten, der in dem Zehnstämmereich auftrat, den Prophet Jona. Da die Bußpredigt bei den Bürgern dieses Königreichs keinen Er­ folg hatte, so sollte dieser Prophet auf göttliche Anordnung ein heidnisches Volk zur Buße rufen, um dadurch die Israeliten zu beschämen und, wo möglich, zur Nachahmung zu reizen. Dieser Auftrag erschien aber dem Propheten so überraschend und ge­ fährlich, daß er sich demselben durch die Flucht auf einem Schiffe zu entziehen suchte. Allein niemand kann Gott entlaufen. Ihr kennt die wunderbaren Schicksale, die ihn trafen, und wisset, daß er dem wiederholten Auftrag endlich Folge leistete. Der Erfolg seiner Bußpredigt in Ninive war außerordentlich. Und als es ihn nun verdroß, daß Gott der heidnischen Stadt Gnade erwies, da stellte ihm Gott an dem Schicksal des Kürbis oder Wunder-

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baumes seine alles umfassende Gnade vor Augen. Ist nicht die Geschichte des Propheten Jona, die uns das nach ihm benannte prophetische Büchlein erzählt, höchst lehrreich für uns? Sie zeigt uns ja, daß Gott auch den Heiden Gnade erweisen und sein Reich aufschließen will. Durch seine Schicksale ist aber Jona auch ein Vorbild des Heilands geworden, auf das dieser selbst hinwies in den Worten: die böse und ehebrecherische Art suchet ein Zeichen, und es wird ihr kein Zeichen gegeben werden, denn das Zeichen des Propheten Jona, denn gleichwie Jona drei Tage und Nächte in des Walfisches (Riesenhaifisches) Bauch war, also wird des Menschen Sohn drei Tage und drei Nächte in der Erde sein (Mtth. 12, 39—40). Und die bußfertigen Niniviten, sind sie nicht ein Gegenbild der unbußfertigen Kinder Israel? Unser Heiland bezeugt es, wenn er seinen Zeit- und Volksgenossen vor­ hält: die Leute von Ninive werden auftreten am jüngsten Gericht mit diesem Geschlecht und werden es verdammen, denn sie thaten Buße nach der Predigt des Jona, und siehe, hier ist mehr, denn Jona (Mtth. 12, 41). O, liebe Christen, lassen wir uns, die Einzelnen, wie unser gesamtes getauftes Volk, diesen ernsten Aus­ spruch unseres Heilands zu Herzen gehen und uns der Predigt seines Evangeliums, die ja in erster Linie Bußpredigt ist, nicht in Unbußfertigkeit entziehen! Es würde uns sonst das Gericht Gottes noch härter treffen, wie es das Reich Israel und seine Bürger getroffen hat. Ja, dieses war reif zum Gericht und es ging nun an ihn: in Erfüllung das Geschick, das Gott laut unserem Texte seinem Weinberg androhte: „wohlan, ich will euch zeigen, was ich meinem Weinberg thun will; seine Wand soll weggenommen werden, daß er verwüstet werde, und sein Zaun soll zerrissen werden, daß er zer­ treten werde; ich will ihn wüste liegen lassen, daß er nicht geschnitten noch gehackt werde, sondern DistelnundDornendaraufwachsen,undwillden Wolken gebieten, daß sie nicht darauf regnen!" Vollstrecker des göttlichen Gerichts war dasWeltreich Assyrien. Nachdem schon dessen Herrscher Tiglath Pilesar sich das Reich Israel unterworfen hatte, machte ihm der König Salma-

220 nassar 722 Jahre vor Christi Geburt ein Ende, verpflanzte den vornehmsten Teil des Volks nach Assyrien und besetzte Samarien mit Heiden, welche sich in der Folge mit den zurück­ gebliebenen Israeliten vermischten und das halb israelitisch, halb heidnisch gesinnte Volk der Samariter bildeten. Von dem haben wir noch in der Geschichte des Reiches Gottes im Neuen Bund zu reden. II. Nicht viel besser, wie im Königreiche Israel, gestaltete sich das religiöse und sittliche Leben im Königreich Juda. Dieses hatte allerdings einen großen Vorteil vor jenem. Zuerst den, daß die Familie Davids, auf welcher ein besonderer Segen Gottes und die Verheißung des Messias ruhte, in der Regierung verblieb. Sodann den, daß es im Tempel zu Jerusalem das von Gott bestimmte Volksheiligtum besaß. Dazu kam, daß gleich nach der Losreißung der zehn Stämme nicht nur die Priester und Leviten, sondern auch viele dem Herrn Jehova und feinem Gesetze treue Glieder dieser Stämme nach Juda auswanderten. Das Königreich Juda, bei dem auch noch der Stamm Benjamin verblieb, hatte wenigstens einige fromme Regenten, die in den Fußtapfen ihres Ahnen David wandelten, und unter deren Re­ gierung Land und Volk in leiblicher und geistlicher Hinsicht sich wohl befanden. Je mehr aber das Königreich Juda vor dem Reich Israel voraus hatte, desto tadelnswerter ist das religiöse und sittliche Verhalten seiner Bürger, die das. in jenem herr­ schende abgöttische und lasterhafte Wesen mehr und mehr an­ nahmen. Das stellt der Prophet Ezechiel in einem Gleichnis dar: Es waren zwei Weiber, einer Mutter Töchter, Ohola, die ihre eigene Hütte, ihr selbst und willkürlich gemachtes Heiligtum besitzt, und Oholiba, die die wahre Hütte, das Heiligtum des Herrn hat. Jene ist Samaria, diese Jerusalem. Beide trieben Hurerei in ihrer Jugend in Aegypten, und setzten sie später fort in ihrem Ehebund mit dem Herrn Jehova, Ohola mit dem Assyrer, wofür sie Gott in dessen Hand gab, und Oholiba mit dem Chaldäer, wofür sie der Herr dessen Gewalt überließ (Ezech. 23). Der Gottesstaat des Alten Bundes reifte auch in diesem Teil des Bundesvolks seinem Untergang entgegen. Lasset mich nun noch, liebe Christen, einzelne Ereignisse aus

221 der Geschichte des Reiches Juda eingehender besprechen! In diesem Königreich wirkte wahrscheinlich der Prophet Joel. Er kündigte den Tag des Herrn an, der dem Volk Gottes die volle Erlösung bringen wird. Aber vorher wird eine allgemeine Ausgießung des Heil. Geistes auf das Gottesvolk ge­ schehen und demselben Geistesgaben mitteilen (Joel 3). Eine Weissagung, schon deshalb bemerkenswert, weil sie den Text bildete für die erste Predigt, die in der Kirche Jesu Christi ge­ halten worden ist, für die Predigt, welche der Apostel Petrus unmittelbar nach der Ausgießung des Heil. Geistes am Pfingst­ fest zu Jerusalem hielt (Apg. 2, 16—21). Nach Joel trat im Reich Juda der Prophet Jesaia auf. Von ihm ist uns in der Bibel eine größere Schrift aufbehalten. Aus derselben ersehen wir, daß er gleich gewaltig in seinen Strafreden, wie trostreich in seinen Verheißungen ist, so trost­ reich, daß er mit Recht der Evangelist des Alten Bundes genannt wird. Er verkündigt das angenehme Jahr des Herrn in den Worten: der Geist des Herrn Herrn ist über mir, darum daß mich der Herr gesalbt hat; er hat mich gesandt, den Elenden zu predigen, die gebrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, daß ihnen geöffnet werde, zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn (Jes. 61, 1—2). Ihr erinnert euch, liebe Christen, daß unser Heiland diese Weissagung bei seinem ersten prophetischen Auftreten in der Synagoge zu Nazareth auf sich bezog und sie zum Texte seiner Predigt machte (Luk. 4, 16—21). Jesaia begann seine prophetische Wirksamkeit unter der Re­ gierung des Königs U s i a. Dieser König führte eine gute und glückliche Negierung und großer Wohlstand blühte im Volke auf. Aber dieser Wohlstand gereichte dem Volk nicht zum geistlichen Segen, sondern zum sittlichen Verderben. Ueppigkeit und Wohl­ leben, Sicherheit und Uebermut stellten sich ein. Wohl standen Priesterstand und Gottesdienst in außerordentlichen Ehren, aber die innere Gottesfurcht fehlte. Ein andrer guter König des Reiches Juda war Hiskia. Sein ganzes Absehen war darauf gerichtet, seinem Vorfahren David es gleichzuthun in der Pflege des gesetzlichen Gottes-

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dienstes. Es war schon so weit mit der Abgötterei des Volks gekommen, daß auch die Priester sich willig dazu zeigten. Hiskia that den Höhendienst ab, damit der Gottesdienst nach der gött­ lichen Anordnung allein im Tempel zu Jerusalem geschehe. Er zerstörte die eherne Schlange des Moses, weil seine Unterthanen Abgötterei mit derselben trieben. Und der Herr war mit ihm, daß er die Wiederherstellung des rechten Gottesdienstes ohne Störung durch Krieg vollführen konnte (2. Kön. 18). Aus der darauf folgenden Bedrängnis durch den König Sanherib von Assyrien fand er Errettung durch die wunderbare Hülfe des Herrn (2. Kön. 18—19). Ebenso errettete ihn der Herr durch Vermittlung des Propheten Jesaia aus tödlicher Er­ krankung und setzte seinem Leben noch fünfzehn Jahre zu. Ja zu seiner Vergewisserung über diese Bewilligung ließ der Herr auf das Gebet des Jesaia den Schatten am Sonnenzeiger zehn Stufen zurückgehen (2. Kön. 20; Jes. 38). Seine übrige Lebens­ zeit benutzte der König, Ackerbau, Handel und Gewerbe unter seinem Volk zu heben. Zuletzt jedoch ließ er sich durch unkluge Eitelkeit dazu verleiten, den Abgesandten des babylonischen Königs prahlerisch seine Schatzkammer zu zeigen, vielleicht um den König von Babel als Stütze gegen Assyrien zu gewinnen. Das mißfiel aber dem Herrn so sehr, daß er ihm durch den Pro­ pheten Jesaia ankündigen ließ: siehe, es kommt die Zeit, daß alles wird von Babel weggeführt werden aus deinem Hause und was deine Väter gesammelt haben bis auf diesen Tag..., dazu von deinen Kindern.. werden sie nehmen, daß sie Kämmerer seien im Palaste des Königs zu Babel (2. Kön. 20, 12—19)! Ihr ersehet, liebe Christen, aus dieser Androhung, wie ernstlich der Herr von den Königen des Gottesvolks die demütige und vertrauensvolle Anerkenntnis forderte, daß er der eigentliche und wahre König des Gottesstaates sei. Somit haben wir die zwei vorzüglichsten Könige kennen gelernt, unter welchen der Prophet Jesaia seine Wirksamkeit übte. Werfen wir nun noch einen Blick auf die Schrift, welche er uns hinterlassen hat. Dieselbe besteht aus zwei Teilen. Im ersten verkündigt der Prophet den Messias als den König des Gottesreiches: uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns

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gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter, und er heißt: Wunderbar, Rat, Kraft, Held, Ewig-Vater, Friedefürst (Jes. 9, 5). Daneben beklagt er die Undankbarkeit und den Abfall des Volks vom Gottesdienst und der Gottesfurcht, welche das Gesetz fordert: ein Ochse kennet seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn, aber Israel kennet es nicht und mein Volk vernimmt es nicht (Jes. 1, 3). Er ruft zur Buße: lasset ab vom Bösen, lernet Gutes thun (Jes. 1, 16—17). Er droht Gerichte an, die Zerstörung des Weinbergs, wie unser Text uns sagt. Aber er verkündet auch großes Heil, das sich selbst zu heidnischen Völkern kehren wird: es wird zur letzten Zeit der Berg des Herrn, da des Herrn Haus, fest stehen höher, denn alle Berge, und über alle Hügel erhaben werden, und werden alle Heiden dazu laufen (Jes. 2, 2—4; Mich. 4, 1—3). Einen etwas anderen Charakter tragen die Neben des zweiten Teils. In diesen stellt der Prophet den Messias vor als den Knecht Jehovas und beschreibt ihn als den Heiland, der um der Sünde des Volks willen leidet und durch sein stellvertretendes Leiden und Sterben diese Sündenschuld sühnet und abbüßt. Das dreiundfünfzigste Kapitel heißt mit Recht das EvangeliumdesAltenTestaments. Zuletzt steigt die prophetische Weissagung bis zur schließlichen Vollendung des Reiches Gottes empor in der Ver­ heißung : siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, daß man der vorigen nicht mehr gedenken wird.. .; ich will Jerusalem schaffen zur Wonne und ihr Volk zur Freude...; es sollen nicht mehr da sein Kinder, die nur etliche Tage leben, oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen...; es soll geschehen, ehe sie rufen, will ich antworten, wenn sie noch reden, will ich hören (Jes. 65,17—25). Ihr merket, liebe Christen, wie dem Prophet in seinem Schauen die vorläufige und endliche Vollendung des Gottesreiches zusammen fließt. Noch müssen wir eines frommen Königs von Juda ge­ denken, des Josia. Er war der letzte der Könige im Reiche Juda, der in den Wegen seines Ahnherrn David wandelte. Nach­ dem seine beiden Vorgänger die Abgötterei gepflegt hatten, führte er wieder einmal eine gründliche religiöse Reformation durch. Alle Mittel wollte Gott erschöpfen, um wo möglich sein Volk zu

224 retten. Bei dieser Reformation geschah ein höchst merkwürdiger Fund. Bei der Ausleerung des Tempelschatzes fand der Hohe­ priester das seit langer Zeit abhanden gekommene Gesetzbuch, wahrscheinlich das einzige, das überhaupt vorhanden war. Als es dem König vorgelesen wurde, erkannte er erst recht deutlich, wie weit man vom Gesetze Gottes abgekommen war, und erschrak vor den Strafen, welche darin den Gesetzesübertretern ange­ droht wurden. Er berief eine Volksversammlung in den Vor­ hof des Tempels, ließ das wieder aufgefundene Gesetzbuch vor­ lesen und machte mit seinem Volke einen Bund vor dem Herrn, hinfort zu halten seine Gebote, Zeugnisse und Rechte (2. Chrom 34). Mutet uns diese Begebenheit, liebe Christen, nicht an als ein Vorbild unserer Kirchenreformation im sechzehnten Jahr­ hundert, wo auch die Heilige Schrift in gewissem Sinne neu aufgefunden und nach ihr die Glaubenslehre und der Gottes­ dienst geregelt wurde? Wahrlich, der König Josia hatte es redlich und ernstlich gemeint mit seiner Reformation. Aber der Abfall vom Jehovaglauben war schon zu weit gediehen im Volk, als daß sie noch hätte helfen können. Doch erfüllte sein früher Tod das Volk mit Schrecken, denn es ahnte, daß das längst an­ gekündigte Gottesgericht nur um dieses frommen Königs willen hinausgeschoben worden sei und daß es nun bald hereinbrechen werde (2. Chrom 35, 24—25). Unter den Leidtragenden wird ausdrücklich der Prophet Jeremia erwähnt. Er übte seine prophetische Wirksamkeit unter der Regierung Josias und der letzten Könige von Juda bis zur Aufhebung des Königreichs und noch während der Ver­ bannung des Volks. Als er bei seiner Berufung ins Propheten­ amt sich dem Herrn gegenüber für zu jung erklärte, bedeutete ihn der Herr: du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen, was ich dich heiße; siehe ich lege meine Worte in deinen Mund und setze dich über Völker und Königreiche, daß du verderben und verstören sollst und bauen und pflanzen (Jer. 1). Seinem weichen Gemüt ging das Unglück, das er seinem Volk weissagen und das er dann miterleben mußte, außerordentlich nahe. Dazu erntete er Undank, Haß und Verfolgung für seine Predigt. Er geriet in die härteste Gefangenschaft, aus der ihn erst der babylo-

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nische Eroberer befreite, der ihm zugleich die Wahl ließ, ob er im Lande bleiben oder mit nach Babylonien ziehen wolle. Er entschloß sich zu bleiben, sah sich aber gezwungen, später mit seinen Landsleuten nach Aegypten auszuwandern, wo er starb (Jer. 41—43). Seine messianische Weissagung verkündet den Heiland als den Herrn, der unsere Gerechtigkeit ist (Jer. 23, 5), und sein Reich als dasjenige, dessen Bürger das Gesetz in ihrem Herzen und Sinne tragen und voll Gotteserkenntnis sind (Jer. 33, 31—34). Wohl droht er dem Volke die babylonische Gefangen­ schaft, aber er verheißt auch ihr Ende und bestimmt ihre Dauer auf siebzig Jahre (Jer. 25, 11). Wehmütig klingen seine Klagelieder, die er auf den Trümmern Jerusalems schrieb und in denen er sein innerstes Fühlen und Empfinden enthüllt. Was Jeremias und die anderen im Königreich Juda auf­ tretenden Propheten vorausgesagt hatten, das trat nun ein. Gottes Langmut war erschöpft. Das Reich Juda war reif zum Untergang. Jetzt ging auch an ihm in Erfüllung, was das Gleichnis unseres Textes sagt: „Was sollte man denn mehrthunanmeinemWeinberge,dasichnichtgethanhabeanihm;warumhaterdennHerlingegebracht, da ich wartete, daß er Trauben brächte? Wohlan, ich willeuchzeigen,wasichmeinemWeinberge thun will: seine Wand soll weggenommen werden, daß er verwüstet werde, und sein Zaun soll zerrissen werden, daß er zertreten werde; ich will ihn wüste liegen lassen, daß er nicht ge­ schnitten noch gehackt werde, sondern Disteln und Dornen drauf wachsen, und will den Wolken ge­ bieten,daßsienichtdraufregnen". Nach dreimaligem Ueberfall wurde Jerusalem samt dem Tempel von dem König Nebukadnezar zu Babylonien zerstört und ein großer Teil des Volks mußte in die Gefangenschaft oder Verbannung wandern (2. Kön. 24—25). Das geschah im Jahre 588 vor Christi Geburt. Seht, liebe Christen, das ist das vorläufige Ende des Gottesstaates im Alten Bunde. Nur ein schwaches Nachbild Schnabel, Predigten. 16

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desselben tauchte später noch einmal auf, bis er mit dem Anbruch des Neuen Bundes vollständig verschwand. War nun aber auch der Gottesstaat vorläufig vernichtet, so doch nicht das Reich Gottes, dessen äußere irdische Erscheinungsform er bis dahin gewesen war. Mit den ihrem Herrn Jehova treuen Gliedern des Volks wanderte es in die Verbannung, um von dort aus zur bestimmten Zeit noch einmal nach dem gelobten Lande zu­ rückzukehren. Der Menschen Untreue vermag Gottes Gnaden­ ratschluß und Heilsplan nicht zunichte zu machen. Was er sich vorgenommen und was er haben will, das muß doch endlich kommen zu seinem Zweck und Ziel. Des Herrn Rat ist wunder­ bar und führet es herrlich hinaus (Jes. 28, 29). Amen.

19. Tert: Lerem. 29, 4—11.

„So spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels, zu allen Gefangenen, die ich habe von Jerusalem lassen wegführen gen Babel: bauet Häuser, darin ihr wohnen möget; nehmet Weiber und zeuget Söhne und Töchter; nehmet eueren Söhnen Weiber und gebt euere Töchter Männern, daß sie Söhne und Töchter zeugen; mehret euch daselbst, daß euer nicht wenig sei; suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe lassen wegführen und betet für sie zum Herrn, denn wenn es ihr wohl geht, so gehet es euch auch wohl. Denn so spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels: laßt euch die Propheten, die bei euch sind, und die Wahrsager nicht betrügen, und gehorcht eueren Träumen nicht, die euch träumen, denn sie weissagen euch falsch in meinem Namen, ich habe sie nicht gesandt, spricht der Herr. Denn so spricht der Herr: wenn zu Babel siebzig Jahre aus sind, so will ich euch besuchen, und will mein gnädiges Wort über euch er­ wecken, daß ich euch wieder an diesen Ort bringe. Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr, Gedanken des Friedens und nicht des Leides, daß ich euch gebe das Ende, des ihr wartet."

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desselben tauchte später noch einmal auf, bis er mit dem Anbruch des Neuen Bundes vollständig verschwand. War nun aber auch der Gottesstaat vorläufig vernichtet, so doch nicht das Reich Gottes, dessen äußere irdische Erscheinungsform er bis dahin gewesen war. Mit den ihrem Herrn Jehova treuen Gliedern des Volks wanderte es in die Verbannung, um von dort aus zur bestimmten Zeit noch einmal nach dem gelobten Lande zu­ rückzukehren. Der Menschen Untreue vermag Gottes Gnaden­ ratschluß und Heilsplan nicht zunichte zu machen. Was er sich vorgenommen und was er haben will, das muß doch endlich kommen zu seinem Zweck und Ziel. Des Herrn Rat ist wunder­ bar und führet es herrlich hinaus (Jes. 28, 29). Amen.

19. Tert: Lerem. 29, 4—11.

„So spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels, zu allen Gefangenen, die ich habe von Jerusalem lassen wegführen gen Babel: bauet Häuser, darin ihr wohnen möget; nehmet Weiber und zeuget Söhne und Töchter; nehmet eueren Söhnen Weiber und gebt euere Töchter Männern, daß sie Söhne und Töchter zeugen; mehret euch daselbst, daß euer nicht wenig sei; suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe lassen wegführen und betet für sie zum Herrn, denn wenn es ihr wohl geht, so gehet es euch auch wohl. Denn so spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels: laßt euch die Propheten, die bei euch sind, und die Wahrsager nicht betrügen, und gehorcht eueren Träumen nicht, die euch träumen, denn sie weissagen euch falsch in meinem Namen, ich habe sie nicht gesandt, spricht der Herr. Denn so spricht der Herr: wenn zu Babel siebzig Jahre aus sind, so will ich euch besuchen, und will mein gnädiges Wort über euch er­ wecken, daß ich euch wieder an diesen Ort bringe. Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr, Gedanken des Friedens und nicht des Leides, daß ich euch gebe das Ende, des ihr wartet."

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In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Es ist ein gar niederschlagendes Ereignis, auf das wir in der vorigen Predigt geblickt haben: das Ende des alttestamentlichen Gottesstaates. Dir machten da die schmerzliche Erfahrung, daß Gottes Gnaden­ absicht durch der Menschen sündhaftes Widerstreben vereitelt wurde. Doch durften wir bei dem Untergang des Gottesstaates den Trost festhalten, daß derselbe nur ein vorübergehender sei und daß eine Wiederaufrichtung desselben in Aussicht stehe. Das zeigen die Worte unseres Textes mit aller Bestimmt­ heit an. Und nicht nur Jeremias kündigt dieses Wiedererstehen an, sondern auch andere Propheten treten dafür ein. So spricht der Herr Jehova durch den Propheten Zephanjar ich will in dir lassen überbleiben ein arm und gering Volk, die werden auf des Herrn Namen trauen . . .; jauchze, du Tochter Zion; rufe, Israel, freue dich und sei fröhlich von ganzem Herzen, du Tochter Jerusalem, denn ... ich will euch zu Lob und Ehren machen unter allen Völkern auf Erden, wenn ich euer Gefängnis wenden werde vor eueren Augen, spricht der Herr (Zeph. 3, 12.14. 20). Aber zunächst war allerdings der Gottesstaat des Alten Bundes aufgelöst, und die Bürger des Gottesreiches auf Erden befanden sich in der Verbannung. Es liegt uns ob, auf das Leben und Verhalten derselben in der Fremde einen Blick zu werfen, um dann die Wiederherstellung des Gottesstaates im Heimatlande ins Auge zu fassen. Laßt uns also auf Grund unseres Textes jetzt reden über Die Wiederherstellung des Gottesstaatcs, wobei wir beachten

1. das Leben des Gottesvolks in der Ver­ bannung, 2. die Wirksamkeit des prophetischen StaatsmannesDaniel, und 3. die Rückkehr des Gottesvolks in das Hei­ matland.

I. Es war offenbar der Wille Gottes, daß sein Bundes­ volk sich unter das über es ergangene Schicksal willig beugen und es sich zur geistlichen Einkehr und sittlichen Umkehr dienen 15*

228 lassen solle. Er sagt es ihnen ja ausdrücklich durch den Mund seines Propheten in unserem Texte: „ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, Gedanken des Friedens und nicht des Leides, daß ich euch gebe das Ende, des ihr wartet." Ist es, liebe Christen, nicht so mit aller Züchtigung, die Gott über seine Kinder verhängt: wenn sie da ist, dünkt sie uns nicht Freude, sondern Traurig­ keit zu sein, aber darnach wird sie geben eine heilsame Frucht denen, welche die Absicht Gottes verstehen, und sich die Heim­ suchung zum Heil ihrer Seelen dienen lassen? Aber wie es alle­ zeit trotzige Seelen giebt, die das nicht wollen, so gab es auch solche unter den Gefangenen in Babylonien, welche das über ihr Volk ergangene Gottesgericht nicht in diesem Sinne auf­ fassen mochten. Sie waren Leute, die das Unglück nicht demütigt, sondern verbittert, und die nichts davon wissen wollen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen müssen. Dazu traten unter ihnen Verführer auf, welche sie zu einer ohnmächtigen, aussichtslosen Empörung auf­ stachelten. Da giebt ihnen der Prophet Jeremias von Jerusalem aus, wo er noch weilte, in einem Briefe, von dem unser Text ein Stück ist, die rechten Verhaltungsregeln: „bauet Häuser . ., pflanzet Gärten . ., nehmet Weiber und zeuget Söhne und Töchter . ., mehreteuch . ., suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum Herrn,dennsoesihrwohlgehet,sogehetesauch euch wohl!" Wir sehen, diese Verhaltungsregeln, die ihnen der Prophet im Auftrag Gottes erteilt, laufen daraus hinaus: seid gute Bürger des fremden Landes und macht es euch heimisch in der Fremde, die vorläufig euere Heimat ist! Und warum sollen sie das? Der Prophet fährt fort in unserem Texte: „denn so spricht der Herr: Wenn zu Babel sieb­ zig Jahre aus sind, so will ich euch besuchen und will mein gnädiges Wort über euch erwecken, daß ich euch wieder an diesen Ort bringe." Siebzig Jahre sollte nach göttlichem Beschluß die Verbannung währen. Daraus ersehen wir, welches die Absicht Gottes mit seinem Volke war. Sie sollten in Ruhe und Stille der zukünftigen

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Gnadenheimsuchung warten und sich inzwischen aufrichtig zu ihrem Gott bekehren, der ihnen durch denselben Propheten zurust: ihr werdet mich suchen und finden, denn so ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen (Ser. 29 13—14). Das war die Mahnung und Verheißung, welche ihnen auch der Prophet Ezechiel gab. Er war bei der zweiten Wegführung nach Babylonien gekommen und wurde daselbst vom Herrn zum Prophetenamt berufen. Seine Predigt ist von vielen sinnbildlichen, oft recht auffallenden Handlungen be­ gleitet, wodurch sie handgreiflich und eindrucksvoll gemacht werden soll. Noch war in seiner ersten Zeit die Stadt Jerusalem nicht gefallen. Um ihren Fall zu prophezeien, mußte er die Stadt vor den Augen seiner Volksgenossen bildlicherweise be­ lagern (Ezech. 4), durch eine Zeichnung, die er auf einem Ziegelstein entwarf. Darnach mußte er die Missethat Israels und Judas durch langes Liegen erst auf der linken und dann auf der rechten Seite abbüßen (Ezech. 4). Er mußte sich das Sterben seines Weibes gefallen lassen, ohne daß er dasselbe öffentlich betrauern durfte. Damit sollte er dem Volke sinn­ bildlich zu verstehen geben, was er ihm dann auch noch aus­ drücklich erklärte: sage dem Hause Israel, daß der Herr Herr spricht also: siehe, ich will mein Heiligtum, eueren höchsten Trost, die Lust euerer Augen und eueres Herzens Wunsch, ent­ heiligen . ., und euere Söhne und Töchter . . werden durchs Schwert fallen, . . ihr werdet nicht klagen noch weinen, sondern über euere Sünden verschmachten und unter einander seufzen (Ezech. 24). Bei diesem Propheten mache ich euch, liebe Christen, auf eine besondere Eigentümlichkeit aufmerksam. Bei seiner Bußpredigt wendet er sich nicht sowohl an das Volk int ganzen, denn als solches existierte es ja eigentlich nicht mehr in der Verbannung, sondern an die Einzelnen. Diese sollten erst wieder zu geistlichem Leben geweckt und dann aufs neue zu einem Volke verbunden werden. Er predigte: wo sich der Gottlose bekehret von allen seinen Sünden, die er gethan hat, und hält alle meine Rechte und thut recht und wohl, so soll er leben und nicht sterben; . . . meinest du, daß ich Gefallen

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habe am Tode des Gottlosen, spricht der Herr, und nicht viel­ mehr, daß er sich bekehre von seinem Wesen und lebe (Ezech. 18, 21—23). Und er hofft, daß es zu einer allgemeinen Bekehrung kommen wird und verkündigt sie in dem merkwürdigen Ge­ sicht vom Totenfelde, dessen verdorrte Gebeine zu neuem Leben erwachen, als er auf göttlichen Befehl dem Winde ge­ bietet: blase diese Getöteten an, daß sie wieder lebendig werden! (Ezech. 37). Der Herr will, so bezeugt der Prophet weiter, die Abtrünnigen ausfegen aus dem Volk und sie nicht ins gelobte Land zurückkehren lassen, damit ihm auf seinem heiligen Berge das ganze Haus Israel, alle, die im Lande sind, dienen (Ezech. 20, 38—40). Diesen verspricht der Herr durch seinen Mund: ich will ihnen ein neu Herz und einen neuen ge­ wissen Geist in euch geben . ., und will meinen Geist in euch geben und solche Leute aus euch machen, die in meinen Ge­ boten wandeln und meine Rechte halten (Ezech. 36, 26—27). Ja, der Herr fügt das Versprechen hinzu: ich will ihnen einen einigen Hirten erwecken, der sie Waiden soll, nämlich meinen Knecht David, der wird sie Waiden und soll ihr Hirte sein < Ezech. 34, 23). Wir merken hier, liebe Christen, daß die Weissagung weit über das hinausgeht, was die Rückkehr aus der babylonischen Verbannung brachte. Es ist die Weissagung vom Messias und seinem Reiche. Und welcher Art dieses Reich sein wird, nämlich daß es geistliche Art haben wird, das stellt der Prophet dar in seiner geheimnisvollen Beschreibung des zukünftigen Tempels (Ezech. 40ff.). Die Predigt des Propheten Ezechiel ist nicht ohne Wirkung geblieben, ja sie hat einen großen Erfolg gehabt. Es trat in der That eine wesentliche Veränderung in der Gesinnung und in dem Verhalten der Gefangenen ein. Sie wurden von der seitherigen unheilvollen Neigung zur heidnischen Abgötterei gründlich und für immer geheilt, und wandten sich mit vollem Bewußtsein und ganzer Entschiedenheit dem Dienst und Ge­ horsam ihres Herrn Jehova zu. Mit heißer Sehnsucht warteten sie der Stunde, wann die ihnen gewordene göttliche Verheißung in Erfüllung gehen sollte. Wie herzergreifend spricht sich diese ihre Sehnsucht nach der heiligen Stadt aus in den Psalm-

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Worten: an den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten; . . vergesse ich dein, Jerusalem, so werde meiner Rechten vergessen! (Psalm 137). Wie inbrünstig lautet das Gebet: ach, daß die Hülfe aus Zion über Israel käme und der Herr sein gefangen Volk erlösete, so würde Jakob fröhlich sein und Israel sich freuen! (Psalm 147). Und wie jubelnd bricht diese Freude schon zum voraus in der Hoffnung hervor in den Worten: wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden, dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens fein, da wird man sagen unter den Heiden: der Herr hat Großes an ihnen gethan! (Psalm 126, 1—2). So sehnsuchtsvoll muß des Christen Blick gerichtet sein auf das himmlische Kanaan und zukünftige Neue Jerusalem, daß er jubelt: o Jerusalem, du schöne, o wie helle glänzest du! und betet: o Jesu, Herr der Herrlichkeit, du hältst die Stadt auch mir bereit, hilf mir sie auch erwerben! n. Es kam, wie der Prophet Jeremia vorausgesagt hatte. Nach Ablauf der siebzig Jahre ging die baby­ lonische Verbannung zu Ende und die Rückkehr ins gelobte Heimatland erfolgte. Doch ehe ich weiter davon rede, muß ich vor euch, liebe Christen, eines Mannes gedenken, der zwar in Babylonien keine öffentliche prophetische Wirksamkeit entfaltet hat, sondern als Staatsmann im heidnischen Weltreiche thätig gewesen ist, der aber trotzdem ein Prophet des Herrn Jehova in bevorzugtem Sinne war. Ich meine: Daniel. Ich ge­ denke seiner jetzt erst, weil seine Thätigkeit noch bis in die Zeit der Rückkehr seiner Volksgenossen währte und seine Weissagung sich über die ganze Geschichte des wiederhergestellten Gottes­ staates erstreckt. Er war mit anderen Jünglingen, Söhnen vornehmer Familien, bei der ersten Eroberung Jerusalems nach Babylonien gebracht und dort zum königlichen Hofdienst aus­ gebildet worden und hatte den chaldäischen Namen Seit» sazar erhalten. Er tritt zum erstenmal öffentlich hervor, als er dem König Nebukadnezar einen geheimnisvollen Traum, den ihm seine chaldäischen Weisen weder ins Gedächtnis zurückrufen

232 noch auslegen konnten, erzählte und deutete. Diese ihm von dem Herrn Jehova verliehene Gabe begründete seine fort« hinnige staatsmännische Stellung im Weltreich. Er war darin ein Nach- und Abbild des Joseph, der ebenfalls auf diesem Wege der oberste Beamte in Aegypten geworden war. Ihr wisset, es war der Traum Nebukadnezars von der Bildsäule mit gol­ denem Haupte, silberner Brust, kupfernem Leibe, eisernen Schenkeln und aus Eisen und Thon gemischten Füßen, wodurch die vier euch bekannten Weltreiche, das babylonische, medische, macedonische, römische, versinnbildet werden. Am Schlüsse des Traumes sah der König einen Stein von einem Berge herab­ rollen, der die Bildsäule zertrümmerte und dann zu einem die ganze Welt erfüllenden Berge erwuchs. Und die Deutung lautet: zur Zeit solcher Königreiche wird der Gott des Himmels ein Königreich ausrichtcn, das nimmermehr zerstört wird (Dan. 2). Seht, das ist das Königreich des Messias, unseres Herrn Jesu Christi. Der König erhob den Daniel zu hohem Amt. Unter seinem Sohne und Nachfolger Beltsazar war er zunächst zurückgeseht. Aber als einst bei einem wüsten Gast­ mahl der König durch eine rätselhafte Geisterschrift an der Wand erschreckt wurde, erinnerte man sich des weisen Daniel. Er ward herbeigeholt und erklärte dem zitternden König mit bewunderns­ wertem Mute diese Schrift: Mene, das ist: Gott hat dein König­ reich gezählt und vollendet; tekel, das ist: man hat dich in einer Wage gewogen und zu leicht erfunden; Peres, das ist: dein Königreich ist zerteilt und den Medern und Persern gegeben! (Dan. 5, 25—28). Der König Beltsazar ward in derselbigen Nacht umgebracht und der Mederkönig Darius nahm sein Reich ein. Dieser betraute den Daniel wieder mit einer hohen Würde. Noch in einem anderen Traumgesicht ward dem Daniel die Aufeinanderfolge der Weltreiche und der Eintritt des Gottes­ reiches vor Augen gestellt. Ich teile es euch mit, liebe Christen, weil es zum Verständnis der Weissagung im Neuen Testament von Wichtigkeit ist. Er schaut die Weltreiche unter dem Bilde von vier reißenden Tieren, eines Löwen, Bären, Parder und eines ungeheuerlichen Tieres mit zehn Hörnern. Unter diesen

233 bricht ein kleines Horn hervor, vor dem drei der anderen Horner ausgerissen werden und das Menschenaugen und ein groß­ sprecherisches Maul hat. Dann erblickt der Prophet eine gött­ liche Gerichtssitzung, welche der Alte der Tage abhält (Dan. 7), infolge deren das Tier getötet ward. Aber noch etwas anderes sieht der Seher: es kam einer in des Himmels Wolken wie eines Menschen Sohn bis zu dem Alten, und der Alte gab ihm ein ewiges Königreich. Das letzte Bild erklärt dem Propheten einer der Gerichtsbeisitzer: die zehn Hörner sind zehn Könige, welche aus dem vierten Weltreiche entstehen; das kleine Horn aber ist der letzte Feind des Gottesreiches, der den Höchsten lästert und die Heiligen verstört eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit, bis er gerichtet und vertilgt und das Reich dem heiligen Volk des Höchsten gegeben wird. Wir auf dem Stand­ punkt des Neuen Bundes, liebe Christen, verstehen Gesicht und Deutung. Die zehn Hörner stellen den gegenwärtigen Staaten­ bestand dar, das kleine Horn ist das Reich des Widerchrist am Ende des jetzigen Weltalters und das ewige Reich des Menschen­ sohnes ist das vollendete Reich Gottes. Nun merket aber weiter: das kleine Horn, der schließliche Widerchrist oder Endechrist, wie er auch genannt wird, hat sein Vorbild in der Zeit des Alten Bundes. Das wird dem Daniel in einem anderen Gesicht gezeigt. Er erblickt einen vom Abend her über die ganze Erde daherstürmenden Ziegenbock, dessen großes Horn jedoch schnell zerbrach und an dessen Stelle vier Hörner hervorsproßten, bis aus einem dieser ein klein Horn erwuchs, das bis an des Himmels Heer emporstieg. Der Engel Gabriel deutet ihm dies Gesicht auf das von Alexander dem Großen gegründete griechisch-macedonische Weltreich, das nach dessen frühem Tod in vier Königreiche zerfiel und aus deren einem der erbittertste Feind des Gottesreichs im Alten Bunde, der König Antiochus Epiphanes von Syrien hervor­ ging, der Widerchrist des Alten Bundes (Dan. 8). Nun kommen wir, liebe Christen, zur wichtigsten Zukunfts­ enthüllung, welche dem Propheten Daniel zu teil ward. Die siebzig Jahre, welche der Prophet Jeremia für die Dauer der Verbannung angegeben hatte, gingen ihrem Ende zu. Das

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trieb den Daniel zum Gebet und da ward ihm durch den Engel Gabriel die Eröffnung, daß binnen siebzig Jahr­ wochen, von dem Wiederaufbau Jerusalems an gerechnet, der Messias, der Erlöser und Ver­ söhner, kommen werde: siebzig Wochen sind bestimmt über dein Volk und deine heilige Stadt, so wird dem Uebertreten gewehrt, und die Sünde abgethan, und die Missethat versühnt, und die ewige Gerechtigkeit gebracht, und die Gesichte und Weissagung versiegelt und ein Allerheiligstes gesalbt werden (Dan. 9). Wie mag Daniels sehnsuchtsvolles Herz ob dieser göttlichen Mitteilung gejubelt haben! Denkt euch doch, liebe Christen, wie uns zu Mute sein würde, wenn wir heute die Er­ öffnung empfingen: binnen der und der Frist erfolgt die Wieder­ kunft des Heilands in Herrlichkeit! Wie würden wir seiner Mahnung Folge leisten: sehet auf und hebet euere Häupter auf darum, daß sich euere Erlösung nahet! (Luk. 21, 28). Der Ver­ lauf dieser siebzig Jahrwochen soll aber folgender sein: in den ersten sieben Jahrwochen wird Jerusalem wieder aufgebaut und das Volk genießt den Schluß der göttlichen Offenbarung im Alten Bunde. In den folgenden zwei und sechzig Jahrwochen wird »kümmerliche Zeit" im wiederaufgerichteten Gottesstaate sein, denn das Gottesvolk entbehrt der seitherigen göttlichen Offenbarung durch Propheten. Die siebzigste Jahrwoche führt den Anbruch des Neuen Bundes herbei; Christus erscheint und wird gekreuzigt; doch stärkt er vielen Gliedern seines Volks, die ihn im Glauben als den Heiland anerkennen, den Bund als Neuen Bund. Dann aber bricht das Gericht über das un­ gläubige Volk herein durch die römische Weltmacht, das Opfer samt dem ganzen Gottesdienst im Tempel hört auf, und der Greuel der Verwüstung tritt an seine Stelle, bis Stadt und Tempel zerstört und dem israelitischen Staate ein Ende gemacht wird (Dan. 9). Ihr wisset, liebe Christen, welche wichtige Be­ stätigung diese Weissagung durch unseren Helland erhalten hat, die ansehnlichste Bestätigung, welche den Weissagungen Daniels zu teil werden konnte! Er kündigt unter ausdrücklicher Be­ rufung auf dieselbe ebenfalls den Greuel der Verwüstung an heiliger Stätte und die Zerstörung Jerusalems und des Tempels

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an (Mtth. 24, 15). Daß seine Weissagung noch eine weitere und bis an den Schluß der gegenwärtigen Weltzeit reichende Bedeutung hat, das blieb allerdings dem Daniel verborgen. Uns aber ist es bekannt durch den neutestamentlichen Hinweis auf das Auftreten des Widerchrist, der den wahren Greuel an heiliger Stätte aufrichtet, indem er sich selbst in den Tempel Gottes setzt als ein Gott und giebt sich aus, er sei Gott (2. Thess. 2). Daß dieser Widerchrist der letzten Zeit sein Vorbild in dem König Antiochus habe, das habe ich bereits gesagt. Ueber diesen und sein Thun empfing Daniel noch einen ganz besonderen Auf­ schluß, den er seinen Volksgenossen mitteilen mußte, damit diese nicht unversehens überrascht würden. Er wird sein Herz richten wider den heiligen Bund, das Bundesvolk des Herrn Jehova, wird Jerusalem einnehmcn, den Tempel entweihen, das täg­ liche Opfer abthun und die getreuen Glieder des Gottesvolks mit Schwert, Feuer, Gefängnis und Raub verfolgen (Dan. 11). Das ist eine Läuterungszeit für das Bundesvolk, dem noch ein besserer Zustand beschert ist, ja dem eine ewige Errettung nach Auferstehung und Gericht bevorsteht (Dan. 12, 1—2). Dieser endlichen völligen Erlösung soll Daniel warten, denn ihm wird gesagt: du aber Daniel, gehe hin, bis das Ende komme und ruhe, bis du auferstehst zu deinem Erbteile am Ende der Tage! (Dan. 12,13). III. Wir haben den Verlauf der Geschichte des wieder­ hergestellten Gottesstaatcs in der Danielischen Weissagung ge­ sehen. Laßt uns diese Geschichte nun auch in der Wirklichkeit anschauen! Die Sehnsucht der frommen Glieder des Volks Israel nach dem gelobten Heimatland ging in Erfüllung durch den König des medisch-persischen Weltreichs Kares oder Cyrus. Wir dürfen wohl annehmen, daß der Einfluß des Staatsmannes Daniel den Weltherrscher so günstig für das Volk Israel gestimmt hat, daß er ihm die Erlaubnis zur Heimkehr gab. Ihn hatte schon der Prophet Jesaia mit Nennung seines Namens als den Helfer seines Volks bezeichnet: der ich spreche von Kores: der ist mein Hirt und soll all meinen Willen vollenden, daß man sage zu Jerusalem: sei gebauet! und

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zum Tempel: sei gegründet! (Jes. 44, 28). Unter der An­ führung Serubabels, eines Nachkommen Davids, und des Hohepriesters Josua zogen an fünfzigtausend Israeliten aus allen zwölf Stämmen nach dem gelobten Lande. Ich sage aus allen zwölf Stämmen, denn obgleich in Esr. 1, 5 nur die Stämme Juda und Benjamin erwähnt sind, so dürfen wir nicht daran zweifeln, daß sich Glieder aus allen zwölf Stämmen des Volks Israel an dieser Rückkehr beteiligten. Waren doch schon bei der Losreißung der zehn Stämme vom Hause Davids An­ gehörige dieser Stämme zum Stamme Juda übergesiedelt. Zwar sind die Bürger des Zehnstämmereichs in der assyrischen Ver­ bannung verschwunden. Aber da die prophetische Weissagung die Wiedervereinigung aller Stämme verkündet und da auch unser Heiland bei der Wahl von zwölf Aposteln das Vorhanden­ sein der zwölf Stämme voraussetzt, so ist unsere Annahme gewiß berechtigt. Das war nun allerdings nicht die volle Erfüllung von dem, was die Propheten geweissagt hatten von der allgemeinen Rück­ kehr des Gottesvolks aus allen Ländern der Zerstreuung (Jer. 23, 8) und von der Friedensherrschaft des anderen David

(Ez. 37, 15—28). Es war nur der Schatten von dem, was noch immer zukünftig ist, denn wie die vollständige Zerstreuung des Volks damals noch bevorstand, so steht auch jetzt die voll­ ständige Sammlung und Errettung desselben noch in Aussicht. Die Mehrzahl der Israeliten fühlte sich im Heidenlande so heimisch, daß sie in demselben zurückblieben. Die Heimkehren­ den waren im Ofen der Trübsal geläutert. Diese Auswahl war nun das geworden, was das Volk im ganzen bis dahin nie ge­ wesen war, ein dem Herrn Jehova treu ergebenes Volk. Sie bauten trotz der Verhinderung, welche ihnen die Samariter zeit­ weilig bereiteten, aber unter der Ermutigung durch den Pro­ pheten Haggai, den Tempel. Dieser Prophet verkündete: ich will dies Haus voll Herrlichkeit machen, spricht der Herr Zebaoth . ., es soll die Herrlichkeit dieses Hauses größer werden, denn des ersten gewesen ist (Hag. 2, 9). Wir verstehen jetzt, liebe Christen, den Sinn dieser Worte. Dieser Serubabelsche Tempel war wohl viel unschein-

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barer, als der Salomonische gewesen war, so unscheinbar, daß viele Alte, welche das vorige Haus gesehen hatten, bei der Grund­ steinlegung des jetzigen vor Trauer laut weinten. Es fehlte diesem Hause die längst verlorene Bundeslade und die des Herrn Gegenwart anzeigende Wolkensäule. Aber es erhielt dafür nach dem später vom König Herodes vollführten Aus- und Umbau einen überaus reichen Ersatz, der es hoch erhob über den Tempel Salomos. Das war die persönliche, gottmenschliche Anwesenheit des Messias-Heilands in demselben. Daß der Prophet darauf hinzielt, das erhellt daraus, daß er ausdrücklich hinweist auf das Kommen dessen, der aller Heiden Trost ist (Hag. 2, 6—9). Neben und nach Haggai wirkte unter den Heimgekehrten der Prophet Sacharja. In seiner Schrift leset ihr, liebe Christen, die deutlichsten Hinweisungen auf den kommenden Messias und Erlöser. Er nennt ihn Z e m a ch, Sprößling, denn unter ihm wird es wachsen und er wird bauen des Herrn Tempel (Sach. 6,12). Wir wissen, daß er damit den geistlichen Tempel der Gemeinde oder Kirche des Heilands meint. Er stellt ihir dar als Priester und König: er wird sitzen und herrschen auf seinem Thron und wird Priester sein auf seinem Thron (Sach. 6, 13). Er beschreibt ihn als den freien, offenen Born wider die Sünde und als einen gerechten Helfer für Israel und die Heiden (Sach. 13, 1; 9, 9—10). Und das wird er durch sein Blut, das Blut des Bundes (Sach. 9, 11), denn er wird geschlagen und zerstochen (Sach. 13, 7; 12, 10). Er schildert ihn als den, welcher die Ausgießung des Hell. Geistes herbei­ führt und die Bekehrung des Gottesvolks, das ihn erst verworfen hat (Sach. 12, 10—14). Aus der biblischen Geschichte ist euch, liebe Christen, bekannt, daß der Schriftgelehrte Esra eine zweite Abteilung Is­ raeliten nach dem gelobten Lande zuruckführte. Er mußte schon wieder als Reformator auftreten, denn bereits hatten sich unter den Heimgekehrten Gesetzwidrigkeiten eingeschlichen. Auf einer allgemeinen Volksversammlung las er dem Volk das Gesetzbuch

vor. Er unterrichtete die Priester und Leviten in demselben. Er beging mit dem ganzen Volk einen Bußtag und verfaßte eine Bundesurkunde, durch welche die Unterzeichner für sich und das

238 Volk sich eidlich zu pünktlichem Gehorsam gegen das Gesetz ver­ pflichteten (Neh. 10). Sein Volk ehrte ihn als einen zweiten Moses. Mit ihm zu gleicher Zeit wirkte N e h e m i a, den der Perser­ könig zum Landpfleger und Statthalter über das heimgekehrte Volk Israel ernannt hatte. Er betrieb aufs eifrigste den Bau der Mauern Jerusalems, trotz der beständigen Störung durch die feindlich gesinnten Samariter, die die bauenden Israeliten nötigten, daß sie mit der einen Hand die Arbeit thaten und mit der anderen die Waffen hielten (Neh. 4, 11). Nehemia über­ lebte den Esra, und während seiner Zeit trat der letzte der Pro­ pheten des Alten Bundes auf: Maleachi. Mit ihm sollte nach dem Ratschluß des Herrn Jehova vorläufig die Offen­ barung aufhören. Aber er weissagte deutlich nicht nur den kommenden Messias als den Bundesengel und die Sonne der Gerechtigkeit, sondern auch das Auftreten des allerletzten der Propheten des Alten Bundes. Er verkündete den Vorläufer des Messias-Heilands als dessen Wegbereiter und als einen anderen Elias, der das Herz der Väter bekehren soll zu den Kindern und das Herz der Kinder zu den Vätern (Mal. 3, 1; 4, 2. 5. 6). So war denn der Gottesstaat des Alten Bundes noch einmal aufgerichtet. Aber er war in vieler Hinsicht doch ein anderer, als der frühere. In einer Beziehung war er allerdings besser, als jener. Das Bundesvolk war von seiner früheren Abgötterei frei geworden und wandelte nun im Gehorsam gegen das geoffen­ barte Gesetz. Wenn diese Gesetzestreue nur auch allgemein mit innerlicher Frömmigkeit verbunden gewesen wäre! Aber das war nur bei der Minderheit der Fall. Die Mehrzahl ließ es bei äußerer Gesetzesbefolgung bewenden und setzte dahinein die Frömmigkeit. Hinter dem früheren Gottesstaat stand aber der jetzige doch weit zurück. Es fehlte ihm an den drei wesentlichsten Vorzügen, an den drei eigentlichen Grundlagen desselben, an dem gottgesalbten Davidischen Königtum, an der fortgesetzten unmittelbaren Gottesoffenbarung durch Prophetenmund, und an der Gnadengegenwart des Herrn Jehova im Allerheiligsten des Tempels. Das stimmt uns, liebe Christen, allerdings zur Traurigkeit. Doch haben wir den Trost, daß dem Gottesstaat

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des Alten Bundes noch eine Gnadenheimsuchung bevorsteht, die mit der Erscheinung des Messias, unseres Heilands, als des rechten Königs David, als des vollkommensten Propheten und als der leibhaftigen Offenbarung der Herrlichkeit des Herrn eintreten soll. Amen.

20. Tert: tlehem. 8,1—3. 6; 10,1. 29—30.

„Da nun herzukam der siebente Monat und die Kinder Israel in ihren Städten waren, versammelte sich das ganze Volk wie ein Mann auf die breite Gasse vor dem Wasserthor, und sprachen zu Esra, dem Schriftgelehrten, daß er das Buch des Gesetzes Mosis holete, das der Herr Israel geboten hat. Und Esra, der Priester, brachte das Gesetz vor die Gemeinde, beide, Männer und Weiber, und alle, die es vernehmen konnten, am ersten Tage des siebenten Monats, und las drinnen auf der breiten Gasse, die vor dem Wasserthor ist, vom lichten Morgen an bis auf den Mittag vor Mann und Weib und wer's ver­ nehmen konnte. Und des ganzen Volks Ohren waren zu dem Gesetzbuche gekehret. . . Und Esra lobte den Herrn, den großen Gott, und alles Volk antwortete: Amen, Amen! mit ihren Händen empor, und neigten sich und beteten den Herrn an mit dem Antlitz zur Erde. — Und in diesem allen machen wir einen festen Bund, und schreiben und lassen's unsere Fürsten, Leviten und Priester versiegeln. . . Und das andere Volk, Priester, Leviten, Thorhüter, Sänger, Nethinim und alle, die sich von den Völkern in den Landen gesondert hatten zum Gesetz Gottes samt ihren Weibern, Söhnen und Töchtern, alle, die es ver­ stehen konnten, hielten sich zu ihren Brüdern, den Mächtigen, und kamen, daß sie schwuren und sich mit einem Eid ver­ pflichteten, zu wandeln im Gesetz Gottes, das durch Moses, den Knecht Gottes, gegeben ist, daß sie es hielten und thun wollten

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des Alten Bundes noch eine Gnadenheimsuchung bevorsteht, die mit der Erscheinung des Messias, unseres Heilands, als des rechten Königs David, als des vollkommensten Propheten und als der leibhaftigen Offenbarung der Herrlichkeit des Herrn eintreten soll. Amen.

20. Tert: tlehem. 8,1—3. 6; 10,1. 29—30.

„Da nun herzukam der siebente Monat und die Kinder Israel in ihren Städten waren, versammelte sich das ganze Volk wie ein Mann auf die breite Gasse vor dem Wasserthor, und sprachen zu Esra, dem Schriftgelehrten, daß er das Buch des Gesetzes Mosis holete, das der Herr Israel geboten hat. Und Esra, der Priester, brachte das Gesetz vor die Gemeinde, beide, Männer und Weiber, und alle, die es vernehmen konnten, am ersten Tage des siebenten Monats, und las drinnen auf der breiten Gasse, die vor dem Wasserthor ist, vom lichten Morgen an bis auf den Mittag vor Mann und Weib und wer's ver­ nehmen konnte. Und des ganzen Volks Ohren waren zu dem Gesetzbuche gekehret. . . Und Esra lobte den Herrn, den großen Gott, und alles Volk antwortete: Amen, Amen! mit ihren Händen empor, und neigten sich und beteten den Herrn an mit dem Antlitz zur Erde. — Und in diesem allen machen wir einen festen Bund, und schreiben und lassen's unsere Fürsten, Leviten und Priester versiegeln. . . Und das andere Volk, Priester, Leviten, Thorhüter, Sänger, Nethinim und alle, die sich von den Völkern in den Landen gesondert hatten zum Gesetz Gottes samt ihren Weibern, Söhnen und Töchtern, alle, die es ver­ stehen konnten, hielten sich zu ihren Brüdern, den Mächtigen, und kamen, daß sie schwuren und sich mit einem Eid ver­ pflichteten, zu wandeln im Gesetz Gottes, das durch Moses, den Knecht Gottes, gegeben ist, daß sie es hielten und thun wollten

240 nach allen Geboten, Rechten und Sitten des Herrn, unseres Herrschers." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Wir ersehen aus unserem Texte, in welcher Weise der Gottesstaat des Alten Bundes wieder aufgerichtet und auf welchen Grund er auf­ gebaut wurde. Es war gewiß die rechte Grundlage, welche ihm seine Hersteller bereiteten. Esra hielt eine Volksversamm­ lung ab in dem wieder aufgebauten Jerusalem, und da heißt es in unserem Texte: „Esra, der Priester, brachte das Gesetz vor die Gemeinde . . und las drinnen . . vom lichten Morgen an bis auf den Mittag." Die Grundlage des Gottesstaates sollte und durfte keine andere sein, als das von Gott geoffenbarte Gesetz. Das wurde auch von dem Volke anerkannt und ge­ billigt, denn unser Text bezeugt: „sie sprachen zu Esra, dem Schriftgelehrten, daß er das Buch des Ge­ setzes Mosis holete, das der Herr Israel geboten hat, . . und des ganzen Volks Ohren waren zu dem Gesetzbuch gekehret." Es war demnach eine höchst erfreuliche, ja eine begeisterte Willigkeit des heimgekehrten Gottesvolks zur Neugründung des Gottesstaates vorhanden. Und diese Willigkeit trieb Esra dazu, daß er die von ihm berufene Volksversammlung, die sich zu einem Gottesdienste gestaltet hatte, feierlich mit Gebet schloß, mit Lob und Preis Gottes, zu dem alles Volk mit Erhebung der Hände und darauf folgender Niederwerfung zur Erde das Amen sprach. Ja, des Volks Willigkeit that sich noch in einer weiteren Handlung kund, von welcher der zweite Teil unseres Textes Nachricht giebt, indem er berichtet: „in diesem All en machten wir einen festen Bund, und unterschrieben und ließen es unsere Fürsten . . versiegeln, . . und das andere Volk, . . Alle, die es verstehen konnten, hielten sich zu ihren Brüdern, den Vorstehern, und kamen, daß sie . . . sich mit einem Eide verpflichteten, zu wandeln im Gesetz Gottes." Eine förmliche schriftliche Urkunde über die Erneuerung des Alten Bundes wurde demnach ausgenommen. Und somit war der Gottesstaat in

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rechter Weise wieder aufgerichtet.

Es ist nun unsere

Aufgabe, auf denselben unsere Blicke zu richten. also über

Reden wir

Dm wtederhergestellten Gottesstaat, und betrachten wir

1. seine äußere Geschichte, 2. seine innere Entwicklung, und 3. sein Ende. I. Die Wiederaufrichtung des Gottesstaates ist schon manch­ mal mit der Reformation der Kirche verglichen worden, oder man hat in jener ein Vorbild dieser erblicken wollen. Was sagen wir dazu, liebe Christen? Der Gottesstaat des Alten Bundes war unter Davids Königtum der göttlichen Absicht wohl am nächsten gekommen, aber seitdem in Spaltung und Verfall ge­ raten. So war es auch mit der christlichen Kirche gegangen. Sie stand in der Zeit der Apostel in höchster Blüte, geriet aber im Laufe des Mittelalters in Irrlehren, Mißbräuche und Spaltungen. Sie hätte untergehen müssen, wenn ihr nicht der Herr Jesus Christus die Reformation gegeben hätte. Diese war ein Versuch, die Kirche zu ihrer Urgestalt zurückzuführen, gerade wie das Werk Serubabels und Esras ein Versuch war, den Gottesstaat des Alten Bundes in seiner ursprünglichen Gestalt herzustellen. Allein so wenig dieser Versuch vollständig gelungen ist, ebensowenig auch jener. Doch hat das Werk der Männerwelche die Gefangenen aus Babylonien nach dem gelobten Lande zurückführten, das heidnische Wesen aus dem Gottesstaat entfernt und den rechten Gottesdienst eingeführt. Und seht, so hat auch die Kirchenreformation die christliche Lehre von den eingerissenen Irrtümern und den Gottesdienst von den ein­ geschlichenen Mißbräuchen gereinigt. Wenigstens hat sie das für denjenigen Teil der Christenheit gethan, der ihr zufiel. Und es ist dort wie hier geschehen gemäß dem Worte Gottes, dort gemäß dem geoffenbarten Gesetz und hier gemäß dem geoffenbarten Evangelium, wie beides in der Heiligen Schrift überliefert ist. Darum hat der Vergleich in der That seine Berechtigung. Schnabel, Predigten.

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Ich habe bereits gesagt, liebe Christen, daß die göttliche Offenbarung in dem wiederhergestellten Gottesstaat für die Dauer von vierhundert Jahren verstummte. Daß sich da das Bedürfnis fühlbar machte, die schriftlichen Urkunden der seitherigen Offenbarung zu sichern und zu diesem Zweck sie in einer Sammlung zu ver­ einigen, ist gewiß erklärlich. Warum sollten wir also zweifeln an der Nachricht, daß Esra und Nehemia diese Sammlung der unter dem Alten Bunde entstandenen, von prophetischen Männern unter Erleuchtung des Heiligen Geistes verfaßten Schriften veranstaltet haben? (2. Makk. 2,13). Soviel ist gewiß, daß die Sammlung der Schriften des Alten Testaments zu der Zeit, da unser Heiland predigte, längst vollendet war. Und es ist euch aus dem Neuen Testament wohl bekannt, daß der Herr Jesus und seine Apostel das Alte Testament als die Heil. Schrift des Alten Bundes anerkannt haben. — Eine ähn­ liche Erfahrung, wie die Israeliten der damaligen Zeit, machten später die Christen nach dem Ablauf der apostolischen Zeit. Die göttliche Heilsoffenbarung, welche mit dem Propheten Maleachi nur vorläufig eingestellt worden war, hatte mit dem Abscheiden der Apostel ganz aufgehört. Die Kirche hatte nun weder Pro­ pheten noch Apostel mehr. Da galt es das zu wahren und zu sichern, was von schriftlichen Urkunden vorhanden war aus der Urkirche, in welcher der Heilige Geist eine so außerordentliche Wirksamkeit geübt hatte. So entstand die Sammlung der unter besonderer Erleuchtung des Heiligen Geistes verfaßten Schriften des Neuen Testaments. Wer möchte daran zweifeln, daß sowohl jene wie diese Sammlung unter göttlicher Leitung statt­ gefunden hat? Wie das Volk des Alten Bundes für vierhundert Jahre auf das Alte Testament, so ist die Christenheit nun bereits seit achtzehn Jahrhunderten auf das Neue Testament als die allein und völlig zuverlässige, ja unfehlbare Erkenntnisquelle der göttlichen Offenbarung angewiesen. An dieser Gottesoffen­ barung, an dem Gottesworte, das in diesen Sammlungen ent­ halten ist, hatte das Volk des Alten Bundes und hat die Ge­ meinde des Neuen Bundes allezeit ihres Fußes Leuchte und das Licht auf ihrem Wege, und darf bekennen: wir haben ein festes

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prophetisches Wort, ein Licht, das da scheinet an einem dunkeln Ort, bis der Tag anbricht (2. Petr. 1,19). Als solches Licht hat sich das Gottcswort des Alten Testa­ ments dem Volk des Alten Bundes, den Juden — diesen Namen führten sie jetzt in der Welt und legten sich denselben auch selbst bei nach dem seit der Spaltung des einheitlichen Gottesstaates in den Vordergrund der Geschichte tretenden Stamme Juda — gar bald in schlimmer Zeit bewährt. Zu­ nächst zwar nach Wiederherstellung des Gottesstaates ging es ihnen erträglich. Wohl wechselte die Herrschaft, unter welche sie zu stehen kamen. An die Stelle des persischen trat das griechische Weltreich. Dessen Gründer, Alexander der Große, be­ gegnete ihnen freundlich. Dieser Herrscher ist für die Geschichte des Reiches Gottes von Bedeutung. Das ist nicht so zu ver­ stehen, liebe Christen, als ob er das Gottesreich mit Wissen und Willen gefördert hätte. Nein, er stand ihm persönlich fern. Aber durch ihn wurde die griechische Sprache die allgemeine Weltsprache, und wie sehr das später der Ausbreitung des Christentums, der Predigt des Evangeliums zu statten kam, das ist euch aus dem Neuen Testament bekannt. Als die Juden nachher unter die Herrschaft der ägyptischen Könige kamen, ge­ währten ihnen auch diese eine milde Behandlung und zogen sogar viele derselben nach Aegypten. Ueberhaupt breiteten sich die Juden in diesen Zeiten immer mehr in alle Länder aus, ließen sich Handel treibend in den großen Städten nieder, sammelten sich zu Gemeinden und bauten sich Schulen oder Synagogen. So wurden die Heiden vielfach mit dem Glauben und der Hoffnung Israels bekannt. Ihr wisset, liebe Christen, daß Gottes Wort von den heid­ nischen Völkern sagt: in vergangenen Zeiten hat er lassen wan­ deln alle Heiden ihre eigenen Wege (Apg. 14, 16). Was will das sagen? Während Gott ein einzelnes Volk, das kleine Israel, sich ausersah, um ihm eine übernatürliche Offenbarung und wunderbare Mitteilung seines Heilsplanes und Erlösungsrat­ schlusses zu teil werden zu lassen und es in seine besondere Leitung und Erziehung zu nehmen zur Vorbereitung auf den Eintritt der Erlösung und auf die Erscheinung des Heilands, — überließ er 16*

244 die übrigen Völker der Erde der natürlichen Offenbarung in der Schöpfung und in dem Gewissen, und dem Gebrauche, welchen sie von dieser durch ihre Vernunft und ihren Verstand machen würden. Auf diesem Wege sollten sie Gott suchen und finden (Apg. 17, 27). Aber wozu sind die Heiden gelangt? Wenn ihr das erfahren wollet, dann müßt ihr die Anfangskapitel des Briefes an die Christengemeinde zu Rom lesen. Zur unver­ nünftigen Naturvergötterung und zum abscheulichsten Sünden­ dienst. Die Heidenwelt hatte einen religiösen und sittlichen Bankrott gemacht, und schließlich stand es so in ihr, daß sie ihrer falschen Religion überdrüssig geworden waren und sich teils in völligen Unglauben stürzten, teils bei den sonst in ihren Augen verachteten Juden etsvas Besseres suchten. Und siehe, diesem Suchen kam die Zerstreuung Israels zu statten. Die suchenden Heidenscelen vorzubereiten auf die kommende Predigt des Evan­ geliums, das war die Mission, welche das Volk des Alten Bundes in dieser Zeit nach Gottes Absicht ausführen sollte. Und diese Mission zu erfüllen, dazu diente auch wesentlich die Uebersetzung des Alten Testaments in die griechische Sprache. Sie entstand in Alexandrien in Aegypten und führt den Namen Septuaginta, weil sie von siebzig jüdischen Schriftgelehrten gemacht worden sein soll. Darnach kam der wiederhergestellte Gottesstaat unter die Herrschaft der syrischen Könige, und einer derselben, Antiochus Epiphanes, that wie der Prophet Daniel von ihm vorausgcsagt hatte. Er war der ärgste Feind des Gottes­ staates und Gottesreiches. Er bereitete dem Gottesvolk schwere Bedrängnis und Verfolgung. Er wollte alle seine Unterthanen zu einerlei Religion und Gottesdienst bringen. Darum verbot er den Opferdienst im Tempel zu Jerusalem, die Fest- und Sabbathheiligung und die Beschneidung. Dagegen ließ er heid­ nische Altäre, Tempel und Götterbilder aufrichten und Schweine und andere unreine Tiere opfern. Im Tempel zu Jerusalem ließ er die Bildsäule des heidnischen Gottes Jupiter aufstellen. Das war ein Gräuel der Verwüstung an heiliger Stätte (Dan. 11, 31). Die heiligen Schriften ließ er verbrennen, und wandte alle ersinnlichen Marter an, um die Juden zum Abfall

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von ihrem Glauben und Gottesdienst zu bringen. Da fielen denn allerdings nicht wenige wirklich ab. Aber viele blieben auch treu und bewundernswerte Beispiele von Märtyrertum werden berichtet (1. Makk. 1). Einen heldenmütigen Märtyrer­ tot starb der greise Schriftgelehrte E l e a s a r, welcher der Ju­ gend ein nachahmenswertes Beispiel von Gesetzestreue hinter­ lassen wollte (2. Makk. 6). Und eine ergreifende Glaubenstreue bewies eine Mutter mit ihren sieben Söhnen, die alle unter ent­ setzlichen Qualen starben in der Hoffnung: der Herr aller Welt wird uns auferwecken zum ewigen Leben (2, Makk. 7). Unter dieser Verfolgung erhoben sich die Juden, angeführt vom Priester Mattathias und seinen Söhnen, gegen den syrischen Unter­ drücker. Der älteste dieser Söhne bekam von seiner Tapferkeit den Namen M a k k a b i, der Hämmerer, und von ihm erhielt die ganze Familie den Namen der Makkabäer. Sie waren siegreich gegen die persischen Heere, stellten den Tempel wieder her und richteten den gesetzmäßigen Gottesdienst aufs neue ein. Sie übernahmen die Regierung über das jüdische Volk und nahmen sogar die Königs würde an, so daß der Gottesstaat wieder einen rechtmäßigen und selbständigen König hatte. Das Volk befand sich wohl unter ihrer Herrschaft, und wartete auf den rechten Propheten, welcher kommen sollte, auf den Messias (1. Makk. 14, 41). Als aber in der Familie der Makkabäer ein Streit entstand um die Regierung, rief einer derselben die Römer zu Hülfe, und diese machten Land und Volk zu ihrem Eigentum und setzten als Unterkönig einen Freinden ein, den Edomiter Herodes. Das war der Anfang vom Ende des Gottesstaates im Alten Bunde. II. Ehe wir nun zusehen, liebe Christen, wie sich dieses Ende vollzieht, blicken wir zuerst auf die innere Entwick­ lung des Gott es staats und Gott es Volks! Das Volk des Alten Bundes war an die heiligen Schriften des Alten Testaments gewiesen und betrachtete diese als den Kanon, als die Richtschnur und Regel für seinen Glauben und Gottesdienst. Wie wichtig mußte ihm deshalb die Erforschung dieser Heil. Schrift sein! Dazu bildete sich denn auch ein be­ sonderer Stand, der Stand der Schriftgelehrten, als

246 dessen Begründer Esra galt. Diese Schriftgelehrten übten aber ihren Beruf gar bald schon in verkehrter Weise, nicht im Geiste innerlicher Frömmigkeit, sondern äußerlicher Gesetzlichkeit. Ja, sie glaubten ihren Beruf recht zu erfüllen, wenn sie zu den Ge­ boten der göttlichen Offenbarung noch recht viele selbsterdachte Zusätze machten und diese ihren Volksgenossen auflegten. Das sind die Aufsätze der Aeltesten, die unser Heiland so ernst­ lich bekämpfte. Wie in der Zerstreuung, so legten die Juden auch in ihrem Heimatlande an allen Orten Schulen oder Synagogen an. Das waren die Orte, wo sie sich an den Sabbath- und Festtagen zu gemeinsamem Gebet und Schrift­ lesung versammelten. Daß sie durch diese Synagogen in den heidnischen Städten eine gottgewollte Mission ausübten, darauf habe ich euch bereits aufmerksam gemacht. Die Heiden hatten Zutritt zu diesen Judenschulen. Und so finden wir denn auch, daß viele, denen ihre heidnische Religion keine Befriedigung mehr gewährte, diesen freien Zugang benutzten, um einen besseren Glauben kennen zu lernen, und nicht wenige derselben traten zum Judentum über. Das sind die Judengenosscn oder Proselyten. Deren gab es zwei Klassen. Proselyten des Thors oder gottesfürchtige Heiden waren diejenigen, welche sich nicht dem ganzen Gesetze unterzogen, sondern nur die sogenannten Gebote Noahs, welche die Gotteslästerung, den Götzendienst, den Todschlag, den Raub, die Blutschande, die Widersetzlichkeit gegen die Obrigkeit und den Blutgenuß verboten, beobachteten. Solche Proselyten des Thores waren die euch wohlbekannten Hauptleute zu Kapernaum und Cäsarca (Luk. 7; Apg. 10). Bei solchen fand die Predigt des Evangeliums be­ sonders willige Aufnahme. Proselyten der Gerechtig­ keit waren dagegen diejenigen Heiden, welche dem Judenvolk durch die Beschneidung förmlich einverleibt und als Kinder des Bundes angesehen wurden. Nun muß ich euch, liebe Christen, auf eine Erscheinung in der religiösen Entwicklung des Bundesvolks aufmerksam machen, die ihr zum Verständnis des Neuen Testaments kennen müsset. Es bildeten sich nämlich verschiedene Religionsparteien aus, und die wichtigsten sind die Pharisäer und die Sad-

247 jucäer. Die gehorsamsten Anhänger und Jünger der Schriftzelehrten waren die Pharisäer. Der Name bedeutet Ab­ gesonderte. Sie huldigten der gesamten Lehre der Schrift­ gelehrten, der Engellehre und der Lehre von der Auferstehung -er Toten. Sie bestrebten sich allerdings einer besonderen Frömmigkeit, aber sie setzten diese in die sorgfältigste und eng­ herzigste Befolgung der gottesdienstlichen Gebote des Moses und -er Schriftgelehrten. Dadurch erwarben sie sich wohl großes Ansehen bei der Masse des Volks, verloren sich aber ganz und xar in äußerliche Werkgerechtigkeit. Und indem sie die gottes­ dienstlichen Vorschriften über das Sittengesetz stellten, das sie vielfach schnöde verletzten, gerieten sie in Scheinheiligkeit und Heuchelei. So seiheten sie Mücken und verschluckten Kameele, wie ihnen unser Heiland vorwarf, verzehnteten Minze, Till und Kümmel und ließen dahinten das Schwerste im Gesetz, nämlich das Gericht, die Barmherzigkeit und den Glauben (Mtth. 23, 23—24). Sie waren allerdings die rechtgläubige Partei. Sie achteten das Alte Testament als die Urkunde der göttlichen Offen­ barung. Das erkennt auch unser Heiland bei ihnen an, indem er von ihnen zum Volke sagte: auf Mosis Stuhl sitzen die Schristgelehrten und Pharisäer; Alles, was sie euch sagen, das ihr thun sollt, das haltet und thut esl Leider aber muß er zu­ gleich hinzufügen: aber nach ihren Werken sollt ihr nicht thun; sie sagen es wohl, aber sie thun's nicht (Mtth. 23, 2—3). Er hatte einen schweren Kampf mit dieser Partei zu bestehen. Seine Bußpredigt, seine Betonung der Sittengebote und deren geist­ liche Auslegung empörte diese Selbstgerechten dermaßen, daß sie seine entschiedensten Gegner wurden, und das um so mehr, als sie sahen, daß die Masse des Volks sich von ihnen ab- und ihm zuneigte. Als diejenigen, welche die Frömmsten sein wollten, hätten sie ihm am ersten'zufallen sollen. Da sie sich feindselig von ihm abwandten, so greift er sie offen an, deckt dem Volk ihre falsche Frömmigkeit und Heuchelei, ihren sittlichen Leichtsinn, ihren Lügen- und Mordsinn, ihre Verblendung und Verstockung auf, und ruft ein achtfaches Wehe über sie aus, als die den Menschen das Himmelreich zuschließen und diejenigen, die sie zu Genossen gewinnen, zu Kindern der Hölle machen (Mtth. 23).

248 Aber — so fragt ihr wohl, liebe Christen—, gab es denn unter dieser Pharisäerpartei nicht auch einzelne Besser- und Gut­ gesinnte? Und ihr denkt dabei gewiß an solche, die unseren Heiland wie Simon zu Gaste luden (Luk. 7), oder an Nikodemus, der ihn bei Nacht aufsuchte, um sich mit ihm über religiöse An­ gelegenheiten zu besprechen (Joh. 3), oder an denjenigen, welcher ihm vertrauensvoll die Frage zur Beantwortung vorlegte: was muß ich thun, daß ich selig werde? (Luk. 10, 25). Gewiß, es fanden sich solche unter ihnen, aber sie sind leider die Ausnahme von der Regel. Doch thun wir gut, liebe Christen, wenn wir im Blick auf diese selbstgerechten Pharisäer uns fragen, ob nicht auch in der Christenheit ähnliche Leute sich finden. Wird doch die Werkgerechtigkeit in einem großen Teil der Christenheit ge­ flissentlich dadurch großgezogen, daß die Geistlichkeit die Leute lehrt: die Befolgung der kirchlichen und gottesdienstlichen Vor­ schriften ist verdienstlich vor Gott und erwirbt euch die Seligkeit. So ist es in der katholischen Christenheit. Giebt es aber nicht auch in unserer evangelischen Kirchengemeinschaft genug solcher, welche durch ihre Tugendwerke oder gar durch ihre äußerliche Kirchlichkeit die Seligkeit sich zu verdienen gedenken? Hüten wir uns ängstlich vor der Gleichheit mit den Pharisäern, und ver­ gessen wir keinen Augenblick, daß nur innere Herzensfrömmigkeit vor Gott gilt und daß diese wurzelt im bußfertigen Glauben an den Sünderheiland! Achten wir jetzt auf die Sadducäer. Sie waren der Gegensatz der Pharisäer. Sie verwarfen die Aufsätze der Schrift­ gelehrten, leugneten das Dasein der Engel, bestritten die Lehre von der Auferstehung und zukünftigen Welt. Sie befreundeten sich mit der heidnischen Weltweisheit und huldigten einer frei­ geistigen Richtung. Dadurch entfremdeten sie sich wohl der Masse des Volks, aber die Mächtigen und Reichen standen auf ihrer Seite. Ja, sogar die hohepriesterliche Würde errangen sie und nahmen viele Sitze im Hohenrat ein. Wie schon Johannes der Täufer sie mit den Pharisäern scharf verurteilte, so trat ihnen auch der Heiland entgegen und überwies sie ihrer religiösen Un­ wissenheit (Mtth. 22, 29). Dem Glauben an ihn verschlossen sie sich gleich den Pharisäern.

249 Gewiß liegt euch, liebe Christen, die Frage nahe: wie stand es denn bei diesen beiden Parteien mit der Stellung zu dem­ jenigen Teil der göttlichen Offenbarung, der neben dem Gesetz der wichtigste im Alten Bunde war; ich meine: wie standen diese Parteien zu der großen Hoffnung Israels, der Hoffnung auf den Messias und sein Reich? Diese Hoffnung war noch lebendig im Bundesvolk, und auch die Pharisäer und Sadducäer hielten an ihr fest. Aber wie war dieselbe im Laufe der Zeit entstellt, wie tief war sie von ihrer prophetischen Höhe herabgezerrt worden. Nicht einen solchen Messias erwarteten die Juden, der als der Mittler zwischen Gott und den Menschen auftreten, der die Sündenschuld des Volks und der ganzen Welt durch stell­ vertretendes Leiden und Sterben sühnen und dadurch den über die Sünde der Menschen entbrannten Zorn Gottes versöhnen sollte (Jesaia 53), der sich als religiös-sittlicher Erlöser erweisen und den Menschen Vergebung der Sünden und den Heiligen Geist zur Erneuerung und Heiligung erwerben und verleihen (Jerem. 31), und der zunächst als der Gründer und König eines geistlichen Gottesreiches erscheinen sollte, dessen Bürger­ schaft durch Buße und Bekehrung gewonnen wird. Nein, ihr Messiasbild war ein ganz anderes. Sie erwarteten einen Messias, der als mächtiger, weltlicher König auftreten, sein Volk von der Fremdherrschaft befreien und an seiner Spitze sich zum Weltherrscher aufwerfen würde. O, wie äußerlich, weltlich, fleischlich war die Hoffnung des Gottesvolks geworden! Da kann es uns freilich nicht wundernehmen, wenn wir aus der Lebensgeschichte unseres Heilands erfahren, wie er statt all­ gemeinen Anklang zu finden, gerade bei den Pharisäern und Sadducäern auf Widerspruch und Feindseligkeit stieß. Das waren die bedeutendsten religiösen Richtungen und Parteien im Gottesvolk des Alten Bundes in dessen Ausgangs­ zeit. Empfangen wir da nicht den Eindruck, liebe Christen, als ob die sich über Jahrtausende erstreckende Arbeit Gottes an diesem Volke zu dessen Vorbereitung auf die Erscheinung des Erlösers zur Aufrichtung des Reiches Gottes vergeblich gewesen, als ob die gnädige Absicht Gottes durch die Sünde der Menschen vereitelt worden wäre? Ja, so scheint es. Und doch erscheint

250 es nur demjenigen so, dessen Blick an der Oberfläche klebt. Laßt uns tiefer blicken in das israelitische Volksleben, und wir werden gewahren, daß doch noch eine dritte Partei vorhanden ist, deren Glieder den Beweis liefern, daß die Erziehung, die Gott seinem Bundesvolk erwies, gute Frucht getragen hat. Als ihre Vertreter erscheinen die Hirten in Bethlehem, der greise Simeon und die hochbetagte Hanna im Tempel. Zu ihnen zählt auch der Priester Zacharias und sein Weib Elisabeth, vor allen aber die Jungfrau Maria und ihr Verlobter Joseph. Ja, zu ihnen ge­ hören alle, welche unser Heiland zu seinen Jüngern und Aposteln erwählte. Das waren die Stillen im Lande, die Ueberbliebenen, der heilige Samen (Jes. 6, 13; 10, 20), an welchen es in Israel nie fehlen sollte, deren geistliche Gesinnung sich ausspricht in den euch bekannten Worten, mit welchen Simeon das Jesuskind im Tempel begrüßte: Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen (Luk. 2, 29—30). Und wenn wir darauf achten, daß von der hochbetagten Hanna erzählt wird: sie redete von ihm zu allen, die auf die Erlösung warteten (Luk. 2, 38), so dürfen wir wohl die Ueberzeugung hegen, daß dieser Harrenden so gar wenige nicht gewesen sind. III. Wir haben die innere religiöse Entwicklung des Gottesvolks Israel in seiner letzten Periode angeschaut. Werfen wir nun noch einen Blick auf die äußere Geschichte des­ selben. Daß es schließlich unter die römische Herrschaft geriet, habe ich bereits erwähnt. Was war das doch für eine Demütigung für das Volk, mit dem Gott in einen besonderen Bund getreten war und dessen unsichtbarer König er selbst sein wollte, während er ihm für alle Zeit einen sichtbaren König aus seiner eigenen Mitte zugedacht hatte, bis er selbst als sein König sichtbar-menschlich unter ihm erscheinen würde, daß es aus der Herrschaft der einen Weltmacht in die der anderen geriet! Nun hatten ihm gar die Römer einen Unterkönig aus dem fremden Volke der Edomiter gegeben, den schrecklichen Herodes. Um sich das jüdische Volk einigermaßen zu befreunden, baute er ihm seinen Tempel mit großer Pracht aus. Doch würde sein Name und sein Gedächtnis wohl längst versunken und vergessen sein,

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wenn nicht unter seiner Regierung das größte Ereignis der Weltgeschichte eingetreten wäre: die Geburt des MessiasHeilands. Nachdem noch einige andere Regenten aus der Fa­ milie des Herodes ihm in der Herrschaft gefolgt waren, ver­ walteten kaiserliche Statthalter oder Landpfleger das zur römischen Provinz erklärte Judäa, und zwar in so ungerechter Weise, daß eine Empörung des Volks ausbrach, infolge deren der römische Feldherr Titus das Land und die von Hunger und Krankheit furchtbar heimgesuchte Stadt Jerusalem eroberte. Die Stadt mitsamt dem Tempel wurde zerstört und das jüdische Volk in alle Länder zerstreut. Da ging in traurigster Weise die unter schmerzlichen Thränen gesprochene Weissagung unseres Heilands in Erfüllung: Jeru­ salem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigest, die zu dir gesandt sind; wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt; wenn du doch erkennetest, was zu deinem Frieden dient; aber nun ist es vor deinen Augen verborgen, denn es wird die Zeit über dich kommen, daß deine Feinde werden um dich und deine Kinder eine Wagenburg schlagen, dich belagern und an allen Orten ängsten, und werden dich schleifen und keinen Stein auf dem anderen lassen, darum daß du nicht erkannt hast die Zeit, darinnen du heimgcsucht bist! (Mtth. 24, 87; Luk. 19, 42—44). Das geschah im Jahre 70 nach Christi Geburt. Das war das Gottesgericht für die größte Frevelthat, die je auf dieser an Gewaltthaten so reichen Erde verübt worden ist, für den Mord, den das ehemalige Gottesvolk an seinem Erlöser beging. Die letzte und größte Gnadenheimsuchung an seinem Bundesvolk war vergeblich gewesen. Jetzt war es reif zum Ge­ richt. Schon längst hatte das jüdische Gemein­ wesen den Namen des Gottesstaates kaum mehr verdient. Jetzt hatte er ein Ende mit Schrecken genommen. Bisher war er die äußere sichtbare Gestalt ge­ wesen, in welcher das Reich Gottes auf Erden erschien. Er mußte jetzt einer anderen Erscheinungsform dieses Reiches weichen, derjenigen, welche im Neuen Bunde in der Gemeinde

252 Jesu Christi, in der von allem weltlichen Staatswesen befreiten, teilt geistlichen Gemeinschaft der Kirche sich darstellt. Dieser werden wir von nun an unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Mit tiefer Trauer aber blicken wir, liebe Christen, auf den Untergang des Gottesstaates des Alten Bundes. Ist dieser durch die Sünde und Schuld der Menschen, die durch Gottes Gnade zu demselben berufen waren, untergegangen, müssen wir dann nicht befürchten, daß es ebenso auch mit der Kirche des Neuen Bundes gehen werde. Sehen wir doch zu unserem größten Leidwesen, daß auch sie durch die Sünde und Schuld ihrer Glieder ein Zerr­ bild von dem geworden ist, was sie nach der Absicht ihres Stifters sein sollte! Aber nein, wir dürfen uns dieser Befürchtung nicht hingeben, denn für die Kirche des Neuen Bundes besteht die Verheißung ihres himmlischen Hauptes: meine Gemeinde sollen die Pforten der Hölle nicht überwältigen (Mtth. 16, 18). Ja, wir scheiden von dem Gottesstaat des Alten Bundes mit der Hoff­ nung, daß er dereinst in verklärter Gestalt neu erstehen wird, wann bei der Wiederkunft unseres Heilands seine streitende Kirche in den Stand der triumphierenden übergeht. Amen.

21. Tert: Matth. 3, 1—6. 13—17.

„Zu der Zeit kam Johannes der Täufer und predigte in der Wüste des jüdischen Landes, und sprach: thut Buße, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Und er ist der, von dem der Prophet Jesaias gesagt hat und gesprochen: es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste: bereitet dem Herrn den Weg und machet richtig seine Steige. Er aber, Johannes, hatte ein Kleid von Kameelhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Lenden, seine Speise aber waren Heuschrecken und wilder Honig. Da ging zu ihm hinaus die Stadt Jerusalem und das ganze jüdische Land und alle Länder an dem Jordan, und ließen sich taufen von ihm im Jordan und bekannten ihre

252 Jesu Christi, in der von allem weltlichen Staatswesen befreiten, teilt geistlichen Gemeinschaft der Kirche sich darstellt. Dieser werden wir von nun an unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Mit tiefer Trauer aber blicken wir, liebe Christen, auf den Untergang des Gottesstaates des Alten Bundes. Ist dieser durch die Sünde und Schuld der Menschen, die durch Gottes Gnade zu demselben berufen waren, untergegangen, müssen wir dann nicht befürchten, daß es ebenso auch mit der Kirche des Neuen Bundes gehen werde. Sehen wir doch zu unserem größten Leidwesen, daß auch sie durch die Sünde und Schuld ihrer Glieder ein Zerr­ bild von dem geworden ist, was sie nach der Absicht ihres Stifters sein sollte! Aber nein, wir dürfen uns dieser Befürchtung nicht hingeben, denn für die Kirche des Neuen Bundes besteht die Verheißung ihres himmlischen Hauptes: meine Gemeinde sollen die Pforten der Hölle nicht überwältigen (Mtth. 16, 18). Ja, wir scheiden von dem Gottesstaat des Alten Bundes mit der Hoff­ nung, daß er dereinst in verklärter Gestalt neu erstehen wird, wann bei der Wiederkunft unseres Heilands seine streitende Kirche in den Stand der triumphierenden übergeht. Amen.

21. Tert: Matth. 3, 1—6. 13—17.

„Zu der Zeit kam Johannes der Täufer und predigte in der Wüste des jüdischen Landes, und sprach: thut Buße, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Und er ist der, von dem der Prophet Jesaias gesagt hat und gesprochen: es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste: bereitet dem Herrn den Weg und machet richtig seine Steige. Er aber, Johannes, hatte ein Kleid von Kameelhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Lenden, seine Speise aber waren Heuschrecken und wilder Honig. Da ging zu ihm hinaus die Stadt Jerusalem und das ganze jüdische Land und alle Länder an dem Jordan, und ließen sich taufen von ihm im Jordan und bekannten ihre

253 Sünden. — Zu der Zeit kam Jesus aus Galiläa an den Jordan zu Johannes, daß er sich von ihm taufen ließe. Aber Johannes wehrte ihm und sprach: ich bedarf wohl, daß ich von dir getauft werde, und du kommst zu mir? Jesus aber ant­ wortete und sprach zu ihm: laß es jetzt also sein, also gebühret es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen. Da ließ er es ihm zu. Und da Jesus getauft war, stieg er alsbald herauf aus dem Wasser; und siehe, da that sich der Himmel auf über ihm, und er sah den Geist Gottes, gleich als eine Taube, herabfahren und über ihn kommen. Und siehe, eine Stimme vom Himmel herab sprach: dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohl­ gefallen habe." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! „Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!" Das ist die große Freudenbotschaft, welche uns der Herold des Neuen Bundes an der Schwelle desselben entgegen bringt. Wir sind am Ziele des göttlichen Heilsratschlusses angelangt, wenigstens am ersten Ziele. Ja, der, welcher bestimmt war, den Grund zu legen für die Aufrichtung des Reiches Gottes auf Erden, der Mittler, der die Schließung des Neuen Bundes zu vollziehen hatte, der Erlöser, der Heiland, stand vor der Thüre. Für sein Auftreten sollte aber nach Gottes Willen noch eine besondere und letzte Vor- und Wegbereitung geschehen. Ihr werdet zwar fragen: war denn nicht die ganze seitherige Geschichte der Menschheit, die wir betrachtet haben, eine Bereitung des Bodens, auf dem der Erlöser auftreten, des Weges, den er gehen sollte? Das war allerdings so, und von diesem Gesichtspunkt aus haben wir ja auch diese Geschichte in ihrem ganzen Verlauf angesehen. Im Volk des Alten Bundes bereitete Gott die Erlösung selbst vor, und die Heiden­ welt wurde durch die Entwicklung, die sie eingeschlagen hatte, für die Erlösung vorbereitet. Dort, im Volk Israel, war dem Erlöser der Boden geschaffen, auf dem er auftreten konnte; und hier, in der Heidenwelt, fand er Bereitwilligkeit zur Annahme des Heils, das er der Menschheit erwarb. Das dürft ihr jedoch nicht so verstehen, als ob das gesamte Volk Israel oder die gesamte Heidenwelt

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zum Empfang des Erlösers und zur Ergreifung des Heils willig gewesen wäre. Leider war es nur eine Minderheit auf diesen beiden Gebieten, bei welchen die Jahrtausende währende Vorbereitung Frucht gebracht hatte. Diese Minderheit war zu der Erkenntnis gekommen, daß das Heil, nach dem sie sich sehnte, nicht erlangt werden kann durch die sittliche Kraft und Ver­ standesschärfe der Menschen, sondern daß es von Gott aus Gnaden verliehen werden muß. Der Minderheit unter dem Volk Israel war es zum Bewußtsein gekommen, daß der sün­ dige Mensch das Heil nicht verdienen kann durch Erfüllung des Gesetzes, das keine sittliche Kraft verleiht, sondern nur zur Erkenntnis der Sünde führt. Und die Minderheit in der Heidenwelt hatte die Erfahrung gewonnen, daß die weltliche Bildung, Kunst und Wissenschaft das wahre, die Seele be­ friedigende Heil nicht zu schaffen vermag. Doch mit diesem Ergebnis der Geschichte wollte sich Gott noch nicht zufrieden geben. Deshalb beschloß er, wenigstens dem Volk des Alten Bundes noch eine besondere Vorbereitung zu teil werden zu lassen, und zwar dadurch, daß er noch einmal das Prophetentum des Alten Bundes in einem Manne aufleben ließ, der euch bekannt ist unter dem Namen des Vorläufers oder des Täufers Johannes. Von ihm und seiner Wirksam­ keit laßt uns jetzt reden, indem wir betrachten Das Reich Gottes im Neuen Bunde, insbesondere: Die letzte Vorbereitung zur Schltrtzurig des Neuen Bundes und zur Grundlegung des Reiches Gottes

und zwar:

1. die Ankündigung dieser Schließung und . Grundlegung, 2. die Einführung des Bundes-Mittlers und Reichs-Begründers in seinen Beruf.

I. Ihr erinnert euch aus der biblischen Geschichte, liebe Christen, daß Johannes schon vor seiner Geburt von dem Engel des Herrn als der beschrieben ward, der groß sein wird vor dem Herrn und erfüllt mit dem Heil. Geiste, der viele der Kinder Israel zu Gott bekehren und vor dem Messias hergehen

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Wird im Geist und in der Kraft des Elias (Luk. 1, 15—17). Und sein Vater weissagt von ihm: du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen und vor dem Herrn hergehen, daß du seinen Weg bereitest (Luk. 1, 76). Von unserem Heiland selbst aber wird er nicht nur für den letzten, sondern auch für den größten Propheten des Alten Bundes, ja für einen Mann erklärt, der mehr ist denn ein Prophet, dieweil von ihm geweissagt ist: siehe, ich sende meinen Engel vor dir her, der deinen Weg bereiten soll (Mtth. 11, 9—11). Obwohl nun Johannes eine so bedeutende Persönlichkeit im Reiche Gottes war und eine so wichtige Aufgabe in der Ge­ schichte dieses Reiches zu lösen hatte, offenbarte er selbst doch eine rührende Demut und Bescheidenheit, denn er antwortete den Priestern und Leviten, die ihn fragten, ob er der erwartete Prophet sei: nein, ich bin die Stimme eines Predigers in der Wüste: richtet den Weg des Herrn!, er ist es, der nach mir kommen wird, welcher vor mir gewesen ist, des ich nicht wert bin, daß ich seine Schuhriemen auflöse (Joh. 1, 19ff.). Und als ihm seine Jünger von der begonnenen Wirksamkeit des Hei­ lands berichten und von dem Zudrang des Volks zu ihm, da giebt er die Erklärung ab: er muß wachsen, ich aber muß abnehmen (Joh. 3, 30). Er erkennt also ohne Eifersucht und Verdruß in voller Selbstverleugnung an, daß seine eigene Aufgabe erfüllt ist. Dieser Gottgesandte fand bei seinem Auftreten einen ganz außerordentlichen Zulauf. Den ungewöhnlichen Zudrang zu seiner Predigt schildert die biblische Erzählung in den Worten unseres Textes: „da ging zu ihm hinaus die Stadt Jerusalem, und das ganze jüdische Land und alle Länder an dem Jordan". Er trat unter seinem Volke auf, wie unser Text uns angiebt, mit der Verkündigung: „thut Buße, das Himmelreich ist nahe herbei­ gekommen!" Merket, liebe Christen, Johannes verkündet die Nähe des Himmelreichs. Was er damit meinte, das muß doch feinen Volksgenossen bekannt gewesen sein. Das Himmel­ reich ist dasselbe, das wir sonst das Reich Gottes nennen. Nun haben wir aber erkannt, daß das Reich Gottes bereits

256 seit Jahrtausenden auf Erden vorhanden war. Wie kommt jetzt Johannes dazu, es als nahe bevorstehend anzuzeigen. Er meint es offenbar in einer anderen, neuen Erscheinungs­ form, als es bisher gehabt hatte. Ja, es schwebt ihm vielleicht in seiner schließlichen vollendeten Gestalt vor, und er denkt, derjenige, dessen Wegbereiter er sein sollte, der Messias, werde es bei seinem Auftreten sofort zur Vollendung bringen. Das schließen wir aus dem, was er von ihm aussagt. Welches ist aber sein Zeugnis vom Messias? Es ist zunächst ein doppeltes, welches er in den Worten ausspricht: der nach mir kommt, ist stärker, denn ich, . . der wird euch mit dem Heil. Geist und mit Feuer taufen; und er hat seine Worfschaufel in seiner Hand, er wird seine Tenne fegen und den Weizen in seine Scheune sammeln, aber die Spreu wird er verbrennen mit ewigem Feuer (Mtth. 3, 11—12). Welches ist hiernach das Bild vom Messias, das in dem Geiste des Johannes lebt? Er steht ihm vor Augen erstlich als der, welcher den Heil. Geist bringt und den Menschen ausspendet und sie dadurch tüchtig macht für die Bürgerschaft im Reiche Gottes; und so­ dann als derjenige, welcher das Reich Gottes in seiner Voll­ endung herstellt durch ein Gericht. Ersehen wir nicht deut­ lich, liebe Christen, aus diesem Doppelzeugnis, daß dem Jo­ hannes das Himmelreich in seiner Endgestalt vorschwebt? Er weiß aber sehr wohl, daß die Geistesmitteilung und damit die Bürgerschaft im Reiche Gottes nur den Bußfertigen zu­ kommt. Deshalb sieht er es als seine Aufgabe an, seine Volks­ genossen zur Buße aufzurufen. Seiner Bußpredigt wollte aber Johannes einen besonderen Nachdruck geben durch die Taufe, welche er an denen voll­ zog, die sich zur Buße willig zeigten. Was haben wir nun von seiner Taufe zu halten? Wir brauchen darüber nicht in Zweifel zu sein, denn er selbst giebt uns den nötigen Aufschluß. Daß seine Taufe nicht diejenige ist, welche später der Heiland stiftete, das geht aus seiner Erklärung klar hervor: ich taufe euch mit Wasser zur Buße (Mtth. 3, 11). Zwar fordert die christliche Taufe auch Buße vom Täufling, wenn sie ihm ihren Segen verleihen soll, aber sie schattet diesen Segen nicht bloß ab.

257 sondern sie teilt ihn wirklich mit. Und dieser Segen, worin besteht er? Es ist die Wiederversetzung in die Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott, es ist die Wiedergeburt durch Wasser und Geist. Das war die Taufe des Johannes nicht. Vielmehr war sie nur ein Sinnbild der inneren Buße oder Sinnesveränderung. Seht, liebe Christen, deshalb mußten die Jünger des Heilands, selbst wenn sie bereits die Johannestaufe empfangen hatten, doch noch die Jesustaufe in dem Namen des dreieinigen Gottes erhalten. Von dieser seiner Taufe führt Johannes den Namen: der Täufer. Er erteilte sie den Bußfertigen. Ihr fraget wohl, liebe Christen: woran erkannte er diese? Darauf antwortet die evangelische Geschichte mit der Bemerkung in unserem Texte: „sie ließen sich taufen von ihm im Jordan und bekannten ihre Sünden". Wie kam es aber dazu? Nun, an das Sünde­ bekennen war das Volk des Alten Bundes längst gewöhnt, denn es fand beständig bei dem Darbringen der Sündopfer statt. Hier geschah es auf die erschütternde Bußpredigt des Johannes, und an demselben erkannte der Täufer die Buß­ fertigkeit der Täuflinge. Und in der That, liebe Christen, wenn dieselbe an irgend etwas zu erkennen ist, dann ist es das Beichten verborgener Sünden, das unter vier Augen geschieht. Ich meine nicht Ohrenbeichte, sondern Privatbeichte, denn so leicht jene ist, so schwer ist diese. Zu ihr versteht sich nur der aufrichtig bußfertige Sünder. Wie es den Anschein hat, hält der Täufer das Sündenbekenntnis für ein wesentliches Stück wahrer Bekehrung. Das soll uns zur Erwägung der Frage bewegen, ob dies nicht auch für uns gilt. Wer hat nicht geheime Sünden irgend welcher Art, Vergehungen und Laster, arge Neigungen, Wünsche und Gelüste, die ihn schwer auf seinem erwachten Gewissen drücken! Die Erfahrung aber lehrt, daß dieser peinliche Druck erst mit der redlichen Beichte weicht, und daß insbesondere Erweckungen sich nur dann als gründlich und dauerhaft erweisen, wenn sie mit Sünden­ bekenntnis verbunden sind. Wenn der Täufer zur Buße aufruft und tauft, so geht daraus hervor, daß er die Sündenvergebung für nötig Schnabel, Predigten.

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hält zur Aufnahme in das Himmelreich des Messias. Hält er sie aber für nötig, so glaubt er auch an sie. Wie sollte er auch nicht? Er war derselben gewiß schon als Kind des Alten Bundes. Auch im Alten Bunde gab es Sündenvergebung, und zwar auf Grund der Tieropfer, welche nach Gottes An­ ordnung dargebracht wurden. Diese aber waren Vorbilder des wahren, wirklichen Sühnopfers, das kommen sollte. Da drängt sich uns die Frage auf: wußte denn der Vorläufer etwas von dem Selbstopfer dessen, dem er die Wege ebnete? Was wußte er überhaupt über dessen Person und Werk? Auch darüber geben uns seine Erklärungen Aufschluß, wenn er bezeugt: er ist stärker, denn ich; welcher vor mir gewesen ist; siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt (Mtth. 3, 11; Luk. 3, 16; Joh. 1, 27. 29). Es sind nur kurze Andeutungen, welche dieses Zeugnis giebt. Aber wir staunen doch billig über die Tiefe der Ahnung, welche dem Vorläufer über Person und Werk seines großen Nachfolgers bereits ge­ währt ist. Es ist eine Ahnung von dessen vorzeitlichem Dasein als Sohn Gottes, und von dessen stellver­ tretendem, sühnendem und versöhnendemLeideu als Menschensohn. Da will es uns solcher Erkenntnis gegenüber freilich wundernehmen, wie diesem Propheten später in seiner Kerkerhast doch einmal ein Zweifel aufsteigen konnte an dem, was er erkannt und bekannt hatte. Ihr kennet den biblischen Bericht, daß er zwei seiner Jünger, die treu bei dem Gefangenen aushielten, zu unserem Heiland sandte mit der Frage: bist du der da kommen soll, oder sollen wir eines Anderen warten? (Mtth. 11, 2 ff.). Wie kam er zu dieser Frage, wie konnte er sich solchem Zweifel hingeben? Das erklärt uns der Heiland, wenn er von ihm sagt: unter allen, die von Weibern geboren sind, ist nicht aufkommen, der größer sei, denn Johannes der Täufer; der aber der Kleinste ist im Himmelreich, ist größer, denn er! Offenbar will der Heiland damit sagen: die Erkenntnis der Person und des Werkes des Erlösers war bei Johannes doch nur erst eine dunkel-ahnende und bruchstückartige, und wird übertroffen an Klarheit und Bestimmtheit von derjenigen, welcher sich jedes Kind des

259 Neuen Bundes, jeder gläubige Christ erfreut. Stellt euch den im einsamen Kerker thatenlos schmachtenden Johannes vor. Ihm erscheint das Wirken des Herrn Jesus zu wenig seinem Berufe als Geistspender und Tennefeger entsprechend. Er hatte sich ihn als alles umgestaltend und erneuernd vorgestellt, und wohl auch rasche Befreiung aus seiner Gefangenschaft erwartet. Das fülle, ruhige Predigen und Wohlthun des Herrn Jesus reimte sich nicht mit seiner Erwartung, sondern erweckte in ihm Be­ denken. Und um diesen nicht nachzuhängen, faßte er rasch den einzig richtigen Entschluß. Er begehrte von dem Messias selbst Aufschluß, und den erhielt er auch, aber freilich in einer Weise, die uns auffallend erscheint. Achtet doch auf die Antwort, die der Heiland erteilte! Sie lautet nicht: ich bin es, der da kommen soll!, sondern sie verweist den Zweifelnden auf das, was er bereits wußte von seiner Wirksamkeit, die im wunderthätigen Wohlthun und in der Predigt vom Reiche Gottes bestand. Darüber — das ist die Meinung des Heilands — soll Johannes weiter nachdenken und es mit der ihm be­ kannten prophetischen Weissagung vergleichen, dann wird er in dieser Thätigkeit die zweck- und rechtmäßige Wirksamkeit des Messias und Erlösers erkennen, und nicht ferner Anstoß daran nehmen. Wir wissen jetzt, liebe Christen, daß sie es wirklich war. II. Außer der Ankündigung von der bevorstehenden Schlie­ ßung des Neuen Bundes und Grundlegung des Reiches Gottes fiel dem Vorläufer noch eine zweite Aufgabe zu, die Ein­ führung des Bundes-Mittlers und Reichs­ begründers in seinen Beruf. Das wichtigste Werk und der Höhepunkt der Wirksamkeit des Johannes war ohne Zweifel die Taufe, welche er an seinem großen Nachfolger voll­

ziehen mußte, und sein bedeutendstes Erlebnis war jedenfalls das, was er bei dieser Gelegenheit im Geiste sah und hörte. Aus dem Berichte des Apostels Johannes erfahren wir, daß der Täufer den Herrn Jesus als den Messias bis dahin nicht kannte — ob er ihn persönlich und von Angesicht kannte, bleibt dahingestellt —, sondern daß er ihn erst daraus als solchen er­ kennen sollte, wenn er den Heiligen Geist auf ihn herabkommen sehen werde. Soviel aber geht aus dem biblischen Bericht 17*

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hervor, daß er von ihm, als er ihn zu sich kommen sieht, einen Eindruck empfängt vergleichbar demjenigen, wie er etwa von einem besonders geheiligten Menschen auf uns übergeht, einen Eindruck, der sich in seinem demütigen Einwurf wider­ spiegelt, den wir in unserem Texte lesen: „ichbedarfwohl, daß ich von dir getauft werde und du kommst zu mit?" Ueberraschend ist die Art und Weise, wie sich der also Angeredete zu diesem Einwand verhält. Merket Wohl, liebe Christen! Er lehnt die Ehre nicht ab, die ihm sein Vor­ läufer einräumt. Worin besteht aber diese Ehre? Das geht daraus hervor, daß die Taufe des Johannes eine Bußtaufe war. Sie gehörte also nur den Sündern und zwar den buß­ fertigen. Indem Johannes zu dem Herrn Jesus spricht: ich bedarf von dir getauft zu werden! erkennt er sich für einen Sünder an und nimmt ihn davon aus. Und siehe, der Herr Jesus widerspricht ihm nicht. Er will nur alle Gerechtigkeit erfüllen, er will alles thun, was zur Erlösung seiner Mit­ menschen von Gott gefordert wird. Er selbst für seine Person ist allerdings sündlos-hcilig in Gesinnung und Wandel. Dessen ist er sich auch wohl bewußt. Er bedarf also für sich weder der Buße, noch der Bußtaufe. Aber er ist sich auch dessen bewußt, daß er der Erlöser seiner sündigen Mitmenschen werden soll und als solcher ihr Stellvertreter vor Gott sein und Buße und Strafe für sie übernehmen muß. Aus stellvertretender Buße und Erduldung der Strafe besteht sein Erlösungswerk. Seine Buße ist das Leidtragen um die fremde Sünde, umdieSündederWelt, und er vollzieht sie in seiner Ge­ sinnung. Seine Straferduldung ist die Erduldung des Leidens und Todes für die fremde Schuld, für die Schuld der Welt, und er vollzieht sie in seiner That. Er läßt sich taufen mit der Bußtaufe und erweist dadurch sein büßen­ des Leidtragen für seine Mitmenschen. Diese Wassertaufe im Jordan war die Weihe für seine Bluttaufe am Kreuz. Sie war die Uebernahme seines Erlöserberufs, und er vollzog diese Berufsübernahme sowohl mit vollem, klarem Ver­ ständnis seiner Aufgabe, als auch aus freiem, selbständigem Entschluß. Darum wurde ihm auch bei dieser seiner Taufe

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die erforderliche Ausrüstung zur Lösung seiner Aufgabe, die Salbung mit dem Heil. Geist zu teil. Nun werdet ihr aber fragen, liebe Christen: was war diese Geistesmitteilung, welche unser Herland bei seiner Taufe empfing? Daß er sie von seinem himmlischen Vater empfing, geht daraus bestimmt hervor, daß sich demJohannes in einemGesichte der geöffnete Himmel zeigt, aus dem er den Geist, sei es in der sinnbildlichen Gestalt, sei es nach der Flugsweise einer Taube herniederschweben und auf seinem Täufling verweilend erblickte (Mtth. 3, 16; Joh. 1, 32), und aus dem er alsbald das göttliche Zeugnis über denselben vernahm: „du bist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe." Wir sind überzeugt, daß der Herr Jesus die Ein­ wirkung des Heil. Geistes bereits vor seiner Taufe an seinem inneren Menschen erfahren hat. Gewiß ist derselbe sein Licht und seine Kraft gewesen auch schon auf seinem seitherigen Lebenswege: das Licht, das ihn zur Erkenntnis seiner Person und zum Verständnis seiner Aufgabe erleuchtete, und die Kraft, die ihn, der in den Tagen seines Erdenlebens versucht war, allenthalben gleich wie wir, doch ohne Sünde, befähigte, alle Versuchung zu überwinden und sich in seiner angeborenen Sündlosigkeit zu bewahren. Aber es geht doch aus dem, was uns in den Evangelien von seiner Taufe erzählt wird, deutlich her­ vor, daß ihm hier der Heil. Geist in einer ganz neuen und besonderen Weise verliehen wird. Und cs entsteht nun die Frage: welches ist diese Weise? Ich glaube, zum richtigen Verständnis dessen, was unser Heiland bei seiner Taufe empfing, führt uns ein Ausspruch, den der Täufer später darüber that: Gott giebt den Geist nicht nach dem Maß (Joh. 3, 34). Was soll damit anders gesagt sein, als daß der himm­ lische Vater seinem Mensch gewordenen Sohne, auf dem sein ganzes Wohlgefallen ruht, die Gabe des Heil. Geistes im höchsten und vollsten Maße verleiht? So fürchte ich denn nicht, irre zu gehen, wenn ich annehme, daß der Herr Jesus, wie später der Erstling der Auferstehung, so hier der Erstling der Geistesmitteilung geworden ist, welche nach der prophetischen Weissagung der Neue Bund mit sich führen sollte. Was am

262 Pfingstfest in Jerusalem die ersten Jünger des Heilands em­ pfingen, das hat er als der Stifter des Neuen Bundes bei seiner

Taufe empfangen. Das ist aber die ständige persön­ liche Einwohnung des Heil. Geistes. Die war im Alten Bunde noch nicht dagewesen; sie ist die besondere Er­ rungenschaft des Neuen Bundes, die der Stifter desselben den

Kindern des Neuen Bundes erworben hat. Diese bleibende Einwohnung des Geistes wird nur einem wahrhaft bekehrten Menschen zu teil. Sie macht ihn der göttlichen Natur teil­ haftig (2. Petr. 1, 4), macht ihn seiner Gotteskindschaft ge­ wiß (Röm. 8, 16) und stattet ihn mit außerordentlichen Gaben und Kräften aus (1. Kor. 12, 4—11). Durch die Salbung mit dem Heil. Geist wurde auch unser Heiland seiner mensch­ lichen Natur nach mit göttlicherWeisheit und Kraft zur Erfüllung seines Erlöserberufs, zum Vollzug seines Erlöserwerks aus­ gerüstet, und also zum Messias oder Christus geweiht. Darum bezeugt sein Apostel von ihm: Gott hat Jesus von Nazareth gesalbt mit dem Heil. Geist und mit Kraft, der umher gezogen ist und hat wohl gethan und gesund gemacht alle, die vom Teufel überwältigt waren (Apg. 10, 38). Da er nun mit der stetigen Einwohnung des Heil. Geistes von seinem himmlischen Vater beschenkt worden war, so konnte sich der Heiland in der Folge auch an seinen Jüngern als derjenige erweisen, den sein Vorläufer als den Täufer mit dem Heil. Geist gekennzeichnet hatte, während er sich nur den Täufer mit Wasser nannte, indem er bezeugte: ich taufe euch mit Wasser; es kommt aber ein Stärkerer nach mir . ., der wird euch mit dem Heil. Geist und mit Feuer taufen (Mtth. 3, 11). Und ihr wisset, liebe Christen, daß sich unser Heiland als Geisttäufer herrlich erwiesen hat. Doch ehe er seinen Jüngern die Einwohnung des Pfingstgeistes verleihen konnte, mußte er erst sein Erlösungswerk auf Erden vollbringen. Durch dieses hat er den Heil. Geist mit seiner ganzen Wirk­ samkeit den Menschen erst erworben, und zugleich sich die Voll­ macht errungen, den Gläubigen und Bekehrten die Einwohnung des Heil. Geistes verleihen zu können. O, laßt uns ihn darum anflehen, daß er sich in diesen kümmerlichen Kirchenzeiten an

263 seinen Jüngern aufs neue als der Täufer mit dem Heil. Geist erweisen wolle, wie er es in der Anfangszeit seiner Kirche gethan hat! Ich sagte, liebe Christen, das bedeutsamste Erlebnis des Johannes war das, was er bei der Taufe des Messias sah und hörte. Was er im Geiste sah, haben wir besprochen. Aber es war etwas nicht minder Wichtiges, was er im Geiste hörte. Wir lesen in unserem Texte: „und siehe, eine Stimme vom Himmel herab sprach: dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe!" (Mtth. 3, 17). Der Vorläufer empfängt also hiermit eine bestimmte göttliche Erklärung über die Person des Heilands. Er ist der Sohn Gottes. Wir wissen allerdings nicht genau, welche Vorstellung sich im Geiste des Johannes mit dieser Bezeichnung verband. Doch dürfen wir überzeugt sein, daß er aus der Weissagung des Alten Bundes die Erkenntnis ge­ wonnen hatte, daß der Gott des Alten Bundes, der Herr Jehova, zur bestimmten Zeit in eigener Person sein Volk als der Wunderbare, Rat, Kraft, Held, Ewigvater und Friede­ fürst besuchen und sich als der Herr, der unsere Gerechtigkeit, als der gesuchte und begehrte Herr und Bundesengel erweisen werde. Johannes kann demgemäß wohl ein Verständnis von der geheimnisvollen Persönlichkeit seines Täuflings gehabt haben. Jedenfalls haben w i r die Bezeichnung „Sohn Gottes" so aufzufassen, wie es uns das Selbstzeugnis unseres Heilands und das Zeugnis seiner vom Heil. Geist erleuchteten Apostel an die Hand giebt. Der, den wir mit den Augen unseres Geistes dort am Jordanfluß stehend erblicken, ist das zweite Selbst, das andere Ich des himmlischen Vaters, die zweite Person in der göttlichen Dreieinigkeit. Er ist der Mensch »ge­ wordene Gottessohn. Und von ihm bezeugt die himmlische Stimme, die sich damit als die Stimme Gottes des Vaters zu erkennen giebt: „an welchem ich Wohlgefallen habe." Diese Worte können auch bedeuten: in welchem ich es beschlossen habe. In diesem zweifachen Sinne enthalten sie wichtige Wahrheiten. An seinem eingeborenen Sohne als Mensch hat Gott der Vater sein Wohlgefallen; und wahrlich,

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er kann es auch an ihm haben, denn dieser Jesus von Nazareth ist wieder das, wozu Gott einst den ersten Menschen erschaffen hatte, das vollkommene Ebenbild Gottes, ein Mensch in voll­ kommener sittlicher Reinheit und Heiligkeit. Und weil er der sündlos-heilige Mensch ist, hat auch Gott beschlossen und konnte er beschließen, durch ihn das Heil für die sündige Menschheit zu bereiten, durch ihn die Erlösung zu vollbringen und das Reich Gottes herzustellen. Liebe Christen, wir preisen den Johannes glücklich, daß er solch hoher Offenbarungen teilhaftig geworden ist. Was er in leibhaftiger Wirklichkeit, aber doch erst in ahnendem Ver­ ständnis vor sich sah, das verstehen wir als Jünger des Heilands und Kinder des Neuen Bundes in viel größerer Klarheit. Des­ halb mußte der Heiland von ihm sagen: er ist wohl der Größte im Alten Bunde, aber der Kleinste im Neuen Bunde ist doch größer in der Heilserkenntnis. Darum laßt uns Gott danken, daß wir im Neuen Bunde stehen. Wir wissen, daß Johannes seine Bußpredigt und sein Messiaszeugnis mit einem schreck­ lichen Märthrertod besiegelt hat. Laßt uns auch in unserem Jesusglauben und Christusbekenntnis treu sein bis in den Tod. Dadurch helfen auch wir unserem Heiland Bahn machen auf Erden und das Reich Gottes seiner Vollendung entgegen führen. Amen.

22. Tert: Mark. 1, 14—15.

„Nachdem aber Johannes überantwortet war, kam Jesus nach Galiläa und predigte das Evangelium vom Reiche Gottes, und sprach: die Zeit ist erfüllet und das Reich Gottes ist herbei­ gekommen; thut Buße und glaubt an das Evangelium!" In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Der Prophet Habakuk verkündigte einst: der Herr spricht: schreibe das

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er kann es auch an ihm haben, denn dieser Jesus von Nazareth ist wieder das, wozu Gott einst den ersten Menschen erschaffen hatte, das vollkommene Ebenbild Gottes, ein Mensch in voll­ kommener sittlicher Reinheit und Heiligkeit. Und weil er der sündlos-heilige Mensch ist, hat auch Gott beschlossen und konnte er beschließen, durch ihn das Heil für die sündige Menschheit zu bereiten, durch ihn die Erlösung zu vollbringen und das Reich Gottes herzustellen. Liebe Christen, wir preisen den Johannes glücklich, daß er solch hoher Offenbarungen teilhaftig geworden ist. Was er in leibhaftiger Wirklichkeit, aber doch erst in ahnendem Ver­ ständnis vor sich sah, das verstehen wir als Jünger des Heilands und Kinder des Neuen Bundes in viel größerer Klarheit. Des­ halb mußte der Heiland von ihm sagen: er ist wohl der Größte im Alten Bunde, aber der Kleinste im Neuen Bunde ist doch größer in der Heilserkenntnis. Darum laßt uns Gott danken, daß wir im Neuen Bunde stehen. Wir wissen, daß Johannes seine Bußpredigt und sein Messiaszeugnis mit einem schreck­ lichen Märthrertod besiegelt hat. Laßt uns auch in unserem Jesusglauben und Christusbekenntnis treu sein bis in den Tod. Dadurch helfen auch wir unserem Heiland Bahn machen auf Erden und das Reich Gottes seiner Vollendung entgegen führen. Amen.

22. Tert: Mark. 1, 14—15.

„Nachdem aber Johannes überantwortet war, kam Jesus nach Galiläa und predigte das Evangelium vom Reiche Gottes, und sprach: die Zeit ist erfüllet und das Reich Gottes ist herbei­ gekommen; thut Buße und glaubt an das Evangelium!" In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Der Prophet Habakuk verkündigte einst: der Herr spricht: schreibe das

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Gesicht und male es auf eine Tafel, daß es lesen kann, wer vorüberläuft: die Weissagung wird ja noch erfüllet werden zu seiner Zeit und wird endlich frei an den Tag kommen und nicht ausbleiben; ob sie aber verzeucht, so harre ihrer, sie wird gewißlich kommen und nicht verziehen (Hab. 2, 2—3). Und sie kam wirklich. Endlich brach die große Zeit der Erfüllung dessen an, was die Propheten des Alten Bundes geweissagt hatten, was das Gottesvolk des Alten Bundes erwartete. Die Fülle der Zeit trat ein (Gal. 4, 4), der von Gott ausersehene rechte Augenblick zur Ausführung dessen, was er zum Heil der Welt beschlossen hatte. Und was war das? Es war die Wiederherstellung des Reiches Gottes auf der Erde und in der Menschheit, das durch die Sünde untergegangen war. Aber — so werft ihr ein — haben wir denn nicht aus den vorhergehenden Predigten gelernt, daß Gott sein Reich alsbald nach dem ersten Sündenfall im Para­ diese wiederhergestellt und es seitdem fortwährend erhalten hat? Gewiß, das hat er gethan. Allein er hat es gethan und konnte es nur thun mit Rücksicht und im Hinblick darauf, daß in der Fülle der Zeit, auf dem Höhepunkt der Menschengeschichte, die Bedingung erfüllt wurde, unter welcher das Reich Gottes einzig und- allein auf Erden wiederhergestellt und erhalten werden sonnte. Und welches war diese Bedingung? Das erfahren wir, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß das Reich Gottes nach dem Sündenfall der ersten Menschen unter ihnen nur ein Erlösungsreich sein konnte. Die Bedingung seines Bestandes auf Erden war und ist demnach die Erlösung. Diese hatte Gott zwar von Ewigkeit her beschlossen, aber sie wurde erst vollzogen, als die Zeit erfüllet ward (Gal. 4, 4—5). Mit dem Vollzug des Erlösungswerks durch Jesus Christus geschah die Grundlegung des Reiches Gottes unter den Menschen. Hatte dies bis dahin auf der göttlichen Verheißung der Erlösung beruht, so wurde es nunmehr auf die Erfüllung derselben, auf die ausgeführte Erlösung gestellt. Das Erlösungswerk Jesu Christi ist also das Fundament des Him­ melreiches auf der Erde.

266 Bis dahin war das Reich Gottes in dem Gottesstaat des Alten Bundes zur äußeren Erscheinung gekommen. Dieser Gottesstaat war bis daher die nach außen hervortretende sicht­ bare Gestalt des Gottesreiches gewesen. Das hörte nunmehr auf. Der Gottesstaat des Alten Bundes verschwand. Mit seinem Untergang trat aber auch das Ende des Alten Bundes ein. Dieser war ein Bund der Verheißung der Erlösung. An seine Stelle trat der Neue Bund. Er ist mit der Aus­ führung des Erlösungswerks gegeben und ge­ stiftet. Diese und die Schließung des Neuen Bundes fallen zusammen. Der das Erlösungswerk vollbringt, ist auch der Mittler des Neuen Bundes: Jesus Christus. Der Alte Bund war ein Vertrag, den Gott mit einem einzelnen kleinen Volk schloß, mit einem Volke, in dem er das Himmelreich in der Gestalt eines Gottesstaates zur Erscheinung bringen wollte. Von anderer Art und Natur ist der Neue Bund. In ihm hat es Gott nicht mehr bloß auf das Volk Israel abgesehen, sondern auf das gesamte sündhafte und darum erlösungsbedürftige Menschengeschlecht. Der Neue Bund ist eine Verbindung, welche Gott mit der ganzen Menschheit eingeht. Denn Gott will, daß allen Menschen durch die Erlösung geholfen werde, und alle zur Erkenntnis der Wahrheit kommen (I.Tim. 2, 4). Dieser Neue Bund besteht seit seiner Schließung am Kreuz auf Golgatha, und dauert fort, bis sein Zweck erreicht ist, bis wirklich alle Menschen, nämlich soweit sie sich dazu herbei lassen, der Erlösung teilhaftig geworden sind. Er besteht also bis an das Ende des gegenwärtigen Weltalters. Unter diesem Neuen Bunde ver­ wirklicht sich nunmehr das Reich Gottes in der Menschenwelt. Auch unter ihm nimmt es eine äußere, sichtbare Gestalt an. Aber es ist kein irdisch-weltliches Staatswesen, in welchem es zur Erscheinung kommt, sondern eine religiöse Gemein­ schaft, ein rein geistlicher Verein; die Gemeinde Jesu Christi, die Kirche. Und diese wird bestehen, bis sie bei der Wiederkunft des Heilands übergeht in das vollendete Gottesreich in den Gottesstaat der zukünftigen Weltzeit. Worüber wir also jetzt zu reden haben, das ist

267 Die Schließung des Neuen Bundes oder die Grundlegung des Reiches Gottes durch den Erlöser in seinem dreifache« Amte, insbesondere: Das hohepriesterliche Amt des Erlösers,

wobei wir beachten:

1. die Versöhnung Gottes, 2. die Sühnung der Sündenschuld, und 3. die Versöhnung der Menschen. I. Daß das Reich Gottes schon seit der göttlichen Ver­ heißung des Schlangentreters in der Menschenwelt bestanden, und zwar als Erlösungsreich bestanden hat, das haben wir er­ kannt, liebe Christen. Reich Gottes und Erlösung aus der Sünde und ihren verderblichen Folgen sind für die Menschen zusammengehörige Dinge, ja, sie sind für uns wesentlich ein und dasselbe Gut. Das ersehen wir aus unserem Texte, denn wenn wir aus demselben die Verkündigung vernehmen: „die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist herbei gekommen !", so wissen wir, daß diese gute und frohe Bot­ schaft, dieses Evangelium aus dem Munde des Erlösers kommt. Wenn darum nach der Grundlegung für das Reich Gottes gefragt tvird, so ist dies dasselbe, als wenn gefragt wird: wodurch ist die Erlösung zu stände gebracht worden, oder: wie hat der Erlöser sein Werk, die Er­ rettung und Befreiung der Menschen aus der Sünde vollzogen? Die Antwort lautet: durch sein dreifaches Amt, das hohepriesterliche, prophetische und königliche. Fassen wir nun, liebe Christen, zuerst das hoheprie st er­ liche Amt des Erlösers ins Auge, und sehen wir zu, was durch dasselbe bewirkt worden ist! Wenn die sündigen Menschen Bürger des Reiches Gottes werden sollten, wenn also das Gottesreich unter den Menschen bestehen sollte, dann mußten sie von der Sünde erlöst werden, und zwar vor allem von der Schuld der Sünde. Die Sünde macht uns vor dem heiligen Gott schuldig, und diese Sündenschuld zieht uns das MißfallenGotteszu, das die Heil. Schrift Zorn nennt, und worunter sie die strafende Gerechtigkeit Gottes versteht. Es handelt sich also bei der Erlösung um Befriedigung

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der göttlichen Gerechtigkeit oder um Stillung des Zornes Gottes, mit anderen Worten: um Versöhnung des heiligen und gerechten Gottes den sündigen Menschen gegen­ über. Doch, da höre ich den Einwurf: es ist aber in Gottes Wort nicht ausgesprochen, daß Gott versöhnt werden mußte und versöhnt worden sei, sondern es wird gesagt, daß der Erlöser die Menschen mit Gott versöhnt, oder daß Gott die Menschen mit sich versöhnt habe. Das ist richtig, denn wir lesen: so wir Gott versöhnt sind durch den Tod seines Sohnes, da wir noch Feinde waren, vielmehr werden wir selig werden durch sein Leben, so wir nun versöhnt sind (Nöm. 5, 10). Was damit gemeint ist, wird uns jedoch sofort klar, wenn wir den anderen Ausspruch damit zusammen halten: Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünde nicht zu (2. Kor. 5, 19). Da erfahren wir, was der Ausdruck bedeutet: wir sind mit Gott versöhnt, Gott hat uns mit sich versöhnt. Er bedeutet: wir sind entsündigt, Gott hat uns entsündigt, er hat uns unsere Sündenschuld erlassen, und zwar um Jesu Christi willen. Was folgern wir aber hieraus? Dies, daß es dein heiligen und gerechten Gott durch den Erlöser und sein Versöhnungswerk ermöglicht worden ist, den Sündern ihre Sünde zu vergeben, ihnen ihre Schuld zu erlassen. Was schließt demnach das Werk des Erlösers ein? Antwort: die Versöhnung Gottes. Und wie konnte die allein bewirkt werden? Dadurch, daß der Gerechtigkeit Gottes genuggethan, der heilige Unwille oder Zorn Gottes über die Sünde gestillt, und somit die Gnade Gottes den Sündern erworben wurde. Seht, liebe Christen, darum ist es ganz in der Ordnung, wenn von einer Versöhnung Gottes den Menschen gegenüber geredet wird. Hier tritt uns jedoch ein anderer Einwurf entgegen. Man sagt: Gott hat doch seinen Sohn den Menschen aus Liebe zum Heiland gegeben, wie kann denn da von einem Zorn Gottes den Menschen gegenüber die Rede sein, der erst durch seinen Sohn versöhnt werden mußte; wie kann von einer Strafgerechtigkeit Gottes gesprochen werden, der durch ihn erst genuggethan werden mußte? Ich antworte: was da am Kreuz auf Golgatha geschah, das stand von Ewigkeit her vor Gottes Augen. Es mußte in

269 der Zeit, in der Fülle der Zeit geschehen, aber es hatte eine rückwirkende Kraft in die vorzeitliche Ewigkeit hinein. Wir sagen allerdings: Gott ist durch das Kreuz auf Golgatha ver­ söhnt worden. So reden wir von unserem menschlichen Stand­ punkt aus. Dabei wissen wir jedoch wohl: die Versöhnung Gottes, die Ausgleichung der Liebe und Gerechtigkeit in Gott, liegt in der Ewigkeit, wenngleich das Mittel dieser Versöhnung in der Zeit vollzogen worden ist. Sofort begegnet uns ein dritter Einwurf. Er lautet: wenn Gott von Ewigkeit her versöhnt ist den sündigen Menschen gegen­ über, wenn von Ewigkeit die Eigenschaften der Liebe und der Gerechtigkeit in ihm ausgeglichen sind, woher kommt es dann, daß seine Strafgerechtigkeit sich fortwährend in der Geschichte der Menschen geltend macht? Wir sehen doch, welch unermeß­ liches Elend, welch unbeschreiblicher Jammer in der Menschheit herrscht, von welchem Heer von Uebeln, Nöten, Drang- und Trübsalen dieselbe heimgesucht ist, welche oft entsetzlichen Gottes­ gerichte über Einzelne und Gemeinden und Völker ergehen. Wie reimt sich das damit, daß Gott den Menschen gegenüber versöhnt ist? Ich antworte: Gott ist von Ewigkeit her ver­ söhnt denen gegenüber, welche sich aus dem Sündendienst zum Gehorsam gegen ihn bekehren. Die Ungehorsamen und Unbuß­ fertigen aber liegen nach wie vor unter seinem Zorne. So be­ zeugt es lmscr Heiland in den Worten: wer dem Sohne nicht glaubt, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm (Joh. 3, 36). So bezeugt es auch sein Apostel, wenn er schreibt: wir waren auch Kinder des Zorns von Natur (Eph. 2, 3). Aber da fragt ihr: tragen denn nicht auch die Bekehrten noch die Strafen der Sünde, die zeitlichen Trübsale und den leiblichen Tod? Aeußerlich sieht es allerdings so aus. Aber in Wahrheit sind ihre Leiden und ihr Sterben keine Aus­ flüsse der göttlichen Strafgerechtigkeit mehr, sondern Prüfungs­ und Erziehungsmittel in der Hand eines gnädigen himmlischen Vaters. So stellt es das Wort Gottes dar, wenn es sagt: laßt euch die Hitze (der Trübsal), so euch begegnet, nicht be­ fremden, die euch widerfährt, daß ihr versucht werdet, als wider­ führe euch etwas Seltsames! (1. Petr. 4, 12), oder: so ihr die

270 Züchtigung erduldet, so erbietet sich euch Gott als Kindern, denn wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtiget; seid ihr aber ohne Züchtigung, welcher sie alle sind teilhaftig worden, so seid ihr Bastarde und nicht Kinder (Hebr. 12, 7—8). Ja. wahrlich es ist so, wie uns Gottes Wort versichert: wir wissen, daß denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum besten dienen (Nöm. 8, 28), also auch die Trübsale des zeitlichen Lebens. Darum können die Kinder Gottes sprechen: wir rühmen uns auch der Trübsale (Röm. 5, 3). Und warum können wir uns der Trübsale rühmen? Weil sie uns fördern in der Gottseligkeit. So bleibt es also dabei, liebe Christen: Gott ist den Menschen gegenüber versöhnt durch Jesum Christum. II. Nun müssen wir aber weiter forschen: was war denn das für ein Werk, durch welches der Er­ löser die Versöhnung Gottes zu stände gebracht hat? Das war sein hohepriesterliches Werk, sein Selbstopfer, das stellvertretende Leiden und Sterben des sündlosen Gottes- und Men­ schensohnes, des heiligen Gottmenschen. Der eingeborene Sohn Gottes, welches Ausgang von Anfang und von Ewigkeit gewesen ist (Mich. 5, 1), der im Anfang bei Gott und selbst Gott war (Joh. 1, 1), der in göttlicher Gestalt und Herrlichkeit war, ehe die Welt erschaffen wurde (Joh. 17, 5; Phil. 2, 6), ward ein Mensch, und zwar ein durch seine wunder­ bare Geburt von der Jungfrau Maria von der allen anderen Menschen anklebenden Erbsünde freier Mensch. Als solcher nahm er die ungeheuere Sündenschuld der ganzen Welt auf sich. Was heißt das? Das heißt zunächst: er erkannte dieselbe in seinem Geiste in ihrer schrecklichen Größe und Bedeutung, wie sie sonst kein Mensch erkennt, dieweil sie alle in dieselbe ver­ wickelt sind; und er fühlte in seinem Herzen und Gewissen das gerechte Mißfallen, den heiligen Unwillen Gottes über die­ selbe. Das heißt ferner: er verspürte die Versuchungen der Sünde, wie von ihm gesagt ist in Gottes Wort, daß er allent­ halben von ihr versucht ward gleich wie wir, doch ohne daß er in sie verstrickt worden wäre (Hebr. 4, 15). Das heißt weiter: er gewahrte in seinem Erdenleben und im Verkehr mit den

271 Menschen die traurigen Folgen, welche der Sündendienst über sie gebracht hat, die Uebel und Nöten, die Leiden und Plagen, unter welchen sie dulden und seufzen, und er empfand ein so tiefes, schmerzliches Mitleid mit seinen Brüdern und Schwestern, wie es kein sündiger Mensch empfinden kann. Das heißt end­ lich: er erfuhr die traurigen Sündenfolgen auch an sich selbst in den Mühsalen, Beschwerden, Schmerzen und Leiden, welche er, der in der Gestalt des sündigen Fleisches erschienen war (Röm. 8, 3), ertragen mußte, wie auch in den mannigfachen Drangsalen, welche ihm seine Mitmenschen zufügten, und in dem bitteren Kreuzestod, welchen sie über ihn verhängten. So trug der Erlöser die Sündenschuld der Welt. Aber meinet nicht, daß mit dem, was ich gesagt, der Inhalt dieses Ausspruchs erschöpft sei. Sehet, indem er diese Leiden samt dem Tod an sich erfuhr, traf ihn etwas, das wohl die Sünder mit Recht trifft, das ihm, dem Sündlos-Heiligen, aber nicht hätte widerfahren dürfen. Daß es ihm dennoch widerfuhr, daß der gerechte Gott es ihm, an dem er doch sein Wohlgefallen hatte, widerfahren ließ, wie ist das zu erklären? Manche sagen: der Heiland sollte uns durch sein williges Erdulden dieser Leiden die Liebe Gottes offenbaren. Aber saget doch: können wir denn das als einen Erweis der Liebe Gottes an­ sehen, daß er seinen unschuldigen Sohn so Schweres erdulden ließ? Wahrlich, ich kann darin keine Erweisung der göttlichen Liebe erkennen, wenn nicht dem Allem ein anderer tiefer Zweck zu Grunde lag. Aber der liegt auch den Leiden unseres Hei­ lands zu Grunde. Und welches ist dieser Zweck? Es kann kein anderer sein, als der, daß der Gerechte und Heilige nach Gottes Beschluß der Stellvertreter für die Sünder und Gott­ losen sein sollte. Und warum sollte und mußte er dieser Stell­ vertreter sein? Ich antworte: um die Versöhnung zwischen Gott und den Menschen zu stände zu bringen. Indem er sich der Strafgerechtigkeit Gottes aussetzte und bloßstellte und ihre Ge­ richte über sich ergehen ließ, vollzog der Versöhner die Süh­ nung der Sündenschuld der Menschheit. Er that cs als der Hohepriester der Welt durch sein Selbstopfer. So versichert uns das Wort Gottes, daß er ein barmherziger und

272 treuer Hohepriester geworden sei, zu sühnen die Sünde des Volks, die Sünde aufzuheben durch sein eigen Opfer (Hebr. 2, 17; 9,26). Besonders anschaulich spricht es dies aus in den Worten: Gott hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht (2. Kor. 5, 21), oder wenn es den Heiland bezeichnet als den Gnadenstuhl oder als das Sühnmittel, das Gott der Welt darbietet in dem Blute des Mittlers zum Erweise seiner Gerechtigkeit (Röm. 3, 25). Jetzt verstehen wir es auch, liebe Christen, warum das Gotteswort einen so hohen Wert auf das Blut des Mittlers legt, indem es bezeugt: an Christo haben wir die Erlösung durch sein Blut, nämlich die Vergebung der Sünden (Eph. 1, 7), und: das Blut Jesu Christi macht uns rein von aller Sünde (1. Joh. 1, 7). Der Tod des Versöhners und Sündensühners mußte ein Opfertod sein. Er konnte darum nur ein gewaltsamer sein, und mußte durch Blutvergießen er­ folgen nach dem von Gott aufgestellten Grundsatz: ohne Blut­ vergießen geschieht keine Vergebung (Hebr. 9, 22). Der Hei­ land selbst bestätigt diesen Grundsatz, wenn er bei der Stiftung seines heiligen Abendmahls erklärt, daß sein Blut vergossen werde zur Vergebung der Sünden (Mtth. 26, 28). Wahrlich, in seinem Opfertod hat der ganze vorbildliche Opferdienst des Alten Bundes seine Erfüllung gefunden. In demselben hat der Heiland sich bewährt als das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trug (Joh. 1, 29). Durch denselben wurde die Sündenschuld der Welt gesühnt und abgebüßt. Ich fühle, es schwebt euch die Frage auf den Lippen: was gab diesem Opfertod seine sühnende Kraft? Das war nicht das äußerliche Blutvergießen, obwohl es notwendig zum Sühnopfer gehörte. Dieses äußerliche Blutvergießen hatte das Opfer unseres Heilands gemein mit den vorbildlichen Tier­ opfern des Alten Bundes. Was es aber vor diesen auszeichnete, das war etwas Innerliches, etwas, das in der Gesinnung des sich Opfernden vorging. Es war auf der einen Seite der freiwillige Gehorsam des Versöhners gegen den Willen Gottes, seines himmlischen Vaters, der ihn sprechen ließ: siehe, ich komme zu thun, Gott, deinen Willen! (Hebr. 10, 9), von dem auch das Wort Gottes rühmt: er ward gehorsam bis

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zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuze (Phil. 2, 8), von dem es bezeugt, daß er diesen Gehorsam an dem, was er litt, lernen mußte (Hebr. 5, 8). Und es war auf der anderen Seite die inbrünstige Liebe zu den Menschen, den Sündern, die er erlösen wollte, eine Liebe, die ihn trieb, seine ursprüngliche und ewige Gottesherrlichkeit aufzugeben und in die Niedrigkeit des Erdenlebens herabzusteigen (Phil. 2, 6—7), seinen himm­ lischen Reichtum mit der irdischen Armut, seine selige Freude mit der Schande des Kreuzes zu vertauschen (2. Kor. 8, 9; Hebr. 12, 2). Ja, das war es: dieser Gehorsam gegen Gott, diese Liebe zu den Menschen, die dem Selbstopfer des Mittlers, unseres Hohepriesters, recht eigentlich seine Sünden sühnende Kraft verlieh. Liebe Christen, wir erkennen in unserem Hohepriester den Sohn Gottes. Gewiß, das war er. Das bezeugt die göttliche Offenbarung aufs gewisseste. Das bezeugt er selbst, der von sich bekennt: so ich von mir selber zeuge, so ist mein Zeugnis wahr, denn ich weiß, von Wannen ich bin und wohin ich gehe (Joh. 8, 44), ganz unzweideutig in seinen Ausspriichen: ich und der Vater sind eins (Joh. 10, 30), und: wer mich siehet, der siehet den Vater (Joh. 14, 9), und: also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab (Joh. 3,16), und: der Vater hat dem Sohne alles Gericht gegeben, daß sie alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren (Joh. 5, 22—23), und: wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen (Mtth. 18, 20), und: ich bin 6er euch alle Tage bis an der Welt Ende (Mtth. 28, 20), und: mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden (Mtth. 28, 18). Ohne Zweifel, in all diesen Aussprüchen bezeugt unser Helland seine Gottgleichheit, also seine Gottessohnschaft. Aus diesem Bewußtsein heraus, das er von sich hatte, betet er auch: verkläre mich, Vater, bei dir selbst mit der Klarheit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war! (Joh. 17, 5). Und was er von sich bekennt, das bestätigen auch seine vom Hell. Geiste zum vollen Verständnis seiner Person und seines Werks erleuchteten Jünger, wenn sie von ihm bekennen: im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das 18 Schnabel, Predigten.

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Wort . und das Wort ward Fleisch und wohnete unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des ein­ geborenen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit (Joh. 1, 1. 14) ; welcher ist das Ebenblld des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor allen Kreaturen . ., und er ist vor allen und es besteht alles in ihm . ., denn es ist das Wohlgefallen gewesen, daß in ihm alle Fülle wohnen sollte (Kol. 1, 15. 17. 19); denn in ihm wohnet die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig (Kol. 2, 9); welcher ist der Glanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens . ., denn zu wel­ chem Engel hat Gott jemals gesagt: du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt? (Hebr. 1, 3. 5); welcher, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, hielt er nicht für einen Raub, Gott gleich sein, sondern entäußerte sich (Phll. 2, 6—7). Aus diesen Aussprüchen erkennen wir die göttliche Natur unseres Hohepriesters, und danken Gott, daß er durch die Er­ leuchtung des Heil. Geistes die Christenheit zu der Erkenntnis geführt hat, daß der Heiland die zweite Person der göttlichen Dreieinigkeit ist. Und wir sagen nun: wer sollte denn auch der Versöhner anders sein, wenn nicht der Sohn Gottes? Die Versöhnung geschah durch die stellvertretende Sühnung der Sündenschuld der Welt. Wer sollte denn das stellvertretende Leiden und Sterben übernehmen? Das konnte doch nur eine Persönlichkeit, die in die Sünde der Welt nicht verwickelt war. Einen Menschen der Art gab es nicht, denn sie sind allzumal Sünder. Auf einen heiligen Engel aber konnte doch Gott die Sündenstrafe, welche die Menschen verwirkt hatten, nicht legen. Erstlich ist ein Engel kein Mensch, er hätte erst Mensch werden müssen, um an Stelle der Menschen leiden und sterben zu können. Und wenn dies möglich wäre, so widerstritt es doch der Gerechtigkeit Gottes, ein anderes Geschöpf seinen Zorn empfinden zu lassen an Stelle der Menschen, die sich ihn zuge­ zogen hatten. Was blieb da übrig, wenn Gott den Sündern helfen wollte? Er mußte selbst das Lamm werden, das die Sünde der Welt trug. Und siehe, er konnte es, weil er ein dreieiniges Wesen ist. Sein zweites Ich, sein anderes Selbst, das in seiner Offenbarung den Namen: Sohn Gottes oder

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Wort Gottes führt, übernahm das Werk der Versöhnung. Dazu aber mußte der Gottessohn Mensch werden, als Glied in das Sündergeschlecht eintreten, ohne jedoch an der allgemeinen Sünd­ haftigkeit teil zu nehmen. Das hat er gethan, da er von einem Weibe geboren ward (Gal. 4, 4), da er sich entäußerte und Knechtsgestalt annahm und ward wie ein anderer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden (Phil. 2, 7), da.er, wie die Menschenkinder Fleisch und Blut haben, gleichermaßen des­ selben teilhaftig ward (Hebr. 2, 14), da er allerdinge seinen Brüdern gleich und versucht ward allenthalben, gleichwie wir, doch ohne Sünde (Hebr. 2, 17; 5, 15). Wie der Mittler wirk­ licher Gottessohn war, so war er auch wirklicher Mensch, und zwar der Mensch, wie er nach Gottes Absicht sein soll, der vollkommene Mensch, und das machte ihn zu seinem Mittlerwerk geeignet/ denn Gottes Wort sagt: es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Jesus Christus (1. Tim. 2, 5). Wenn für die Vollbringung des Versöhnungswerks ein solches Gewicht darauf gelegt wird, daß der Mittler ein wirklicher Mensch war, so könnte ja die Frage aufgeworfen werden: hätte sie denn wohl ein bloßer Mensch vollziehen können, wenn ein sündloser vorhanden gewesen wäre? Aber das ist eine müssige Frage, liebe Christen, und zwar aus zwei gewichtigen Gründen. Erstlich gab es eben keinen sündlosen Menschen, und dann handelte es sich bei der Erlösung der Menschen auch nicht bloß um die Sühnung ihrer Sündenschuld durch das stellvertretende Leiden des Mittlers, sondern dazu gehörte noch mehr. Dazu gehörte namentlich auch das königliche Amt des Erlösers, und das konnte von keinem gewöhnlichen Menschen, und wäre er auch ein sündloser gewesen, sondern nur von einem Gottmenschen verwaltet werden. Der aber, welcher das könig­ liche Amt verwalten sollte zur Erlösung der Welt, mußte der­ selbe sein, der das hohepriesterliche und prophetische Amt voll­ führt hat. III. Durch sein hohepriesterliches Amt hat der Heiland die Sündenschuld der Welt gesühnt und die Versöhnung Gottes den Menschen gegenüber zu stände gebracht. Damit ist aber für 18*

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das Reich Gottes der Grund gelegt worden, denn dasselbe kann nur dann unter den sündigen Menschen bestehen, wenn der Zorn Gottes über die Sünde der Menschen gestillt und die Sünden­ schuld der Menschen getilgt ist. Darum verkündigt der Erlöser bei seinem Auftreten, wie wir in unserem Texte lesen: „die Zeit ist erfüllet; dasReich Göltest st herbeigckommen!" Doch er verbindet damit noch einen Aufruf an die Menschen, den unser Text berichtet: „thut Buße und glaubet an das Evangelium!" Was verlangt er mit dieser Mahnung? Das ersehen wir aus einem Aufruf seines Apostels, der, nachdem er verkündigt hat, daß Gott durch Christus die Menschen mit sich versöhnt, das heißt: ihnen Be­ gnadigung, Rechtfertigung, Sündenvergebung angeboten hat, die Sünder aufruft mit den Worten: so sind wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott vermahnet durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt: laßt euch versöhnen (versöhnet euch) mit Gott! (2. Kor. 5, 20). Er will sagen: nachdem der heilige und gerechte Gott durch das Werk seines Sohnes euch gegen­ über versöhnt worden ist, so versöhnet euch nun auch mit ihm! Es ist also, wie ihr erkennet, liebe Christen, eine Versöhnung der Menschen nötig. Dieselbe ist die Bedingung ihrer Erlösung, ihrer Errettung aus der Sünde, ihrer Versetzung in das Reich Gottes. Es ist euch aber zugleich klar geworden, worin diese Versöhnung der Menschen mit Gott besteht. Besteht die Ver­ söhnung Gottes darin, daß er zur Begnadigung und Recht­ fertigung der Sünder, zur Vergebung ihrer Sünden bereit ist, so besteht die Versöhnung der Menschen mit Gott darin, daß sie Sündenvergebung, Recht­ fertigung, Begnadigung begehren. Die Mah­ nung: laßt euch versöhnen! oder buchstäblich: versöhnet euch mit Gott! bedeutet: sucht Vergebung euerer Sünden bei dem versöhnten Gott! Ihr habt gehört, liebe Christen, daß durch das hohepriesterliche Amt unseres Heilands der Grund gelegt worden ist für den Bestand des Gottesreiches auf Erden, denn dasselbe ist für nns sündige Menschen ein Gnaden- und Erlösungsreich. Das Reich Gottes kann aber doch nur dadurch zu Bestand auf

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Erden kommen, daß Menschen Bürger desselben werden. Um die Bürgerschaft im Himmelreich zu erlangen, dazu gehört, daß wir wieder mit Gott in das rechte Verhältnis treten, denn der Sündendienst, in dem wir stehen, hat uns mit ihm entzweit, uns aus seiner Gemeinschaft gedrängt. Wenn wir mit dem heiligen Gott wieder in Gemeinschaft treten sollen und wollen, so müssen wir von der Sünde befreit werden, und zwar vor allem aus der Sündenschuld. Wir müssen Vergebung der Sünden, Erlaß der Schuld erlangen. Dieses geistliche Gut erlangt jedoch nur der Mensch, der es begehrt. Und begehren werden wir es nur dann mit Ernst, wenn wir es in bußfertiger Gesinnung thun. „Thut Buße!" mahnt deshalb unser Heiland. Zur Buße aber gehören zwei Stücke: die Reue über die Sünde und der Glaube an die Gnade Gottes. Darum fügt der Heiland seiner Aufforderung: „thut Buße!" die andere alsbald hinzu: „glaubt an das Evangelium ! " Was ist das Evangelium? So hat unser Heiland seine Predigt und Lehre genannt. Es ist die Botschaft von der Versöhnung Gottes, die der Hohepriester der Menschheit zu stände gebracht hat. Es ist die Kunde von der durch diesen Hohepriester und sein Opfer bewirkten Bereitschaft Gottes zur Begnadigung und Rechtfertigung der bußfertigen Sünder. Und was ist der Glaube an das Evangelium? Das ist das Vertrauen auf die uns Sündern durch unseren Hohepriester erworbene Gnade Gottes, das Vertrauen auf dies Vcrsöhnungswerk, auf das Verdienst des Heilands. Kurz: der Glaube an das Evangelium ist der Glaube an den Heiland. Durch die Sündenreue und den Heilandsglauben werden wir mit Gott ver­ söhnt. Und durch unsere Versöhnung mit Gott werden wir Bürger des Reiches Gottes. Ihr wisset, liebe Christen, das Reich Gottes ist Gerechtig­ keit und Friede und Freude im Hell. Geiste (Röm. 14, 17). Das ist es, was wir durch unsere Versöhnung mit Gott erlangen. Habt ihr auch eine Erfahrung davon? Seid ihr der Gerechtig­ keit, des Friedens, der Freude teilhaftig geworden? Daran könnet und möget ihr erkennen, ob ihr Bürger des Gottesreiches seid. Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, ist die Sünden-

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Vergebung und die Aufnahme in die Kindschaft Gottes. Der Friede ist das Bewußtsein, daß wir im Glauben an den Heiland einen versöhnten himmlischen Vater haben und mit ihm wieder in Gemeinschaft stehen. Die Freude ist die Empfindung, das; wir als Jünger des Heilands nicht mehr verlorene Sünder, sondern erlöste und zur Seligkeit bestimmte Kinder Gottes sind. Das sind die geistlichen Güter, die wir durch unsere Ver­ söhnung mit dem versöhnten Gott gewinnen. O, möchten wir alle derselben teilhaftig werden! Möchte zu dem Ende der gott­ menschliche Hohepriester der Welt uns der Versöhnung mit dem durch ihn versöhnten Gott teilhaftig machen! Amen.

23. Tert: Hebr. 4,14—15; 9,11—12.

„Dieweil wir denn einen großen Hohepriester haben, Jesum, den Sohn Gottes, der gen Himmel gegangen ist, so lasset uns halten an dem Bekenntnis, denn wir haben nicht einen Hohe­ priester, der nicht könnte Mitleid haben mit unseren Schwach­ heiten, sondern der versucht ist allenthalben gleich wie wir, doch ohne Sünde. — Christus aber ist kommen, daß er sei ein Hohe­ priester der zukünftigen Güter, und ist durch eine größere und vollkommenere Hütte, die nicht mit der Hand gemacht ist, das ist, die nicht von dieser Schöpfung ist, auch nicht durch der Böcke oder Kälber Blut, sondern durch sein eigen Blut einmal in das Heilige eingegangen, und hat eine ewige Erlösung erfunden." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Wir haben aus der vorigen Predigt gelernt, daß die Erlösung, auf welcher das Reich Gottes in der Menschenwelt ruht, zu stände gebracht wird zunächst durch das Versöhnungswerk, welches der Erlöser aus Erden vollzogen hat. Er ist der Versöhner geworden, und als der Versöhner ist er der Hohepriester, denn das priesterliche Amt hatte die Aufgabe und den Zweck, Versöhnung zwischen dem heiligen Gott und den sündigen Menschen zu bewerkstellige».

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Vergebung und die Aufnahme in die Kindschaft Gottes. Der Friede ist das Bewußtsein, daß wir im Glauben an den Heiland einen versöhnten himmlischen Vater haben und mit ihm wieder in Gemeinschaft stehen. Die Freude ist die Empfindung, das; wir als Jünger des Heilands nicht mehr verlorene Sünder, sondern erlöste und zur Seligkeit bestimmte Kinder Gottes sind. Das sind die geistlichen Güter, die wir durch unsere Ver­ söhnung mit dem versöhnten Gott gewinnen. O, möchten wir alle derselben teilhaftig werden! Möchte zu dem Ende der gott­ menschliche Hohepriester der Welt uns der Versöhnung mit dem durch ihn versöhnten Gott teilhaftig machen! Amen.

23. Tert: Hebr. 4,14—15; 9,11—12.

„Dieweil wir denn einen großen Hohepriester haben, Jesum, den Sohn Gottes, der gen Himmel gegangen ist, so lasset uns halten an dem Bekenntnis, denn wir haben nicht einen Hohe­ priester, der nicht könnte Mitleid haben mit unseren Schwach­ heiten, sondern der versucht ist allenthalben gleich wie wir, doch ohne Sünde. — Christus aber ist kommen, daß er sei ein Hohe­ priester der zukünftigen Güter, und ist durch eine größere und vollkommenere Hütte, die nicht mit der Hand gemacht ist, das ist, die nicht von dieser Schöpfung ist, auch nicht durch der Böcke oder Kälber Blut, sondern durch sein eigen Blut einmal in das Heilige eingegangen, und hat eine ewige Erlösung erfunden." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Wir haben aus der vorigen Predigt gelernt, daß die Erlösung, auf welcher das Reich Gottes in der Menschenwelt ruht, zu stände gebracht wird zunächst durch das Versöhnungswerk, welches der Erlöser aus Erden vollzogen hat. Er ist der Versöhner geworden, und als der Versöhner ist er der Hohepriester, denn das priesterliche Amt hatte die Aufgabe und den Zweck, Versöhnung zwischen dem heiligen Gott und den sündigen Menschen zu bewerkstellige».

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Der Priester ist ein Mittler zwischen Gott und den Menschen. So war es von Gott bestimmt im Alten Bunde. Die gewöhn­ lichen Priester vollzogen die Vermittlung zwischen Gott und den einzelnen Gliedern des Bundesvolks. Der Hohepriester vollzog die Versöhnung zwischen Gott und dem Bundesvolk im ganzen, und das that er, wie wir früher gesehen haben, an einem be­ sonderen Tag im Jahre, am großen Versöhnungstag. Diese Versöhnung sowohl für den einzelnen Volksgenossen, als für die Gesamtheit des Volks geschah durch Sühnung der Sündenschuld, die auf den einzelnen oder dem Volk lag. Wir haben aus der Geschichte des Alten Bundes gelernt, daß diese Sühnung nach göttlicher Anweisung durch die Opferung von Tieren geschah, die durch das Gesetz für gottesdienstlich rein erklärt waren. Diese Opfertiere waren die Stellvertreter der sündigen Menschen, welchen Vergebung ihrer Sünden bewirkt werden sollte. Ihr Blut, das vor dem Opferaltar vergossen wurde, reinigte die Sünder von ihrer Schuld, brachte ihnen Erlaß derselben, ver­ mittelte ihnen die Wiederaufnahme in die durch ihre Sünden ver­ scherzte Gemeinschaft mit Gott. Denn, so erklärte Gottes Wort, das Blut ist die Versöhnung, weil das Leben in ihm ist (3. Mos. 17, 11). Daß das alles, Priester und Opfer, im Alten Bunde nur vorbildliche Bedeutung hatte, das habe ich schon oft genug betont. Ebenso oft habe ich aber auch erklärt, daß dieses Opfer­ wesen und Priestertum im Alten Bunde nur durch den Hinblick auf das Priestertum und Opfer Jesu Christi Kraft, Wirkung und Erfolg empfing. Blicken wir nun einmal ausschließlich auf das Amt und die Verrichtung des Hohepriesters, der in besonderem Sinne eine Abschattung des Erlösers war. Er führte den Namen des großen Priesters, weil er der Fürst des ganzen Priesterstandes war. Er war das sichtbare kirchliche Oberhaupt im Alten Bunde, wie der Herr Jehova das unsichtbare Haupt des Gottesvolks war. Er führte die Aufsicht über den gesamten Gottesdienst, und war der Mittler des Volks. Um das sein zu können, mußte er die höchste gottesdienstliche Reinheit bewahren. Das drückte sich in seiner Amtskleidung aus, denn an seiner weißen Kopfbinde trug er eine Goldplatte mit der Inschrift: „Jehova heilig." Außerdem aber

280 mußte er, weil er als Mensch nicht frei blieb von Sünden, vor der Darbringung des Sühnopfers für das Volk am Verföhnungstage zuerst für sich selbst ein Sündopfer darbringen. Zu seiner Amtsführung empfing er die Weihe durch eine Salbung mit Oel, welches den Heiligen Geist versinnbildlicht, unter dessen Beistand er sein Amt ausrichten sollte. Der Herr Jesus Christus ist der vollkommene Hohepriester, dessen das sündige Menschen­ geschlecht bedurfte. Er ist die Verwirklichung seines alttestamentlichen Vorbildes. Seine Reinheit war nicht die bloß gottes­ dienstliche, die durch gesetzmäßige Opferungen erzielt wurde, sondern die sittliche Reinheit und vollkommene Heiligkeit, die vollständige Gottebenbildlichkeit. Seine Würde war nicht die durch auszeichnende Amtskleidung sich darstellende, sondern die des eingeborenen Gottessohnes. Seine Salbung bestand nicht in Ausgießung geweihten Oels auf sein Haupt, sondern in Mit­ teilung des Heiligen Geistes ohne Maß. Sein hohepriesterlichcs Geschäft galt nicht dem Volk des Alten Bundes allein, sondern der gesamten Menschheit. Sein hohepriesterliches Opfer war nicht ein Tieropfer, sondern die freiwillige Dahingabe seines gott­ menschlichen, heiligen Lebens in den blutigen Kreuzestod. Seines Selbstopfers Wirkung beschränkt sich nicht auf die Zeit eines Jahres, um dann wiederholt werden zu müssen, sondern sie ist eine ewige, die keiner Erneuerung bedarf; sie hat rückwirkende Kraft bis zum ersten Sündenfall und vorwärts wirkende Kraft bis zum Ende des gegenwärtigen Weltalters. Es ist mit dem Hohepriestertum unseres Heilands, wie unser Text bezeugt: „w i r haben einen großen Hohepriester, Jesum, den Sohn Gottes, der gen Himmel gefahren ist; . . . er ist auch nicht durch der Ochsen und Böcke Blut, sondern durch sein eigen Blut einmal in das Heilige ein gegangen und hat eine ewige Erlösung erfunden." Das Geschäft des Hohepriesters im Alten Bunde war jedoch damit nicht erledigt, daß er das Sühnopfer eines Widders für das Volk brachte, sondern es verband sich hiermit noch eine andere sinnbildliche Handlung. Er legte die durch das Opfer gesühnte Sünde des Volks einem anderen Tiere auf, und ließ

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dasselbe in die Wüste treiben zum Asasel. Wir verstehen, was das bedeuten sollte. Es sollte damit dem Verführer und Ver­ kläger Satan zu verstehen gegeben werden, daß er nun auf das versöhnte, entsündigte Gottesvolk kein Anrecht mehr habe. Es sollte damit die Ueberwindung Satans zum Ausdruck gebracht werden. Der sie aber in Wirklichkeit vollzogen hat, das ist der Hohepriester des Neuen Bundes. Der Darbringung des Sühnopfers, welche der Hohepriester des Alten Bundes am Versöhnungstag vollzog, schloß sich un­ mittelbar eine weitere Handlung an, welche er im Allerheiligsten des Tempels verrichtete. Dahinein trug er das Blut des ge­ opferten Tieres und brachte es vor das Angesicht Gottes, der über der daselbst aufgestellten Bundeslade inmitten seines Bundesvolks wohnen wollte. Wir wissen, was diese Handlung ausdrücken sollte. Sie sollte die Fürbitte versinnbildlichen, welche auf Grund des Opfers von Gott Vergebung der Sünde für das Volk begehrte. Sie sollte die Fürsprache vorbildlich dar­ stellen, welche der Hohepriester des Neuen Bundes in Wirklichkeit im Allerheiligsten des Himmels vor Gottes Angesicht fort­ während auf Grund seines Selbstopfers einlegt für die Sünder, denen er durch dieses sein Opfer Vergebung der Sünden er­ worben hat. Durch die Darbringung des Sühnopfers im Vorhofe und durch die Darstellung des Opferblutes im Allerheiligsten des Tempels war der Hohepriester des Alten Bundes in den Besitz des mit seinem amtlichen Thun erstrebten himmlischen Gutes, der Sündenvergebung, gelangt, und wenn er aus dem Heiligtum heraustrat zu dem im Vorhofe versammelten Volke, dann brachte er ihm dieses Himmelsgut mit; und wir werden wohl nicht irren, wenn wir annehmen, daß er es ihm auch mitteilte in einer absolvierenden Segensspendung, zu welcher er durch göttliche Anordnung ermächtigt und befähigt war (4. Mos. 6, 23—27). Auch in diesem Stücke seiner amtlichen Thätigkeit ist der Hohepriester des Alten Bundes das Vorbild dessen, den das Wort Gottes den Pfleger des wahren Heiligtums nennt (Hebr. 8, 2) und von dem unser Text erklärt, „bafe er fei ein Hohepriester der zukünftigen Güter" (Hebr. 9, 11).

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Von dem hohepriesterlichen Amte des Heilands haben wir jetzt noch weiter zu handeln. Reden wir darum über Das hohkprtefterliche Amt des Erlösers, in welchem er vollbracht hat

1. die Ueberwindung Satans, 2. die Erwerbung des Heiligen Geistes, und 3. die Bereitung des Heils. I. Durch sein hohepriesterliches Wirken hat der Heiland den Menschen Befreiung gebracht aus der Macht Sa­ tans und aus dem Reiche der Finsternis. Darum rühmt das Wort Gottes von ihm: dazu ist erschienen der Sohn Gottes, daß er die Werke des Teufels zerstöre (1. Joh. 3, 8), und daß er durch seinen Tod die Macht nehme dem, der des Todes Gewalt hatte, das ist dem Teufel (Hebr. 2, 14). Er selbst be­ zeugt von sich, daß er als der Stärkere über den Starken ge­ kommen sei, ihn besiegt und ihm seinen Harnisch genommen habe (Luk. 11, 22). Und sein Apostel bekennt von ihm, daß er nicht nur die Handschrift, die wider uns war, ausgetilgt, aus dem Mittel gethan und an das Kreuz geheftet, sondern daß er auch die Fürstentümer und Gewaltigen ausgezogen, zur Schau ge­ tragen und einen Triumph aus ihnen gemacht und uns Sünder dadurch errettet habe von der Obrigkeit der Finsternis (Kol. 2, 14—15; 1, 13). Das war ein wesentliches Stück des Erlösungswerks unseres Heilands: die Ueber­ windung Satans, des Fürsten der Finsternis. Liebe Christen, wir haben aus den vorausgehenden Pre­ digten erkannt, daß Satan die Stammcltern unseres Geschlechts zur Sünde verführte. Dadurch brachte er sie nicht nur unter seinen fortwährenden versucherischen Einfluß, sondern auch unter seine drückende, beunruhigende, quälende und peinigende Bot­ mäßigkeit. Wer Sünde thut, sagt Gottes Wort, der ist vom Teufel (1. Joh. 3, 8), er ist sein Unterthan und Knecht. Da nun alle Menschen sündigen, so sind sie von Natur allesamt unter der Obrigkeit der Finsternis. Aus dieser Satansknecht­ schaft die Menschen zu befreien, das mußte der Erlöser als einen Teil seiner Aufgabe ansehen. Die Errettung der Menschen aus

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der Obrigkeit der Finsternis ist so sehr ein Bestandteil seines Werks, daß ihr dasselbe nicht ganz und völlig begreifen würdet, wenn ihr diese Seite desselben außer Acht ließet. Sehen wir doch zu, wie unser Heiland diese Aufgabe gelöst hat. Es ist leicht begreiflich, daß Satan, der Menschenmörder von Anfang (Joh. 8, 44), der sich durch die ihm gelungene Ver­ strickung des gesamten Menschengeschlechts in den Sündendienst zum Herrn über dasselbe, zum Fürst dieser Welt (Joh. 12, 31) aufgeschwungen hatte, es nicht ruhig ansehen wollte, daß ihn: durch den Mensch gewordenen Gottessohn seine Beute entrissen, sein Machtgebiet genommen und er selbst dem Gericht überliefert würde. Er wußte, um was es sich handelte, als der Heiland er­ schien, daß es Sein oder Nichtsein für ihn galt. Deshalb ging sein Bestreben darauf hinaus, das Erlösungswerk zu hinter­ treiben. Zu diesem Zweck trachtete er zunächst darnach, den Erlöser aus dem Wege zu räumen, und hetzte den grausamen König Herodes gegen den „neugeborenen König der Juden" auf. Dann, als er merkte, daß er auf diesem Wege nichts ausrichtete, weil der allmächtige Gott seinen ins Fleisch gekommenen Sohn schützte, gab er den Versuch des Leibcsmordcs fürs erste auf, und suchte den, der als der zweite Adam dastand, durch Seelen­ mord zu Fall zu bringen, wie einst den ersten Adam. Er be­ gnügte sich jedoch nicht damit, seine bösen Geister, die von ihm verführten und unterjochten Engel, mit dieser Aufgabe zu be­ trauen, sondern er trat in eigener Person auf den Plan. Ihr kennet, liebe Christen, den dreifachen listigen Anlauf, den er vor dem Beginn der Erlöserthätigkeit unseres Heilands nahm, um diesen zum Sündigen zu verleiten, von Gott abfällig und zum Erlösungswerk unfähig zu machen. Ihr wisset aber auch, mit welcher Sicherheit des Geistes der Heiland diesen Anlauf ab­ schlug. Er blieb Sieger, er errang den ersten großen Sieg über Satan und die Macht der Finsternis. Darum sagt das Wort Gottes: da verließ ihn der Teufel, und siche, da traten die Engel zu ihm und dienten ihm (Mtth. 4, 11). Ich sagte, das war der erste Sieg des Heilands. Ihr dürft nicht meinen, daß mit diesen: die vollständige Ueberwindung Satans vollbracht gewesen wäre. Offenbart uns doch das Wort Gottes im Anschluß an die Er-

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zählung von der erwähnten dreifachen Versuchung: da der Teufel alle Versuchung vollendet hatte, wich er von ihm eine Zeit lang (Luk. 4, 13). Dann setzte er seine Verlockungen durch die Weltlust und seine Anfechtungen durch den Leidensschmerz fort bis an das irdische Lebensende des Erlösers. Wir wissen aber, daß er mit all seinen Verlockungen und Anfechtungen nichts bei ihm ausrichtete. Der zweite Adam schlug alle Versuchungen Satans ab und verharrte in seiner vollkommenen Heiligkeit. Nicht als ob die Versuchungen gar keinen Eindruck auf ihn ge­ macht hätten. So dürft ihr euch den Zustand unseres Hellands, der ein richtiger Mensch war, nicht denken. Wenn das Wort Gottes von ihm erklärt: er ist allenthalben versucht gleich wie wir (Hebr. 4, 15), so ersehen wir daraus, daß er sich den Ver­ suchungen gegenüber in Kampfesstellung setzen und sie mit Wachen und Beten abwehren mußte, wenn er auch das Große vor uns voraus hatte, daß in ihm keine böse Neigung war, die der von außen kommenden Versuchung entgegen gekommen wäre. In dieser Kampfesstellung finden »vir aber auch unseren Heiland allezeit, und darum gelang es ihm, alle Versuchung zu bestehen und sich rein zu erhalten wie von allen Befleckungen des Fleisches, so auch von allen Verirrungen des Geistes, als Unglaube, Mißtrauen, Hochmut, Eigenwille, Ehrgeiz, Herrsch­ sucht, Verzagtheit, Verzweiflung, Zorn, Haß und Feindschaft. Ich bin überzeugt, liebe Christen, daß wir meist keine rechte Ahnung haben von der Größe des Kampfes, den der Heiland gegen Satan zu bestehen hatte. Wir werden noch einmal dar­ über staunen, wenn es im zukünftigen Leben uns klar wird. Wahrlich, der Sieg ist ihm nicht leicht zugefallen, er hat ihn in ernstem, heißem Kampfe erringen müssen. Aber er hat ihn er­ rungen. Und wodurch? Dadurch, daß er alle Versuchungen Satans abwies und Gott, seinem Dienste und Gehorsam treu blieb, treu bis in den Tod. Er hat den Sieg davon getragen in einem so vollständigen Grade, daß er am Schlüsse seines Erdenlebens sagen konnte: es kommt der Fürst dieser Welt und hat nichts an mir (Joh. 14, 30). Satan hat all seine Macht und List dem Heiland gegenüber aufgeboten, und hat nichts ausge­ richtet. Damit aber hat er sich selbst vernichtet.

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Seht, liebe Christen, das ist die große Bedeutung dieses Kampfes und Siegs. Der Fürst der Finsternis hat sich selbst vernichtet dadurch, daß er all seine Macht und List erfolglos verschwendet hat. Zu­ nächst allerdings hat er nur sich selbst gerichtet, das heißt: er hat das Gericht Gottes über sich hereingezogen. Darum sagt unser Heiland von ihm: jetzt gehet das Gericht über die Welt, nun wird der Fürst dieser Welt ausgestoßen werden (Joh. 12, 31). Ja, er sieht ihn im Geiste bereits vom Himmel fallen wie einen Blitz (Luk. 10, 18). Doch verstehet es recht. Gefällt ist in­ folge des Sieges, den unser Heiland erkämpft hat, das Gerichts­ urteil über Satan, aber v o l l z o g e n ist es noch nicht. Es wird vielmehr erst vollzogen werden am Tage des Weltgerichts. So bestätigt cs das Wort Gottes in der Weissagung: der Teufel . . ward geworfen in den feurigen Pfuhl und Schwefel (Offb. 20, 10). Ihr dürft deshalb den Sieg des Herrn Jesus über Satan nicht so auffassen, als ob nun Satan bereits völlig ab­ gethan und beseitigt sei. Nein, dem ist nicht so. Er ist vielmehr noch auf dem Plan. Gottes Wort sagt ja von ihm: er geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, welchen er verschlinge (1. Petr. 5, 8). Es könnte ebensowohl von ihm sagen: er schleichet umher wie eine giftige Schlange und sucht, welchen sie berücke. Es bezeichnet ihn als den Geist, der zu dieser Zeit sein Werk hat in den Kindern des Unglaubens, so daß wir nicht nur mit unserer eigenen Sündenlust und mit der Versuchung durch sündige Nebenmenschen zu kämpfen haben, sondern mit den bösen Geistern unter dem Himmel (Eph. 2, 2; 6,12). Wenn dem aber so ist, was hat dann der Sieg des Heilands über Satan genützt für uns Menschen? so fragt ihr billig, liebe Christen. Ich antworte: erstlich dies, daß dem Argen dadurch das Gerichtsurteil Gottes gefällt ist. Auch Satan, als ursprünglich gutes, dann aber durch eigenen Entschluß böse gewordenes Geschöpf Gottes, muß nach Recht gerichtet werden. Deshalb mußte er auf die Weise, wie es der Heiland gethan hat, erst besiegt werden. Sodann aber hat dieser Sieg uns Menschen noch einen weiteren großen Gewinn gebracht, nämlich den, daß wir nun, wenn wir durch den Bußglauben

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mit dem siegreichen Heiland in Gemeinschaft treten, geistlich erneuert und fähig gemacht werden, in der Nachfolge unseres Heilands den bösen Feind mit seinen Versuchungen und Anfechtungen zu besiegen. Und sehet, liebe Christen, das ist die Aufgabe, welche der Heiland seinen wahren Jüngern gestellt hat. Sie sollen in seiner Kraft den Kampf mit dem Fürsten der Finsternis aufnehmen und endgültig auskämpfen. Darum läßt er sie in seinem Worte er­ mahnen : widerstehet dem Teufel, so fliehet er von euch (Jak. 4,7); ziehet an den Harnisch Gottes, daß ihr bestehen könnet gegen die listigen Anläufe des Teufels! (Eph. 6,11). Er giebt ihnen zugleich die Versicherung, daß sie in seiner Gemeinschaft vor seinen Anläufen gesichert sind. Zwar seid ihr dies nicht so, daß ihr sie gar nicht mehr an euch erführet, wohl aber so, daß ihr sie ab­ weisen und überwinden könnet. Ja, mehr noch als das steht in euerem Vermögen. Ihr könnet die feurigen Pfeile, welche der böse Feind auf euch abschießt, mit dem Schild des Glaubens auslöschen (Eph. 6, 16). Merket wohl: auslöschen. Das ist: zunichte machen. Mit jeder Ueberwindung einer Versuchung und Anfechtung Satans thut ihr seiner Macht einen Abtrag, brecht eines seiner Bollwerke und liefert damit einen Beitrag zu seiner Schwächung und schließlichen Vernichtung. Gerade dies aber verlangt der Erlöser von seinen Jüngern. Das bestätigt uns der Gebetswunsch seines Apostels: der Gott des Friedens zertrete den Satan unter euere Füße in kurzem! (Röm. 16, 20). Und siehe, was er uns bestätigt, das verheißt uns auch dieser Gebetswunsch. Es wird den Jesusjüngern, es wird der Gemeinde Jesu Christi wirklich gelingen, Satan in der Kraft ihres Heilands völlig zu besiegen und ihn der Voll­ streckung des göttlichen Gerichtsurteils zu überliefern. Wahr­ lich, eine Aufgabe, für die Vollendung des Gottesreiches von eben solcher Wichtigkeit, wie die erste Ueberwindung Satans durch den Erlöser für die Gründung dieses Reiches! Wohlan, liebe Christen, lasset uns in die Lösung dieser Aufgabe eintreten! II. Die Ueberwindung Satans ist ein wichtiges Stück des Erlösungswerks. Die Menschheit verdankt aber ihrem Erlöser noch eine andere große Wohlthat, und diese besteht darin, daß

287 er ihr den Heiligen Geist durch sein hohepriesterliches Thun erworben hat. Auch dadurch hat er Grund gelegt für das Reich Gottes unter den Menschen, denn ohne den Heil. Geist kann dasselbe nicht aufgerichtet werden. Ihr erinnert euch, liebe Christen, daß der Vorläufer unseres Heilands ihn als denjenigen beschrieb, der mit dem Heil. Geiste taufen werde. Als dieser Geisttäufer hat er sich denn auch er­ wiesen, am meisten in die Augen fallend am Pfingstfest in Jeru­ salem. Ich sagte: ohne den Heil. Geist kann das Reich Gottes nicht aufgerichtet werden in der Menschenwelt. Durch seine Wirksamkeit werden wir Sünder zu Bürgern desselben zube­ reitet. Nun unterliegt es keinem Zweifel, daß der Heil. Geist diese seine Wirksamkeit betrieben hat seitdem überhaupt das Himmelreich auf Erden besteht. Alle Bekehrungen, die von jeher unter den Menschen geschehen sind, sind auf die Wirkung des Heil. Geistes zurückzuführen, auch die, welche im Alten Bunde erfolgt sind. Die Bekehrung der Sünder ist stets das Werk des Heil. Geistes gewesen. Doch, da vernehme ich den Einwurf: wenn der Heil. Geist seine bekehrende Wirksamkeit schon im Alten Bunde entfaltet hat, wie kann der Heiland als derjenige gelten, der ihn der Menschheit erworben hat? Seht, liebe Christen, damit verhält es sich gerade so, wie mit der Sündenvergebung. Die gab es auch schon im Alten Bunde auf Grund der von Gott ange­ ordneten Tieropfer. Und doch mußte sie den Menschen erst durch das Selbstopfer unseres Hohepriesters Jesus erworben werden. Dieses Selbstopfer hatte, wie wir bereits erkannt haben, rückwirkende Kraft für die Opfer des Alten Bundes. So hat auch die Erwerbung des Heil. Geistes durch das hohepriesterliche Amt unseres Heilands rückwirkende Kraft auf den Alten Bund. Daß er aber der wahre und wirkliche Erwerber des Heil. Geistes ist, das hat er am ersten christlichen Pfingstfest gezeigt, indem er an demselben seinen Jüngern den Heil. Geist auf sinnenfällige Weise mitteilte. Wir würden jedoch das, was damals gespendet wurde, nicht völlig begreifen, wenn wir es einschränkten auf die be­ kehrende Wirksamkeit des Heil. Geistes. Es ist doch noch etwas

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Neues, bis dahin in der Menschenwelt noch nicht Vorhandenes, was damals gegeben wurde, und wodurch sich der Erlöser erst in vollem Sinne des Wortes als der Geisttäufer erwiesen hat. Wie beachtenswert ist doch gleich die erste Wirkung, welche der Pfingstgeist ausrichtete. Zwei Wundergaben bringt er den Jüngern: die Gabe des Zungenredens und die Gabe der Weissagung. Die erste wurde allen versammelten Jüngern zu teil und that sich kund in einem die großen Thaten Gottes preisenden entzückten Beten: das war das Zungenreden. Die andere offenbarte sich an dem Apostel Petrus in seiner von einem außerordentlichen Bekehrungserfolg begleiteten ersten Pfingstpredigt: das war das Weissagen. Diese beiden Geistes­ gaben und noch andere Wundergaben, wie die Weisheitsrede, Erkenntnisrede, Geisterprüfung, Sprachenauslegung, Kranken­ heilung, Wunderthätigkeit, traten in den ersten Christen­ gemeinden auf und erwiesen sich als Wirkungen des Pfingstgeistes (I.Kor. 12). In ihnen trat eine zweite Wirkungs­ weise des Heil. Geistes zu Tage, die wir von der ersten bekehrenden Wirkungsweise desselben Geistes unterscheiden müssen. Während diese an den Seelen sich erweist, besteht jene in einer Einwohnung des Heil. Geistes in den Be­ kehrten. In den wunderbaren Geistesgaben thut sich diese Wirkungsweise nach außen hin kund. Ihr Wesen aber ist die persönliche bleibende Einwohnung des Heil. Geistes. Um deretwillen werden die Christen Tempel des Heil. Geistes genannt (I.Kor.3,16). Damit ist an ihnen erfüllt, was der Heiland seinen Jüngern versprochen hatte. Sie haben den anderen Tröster empfangen, den die unbekehrten Weltmenschen nicht empfangen können, der bei ihnen bleiben und in ihnen sein soll (Joh. 14, 16—17). HL Wie die Erwerbung des Heil. Geistes für die Menschen ein wesentliches Stück ist zur Grundlegung für das Reich Gottes, so gehört zu dieser Grundlegung für das Himmelreich selbstverständlich auch die Bereitung des Heils für die Menschen, welche erlöst werden sollen. Das Reich Gottes ist ja nichts anderes, als der Inbegriff aller Heilsgüter, die wir unserem Hohepriester verdanken. Worin besteht aber nun das

289 uns bereitete Heil? Ihr erinnert euch, liebe Christen, daß der Katechismus lehrt: wo Vergebung der Sünden ist, da ist auch Leben und Seligkeit. Daß uns der Erlöser Sündenvergebung verdient hat, davon haben wir bereits geredet. Damit hat er aber auch das ganze Heil bereitet, das uns der gnädige und barmherzige Gott zugedacht hat. Nur in Christo Jesu ist Heil für die Menschen. Darum bezeugt Gottes Wort von ihm: es ist in keinem anderen das Heil und ist kein anderer Name den Menschen gegeben, darinnen sie sollen selig werden (Apg.4,12).

Darum trägt er auch den Namen „Heiland", mit dem wir ihn am liebsten bezeichnen. Nun faßt das Wort Gottes dieses Heil oftmals auch zu­ sammen unter der Bezeichnung „ewiges Leben" oder kurz­ weg „Leben". Es sagt: also hat Gott die Welt geliebt, daß

er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben (Joh. 3, 15); wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben (Joh. 6, 54). Unser Heiland erklärt von sich: wer mein Wort höret und glaubet dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben (Joh. 5, 24). Und sein Apostel bezeugt von ihm: das ist das Zeugnis, daß uns Gott das ewige Leben hat gegeben, und solches Leben ist in seinem Sohne (1. Joh. 5, 11). Hier finden wir den Ausdruck »ewiges Leben". Er wechselt aber, wie ich gesagt habe, oft mit der einfachen Bezeichnung „Leben". So in dem euch wohlbekannten Ausspruch unseres Heilands: die Pforte ist eng und der Weg ist schmal, der zum Leben führet, und wenig ist ihrer, die ihn finden (Mtth. 7, 14). Ihr sehet: „Heil" und „Leben" sind gleichbedeutende Begriffe und Worte. Und mit ihnen ist wieder gleichbedeutend der Begriff und das Wort „Seligkeit". Das erkennet ihr aus Aus­ sprüchen des Wortes Gottes, wie diese: Gott hat uns nicht gesetzt zum Zorn, sondern die Seligkeit zu besitzen durch unseren Herrn Jesum Christ (1. Thess. 5, 9); Gott hat euch erwählt von An­ fang zur Seligkeit (2. Thess. 2, 13); ihr werdet euch freuen mit unaussprechlicher und herrlicher Freude und das Ende eueres Glaubens davon bringen, nämlich der Seelen Seligkeit (1. Petr. 1, 8—9); da er vollendet war, ist er worden allen Schnabel, Predigten.

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denen, die ihm gehorsam sind, eine Ursache zur ewigen Seligkeit (Hebr. 5, 9). Aus all diesen Aussagen des Gotteswortes lernet ihr aber, liebe Christen, daß das Heil oder das Leben oder die Seligkeit ein geistliches Gut ist von zwiefacher Art und Natur. Es ist keineswegs ein Gut, das nur im jenseitigen, zukünftigen Dasein uns zu teil wird, sondern ein solches, das schon im Diesseits, im Erdendasein sich uns zu erfahren und zu genießen giebt. Wenn du, lieber Christ, im Bußglauben den Heiland ergreifst, so wirst du sofort dieses geistlichen Gutes teilhaftig. Du hast damit das Heil, das Leben, die Seligkeit erlangt und befindest dich in deren Besitz. Und was dir im jenseitigen, zukünftigen Leben wird, wenn du in dem Herrn Jesu lebst und stirbst, das ist die Fortsetzung von dem, was schon hinieden dir eigen ge­ worden war. Nur ein Unterschied waltet ob. Das Heil und Leben, die Seligkeit, die du im zeitlichen Dasein genießest, ist innerliches Glück. Im zukünftigen Dasein wird sie aber auch zu einem äußerlichen Glückszustand, wie ihn das Wort Gottes beschreibt in den herrlichen Worten: Gott wird abwischen alle Thränen von ihren Angesichtern, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein, denn das erste ist vergangen (Offb. 21,4). Das ist denn die Vollendung des Heils, das uns der Heiland durch sein hohepriesterliches Thun bereitet hat und zu welcher er uns zubereitet durch den Heil. Geist, den er uns zu diesem Zwecke erworben hat. Das konnte er jedoch nicht erreichen durch den Teil seines hohepriesterlichen Geschäfts, der in sein Erdenleben fällt. Um das zu können, setzt er sein Hohepriestertum, das er im Stande der Niedrigkeit begonnen hatte, im Stande seiner Erhöhung fort. Er setzt es fort in der F ü r b i t t e, die er für seine mensch­ lichen Brüder und Schwestern einlegt vor dem göttlichen Gnadenthrone auf Grund seines Selbstopfers. Er spricht zu seinem himmlischen Vater: um meines Versöhnungswerkes und Verdienstes, um meines Opfers und Blutes willen sei den Menschen gnädig, bekehre, heilige, vollende sie und mache sie selig! So lehrt es uns das Wort Gottes, wenn es sagt: dieser

291 aber darum, daß er Bleibet ewiglich, hat er ein unvergängliches Priestertum, daher er auch selig machen kann, die durch ihn zu Gott kommen und lebet immerdar und bittet für sie (Hebr. 7, 24—25). Es ist indes noch eine weitere Thätigkeit, welche unser Hohepriester in der unsichtbaren Himmelswelt entfaltet. Das ist die Verwaltung und Ausspendung der Heils­ güter, welche er den Menschen durch sein Selbstopfer verdient hat und durch seine Fürsprache erflehet. Darum heißt er in unserem Texte „der Hohepriester der zukünftigen Güter" und anderwärts der Pfleger des Heiligen. Von feiner himmlischen Stätte aus segnet er mit den Gütern des Heils, des Lebens und der Seligkeit alle reuigen und gläubigen Sünder. Er macht sie dadurch zu Bürgern des Reiches Gottes und betreibt die Gründung, Ausbreitung und Vollendung des­ selben. Liebe Christen, möge sein hohepriesterliches Thun auch uns zu gut kommen! Amen.

24. Tert: Loh. 7, 16—17.

„Jesus antwortete ihnen und sprach: meine Lehre ist nicht mein, sondern des, der mich gesandt hat; so jemand will des Willen thun, der wird inne werden, ob diese Lehre von Gott sei, oder ob ich von mir selbst rede." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! In den zwei vorhergehenden Predigten haben wir das hohepriesterliche Amt unseres Heilands betrachtet, und haben erkannt, daß und wie er durch die Ausführung desselben Grund gelegt hat für das Reich Gottes. Ich will euch jetzt zeigen, daß zur rechten Grundlegung für das Himmelreich in der Menschenwelt auch das pro­ phetische Amt des Erlösers nötig war. Daß er dieses Amt ebenfalls empfangen hat,- daß er in Wirklichkeit ein Prophet gewesen ist, das ist im Worte Gottes bestimmt genug aus19*

291 aber darum, daß er Bleibet ewiglich, hat er ein unvergängliches Priestertum, daher er auch selig machen kann, die durch ihn zu Gott kommen und lebet immerdar und bittet für sie (Hebr. 7, 24—25). Es ist indes noch eine weitere Thätigkeit, welche unser Hohepriester in der unsichtbaren Himmelswelt entfaltet. Das ist die Verwaltung und Ausspendung der Heils­ güter, welche er den Menschen durch sein Selbstopfer verdient hat und durch seine Fürsprache erflehet. Darum heißt er in unserem Texte „der Hohepriester der zukünftigen Güter" und anderwärts der Pfleger des Heiligen. Von feiner himmlischen Stätte aus segnet er mit den Gütern des Heils, des Lebens und der Seligkeit alle reuigen und gläubigen Sünder. Er macht sie dadurch zu Bürgern des Reiches Gottes und betreibt die Gründung, Ausbreitung und Vollendung des­ selben. Liebe Christen, möge sein hohepriesterliches Thun auch uns zu gut kommen! Amen.

24. Tert: Loh. 7, 16—17.

„Jesus antwortete ihnen und sprach: meine Lehre ist nicht mein, sondern des, der mich gesandt hat; so jemand will des Willen thun, der wird inne werden, ob diese Lehre von Gott sei, oder ob ich von mir selbst rede." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! In den zwei vorhergehenden Predigten haben wir das hohepriesterliche Amt unseres Heilands betrachtet, und haben erkannt, daß und wie er durch die Ausführung desselben Grund gelegt hat für das Reich Gottes. Ich will euch jetzt zeigen, daß zur rechten Grundlegung für das Himmelreich in der Menschenwelt auch das pro­ phetische Amt des Erlösers nötig war. Daß er dieses Amt ebenfalls empfangen hat,- daß er in Wirklichkeit ein Prophet gewesen ist, das ist im Worte Gottes bestimmt genug aus19*

292 gesprochen. Schon die Weissagung auf ihn im Allen Bunde bezeichnet ihn als Prophet, ja als den, in welchem das Prophetentum seinen Gipfelpunkt ersteigt, in welchem es zur voll­ kommensten Erscheinung gelangt. Er war Prophet im höchsten Sinne des Wortes, der vollkommenste Prophet, der Prophet aller Propheten. So haben wir früher ver­ nommen, daß Gott seinem Knechte Moses die Aussicht eröffnete: ich will ihnen einen Propheten, wie du bist, erwecken aus ihren Brüdern, und meine Worte in seinen Mund geben, der soll zu ihnen reden alles, was ich ihm gebieten werde (5. Mos. 18,18). Dem entsprechend bezeugt er von sich selbst: ich bin das Licht der Welt (Joh. 8, 12), sagt von sich: ich bin die Wahrheit (Joh. 14, 6), und bezeichnet es vor seinem Richter als einen Hauptzweck seines Erdenlebens, daß er für die Wahrheit Zeugnis ablegen solle (Joh. 18, 37). So erkannten ihn auch zuweilen seine Volks- und Zeitgenossen an und sprachen: es ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden und Gott hat sein Volk heim­ gesucht (Luk. 7, 16), oder gar: das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll (Joh. 6, 14). Und seine Jünger bekennen von ihm: Jesus von Nazareth war ein Prophet, mächtig von Thaten und Worten vor Gott und allem Volk (Luk. 24, 19). Was ist ein Prophet? Das haben wir bereits aus unseren seitherigen Betrachtungen erkannt. Es erhellt aus der vorhin von mir angeführten göttlichen Verheißung. In dieser sagt Gott: ich will meine Worte in seinen Mund geben, und er soll zu ihnen reden alles, was ich ihm gebieten werde. Wie merk­ würdig stimmt doch das zu dem, was wir unseren Heiland in unserem Texte sagen hören: „meine Lehre ist nicht mein, sondern des, der mich gesandt hat!" Unter einem Propheten versteht das Wort Gottes einen Menschen, dem Gott Offenbarungen zu teil werden läßt, und zwar Mitteilungen über seinen Heils- und Erlösungsratschluß und über das Wesen und die Geschichte des Reiches Gottes, die er den Menschen ver­ kündigen soll. Nun ist das der Mittelpunkt unseres Christen­ glaubens, daß unser Heiland diesen göttlichen Heils- und Er­ lösungsratschluß zur Ausführung gebracht und dadurch das

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Reich Gottes in der Menschheit aufgerichtet hat. Darum mußte er auch den Menschen über sein Werk und seine Aufgabe den notwendigen Aufschluß, die richtige Erklärung geben. Und daß er das in seiner Lehre und Predigt gethan hat, das macht ihn zum Prophet. Und daß er die Offenbarung oder Kundmachung des göttlichen Heilsratschlusses, die mit dem ersten Evangelium vom Schlangentreter begonnen und sich durch die ganze Ge­ schichte des Alten Bundes hindurchgezogen hatte, zum endlichen Abschluß brachte, das macht ihn zum Prophet aller Propheten. Wie deutlich tritt uns das vor Augen in dem Ausspruch des göttlichen Wortes: nachdem vor Zeiten Gott manchmal und mancherlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er am letzten in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn (Hebr. 1,1—2). Zu seinem prophetischen Amte empfing der Heiland auch die nötige Ausrüstung von oben. Worin diese bestand, das haben wir zum Teil bereits bei der Betrachtung des Prophetentums im Alten Bunde erkannt. Da haben wir die Wahr­ nehmung gemacht, welche das Neue Testament ausspricht in den Worten: es ist noch nie eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht, sondern die heiligen Menschen Gottes haben geredet, getrieben vom Heil. Geiste (2. Petr. 1, 21). Die Ausrüstung der Propheten besteht aber darin, daß sie die Wirk­ samkeit des Heil. Geistes noch in einer anderen, besonderen Weise erfuhren, wie die anderen Menschen, an welchen er die Bekehrung bewirkte. Den Propheten vermittelte er durch inner­ liche Eingebung das, was Gott ihnen über seinen Heilsratschluß und seine damit in Verbindung stehenden Beschlüsse mitteilen wollte. Er flößte ihnen diese göttlichen Eröffnungen erstmalig innerlich ein. Und noch ein Zweites that er an ihnen. Er er­ leuchtete sie zur richtigen Auffassung dieser Eingebungen, und befähigte sie zur richtigen Darstellung derselben bei ihrer Ver­ kündigung, sei es in der mündlichen Predigt, sei es bei deren schriftlicher Beurkundung. Nun sehet, liebe Christen, dieselbe Ausrüstung mit dem Heil. Geiste empfing auch der oberste der Propheten. Seine Ausrüstung mit dem Heil. Geiste stellte sich seinem Vorläufer sogar sinnlich wahrnehmbar dar in dem Ge-

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sicht, das er bei der Taufe seines Nachfolgers hatte, als er den Himmel geöffnet und den Heil. Geist auf den Täufling kommen sah wie eine Taube, und dabei die göttliche Stimme hörte: dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Doch, dabei muß ich auch auf einen wichtigen Unterschied aufmerksam machen. Während den Propheten des Alten Bundes die offen­ barenden Einflüsterungen des Heil. Geistes nur zeitweise und vorübergehend zu teil wurden, empfing unser Heiland den Heil. Geist als Offenbarungsgeist zu ständigcrEinwohnung. Die Propheten des Alten Bundes waren nur zuweilen der Mund Gottes. Gott redete nur in besonderen Fällen durch sie, während sie in ihren übrigen Reden ihren Mit­ menschen gleich standen. Unser Heiland aber war während seiner prophetischen Amtsführung beständig in allem seinem Reden der Mund Gottes, so daß in voller Wirklichkeit von ihm gilt, was er von sich sagt: ich bin die Wahrheit (Joh. 14, 6). Er empfängt nicht von seinem himmlischen Vater einzelne Ein­ gebungen, sondern er steht in solcher Gesamterkcnntnis des göttlichen Heilsplanes, daß er aus der Fülle derselben heraus lehrt und predigt. Das ist es, was er vor allen anderen Pro­ pheten, die ihm vorangegangen sind, voraus hat. Darum war er auch geschickt, die außerordentliche, wunderbare Heilsoffen­ barung Gottes an die Menschen zum Abschluß zu bringen. Ueber sein Evangelium hinaus hat Gott keine weitere Offen­ barung mehr an die Menschen gelangen lassen. Was seine Jünger uns im Neuen Testament lehren, ist nur eine unter Er­ leuchtung des Heil. Geistes gewonnene Enthüllung dessen, was er sie gelehrt hatte. Widmen wir unsere gegenwärtige Predigt der Betrachtung des Prophetcntums unseres Heilands. Wir werden dann er­ kennen, wie auch die prophetische Thätigkeit desselben notwendig zur Gründung des Reiches Gottes gehört. Wir reden also über Das prophetische Amt des ErlSsers, und dabei fassen wir ins Auge: 1. die Belehrung über sein Werk, und 2. die Werkes.

Anweisung

zur

Aneignung

seines

295 I. Ihr wisset, liebe Christen, das Erste, was der Heiland bei Eröffnung seiner prophetischen Laufbahn that, war dies, daß er sich Jünger sammelte, welche beständig um ihn sein

sollten, damit sie nach seinem Weggang von der Erde seine Zeugen, die Verkündiger seines Evangeliums mit Wort und Schrift sein sollten. Das gilt in besonderem Sinne von den zwölf Jüngern, welche er am engsten an seine Person fesselte und zu seinen Aposteln machte. Er erwählte zwölf Apostel, weil diese als Vertreter der zwölf Stämme Israels gelten

und als seine Boten an diese auftreten sollten. Daß er neben diesen seinen Vertrautesten noch eine größere Anzahl anderer

Jünger gewann, ist euch bekannt. Als Prophet war der Heiland Prediger und Volks-

lehrer. Er nannte seine Lehre Evangelium, das ist: eine gute Verkündigung, eine frohe Botschaft. Fragen wir nun nach dem Inhalt seiner Lehre und Predigt, seines Evangeliums, so tritt uns insbesondere aus den drei ersten Lebensbeschreibungen Unseres Heilands im Neuen Testa­ ment, aus den drei ersten Evangelien als der Mittelpunkt der­ selben der Gedanke und Begriff des Reiches Gottes entgegen. Gleich der Bericht über sein erstes Auftreten teilt uns mit, daß er gepredigt habe: das Reich Gottes ist herbei gekommen! Was unter dem Reiche Gottes zu verstehen, das ist uns, liebe Christen, nach unseren seitherigen Betrachtungen kein Geheimnis mehr. Wir dürfen auch annehmen, daß Name und Begriff des Reiches Gottes oder des Himmelreichs den Volks­ genossen unseres Heilands bekannt war. Sie, die Glieder des Bundesvolks, hatten ja das Gottesreich schon seither im Alten Bunde gehabt, und zwar unter der äußeren Gestalt des Gottes­ staates. Darum durfte und konnte ihnen der Messias vom Reiche Gottes predigen. Zu den Heiden hätte er sich mit dieser Predigt nicht wenden können, denn sie würden sie nicht ver­ standen haben. Das wird auch wohl der Grund gewesen sein, daß seine Apostel und insbesondere sein eigentlicher Heiden­ apostel bei der Heilsverkündigung an die Heiden nicht den Ge­

danken des Reiches Gottes in den Mittelpunkt stellten, sondern den Gedanken der Versöhnung Gottes mit den Menschen, die

296 von den Menschen im Buß- und Rechtfertigungsglauben an­ geeignet werden muß. Auffallend ist, daß der gottmenschliche Prophet seine Be­ lehrung über das Reich Gottes meist in Gleichnissen erteilt. Unstreitig that er dies, weil diese Gleichnisse die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer ganz besonders erregte und sie zum Nachdenken reizte. Doch hatte er dabei noch einen anderen Grund, und den spricht er auf die Frage seiner Jünger aus in den überraschenden Worten: euch ist es gegeben, daß ihr das Geheimnis des Himmel­ reichs vernehmet, diesen aber ist es nicht gegeben, . . denn mit sehenden Augen sehen sie nicht, und mit hörenden Ohren hören sie nicht, denn sie verstehen es nicht . ., aber selig sind euere Augen, daß sie sehen und euere Ohren, daß sie hören (Mtth. 13, 11—16). Was ist damit gesagt? Die Gleichnisse sind von zwie­ facher Natur, einerseits verhüllen sie die Wahrheit, die ver­ kündigt werden soll, und anderseits veranschaulichen sie dieselbe. Sie verhüllen sie den Weltkindern, in welchen noch kein Heils­ verlangen sich regt, und sie enthüllen sie den Seelen, in welchen die Heilsbegierde erwacht ist. Den weltlich Gesinnten wird die Kunde vom Reich Gottes verhüllt, damit sie dieselbe nicht zum Schaden ihrer Seele mißbrauchen; den geistlich Gerichteten wird sie anschaulich gemacht, damit sie sich das Heil im Glauben aneignen. Was ist das Reich Gottes? Es ist uns bereits hin­ länglich bekannt. Laßt mich, liebe Christen, darum nur kurz antworten: es ist die göttliche Heilsanstalt, in welcher die Menschen von der Sünde und ihren unseligen Folgen frei und der vollen Seligkeit teilhaftig werden. Es ist ein Reich, ein Königreich, denn es hat einen König, der ist Gott, unser Heiland, und es hat Bürger, das sind auf Erden die bekehrten Sünder. Aber es ist kein Reich von dieser Welt. Das will zunächst sagen: es ist etwas Innerliches, etwas in der Seele des Menschen sich Kundgebendes, es ist Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geiste (Röm. 14,17). Das will aber ferner sagen: das Reich Gottes ist kein weltliches Staatswesen, im Neuen Bunde ist es überhaupt kein Staat, auch nicht einmal, wie im Alten Bunde, ein Gottesstaat, sondern eine rein geist-

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liche Vereinigung bekehrter Menschen, die in der Gemeinde Jesu Christi, tn der Kirche zu äußerer, sichtbarer Erscheinung gelangt. In der Kirche soll es während der gegenwärtigen Weltzeit be­ stehen. In dieser Erscheinungsform ist es aber noch nicht das vollendete Gottesreich, sondern das werdende, sich entwickelnde und ausbildende, bis es im zukünftigen Weltalter zum voll­ endeten Gottesstaate ausgestaltet wird. Zum Reiche Gottes in seinen verschiedenen Erscheinungs­ formen, im Gottcsstaat des Alten Bundes, in der Kirche des Neuen Bundes, in dem Herrlichkeitsreich des zukünftigen Welt­ alters, hat unser Heiland den Grund gelegt. Ja, auch der Gottessiaat des Alten Bundes ruht auf seinem Werke. Da ent­ steht denn die Frage: wie stellt er sich zum Alten Bunde und zu der Gottesoffenbarung, welche dieser gebracht hat, zum Gesetz und zur Weissagung? Er erklärt, daß er nicht gekommen sei, die Offenbarung des Alten Bundes, das Ge­ setz und die Weissagung aufzulösen, sondern zu erfüllen. Das hat er auch wirklich gethan. Er hat das Ge­ setz und die Weissagung erfüllt durch That und Wort. Das Gesetz hat er vollständig gehalten und die Weissagung hat er zur Ausführung gebracht. Er hat aber auch das Gesetz aus­ gelegt. Er hat den geistlichen Sinn des Sittengesetzes er­ schlossen und dasselbe für ein ewiges und unvergängliches er­ klärt. Er hat die sinnbildliche Bedeutung des gottesdienstlichen Gesetzes klar gestellt und dieses als im Neuen Bunde abgethan erklärt. Er hat gezeigt, daß das Gesetz und die Propheten auf ihn und sein Werk Hinweisen, denn er ruft seinen Volksgenossen zu: suchet in der Schrift, . : . sie ist es, die von mir zeuget! (Joh. 5, 39). Wollt ihr wissen, liebe Christen, wie unser Heiland das Sittengesetz verstand und seinen geistlichen Sinn aufdeckte, so achtet darauf, wie er in der Bergpredigt die Gebote deutet, das fünfte Gebot, als lautete es: du sollst nicht zürnen! das sechste, als hieße es: du sollst kein Weib ansehen, ihrer zu begehren! (Mtth. 5, 22. 28). — Wollt ihr erfahren, wie er das gottes­ dienstliche Gesetz .verstand, so merket auf das, was er denen sagte, die ihn über seinen Verkehr mit Zöllnern und Sündern ver-

298 klagten. Er entgegnete: gehet hin und lernet, was das sei: ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer (Mtth. 9, 13). Merket, wie er die Liebe über das wichtigste Stück des Gottesdienstes im Alten Bund erhebt! Oder achtet auf das, was er denen antwortet, welche ihn fragen, warum seine Jünger nicht fasteten. Er spricht: wie können die Hochzeitsleute Leid tragen, so lange der Bräutigam bei ihnen ist! (Mtth. 9,15). Damit erhebt er sich über das Fastengebot des Alten Bundes, und stellt sich dar als einer, der ein Neues bringt, einen neuen Begriff von Religion und Gottseligkeit aufstellt, nach welchem dieselbe etwas Innerliches ist, die Hingabe des Herzens an Gott. — Betrachtet endlich, tote er sich zum Herrn über das Sabbath­ gebot auftoirft, denn als die Pharisäer seine Jünger der Sabbathentheiligung beschuldigten, weil sie Aehren ausgerauft hatten, entgegnete er ihnen: der Sabbath ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbath willen; so ist des Menschen Sohn ein Herr auch über den Sabbath (Mk. 2, 27—28). Wollt ihr des Heilands Stellung zur Weissagung des Alten Bundes kennen lernen, so weise ich euch nur auf das eine hm, was er als der Auferstandene den Emmausjüngern gegen­ über that. Er fing an von Moses und allen Propheten und legte ihnen alle Schriften aus, die von ihm gesagt waren. Und wie deutete er die prophetischen Aussprüche, die messianischen Weissagungen? Das ersehet ihr aus seinen Worten: mußte nicht Christus solches leiden und zu seiner Herrlichkeit eingehen? (Luk. 24, 26—27). Er fand beides von den Propheten geweissagt: sein Leiden und seine Verherrlichung, seine Erniedrigung und seine Erhöhung, sein Kreuz und seine Krone. Wir haben in den Evangelien zwei längere Reden unseres Heilands, in deren erster er das Gesetz und in deren zweiter er die Weissagung des Neuen Bundes darlegt. Die erste Rede, die wir hier ins Auge zu fassen haben, ist die berühmte Berg­ predigt. Darin stellt der Heiland die rechte Auffassung vom Wesen des Reiches Gottes der falschen Vorstellung gegenüber, welche zu seiner Zeit im Judenvolk verbreitet. war. Seine Volksgenossen dachten sich das Reich Gottes als ein irdisch-welt-

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liches Königreich, das der Messias aufrichten und über die ganze Menschheit ausbreiten werde, und in dem die Weis­ sagungen der Propheten von einem zukünftigen glückseligen Zu­ stand auf Erden sich erfüllen würden. Sie ließen dabei die re­ ligiöse und sittliche Seite des Gottesreiches ganz außer Acht. Gerade diese stellte aber der Heiland in den Vordergrund seiner Lehre vom Reiche Gottes, und in der Bergpredigt schilderte er den religiösen und sittlichen Charakter der Bürger desselben^ Und worin besteht dieser? In der Buße und Bekehrung einer­ seits, und in der geistlichen Auffassung und Erfüllung des gött­ lichen Sittengesetzes anderseits. Die Bergpredigt ist das Grund­ gesetz für das Reich Gottes, und dieses gipfelt in der Forderung: darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist! (Mtth. 5, 48). Was der Heiland in seiner Bergpredigt in kurzen, bündigen Aussprüchen über das Reich Gottes gesagt hatte, das führte er in seinen übrigen Belehrungen und insbesondere in seinen meisterhaften Gleichnissen genauer aus. Er gab Auskunft über seine Stellung zum Reiche Gottes, über seine Person und über sein Werk. Zwar eingehend konnte er über das Geheimnis seiner Person und seines Werks noch nicht lehren, denn seine Jünger konnten es erst fassen, nachdem er ihnen den Heil. Geist erworben und gespendet hatte. In welcher Weise er seine einzig­ artige gottmenschliche Persönlichkeit bezeugte, das haben wir bereits gesehen. Von seinem Werke aber erklärt er, daß er, der Menschensohn, gekommen sei, daß er sein Leben gebe zu einer Erlösung für viele (Mtth. 20, 28). Damit erklärte er seinen Tod für einen stellvertretenden Opfertod, durch welchen er den sündigen Menschen die Möglich­ keit der Sündenvergebung und Sündenreinigung erwirkt hat. Diesen inhaltreichen Ausspruch bestätigte er bei anderer Gelegen­ heit mit den Worten, daß er sein Fleisch geben werde für das Leben der Welt, um den Menschen dadurch das ewige Leben oder die Seligkeit zu erwerben (Joh. 6, 51), und bei der Einsetzüng des heiligen Abendmahls damit, daß er versicherte, sein Blut werde vergaffen zur Vergebung der Sünden (Mtth. 26, 28). In den Gleichnissen vom guten Hirten und vom treuen

300 Freunde legte er besonderen Nachdruck darauf, daß derselbe sein Leben lässet für seine Schafe, für seine Freunde (Joh. 10, 12; 15, 13). II. Neben den Eröffnungen über sein Werk vernehmen wir auch aus dem Munde unseres Heilands deutliche Erklärungen über die Bedingungen, welche er für die Er­ langung der von ihm vollbrachten Versöhnung und des von ihm erworbenen Heils stellte. Waren wir auf jene gespannt, so sind wir es nicht minder auf diese. Nicht wahr, liebe Christen, nachdem ihr vernommen, was der Heiland nach seiner eigenen Erklärung für euch geleistet hat, wollt ihr wissen, was er nun von euch fordert, damit ihr seiner Erlösung teilhaftig werdet. Nun, so höret! Als Bedingungen zur Erlangung seines Heils stellt der Heiland in erster Linie die Buße auf, die Reue über die Sünde und den Glauben an ihn, den Mittler. Sind die Sünder durch die Buße Bürger des Gottesreiches geworden, dann gelten ihnen die weiteren Anforderungen des Heilands an seine Jünger. Sie müssen sich, ihre Selbstsucht und Sündenlust verleugnen, sich rückhaltlos an ihn und seinen Dienst und Gehorsam hingeben. Das sagt er ihnen in den Worten: will mir jemand nachfolgen, der ver­ leugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir! (Mtth. 16, 24). Nachfolge begehrt der Heiland von den ©einigen, denn — so sagt sein Apostel — er hat uns ein Vorbild gelassen, daß wir sollen nachfolgen seinen Fußtapfen (1. Petr. 2, 21). Buße und Bekehrung einerseits, und anderseits Besserung und Heiligung: das sind die Bedingungen zur Teilhaberschaft an der Erlösung, zur Bürgerschaft in, Reiche Gottes. Durch die Buße und Bekehrung ergreifst du das Heil, lieber Christ; in der Besserung und Heiligung hältst du es fest. Durch Buße und Bekehrung trittst du ein in das Reich Gottes. Das ist die Wiedergeburt oder innere Erneuerung, welche der Heiland zur Bedingung des Eingangs in das Reich Gottes stellt in den Worten: es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen (Joh. 3, 3). Das ist die Rückkehr des verirrten Sohnes ins Vaterhaus, die er im Gleichnis beschreibt (Luk. 15). Das ist die Selbstdemütigung

301 und göttliche Traurigkeit, die er uns vor Augen führt im Gleich­ nis vom Pharisäer und Zöllner im Tempel (Luk. 18). Das ist die Entlastung von der Sündenschuld, die er abbildet im Gleichnis vom Schalksknecht (Mtth. 18). — Durch fortgesetzte Besserung und Heiligung sicherst du dir deine Mitgliedschaft im Himmelreich, machst, wie Gottes Wort sagt, deinen Beruf und Erwählung fest (2. Petr. 1,10). Der Heiland preist diejenigen selig, welche nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten (Mtth. 5, 6). Die Heiligung ist das hochzeitliche Kleid, das der König im Gleichnis an den Gästen der Hochzeitsfeier seines Sohnes sucht (Mtth. 22). Er nennt die Heiligung, der sich seine Jünger befleißigen sollen, seine Nachfolge. Er sagt: wer mir dienen will, der folge mir nach! (Joh. 12, 26). Und diese Nach­ folge des Heilands muß geschehen in Bezug auf seinen thätigen und leidenden Gehorsam. Du mußt ihm nachfolgen, lieber Christ, im thätigen Gehorsam gegen Gott und seine heiligen Gebote. Wie er die Gebote seines himmlischen Vaters voll­ kommen gehalten hat, so mußt auch du sie zu erfüllen streben. Er ist das vollkommene Ebenbild seines Vaters im Himmel, und du sollst sein Ebenbild, aus einem Sünder ein Heiliger werden. Uns Christen gilt die Mahnung des Heilands: ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater vollkommen ist! (Mtth. 5, 48). Darum mußt du dich reinigen von deinen Sünden und Untugenden und deinem Heiland ähnlich und gleich zu werden trachten in seiner sittlichen Vollkommenheit. — Aber auch in seinem leidenden Gehorsam will er dir Vorbild sein. Wie er seine Erdenleiden in Ergebenheit unter den Willen seines Vaters erduldet hat, so mußt auch du deine zeitlichen Nöten und Trüb­ sale in gottgelassenem Sinn auf dich nehmen. Wie er sein Kreuz als das geduldige Gotteslamm getragen hat, so mußt auch du das dir von Gott beschiedene Kreuz in sanftmütiger Geduld leiden. So fordert es der Heiland von seinen Jüngern, wenn er spricht: wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt . ., kann nicht mein Jünger sein! (Luk. 14, 27). Wie bei ihm, so geht es auch bei uns: durchs Kreuz zur Krone. Freilich, sein Leiden ist anderer Art, als das unserige, denn er litt als der Unschuldige an unserer Statt, und wir leiden als Sünder. Als solche können wir nur

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durch Trübsale für das Reich Gottes geschickt gemacht werden, und erst wenn wir am Fleische leiden, hören wir auf von Sünden (Apg. 14, 22; 1. Petr. 4,1). Das ist die innere Heiligung, die bei den Jüngern des Heilands nur durch ernsten Kampf errungen werden kann, durch Kampf gegen die Versuchungen zur Sünde, mögen sie nun aus unserer eigenen Natur oder von außen durch Verführung an uns kommen. Deshalb ermahnt er sie so ein­ dringlich zum Heiligungskampf, wenn er spricht: wachet und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet, denn der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach (Mtth. 26,41). Die innere Heiligung muß sich jedoch kund geben in der Liebe zum Nächsten, denn — so sagt der Heiland — ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch unter einander liebet, wie ich euch geliebet habe, auf daß auch ihr euch unter einander liebet; daran wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe unter einander habet (Joh. 13,34—35). Das ist die Mahnung, welche das Gleichnis vom barmherzigen Sa­ mariter erteilt (Luk. 10). Und dies Gleichnis sagt uns zugleich, wer unser Nächster ist; das sind nicht nur unsere Glaubens­ genossen, sondern das ist jeder Mensch, der unserer Liebes­ erweisung bedarf. Ja, die Liebe muß sogar auf die Feinde aus­ gedehnt werden, denn der Heiland mahnt: liebet euere Feinde; segnet die euch fluchen; thut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen! (Mtth. 5, 44). — Die Heiligung muß sich ferner Gott gegenüber erweisen in dem Ge­ betsumgang, den die Jünger des Heilands als Kinder des versöhnten himmlischen Vaters mit Gott pflegen, und in welchem er selbst ihnen ein leuchtendes Vorbild gegeben hat. Wie dringend rufen uns dazu die Gleichnisse auf vom ungestümen Freunde und von der bedrängten Wittwe! (Luk. 11; 18). Wie lockend klingen die mit den köstlichsten Verheißungen der Erhörung verstärkten Aufforderungen des Heilands zum Beten: bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgethan! (Mtth. 7, 7). Wie angemessen lauten die Anweisungen, welche der Heiland seinen Jüngern zum rechten Beten giebt, wenn er spricht: wenn du betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließ die Thüre zu und bete zu

303 deinem Vater im Verborgenen! (Mtth- 6, 6). Und welch unver­ gleichliches Mustergebet hat er sie gelehrt, als er ihnen das Vaterunsergebet vorsprach! (Mtth. 6, 9—13). — Wie im Beten, so muß sich die Heiligung auch offenbaren in der Arbeit für das Reich Gottes, in der Wirksamkeit für das Heil der Menschen. Achtet doch darauf, wie ernstlich der Heiland seinen Jüngern diese Arbeit einschärft in den Gleichnissen von den Ar­ beitern im Weinberg (Mtth. 20) und von den anvertrauten Pfunden (Mtth. 25). Vor allem aber gedenket des Befehls, den er seinen Jüngern vor seiner Himmelfahrt erteilte in dem denkwürdigen Auftrage, daß sie sollen hingehen in alle Welt und alle Völker zu seinen Jüngern machen! (Mtth. 28, 19). Wohl könntest du, lieber Christ, bei den hohen Anforde­ rungen, welche der Heiland an seine Jünger stellt, im Hinblick auf deine eigene sittliche Kraft erschrecken und mutlos werden. Aber du bist ja nicht auf deine Kraft angewiesen. Unser Heiland stellt nicht nur Heiligungsforderung, sondern er giebt auch Heiligungskraft. Mit Recht sagt er: ohne mich könnet ihr nichts thun! Er fügt aber auch alsbald hinzu: wer in mir bleibet und ich in ihm, der bringet viele Frucht! -Durch die Be­ kehrung trittst du in seine Gemeinschaft ein, und damit ist dein Verhältnis zu ihm und sein Verhältnis zu dir ähnlich geworden dem des Weinstocks zu seinen Reben. Darum spricht der Heiland: gleichwie der Rebe kann keine Frucht bringen, er bleibe denn am Weinstock, also auch ihr, ihr bleibet denn in mir! (Joh. 15). Aus dieser Gemeinschaft mit dem Heiland erwächst uns die sitt­ liche Kraft zu seiner Nachfolge, zu unserer Heiligung. Wahrlich, liebe Christen, wenn wir diesen Ueberblick über die Lehre unseres Heilands uns vergegenwärtigen, dann finden wir seine Erklärung in unserem Texte bestätigt:„meineLehre ist nicht mein, sondern des, der mich gesandt hat; so jemand will des Willen thun, der wird inne werden, ob diese Lehre von Gott sei oder ob ich von mir selbst rede". Er giebt es uns hiermit anheim, die Probe auf seine Behauptung zu machen. Und welche Probe? Die sicherste, die Probe der Erfahrung. Wohl mutet uns seine Behauptung fürs erste seltsam an. Aber versuchen wir es doch:

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nehmen wir seine Lehre an und befolgen wir sie! Dann wird sich uns seine Behauptung bewahrheiten. Die es gethan haben, sie alle bezeugen, daß sie dadurch glücklich und selig geworden sind. Auch wir werden diese Erfahrung machen, wenn wir den Rat unseres Heilands befolgen. Amen.

25. Tert: Äpg. 2, 22—24.

„Ihr Männer von Israel, höret diese Worte: Jesum von Nazareth, den Mann, von Gott unter euch mit Thaten und Wundern und Zeichen erwiesen, welche Gott durch ihn that unter euch, wie denn auch ihr selbst wisset, denselbigen, nachdem er aus bedachtem Rat und Vorsehung Gottes übergeben war, habt ihr genommen durch die Hände der Ungerechten und ihn angeheftet und erwürget; den hat Gott auferwccket und aufgelöst die Schmerzen des Todes, wie es denn unmöglich war, daß er sollte von ihm gehalten werden." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Wenn unser Heiland nichts weiter gewesen wäre, als ein weiser Lehrer, ein Sittenprediger oder ein Religionsstifter, wie es deren im Alter­ tum manche gegeben hat, dann könnte von dem, was die heutige Predigt besprechen soll, keine Rede sein. Denn wenn auch von einzelnen dieser Sittenlehrer und Religionsstifter berichtet wird, daß sie Wunder verrichtet hätten, so haben wir doch alle Ursache, an der Wahrheit dieser Erzählungen zu zweifeln. Da aber der Herr Jesus ein gottgesandter und mit dem Heiligen Geiste aus­ gerüsteter Prophet gewesen ist, der nicht eine von ihm erdachte Religions- und Sittenlehre, sondern die abschließende, voll­ ständige Offenbarung über den Heils- und Erlösungsratschluß Gottes gebracht hat, so müssen wir noch eine andere Seite seiner prophetischen Thätigkeit zur Sprache bringen, seine Wunder­ wirksamkeit. Von dieser redet unser Text. In diesem stellt der Apostel Petrus in seiner ersten Predigt, die er nach dem Em-

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nehmen wir seine Lehre an und befolgen wir sie! Dann wird sich uns seine Behauptung bewahrheiten. Die es gethan haben, sie alle bezeugen, daß sie dadurch glücklich und selig geworden sind. Auch wir werden diese Erfahrung machen, wenn wir den Rat unseres Heilands befolgen. Amen.

25. Tert: Äpg. 2, 22—24.

„Ihr Männer von Israel, höret diese Worte: Jesum von Nazareth, den Mann, von Gott unter euch mit Thaten und Wundern und Zeichen erwiesen, welche Gott durch ihn that unter euch, wie denn auch ihr selbst wisset, denselbigen, nachdem er aus bedachtem Rat und Vorsehung Gottes übergeben war, habt ihr genommen durch die Hände der Ungerechten und ihn angeheftet und erwürget; den hat Gott auferwccket und aufgelöst die Schmerzen des Todes, wie es denn unmöglich war, daß er sollte von ihm gehalten werden." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Wenn unser Heiland nichts weiter gewesen wäre, als ein weiser Lehrer, ein Sittenprediger oder ein Religionsstifter, wie es deren im Alter­ tum manche gegeben hat, dann könnte von dem, was die heutige Predigt besprechen soll, keine Rede sein. Denn wenn auch von einzelnen dieser Sittenlehrer und Religionsstifter berichtet wird, daß sie Wunder verrichtet hätten, so haben wir doch alle Ursache, an der Wahrheit dieser Erzählungen zu zweifeln. Da aber der Herr Jesus ein gottgesandter und mit dem Heiligen Geiste aus­ gerüsteter Prophet gewesen ist, der nicht eine von ihm erdachte Religions- und Sittenlehre, sondern die abschließende, voll­ ständige Offenbarung über den Heils- und Erlösungsratschluß Gottes gebracht hat, so müssen wir noch eine andere Seite seiner prophetischen Thätigkeit zur Sprache bringen, seine Wunder­ wirksamkeit. Von dieser redet unser Text. In diesem stellt der Apostel Petrus in seiner ersten Predigt, die er nach dem Em-

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pfang des Heiligen Geistes an seine Volksgenossen hielt, diesen den Heiland als einen Wunderthäter vor Augen, indem er ihn bezeichnet als „den Mann, von Gott unter euch mit Thaten und Wundern und Zeichen erwiesen, welche Gott durch ihn that unter euch, wie denn auch ihr selbst wisset". Aber das nicht allein, sondern er beschreibt ihn auch als eine höchst wunderbare Persönlichkeit, wenn er von ihm erwähnt: „denselbigen (nachdem er aus bedachtem Rat und Vorsehung Gottes über­ geben war) habt ihr genommen durch die Hände der Ungerechten und ihn angeheftet und er­ würget, den hat Gott auferweckt und aufgelöst die Schmerzen des Todes, wie es denn unmög­ lich war, daß er sollte von ihm gehalten wer­ den ". Eine wunderbare Persönlichkeit ist der Heiland, weil er nicht im Tode verblieben, sondern am dritten Tage nach seinem Sterben mit verklärter Leiblichkeit auferstanden ist. Wahrlich, an ihm hat sich erfüllt die Weissagung des Alten Bundes, die ihm den Namen „Wunderbar" beilegt (Jes. 9, 5). Einer, der den Namen „Wunderbar" trägt und verdient, der muß auch Wunder verrichten. Auch bei den Propheten im Alten Bunde war es gewöhn­ lich, daß sie ihre göttliche Sendung und die Wahrheit ihrer Verkündiguilgön durch Wunder bekräftigten, welche sie bewirkten. Wunderbar waren ja auch die Weissagungen, welche einen hauptsächlichen Bestandteil ihrer Predigt bildeten, beim ihre Predigt war zum wichtigsten Teil auf die Zukunft gerichtet. Ich weise euch besonders hin auf ihre messianischen Weissagungen von der Person, dem Werke und dem Reiche des Messias. Wunderbar waren die Weissagungen, wie denn Gottes Wort im Neuen Testament von ihnen bezeugt: es ist noch nie eine Weis­ sagung aus menschlichem Willen hervorgebracht, sondern die heiligen Menschen Gottes haben geredet, getrieben von dem Heil. Geist (2. Petr. 1, 21). Wie nun Wunder und Weissagungen mit wenigen Ausnahmen bei allen Propheten sich finden, so begleiten sie auch die Wirksamkeit des größten Propheten. Von seinen Wundern erzählen uns die Evangelistm viele, versichern aber, Schnabel, Predigten.

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daß ihrer in Wirklichkeit viel mehr gewesen seien. Heißt es doch am Schlüsse des vierten Evangeliums: auch viel andere Zeichen that Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buche (Joh. 20, 30). Fassen wir also diesmal dieses Thun und Wirken unseres Heilands näher ins Auge, und reden wir jetzt über Die prophetische Wunderthätigkeit des Erlösers,

wobei wir die Fragen erwägen 1. was sind Wunder? und 2. welche Bedeutung haben sie in dem Werk der Erlösung oder in der Geschichte des Reiches Gottes? I. Wir fragen zuerst: was sind Wunder? Manche sagen: Wunder sind Ereignisse oder Vorkommnisse, welche man nicht auf natürliche Weise erklären kann, obwohl sie auf natür­ lichem Wege, aber durch uns noch unbekannte Naturkräfte ent­ stehen. Aber dann wären cs keine wirklichen, sondern nur scheinbare Wunder. Andere meinen gar, das, was uns in der Heil. Schrift von Wundern erzählt werde, das sei nur den da­ maligen Zeitgenossen als wunderbar erschienen, in Wirklichkeit jedoch seien es ganz natürliche Geschehnisse, die wir aufgeklärten Menschen der Jetztzeit natürlich auslegen müßten und könnten. Aber wir, liebe Christen, was haben wir von den Wundern zu halten, die uns die Heil. Schrift berichtet? Wir halten sie für richtige, wirkliche Wunder. Unter Wunder versteht der allge­ meine Sprachgebrauch solche Vorkommnisse,welchenicht durch die Kräfte der Erden- und Menschennatur zustande kommen, sondern die durch das Her einwirken übernatürlicher Kräfte hervorgebracht werden. Da fragt es sich denn: was sind das für übernatür­ liche Kräfte? Es können göttliche und ungöttliche Kräfte sein. Es ist entweder die göttliche Allmacht, der Finger Gottes, wie es unser Heiland nennt (Luk. 11, 20), oder es ist die Macht der Finsternis. Es giebt auch satanische Wunder, Wunder, die Satan bewirkt, freilich mit der Kraft, die ihm ursprünglich

807 — von Gott, dem Schöpfer, verliehen war und die ihm auch nach seinem Abfall von Gott noch verblieben ist, bis sie ihm im End­ gericht gänzlich genommen wird. Mit dieser ihm noch ver­ bliebenen Macht vermag er wunderbare Dinge zu bewirken, allerdings nur soweit es ihm Gott zulaßt, denn über ihm waltet der alles regierende Wille Gottes. Solche satanische Wunder geschahen zu Mosis Zeit in Aegypten durch die Zauberer des Pharao (2. Mos. 7, 11—12), und für die letzte Periode des Kampfes, den das Reich Gottes in dieser gegenwärtigen Welt­ zeit mit dem Reiche der Finsternis zu bestehen hat, werden sie durch die Weissagung in Aussicht gestellt (Mtth. 24, 24). Doch, laßt uns von diesen Satanswundern jetzt absehen, und nach der Beantwortung der Frage forschen: Wie geschieht das Hereinwirken des allmächtigen Gottes bei der Verursachung der Wunder? Es geschieht auf zwiefache Weise. Es erfolgt entweder so, daß der allmächtige Gott die Kräfte, die er selbst in die Natur gelegt hat, in außerordentlicher Weise steigert, oder daß er neuschöpferisch auftritt. Für uns Menschen ist es nicht möglich, mit voller Sicherheit zu entscheiden, ob ein Wunder auf die eine oder andere Weise zu stände kommt. Wenn Gott die Naturkraft steigert, dann entstehen ungewöhnliche Wirkungen, welche sie ohne diese Kräftigung nicht hervorbringen könnte. Auf diesem Wege mögen wohl die Strafwunder entstanden sein, lvelchc euch unter dem Namen der zehn ägyptischen Plagen be­ kannt sind. Doch reicht die Ableitung vieler anderer wunder­ baren Begebenheiten aus der Steigerung oder Erhöhung der Naturkräfte nicht aus. Dann müssen.diese auf das unmittelbare, neuschöpferische Wirken Gottes zurückgeführt werden. Gewiß muß das geschehen bei den meisten Krankenheilungen, bei der Befreiung der Besessenen, bei den Totenerweckungen, welche der Heiland vollbracht hat. Ich habe bereits darauf hingewiesen, liebe Christen, daß die Wirklichkeit und Geschichtlichkeit der Wunder, welche die Heil. Schrift erzählt, von Vielen bestritten, wie daß überhaupt die Möglichkeit der Wunder heutzutage fast allgemein bezweifelt oder geradezu geleugnet wird. Die Kinder unserer Zeit, vom Zeitgeist gelehrt, behaupten: es geschehen in der Gegenwart 20*

308 keine Wunder, also ist mit Sicherheit anzunehmen, daß auch in der Vergangenheit keine vorgekommen sind; darum sind die Wunder­ berichte für Erdichtungen und Zabeln anzusehen. Ja, die gegen­ wärtige Menschheit wird geradezu von einem Widerwillen vor allem Wunderbaren beherrscht. Wenigstens ist das bei dem einen Teil des heutigen Geschlechts der Fall, während allerdings der andere Teil einem Wunderglauben huldigt, der in Wirklichkeit nichts anderes ist, als blinder Aberglaube, wie dies namentlich in dem Wundertreiben der päpstlichen Kirche zu Tage tritt. Wie wir als biblisch gläubige Christen den Aberglauben verabscheuen, so können wir auch jenen Widerwillen unserer Zeitgenossen gegen das Wunder nur als eine geistige Verirrung ansehen. Wir sind durch unseren Christenglauben auf das wahre, göttliche Wunder hingewiesen. Bedenket doch, liebe Christen: verdmrken wir nicht das, was wir als Christen im Glauben festhalten, einem Wunder Gottes, der wunderbaren Offenbarung Gottes. Die ganze Offenbarung Gottes im Alten Bunde durch die Propheten und im Neuen Bunde durch unseren Heiland ist ein fortlaufendes Wunder. Ferner: wissen wir denn nicht, daß unser Glaube mit seinem religiösen Erkennen und Vertrauen, mit der ihn be­ gleitenden sittlichen Erneuerung und Heiligung, mit einem Worte: unsere Bekehrung eine Wirkung des Heil. Geistes ist, dessen Heilswirksamkeit wir dem Erlösungs- und Versöhnungs­ werk unseres Heilands verdanken. Und sehet, das ist ein Wunder, ein Wunder auf dem geistigen Gebiete. Diese geistlichen Wunder, die Wunder der Bekehrung und Heiligung, geschehen fort und fort ohne Unterbrechung. Auf dem Gebiete des Natur­ lebens sind allerdings die Wunder seit der Zeit des Erden­ wandels unseres Heilands und seiner ersten Jünger seltener geworden. Der Heiland hatte seinen Jüngern das Versprechen gegeben, daß sie eben solche Werke, ja noch größere verrichten sollten, wie er (Joh. 14, 12). Er hatte ihnen verheißen: die Zeichen, die da folgen werden denen, die da glauben, sind die: in meinem Namen werden sie Teufel austreiben; mit neuen Zungen reden; Schlangen vertreiben; und so sie etwas Töd­ liches trinken, wird es ihnen nicht schaden; auf die Kranken werden sie die Hände legen, so wird es besser mit ihnen werden

S0S (Mark. 16, 17—18). Trotzdem ist die anfängliche Fülle der Wunder bald zurückgetreten. Das ist jedoch das Einzige, was wir Christen zugeben können, denn ganz verschwunden sind die göttlichen Wunder nicht. Und die Verheißung des göttlichen Wortes versichert uns, daß eine Zeit kommen werde, wo sie wieder häufig werden (Offenb. 11), bis sie schließlich auslaufen in das große Endwunder, die Wiedeickunft des Heilands in großer Kraft und Herrlichkeit, mit welcher andere große Wunder: die Auferstehung der Toten, das Weltgericht, die Welt­ umwandlung und die Herstellung des vollendeten Gottesreiches verknüpft sind (Offenb. 19—21). II. Was haben nun die Wunder für eine Be­ deutung ? Das ist die andere Frage, mit der wir uns zu beschäftigen haben. Den ersten Zweck derselben giebt das Wort Gottes an in dem Ausspruch, mit welchem der heilige Johannes sein Evangelium schließt: diese aber sind geschrieben, daß ihr glaubet, Jesus sei der Christus, der Sohn Gottes, und daß ihr durch den Glauben das Leben habet in seinem Namen (Joh. 20, 31). Sie dienen, wie den Propheten über­ haupt, so auch dem größten derselben zur Be­ glaubigung ihrer göttlichen Sendung und ihrer Verkündigungen. Dadurch erfüllen sie aber zugleich den weiteren Zweck, daß sie diejenigen, welche die Wunderthaten sehen und die Erfüllung der Weissagungen erfahren, zum Glauben anregen und erwecken, zum Glauben an den Gott, in dessen Namen die Propheten reden, zum Glauben an den Heiland, der sich durch sie als solcher erwies. Daß unser Heiland wirklich seinen Wundern diesen Zweck unterlegte, ersehet ihr deut­ lich daraus, daß er seinen ungläubigen Volksgenossen gegenüber sich auf sie berief, indem er sprach: die Werke, die ich thue in meines Vaters Namen, die zeugen von mir; . . thue ich nicht die Werke meines Vaters, so glaubt mir nicht; thue ich sie aber, glaubet doch den Werken, wollt ihr mir nicht glauben, auf daß ihr erkennet und glaubet, daß der Vater in mir ist und ich in ihm (Joh. 10, 25. 37—38). Und daß überhaupt die Wunder diesem Zwecke dienen sollen, das möget ihr daraus ersehen, daß das Wort Gottes von den Wundern, welche die Jünger des

310 Heilands nach ihm verrichteten, erklärt: der Herr wirkte mit ihnen und bekräftigte das Wort (ihrer Predigt) durch mit­ folgende Zeichen (Mark. 16, 20). So sind also die Wunder des Heilands fortwährende Bestätigungen seines Ausspruchs: meine Lehre ist nicht mein, sondern des, der mich gesandt hat. Sie sind Bestätigungen auch des apostolischen Ausspruchs in unserem Texte: „Jesus von Nazareth, den Mann, von Gott unter euch mit Thaten und Wundern und Zeichen erwiesen, welche Gott durch ihn that unter euch, wie denn auch ihr selbst wisset". Meinet aber nicht, liebe Christen, daß das der einzige, oder auch nur der hauptsächlichste Zweck der Wunder sei, welche die Propheten und welche namentlich der Heiland gethan hat. Auf eine noch wichtigere Bedeutung derselben weist uns schon die Ant­ wort hin, welche der Heiland den von dem gefangenen Täufer Johannes entsandten Jüngern auf ihre Frage, ob er der rechte Messias sei, gab in den Worten: gehet hin und verkündiget dem Johannes, was ihr gesehen und gehöret habt: die Blinden sehen, die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein, die Tauben hören, die Toten stehen auf und den Armen wird das Evan­ gelium gepredigt (Luk. 7,22)! Ist es nicht so: wenn der Heiland hier sich auf seine Wunder beruft, um damit seine messianische Würde zu erweisen, so stellt er diese Wunder damit als ein Stück, einen Teil seines eigentlichen Hauptwerks hin? Und das ist das Erlösungswerk. Seht doch einmal hin auf die Wunder, welche unser Heiland verrichtete! Worin bestehen sie denn? Sie sind sämtlich mit der einzigen Ausnahme der Verfluchung des Feigen­ baumes, welche eine sinnbildliche Bedeutung hatte und die Ver­ werfung des Bundesvolks abbildete (Mtth. 21, 19) — Er­ weisungen seiner Liebe und Güte. Sie sind Errettungen und Befreiungen aus dem mannigfachsten irdischen Uebel, namentlich aus Krankheiten und einigemal sogar aus dem zeitlichen Tode. Was ist aber das Uebel in der Welt? Wie sehr hat doch diese Frage von jeher die Menschen beschäftigt! Die Weisesten unter ihnen haben die Lösung derselben gesucht, aber sie haben sie nicht gefunden. Wenn sie sagen: das Uebel gehört notwendig zum Bestand der von Gott erschaffenen Welt! so beschuldigen sie da-

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mit Gott, daß er eine höchst unvollkommene Welt geschaffen habe, und das wäre Gottes nicht würdig. Gottes würdig ist allein der Ausspruch, den die Heil. Schrift thut, nachdem sie die Zube­ reitung der Erde zum Wohnplatz für das Menschengeschlecht und die Erschaffung des ersten Menschenpaares berichtet hat: Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut (1. Mos. 1, 31). Gott sei Dank, daß er uns selbst in seiner Offenbarung die rechte Erklärung von dem Ursprung und der Entstehung des Uebels gegeben hat! Aus dem Worte Gottes erfahren wir, daß alles Uebel in der Welt eine Folge der Sünde ist, der sich die ursprünglich von Gott sündlos erschaffenen Menschen ergeben haben, daß cs Sündenstrafe ist, welche die Gerechtigkeit Gottes verhängt. Auf dem Grund dieser Erkenntnis kommen wir zu einem richtigen Verständnis der Wunder. Wohl ist unser Heiland in erster Linie der Erretter aus der Sünde. Aber damit ist er zu­ gleich der Erretter aus den Sündenfolgen. Als solcher wird er sich in vollem Sinne erst in der Zukunft erweisen, wann er die Vollendung des Reiches Gottes herbciführt, zu dem er während seines Erdenwandels den Grund legte, die Zeit, von der das Wort Gottes sagt: Gott wird abtrocknen alle Thränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen (Offenb. 21, 4). Und sehet, liebe Christen, von dieser endlichen Beseitigung und Aufhebung alles Uebels sind die Wunder unseres Heilands, wie überhaupt alle Wunder, welche den Menschen Wöhlthaten bringen, Vorboten, in welchen sich in einzelnen Fällen und Beispielen darstellt, was die Er­ lösung schließlich allgemein herbeiführen wird. Es sind Vor­ ausnahmen der zukünftigen allgemeinen Glück­ seligkeit im vollendeten Himmelreiche. Wir müssen sie demnach als Bestandteile des Erlösungswerks ansehen, das der Heiland auszuführen auf der Erde erschienen war. Damit haben wir ihren letzten, tiefsten Zweck erfaßt und begriffen. Liebe Christens ich habe die Wunder unseres Heilands auf eine Linie gestellt mit den Wundern, welche die vor ihm er-

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schienen Propheten des Alten Bundes gethan haben, und habe behauptet, sie seien Wirkungen des ihnen verliehenen Heiligen Geistes. Das sind auch die Wunder unseres Heilands. Es könnte zwar scheinen, als ob sie bei ihm anders zu erklären, nämlich auf seine Gottheit zuriickzuführen seien. Allein wir wissen, daß er sich für sein Erdenleben seiner göttlichen Eigen­ schaften, also auch seiner Allmacht und Allwissenheit in einer uns verborgenen, geheimnisvollen Weise entäußert hat. Er war demzufolge für sein irdisches Wirken auf die Ausrüstung mit dem Heiligen Geiste angewiesen, die ihm bei seiner Taufe im vollständigsten Maße zu teil geworden war. Daß er durch den Heiligen Geist seine Wunder bewirkte, gleich allen anderen Propheten, das sagt er selbst, wenn er erklärt: so ich die Teufel durch den Geist Gottes austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen (Mtth. 12, 28; Luk. 10, 20). Kenn­ zeichnet er doch auch in diesem Ausspruch zugleich seine Wunder als Anzeichen des gekommenen und immer mehr kommenden Gottesreiches. Achtet ferner darauf, wie der Heiland bei anderer Gelegenheit seine Wunder in eine Gleiche stellt mit den Wundern, welche seine Jünger nach ihm verrichten sollten! Er spricht: wer an mich glaubt, der wird die Werke auch thun, die ich thue, und wird größere, denn diese thun (Joh. 14, 12). Daß die Jünger aber ihre Wunder durch den Heiligen Geist verrichteten, das bezeugen sie selbst unzweideutig, denn sie führen dieselben auf eine Gnadengabe des Heiligen Geistes zurück, die ihnen neben noch manchen anderen zu teil geworden sei (1. Kor. 12,10—11). Aus diesen Gründen bleiben wir dabei: die Wunderwirk­ samkeit des Heilands ist ein Teil seines prophe­ tischen Amtes. Ebenso verhält es sich auch mit seiner Weissagung, sie entstammt derselben Quelle, auch sie ist eine Gabe des Heiligen Geistes. Zu dieser Weissagungsgabe, welche unserem Heiland in so hervorragender Weife eignete, rechne ich auch den überraschenden Blick in das Innere der Menschen, in ihre Gedanken und Sinnesweise, von dem Gottes Wort sagt: Jesus bedurfte nicht, daß jemand Zeugnis gebe von' einem Menschen, denn er wußte wohl, was im'Menschen wär (Joh.

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2, 25). Wahrlich, er hat von dieser seiner Menschenkenntnis bewundernswerte Proben abgelegt. So damals, als er den Nathanael bezeichnete als einen rechten Jsraeliter, in dem kein Falsch ist (Joh. 1, 47), als er bei der Annahme des Simon zu seinem Jünger zu diesem sprach: du bist Simon, Jonas Sohn, du sollst Kephas (Fels) heißen (Joh. 1, 42), und als er so manchmal seinen Feinden gegenüber als Gedankenleser sich offen­ barte (Mtth. 9, 4; Luk. 11,17). Von seiner Sehergabe gab er überraschende Beweise, als er den Verrat des Judas Jscharioth, die Verleugnung des Petrus vorhersagte (Joh. 13,21—30; Mark. 14, 30). Zum höchsten Staunen aber reißen uns seine eigent­ lichen prophetischen Weissagungen hin, die Enthüllungen über den Gang des Erlösungswerks und des Reiches Gottes, die er in den Tagen seines Fleisches gegeben hat. Er verkündigte seinen Jüngern sein bevorstehendes Leiden und Sterben, seine Auferstehung und Rückkehr in seine ewige himmlische Herrlich­ keit (Mtth. 12, 40; 16, 21; 17, 22—23; 20, 18—19). Mit thränenden Augen und in schmerzlicher Wehklage sagte er ihnen die Zerstörung der Stadt Jerusalem und ihres Tempels und ba­ nnt die vorläufige Verwerfung des Bundesvolks voraus, dieweil es nicht erkannt hatte die Zeit, darin es mit überschwänglicher Gnade von Gott heimgesucht war (Mtth. 23, 37—38). Und in einem großartigen prophetischen Gemälde entfaltet er die Ge­ schichte der Entwicklung des Reiches Gottes in der Zukunft bis zu dessen Vollendung bei seiner Wiederkunft in Herrlichkeit (Mtth. 24, 4—31; 25, 31—46). Das ist neben der Bergpredigt die zweite große Rede des Heilands, die uns seine Jünger über­ liefert haben. Mit ihr hat er sein prophetisches Amt erfüllt, seine prophetische Wirksamkeit geschlossen. Das aber, was von ihrem Inhalt bereits in Erfüllung gegangen ist, verbürgt uns die Gewißheit der Erfüllung ihrer übrigen Voraussagungen. Wahrlich, unser Heiland ist, wie unser Text sagt, „von Gott erwiesen mit Thaten und Wundern und Zeichen" als der höchste Prophet, als der Vollender des Prophetentums. Durch den Ueberblick, den diese Predigt gegeben hat, sind wir, liebe Christen, zu der Erkenntnis gekommen, daß auchdasprophetischeAmt.dieprophetischeWirk-

314 samkeit unseres Heilands zur Grundlegung des Reiches Gottes a uf Erden notwendig war. Bei der wunderbaren Verklärung, welche einmal der Heiland auf einem hohen Berge in stiller Einsamkeit in Gegenwart dreier seiner Jünger erfuhr, erscholl die himmlische Stimme: dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe, den sollt ihr hören (Mtth. 17, 5)! Das ist eine göttliche Bestätigung des prophetischen Amtes unseres Heilands. Die laßt uns beachten und ihre Mahnung befolgen! Amen.

26.

Tert: Loh. 18, 33—37.

„Da ging Pilatus wieder hinein in das Richthaus und rief Jesus und sprach zu ihm: bist du der Juden König? Jesus ant­ wortete: redest du das von dir selbst, oder haben es dir andere von mir gesagt? Pilatus antwortete: bin ich ein Jude? Dein Volk und die Hohepriester haben dich mir überantwortet; was hast du gethan? Jesus antwortete: mein Reich ist nicht von dieser Welt; wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darob kämpfen, daß ich den Juden nicht überantwortet würde; aber nun ist mein Reich nicht von dannen. Da sprach Pilatus zu ihm: so Bist du dennoch ein König? Jesus ant­ wortete: du sagest es, ich bin ein König; ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit zeugen soll; wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Wir haben ge­ sehen, daß der Erlöser durch sein hohepriesterliches wie durch sein prophetisches Amt Grund gelegt hat für die Herstellung des Reiches Gottes auf Erden. Wenn wir das Reich Gottes in seiner schließlichen Vollendung uns vorstellen, dann können wir auch sagen: er legt durch sein hohepriesterliches Thun in der jenseitigen Himmelswelt, und durch seine prophetische Wirksamkeit, die er

314 samkeit unseres Heilands zur Grundlegung des Reiches Gottes a uf Erden notwendig war. Bei der wunderbaren Verklärung, welche einmal der Heiland auf einem hohen Berge in stiller Einsamkeit in Gegenwart dreier seiner Jünger erfuhr, erscholl die himmlische Stimme: dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe, den sollt ihr hören (Mtth. 17, 5)! Das ist eine göttliche Bestätigung des prophetischen Amtes unseres Heilands. Die laßt uns beachten und ihre Mahnung befolgen! Amen.

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Tert: Loh. 18, 33—37.

„Da ging Pilatus wieder hinein in das Richthaus und rief Jesus und sprach zu ihm: bist du der Juden König? Jesus ant­ wortete: redest du das von dir selbst, oder haben es dir andere von mir gesagt? Pilatus antwortete: bin ich ein Jude? Dein Volk und die Hohepriester haben dich mir überantwortet; was hast du gethan? Jesus antwortete: mein Reich ist nicht von dieser Welt; wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darob kämpfen, daß ich den Juden nicht überantwortet würde; aber nun ist mein Reich nicht von dannen. Da sprach Pilatus zu ihm: so Bist du dennoch ein König? Jesus ant­ wortete: du sagest es, ich bin ein König; ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit zeugen soll; wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Wir haben ge­ sehen, daß der Erlöser durch sein hohepriesterliches wie durch sein prophetisches Amt Grund gelegt hat für die Herstellung des Reiches Gottes auf Erden. Wenn wir das Reich Gottes in seiner schließlichen Vollendung uns vorstellen, dann können wir auch sagen: er legt durch sein hohepriesterliches Thun in der jenseitigen Himmelswelt, und durch seine prophetische Wirksamkeit, die er

315 wie durch seine Jünger und Anhänger überhaupt, so namentlich durch das kirchliche Amt nach seiner Erhöhung fortsetzt, noch fortwährend Grund für die Herstellung des Himmelreichs. Und seht dieses vollendete Gottesreich der Zukunft müssen wir im Auge behalten, wenn wir behaupten rauchdurchseinkönigliches Amt legt der Heiland Grund für dasselbe. Es unterliegt keinem Zweifel, daß das Wort Gottes unserem Heiland das königliche Amt zuschreibt. Schon die Weis­ sagung des Alten Bundes stellt ihn als König vor unsere Augen. Ich habe meinen König eingesetzt auf meinem heiligen Berge Zion! so verkündigt Gott von dem Messias (Ps. 2, 6). Und da­ mit niemand einen Zweifel hege, wer dieser von Gott eingesetzte König sei, so läßt Gott durch den Propheten Ezechiel erklären: mein Knecht David soll ihr König und ihr alleiniger Hirte sein (Ez. 37, 24)! Damit man aber wisse, daß nicht der erste David dieser ewige König sei, so belehrt Gott durch den Propheten Jeremia: siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, daß ich dem David ein gerecht Gewächs erwecken will und soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit auf Erden anrichten wird (Jer. 23, 5; 33,15)! Ein Nachkomme des ersten David soll es sein, aber doch ganz anderer Art als sein Ahne, denn von ihm weissagt der Prophet Sacharja: du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze; siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, (nämlich) auf einem jungen Füllen der Eselin; . . er wird Frieden lehren unter den Heiden und seine Herrschaft wird sein von einem Meere bis an das andere und vom Strome bis an der Welt Ende (Sach. 9, 9—10). Das war die Weissagung, an deren ersten Teil sich die Jünger des Heilands erinnerten bei dem letzten Einzug ihres Meisters in die Stadt Jerusalem (Matth. 21, 4—5). Zunächst wird dieser König in Niedrigkeit erscheinen, aber selbst in dieser Erscheinung sich als der Gerechte und der Helfer kund geben, bis er schließlich seine königliche Würde zeigt, die sich jedoch hauptsächlich darin zu er­ kennen giebt, daß er Frieden stiftet und sich als Friedensfürst erweist. Als solchen Friedenskönig in seiner Herrlichkeit schildert ihn der Prophet Jesaia mit den Worten: uns ist em

316 Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter, und er heißt: . . Friedefürst, auf daß seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Stuhle Davids und in seinem Königreich, daß er es zurichte mit Gericht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit (Jes. 9, 5—6). Alle diese Weissagungen aus den Zeiten des Alten Bundes faßt der Engel Gabriel in seiner Verkündigung der Ge­ burt des Herrn Jesus an die Jungfrau Maria zusammen in den Worten: siehe, du wirst einen Sohn gebären, des Name sollst du Jesus heißen, der wird groß und ein Sohn des Höchsten genannt werden, und Gott, der Herr, wird ihm den Stuhl seines Vaters David geben; und er wird ein König sein über das Haus Jakobs ewiglich und seines Königreiches wird kein Ende sein (Luk. 1, 31—33). Aber auch der Heiland selbst legt sich das königliche Amt bei, und zwar in den ernstesten Augenblicken seines Erdenlebens, im Angesichte des ihm drohenden Todes. Davon giebt das Verhör Kunde, das sein weltlicher Richter mit ihm vornimmt und von dem unser Text Bericht giebt. Der jüdische Hoherat hatte ihn der Gotteslästerung beschuldigt, weil er sich den Sohn Gottes nannte. Vor dem römischen Landpfleger beschuldigten ihn seine Volksgenossen des Hochverrats, weil er sich König nenne. Da­ raufhin fragt ihn Pilatus: „bistduderJudenKönig?" Und der Heiland giebt ihm auf diese Frage eine bündige Er­ klärung mit der nötigen Aufklärung: „ich bin ein König; aber mein Reich ist nicht von dieser Welt; . .ichbin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich von der Wahrheit zeugen soll". Nicht wahr, liebe Christen, ihr verstehet die Meinung unseres Heilands? Er ist König, aber kein weltlicher Herrscher, kein König eines weltlichen Staates, sondern der König des Reiches Gottes. Was das sagen will, das muß uns die heutige Predigt klar machen. Seine Verkläger stellen es so hm und sein Richter faßt es so auf, als wolle er sich zum weltlichen König über das jüdische Volk aufwerfen. Nun haben wir gesehen, daß ihn die Weissagung des Alten Bundes allerdings zunächst als König Israels hinstellt. Aber dabei blickt doch unverkennbar der Gedanke durch, daß sich

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seine Königsherrschaft weiter ausdehnen und über die ganze Welt erstrecken werde. Und er wird Recht und Gerechtigkeit und Frieden anrichten auf Erden. Das weist darauf hin, daß seine Herrschaft keine gewöhnlich weltliche, sondern eine religiöse und sittliche sein werde. Das Reich Gottes hat seine Grundlage und Grenze an dem Gehorsam der Menschen gegen die Forderung: thut Buße! Wer irgend aus einem Volk der Erde dieser Forde­ rung Folge leistet, der ist Bürger dieses Reiches und Unterthan seines Königs. Auch die Jünger des Heilands bezeugen sein Königtum. Schon Nathanael bekennt, als er zum Jünger berufen wird: Rabbi, du bist Gottes Sohn und der König von Israel (Joh. 1. 49). Tritt in diesem Bekenntnis noch einmal die Beschrän­ kung seines Königtums auf das Volk des Alten Bundes hervor, so schwindet diese Beschränkung in den übrigen Zeugnissen der Apostel vollständig. Sie lassen den Heiland erscheinen als den, welchem Gott einen Namen gegeben hat, der über alle Namen ist, daß in seinem Namen sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf der Erde und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, daß Jesus Christus der Herr sei zur Ehre Gottes des Vaters (Phil. 2, 9—11). Sie bezeichnen ihn als den, welchen Gott gesetzt hat zu seiner Rechten im Himmel iiber alle Fürstentümer, Gewalt, Macht, Herrschaft und alles, was genannt mag werden nicht allein in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen, und hat alle Dinge unter seine Füße gethan, und hat ihn gesetzt zum Haupt der Gemeinde über alles (Eph. 1, 20—22). Damit übereinstimmend wird dann auch vom Lamme, das in der Folge als der in Herrlichkeit wieder­ kommende Heiland auftritt, bezeugt: er hat einen Namen, ge­ schrieben auf seinem Kleide und auf seiner Hüfte also: ein König aller Könige und ein Herr aller Herren (Offenb. 19, 16). Das ist das Königtum unseres Heilands, wie es ihm nach seiner Er­ höhung eignet.

Die heutige Predigt hat nun die Aufgabe, zu zeigen, wie der Erlöser sein Königtum in seiner Erniedrigung sowohl, wie in seiner Erhöhung ausübt, und wie er dadurch Grund legt für

318 das Reich Gottes sowohl in seiner gegenwärtigen, als in seiner zukünftigen Gestalt. Wir reden also jetzt über

Das königliche Amt des Erlösers, wobei wir erwägen, wie er es ausübt: 1. im Stande seiner Erniedrigung, und 2. im Stande seiner Erhöhung. I. Auch im Stande seiner Erniedrigung ist der Heiland ein König. Darum sagt er auch zu seinem Richter, wie wir aus unserem Texte ersehen: „ich bin ein König"! Aber wie begründet er diese Erklärung? Damit, daß er hinzufügt: „ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich von der Wahrheit zeugen soll". Ihr wisset, liebe Christen, die Wahrheit, die unser Heiland verkündigt, das ist die religiöse und sittliche Wahrheit, die wahre Religion; das ist sein Evangelium von der Erlösung der sündigen Menschheit durch ihn. Mit dieser Wahrheit ist das Reich Gottes gegeben, denn dies ist ein Erlösungsreich. Wo diese Wahrheit verkündigt und im Glauben angenommen wird, da ist das Reich Gottes. Wenn demnach der Heiland sagt: ich bin ein König, weil ich die Wahrheit verkündige! so ist das dasselbe, als wenn er spräche: ich bin derKönig des Reiches Gottes! Ich sagte, liebe Christen: das Reich Gottes ist das Reich, dessen Bürger das Evangelium von der Erlösung durch Jesum Christum im bußfertigen Glauben annehmen. Wer kennt aber diese Seelen, als allein der allwissende Gott, der Herzen und Nieren prüft und vor dessen Augen alles bloß und aufgedeckt ist? Siehe, aus diesem Grunde ist das Reich Gottes an und für sich ein unsichtbares Reich. Doch kommt es zu sichtbarer Er­ scheinung, wie wir wissen, und nimmt eine äußere Gestalt an in der Gemeinschaft, welche der Heiland in den Tagen seines Fleisches stiftete, indem er eine Jüngerschar um sich sammelte, eine Schar von Anhängern, die ihn als den Sünderheiland im Glauben anerkannten und sich in seinen Dienst und Gehorsam stellten. Das war der Anfang seiner Gemeinde, in welcher das an und für sich unsichtbare Gottesreich während der Dauer des gegenwärtigen Weltalters bis zur Wiederkunft des Heilands

819 sich darstellt. Ich sage: die erste Jüngerschar des Heilands war der Anfang der Gemeinde Jesu Christi, denn die eigent­ liche Geburtsstunde der Kirche schlug bei der Ausgießung des Heiligen Geistes auf die am jüdischen Pfingstfest in Jerusalem versammelte Jüngergemeinschaft. Die Sammlung dieser ersten Jüngerschaft, welche der Helland während seines Erdenwandels vollzog, ist ein Erweis seines königlichen Amtes, denn diese seine Jünger sind Bürger des von ihm begründeten Gottesreiches. Wir haben von den Wunderwerken unseres Heilands bereits geredet, liebe Christen. Manche wollen sie als Erweisungen seiner Königswürde ansehen. Sie berufen sich für diese Ansicht darauf, daß er sich durch dieselben als Herr über die Natur, so­ wohl über die menschliche, als über die den Menschen umgebende Natur erzeige. Aber ich habe euch die Gründe angegeben, die dafür sprechen, daß wir diese Wunderthaten als Wirkungen der prophetischen Ausrüstung unseres Heilands mit dem Heiligen Geist, als Erweisungen seines prophetischen Amtes erkennen. Dagegen muß ich auf ein anderes Ereignis in dem Erden­ leben unseres Heilands Hinweisen, in welchem er seine Königs­ würde deutlich kund that. Ich meine seincnletztenEinzug in die alte Königstadt Jerusalem. Früher einmal, nach der wunderbaren Speisung der Fünftausend in der Wüste, war das begeisterte Volk nahe daran, ihn zum König auszu­ rufen (Joh. 6,15). Aber er hatte sich diesem Unternehmen rasch entzogen. Das damalige Bundesvolk hatte zu verkehrte Begriffe vöm messianischen Königtum, als daß der Heiland darauf hätte eingehen können. Sie begehrten einen weltlichen König und er wollte König eines geistlichen Reiches sein. Freilich, an diesem Gottesreiche sollte nach Gottes Ratschluß das Volk des Alten Bundes den ersten Anteil haben, und von ihm aus sollte es sich über die übrige Menschheit ausbreiten. So hatten es die Pro­ pheten verkündigt. Daß durch die Verstockung Israels eine Aenderung in diesem ursprünglichen Plane eingetreten ist, davon werden wir später reden. Fürs erste mußte sich der Heiland als König Israels erweisen. Und das hat er gethan bei seinem letzten Einzug in die Residenzstadt der ehemaligen Könige Js-

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raels. Dabei wollte er jedoch zugleich durch sein demütiges und friedliches Auftreten sein Volk merken lassen, daß sein Königtum anderer Art sei, als die übrigen Königtümer der Welt. Mit diesem Einzug in die alte Königstadt brachte der Heiland die be­ sondere Weissagung des Propheten Sacharja zur Erfüllung, deren ich vorhin Erwähnung gethan habe., Sein Unternehmen hatte einen überraschenden Erfolg. Als die Kunde von seinem Kommen unter das zum Passahfest zahlreich versammelte Volk drang, da entstand eine gewaltige Bewegung, da erhob sich ein unbeschreiblicher Jubel. Das Volk ward wie von einer plötzlichen göttlichen Eingebung erleuchtet und von einer freudigen Be­ geisterung fortgerissen. Sie breiteten ihre Kleider auf den Weg, daß der König darüber reite; sie rissen Zweige von den Palm­ bäumen und schwangen sie ihm entgegen; sie riefen jauchzend ihm zu: Hosianna dem Sohne Davids; gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn I Doch plötzlich stockt der Zug des Königs. Er überblickt von der Höhe des Oelbergs aus die Stadt. Da schleicht tiefe Wehmut in sein Herz ein, Thränen brechen aus seinen Augen, klagend erhebt sich seine Stimme und tiefergriffen ruft er über die Stadt die traurige Weissagung aus: Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst die zu dir ge­ sandt sind, wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt; wenn du doch auch erkenntest zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient, aber nun ist es vor deinen Augen verborgen, denn es wird die Zeit über dich kommen, daß deine Feinde werden um dich und deine Kinder mit dir eine Wagenburg schlagen, dich belagern und an allen Orten ängsten, und werden dich schleifen und keinen Stein auf dem andern lassen, darum daß du nicht erkannt hast die Zeit, darinnen du heimgesucht bist! (Mtth. 23, 37 ; Luk. 19, 41—44). Darnach geht der Zug des Messias-Königs weiter nach dem Volksheilig­ tum, und dort nahm er die Tempelreinigung vor. So bethätigte er unmittelbar vor dem Eintritt in sein Leiden sein königliches Amt. Mit leidvoller Betrübnis erfüllt uns, liebe Christen, die Wahrnehmung, wie schnell die Begeisterung des Volks verrauscht war, und welche beklagenswerte Umstimmung dieselbe erfuhr,

321 daß dieselbe Menge, welche damals dem Heiland ihr Hosianna zujauchzte, wenige Tage darnach vor dem Richthaus des Pon­ tius Pilatus in den Zorn- und Wutausruf ausbrach: kreuzige, kreuzige ihn; sein Blut komme über uns und unsere Kinder! O, möchten wir, liebe Christen, uns in unserem Glauben an den König des Gottesreiches beharrlicher erweisen! Wer beharret bis ans Ende, der wird selig! Bleibt denn auch die Erweisung seines königlichen Amts im Stande seiner Erniedrigung beschränkt auf die Sammlung seiner ersten Jünger und seinen feierlichen Einzug in Jerusalem, so muß ich euch, liebe Christen, doch noch auf einen Punkt Hin­ weisen, in welchem wir noch einen besonders in die Augen fallenden Erweis des Königtums unseres Heilands erblicken müssen. Freilich gehört dieser Erweis seines Königtums eigent­ lich schon nicht mehr dem Stande seiner Erniedrigung an. Da er aber doch vor seine Himmelfahrt fällt, die als der eigentliche Beginn seiner Erhöhung gilt, so darf ich ihn hier herbeiziehen. Der Heiland hatte seine Jünger nach seiner Auferstehung wieder einmal um sich versammelt. Da stellte er sich ihnen vor als den Herrn des Himmels und der Erde, und gabseinenAposteln den Auftrag, die gesamte Menschenwelt durch die Predigt seines Evangeliums und die Spen­ dung der heiligen Taufe geistlich zu erobern (Mtth. 28, 18—20). Wahrlich, das war ein glänzender Erweis seiner Königswürde. Er beansprucht in diesem Königsbefehl das ganze Menschengeschlecht, er nimmt es als sein sauer erworbenes und mühsam verdientes Eigentum, als seinen Schmerzenslohn in Beschlag. Aber nicht mit irgend welcher äußeren Gewalt soll die Menschheit für ihn gewonnen, sondern durch die Botschaft von der durch ihn gestifteten Erlösung soll sie erobert und ihm zu Füßen gelegt werden. Ob das gelingen wird? Noch steht die Gemeinde des Heilands in dieser Arbeit. Freilich, sie wird an Vielen vergeblich sein, denn sie werden sich unter das sanfte Joch des Heilands nicht beugen wollen. Den­ noch wird ihre Arbeit zu einem Ziele führen. Die in Gottes Ratschluß versehene Fülle der Heiden wird eingehen in das Reich Gottes und Israel wird gerettet werden. Damit aber Schnabel, Predigten.

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822 bricht der Abschluß der gegenwärtigen Weltentwicklung herein und die Aufrichtung des vollendeten Gottesreiches erfolgt durch den in königlicher Herrlichkeit waltenden Heiland. II. Damit sind wir bereits zu dem zweiten Teil dieser Predigt übergegangen, in dem ich reden wollte über die Aus­ übung des königlichen Amtes von feiten unseres Heilands im Stande seiner Erhöhung. Seine Er­ höhung nahm eigentlich ihren Anfang schon mit seiner Aufer­ stehung. Aber da er sich nach derselben noch vierzig Tage lang seinen Jüngern sichtbar zeigte, so rechnen wir den Beginn der Erhöhung erst von seiner Himmelfahrt an, welche den Einzug des Königs in sein überirdisches Reich bedeutet, wie sie zugleich der Eingang des Hohepriesters in das obere Helligtum ist. Der Heiland hat die Uebernahme seines himmlischen König­ tums in den Tagen seiner Erniedrigung vorausgesagt. Sicher denkt er nicht bloß an seine Kreuzerhöhung, sondern auch an seine Himmelfahrt, wenn er spricht: wenn ich erhöhet werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen! (Joh. 12,32). Noch deutlicher redet er von seiner Erhöhung in die Himmelswelt, wenn er in seinem hohepriesterlichen Gebete fleht: verkläre mich, du Vater, bei dir selbst mit der Klarheit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war! (Joh. 17, 5). Dem Hoherat gegenüber, der ihn darob als Gotteslästerer zum Tode verurteilte, bekennt er: von nun an wird es geschehen, daß ihr sehen werdet des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen in den Wolken des Himmels! (Mtth. 26, 64). Nach seiner Auferstehung be­ teuerte er: mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden! (Mtth. 28, 18). Und den zwei Emmausjüngern ver­ kündigte der Auferstandene, daß er zuerst leiden und dann zu seiner Herrlichkeit eingehen mußte (Luk. 24, 26). Wie seine ersten Jünger, die unter der besonderen Er­ leuchtung des Heiligen Geistes uns das Evangelium ihres Meisters auch schriftlich überliefert haben, sein himmlisches Königtum bezeugen, haben wir bereits erkannt. Laßt mich des­ halb hier nur noch den Ausspruch des Apostels Petrus vor dem Hoherat anziehen: Gott hat ihn durch seine rechte Hand erhöhet zu einem Fürsten und Heiland! (Apg. 5, 81).

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Zunächst erstreckt sich das Königtum unseres Heilands auf das Reich Gottes, das im gegenwärtigen Weltalter und auf Erden in der Gemeinde Jesu Christi, in der christlichen Kirche zur Erscheinung kommt. Denn wie ihn das Wort Gottes das Haupt aller Fürstentümer und Obrigkeit in der Engelwelt nennt, so bezeichnet es ihn auch als das Haupt der Gemeinde auf Erden (Eph. 5, 23; 1, 22). Das Reich Gottes besteht nicht bloß auf der Erde, sondern auch in der unsichtbaren Himmels­ welt, wo seine Bürger die heiligen Engel und die in dem Herrn Jesu aus dem Erdenleben geschiedenen und in die jenseitige Seligkeit eingegangenen Menschenseelen sind. Aber auf der Erde verläuft die Geschichte des Gottesreiches. Hier geschieht seine Ausbreitung und seine äußere und innere Entwicklung bis zu seiner Vollendung. Hier erfolgen seine Kämpfe und hier muß es den Sieg erringen. Seht, aus diesem Grunde erstreckt sich das Königtum unseres Heilands vornehmlich auf die Regie rung seiner Kirche zur Erfüllung ihrer Aufgaben, und auf die Bewahrung derselben unter den inneren und äußeren Gefahren, welchen sie in der Welt ausgesetzt ist. Um aber die Regierung und Beschützung seiner Kirche aus­ führen zu können, muß dem Heiland die Weltherrschaft zu Gebote stehen, damit er alle Dinge und alles, was geschieht und vorgeht, sowohl auf dem Gebiete der Natur, als in der Geschichte der geistigen Geschöpfe lenken und leiten könne zur Erreichung des Zieles, das der göttliche Ratschluß sich gesteckt hat. Ihr wisset, liebe Christen, worin dieses Ziel besteht. Es ist die Herstellung des vollendeten Gottesreiches. Diese Herrschaft über die ganze Welt, die Weltregierung im vollen Sinne des Wortes führt denn auch der erhöhete Erlöser. Das ist der Sinn des Ausdrucks rersitztzurRechtenGottes. Ja, liebe Christen, wir leben in der Periode der Christusherrschaft. Unser Heiland ist in Wahrheit der König und Regent der ganzen Welt. Darüber kann nach den Erklärungen, die uns in der Heiligen Schrift vorliegen, kein Zweifel bestehen. Und, so sagt uns das Wort Gottes noch außerdem, er muß herrschen, bis daß er alle seine Feinde unter seine Füße lege (1. Kor. 15, 25). Ist dieses Ziel erreicht, dann tritt das Ende des gegenwärtigen 21*

324 Weltlaufs ein, von dem Gottes Wort sagt: darnach das Ende, wann er das Reich Gott und den: Vater überantworten wird (1. Kor. 15,24). Mit der Erreichung dieses Ziels ist das Werk des Sohnes Gottes, das Erlösungswerk, vollbracht, und nun giebt er die von ihm bis dahin geführte Weltregierung zurück in die Hände Gottes, des Vaters, damit Gott sei alles in allen (1. Kor. 15, 27—28). Was folgt nun für uns daraus, daß wir wissen: unser Heiland regiert gegenwärtig die Welt? So fragen wir. Ich denke, daraus folgt vor allem dies, daß wir, die wir im Glauben an ihn und dadurch in seiner Gemeinschaft stehen, die wir also seine Jünger und seine Freunde sind, alle Ursache haben, uns wohl geborgen, sicher beschützt, gnädig geführt zu fühlen und zu wissen in dieser Welt. Wahrlich, der gläubige Christ spricht mit dem Psalmisten: der Herr ist mein Hirt, mir wird nichts mangeln, er weidet mich auf grüner Aue und führet mich zu frischem Wasser, er erquicket meine Seele, er führet mich aus rechter Straße um seines Namens willen; und ob ich schon wanderte im finsteren Thal, fürchte ich kein Unglück, dein Stecken und Stab trösten mich (Ps. 23). — Doch nicht bloß an dich sollst du denken, lieber Christ, nicht bloß an das, was du per­ sönlich Gutes hast und genießest von der Weltregierung deines Heilands, sondern du darfst nicht außer acht lassen, daß du ein Glied der Gemeinde, der Kirche Jesu Christi, der von der Welt und ihrem Fürsten beständig bedrohten und bekämpften Kirche bist. Wenn es dir bange werden will um ihren Bestand, dann erinnere dich, daß der im Regimente sitzt, der ihr Stifter und Haupt ist, und sprich mit dem Liede: solange Christus Christus bleibt, wird seine Kirche dauern; nicht Menschenmacht und .Satanslist zerstören ihre Mauern; der starke Gottessohn sitzt auf des Vaters Thron, der bleibt ihr Schutz und Hort; vor seinem Geist und Wort, flieh'n alle Höllenmächte! Wir fragen weiter: was folgt für uns aus der Erkenntnis, daß unser Heiland der König über die ganze Welt ist? Daraus folgt, daß wir ihn als solchen anerkennen — und verehren müssen. Ja, verehren, denn dieser König ist Gottes eingeborener, dem Vater gleicher Sohn, der geehrt sein will, wie der Vater ge-

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ehrt wird (Joh. 5, 23). Ihm gebührt Anbetung, denn er ist Gott, wie sein Wort bezeugt: im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort (Joh. 1,1). Ja, ihm gebührt Anbetung. Und er will auch die Gebete seiner Gläubigen erhören, denn er versichert: was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich thun, auf daß der Vater geehrt werde in dem Sohne; was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich thun (Joh. 14, 13—14). — So ersehen wir denn auch aus den Schriften des Neuen Testaments, daß seine Jünger von Anfang an ihn göttlich verehrt und angebetet haben. Den Anfang damit macht der vom Zweifel zur Ueberzeugung be-kehrte Apostel Thomas, der, als er seinen auferstandenen Meister erkannte, ausbrach in den Gebetsruf: mein Herr und mein Gott! (Joh. 20,28). Seinem Vorgang folgten die Jünger, als sie von dem gen Himmel entrückten Heiland schieden, denn von ihnen wird" berichtet: sie aber beteten ihn an (Luk. 24, 52). Ihnen wiederum schloß sich an der erste christliche Märtyrer Stephanus, der sein Leben beschloß mit dem Gebetsseufzer: Herr Jesu, nimm meinen Geist auf! (Apg. 7, 58). Damit stimmt überein, daß der Seher Johannes schaut und hört, wie der ganze Himmel mit allen seinen erschaffenen Bewohnern, ja, alle Kreatur, die im Himmel und auf der Erde tmb unter der Erde und im Meer ist, dem Lamme, das ist: unserem Heiland, Anbetung erweist (Offenb. 5, 11—14). — Und wie die ersten Jünger gethan, so hat es die gläubige Christenheit allezeit geübt. In ihren Gebeten und Liedern Pflegt die Kirche die Anbetung des Heilands bis auf diesen Tag. Soll es aber eine rechte Verehrung sein, die ihm gezollt wird, so muß sie auch in geziemender Ehrfurcht geschehen. Es ist nicht zu leugnen, daß das von den Gläubigen nicht allezeit in rechter Weise beobachtet und gewahrt worden ist. Auch unsere evangelische Kirche hat eine Zeit gehabt, in welcher von den Gläubigen wohl ein frommer, inniger Umgang mit dem Heiland gepflegt, dabei aber die schuldige Ehrfurcht dadurch verletzt wurde, daß man zu vertraulich mit dem Herrn verkehrte, welcher doch Gott und der König der Welt ist. Diese der erforderlichen Ehrfurcht ermangelnde Weise des Verkehrs spricht sich in den

326 oft in Tändelei verfallenden Gebeten und Liedern aus, die an „Jesus" und das „liebe Jesulein" gerichtet sind. Liebe Christen, wir sollen doch den hochgelobten Heiland nie anders als den „HerrnJesus" nennen. So erfordert's die ihm von uns gebührende Ehrerbietung. Nun laßt uns bedenken, liebe Christen: unser Heiland ist der die Welt regierende König, er ist der seinem Vater gleiche, ewige Gottessohn, er ist das zweite Ich, das andere Selbst Gottes des Vaters, durch welchen dieser sich von jeher der Welt offenbart hat, denn in ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen (Joh. 1, 4), durch welchen der verborgene Gott mit der Menschheit und insbesondere vormals mit dem Volke Israel in geschichtlichen Verkehr getreten ist. Er ist also der im Alten Bunde als der „Herr Jehova" vom Gottesvolk göttlich verehrte und angebetete Gott, und wird als solcher im Neuen Testament anerkannt (1. Kor. 10, 4. 9). Sollten wir da nicht erwarten, daß dem „Herrn Jesus", der nach seiner zeit­ weiligen Erniedrigung zu seiner ewigen Herrlichkeit wieder er­ höhet ist, von feiten der Christenheit die Anbetung ausschließlich dargebracht würde, wie sie im Alten Bunde dem „Herrn Jehova" erwiesen worden ist? Doch, das geschieht in Wirklichkeit nicht. Vielmehr nehmen wir wahr, daß bei den ersten, mit der Fülle des Heiligen Geistes ausgestatteten Jüngern Gott dem Vater vornehmlich die Anbetung erwiesen wird. Leset nur die Ein­ gänge der apostolischen Briefe, und ihr werdet es so finden. Was wollen wir hieraus lernen? Das muß uns als Fingerzeig dienen für unser Verhalten bei der Anbetung. Unstreitig ist, daß wir unsere Gebete an den erhöheten Heiland richten dürfen. Ist und bleibt er ja doch für uns Sünder der Weg zum Throne des Vaters. Aber auch für uns muß, wie für die Glie­ der der Urkirche Gott der Vater im Vordergrund der Anbetung stehen bleibend Ist er ja doch die erste Person in bet göttlichen Dreieinigkeit, und derjenige, welchem der Sohn die im gegenwärtigen Weltälter von ihm geführte Weltregierung dereinst zurückgiebt, ja, dem er sich freiwillig unterordnet, auf daß Gott der Vater sei alles in allen. Darum bleibe unsere Gebetsordnung die, welche das Wort Gottes ein-

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hält in der Lobpreisung: dem, der auf dein Stuhle sitzt (Gott dem Vater) und dem Lamm (Gott dem Sohn) sei Lob und Ehre und Preis von Ewigkeit zu Ewigkeit! (Offenb. 5, 13). Amen.

27. Tert: Äpg. 2,1—4. 14. 38. 41. „Als der Tag der Pfingsten erfüllet war, waren sie alle einmütig bei einander. Und es geschah schnell ein Brausen vom Himmel als eines gewaltigen Windes, und erfüllte das ganze Haus, da sie saßen. Und es erschienen Zungen zerteilet, wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeglichen unter ihnen; und wurden alle voll des Heiligen Geistes, und fingen an zu predigen mit anderen Zungen, nach dem der Geist ihnen gab auszusprechen ... Da trat Petrus auf mit den Elfen, erhub seine Stimme und redete zu ihnen: . . . thut Buße und lasse sich ein jeglicher taufen auf den Namen Jesu Christi zur Ver­ gebung der Sünden, so werdet ihr enrpfahen die Gabe des Heil. Geistes . . . Die nun sein Wort gerne annahmen, ließen sich taufen; und wurden hinzugethan an dem Tag bei drei­ tausend Seelen." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Die letzten Pre­ digten haben gezeigt, wie der Erlöser durch sein dreifaches Amt den Grund gelegt hat für die Aufrichtung des Reiches Gottes auf der Erde. Nachdem das geschehen war, nachdem der Heiland das ihm von seinem Vater aufgetragene Werk vollbracht und sich zur Rechten Gottes gesetzt hatte, empfing das Reich Gottes in seiner äußeren Erscheinung eine andere Gestalt, als diejenige, in welcher es bis dahin aufgetreten war. Die seitherige Er­ scheinungsform desselben war die des Gottesstaates im Alten Bunde. Sie hatte ihr Ende erreicht, Gott selbst hatte sie zer­ brochen. Das hatte er eigentlich schon damals gethan, als er

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hält in der Lobpreisung: dem, der auf dein Stuhle sitzt (Gott dem Vater) und dem Lamm (Gott dem Sohn) sei Lob und Ehre und Preis von Ewigkeit zu Ewigkeit! (Offenb. 5, 13). Amen.

27. Tert: Äpg. 2,1—4. 14. 38. 41. „Als der Tag der Pfingsten erfüllet war, waren sie alle einmütig bei einander. Und es geschah schnell ein Brausen vom Himmel als eines gewaltigen Windes, und erfüllte das ganze Haus, da sie saßen. Und es erschienen Zungen zerteilet, wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeglichen unter ihnen; und wurden alle voll des Heiligen Geistes, und fingen an zu predigen mit anderen Zungen, nach dem der Geist ihnen gab auszusprechen ... Da trat Petrus auf mit den Elfen, erhub seine Stimme und redete zu ihnen: . . . thut Buße und lasse sich ein jeglicher taufen auf den Namen Jesu Christi zur Ver­ gebung der Sünden, so werdet ihr enrpfahen die Gabe des Heil. Geistes . . . Die nun sein Wort gerne annahmen, ließen sich taufen; und wurden hinzugethan an dem Tag bei drei­ tausend Seelen." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Die letzten Pre­ digten haben gezeigt, wie der Erlöser durch sein dreifaches Amt den Grund gelegt hat für die Aufrichtung des Reiches Gottes auf der Erde. Nachdem das geschehen war, nachdem der Heiland das ihm von seinem Vater aufgetragene Werk vollbracht und sich zur Rechten Gottes gesetzt hatte, empfing das Reich Gottes in seiner äußeren Erscheinung eine andere Gestalt, als diejenige, in welcher es bis dahin aufgetreten war. Die seitherige Er­ scheinungsform desselben war die des Gottesstaates im Alten Bunde. Sie hatte ihr Ende erreicht, Gott selbst hatte sie zer­ brochen. Das hatte er eigentlich schon damals gethan, als er

828 die Zerstörung des Gottesstaates durch di e Weltmächte Assyrien und Babylonien geschehen ließ. Von da an hatte der Gottes­ staat nur noch ein notdürftiges und kümmerliches Dasein ge­ fristet in dem Volks- und Staatswesen, welches die aus der babylonischen Verbannung in ihr Heimcrtland zurückkehrenden Juden errichteten. Wir haben gesehen, daß dieser wieder­ hergestellte Gottesstaat schon von Anfang an keineswegs und mit der Zeit immer weniger dem entsprach, was er nach der Absicht des Herrn Jehova sein sollte. Er geriet deshalb auch aus einer Fremdherrschaft unter die andere, bis er von dem damals bestehenden römischen Weltretch ganz aufgehoben wurde. Aber noch ehe diese letzte und endgültige Aufhebung des jüdischen Staatswesens stattfand, hatte Gott Veranstaltung getroffen, daß sein Reich in einer neuen Gestalt auf dieser Erde auftreten sollte. Diese neue äußere Gestalt, welche dasReichGottesjetztimNeuerrBundeannahm, wardieKircheJesuChristi. Mitt dieser haben wir uns nun zu beschäftigen. Laßt uns also reden über Das Reich Gottes im Reuen Bunde, insbesondere: Die Kirche Jesu Christi,

und laßt uns erwägen:

1. ihre Stiftung, und 2. ihre Verfassung.

I. Ich habe bereits darauf hingerviesen, liebe Christen, daß unser Heiland schon einen Anfang seiner Gemeinde damit machte, daß er eine Jüngerschar um sich sammelte. Allein, das war noch nicht die Kirche, denn es fehlte ihr noch an zwei wesentlichen Stücken, an einem innerlichen und an einem äußerlichen Gut; es fehlte ihr noch att der Ausgießung des Pfingstgeistes und an einer Verfassung. Als die eigentliche Geb»rtKstunde der Kirche sieht man allgemein das Pffingstfest an, an welchem auf die zu gemeinsamer Erbauung versammelten Jünger des Heilands der Heil. Geist ausgegossen ward. Diese Spendung des Heil. Geistes hatte ihnen der Heiland ver­ sprochen. Er hatte ihnen die Versicherung gegeben, daß er ihnen

329 den „ Tröster " senden wolle, wann er erhöhet und in seine ewige göttliche Herrlichkeit zurückgekehrt sei. Er hatte ihnen noch unmittelbar vor seiner Himmelfahrt die Weisung erteilt, daß sie in Jerusalem bleiben sollten, bis sie angethan würden mit der Kraft aus der Höhe (Joh. 15, 26; Luk. 24, 49). Sie standen demzufolge in lebhafter, sehnsüchtiger Erwartung der Erfüllung dieser Verheißung, und siehe, da erfolgte sie denn auch, und mit ihr die eigentliche Stiftung der Kirche. Unser Text giebt uns Bericht über beide Ereignisse. Er erzählt uns zuerst von den Jüngern: „Als der Tag der Pfingsten erfüllet war, waren sie alle einmütig bei ein« and er." Und nachdem er weiter den euch bekannten wunder­ baren Vorgang der Ausgießung oder Spendung des Heiligen Geistes beschrieben hat, schließt er mit den Worten: „sie wurden alle voll des Heil. Geistes, und fingen an zu predigen mit anderen Zungen, nach dem der Geist ihnen gab auszusprechen." Wir haben bereits in einer früheren Predigt über dieses Ereignis gesprochen. Es ist elich, liebe Christen, wohl auf­ fallend, daß hier als von einer ersten Sendung des Heil. Geistes die Rede ist, während doch der Heil. Geist längst im Alten Bunde seine göttliche Wirksamkeit bewiesen hat. Er hat sich erwiesen sowohl als der Geist, der die Seelen der Menschen bekehrt von der Sünde und ihrem Dienste zu Gott und seinem Gehorsam, wie auch als der Geist der Offenbarung, der den menschlichen Werkzeugen Gottes, den Propheten, die göttliche Offenbarung vermittelte, sie durch seine Erleuchtung zum Er­ fassen und Verkündigen derselben befähigte, und sie außerdem mit der Gabe der Wunderthätigkeit ausrüstete. Wie kann unter solchen Umständen behauptet werden, so fragtet ihr schon früher, daß der Heil. Geist an jenem Pfingstfest zuerst gegeben worden sei? Ich erinnere euch an die Lösung dieses Rätsels, die ich euch damals gegeben habe. Sie besteht einerseits darin, daß an jenem Pfingstfest der Heil. Geist in einer Weise gespendet wurde, wie es bis dahin noch nicht geschehen war. Er wurde gespendet zu einer Wirkungsweise, wie er sie bis dahin noch nicht ausgeübt hatte. Diese neue Wirkungsweise des

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Heil. Geistes ist die recht eigentlich neutestamentliche,die dem Neuen Bunde eigentümliche. Es ist die, welche der Vorläufer unseres Hellands im Sinne hatte, als er bezeugte: ich taufe euch mit Wasser zur Buße; der aber nach mir kommt . . ., der wird euch mit dem Heil. Geist und mit Feuer taufen (Mtth. 3,11). Es ist die, an welche der Apostel Johannes denkt, wenn er erklärt: der Heil. Geist war noch nicht da, denn Jesus war noch nicht verklärt (Joh. 7, 39). Es ist die, welche gemeint ist, wenn die Apostelgeschichte erzählt, daß St. Paulus in Ephesus Johannesjünger angetroffen habe, welche ihm auf seine Frage, ob sie den Heil. Geist empfangen hätten, als sie gläubig geworden seien, die Antwort gaben: wir haben auch nie gehört, daß Heiliger Geist feil womit sie sagen wollen: wir haben noch nichts gehört von der Sendung des Heil. Geistes zu seiner außerordentlichen neutestamentlichen Wirkungsweise (Apg. 19, 1—7). Es ist die, welche sich nach außen regelmäßig kund gab in den Wundergaben des Zungen­ redens und Weissagens, wie dies damals geschah, als die Apostel Petrus und Johannes den neubekehrten Samaritanern die Hände auflegten und diese die Mitteilung des Heil. Geistes erfuhren (Apg. 8,17), und damals, als der Apostel Petrus dem Hauptmann Cornelius und seinen Angehörigen das Evan­ gelium predigte und über seine Zuhörer plötzlich die Ausgießung des Heil. Geistes erfolgte (Apg. 10, 44—46). Und worin be­ steht diese neue Wirkungsweise des Heil. Geistes? Wir haben bereits erkannt, liebe Christen, daß sie ihr eigentliches Wesen darin hat, daß der Heil. Geist in den Gläubigen persönlich und bleibend Wohnung nimmt (1. Kor. 3, 16; 6, 19), sie dadurch zu Tempeln Gottes weiht, der gött­ lichen Natur teilhaftig macht (2. Petr. 1, 4), in einen höheren Stand des Christentums erhebt, ihnen eine mächtige Förderung in der Heiligung gewährt, und sie mit wunderbaren GeistesGaben und Kräften ausstattet. Diese Wundergaben sollen zum „gemeinen Nutzen" dienen, zur Förderung der Christus­ gemeinde im Streben nach der sittlichen Vollkommenheit und zugleich zur Beseitigung von mancherlei irdischem Uebel (1. Kor. 12, 7). Ihr kennet bereits diese außerordentlichen Geistesgaben

331 wenigstens dem Namen nach. Sie sind der Christenheit nicht verblieben. Vielmehr hat sie der Herr, der sie ihr im Anfang geschenkt hatte, bald wieder zurückgezogen. Wir wissen deshalb nichts Genaueres von denselben, und können uns von der Wir­ kung, die sie geübt haben, keine rechte Vorstellung machen. Doch dürfen wir nicht daran zweifeln, daß sie wirklich zum „ge­ meinen Nutzen" gedient, und die Gemeinde des Heilands in der Losung ihrer Aufgaben und in der Erreichung ihres Zieles kräftig unterstützt haben. Auch sollte es keinem Zweifel unter­ liegen, daß die Gemeinde des Herrn dieser neutestamentlichen Wirkungsweise des Heil. Geistes bedarf, wenn sie das werden soll, was sie nach der Absicht ihres Stifters sein soll. Doch darauf werden wir später zurückkommen. Liebe Christen, ich sagte: weil der Heil. Geist am Pfingst­ fest in Jerusalem zu dieser neuen Wirkungsweise mitgeteilt wurde, deshalb kann behauptet werden, er sei erst damals der Menschheit gespendet worden. Ich kenne indes noch einen anderen Grund für den Eintritt des Pfingstereignisses. Auch diejenige Wirksamkeit des Heil. Geistes, welche er vorher schon entfaltet hatte, beruht auf dem Versöhnungswerke unseres Heilands. Durch dieses ist sie erst der Menschheit wirklich er­ worben worden. Ohne dasselbe hätte sie gar nicht stattfinden können, und nur mit Rücksicht und im Hinblick auf dasselbe hat sie stattgefunden. Seht, gerade das sollte durch das Pfingstereignis dargethan werden. In sinnenfälliger Weise solltederMenschheitkundgemachtwerden.daß alle Wirksamkeit des Heil. Gei st es in derMenschenwelt auf dem Versöhnungswerk des Er­ lösers fußt, und daß er der eigentliche Erwerber und Spender desselben ist. Durch das Pfingstereignis wurde nun im eigentlichen Sinne die Kirche Jesu Christi gestiftet. Das entnehmen wir aus dem, was unser Text von der Predigt des geistgesalbten Apostels Petrus und von deren mächtiger Wirkung erzählt mit den Worten: „die nun sein Wort gerne annahmen, ließen sich taufen; und wurden hinzugethan an dem Tag bei dreitausend Seelen." Es war so, wie

332 der Herr Jesus vorhergesagt hatte: der „Tröster", der Heilige Geist sollte hinfort seine Stelle unter den Menschen und ins­ besondere unter seinen Jüngern und Anhängern vertreten. Darum nennt er ihn den „anderen T r ö st e r". Die Kirche des Heilands sollte unter der Leitung des Heil. Geistes stehen. Deshalb vollzog sich ihre eigentliche Stiftung bei seiner wunder­ baren Ausgießung' durch seine Einkehr in der ersten Jünger­ schar. Wir staunen über die außerordentliche Wirkung, welche mit seiner Spendung verbunden war. Er erfüllte nicht nur die Jünger mit einer vorher nicht gekannten Glaubens-Gewißheit und Begeisterung, daß sie in Zungen die großen Thaten Gottes priesen, sondern er verlieh auch dem Petrus eine solche Gewalt und Macht der Predigt, daß er dreitausend Seelen durch die­ selbe zum seligmachenden Glauben an den Heiland bekehrte. Indem diese durch die heilige Taufe der ersten Jüngerschar hinzugethan wurden, ward die erste Christengemeinde ge­ gründet. n. Wähnet jedoch nicht, liebe Christen, daß die Stiftung der christlichen Kirche damit vollendet gewesen sei, daß ihr der Heiland den Heil. Geist zum Leiter übergab. Da die Kirche als sichtbare Gemeinschaft auf Erden bestehen sollte, so bedurfte sie auch einer äußeren Verfassung. Fragen wir nun, worin diese bestand! Ihr hauptsächlichstes Stück waren die ©nabenmittel, die ihr Stifter seiner Kirche hinterließ und an welche der Heil. Geist seine Wirksamkeit anknüpfte, ja ver­ mittelst welcher er sie ausübte. Ihr kennt diese Gnadenmittel. Es ist das Wort Gottes, die göttliche Offenbarung, das Evangelium Jesu Christi, und die vom Heiland selbst eingesetzten zwei Sakramente, die heilige Taufe und das heilige Abendmahl. Das sind die Mittel, durch welche die Men­ schenseelen wiedergeboren, bekehrt und geheiligt werden, weil sich die Einwirkung des Heil. Geistes mit denselben bei ihrem Gebrauch verbindet. Das Wort Gottes wird gelehrt und ge­ predigt. Es ist die Kunde von dem Ratschluß, den Gott zur Erlösung der sündigen Menschen oder zur Herstellung seines Reiches gefaßt und ausgeführt hat: die große Heils- und Freu­ denbotschaft. Wo sie verkündigt wird, da ist allemal und jeder-

333 zeit der Heil. Geist mit seiner verborgenen Einwirkung auf die Seelen dabei. Wer nicht Ohr und Herz dieser Heilsverkün­ digung entzieht und verschließt, der erfährt diese heilbringende Einwirkung. Vergegenwärtige dir doch, lieber Christ, was du von ihr unter der Verkündigung des Evangeliums erfahren hast. Durch dieselbe wurdest du zuerst berufen oder eingeladen zum Eingang in das Reich Gottes, wurdest innerlich angeregt zur Bekehrung. Durch dieselbe wurdest du sodann erleuchtet zum Verständnis des Evangeliums und seiner Anforderung an dich. Durch dieselbe wlirdest du ferner erneuert in der Buße, in der Reue über deine Sünde und in dem Glauben an den Sünderheiland. Durch dieselbe wirst du endlich geheiligt, allmählich von der anklebenden Sünde gereinigt und von Stufe zu Stufe in das Ebenbild deines Heilands verklärt. Siehe, das ist das Bekehrungswerk, das der Heil. Geist an deiner Seele vollbringt durch das Gnadenmittel des Gotteswortes. Es ist dabei gleich, ob dir das Gotteswort mündlich ver­ kündigt wird, oder ob du es liesest. Der Heiland hat dafür gesorgt, daß sein Evangelium dem Menschengeschlecht nicht wie­ der verloren gehe. Er hat es aufschreiben lassen durch seine ersten Jünger, durch seine Apostel und deren Schüler. So hatte Gott auch schon seine vorläufige und vorbereitende Offenbarung im Alten Bunde durch die Propheten und prophetischen Männer aufzeichnen lassen. Wie deren Schriften zum Alten Testa­ ment gesammelt wurden, so geschah auch die Sammlung der apostolischen Schriften zum Neuen Testa­ ment. Und beide Testamente liegen uns vor als die Heil. Schrift oder die B i b e l, das Buch der Bücher. Was haben wir von diesem Vibclbuch zu halten? Was sagt es selbst von sich aus? Sein Zeugnis lautet: alle Schrift, von Gott ein­ gegeben, ist nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit (2. Tim. 3, 16). Gilt dies auch zunächst vom Alten Testament, welches damals erst allein vorhanden war, so unterliegt es doch keinem Zweifel, daß wir diese Aussage auch auf das Neue Testament beziehen dürfen. Was will sie aber besagen? Daß die Schriften der Bibel unter dem Beistand, unter der Einwirkung, unter der Erleuchtung

334 des Hell. Geistes verfaßt sind, und deshalb diesen Geist atmen. Wie die heiligen Männer, die Gott zu Werkzeugen seiner Offenbarnng erwählte, geredet haben, getrieben vom Heil. Geist, so haben sie auch geschrieben, erfüllt und erleuchtet vom Heil. Geiste. Wr haben es ja bereits erkannt: der Hell. Geist war in der ersten Zeit des Neuen Bundes mächtiger wirksam, wie während des Alten Bundes. Aus diesem Umstand dürfen wir schließen, daß das Neue Testament hinsichtlich seiner Durch­ drungenheit vom Hell. Geiste dem Alten Testament gewiß nicht nachsteht. Wie nun die Offenbarung des göttlichen Heilsrat­ schlusses und seine Ausführung allmählich erfolgt ist, so ist auch das Buch, welches die Geschichte dieser Ausführung und Offenbarung berichtet, allmählich im Laufe von sechzehn Jahrhunderten entstanden, und viele Schrei­ ber haben ihre Beiträge dazu geliefert. Wie wunderbar ist es doch, daß es vom Anfang bis zum Ende nicht nur von dem­ selben Geist durchweht ist, sondern auch in seinen Berichten über die Offenbarung in voller Uebereinstimmung steht. Die Heilige Schrift ist die zuverlässige, ja die unfehlbare Urkunde dessen, was Gott über seinen Erlösungsratschluß geoffenbart hat. Sie enthält das Wort Gottes, das Wort, welches Gott im Alten Bunde durch seine Propheten und im Neuen Bunde durch seinen Mensch gewordenen Sohn und durch dessen Apostel zu den Menschen geredet hat. Dies sein Wort oder seine Offenbarung hat Gott der Kirche schriftlich gegeben, damit sie daran allezeit die sichere Erkenntnisquelle des Christen­ tums, der christlichen Heilslehre habe. Hat sich die Kirche auch je zuweilen im Laufe ihrer Geschichte in die seelengefährlichsten Irrtümer verirrt, so hat sie sich doch auch wieder an dem ge­ schriebenen Gottesworte zurecht gefunden, und sich durch das­ selbe in immer klareres und tieferes Verständnis des Evan­ geliums leiten lassen. Ja, an der Kirche hat trotz der Ver­ irrungen, in welche sie zu Zeiten geraten ist, der gnädige Heiland doch seine Verheißung erfüllt, daß der Heilige Geist sie in alle Wahrheit leiten solle. Er hat sie im Laufe ihrer neunzehn­ hundertjährigen Geschichte zu einer immer gründlicheren Auf­ fassung der göttlichen Heilsoffenbarung geführt, und das hat

335 er ganz besonders in der Reformation des sechzehnten Jahr­ hunderts gethan. Was sie aber bis jetzt an solchem Verständnis errungen hat, das hat sie in ihren Bekenntnisschriften aus­ gesprochen und niedergelegt. An dieses evangelisch-kirchliche Glaubensbekenntnis wollen wir uns halten. Es wird uns ein zuverlässiger Führer sein bei der Erforschung der göttlichen Offenbarung und ihrer Urkunde, der Heiligen Schrift. Liebe Christen, wir haben das Wort Gottes eines der Gnadenmittel genannt, welche der Heiland seiner Kirche gegeben hat. Das andere Gnadenmittel ist das Sakrament, und das ist ein zweifaches: die heilige Taufe und das heilige Abend­ mahl. Was ist ein Sakrament? Nach unserer evangelischen Auffassung, in der wir uns mit dem Worte Gottes in Ueber­ einstimmung wissen, ist es eine göttliche Handlung, welche sich aus drei Bestandteilen zusammensetzt. Die drei Stücke, die zu einem Sakrament gehören, sind: erstlich ein äußerliches Zeichen oder ein irdischer Stoff, sodann ein Gotteswort oder ein Stiftungs- und Verheißungswort des Herrn Jesus, das bei dem Vollzug der sakramcntlichen Handlung vom Diener der Kirche über den irdischen Stoff gesprochen wird; und wo dies in stiftungsgemäßer Weise und in ernster Absicht geschieht, da ist als das dritte Stück ein unsichtbares Gnaden- und Heilsgut vorhanden, das demjenigen zu geistlichem Gewinn und Segen zu teil wird, der das Sakrament im bußfertigen Glauben empfängt.

Saget selbst, haben wir es nicht so bei der heiligen Taufe und bei dem heiligen Abendmahl? Bei der Taufe haben wir als sichtbares Zeichen oder irdischen Stoff das Wasser, als Gotteswort die euch wohlbekannten Einsetzungsworte unseres Heilands, und als das darin enthaltene Gnadengut nach der Aussage des Stiftungswortes die Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott, oder nach der sonstigen Aussage des Gotteswortes die W i e d e r - oder N e u g e b u r t. Bei dem Abendmahl haben wir als sichtbares Zeichen oder irdischen Stoff Brot und Wein, als Gotteswort den euch wohlbekannten Ein­ setzungsausspruch unseres Heilands, und als das darin ent-

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haltens Gnadengut nach der Versicherung des Stifters seinen Leib und Blut. In der Taufe wird der Mensch wiedergeboren, ein neues geistliches Leben, ein neuer Mensch wird in ihn hineingepflanzt, während der alte Mensch, die sündige Natur, die natürliche Sündenneigung den Todesstoß empfängt. Wie anschaulich schildert doch das Wort Gottes diese wunderbare Wirkung des Taufsacraments, wenn es sagt: wisset ihr nicht, daß alle, die wir in Jesum Christum getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? so sind wir ja mit ihm be­ graben durch die Taufe in den Tod, auf daß gleichwie Christus ist auferwecket von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, also sollen auch wir in einem neuen Leben wandeln (Röm. 6, 3—4). Diese Neugeburt geschieht durch die Wirkung des Heil. Geistes, welche der Stifter des Sakraments an dieses gebunden hat. Er hat diese Neugeburt zur Bedingung der. Bürgerschaft im Reiche Gottes gemacht, als er dem Nikodemus erklärte: es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen! Und er hat sie an die Taufe ge­ knüpft, als er fortfuhr: es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen! (Joh. 3, 3. 5). Darum erklärt er auch die Taufe als notwendig zur Seligkeit, indem er spricht: wer da glaubet und getauft wird, der wird selig werden! (Mk. 16,16). Wie stimmt doch sein Apostel darin mit ihm überein, wenn er schreibt: nach seiner Barmherzigkeit machte er uns selig durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung des Heil. Geistes! (Tit. 3, 5). Da siehest du, lieber Christ, welch hohe Bedeutung der heiligen Taufe zukommt. O, danke dem Herrn dafür, daß du ein getaufter Christ bist. Erkenne dich aber auch ver­ pflichtet, nunmehr als wiedergeborener Mensch in Gesinnung, Wort und That dich zu erweisen. In der heiligen Taufe hat der Heilige Geist sein Bekehrungswerk an dir begonnen. Du bist aber auch bei Empfang dieses Sakraments einen Bund mit dem dreieinigen Gott eingegangen, den er dir in seiner Gnade angeboten hat. Wie er dir bei dieser feierlichen Bundes­ schließung versprochen hat, daß er dir hinfort ein liebevoller Vater, ein gnädiger Erlöser, ein heiligender Tröster sein wolle,

337 so hast du dich ihm zu treuem Kindesgehorsam verpflichtet. Dessen wollest du allezeit eingedenk sein und bleiben. Wie durch das Taufsakrament der neue Mensch in uns er­ zeugt wird, so wird er durch das heilige Abendmahl genährt und gestärkt. Seht, liebe Christen, die geistliche Ge­ burt gleicht darin der leiblichen, daß der neue Mensch ein Kind ist, das sorgfältig gepflegt werden, das wachsen und sich ent­ wickeln muß. Zur Ernährung des neuen Menschen in uns dient aber neben dem Worte Gottes wesentlich auch das zweite Sakrament. Darum heißt es mit Recht die Speise des neuen Menschen, und darum ist es nur da für getaufte Menschen. Beide Sakramente sind göttliche Geheimnisse, und das Abendmahl gilt in der Kirche als ein besonders tiefes Ge­ heimnis. Wenn der Heiland, wie er erklärt, den Abendmahls­ gästen seinen Leib und sein Blut unter den Zeichen des Brotes und Weines spenden will, so kann das selbstverständlich nur seine in der Auferstehung angenommene verklärte Leiblichkeit sein. Ist es aber seine Leiblichkeit, die er ihnen mitteilt, so folgt daraus, daß uns das heilige Abendmahl in eine noch genauere Verbindung und engere Gemeinschaft mit unserem Heiland hineinzieht, als es der Glaube thut. Der Glaube ver­ mittelt die Gemeinschaft unseres Geistes mit ihm, d a s h e i l i g e UbendmnhlbringtunsauchinleiblicheVerbindungmit ihm. Und daß diese geistig-leibliche Gemeinschaft mit dem Herrn Jesus eine noch engere und genauere ist, als die bloß geistige, das sollte uns nicht zweifelhaft sein. Wie heilskräftig muß aber solche Gemeinschaft mit dem Erlöser sein! Welche Stärkung muß sie dem neuen Menschen in uns zuführen! Wahrlich, das Sakrament des Leibes und Blutes Jesu Christi ist ein ganz besonderes Heiligungsmittel. Gebrauchst du es als solches, lieber Christ, dann wird es dir als die Haupt­ sache erscheinen, daß uns der Heiland in demselben speist und tränkt mit seinem Leib und Blut, und als nebensächlich wirst du die Frage ansehen, wie er das thut. Daß er es thut, das versichert uns das Wort Gottes ausdrücklich. Nicht nur der Stifter erklärt es bestimmt in den Einsehungsworten, sondern auch sein Apostel bestätigt es in seiner Frage: der gesegnete Schnabel, Predigte».

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338 Kelch, welchen wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi; das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Ge­ meinschaft des Leibes Christi? Wie er es thut, darüber giebt uns das Wort Gottes keinen ausdrücklichen Aufschluß. Darum sollen uns auch die verschiedenen Vorstellungen, die darüber unter den evangelischen Christen vorhanden sind, nicht als kirchentrennend erscheinen, und sollen uns nicht von der gemein­ samen Feier dieses Sakramentes abhalten. Danken wir unserem Helland, daß er uns würdigt, durch den Empfang seiner ver­ klärten Leiblichkeit in die innigste Gemeinschaft mit ihm zu treten, und sorgen wir dafür, daß wir die himmlische Gabe würdig und zu geistlichem Gewinn und Segen, nicht aber etwa zum Gericht empfangen. Wollt ihr wissen, worin die rechte Würdigkeit besteht, so gedenket des Katechismusausspruchs: der ist recht würdig und wohl geschickt, der den Glauben hat an diese Worte: „für euch gegeben und vergossen zur Ver­ gebung der Sünden". Merke wohl, lieber Christ, es ist der bußfertige Glaube an den Heiland, der dich würdig macht zur Abendmahlsfeier, der dir dieselbe zur Speisung des neuen Men­ schen in dir gedeihen läßt. Das sind die Gnadenmittel, welche der Heiland seiner Ge­ meinde gegeben und bis hierher erhalten hat. Aber diese Gnadenmittel müssen verwaltet, das Wort Gottes muß gepredigt und gelehrt, die Sakramente müssen gespendet und dargereicht werden. Damü dies in geordneter Weise geschehe, — denn unser Gott ist ein Gott der Ordnung (1. Kor. 14, 33) — ist ein ordentlicher Dienst erforderlich, ein kirchliches oder geistliches Amt. Das hat unser Heiland wohl ge­ wußt, und deshalb hat er seiner Gemeinde ein solches Amt ein­ geordnet oder eingestiftet: das Gnadenmittelamt. So nennen wir es mü Fug und Recht, wollen aber diesen Namen nicht verwechselt haben mit der falschen Bezeichnung, welche diesem Amte von einer Seite beigelegt wird, indem man es als Mittleramt darstellt. Nein, das ist es nicht und kann es nicht sein. Wir haben ja nur einen Mittler, wie das Wort ausdrücklich bekennt, wenn es sagt: es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch

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Christus Jesus (1. Tim. 2, 5). Außer ihm giebt es keinen Mittler im Neuen Bunde, und es bedarf auch keines weiteren Mittlers. Darum sind die Verwalter des Gnadenmittelamtes keine Mittler, keine eigentlichen Priester. Das Priestertum hat in dem Hohepriestertum des Erlösers seine Vollendung und Erfüllung und damit sein Ende gefunden. Da durch das Mittlertum dieses Hohepriesters für alle seine rechten Jünger der Zugang zu Gottes Gnadenthron gebahnt und geöffnet ist, und diese nun alle mit Gott in unmittelbarem Umgang und Verkehr stehen, so kann man wohl von einem allgemeinen Priestertum aller Christen, nämlich aller gläubigen und bekehr­ ten Christen reden. Dem Gnadenmittelamt bleibt nur die Auf­

gabe, die Gnadenmittel zu verwalten, das Wort Gottes zu ver­ kündigen und die Sakramente zu spenden. Es ist keine Frage, liebe Christen, daß das geistliche oder kirchliche Amt ein von Gott gewolltes und vom Heiland selbst gestiftetes ist. Das erklärt das Wort Gottes mit aller Bestimmtheit, wenn der Apostel schreibt: das alles von Gott, der uns mit ihm selber versöhnt hat durch Jesum Christum, und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt (2. Kor. 5,18). Ja, das spricht der Heiland selbst aus in den Worten, die er an seine Apostel richtet: gleichwie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch! Das spricht er aus, indem er sie bevollmächtigt und durch Mitteilung einer besonderen Gabe des Heil. Geistes auch befähigt, gleich ihm Absolution, Sündenvergebung zu erteilen (Joh. 20, 21—23). Dazu giebt er seinen Aposteln noch die Versicherung: Wer euch höret, der höret mich, und wer euch verachtet, der ver­ achtet mich! (Luk. 10, 16). Saget selbst, liebe Christen: geht nicht aus diesen Erklä­ rungen deutlich hervor, daß das kirchliche Amt vom Herrn der Kirche selbst gestiftet ist? Es geht aber auch das daraus hervor, daß es von Anfang an ein einheitlicher Dienst, ein einheitliches Amt war. Aus diesem einheitlichen Amte wuchsen aber in der Folge, wie das Bedürfnis es forderte, mehrere Aemter hervor. Das ursprünglich einheitliche Amt teilte sich mit der Zeit in mehrere Aemter. So entstand das Pres22*

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byter- oder Bischofsamt, das der Einzelgemeinde vor­ zustehen, die ordnungsmäßige Verwaltung der Gnadenmittel und die Seelsorge in der Einzelgemeinde zu üben hatte, wes­ halb sich mit ihm das Hirten- und Lehreramt verband (1. Tim. 3, 2; 5, 17). Es entstand ferner das Diakonenamt, dem die Armen- und Krankenpflege in der Gemeinde zufiel (Apg. 6; 1. Tim. 3, 8 ff.). Endlich entstand das Evan­ gelistenamt, das die Anwerbung neuer Mitglieder der Ge­ meinde durch die Mission zu betreiben hatte (Apg. 8; 13). Diese Aemter bildeten sich unter Anleitung und Vermittlung des apostolischen Amtes. Und welches war der diesem zu­ stehende Beruf? Ihm gehörte vor allem die Regierung der Gesamtkirche, und es führte sie neben seiner ihm vom Heiland aufgetragenen Verpflichtung zur Ausbreitung der Kirche und damit des Reiches Gottes auf Erden. Das waren die stän­ digen Aemter in der ersten Christenheit, in der Urkirche. Sie zählt der Apostel auf, wenn er schreibt: er (nämlich: der aufgefahren ist über alle Himmel, auf daß er alles erfüllete) hat etliche gesetzt zu Aposteln, etliche zu Propheten, etliche zu Hirten und Lehrern, etliche zu Evangelisten (Eph. 4, 11). Liebe Christen, ich habe gesagt: das kirchliche Amt war notwendig zur Verwaltung der Gnadenmittel. Die Gnaden­ mittel aber sind gegeben zur Bekehrung der Einzelnen und zur Erbauung der Gemeinde. Seht, das ist denn auch der Zweck des Amtes oder der Aemter in der Kirche. So meint es der Apostel, wenn er erklärt, der Heiland habe die Aemter dazu eingeführt, daß die Christen dadurch in der Gottseligkeit ge­ fördert, und die Gemeinde, der Leib Christi, erbauet werde, bis wir alle hinankommen zu einerlei Glauben und Erkenntnis des Sohnes Gottes und ein vollkommener Mann werden, der da ist in dem Maße des vollkommenen Alters Christi (Eph. 4, 13). Was folgt hieraus? Solange das Ziel noch nicht erreicht ist, solange bedarf auch die Kirche des geistlichen Amtes. Und ich kann mir nicht anders denken, als daß es in der erwähnten Gliederung fortbestehen wird: als Presbyter- oder Hirten- und Lehreramt, als Diakonenamt und als E v a n g e l i st e n a m t. Mr haben es ja auch in der That

341 so in der Kirche der Gegenwart, und die Kirche hat es in der Vergangenheit auch so gehabt. Das Hirtenamt ist vertreten im Pfarramt in Verbindung mit dem Presbyterium oder Kirchenvorstand. Das Diakonenamt wird versehen durch die Armen- und Krankenpfleger und Pflegerinnen. Und das Evan­ gelistenamt vollziehen die Arbeiter in der Inneren und Aeußeren Mission. Wie aber steht es mit dem Apostelamt? Daß das längst eingegangen ist in der Kirche, das ist euch bekannt. Wenn die Katholiken behaupten, es setze sich fort in ihrem Bischofsamt und ihre Bischöfe seien die Erben der apostolischen Würde und Begabung, so ist das eine unbegründete, irrige Be­ hauptung. Und nichts anderes ist es, wenn die sogenannte „apostolische Gemeinde" zu unserer Zeit behauptet, sie hätte wieder Apostel, wie die Urkirche. Das Apostelamt ist ein­ gegangen. Daß das des Heilands Wille war, ist unzweifelhaft. Er hat es aus uns unbekannten Gründen eingehen lassen. Aber ob es seiner ursprünglichen Absicht entspricht, daß es ein­ gegangen ist? Das ist eine andere Frage, die ich verneinen möchte. Ich bin der Ueberzeugung, daß es ursprünglich die Absicht des Heilands war, das apostolische Amt in seiner Kirche fortbestehen zu lassen, und daß das Eingehen desselben nur eine zeitweilige Unterbrechung dieser Absicht gewesen ist, die seiner Zeit wieder aufhören wird. Das wird jedoch in anderer Weise geschehen, als wie es sich die sogenannten Jrvingianer denken. Jedenfalls steht fest, daß der Zwölfapostolat vor allem für das zwölfstämmige Volk Israel bestimmt war, und so hat er denn auch mit der Verstockung dieses Volkes und dem über dasselbe ergehenden Gottesgericht sein Ende erreicht. Aber ich sehe, daß der Herr seiner Kirche einen außerordentlichen drei­ zehnten Apostel gegeben hat in Paulus. Dürfen wir nicht aus dieser merkwürdigen Thatsache den Schluß ziehen, daß es die gnädige Absicht des Heilands war, seiner Kirche je nach Be­ dürfnis eine außerordentliche apostolische Persönlichkeit zu schenken? Ich wage diese Schlußfolgerung, und bin der ge­ trosten Zuversicht, daß der Heiland diese seine Absicht zu seiner Zeit wieder ins Leben treten lasten und der Kirche wieder einen und den anderen Paulus geben wird. Haben wir nicht seine

342 Verheißung: siehe, ich sende zu euch Propheten und Weise und Schriftgelehrte (Mtth. 23, 34)? Haben wir nicht die Weis­ sagung des Offenbarungsbuches von den zwei Zeugen, welche in der Endzeit auftreten werden? (Offb. 11). Ja, liebe Christen, laßt uns auf eine große Gnadenheimsuchung unseres Heilands für seine Gemeinde auf Erden hoffen, durch welche sie aus ihrem gegenwärtigen jammervollen Verfall und aus ihrer verzwei­ felten Lage erlöst, und in den Stand gesetzt wird, das zu sein und zu leisten, was sie nach ihres Hauptes Wille sein und leisten soll. Amen.

28.

Tert: Äpg. 2, 42—47; 4, 32—35. „Sie blieben aber beständig in der Apostel Lehre und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. Es kam auch alle Seelen Furcht an; und geschahen viel Wunder und Zeichen durch die Apostel. Alle aber, die gläubig waren ge­ worden, waren bei einander, und hielten alle Dinge gemein. Ihre Güter und Habe verkauften sie und teilten sie aus unter alle, nach dem jedermann not war. Und sie waren täglich und stets bei einander einmütig im Tempel und brachen das Brot hin und her in den Häusern, nahmen die Speise und lobten Gott mit Freuden und einfältigem Herzen und hatten Gnade bei dem ganzen Volk. Der Herr aber that hinzu täglich, die da selig wurden, zu der Gemeinde. — Die Menge aber der Gläubigen war ein Herz und eine Seele; auch keiner sagte von seinen Gütern, daß sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemein. Und mit großer Kraft gaben die Apostel Zeugnis von der Auferstehung des Herrn Jesus, und war große Gnade bei ihnen allen. Es war auch keiner unter ihnen, der Mangel hatte, denn wie viele ihrer waren, die da Aecker oder Häuser hatten, verkauften dieselben und brachten das Geld des ver­ kauften Guts und legten es zu der Apostel Füßen; und man gab einem jeglichen, was ihm not war." In dein Herrn geliebte Christengemeinde! In dem eben

342 Verheißung: siehe, ich sende zu euch Propheten und Weise und Schriftgelehrte (Mtth. 23, 34)? Haben wir nicht die Weis­ sagung des Offenbarungsbuches von den zwei Zeugen, welche in der Endzeit auftreten werden? (Offb. 11). Ja, liebe Christen, laßt uns auf eine große Gnadenheimsuchung unseres Heilands für seine Gemeinde auf Erden hoffen, durch welche sie aus ihrem gegenwärtigen jammervollen Verfall und aus ihrer verzwei­ felten Lage erlöst, und in den Stand gesetzt wird, das zu sein und zu leisten, was sie nach ihres Hauptes Wille sein und leisten soll. Amen.

28.

Tert: Äpg. 2, 42—47; 4, 32—35. „Sie blieben aber beständig in der Apostel Lehre und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. Es kam auch alle Seelen Furcht an; und geschahen viel Wunder und Zeichen durch die Apostel. Alle aber, die gläubig waren ge­ worden, waren bei einander, und hielten alle Dinge gemein. Ihre Güter und Habe verkauften sie und teilten sie aus unter alle, nach dem jedermann not war. Und sie waren täglich und stets bei einander einmütig im Tempel und brachen das Brot hin und her in den Häusern, nahmen die Speise und lobten Gott mit Freuden und einfältigem Herzen und hatten Gnade bei dem ganzen Volk. Der Herr aber that hinzu täglich, die da selig wurden, zu der Gemeinde. — Die Menge aber der Gläubigen war ein Herz und eine Seele; auch keiner sagte von seinen Gütern, daß sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemein. Und mit großer Kraft gaben die Apostel Zeugnis von der Auferstehung des Herrn Jesus, und war große Gnade bei ihnen allen. Es war auch keiner unter ihnen, der Mangel hatte, denn wie viele ihrer waren, die da Aecker oder Häuser hatten, verkauften dieselben und brachten das Geld des ver­ kauften Guts und legten es zu der Apostel Füßen; und man gab einem jeglichen, was ihm not war." In dein Herrn geliebte Christengemeinde! In dem eben

343 verlesenen Schriftabschnitt wird uns ein Bild der ersten christ­ lichen Gemeinde oder Kirche vor Augen gestellt und dies Bild ist so herrlich, daß es unsere höchste Aufmerksamkeit und Be­ wunderung erregt. Unser Text berichtet zuerst von den Glie­ dern der jerusalemitischen Christengemeinde: „sie blieben beständig in der Apostel Lehre." Ihr Glaube hielt das fest, was die Apostel lehrten. Das ist ein Beweis dafür, daß die Apostel bei ihnen in dem Ansehen standen, welches ihnen ihr Meister damit eingeräumt hatte, daß er zu ihnen sprach: wer euch höret, der höret mich! Ihre Lehre galt den Gemeindeangehörigen für das rechte, wahre Evangelium des Heilands. Weiter berichtet unser Text: „und in der Ge­ meinschaft und im Brotbrechen und im Gebet." Ihr gemeinsamer Christusglaube verband sie aufs engste mit einander und sie pflegten ihr Christentum durch gemeinsame Liebesmahle und Abendmahlsfeier und gemeinsames Beten, das ist durch den gemeinsamen Gottesdienst. Diesen Gottes­ dienst beschreibt unser Text weiter in den Worten: „ sie toaren täglich und stets bei einander im Tempel und brachen das Brot hin und her in den Häusern, und nahmen die Speise und lobten Gott mit FreudenundeinfältigemHerzen." Von der innigen Verbindung jener Christen unter einander sagt unser Text: „die Menge der Gläubigen war ein Herz und eine Seele." Wahrlich, ein staunenswertes Zeugnis! So kann nur der christliche Glaube die Menschen mit einander verbinden. Wie weit aber die gegenseitige Liebe jener ersten Jesusjünger ging, das offenbarte sich in ihrer beispiellosen Wohlthätigkeit, welche sie unter einander übten. Diese Wohl­ thätigkeit ging so weit, daß eine gewisse Gütergemeinschaft in der Christengemeinde zu Jerusalem eintrat. Doch wohl ge­ merkt: es war keine gesetzlich erzwungene und auch keine streng durchgeführte, sondern eine ganz freiwillige und auch nur teil­ weise durchgeführte. Von ihr erzählt unser Text: „alle, die gläubig geworden waren, waren bei einander und hielten alle Dinge gemein; ihre Güter und Habe verkauften sie und teilten sie aus unter

344 alle, nach dem jedermann not war," und: „auch keiner sagte von seinen Gütern, daß sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemein, . . . es war auch Keiner unter ihnen, der Mangel hatte,dennwievieleihrerwaren,diedaAecker und Häuser hatten, verkauften dieselben und brachten das Geld des verkauften Gutes und legten es zu der Apostel Füßen und man gab einem jeden, was ihm not war." Hier wird uns ein klarer Einblick in die Art dieser Gütergemeinschaft eröffnet. Die Liebe drängte die Besitzenden dazu, sich ihres Besitzes frei­ willig durch Verkauf zu entäußern, das erlöste Geld in die von den Aposteln verwaltete Gemeindearmenkasse zu legen, damit aus diesen Mitteln unterstützungsbedürftige Gemeinde­ mitglieder unterstützt würden. Wie ganz freiwillig diese Entäußerung geschah, und daß sie keineswegs allgemein war, das ersehen wir aus der erschütternden Geschichte des Ananias und der Saphira, welchen Eheleuten der Apostel Petrus bestimmt vorhielt: Ananias, warum hat der Satan dein Herz erfüllt, daß du dem Heil. Geist lögest und entwendetest etwas von dem Gelde des Ackers? hättest du ihn doch wohl mögen behalten, da du ihn hattest; und da er verkauft war, war cs auch in deiner Gewalt. Hieraus ist ersichtlich, wie unbe­ rechtigt es ist, die gesetzliche Einführung einer allgemeinen Gütergemeinschaft auf das Vorbild der ältesten Christengemeinde gründen zu wollen. Noch bezeugt unser Text von dieser Ge­ meinde: „mit großer Kraft gaben die Apostel Zeugnis von der Auferstehung des Herrn Jesus", und: „es geschahen viel Wunder und ZeichendurchdieApostel." Aus dieser gewaltigen Pre­ digtweise und Wunderwirksamkeit der Apostel ist es denn auch zu erklären, wenn unser Text sowohl berichten kann: „ es kam auch allen Seelen Furcht an," als auch: „sie hatten Gnade bei dem ganzen Volk, und der Herr that hinzu täglich, die da selig wurden, zu der Ge­ meinde." Die hochgehende Flut des geistlichen Lebens er­ regte beides: Furcht unter den Gemeindegliedern und Wohl-

345 Wollen gegen die Gemeinde bei den Juden. So hatte der Heiland seiner Kirche einen friedlichen und erfreulichen Anfang in dieser Welt bereitet. Leider wird es sich uns zeigen, daß sich ihr Fortgang ganz anders gestaltet hat, und zwar innerlich und äußerlich. Ehe wir jedoch auf die Weiterentwicklung der Kirche blicken, müssen wir sie ihrem Wesen nach erst noch näher kennen lernen. Daß sich in ihr das Reich Gottes im Neuen Bunde äußerlich darstellt, das habe ich bereits verschiedentlich betont. Wenn wir diesen Gesichtspunkt festhalten, dann eröffnet sich uns ein tiefer Einblick in das Wesen der Kirche. Daraus folgt doch unwidersprechlich, daß die Kirche ein an­ gemessenes Abbild und eine würdige Erschei­ nungsform des Himmelreichs auf Erden sein muß. Ihre Gestalt muß dem Wesen des Gottesreiches, so­ weit dies in der gegenwärtigen Weltzeit nur irgend möglich ist, entsprechen. Sie muß so in die Erscheinung treten, daß man an ihr das Reich Gottes zu erkennen vermag. Zwar ist sie noch nicht das Gottesreich in seiner Vollendung. Das kann sie noch nicht sein, denn dasselbe hat eine geschichtliche Entwicklung und eben in der Kirche tritt diese zu Tage. Aber irgendwie muß die Kirche ihrem Urbild doch ähnlich sein. So sollte es sich auch schon mit dem Gottesstaat des Alten Bundes verhalten. Auch dieser sollte bereits ein Abbild des Gottesreiches sein. Wie sehr er jedoch hinter seinem Musterbilde zurückgeblieben ist, und wie es ihm nur vorübergehend gelungen ist, das an­ nähernd darzustellen, was er nach Gottes Absicht sein sollte, das haben wir seiner Zeit erkannt. Im weiteren Verlaufe dieser Predigten wird es uns klar werden, ob die Kirche des Neuen Bundes es besser vermocht hat, dasjenige Abbild des Himmelreichs zu sein, welches sie nach der Absicht ihres Stifters sein sollte. In wiefern nun die Kirche mit dem Reiche Gottes Aehnlichkeit haben soll, das werden wir erkennen, wenn wir die Eigenschaften erwägen, welche von Anfang ihres Be­ standes an als ihre wesentlichen Merkmale angesehen und als solche auch in ihre ältesten Bekenntnisschriften ausgenommen worden sind mit den Worten: ich glaube eine, heilige,

346 allgemeine, apostolische Kirche. nach jetzt über

Reden wir dem­

Die Eigenschaften der Kirche Jesu Christi,

welche sein soll

1. dieeine und

2. die allgemeine. I. Sehen wir uns doch, liebe Christen, diese Eigenschaften genauer an! Die Kirche Jesu Christi soll die eine und darum auch die allgemeine sein. Es soll also nicht verschiedene Kirchen auf Erden geben. Wie es nur ein Christentum giebt, so soll auch nur eine Kirche bestehen, die dasselbe in der Welt bekennt und vertritt, und zu welcher alle die gehören, die das eine Christentum zu ihrer Religion an­ nehmen und durch die heilige Taufe in die Kirchengemeinschaft Aufnahme gefunden haben. Mir ist, als vernähme ich den Einwurf: wohl giebt es nur ein Christentum, aber es ftitb verschiedene Auffassungen desselben möglich und auch wirklich vorhanden, und darum sind auch verschiedene Kirchen oder kirch­ liche Gemeinschaften berechtigt, wie sie sich auch wirklich ge­ bildet haben und bestehen. Ich kann diesen Einwurf und die Folgerung, die daraus gezogen wird, nicht als richtig an­ erkennen. Wenn verschiedene Auffassungen des Christentums möglich und berechtigt wären, dann wäre dasselbe undeutlich und vieldeutig, und das wäre unvereinbar damit, daß es eine göttliche Offenbarung ist. Auch widerspricht diese Annahme ganz und gar den Behauptungen, welche das Wort Gottes aufstellt. Höret doch auf das, toa§- der Apostel Paulus sagt! Er schreibt an die Christen in Galatien: mich wundert, daß ihr euch so bald umwenden lasset von dem, der euch berufen hat in die Gnade Christi, auf ein ander Evangelium, so doch kein anderes ist, außer daß etliche sind, die euch verwirren und wollen das Evangelium Christi verkehren; aber so auch wir oder ein Engel vom Himmel euch würde Evangelium predigen anders, denn das wir euch gepredigt haben, der sei verflucht; wie wir jetzt gesagt haben, so sagen wir auch abermal: so jemand euch Evangelium predigt anders, denn das ihr

347 empfangen habt, der sei verflucht! (Gal. 1, 6—9). Mit dieser unzweideutigen Erklärung ist doch wahrlich der Behauptung, daß verschiedene Auffassungen des Christentums zulässig seien, aller Boden entzogen. Die Meinung des Gotteswortes geht vielmehr dahin, daß wie es nur einerlei Gnadenmittel giebt, so auch nur eine Auffassung des Christentums berechtigt sei. Lesen wir doch: ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater, der da ist über euch allen, und durch euch alle und in euch allen (Eph. 4, 5—6). Und darauf gründet der Apostel seine Mahnung an die Christen: seid fleißig zu halten die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens, ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid auf einerlei Hoffnung eueres Berufs! (Eph. 4, 3—4). Achtet auch auf den Fortschritt in der Erörterung des Apostels! Wie es nur einerlei Gnadenmittel giebt, so auch nur einen Heil. Geist, der in der Kirche seine Wirksamkeit enfaltet und dieselbe regiert. Darum muß auch die Kirche ein Leib sein. Wir begegnen demselben Gedanken auch an anderen Stellen des Neuen Testaments. Wir lesen: also sind wir viele ein Leib in Christo (Röm. 12, 5), und: gleichwie ein Leib ist und hat doch viele Glieder, alle Glieder aber eines Leibes, wiewohl ihrer viele sind, sind sie doch ein Leib, also auch Christus, denn wir sind durch einen Geist zu einem Leibe getauft (1. Kor. 12, 12—13). Merket wohl, liebe Christen, die Kirche soll ein Leib sein, an welchem der erhöhete Heiland das Haupt und seine Jünger, die Christen die Glieder sind. Ein Leib ist aber etwas Aeußerliches, das in die Erscheinung tritt. Die Kirche soll auch äußerlich eine Einheit bilden, ein Kirchenkörper sein. So hat es offenbar auch unser Heiland im Sinne, wenn er in seinem hohepriesterlichen Gebet für seine Jünger fleht: ich bitte nicht allein für sie, sondern auch für die, so durch ihr Wort an mich glauben werden, auf das sie alle eins seien, gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir, daß auch sie in uns eins seien, auf daß die Welt glaube, du habest mich gesandt; und ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, daß sie e i n s seien, gleichwie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, auf daß sie vollkommen seien in eins, und die Welt er-

348 kenne, daß du mich gesandt hast (Joh. 17, 20—23). Aeußere Einheit, die sich auf innere Glaubenseinigkeit gründet, verlangt der Heiland, verlangen seine Apostel von der Kirche. Wie wichtig dem Heiland die äußere Einheit ist, das ersehen wir daraus, daß gerade durch sie die Menschheit zur seligmachen­ den Erkenntnis seiner Person und seines Werkes erweckt wer­ den soll. Ich sage, liebe Christen: die Kirche soll die eine sein, eine innere und äußere Einheit. Nun sehet aber, was im Laufe ihrer Geschichte aus ihr geworden ist: das Gegenteil von dem, was sie sein sollte. Im Punkte der Einheit ist sie ihrem Urbilde, dem Reiche Gottes und der Urgemeinde, wie unser Text sie uns vor Augen stellt, so unähnlich wie möglich geworden. Sie ist innerlich und äußerlich uneins. Aeußerlich ist sie zerrissen und zersplittert in eine Menge von kirchlichen Gemeinschaften. Und diese äußere Zer­ spaltung rührt von innerer Uneinigkeit her, von Uneinigkeit in der Auffassung des Christentums und seiner Heilswahrheiten. Wahrlich, wenn man diesen Zerfall der Kirche gewahrt, so fühlt man sich zu der Frage veranlaßt: wer und was trägt daran die Schuld? Liegt es denn an einer Unklarheit oder Unverständlichkeit des Evangeliums? Wir weisen diesen Ge­ danken weit ab. Es ist ja ganz undenkbar, daß Gott nicht deutlich und verständlich genug in seiner Offenbarung und deren schriftlicher Beurkundung durch seine Gesandten sollte geredet haben. Nein, die Schuld an der Uneinigkeit der Christen liegt ganz auf ihrer Seite. Sie allein tragen die Schuld an der Zersplitterung der Kirche. Sie haben sich dem Worte Gottes in der Heil. Schrift nicht untergeordnet, haben sich von demselben nicht belehren lassen, siehabenesmitihrereigenenWeisheitmeistern wollen und dadurch sind sie in die mannig­ fachsten Mißverständnisse desselben geraten. Ja, sie sind noch weiter gegangen. SiehabendasEvangelium mit Wissen und Willen mißdeutet und verdreht, um sich dadurch irdische, weltliche Vorteile zu erringen. Um ihre Herrschsucht zu befrie-

349 digen haben die Bischöfe in Rom sich zu Päpsten erhoben, die sich anmaßen, die irdischen Stellvertreter des Herrn Jesus in der Regierung der Welt zu sein. Sie gründen diese ihre An­ maßung auf die Mißdeutung und Verdrehung des Ausspruchs des Heilands: du bist Petrus und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde (Mtth. 16, 18). Der Heiland nennt den Simon einen Felsen um des Glaubensbekenntnisses willen, das er eben abgelegt hatte in den Worten: du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohnl und fügt die Erklärung hinzu: auf diesen Felsen, das ist: auf den Felsengrund dieses Glaubens­ bekenntnisses will ich meine Gemeinde bauen. Die Päpste aber deuten: der Herr Jesus will die Kirche auf die Person des Simon Petrus bauen, den er damit zum Apostelfürsten und zu seinem Stellvertreter auf Erden einsetzt. Und nun ziehen sie den Schluß: dessen Nachfolger sind wir, die Päpste. So nehmen sie dem Heiland die Ehre, die ihm allein gebührt, und legen sie sich bei. Um ihr Herrschergelüste zur Ausführung zu bringen, haben sie die christliche Religion dem Sinn des natürlichen Menschen anbequemt, haben sie aus einer Religion des Geistes und der Freiheit zu einer Religion des Gesetzes gemacht, haben die Religion des rechten Glaubens in eine Re­ ligion des Aberglaubens verkehrt. Die Anbetung des drei­ einigen Gottes genügte ihnen nicht, mit ihr muß die Anrufung der Heiligen und die Verehrung ihrer Bilder und Reliquien verbunden sein. Der blutige Opfertod des Heilands soll nicht hinreichend sein zur Entsündigung der Menschen, er muß vom Priester am Altar in unblutiger Weise beständig wiederholt werden. Der bußfertige Glaube an den Sünderheiland allein soll uns nicht die Sündenvergebung und Rechtfertigung ver­ schaffen können, die verdienstliche Werkgerechtigkeit des Men­ schen muß ihn vervollständigen. So war das wahre Christen­ tum während der Papstherrschaft im Mittelalter nahezu ver­ loren gegangen. Da erbarmte sich der Heiland seiner Christen­ heit und schickte ihr die Reformation, die der Kirche das echte Christentum zurückgab. Aber nur ein Teil der Christenheit nahm die Reformation an, während die größere Abteilung sie verwarf und deren Anhänger aus der Kirchengemeinschaft

350 ausschloß und verfolgte. So konnte es nicht ausbleiben, daß zu der bereits vorhandenen Spaltung der Kirche in eine morgen« und abendländische Abteilung eine neue Spaltung hinzukam, die Lostrennung einer evangelischen Christenheit von der päpst­ lichen Kirchengemeinschaft. Es handelte sich um die Rettung des Christentums. Um dieses zu retten, mußte die noch vor­ handene Einheit der Kirche zerbrochen werden. Das Christen­ tum ist doch noch wichtiger, als die kirchliche Einheit. Nun wisset ihr aber, liebe Christen, daß es derjenige Teil der Christenheit, welcher die Reformation annahm, ebenfalls zu keiner kirchlichen Einheit gebracht hat. Die Reformation wurde zwar von Männern vollzogen, welche eine besondere Er­ leuchtung des Heil. Geistes zum Verständnis des Evangeliums an sich erfahren hatten, aber sie waren doch keine Apostel. Sie konnten deshalb keine unfehlbare Auslegung des geschriebenen Gotteswortes geben. Und wenn sie auch in der Hauptsache einig waren, so gelangten sie doch in manchen Punkten zu ab­ weichenden Deutungen des Wortes Gottes und darum zu ver­ schiedenen Darlegungen des Glaubens in ihren Bekenntnis­ schriften. Daraus gingen verschiedene reformatorische Kirchen­ gemeinschaften hervor. Und diese Zertrennung hat sich in der evangelischen Christenheit in der Folge fortgesetzt, und es hat sich im Laufe der Zeit eine Menge von Secten oder kleineren Kirchengemeinschaften gebildet. Und damit nicht genug, daß die äußere Zersplitterung so außerordentlich überhand ge­ nommen hat, so leiden auch diese einzelnen Kirchengemein­ schaften und insbesondere die eigentlichen evangelischen Volks­ und Landeskirchen an einer hochgesteigerten inneren Uneinig­ keit. Das geschieht infolge der mannigfaltigen Richtungen in der Gottesgelehrsamkeit, die in denselben fortwährend auf­ tauchen und sich unter einander bekämpfen. Und wenn es einmal in diesen Landeskirchen einer Glaubensrichtung gelingt, sich wenigstens annähernd die allgemeine Geltung zu erringen, so ist es immer noch die Frage, ob es auch die rechte Glaubens­ richtung ist, die mit dem Worte Gottes und dem reforma­ torischen Bekenntnis übereinstimmt. Gab es doch eine Zeit in der Geschichte der evangelischen Kirche, wo ein allgemeiner Abfall

351 vom Glauben der Väter eingerissen war und ein sogenannter Vernunftglaube von fast allen evangelischen Kanzeln gepredigt ward. Wir haben die erste und wichtigste Ursache des Verlustes der Kircheneinheit darin gefunden, daß sich die Christen nicht unter die göttliche Offenbarung, unter das Wort Gottes beug­ ten, sondern es nach ihrem Gutdünken deuten und meistern wollten. Ich muß euch aber, liebe Christen, noch auf eine andere Ursache der Kirchenspaltung Hinweisen. Einen verhäng­ nisvollen Schritt zu ihrer Zersplitterung that die Kirche auch damit, daß sie sich in enge Verbindung mit dem weltlichen Staat setzte und zur Staatskirche wurde. Das hatte zur notwendigen Folge, daß sie sich in verschiedene Staatskirchen auflöste. Es ist euch bekannt, liebe Christen, daß die Kirche in diese enge Verbindung mit dem Staate damals eintrat, als der römische Kaiser Constantin den christlichen Glauben annahm, und nicht nur das Christentum zur Staatsreligion erklärte, sondern auch die Leitung der Kirche und ihrer Angelegenheiten in seine Hand nahm. Das war ein in vieler Beziehung einflußreiches Ereignis. Wir können es weder verurteilen, noch gut heißen. Die Kirche ist damit in eine ganz neue Stellung auf Erden eingetreten. Bis dahin hatte sie dem Staate selbständig und frei gegenüber gestanden. Von da an geriet sie in Abhängigkeit vom Staate, wurde seine Dienerin. Bis dahin war sie ein von der unchristlichen Welt ganz und durchaus geschiedener religiöser Verein. Von da an drang die Welt in sie ein und sie selbst verweltlichte je mehr und mehr. Nun ist die Entstehung der Staats- oder Volks­ kirchen allerdings zunächst ein menschliches Machwerk, aber der göttliche Stifter, das himmlische Haupt der Kirche hat diese Verknüpfung seiner Kirche mit dem Staate und die Entstehung der Staats- und Volkskirchen zugelassen. Und wer wollte ver­ kennen, daß auch hieraus der Menschheit reicher Segen er­ wachsen ist. Die Menschenwelt, soweit sie sich in die Kirche hat aufnehmen lassen, verdankt ihre Gesittung und Bildung dem Einfluß des Christentums. Diese verchristlichte Menschheit steht in religiöser und sittlicher, wie auch in Hinsicht auf Kunst

352 und Wissenschaft hoch erhaben da über den nichtchristlichen Völkern. Aber ich meine: die Kirche hat sich doch eine für sie allzuschwere, ja unlösbare Aufgabe gestellt, indem sie ganze Völker innerlich zu bekehren gedachte. Die Welt ist Herrin über sie geworden, und ihre Einheit hat sie eingebüßt. Ja, mehr als das: sie ist ihrem ursprünglichen Wesen und Charakter, wonach sie eine einheitliche Gemeinschaft der Heiligen sein sollte, untreu geworden und hat ihr höchstes Ziel und ihre vornehmste Aufgabe, nach welcher sie ein treues Abbild und eine angemessene Erscheinung des Reiches Gottes sein sollte, aus den Augen verloren. Darum muß sie umkehren zu ihrer ursprünglichen Gestalt. Das Zeichen zu dieser Um­ kehr wird ihr seiner Zeit von ihrem göttlichen Oberhaupte ge­ geben werden. Laßt uns, liebe Christen, acht geben auf die Zeichen der Zeit! II. DieKircheistnichtmehrdieeine;deshalb ist sie auch nicht die allgemeine. Zwar behauptet eine Abtellung der Kirche, daß sie die allgemeine oder katholische, die allein wahre und die allein seligmachende sei. Aber das ist eine ganz unberechtigte Anmaßung, die ihr, der in Aberglauben und Verweltlichung versunkenen Kirchengemeinschaft, am wenigsten zusteht. Sie, die sich vom Widerchristischen Papsttum regieren und zu weltlichen Zwecken, zur Erlangung und Aus­ übung der Weltherrschaft mißbrauchen läßt, verdient kaum noch den Namen einer Kirche Jesu Christi. Ihre wichtigste Aufgabe wäre die, daß sie sich vom Papsttum los macht. Dadurch allein kann sie ihren Charakter als Kirche retten. Unsere evangelischen Kirchengemeinschaften haben nie den Anspruch auf den Namen der allgemeinen Kirche erhoben; sie sehen sich nur als Abteilungen der Kirche an. Aber leider lassen sie zwei Dinge allzu leichten Mutes außer acht. Sie beherzigen nicht genug, daß die Kirche Jesu Christi eine einzige und allgemeine sein soll und daß sie das nicht ist. Darüber müßte ernste Trauer in den Herzen der evangelischen, ja aller wahren Christen sein. Und nicht allein Trauer über das Fehlen dieser Eigenschaften, sondern ernstes Wünschen und Streben nach Herstellung derselben sollte unsere Seelen erfüllen. Es

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ist allerdings richtig: Menschen können diese Herstellung nicht vollbringen. Das muß der Herr, unser Heiland, selbst thun. Versuche zur Herstellung einer Vereinigung einzelner Kirchen­ abteilungen sind schon zu verschiedenen Zeiten gemacht worden. Aber man kann nicht sagen, daß sie besonders gut gelungen seien. Oft haben sie sogar zu größerer Zersplitterung geführt. Dennoch darf das Streben nach Einheit unter uns nicht er­ löschen, und es muß sich vor allem in dem Gebet äußern, daß der Heiland die Einheit seiner Kirche herstelle. Wir dürfen nicht daran zweifeln, daß er das zu seiner Zeit thun wird. Das wird aber damit verbunden sein, daß die Kirche auch in ihrem äußeren Bestand eine ganz neue Gestalt gewinnt. Keine ihrer gegenwärtigen Gestalten wird ihre Endgestalt sein. Weder das römische Papsttum, noch das russische Kaiserkirchenregiment, noch auch das evangelische landesherrliche Bischoftum wird die Wiederkunft des Heilands erleben. Alle diese Kirchengestaltungen werden verschwinden, und die Gemeinde Jesu Christi wird sich dar stellen als die eine Herde unterdemeinenHirten (Joh. 10, 16). Liebe Christen, können wir auch dieses Endziel der Kirche nicht herbeiführen, so dürfen wir seinem Werden doch nicht entgegen stehen und seiner Anbahnung nicht entgegen arbeiten. Es giebt auch eine übertriebene Engherzigkeit in Wahrung des Glaubensbekennt­ nisses, und es geziemt uns, dieselbe dem Streben nach kirchlicher Einigung zu opfern, überall da, wo sie das Maß des Wortes Gottes überschreitet. So geschieht es wirklich in einzelnen Punkten der christlichen Lehre. Ich erinnere hier nur an den einen, den wir bereits in einer früheren Predigt erwähnt haben, der die Frage betrifft: wie teilt uns der verklärte Heiland seinen Leib und Blut im Abendmahl mit, und wie empfangen wir diese Gaben? So bestimmt das Wort Gottes uns sagt, daß wir dieselben empfangen, so wenig Aufschluß giebt es uns über jene Fragen. Das sei uns ein Wink, daß wir sie nicht in eigenwilliger Weise zu einem Trennungsgrund erheben. Nehmen wir doch recht ernstlich zu Herzen die Mah­ nung: seid fleißig zu halten die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens: ein Leib und ein Geist! (Eph. 4, 3—4). Schnabel, Predigten.

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Thun wir das unsrige, daß die Kirche zu ihrem Urbild zurück­ kehre und dasselbe verwirkliche, von dem unser Text berichtet: „sie waren ein Herz und eine Seele." Wenn ihr fraget: wer hatte diese innere und äußere Einheit in der Ur­ kirche zu stände gebracht?, so weist uns die unserem Texte un­ mittelbar vorausgehende Predigt des Apostels Petrus auf die Ursache hin, indem sie denjenigen, welche sich taufen lassen wollten, verheißt: ihr werdet empfangen die Gabe des Heil. Geistes! (Apg. 2, 88). Seiner Wirksamkeit, die in der ersten Kirchenzeit eine ganz außerordentliche und höchst wunderbare war, verdankte die Urkirche ihre Einigkeit und Einheit. Und das sollt ihr wissen: nur die Wiederkehr dieser besonderen Wirkungsweise des Heil. Geistes kann es ermöglichen, daß die Kirche wieder zu ihrer ursprünglichen Einigkeit und Einheit gelangt. Um diese laßt uns beten, wenn uns die Wieder­ herstellung der einen und allgemeinen Kirche wirklich am Herzen liegt! Wir wollen nicht daran zweifeln, liebe Christen, daß unser Gebet Erhörung finden und die eine und allgemeine Kirche herbeiführen helfen wird. Ob sie aber in dem Sinne die all­ gemeine werden wird, daß alle Völker der Erde zu christlichen Völkern umgewandelt werden, wie dies bei den jetzigen so­ genannten christlichen Völkern der Fall ist? Ueber diese Frage giebt uns das Wort Gottes keinen bestimmten Aufschluß. Unser Heiland giebt allerdings seinen Jüngern den ausdrücklichen Befehl: machet alle Völker zu meinen Jüngern! (Mtth. 28,19). Aber dies ist ohne Zweifel so zu verstehen, daß wir in Ge­ danken hinzufügen: soweit sie sich hierzu machen lassen wollen. Und daß dazu keineswegs alle Glieder der Völker bereit sind, das lehrt die Erfahrung. Wir müssen also wohl dem Missions­ befehl unseres Heilands die Einschränkung geben, welche er selbst ihm gegeben hat, als er sprach: es wird gepredigt werden das Evangelium vom Reiche Gottes in der ganzen Welt zu einem Zeugnis über alle Völker (Mtth. 24, 14). Nach diesem Ausspruch bleibt es fraglich, wie weit die Völker dies Zeugnis annehmen werden. Ebenso verhält es sich mit der Missions­ weissagung, welche uns der Apostel Paulus hinterlassen hat

355 in den Worten: Blindheit ist Israel zum Teil widerfahren, solange bis die Fülle der Heiden eingegangen sei (Röm. 11,25). Ist die Fülle der Heiden die Gesamtzahl aller Erden­ völker, oder ist sie nur die von Gott bestimmte Auslese aus der Menschheit? Das ist ein Geheimnis des göttlichen Ratschlusses. Ich neige mich der Ansicht zu, daß die Fülle der Heiden die von Gott getroffene Auswahl aus den Völkern sein wird. Wenn ihr mich nach dem Grunde dieser meiner Ansicht fragt, so muß ich euch darauf Hinweisen, daß die Verchristlichung ganzer Völker und die Gründung von Volkskirchen, welche in der Geschichte der Kirche seither vorgekommen ist, doch vielfach auf Anwendung von Gewalt und Zwang beruht. Dies Ver­ fahren ist aber durchaus verwerflich, es ist auch in der Missions­ thätigkeit als unchristlich erkannt und ganz und gar aufgegeben. Darum liegt es nahe, zu vermuten, daß künftig nicht mehr ganze Völker sich dem Christentum zuwenden und in die Kirche eintreten, sondern daß sich nur Einzelne für den Christus­ glauben und zur Bürgerschaft im Reiche Gottes werden ge­ winnen lassen. Trotzdem aber wird die Kirche die allgemeine werden, denn sie wird sich über die ganze Menschenwelt er­ strecken und die Angehörigen aller Erdenvölker, welche sich be­ kehrt haben, in sich fassen. Ob sie dann als die allgemeine Kirche groß und zahl­ reich sein wird? Das ist zwar eine Frage, die sich uns, liebe Christen, die wir eine innige Teilnahme an dem Geschick der Kirche hegen, aufdrängt. Aber auch über diese Frage finden wir im Worte Gottes keinen Aufschluß. Es ist doch im Grunde eine Frage der Neugierde, und solche Fragen werden in der göttlichen Offenbarung nicht berücksichtigt. Als die Jünger einst ihren Meister fragten: meinst du, daß wenige selig werden?, gab er ihnen darauf keine Antwort, sondern ermahnte sie, darnach zu trachten, daß sie selbst selig werden (Luk. 13, 23—24). Bei einer anderen Gelegenheit bezeichnet er seine Gemeinde als eine kleine Herde, indem er zu ihr spricht: fürchte dich nicht, du kleine Herde, denn es ist eueres Vaters Wohl­ gefallen, euch das Reich zu geben (Luk. 12, 32). Läßt nicht dieser Ausspruch, der sich doch offenbar auf die Gemeinde der 23*

356 Endzeit bezieht, darauf schließen, daß diese im Verhältnis zur Menschenwelt in der Minderheit sein werde? Wie dem aber auch sei, sie wird den Sieg behalten, denn mit ihr richtet der wieder­ kommende Heiland das vollendete Gottesreich auf, und ihre Mitglieder sind die Reichsbürger. Allerdings wird er ihre Zahl vermehren durch diejenigen, welche im Laufe der ganzen Kirchenzeit in ihm gelebt haben und in ihm gestorben sind und nun bei seiner Wiederkunft zur ersten Auferstehung gelangen. Das ist die große Schar, welche der Seher im Himmel schaut und welche niemand zählen konnte (Offb. 7, 9). — O, daß wir einst zu der einen und allgemeinen Gemeinde Jesu Christi ge­ rechnet würden, welcher schließlich das Reich Gottes beschieden ist, das er ihr bereitet hat von Anbeginn der Welt! Amen.

29. Tert: Cph. 5, 25—27. „Gleichwie Christus auch geliebt hat die Gemeinde und hat sich selbst für sie gegeben, auf daß er sie heiligte; und hat sie gereinigt durch das Wasserbad im Wort, auf daß er sie ihm selbst darstellete eine Gemeinde, die herrlich sei, die nicht habe einen Flecken oder Runzel, oder des etwas, sondem daß sie heilig sei und unsträflich." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Die Kirche Jesu Christi hat von Anfang ihres Bestehens an das Bewußtsein gehabt, daß sie eine einheitliche und allgemeine Religionsgemein­ schaft sein solle. Daneben aber hat sie auch das Bewußtsein gehabt, daß sie eine heilige Gemeinschaft sein solle. Dieses Bewußtsein hat sie in ihrem ältesten Glaubensbekenntnis ausgesprochen in den Worten: ich glaube eine heilige christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen. Sie hat dies gethan auf Grund der Aussprüche, welche sowohl der Heiland, als auch seine vom Heil. Geist erleuchteten ersten Jünger abgelegt haben, deren einen wir in unserem Texte vor

356 Endzeit bezieht, darauf schließen, daß diese im Verhältnis zur Menschenwelt in der Minderheit sein werde? Wie dem aber auch sei, sie wird den Sieg behalten, denn mit ihr richtet der wieder­ kommende Heiland das vollendete Gottesreich auf, und ihre Mitglieder sind die Reichsbürger. Allerdings wird er ihre Zahl vermehren durch diejenigen, welche im Laufe der ganzen Kirchenzeit in ihm gelebt haben und in ihm gestorben sind und nun bei seiner Wiederkunft zur ersten Auferstehung gelangen. Das ist die große Schar, welche der Seher im Himmel schaut und welche niemand zählen konnte (Offb. 7, 9). — O, daß wir einst zu der einen und allgemeinen Gemeinde Jesu Christi ge­ rechnet würden, welcher schließlich das Reich Gottes beschieden ist, das er ihr bereitet hat von Anbeginn der Welt! Amen.

29. Tert: Cph. 5, 25—27. „Gleichwie Christus auch geliebt hat die Gemeinde und hat sich selbst für sie gegeben, auf daß er sie heiligte; und hat sie gereinigt durch das Wasserbad im Wort, auf daß er sie ihm selbst darstellete eine Gemeinde, die herrlich sei, die nicht habe einen Flecken oder Runzel, oder des etwas, sondem daß sie heilig sei und unsträflich." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Die Kirche Jesu Christi hat von Anfang ihres Bestehens an das Bewußtsein gehabt, daß sie eine einheitliche und allgemeine Religionsgemein­ schaft sein solle. Daneben aber hat sie auch das Bewußtsein gehabt, daß sie eine heilige Gemeinschaft sein solle. Dieses Bewußtsein hat sie in ihrem ältesten Glaubensbekenntnis ausgesprochen in den Worten: ich glaube eine heilige christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen. Sie hat dies gethan auf Grund der Aussprüche, welche sowohl der Heiland, als auch seine vom Heil. Geist erleuchteten ersten Jünger abgelegt haben, deren einen wir in unserem Texte vor

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uns haben. Was aber der Kirche von Anfang an gegolten hat, das gilt ihr für alle Zeit ihres Bestandes. Sie sollte ein ein­ heitlicher Verein sein und bleiben. Wie sehr sich das im Laufe ihrer Geschichte geändert hat, das hat uns die vorige Predigt gezeigt. Zugleich jedoch hat sie uns darauf hingewiesen, daß sie wieder zu ihrer ursprünglichen Einheit zurückkehren müsse, wenn sie ihre Zwecke erreichen wolle. Dasselbe gilt auch von derjenigen Eigenschaft der Kirche, über welche wir nunmehr reden wollen, von der Heiligkeit. Sie hat im Anfang der Kirche bestanden, besteht aber seit langer Zeit nicht mehr. Sie muß indessen wieder werden, wenn die Kirche ihres Namens als einer „Gemeinschaft der Heiligen" sich würdig er­ weisen soll. Das geht deutlich hervor aus dem, was unser Text sagt: daß der Herr Jesus seine Gemeinde geheiligt habe schon durch die Taufe, damit sie sei eine herrliche Gemeinde ohne Flecken oder Runzel, oderson st etwas,wodurchihresittlichc Schöne beeinträchtigt würde, damit sie sei hei­ lig und unsträflich. Laßt uns weiter darüber sprechen, indem wir auf Grund unseres Textes behandeln:

Die Eigenschaften der Kirche Jes« Christi, welche sein soll: die heilige, und laßt uns erwägen:

1. die Heiligkeit der einzelnen Gemeinde glieder, und 2. die Heiligkeit der Gemeinde im ganzen.

I. Wenn das Glaubensbekenntnis zu dem Ausspruch: i ch glaube eine heiligeKirche hinzufügt: die Gemein­ schaft der Heiligen, was will es damit sagen? Es soll damit gewiß nicht behauptet sein, daß die Kirche zu ihren Mit­ gliedern nur solche Menschen haben dürfe, welche vollständig von der Sünde befreit und ganz in das göttliche Ebenbild verklärt sind. Das wäre die vollendete Heiligkeit, das Ziel der Heiligung, des Heiligungsstrebens und der Heiligungsarbeit. Zwar werden die Mitglieder der Christengemeinden von den

858 Aposteln in ihren Briefen als die „Heiligen" angeredet. Erinnert euch nur an die Mahnung: so ziehet nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herz­ liches Erbarmen u. s. w. (Kol. 3,12). Wollten die Apostel mit dieser Benennung sagen, die Christen seien vollendete Heilige, dann wären ihre fortwährenden Mahnungen zur Ablegung der Sünden und Aneignung der Tugenden nicht am Platze. Voll­ kommene Heilige brauchen nicht ermahnt zu werden, wie der heilige Paulus die Christen zu Ephesus ermahnt: Hurerei und alle Unreinigkeit oder Geiz lasset nicht von euch gesagt werden, wie den Heiligen zusteht, auch nicht schandbare Worte oder Narrenteidinge oder Scherz, welche euch nicht ziemen! (Eph. 5, 3—4). Aber irgendwie muß doch der Name, welcher den Christen beigelegt wird, auf sie passen; irgendwie müssen sic ihn doch verdienen. Inwiefern ist das der Fall? Das er­ sehen wir, liebe Christen, daraus, daß sie aufgefordert werden: so bestehet nun in der Freiheit, damit uns Christus be­ freiet hat! (Gal. 5, 1). Welche Freiheit hat uns denn der Heiland gebracht? Das mag uns das Wort Gottes und unsere eigene Erfahrung lehren. Es ist vor allem die Befreiung von der Sünden­ schuld, denn an ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut, nämlich die Vergebung der Sünden (Eph. 1, 7)': die Recht­ fertigung oder Gerechterklärung, die Verleihung der Gerechtig­ keit, die vor Gott gilt, welche die Sünder erlangen durch den bußfertigen Glauben an den Versöhner, der um unserer Sünde willen gestorben und um unserer Gerechtigkeit willen auferwecket ist (Röm. 4, 25). Wer aber von seiner Sündenschuld befreit und von Gott für gerecht erklärt ist, der darf heilig genannt werden, denn von ihm gilt: so ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind (Röm. 8, 1), und sie dürfen rühmen: wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der da gerecht macht; wer will verdammen? Christus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr der auch auf­ erwecket ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns (Röm. 8, 33—34). — Zum anderen verdienen die Christen die Bezeichnung „Heilige", weil sie durch den Heiland Befreiung

859 erlangt haben von der Sündenknechtschaft, denn er hat sie durch den Heil. Geist zu neuen Menschen gemacht (Tit.3,5; Jak. 1,18), zu geistlich wiedergeborenen Menschen, die ermahnt werden: so leget nun ab von euch nach dem vorigen Wandel den alten Menschen, der durch Lüste in Irrtum sich verderbet; erneuert euch aber im Geiste eueres Gemütes und ziehet den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit! (Eph. 4, 22—24). — Sind sie in Christo neue Kreaturen (2. Kor. 5,17),so befolgen sie nun auch im Leben und Wandel diese Mahnung und beweisen dadurch, daß sie auch Befreiung gefunden haben vom Sündendienst. Sie bestreben sich gesinnt zu sein, wie ihr Heiland auch war (Phil. 2, 5); sie wandeln im Geiste und nicht mehr im Fleische (Gal. 5, 16); sie kreuzigen ihr Fleisch samt den Lüsten und Begierden (Gal. 5, 24); kurz, sie ringen nach der Heiligung, ohne welchen niemand den Herrn sehen wird (1. Tim. 4, 3; Hebr. 12, 14). Und weil sie der Heiligung ihres Sinnes und Wandels nachjagen, so verdienen sie Heilige zu heißen. Es steht demnach, liebe Christen, mit der Heiligkeit der Christen so, wie es St. Paulus, der doch ohne Zweifel dem ernstesten Heiligungsstreben ergeben war, von sich sagt: nicht, daß ich es schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich es auch ergreifen möchte, nachdem ich von Jesu Christo ergriffen bin; ich schätze mich selbst nicht, daß ich es schon ergriffen habe; eins aber sage ich: ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich zu dem, das da vorne ist; und jage nach dem vorgesteckten Ziele, nach dem Kleinod, welches mir vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo Jesu (Phil. 3,12—14). Wir, gläubigen Christen, sind von unserem Heiland ergriffen. Das sind wir schon durch die heilige Taufe, die wir in unserer Kindheit empfingen. Da aber leider viele von uns in der Taufgnade nicht geblieben, sondern durch Hin­ gebung in den Sündendienst aus derselben gefallen sind, so danken wir ihm, daß er uns teils früher, teils später zur Buße erweckt und zur Bekehrung bewogen hat. Und nun, nachdem dies geschehen ist, machen wir es, wie der Apostel Paulus, und streben darnach, die sittliche Vollkommenheit zu erlangen und

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dem Ebenbild des Heilands gleich zu werden. Das thun wir jedoch nicht in eigener Kraft, sondern unter dem Beistand des Heil. Geistes, den der Heiland den Menschen erworben und ge­ schenkt hat. So sind wir es eigentlich nicht, die sich heiligen, sondern der Heil. Geist ist es, der das Heiligungswerk an uns vollbringt. Er erfüllt uns mit dem Eifer und der Kraft zur Heiligung unserer Gesinnung und unseres Wandels. Darum werden wir wohl gemahnt: jaget nach der Heiligung!, als ob wir selbst sie vollbringen müßten. Aber daneben heißt es auch in Gottes Wort: der Gott des Friedens heilige euch durch und durch! (1. Thess. 5, 23). Wie steht es also mit dem Christenleben? Es ist eine fort­ laufende Heiligungsarbeit, die aber während der irdischen Lebenszeit nicht zum Ziele führt. Muß dieser Gedanke nicht lähmend auf unser Heiligungsstreben wirken? So fragt ihr, liebe Christen. Ich antworte: nein!, denn wir haben die Ver­ heißung, die der heilige Paulus in den Worten ausspricht: ich bin des in guter Zuversicht, daß der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird es auch vollführen bis an den Tag Jesu Christi (Phil. 1, 6). Hier ist kein anderes Werk gemeint, als unsere Bekehrung und Heiligung. Das wird also zu stände kommen, und bei der Wiederkunft Jesu Christi vollendet sein. Nun werdet ihr aber weiter forschen: wie, wo und wann wird unsere sittliche Vollendung geschehen? Auf diese Fragen giebt uns jedoch das Wort Gottes keinen genaueren Aufschluß, und was darüber gesagt wird, das sind menschliche Vermutungen. Zwei Ansichten sind es, welche sich da entgegenstehen. Manche sind der Meinung, der Vorgang des Sterbens bringe die sittliche Vollendung bei denjenigen Menschen zu stände, welche während ihres Erdenlebens zur Bekehrung gekommen sind. Sie folgern: wie durch dm natür­ lichen Vorgang der Zeugung und Geburt die Sünde in unseren Naturgrund eindringt und von dort aus unser Personleben, unseren Willen erobert, so wird sie in denjenigen, bereit Wille durch die Taufe und den Bußglauben wiedergeboren und er­ neuert und von der Sündenknechtschaft befreit ist, durch den natürlichm Vorgang des leiblichen Todes, der unsere sündige

361 Naturseite aufhebt, vollständig vernichtet und beseitigt. Andere sind der Ansicht, die beim Tode noch unvollendete Heiligung könne nicht mit einem Schlage vollführt werden, sie bedürfe vielmehr einer allmählichen Weiterentwicklung im jenseitigen Dasein; sie werde jedoch in diesem viel raschere Fortschritte machen, weil durch den Tod die bekehrten Seelen ihres Leibes, der Welt und des Teufels enthoben seien, die doch eine stete Quelle des Sünden­ reizes für sie waren. Die Vertreter dieser Ansicht verwahren sich indessen sehr gegen den Vorwurf, daß sie mit ihrer Ansicht der päpstlichen Lehre vom Fegfeuer das Wort redeten. Sie ent­ gegnen: die Behauptung der päpstlichen Kirche, daß die sitt­ liche Reinigung durch ein stoffliches materielles Feuer bewirkt werde, entbehrt alles Verständnisses für geistige und sittliche Vorgänge; dazu kommt, daß es der päpstlichen Kirche bei dieser Lehre nicht sowohl auf die sittliche Reinigung der Seelen, als vielmehr auf die nachträgliche Abbüßung der noch unvergebenen Sünden und versäumten kirchlichen Bußübungen ankommt; und obendrein will sie diese jenseitige peinliche Abbüßung durch ihre Seelenmessen und Ablässe abkürzen. Doch geben sie zu, daß diese Irrlehre einen Wahrheitskern enthalte, der festgehalten werden müsse. Wie wollen wir uns zu diesen Meinungen stellen? Da das Wort Gottes sich weder für die eine, noch für die andere ausspricht, so lassen auch wir die Sache unent­ schieden, nehmen aber die Mahnung des göttlichen Wortes zu Herzen: schaffet, daß ihr selig werdet mit Furcht und Zittern (Phil. 2, 12) und bleiben eingedenk des Ausspruchs unseres Heilands: selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen! (Mtth. 5, 8). Ich komme zu einem Einwurf, der sich hier erheben konnte. Man sagt wohl: wenn du behauptest, die sittliche Vollkommen­ heit werde von den Bekehrten im Erdenleben nicht erreicht, dann gerätst du dadurch in Widerspruch mit dem Apostel Johannes, der doch mit klaren Worten bezeugt: ihr wisset, daß er (der Heiland) erschienen ist, damit er unsere Sünden wegnehme, und ist keine Sünde in ihm; wer in ihm bleibet, der sündiget nicht; wer da sündiget, der hat ihn nicht gesehen noch erkannt; . . . wer aus Gott geboren ist, der thut nicht Sünde, denn

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sein Same bleibt bei ihm und kann nicht sündigen, denn er ist von Gott geboren (1. Joh. 3, 5. 6. 9); ... wir wissen, daß wer von Gott geboren ist, der sündiget nicht, sondern wer von Gott geboren ist, der bewahret sich, und der Arge wird ihn nicht antasten (1. Joh. 5 18). Während wir also in Gottes Wort auf der einen Seite zu einem fortwährenden Streben nach und Wachsen in der Heiligung ermahnt werden, so scheint es, als ob uns hier eine bereits erreichte Sündlosigkeit in unserer Erdenpilgerschaft zugemutet würde. Doch kann uns in dieser Annahme wieder irre machen die Entdeckung, daß derselbe Apostel, der dieses schreibt, in demselben Briefe die Christen wieder anders beurteilt, wenn er sagt: so wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht in uns (1. Joh. 1, 8), und: meine Kindlein, solches schreibe ich euch, auf daß ihr nicht sündiget; und ob jemand sündiget, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus (1. Joh. 2, 1), und: meine Lieben, wir sind nun Gottes Kinder, und es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden; wir wissen aber, wann es erscheinen wird, daß wir ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist; und ein jeglicher, der solche Hoffnung hat zu ihm, der reiniget sich, gleichwie er rein ist (1. Joh. 3, 2—3). Finden wir den Apostel Johannes in diesen Aussprüchen nicht in voller Uebereinstimmung mit dem, was uns Gottes Wort vorher ge­ sagt hat? Es muß aber die Heil. Schrift aus und durch sich selbst erklärt werden. Und so kommen wir denn zu dem Schluß, daß das Wort Gottes den diesseitigen Christenstand nicht als einen Zustand sittlicher Vollkommenheit ansieht, sondern als einen Zustand des Strebens nach derselben. Indessen, so werdet ihr denken, liebe Christen, müssen doch die zuerst angeführten Aussprüche des heiligen Johannes eine Bedeutung haben. Und außerdem bleiben auch die Forderungen bestehen: ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist (Müh. 6, 48), und: nach dem, der euch berufen hat und heilig ist, seid auch ihr heilig in allem euerem Wandel, denn es steht geschrieben: ihr sollt heilig sein, denn ich bin

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heilig! (1. Petr. 1,15—16). Daraus laßt uns einen doppelten Schluß ziehen, liebe Christen: erstlich den, daß wir es mit unserer Besserung nicht leicht nehmen und in unserem Heiligungs­ streben nicht ermatten dürfen, und ferner den, daß es doch noch während des gegenwärtigen Weltalters irgendwie zu einer vollkommenen Heiligkeit der Christen in diesem Erdenleben kommen werde. Wir dürfen in unserer Heiligungsarbeit nicht lässig sein. Das ist ja der letzte Zweck des Erlösungswerks, daß die Sünde ganz von uns abgethan und das göttliche Ebenbild in uns wiederhergestellt werde. Der hat das Christentum nur halb verstanden, der da meint, es bringe uns nur Vergebung unserer Sünden oder Rechtfertigung. Nein, es will solche Leute aus uns machen, die nicht nur um ihres Bußglaubens willen für gerecht erklärt sind, nur eine zugerechnete Gerechtigkeit besitzen, sondern die auch wirklich gerecht und heilig gemacht sind, eine eigene Gerechtigkeit und Heiligkeit erlangt haben. Dazu kann es aber bei dem bekehrten Christen nur allmählich kommen, auf dem langsamen Weg der Heiligung. Die Heiligung läßt sich nicht mit einem Schlag erringen, wie die Rechtfertigung. Für gerecht erklärt wird der Bußfertige und Gläubige von Gott mit einem Male. Bist du nun gerechtfertigt, lieber Christ, dann mußt du dein ganzes ferneres Leben der Heiligung widmen.' Du bist aber schon mit der Gerechtigkeit deines Heilands bekleidet worden in der heiligen Taufe, und durch dasselbe Sakrament bist du auch innerlich zu einem neuen Menschen wiedergeboren worden, ein neuer Mensch ist in dir ge­ pflanzt worden. Fortan stehst du in einem Kampf, der dein ganzes Erdenleben durchzieht. Das ist der Heiligungs ­ kampf. Der neue Mensch in dir steht im Kampf mit den: alten Menschen in dir. Jener will und soll in dir die Oberhand gewinnen und dieser will seine vorherige Herrschaft nicht auf­ geben. Mit anderen Worten: Geist und Fleisch, die dir an­ geborene Neigung zum Bösen und die dir eingepflanzte Liebe zum Guten ringen miteinander um den Sieg. Diesem Kampf kann sich kein Christ entziehen. Wenn nun dein Christentum rechter Art ist und dein geistliches Leben regelrecht verläuft,

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dann mutz der neue Mensch in btr in stetem Wachstum, in beständiger Erstarkung, in fort­ währendem Siege über dem alten Menschen stehen; und der alte Mensch in dir mutz immer mehr abnehmen und seinem völligen Ab st erben entgegen gehen. So meint es auch der Katechismus, wenn er auf die Frage: was bedeutet denn solch Wassertaufen? erklärt: es bedeutet, daß der alte Adam in uns durch tägliche Reue und Buße soll ersäuft werden mit allen Sünden und bösen Lüsten, und wiederum täglich herauskommen und auf­ erstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinigkeit vor Gott ewiglich lebe. So muß es sein, wenn dein christliches Leben gesund ist. Aber wie selten verläuft es so. Oft geht es durch unaufhörliches Fallen und mühsames Wiederaufrichten des neuen Menschen hindurch. Ach, und nicht selten wird das Fleisch so übermächtig und das neue Leben im Geist so schwach, daß es in beständiger Gefahr steht, ganz zu erlöschen. Ja, zuweilen stirbt es auch wirklich, der Christ gerät wieder ganz und gar in die Gewalt der Sünde, und es wird mit ihm wohl gar ärger, als es zuvor war, ehe er zur inneren Erneuerung kam. Rückfall ist ein böser Gast, sagt das Lied. Das ist jeder religiös-sittliche Rückfall, aber am meisten derjenige, auf welchen kein Wiederaufstehen folgt. Seht, da ist die große Gefahr vorhanden, daß es zur Verstockung kommt, zu der Verstockung, von welcher keine Umkehr, keine Bekehrung mehr möglich ist, weil das Menschenherz dadurch zur Buße unfähig wird. Da tritt der traurige Zustand ein, den das Wort Gottes schildert in den Worten: es ist unmöglich, die, so einmal er­ leuchtet sind und geschmeckt haben die himmlische Gabe und teilhaftig worden sind des Heil. Geistes und geschmeckt haben das gütige Wort Gottes und die Kräfte der zukünftigen Welt, wo sie abfallen, wiederum zu erneuern zur Buße, als die ihnen selbst den Sohn Gottes wiederum kreuzigen und für Spott halten (Hebr. 6, 4—6), denn so wir mutwillig sündigen, nach­ dem wir die Erkenntnis der Wahrheit empfangen haben, haben wir fürder kein ander Opfer mehr für die Sünden, sondern ein schreckliches Warten des Gerichts und des Feuereifers, der

365 die Widersacher verzehren wird (Hebr. 10, 26—27). Darum laßt uns wachen und beten, eingedenk dessen, daß der Geist wohl

willig, aber das Fleisch gar schwach ist (Mtth. 26, 41), damit es uns nicht etwa ergehe, wie dem Esau, daß wir nämlich unsere Seligkeit verscherzen, wie er den Segen der Erstgeburt ein­ büßte, trotzdem, daß er ihn mit Thränen suchte (Hebr. 12,

16—17). Hüten wir uns, liebe Christen, vor jedem Rückfall, und

lassen wir ihn niemals zum Abfall werden.

Es hat mit

dem zum Abfall gediehenen Rückfall eine ähnliche Bewandtnis,

wie mit der sogenannten Sünde wider den Heil. Geist. Wie jener vom Himmelreich ausschließt, so ist auch die Lästerung

des Heil. Geistes ein Vergehen, für welches es keine Vergebung giebt, weder im gegenwärtigen, noch im zukünftigen Weltalter. Merket wohl, um die Lästerung des Heil. Geistes handelt es sich hier. Sünde wider den Heil. Geist ist nicht

die richtige Bezeichnung für das, was gemeint ist.

Sünde wider

den Heil. Geist ist bei dem bekehrten Christen alles, womit er Gottes Gebote übertritt in Gedanken, Worten und Werken. Damit betrübt er den Heil. Geist, der ihn regieren will. So­ lange du also, lieber Christ, überhaupt noch sündigest, begehst du Sünden wider den Heil. Geist. Die werden dir aber durch die Gnade Gottes um Jesu Christi willen vergeben, wenn du den Weg der Buße einschlägst. Etwas ganz besonderes ist die Lästerung des Heil. Geistes. Während selbst Gottes- und Jesuslästerung bei aufrichtiger Buße Vergebung findet, so ist die Geisteslästerung von der Vergebung ausgeschlossen. Ihr kennet die Worte, in welchen unser Heiland dies ausspricht. Sie lauten: alle Sünde und Lästerung wird den Menschen ver­ geben, aber die Lästerung wider den Heil. Geist wird den Menschen nicht vergeben; und wer etwas redet wider des Menschen Sohn, dem wird es vergeben; aber wer etwas redet wider den Heil. Geist, dem wird es nicht vergeben, weder in dieser noch in jener Welt (Mtth. 12, 31—32). Warum

nicht, warum macht die Geisteslästerung unwiderruflich ver­ dammt? Ich denke, aus demselben Grunde, aus welchem auch

der vollendete Rückfall, der Abfall aus dem Gnadenstande den

366 Menschen um seine Seligkeit bringt. Weil die Geisteslästerung mit der Selbstverstockung zusammenfällt. Wer als bekehrter Christ so weit kommt, daß er dem Heiland den Rücken kehrt und sich aufs neue dem Sündendienst beharrlich ergießt, der schließt sich selbst von der Seligkeit aus. Und wer aus Feind­ schaft gegen eine mit dem Heil. Geist gesalbte Persönlichkeit so weit geht, daß er wider seine bessere Erkenntnis und Ueber­ zeugung das Werk des Heil. Geistes für Teufelswerk erklärt, wie zur Zeit unseres Hellands seine Widersacher die Wunder­ werke, die er in der Kraft des Heil. Geistes vollbrachte, als Satanswerke bezeichneten, der spricht sich selbst das Ver­ dammungsurteil. Beide haben die Grenzlinie überschrüten, jenseits welcher die geistliche Umkehr, die Buße unmöglich ist. O, laßt uns achten, liebe Christen, auf die Ermahnungen des göttlichen Wortes zu einem steten Fortschritt auf dem Wege der Heiligung, zu unablässigem Kampfe wider Sünde, Welt, Fleisch und Satan! Wer nicht will kämpfen, trägt die Kron' des ew'gen Lebens nicht davon. Laßt uns gute Streiter Jesu Christi sein, denn so jemand auch kämpfet, wird er doch nicht gekrönt, ec kämpfe denn recht (2. Tim. 2, 5). Es muß notwendig schon in diesem Erdenleben bei dem Christen zu einem gewissen Grade der Heiligung kommen, zu einer gewissen Sündlosigkeit, zu einer vorläufigen Heiligkeit. Es giebt Sünden, die man gläubigen Christen nicht mehr zutraut und die, wenn sie bei ihnen Vorkommen, uns ihr Christentum verdächtig machen. Wir unterscheiden zwischen Bosheits- und Schwachheitssünden oder zwischen Sünden, die mit Wissen und Vorbedacht und solchen, die in Uebereilung und aus Schwach­ heit des Fleisches, der verderbten Menschennatur begangen werden. Nur Gott, der Herzenskündiger, kann entscheiden, tvelches diese und jene sind. Schwachheits- und Uebereilungssünden können mitunter recht schwere Vergehen sein. Soviel müssen wir indessen als das Richtige annehmen, daß Vor­ bedachtssünden bei einem bekehrten Christen nicht mehr vor­ kommen sollten. Ueber sie muß der Christ jedenfalls Herr werden können im Erdenleben selbst auch in einer Zeit, in

367 welcher das Wirken des Heil. Geistes nicht mehr in dem hohen Grade fühlbar ist, wie in der ersten Christenheit. Ob wir aber auch von den Schwachheitssünden frei werden können in dieser Zeitlichkeit? Mit dieser Frage treten wir in den zweiten Teil der Predigt ein. II. Die Frage der sittlichen Vollkommenheit der einzelnen Gemeindeglieder hängt nämlich aufs engste zusammen mit der Entwicklung des Reiches Gottes in dieser Weltperiode. Ja, es soll schließlich noch zu einer wirklichen Heilig­ keit der Gemeinde Jesu Christi und damit selbst­ verständlich auch ihrer einzelnen Glieder kom­ men. Das sagt mit deutlichen Worten unser Text:„ChristuS hat geliebt die Gemeinde und hat sich selbst für sie gegeben, auf daß er sie heiligte und hat sie gereinigt durch das Wasserbad im Worte, auf daß er sie ihm selbst darstellete eine Gemeinde, die herrlich sei, die nicht habe einen Flecken oder Runzel oder des etwas, sondern daß sie heilig sei und unsträflich." Saget selbst, liebe Christen: ist es nicht in diesen Worten als die bestimmte Absicht unseres Hei­ lands hingestellt, daß er seine Gemeinde auf Erden noch einmal heilig machen will? Vorerst hat er sie von der Sündenschuld befreit durch die heilige Taufe. Und nun geht sein Streben und Wirken dahin, sie zur sittlichen Vollendung zu führen. Wie dies aber sein Bestreben ist, so ist es auch das Bestreben seiner Apostel, als der ersten Inhaber des kirchlichen Gnadenmittel­ amts gewesen, in deren Namen St. Paulus erklärt: ich eifere über euch mit göttlichem Eifer, denn ich habe euch vertrauet einem Manne, daß ich eine reine Jungfrau Christo zubrächte (2. Kor. 11, 2). Diesen Zustand vollkommener Sündlosigkeit wird die Gemeinde jedoch erst erreichen unmittelbar vor der Wiederkunft des Heilands. Auf diese Zeit weist uns das Buch der Weis­ sagung hin in den Worten: die Hochzeit des Lammes ist ge­ kommen und sein Weib hat sich bereitet, und es wird ihr ge­ geben, sich anzuthun mit reiner und schöner Leinwand, die

368 köstliche Leinwand aber ist die Gerechtigkeit der Heiligen (Offb. 19, 7—8). Merket wohl, liebe Christen, der Zustand des Heilig­ seins wird der Gemeinde schließlich von oben gegeben. Von wem? Von ihrem himmlischen Oberhaupte. Und durch wen? Durch den Heil. Geist, den Geist der Heiligung. Was geht daraus hervor? Ich denke, zweierlei: erstlich dies, daß es vorläufig dem einzelnen Christen nicht möglich ist, die sittliche Vollkommenheit zu erlangen, daß vielmehr der einzelne erst dazu gelangt im Zusammenhang und zugleich mit der Gesamt­ gemeinde. Zum zweiten folgern wir aus dem Gesagten, daß zur Erreichung dieser sittlichen Vollendung eine stärkere Wirk­ samkeit des Heil. Geistes erforderlich ist, als die Kirche sie in diesen kümmerlichen Zeitläuften hat, daß es vielmehr der Wieder­ kehr der außerordentlichen Wirkungsweise des Heil. Geistes, die er in der Urkirche entfaltete, bedarf. So laßt uns denn, liebe Christen, mit allem Fleiß unsere Heiligung betreiben, eingedenk dessen, daß uns das Wort Gottes zuruft: das ist der Wille Gottes, euere Heiligung (1. Thcss. 4, 3), und: jaget nach . . der Heiligung, ohne welche wird niemand den Herrn sehen! (Hebr. 12, 14). Ich freue mich von Herzen, bestätigen zu können, daß unter den gläubigen Christen in unseren Tagen die Heiligkcitsfrage wieder ernstlich erwogen wird. Aber ich kann auch nicht verschweigen, daß manche dabei in die Verirrung geraten sind, vor der ich vorhin warnte. Es geben sich wirklich manche der Selbsttäuschung hin, daß sie es bereits zur Sündenfreiheit gebracht hätten. Das kann ich nur für geistlichen Hochmut ansehen, und Hochmut kommt vor dem Falle. Ich sage aber weiter: ebenso wie es für den ein­ zelnen zur Zeit unmöglich ist, das Ziel der christ­ lichen Vollkommenheit zu erreichen, so ist es auch zur Zeit ein vergebliches Bemühen, eine Gemeinde der Heiligen zu stände zu bringen. Woher rühren denn die Sectenbildungen in der Geschichte der Kirche? Mögen sie auch vielfach durch unerträgliche Mißstände in der Lehre und in den gottesdienstlichen Gebräuchen inner­ halb der Kirche hervorgerufen worden sein, häufig liegt ihnen

369 auch die Absicht zu Grunde, eine Gemeinde der Heiligen zu schaffen. Aber immer ist auch diese Absicht gescheitert. Menschen haben da etwas machen wollen, was in diesen Kirchenzeiten vorläufig unausführbar ist. Erst muß unser Heiland die ur­ sprüngliche neutestamentliche Wirkungsweise des Heil. Geistes wiedergeben. Dann werden die Drang- und Trübsale, welche der Christenheit in der letzten Periode ihrer Geschichte bevor­ stehen, in Verbindung mit dem erneuerten erhöheten Wirken des Heil. Geistes den religiös-sittlichen Zustand herbeiführen, in welchem die Gemeinde würdig ist, ihren himmlischen Bräutigam zu empfangen. Kann nun die Gemeinde diesen geistlichen Zustand unter den obwaltenden Verhältnissen noch nicht erreichen, so fragt es sich doch, ob sie nicht jetzt schon in einem Stand vorläufiger und vorbereitender Heiligkeit dastehcn soll. Was haben wir davon zu halten? Ich bin der Ueberzeugung, die Christenheit sollte stets eine würdige Erscheinungsform des Reiches Gottes in dieser Weltperiode sein. Wie ist das zu verstehen? Ich bin gewiß, daß das, was vom Gnadenstand des einzelnen Gemeinde­ gliedes gilt, auch auf das Ganze der Gemeinde anzuwenden ist. Das haben wir nun bereits erkannt, daß der Christenstand, wenn er gesund ist, in einem steten Wachstum des neuen Men­ schen und in einem beständigen Abnehmen des alten Menschen bestehen muß. Unser Christcnstand muß eine fortgehende Aus­ führung der Ermahnung sein: feget den alten Sauerteig aus. daß ihr ein neuer Teig seid! (1. Kor. 5, 7); ziehet den alten Menschen mit seinen Werken aus und ziehet den neuen an, der da erneuert wird . . nach dem Ebenbilde des, der ihn ge­ schaffen hat! (Kol. 3, 9—10). Wo es nicht so geht, wo statt dessen das Fleisch immer wieder die Oberhand gewinnt über den Geist, da ist das geistliche Leben krank und in Gefahr, abzusterben. So soll und muß denn auch, wie mich dünkt, bei der Gemeinde im ganzen das neue LebenausundinGottstetsdieHerrschafthaben und in fortwährendem Erstarken begriffen sein, wenn sie in gesunder Entwicklung steht. Ist dagegen in ihr die Gottentfremdung und der Welt- und Schnabel, Predigten.

24

370 Fleischessinn obenauf, dann ist das ein unverkennbarer Beweis, daß sie sich in einem Zustand geistlicher Krankheit und sittlichen Verfalls befindet. Und sehet, das ist — mit tiefstem Schmerze sei es ausgesprochen — bei der Gemeinde Jesu Christi leider schon seit langem der Fall. Sie sollte eine heilige Gemeinde sein und sie ist eine unheilige geworden. Sie ist in ihrem dermaligen religiös-sittlichen Zustand kein richtiges Abbild des Reiches Gottes. Da sagt man freilich: das braucht sie auch nicht zu sein, denn der Heiland selbst hat sie mit einem Acker verglichen, auf welchem Weizen und Unkraut mit einander wachsen bis zur Ernte; er hat also einen unheiligen Zustand seiner Ge­ meinde vorausgesehen, der bis zum Gericht dauern soll (Mtth. 13, 24—30. 36—43). Meinet ihr auch, liebe Christen, daß dieses Gleichnis eine Rechtfertigung des gegenwärtigen un­ heiligen Zustands der Kirche enthalte? Ich bin nicht dieser Meinung, bin vielmehr überzeugt, daß der Heiland uns in demselben wohl einen Blick in den Entwicklungsgang seiner Kirche thun läßt, uns aber dabei sagen will, wie es dazu kommt, daß sie in eine solche unhcilige Entwicklung gerät. Während seine Jünger, insbesondere die Träger des geistlichen Amtes in geistlichem Schlafe liegen, richtet Satan das Unheil an und mischt Kinder der Bosheit unter die Kinder des Reichs. Damit nun die geistlichen Vorsteher der Gemeinde nicht zu einem falschen Mittel greifen sollen, um die Kirche von den Bosheits­ kindern zu reinigen, warnt sie der Heiland hier vor gewalt­ samem Eingreifen. Die Geschichte der Kirche hat gelehrt, wie nötig diese Warnung war und wie sie leider lange Zeit nicht beachtet und befolgt worden ist. Die Vorsteher der Kirche haben die vermeintlichen Ketzer und Sünder durch die welt­ liche Obrigkeit ausrotten lassen. Das ist jedoch ein Gericht, zu welchem die Geistlichkeit weder berufen noch befähigt ist, das sich vielmehr der Heiland Vorbehalten hat. Wie viele und schreckliche Mißgriffe haben sich die Leiter der Kirche bei ihrem richterlichen Verfahren zu schulden kommen lassen! Wahrlich, die Kirche trieft vom Blute der Heiligen und Zeugen Jesu (Offb. 17, 6). Dem Apostel Petrus hat der Heiland das

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Schwert verboten und hat ihm den Hirtenstab in die Hand gegeben. Da er nun den Dienern seiner Kirche ein gewalt­ mäßiges Einschreiten wehrt, wie steht es mit der Handhabung der rechten Kirchenzucht? Ist seine Meinung, daß alle Kirchenzucht ausgeschlossen sein soll? Manche haben diese Schlußfolgerung gezogen. Sie ist aber falsch. Die Kirchen­ zucht hat der Heiland selbst angeordnet (Mtth. 18, 15—17), und seine Apostel haben sie eingeschärft und vollzogen (1. Kor. 5, 1—5. 13). Ja, der Herr hat sie selbst in seiner ersten Ge­ meinde in erschütternder Weise geübt (Apg. 5. 1—11). Ihr wisset, worin die rechte Kirchenzucht besteht. Sie richtet sich gegen die Unkirchlichen und Lasterhaften. Sie erteilt aber nicht leibliche und weltliche Strafen, sondern sie erfolgt durch seclsorgerliche Mahnung und Warnung, durch Entziehung von kirchlichen Rechten, durch Zurückweisung vom Tisch des Herrn, und schließlich durch Ausschließung aus der Kirchengemeinschaft bis zum Eintritt der Buße. Das sind die berechtigten Zucht­ mittel der Kirche. Wird denn solche Kirchenzucht bei uns geübt? Sie ist fast ganz außer Uebung gekommen. Daß es dahin gekommen ist, ist ein deutliches Zeichen vom religiösen und sittlichen Verfall der Kirche. Das fühlen jetzt auch viele in der evangelischen Christenheit und rufen nach Wieder­ einführung der Kirchenzucht. Aber meint ihr denn, liebe Christen, daß sie sich bei dem gegenwärtigen Zustand der christ­ lichen Gemeinden werde zurückführen lassen? Ich fürchte, es wird ein undurchführbares Bemühen sein; ja, es wird sich als eines der Mittel erweisen, welche dazu helfen, das evan­ gelische Landeskirchentum aufzulösen. Ich bin der Ueber­ zeugung, daß wir zur Einführung der Kirchenzucht Christen­ gemeinden haben müssen, welche sich dieselbe nicht nur gerne gefallen lassen, sondern sie selbst begehren. Solche Gemeinden aber werden sich erst bilden, wenn der Heil. Geist seine ur­ sprüngliche volle Wirksamkeit wieder ausgenommen hat. Darum laßt uns beten, statt voreilige Versuche mit der Kirchenzucht zu machen. Ja, laßt uns beten, liebe Christen, um Wiederherstellung des Heiligkeitsstandes, in welchem die erste Christenheit sich 24*

372 darstellt nach dem Zeugnis des Apostels, der da spricht: ich danke meinem Gott allezeit eurethalben für die Gnade Gottes, die euch gegeben ist in Christo Jesu, daß ihr seid durch ihn in allen Stücken reich gemacht, an aller Lehre und in aller Er­ kenntnis, wie denn die Predigt von Christo in euch kräftig ge­ worden ist (1. Kor. 1, 4—5). Wolle doch niemand den gegen­ wärtigen unheiligen Zustand der Christenheit damit entschul­ digen, daß er sage: das ist die Knechts- und Kreuzgestalt, welche die Gemeinde Jesu Christi in dieser Weltzeit tragen muß. Nein, die der Kirche unvermeidlich anhaftende Knechts- und Kreuzgestalt besteht nicht in ihrer Unheiligkeit, nicht in den Irr­ tümern und Sünden, in welche sie durch ihre eigene Schuld geraten ist, nicht in den geistlichen und sittlichen Mängeln, an welchen sie leidet, sondern in den Anfeindungen und Ver­ folgungen, welchen sie von feiten der Gott- und Christusfeindlichen Welt und ihres Fürsten fortwährend ausgesetzt ist. Eine Kreuzgemeinde, eine streitende Kirche in diesem Sinne wird sie bleiben, solange das gegenwärtige Wcltalter währt, aber nicht eine unheilige. Sie soll und muß vielmehr einen Stand vorläufiger Heiligkeit erlangen. Den laßt uns durch ernstes Dringen auf Heiligung bei uns und unseren Mit­ christen anbahnen! Ist er erst errungen, dann wird er auch zum Stand vollkommener Heiligkeit auf den Tag Jesu Christi ausreifen. Das ist unsere Hoffnung für die Kirche. Amen.

30. Tert: Eph. 2,19—22. „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, son­ dern Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen, er­ bauet auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist, auf welchem der ganze Bau ineinander gefüget wächst zu einem heiligen Tempel in dem Herrn, auf

372 darstellt nach dem Zeugnis des Apostels, der da spricht: ich danke meinem Gott allezeit eurethalben für die Gnade Gottes, die euch gegeben ist in Christo Jesu, daß ihr seid durch ihn in allen Stücken reich gemacht, an aller Lehre und in aller Er­ kenntnis, wie denn die Predigt von Christo in euch kräftig ge­ worden ist (1. Kor. 1, 4—5). Wolle doch niemand den gegen­ wärtigen unheiligen Zustand der Christenheit damit entschul­ digen, daß er sage: das ist die Knechts- und Kreuzgestalt, welche die Gemeinde Jesu Christi in dieser Weltzeit tragen muß. Nein, die der Kirche unvermeidlich anhaftende Knechts- und Kreuzgestalt besteht nicht in ihrer Unheiligkeit, nicht in den Irr­ tümern und Sünden, in welche sie durch ihre eigene Schuld geraten ist, nicht in den geistlichen und sittlichen Mängeln, an welchen sie leidet, sondern in den Anfeindungen und Ver­ folgungen, welchen sie von feiten der Gott- und Christusfeindlichen Welt und ihres Fürsten fortwährend ausgesetzt ist. Eine Kreuzgemeinde, eine streitende Kirche in diesem Sinne wird sie bleiben, solange das gegenwärtige Wcltalter währt, aber nicht eine unheilige. Sie soll und muß vielmehr einen Stand vorläufiger Heiligkeit erlangen. Den laßt uns durch ernstes Dringen auf Heiligung bei uns und unseren Mit­ christen anbahnen! Ist er erst errungen, dann wird er auch zum Stand vollkommener Heiligkeit auf den Tag Jesu Christi ausreifen. Das ist unsere Hoffnung für die Kirche. Amen.

30. Tert: Eph. 2,19—22. „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, son­ dern Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen, er­ bauet auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist, auf welchem der ganze Bau ineinander gefüget wächst zu einem heiligen Tempel in dem Herrn, auf

373 welchem auch ihr mit erbauet werdet zu einer Behausung Gottes im Geiste." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Wir haben als Eigenschaften der Kirche bis jetzt kennen gelernt ihre Einheit und Allgemeinheit, ferner ihre Heiligkeit. Und bei Betrachtung dieser Merkmale haben wir auch erwogen, ob die Kirche im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung dieselben an sich hat kund werden lassen. Wir mußten dabei einen Blick auf die Kirchengeschichte werfen, und sind dabei zur Entdeckung ge­ kommen, daß die Kirche in ihrer geschichtlichen Erscheinung diesen Eigenschaften keineswegs entspricht. Nun haben wir noch die letzte dieser Eigenschaften ins Auge zu fassen, welche das älteste Glaubensbekenntnis der Kirche beilegt, indem es sie die apostolische nennt. Und auch bei der Erwägung dieses Merkmals wollen wir wieder die Frage in Erwägung ziehen: wie und inwiefern entspricht die Kirche diesem Kennzeichen, das die Kirche Jesu Christi in ihrer wahren Gestalt an sich tragen soll. Leider wird sich uns auch hier die Wahrnehmung aufdrängen, daß sie sich nicht als die apostolische im vollen und ganzen Sinne bewährt hat. Reden wir also jetzt auf Grund und nach Anleitung des verlesenen Schriftabschnittes weiter über:

die Eigenschasten der Kirche Jesu Christi, welche sein soll: die apostolische, und sehen wir zu

1. was mit dieser Bezeichnung gemeint ist, und 2. ob und inwieweit die Kirche derselben entspricht.

I. Warum heißt die Kirche die apostolische? Zum richtigen Verständnis dieser Bezeichnung leitet uns der Text an. Er ruft den Gliedern der Kirche zu: „so seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, son­ dern Bürger mit den Heiligen und Gottes Haus­ genossen, erbauet auf den Grund der Apostel." Mit diesen Worten erklärt St. Paulus, daß die Kirche eine apostolische ist, weilsieerbauetistaufdenGrund

374 der Apostel.

Es ist euch, liebe Christen, nicht zweifelhaft,

was unter dem Grund der Apostel zu verstehen ist. Es kann kein anderer sein, als der, den sie mit ihrer Predigt und Lehre

gelegt haben. Und ihre Lehre ist das Evangelium, die Heilsbotschaft, die sie aus dem Munde ihres Meisters vernommen hatten, und deren völliges Verständnis, deren gründliche Erkenntnis ihnen der ihnen gespendete Heilige Geist

aufgeschlossen hatte.

Seht, darum heißt cs auch in unserem

Texte von der Kirche, daß sie erbaut sei auf dem Grund der Apostel „da Jesus Christus der Eckstein ist". Sein Evangelium handelt von ihm, von seiner Person, von seinem

Werke. Er, der gottmenschliche Mittler, ist der eigentliche Grund seiner Kirche, außer dem niemand einen anderen Grund legen kann (I.Kor. 3, 11). Von ihm bezeugt weissagend der Prophet Jesaia: siehe, ich lege in Zion einen Grundstein, einen

bewährten Stein, einen köstlichen Eckstein, der wohlgcgründct ist (Jes. 28, 16). Und der Heiland hält seinen Widersachern vor: habt ihr nie gelesen in der Schrift: der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein worden; von dem Herrn ist das geschehen, und es ist wunderbarlich vor unseren Augen (Mtth. 21, 42). Ja, der Herr Jesus ist unzweifelhaft der eigentlicheGrundstein seiner Kirche. Er ist es mit seiner Person und seinem Werke; er ist es auch mit seinem Evangelium. Weil dieses aber von seinen Aposteln in erster Linie der Welt verkündigt worden, und weil dies geschehen ist unter außerordentlicher Erleuchtung durch den Heil. Geist, so daß ihr mündliches und schriftliches Zeugnis für alle spätere christliche Predigt und Lehre maß­ gebend ist, so kann von der Kirche mit Fug und Recht bekannt werden, daß sie die apostolische sein soll. Sie besteht auf dem apostolischen Zeugnis. Seht, liebe Christen, das ist unsere, die evangelische Auffassung dieser Eigenschaft der Kirche. Es giebt indessen auch eine andere Deutung.

Höret, worin diese besteht! Sie faßt nicht in erster Linie die Lehre der Apostel ins Auge, sondern ihre Person. Da hat einmal der

Heiland zu seinem Apostel Petrus gesagt: du bist Petrus, und

375 auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde. Ihr wisset bereits aus einer früheren Predigt, was er mit diesem Aus­ spruch hat sagen wollen. Er hat so gesprochen, nachdem Petrus auf die Frage seines Meisters: wer sagt denn ihr, daß ich sei? das herrliche Bekenntnis abgelegt hatte: du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn! (Mtth. 16, 13ff.). Daraus schließen wir gewiß mit Recht, daß der Heiland seine Gemeinde auf das mit einem Felsen verglichene Glaubens­ bekenntnis des Apostels gründen will. Anders aber urteilt die päpstliche Kirchengemeinschaft. Sie behauptet: der Herr gründet seine Kirche auf die Person des heiligen Petrus, des Apostelfürsten. Und was folgert sie hieraus? Sie behauptet: der Erbe der apostolischen Würde und Stellung des Petrus ist der römische Bischof, der Papst, denn St. Petrus war der erste Bischof in der Christengemeinde zu Rom; da­ rum ist das Papsttum der Grundstein, das Fundament der Kirche Jesu Christi. Wie falsch ist doch diese Auffassung mit ihren Folgerungen! Nein, nicht deswegen heißt die Kirche die apostolische, weil sie, wie die Päpstlichen behaupten, auf den Apostel Petrus und feinen vermeintlichen Nachfolger, den Papst, gegründet ist. In unserem Jahrhundert hat sich eine kirchliche Gemein­ schaft gebildet, welche sich die „apostolische Gemeinde" nennt. Diese geht noch einen Schritt über die päpstliche Anmaßung hinaus und stellt die kühne Behauptung auf: dem Bestand unserer Gemeinde liegt ein Werk Gottes zu Grunde und dies besteht darin, daß der Herr seiner Christenheit wieder zwölf Apostel durch unmittelbare göttliche Berufung gegeben, und außer und neben dem apostolischen Amt auch die übrigen Aemter der Urkirche, das Propheten-, Evangelisten-, Hirtenund Lehrer-Amt aufs neue aufgerichtet hat. Wenn die, welche das behaupten, nur auch den Nachweis erbringen könnten, daß dem wirklich so sei; wenn sie den Beweis des Geistes und der Kraft führen könnten! Wenn es sich nur auch deutlich erkennbar zeigte, daß die neu gegründete Gemeinde die außer­ ordentliche Wirkungsweise des Heiligen Geistes, deren sich die Urkirche erfreute, und die wunderbaren Geistesgaben besitzt.

376 welche den Gliedern der ursprünglichen ap ostolischen Gemeinden und insbesondere den Trägern der genannten Aemter eigen waren! Aber daran fehlt es. Dazu kommt noch, daß die ersten Apostel ihrer Zahl nach für das Zwölfstämmcvolk be­ stimmt waren. Das ist ein- für allemal geschehen, und wird so gewiß sich nicht wiederholen, als nach dem Buch der Offen­ barung auf den zwölf Grundsteinen des Neuen Jerusalem die Namen der zwölf Apostel des Lammes eingeschrieben er­ scheinen (Offb. 21,14). Aus all dem ersehen wir deutlich, liebe Christen, daß die Stifter der neuen sogenannten „apostolischen Gemeinde" mit der Erneuerung des Zwölfapostolats in ent­ schiedenem Irrtum sich befinden. Ich bin überzeugt: wenn der Heiland seiner Kirche apostolische Männer geben will und zu geben für nötig hält, dann wird er das in der Weise thun, wie er seiner Zeit den heiligen Paulus als dreizehnten Apostel gesetzt hat. Dann müssen sich aber auch solche Männer als außerordentliche Apostel erweisen, wie es St. Paulus gethan hat. Außerdem will ich noch bemerken: wenn gesagt ist, daß der Herr Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer in seine Gemeinde gesetzt habe (Eph. 4, 11), so sind damit nicht die ständigen Aemter in der Urkirche aufgezählt, sondern cs ist damit nur eine allgemeine Andeutung davon gegeben, daß in der Urkirche Aemter und Geistesbegabungen bestanden haben. Das geht ja ganz klar hervor aus einem ähnlichen Ausspruch desselben Apostels, in dem es heißt, daß Gott gesetzt habe in der Gemeinde aufs erste die Apostel, aufs andere die Propheten, aufs dritte die Lehrer, darnach die Wunder­ thäter, die Krankenheiler, die Zungenredner und andere (l.Kor. 12, 28). Welches die ständigen Aemter waren in der Ur­ kirche, das geht aus dem Neuen Testament bestimmt hervor, denn es berichtet, daß sich das ursprünglich einheitliche Kirchen­ amt allmählich nach eingetretenem Bedürfnis in mehrere Aemter geteilt habe. Diese sind aber neben dem apostolischen das Presbyter- oder Bischofsamt, das Diakonen- oder Armen- und Krankenpflegeramt, und das Evangelisten- ober Missionsamt. Nirgends wird die Prophetie als ein ständiges Kirchenamt hin­ gestellt. Sie ist vielmehr eine unständige Begabung, wie das

377 Zungenreden, welche Begabungen ebensowohl dem Träger eines kirchlichen Amtes, als einem anderen Gemeindegliede verliehen sein können. Es ist in der That nichts mit dem Anspruch, welchen die religiöse Gemeinschaft erhebt, von der ich rede. Ja, liebe Christen, auch ich beklage es schmerzlich, daß der Heiland nicht fortgefahren hat, seiner Kirche von Zeit zu Zeit solche außerordentliche apostolische Persönlichkeiten zu schenken, wie St. Paulus war. Zwar sollen wir anerkennen, daß er cs ihr nicht ganz hat fehlen lassen an Männern, welche sich ihr als Rüst- und Werkzeuge ihres Herrn bewiesen haben. Ich nenne als solche einen Athanasius, Augustinus, Luther. Allein diese und andere ihresgleichen waren doch keine Apostel. Es fehlte ihnen die außerordentliche Geistesausrüstung der eigentlichen Apostel. Sie konnten darum auch nicht den An­ spruch auf das kirchliche Ansehen erheben, das jene beanspruch­ ten. Können und dürfen wir denn die Augen davor ver­ schließen, daß die Kirche je zuweilen solcher Paulusse bedurft hätte und eines solchen auch in der Gegenwart bedürfte? Und muß uns denn diese Erkenntnis nicht anregen, den Herrn heutzutage inbrünstig darum anzuflehen, daß er seiner Kirche in Gnaden gedenken und ihr einen anderen Paulus erwecken wolle? O, laßt uns darum beten, wenn es uns ein ernstes Anliegen ist, daß die Kirche sei und leiste, was sie soll! Warum heißt die Kirche Jesu Christi die apostolische? Nicht deswegen, weil der Papst der gesetzmäßige Erbe des apostolischen Amtes St. Petri ist, denn das ist nicht der Fall. Auch nicht deswegen, weil der Herr, wie jene Secte behauptet, den Zwölfapostolat wieder hergestellt hat, denn der soll gar nicht wiederholt werden. Wir wissen einen anderen Grund. Den giebt uns unser Text an, wenn er von der Kirche sagt, daß sie sei erbauet „auf den Grund der Apostel und Propheten", nämlich der Apostel des Neuen und der Pro­ pheten des Alten Bundes. Ist damit etwa behauptet, daß sie auf die apostolischen und prophetischen Persönlichkeiten ge­ gründet sei? Gewiß nicht, denn unmittelbar darauf heißt es in unserem Texte: „da Jesus Christus der Eckstein ist". Auf seine Person ist die Kirche gegründet, wie wir

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bereits bezeugt haben. Darum kann die Behauptung, daß die Kirche erbauet sei auf den Grund der Apostel und Propheten nichts anderes besagen, als daß sie auf das Zeugnis, das die Propheten und Apostel von dem Herrn Jesus abgelegt haben, oder auf ihre Lehre von ihm, dem gottmenschlichen Erlöser, gegründet ist. Und wo findet die Kirche dies Zeugnis, das doch, soweit es mündlich geschah, längst verstummt ist? Sie be­ sitzt es in den Schriften, die diese Zeugen abgefaßt haben unter dem besonderen Beistand des Heil. Geistes, den sie auch bei der mündlichen Verkündigung erfuhren, in den Schriften, die wir gesammelt vor uns haben in der Bibel. In ihr findet die Kirche die Offenbarung oder das Wort Gottes irr­ tumslos und unfehlbar ausgeschrieben. An dieses Gotteswort ist die Kirche denn auch gebunden. Aus demselben hat sie ihr Glaubenszeugnis zu erheben, an demselben hat sie ihr Glaubens­ bekenntnis zu messen. Zu demselben darf sie nichts hinzuthun, und von demselben nichts abthun, denn ihr ist gesagt: so jemand dazu sehet, so wird Gott zusetzen auf ihn die Plagen, die in diesem Buche geschrieben stehen; und so jemand davon thut von den Worten dieses Buches der Weissagung, so wird Gott abthun sein Teil vom Holze des Lebens und von der heiligen Stadt, von welchen in diesem Buche geschrieben ist (Offb. 22, 18—19). Wenn und sofern sie dem nachkommt, darf sie sich die apostolische Kirche nennen. II. Nun laßt uns aber zusehen, liebe Christen, ob und inwieweit die Kirche dieser Bezeichnung ent­ spricht! Der Heiland hatte seinen Jüngern, ehe er seinen Hingang zum Vater antrat, die Verheißung hinterlassen, daß sie den Heil. Geist empfangen sollten und daß dieser sich in ihnen als der Geist der Wahrheit bewähren und sie in die ganze geoffenbarte Heilswahrheit einführen werde. Dieses Versprechen ist denn auch in Erfüllung gegangen. Die Apostel und ihre Schüler sind in der That durch den Heil. Geist der­ maßen erleuchtet worden, daß sie das Evangelium von Jesu Christo richtig auffaßten und demzufolge es auch irrtumslos mündlich verkündigten und schriftlich darstellten. Ihre schrift­

liche Darlegung des Evangeliums liegt uns in ihren hinter-

379 [offenen, zum Neuen Testament gesammelten Schriften vor. Aus ihren Schriften fällt auch das rechte Licht auf die Schriften des Alten Testaments, denn das Neue Testament ist ja im Alten verborgen und das Alte Testament wird im Neuen enthüllt. Das gesamte, in beiden Testamenten enthaltene Wort Gottes hat die Kirche als die rechte Erkenntnisquelle des Christentums anzusehen. Aus demselben hat sie ihr Verständnis desselben zu schöpfen. Hat sie das allezeit auch gethan? Sie ist frühe schon in ernste, schwere Kämpfe um das rechte Bekenntnis des christ­ lichen Glaubens geraten. Gar bald hat sich die Irrlehre in der Kirche erhoben, und zwar in der schlimmsten Gestalt. Wenn ihr die Schriften des Neuen Testaments leset, so werdet ihr finden, wie die Verfasser derselben gegen verführerische Irr­ lehrer zu streiten haben, die in den christlichen Gemeinden heil­ lose Verwirrung erregten. Da bekämpft der Apostel Paulus falsche Apostel, welche den von ihm aus gläubig gewordenen Heiden gesammelten Gemeinden einzureden suchten, daß sie die Seligkeit nur erlangen könnten, wenn sic das mosaische Gesetz befolgten. Er widerlegt weiter solche, welche die Auferstehung leugneten. Er beschwichtigt anderwärts die Christen über die Beunruhigung, welche ihnen diejenigen verursachten, die den Tag des Herrn als unmittelbar bevorstehend verkündigten. Da­ gegen hat der Apostel Petrus denen zu wehren, welche die Wiederkunft des Heilands leugneten. Ja, die Apostel haben ihre Gemeinden zu schützen vor solchen Jrrlchrern, welche St. Johannes als Widerchristen bezeichnet, die da leugnen, daß Jesus der im Fleische erschienene Messias sei; welche St. Petrus kennzeichnet als solche, die durch Unzucht zu fleisch­ licher Lust diejenigen reizen, die durch die Erkenntnis Jesu Christi entflohen waren dem Unflat der Welt (1. Joh. 4, 1—5; 2. Petr. 2, 18—20); und welche das Buch der Offenbarung hinstellt als Anhänger der Lehre Bileams, welcher riet, das Volk des Alten Bundes zum Götzendienst und zur Hurerei zu verlocken (Offb. 2,14). Indessen war die Urkirche in ihrem Kampfe gegen die Irrlehre glücklich gestellt, denn sie hatte zu

380 Lehrern die Apostel, die vom Heil. Geiste in so hohem Grade erleuchtet waren, daß sie die rechte Lehre in unfehlbarer Weise feststellen konnten. Das haben sie denn auch gethan, und da­ bei ihr amtliches Ansehen in so entschiedener Weise betont, daß der heilige Paulus an die Galatischen Christen schrieb: so auch tvir oder ein Engel vom Himmel euch würde Evan­ gelium predigen anders, als wir euch gepredigt haben, der sei verflucht (Gal. 1, 8). Und so ist es ihnen denn auch ge­ lungen, die Irrlehre zu unterdrücken und der gesunden christ­ lichen Lehre zum Sieg zu verhelfen dermaßen, daß St. Jo­ hannes schreiben durfte: Kindlein, ihr seid von Gott und habt jene, die Jrrlehrer, überwunden (1. Joh. 4, 4), und: ihr habt die Salbung von dem, der heilig ist, und wisset alles. . ., und die Salbung bleibet bei euch und bedürfet nicht, daß euch jemand lehre, sondern wie euch die Salbung alles lehret, so ist cs wahr und keine Lüge (1. Joh. 2, 20. 27). Wie wurde es aber in der Kirche nach dem Ableben der Apostel? Der Sieg hatte leider keinen Bestand. Die Irrlehre brach aufs neue in der Kirche aus und richtete schlimme reli­ giöse und mitunter auch sittliche Verwirrung in der jungen Christenheit an. Und nun fehlte es an der apostolischen Geistes­ ausrüstung und an dem apostolischen Ansehen. Doch hat der Herr seine Kirche nicht verlassen, er hat sie der oft mächtig vordringenden und zeitweise siegreichen Irrlehre nicht preis­ gegeben. Er hat seiner Kirche immer wieder Persönlichkeiten erstehen lassen, welche das wahre Christentum, die rechte christ­ liche Lehre bezeugten und derselben zum Sieg verhalfen. Was sie lehrten, das brach sich Bahn in der Christenheit und wurde auf Kirchenversammlungen alsdaskirchlicheGlaubensbekenntnis festgestellt, während die bekämpften Irrlehren allmählich untergingen. Es ist nur zu beklagen, daß die Kämpfe um das rechte Glaubensbekenntnis nicht immer in rechter Weise geführt wurden. Nicht selten wurden fleischliche Waffen an­ gewandt in diesen Kämpfen; und die staatliche Mithilfe wurde in Anspruch genommen zur Unterdrückung der bekämpften Lehre und zur Verfolgung ihrer Anhänger. Da ist es denn oft gar unchristlich hergegangen in der christlichen Kirche, und Christen

381

haben gegen Christen gewütet, wie sie es vordem von Juden und Heiden erfahren hatten. Das wurde am allerschlimmsten, als die Kirche selbst die Irrlehre in sich aufnahm und ausbildete. Da wandten sich ihre Vorsteher mit Hilfe der von ihnen ge­ wonnenen Staatsregierung gegen diejenigen Kirchenglieder, welche gegen den kirchlich bestätigten Irrglauben Widerspruch erhoben. So geschah das Widernatürliche, daß die Kirche, welche doch ein Pfeiler und eine Grundfeste der Wahrheit sein soll (1. Tim. 3, 15), diejenigen verfolgte, die ihrem Irrtum mit dem Bekenntnis der christlichen Wahrheit entgegentraten. Ströme unschuldigen Blutes hat die verirrte Kirche vergossen oder durch die Staatsgewalt vergießen lassen nach dem heuch­ lerischen Grundsatz: die Kirche vergießt kein Blut. Im Mittel­ alter erhoben sich insbesondere zwei Gemeinschaften gegen die päpstlichen Irrlehren und Mißbräuche vom Meßopfer, vom Fegfeuer, von der Verdienstlichkeit der guten Werke und Buß­ übungen, und erklärten die Heil. Schrift für die alleinige Quelle der christlichen Erkenntnis, für die einzige Richtschnur des Glaubens und Lebens. Das waren die Albigenser und die Waldenser. Sie wurden in blutigen Verfolgungen nahe­ zu ausgcrottct. Ferner traten Vorläufer der Reformation auf, welche die Irrtümer der Papstkirche ausdcckten und die biblische Wahrheit lehrten. Der bedeutendste derselben, Johann Huß, wurde auf der Kirchenversammlung zu Konstanz zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Und wie hat sich die Regierung der Kirche der Reformation selbst gegenüber verhalten, als der Herr dieselbe seiner irregeleiteten Christen­ heit im sechzehnten Jahrhundert zur Wiederherstellung der rechten christlichen Lehre gab! Nicht nur einzelne Bekenner des evangelischen Glaubens hat sic in großer Anzahl zum Märtyrertode gebracht, sondern schreckliche Religionskriege hat sie gegen die Anhänger der Reformation erregt und sie durch dieselben auszurotten gestrebt. Denket doch an den entsetzlichen dreißigjährigen Krieg, der unser Vaterland zu einer Wüste ge­ macht hat. Laßt mich, liebe Christen, euch zur Belehrung einige haupt­ sächliche Irrlehren erwähnen, welche im Laufe der Geschichte

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der Kirche auftauchten; und laßt mich zugleich di; Kirchen­ lehrer auch nennen, welche der Heiland zur Bekämpfmg dieser Irrlehren und zur Darstellung des rechten Bekemmisses be­ fähigte! Schon zu Lebzeiten der Apostel regte sich eine Irrlehre, welche nach ihrem Ableben noch mächtiger um sich triff. Die sie aufbrachten, wollten sich an dem schlichten apostolischen Christentum nicht genügen lassen, sondern vermischten es mit heidnischen Religionslehren, und stellten dann ihre schwärme­ rische Lehre als ein höheres Wissen hin, das nur für besonders Eingeweihte verständlich sei. Was uns besonders nahe be­ rührt, daß sind ihre Behauptungen über die Persm unseres Heilands. Sie sind höchst wunderlich. Manche bchaupteten, er sei ein göttlicher Geist, der nur in einem Scheirkörper er­ schienen sei. Andere legten ihm zwar einen wirklicken Körper bei, lehrten aber, sein Körper sei nicht der gewöhnlich mensch­ liche gewesen, sondern ein vornehmerer, geistiger Leib. Wieder andere erklärten, mit dem Menschen Jesus habe sick bei seiner Taufe ein höheres Wesen verbunden, der obere Ckristus, der den Menschen Jesus nur als sein Werkzeug gebraucht und ihn bei dessen Tode wieder verlassen habe. Bei nicht wenigen dieser Schwärmer erzeugte der Irrglaube noch außerdem eine sitt­ liche Leichtfertigkeit, die für den geistlichen Menschen das Recht geltend machte, daß er sich den sinnlichen Lüsten hingcbm dürfe, um dieselben dadurch zu ertöten. Diesen Jrrlehrern standen die sogenannten apostolischen Väter und die ihnen nachfolgenden Kirchenväter als Verteidiger der rechten christlichen Wahrheit gegenüber. Lassen auch ihre Schriften sehr deutlich merken, daß in ihren Verfassern der Heil. Geist nicht mehr in der Kraft waltet, wie in den Aposteln, so ist doch an denselben anzuerkennen die Treue, mit welcher sie die apostolische Lehre festhalten. Was diese ältesten Kirchenlehrer bezeugten, das wurde in dem sogenannten „apostolischen Glaubens­ bekenntnis" zusammengefaßt, zu welchem schon in der Zeit der Apostel Ansätze vorhanden waren (1. Tim. 3. 16). Zuerst entbrannten in der Kirche Streitigkeiten über die Lehre von der Dreieinigkeit und von der Gottheit Jesu Christi.

383 Diese, we alle späteren Lehrkämpfe waren notwendig zur tieferen Erfassung und zu deutlicherem Verständnis der christ­ lichen Wchrheiten. Nur hätten sie jederzeit ein Eifern in Liebe sein sollei. Auch hätte man über die Glaubensgeheimnisse nicht rnelr aussagen und bestimmen sollen, als die göttliche Offenbarmg, das Wort Gottes in der Heil. Schrift an die Hanb giell. Am lebhaftesten entwickelte sich der Streit über die erwählten Wahrheiten im Morgenlande, als in A l e x a n drien dcr Presbyter Artus die wirkliche Gottheit des Hei­ lands, dic Wesensgleichheit des Sohnes mit dem Vater leug­ nete, und die Behauptung aufstellte, der Sohn sei nur das erste und vornehmste Geschöpf Gottes. Da berief der Kaiser C on staut in us, der Christ geworden war und das Christen­ tum zur staatsreligion in seinem Reiche gemacht hatte, eine allgemeine Kirchenversammlung nach Nicäa. Auf dieser wurde die Behauptung des Artus als Irrlehre verworfen und das sogenannte „Nicänische Glaubens­ bekenntnis" aufgestellt, in welchem erklärt wird, daß der Sohn Gortes gleichen Wesens mit dem Vater ist. Auf der später in Konstantinopel abgehaltenen Kirchenversammlung wurde diese Nicärrische Lehre bestätigt mit dem Zusatz, daß die dritte göttliche Person, der Heil. Geist ebenfalls wesens­ gleich sei mit dem Vater und dem Sohne. Dieser Lehre, welche mit dem Worte Gottes im Einklang steht und den Sinn der göttlichen Offenbarung trifft, hatte vornehmlich der Bischof Athanasius zum Sieg in der Christenheit verhalfen. Des­ halb fand auch das nach ihm benannte „Athanasianische Glaubensbekenntnis" neben dem Apostolischen und Nicänischen allgemeine Annahme in der Kirche. In dem mehr aufs praktische gerichteten Abendland ent­ stand ein anderer wichtiger Lehrstreit. Der drehte sich um die Sündhaftigkeit der Menschen. Ein britischer Mönch, Namens Pelagius, behauptete, jeder Mensch werde ohne Sünde ge­ boren und nur durch das böse Beispiel zum Sündigen ver­ führt; er könne aber aus eigener Kraft sich dem Guten zu­ wenden, wenn er dem Heiland Nachfolge, wozu ihm die Gnade Gottes behilflich sei. Ihm trat als bedeutendster Kämpfer ent-

384 gegen der Bischof A u g u st i n u s, der aus eigenster Erfahrung das Wesen und die Macht der Sünde kennen gelernt hatte. Er lehrte, daß im ersten Menschen Adam das ganze Menschen­ geschlecht gesündigt habe, und daß dessen sündhaft gewordene Natur sich auf alle Menschen fortpflanze; daß jedoch ein Rest des göttlichen Ebenbildes dem Menschen verblieben sei, die Erlösungsbedürftigkeit und Erlösungsfähigkeit, an welche die göttliche Gnade anknüpfe, um den Sünder zu bekehren. Diese Lehre entspricht dem, was das Wort Gottes über den sündigen Zustand der Menschen aussagt. Darum fiel ihr auch die Christenheit zu, und sie wurde auf den Kirchenversammlungen zu Karthago und Ephesus als kirchliches Bekenntnis an­ genommen. Die Lehre des Pelagius wurde zwar verworfen, doch behielt sie trotzdem einen schädlichen Einfluß auf die Aus­ bildung der christlichen Glaubenslehre im Mittelalter. Im Mittelalter bediente sich der Herr eines anderen Kirchenlehrers, um der Christenheit zu einem tieferen Verständ­ nis einer anderen wichtigen Heilswahrheit zu verhelfen. Das ist die Lehre von der Versöhnung, und der Kirchenlehrer, welchem es gelang, dieser Lehre eine begriffliche Fassung zu geben, ist der Erzbischof Anselm von Canterbury. Er lehrte: durch die Sünde der Menschen ist die Ehre Gottes unendlich verletzt; diese mußte wiederhergestellt werden, wenn Gott den Reuigen Gnade erweisen und sie selig machen sollte; die Wiederherstellung der Ehre Gottes konnte aber nur dadurch vollbracht werden, daß der Gerechtigkeit Gottes eine unendliche Genugthuung geleistet wurde; und diese Genugthuung konnte nur ein unendliches, das ist ein göttliches Wesen leisten; da aber diese Genugthuung von der Menschheit geleistet werden mußte, welche die Ehre Gottes mit ihrer Sünde verletzt hat, so ward der Sohn Gottes, also Gott selbst, Mensch, erfüllte das Gesetz Gottes vollkommen, nahm die Sündenschuld der ganzen Welt auf sich und büßte sie ab oder sühnte sie durch sein stellvertretendes Leiden und Sterben; dadurch erwarb er sich ein unendliches Verdienst, das er selbst nicht bedarf und das nunmehr den bußfertigen Sündern, die an ihn glauben, zu gut kommt. — Seht, liebe Christen, mit dieser Darstellung

385 -er Versöhnungslehre hat Anselm die Bahn gebrochen zum richtigen Verständnis derselben. Aber seine Darstellung ist doch noch zu äußerlich. Sie bedurfte einer Verinnerlichung und damit Verbesserung, und diese ist ihr auch später zu teil geworden, und zwar durch unseren Reformator Luther. Merket, worin diese Verbesserung besteht! Luther setzte an die Stelle der verletzten Ehre Gottes den durch die Sünde der Menschen erregten Zorn oder heiligen Unwillen Gottes. Dazu wies ihn das Wort Gottes an, dazu nötigte ihn auch die eigene Herzenserfahrung, die ihn Gott von seinem Zorne machen ließ. Ehe Gott die reuigen Sünder begnadigen kann, mußte sein Zorn gestillt, mußte Gott versöhnt werden. Das geschah allerdings dadurch, daß der heilige Gottmensch an der Sünder Stelle trat und sich dem Zorne Gottes aussetzte, also durch sein stellvertretendes Leiden und Sterben. Aber die eigentlich sühnende Kraft seines Opfers liegt in dem Gehorsam, welchen er seinem Vater leistete, und in der Liebe zu seinen Mitmenschen, die ihn zu seinem Opfer bewog. — Und in dieser Fassung und Gestalt hat der Glaubensartikel von der Versöhnung Aufnahme gefunden in unserer evangelischen Kirchcngemeinschaft. Liebe Christen, wir sind Glieder dieser Kirchengemeinschaft, die aus der Reformation hervorgegangen ist. Sie hat sich von der päpstlichen Christenheit getrennt, oder vielmehr sie ist von dieser, welche die Reformation verwarf, ausgestoßen worden. Durch die Reformation hat aber der Heiland seiner Christenheit eine unschätzbare Wohlthat erwiesen. Ihr habt oft schon von den Glaubensirrtümern und gottesdienstlichen Mißbräuchen gehört, in welche die Christenheit im Laufe des Mittel­ alters unter der Leitung der Päpste geraten war. Wahrliches war ein aus vielen un- und widerbiblischen Irrtümern be­ stehendes Lehrgebäude, das die Kirche aufgerichtet und auf welches sie ihre gottesdienstlichen Mißbräuche gegründet hatte! Ich will versuchen, euch, liebe Christen, in wenigen Worten einen Einblick in dasselbe zu eröffnen. Trotzdem die Irrlehre des Pelagius kirchlich verworfen worden war, übte sie ihre schäd­ liche Wirkung in der Kirche fort. Sie erzeugte die Behauptung von der Verdienstlichkeit der guten Werke. Es wurde gelehrt: Schnätel, Predigten. 25

886 Wohl ist der Mensch sündhaft, aber es ist ihm doch noch so viel sitlliche Kraft verblieben, daß er an seiner Bekehrung und Heiligung mitzuwirken und sich dadurch seine Seligkeit mitzuver­ dienen vermag. Es gründet sich also seine Rechtfertigung und Seligkeit nicht bloß auf seinen Glauben an das Verdienst des Erlösers, sondern zugleich auch auf die guten Werke, die er voll­ bringt. Die verdienstlichsten Werke sind aber diejenigen, welche die Kirche vorschreibt, insbesondere die Erfüllung der gottes­ dienstlichen Pflichten: das regelmäßige Wiegen der Ohrenbeichte, das Vollbringen der dem Beichtenden vom Priester auferlegten Büßungen und Genugthuungen, das Fasten an den durch das kirchliche Gebot bestimmten Tagen und Zeiten, das Beten des Rosenkranzes, die Verehrung der Engel und der vom Papst für heilig und selig erklärten Verstorbenen und ihrer Bilder und Reliquien, das Wallfahrten nach kirchlich geweihten Orten, die Schenkungen und Vermächtnisse an die Kirche und ihre milden Stiftungen, besonders die Befolgung der sogenannten evangelischen Ratschläge, die Uebernahme der Klostergelübde, die Aufgebung der Ehe, des Privateigentums und des eigenen 1 Willens im Gehorsam gegen die kirchlichen Vorgesetzten. Viele Fromme haben nicht nur die göttlichen Gebote erfüllt, son­ dern noch mehr geleistet, als das, was Gott fordert. Da­ durch haben sie sich ein Ueberverdienst erworben, und daraus ist ein Schatz von überverdienstlichen Werken entstanden, über welchen der Papst verfügt. Aus demselben verkauft er Ablaß, das ist: Erlaß der kirchlichen Genugthuungen oder Büßungen für die Lebenden nicht nur, sondern auch für die Verstorbenen, deren Seelen im Fegfeuer die im Erdenleben versäumten Büßungen nachholen müssen. Denn die frommen Christen kommen nach ihrem Tode zunächst an einen Reinigungsort, und zur raschen Erlösung aus diesem peinlichen Zustand dienen die Seelenmessen, welche auf Bezahlung von den Priestern für sie gehalten werden. In diesen, wie in allen Meßgottesdiensten weiht nämlich der Priester Hostie und Wein. Durch diese Weihe vollzieht er eine Verwandlung der irdischen Stoffe in Leib und Blut des Heilands, so daß jene nur noch scheinbar da sind, während in Wirklichkeit Leib und Blut Christi vorhanden ist.

387 Daraus folgt ein zweifaches: erstlich, daß das heilige Abend­ mahl nur in einerlei Gestalt, daß nur die in den Leib Christi verwandelte Hostie gereicht zu werden braucht, weil in ihr auch sein Blut enthalten ist; und sodann, daß diese Hostie, welche nunmehr der verklärte Christus selbst ist, angebetet werden muß. Mit der Verwandlung vollbringt der Priester zugleich ein Opfer: er wiederholt das blutige Opfer des Heilands am Kreuze in unblutiger Weise, und dieses Opfer dient zur Ver­ söhnung der Lebenden und der Toten, wozu das einmalige Kteuzesopfer nicht hinreicht. Merkt ihr nicht, liebe Christen, wie bei Aufstellung dieses falschen Lehrgebäudes das Bestreben obwaltet, dem Herrn, unserem Heiland, die ihm allein gebührende Ehre zu nehmen, und sie sich, das ist: der Geistlichkeit beizulegen? Ebenso werdet ihr aber auch finden, daß die Kirche an die Stelle des wahren christlichen Glaubens heidnischen Aberglauben empfiehlt und hegt, und schließlich geradezu Abgötterei und Götzendienst ein­ führt und pflegt. Wahrlich, da lag die Gefahr nahe, daß die Christenheit das rechte Christentum verloren hätte, wenn ihr himmlisches Haupt ihr nicht die Reformation gegeben hätte. Die Reformation ist die Wiederherstellung der reinen christlichen Lehre, des unverfälschten Evan­ geliums. Zur Erkenntnis desselben aus der Heil. Schrift hatte der Heiland die Reformatoren durch den Heil. Geist erleuchtet. Unter ihnen steht Martin Luther voran. Er war auch ganz besonders durch seine merkwürdige Lebensführung vom Heiland zum Verständnis der für die Heilsaneignung wichtigsten Wahrheit befähigt worden. Luther ist in der That der Mensch, der seit dem heiligen Paulus und Augustinus zur gründlichsten Sündenerkenntnis hindurch gedrungen ist und das tiefste Sündenleid empfunden hat. Dadurch wurde er in den Stand gesetzt, auch die rechtfertigende Kraft des Bußglaubens an sich zu erleben, und der rechte Herold der Lehre von der Recht­ fertigung des Sünders durch den Glauben zu werden. Laßt mich diese Lehre euch kurz darlegen. Wenn Gott dir deine Sünde vergiebt, dann erklärt er dich damit für gerecht, oder er rechtfertigt dich. Das thut er aber nur um deswillen, weil der 26*

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Mittler die Versöhnung vollbracht hat. Er thut es auch bei dir nur, wenn du bußfertig bist, das heißt: wenn du deine Sünde aufrichtig bereuest und dein Vertrauen auf den- Mittler und sein Versöhnungswerk setzest. So wirst du gerechtfertigt und damit auch selig ohne eigene Werke allein durch den Glauben, ohne eigenes Verdienst allein aus göttlicher Gnade durch die Erlösung oder Versöhnung, die durch Jesus Christus geschehen ist (Röm. 3, 24. 28). — Meinet aber nicht, liebe Christen, daß solcher Glaube unfruchtbar sei! O, nein, er macht dich, den Sünder, zu einem neuen Menschen, er treibt dich zur Heiligung deines Sinnes und Wandels. Aus der Rechtfertigung entsprießt die Heiligung. Aber nicht auf unserer Heiligung ruht unsere Heilsgewißheit und Seligkcitshoffnung, denn die ist erst im Werden, sondern auf der Rechtfertigung ruht sie, denn diese ist bei dem Gläubigen vollendet. — Ihr sollt indes nicht meinen, daß die richtige Darstellung der Recht­ fertigungslehre das einzige Verdienst sei, das sich die Refor­ matoren um die Kirche erworben haben. Nein, die Erkenntnis dieser Grundwahrheit ward unserem Luther der Schlüssel zum Verständnis des gesamten Gotteswortes, der ganzen christlichen Glaubenslehre, insbesondere der Lehre von der Versöhnung und von den Gnadenmitteln. Ja, diese Erkenntnis befähigte ihn dazu, eine Prüfung und Neugestaltung der gesamten kirch­ lichen Lehre und gottesdienstlichen Uebung, und eine durch­ greifende Reinigung der Kirche von den von mir kurz dar­ gelegten Irrlehren und Mißbräuchen zu vollziehen. Doch dürft ihr nicht meinen, daß die Reformation sich von dem Zusammen­ hang mit der seitherigen Entwicklung der Kirche und ihrer Glaubenslehre losgerissen hätte. Nein, sie hat diese Lehre, so­ weit sie auf Gottes Wort gegründet sich erwies, treu bewahrt, und die alten Glaubensbekenntnisse der Kirche, die wir bereits kennen gelernt haben, beibehalten. Was sie aber an neuem und besserem Verständnis des Evangeliums gewonnen hatte, das hat sie in besonderen Bekenntnisschriften niedergelegt. Von diesen sind euch die bedeutendsten bekannt. Es ist das „Augs­ burgische Glaubensbekenntnis", das von Luthers Freund und Mitarbeiter Melanchthon verfaßt und auf dem

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Reichstag zu Augsburg von den Anhängern der Reformation vorgelegt wurde, und daneben die beiden reformatorischen Katechismen, „der kleine Katechismus Luthers" und „der Heidelberger Katechismus", die bis auf diesen Tag das eigentliche evangelische Volks- und Jugend­ bekenntnis bilden. Ihr wisset, liebe Christen, daß der größere Teil der Christenheit sich der Reformation verschlossen hat und bis zur

Stünde in seinen Irrtümern und Mißbräuchen verharrt. Das ist eine nicht genug zu beklagende Thatsache. Nun, ihr seid Glieder der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen­ gemeinschaften. Für euch unterliegt es keinem Zweifel, daß die Reformation das richtige Verständnis des Evangeliums gebracht hat, und daß also die evangelische Kirche den Namen der „apostolischen" verdient, denn sie ist, wie unser Text sagt, „erbauet auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist", auf das Wort Gottes, auf das Evangelium Jesu Christi. Ist es auch den Reformatoren nicht gelungen, die ganze Kirche zu reformieren, und haben sie cs auch nicht vermocht, die Kirche zu ihrer apostolischen Herr­ lichkeit, die ihr als einheitlicher Leib und als reine Braut des Heilands eigen sein soll, zurückzuführen, so haben sie ihr doch das wahre Christentum wiedergegeben, und sie in den Stand gesetzt, sich als den Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit zu erweisen, die sie sein soll (1. Tim. 3, 15). Bedauernswert bleibt allerdings, daß die Reformatoren selbst nicht in allen Punkten der Glaubenslehre übereinstimmten, und daß auch unter ihnen und damit auch unter ihren Anhängern eine Spal­ tung eingetreten ist, welche sie in eine lutherische und reformierte oder calvinische Kirchengemein­ schaft geschieden hat. Freuen wir uns jedoch, daß ihre Stifter in der Hauptsache einig waren, und erachten wir, die nachgeborenen Kinder der Reformation, es für unsere Aufgabe, diese leidige Zertrennung aufzuheben und die versäumte Einigung auf Grund des in den wesentlichen Punkten gemein­ samen Glaubensbekenntnisses herbeizuführen. Dürfen wir doch

390 dessen gewiß sein: das von der Reformation gewonnene Glaubensbekenntnis muß noch das Eigentum der ganzen Kirche werden, wenn das Ziel erreicht werden soll, welches die Heilige Schrift bezeichnet mit den Worten: bis wir alle hinankommen zu einerlei Glauben und Erkenntnis des Sohnes Gottes und ein vollkommener Mann werden, der da sei in dem Maße des vollkommenen Alters Christi (Eph. 4, 13). Wir haben, liebe Christen, im Verlauf der Predigt gesehen, wie der Helland seiner Kirche zu einem immer tieferen Ein­ dringen in die geoffenbarte Heilswahrheit verhalfen hat. Er hat es auf dem Wege gethan, daß er zunächst einzelne Persön­ lichkeiten die wesentlichsten Wahrheiten der Offenbarung inner­ lich erfahren und erleben ließ, und sie dadurch befähigte, diese Wahrheiten in verständlicher Form und Fassung zu verkündigen. Sollen wir nun annehmen, jetzt sei seine Verheißung, daß der Heil. Geist seine Jünger in alle Wahrheit leiten solle, vollständig erfüllt? Nein, liebe Christen. Danken wir dem Heiland, daß er seine Gemeinde so weit in der Heilserkenntnis gebracht hat. Trauen wir es ihm aber zu, daß er sie auch noch in das Ver­ ständnis des übrigen Teils der christlichen Lehre, und insbe­ sondere der prophetischen Weissagung über die weitere Ent­ wicklung und schließliche Vollendung des Reiches Gottes ein­ führen werde, damit sie für die Aufgaben, welche sie zu erfüllen, und für die Kämpfe, welche sie zu führen hast das rechte Licht empfange, und damit zu einer richtigen Darstellung der christ­ lichen Hoffnungslehre gelange, wie sie bereits zu einer solchen Darstellung der christlichen Glaubenslehre gekommen ist. Ja, es ist unverkennbar, er hat bereits in unserer Zeit hiermll be­ gonnen. Die gläubige evangelische Christenheit hat es als ihre Aufgabe erkannt, die biblische Weissagung zu erforschen. Möge sie ihr der gnädige Heiland durch den Heil. Geist je mehr und mehr aufschließen, und sie dadurch tüchtig machen, ihn würdig zu empfangen bei seiner bevorstehenden herrlichen Wiederkunft zur Vollendung des Reiches Gottes. Amen.

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31. Tert: Matth. 13, 31—32.

„Ein anderes Gleichnis legte er (Jesus) ihnen vor und sprach: Das Himmelreich ist gleich einem Senfkorn, das ein Mensch nahm und säete es auf seinen Acker; welches das kleinste ist unter allem Samen; wenn es aber erwächst, so ist es das größte unter dem Kohl, und wird ein Baum, daß die Vögel unter dem Himmel kommen und wohnen unter seinen Zweigen." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Wir haben nun schon vieles über die Kirche gesagt. Wir haben sie kennen ge­ lernt, als die Gemeinschaft, welche der Heiland gestiftet hat zu dem Zwecke, daß in ihr das Reich Gottes auf der Erde im Neuen Bunde und während der gegenwärtigen Weltzeit zur Erscheinung kommen soll. Wir haben sie ferner auch erkannt als die Anstalt, welche der Heiland gegründet hat zu dem Zwecke, daß sie das Reich Gottes in der gesamten Menschheit ausbreiten und es seiner schließlichen Vollendung entgegen führen soll. Wenn nun die Kirche die äußere Darstellung des Himmel­ reichs im jetzigen Weltalter sein soll, dann sollte man auch von ihr erwarten, daß sie das Gottesreich in angemessener, würdiger Weise darstelle. Aber wir haben gesehen, daß sie das leider nicht thut, sondern daß sie von dem, was sie sein soll, weit ab­ gewichen ist. Ferner: wenn die Kirche die Anstalt sein soll, durch welche das Himmelreich über die Erde ausgebreitet und seiner Voll­ endung zugeführt werden soll, dann sollte man auch von ihr erwarten, daß sie diese Aufgabe zu lösen allezeit bestrebt wäre. Aber wir haben wahrgenommen, daß sie leider diese Pflicht keineswegs mit der nötigen Gewiffenhaftigkeit erfüllt hat, und ip ihrem religiösen Verfall und in ihrer sittlichen Entartung auch nicht dazu im stände ist. Obwohl wir bereits vielfache Streiflichter auf die Kirche und ihre Entwicklung während ihres seitherigen Bestandes haben fallen lassen, so halte ich es doch zum tieferen Verständnis des

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Wesens und der Bedeutung der Kirche für nötig, daß wir noch einmal ihre G e s ch i ch t e an unseren Blicken vorübergehen lassen. Und das wollen wir thun an der Hand unseres verlesenen Textes und des darin enthaltenen Gleichnisses vom Senfkorn. Der Gegenstand dieser Predigt sei also

Die Geschichte der Kirche, 1. in der Anfangszeit, 2. im Mittelalter, und 3. in der Neuzeit.

I. Unser Textgleichnis zeigt uns den kleinen Anfang der Kirche. Der Heiland vergleicht den Anfang seiner Kirche mit einem Senfkorn, von dem er sagt: „welchesdaskleinste ist unter ollem ©amen". Ja, liebe Christen, klein hat die Kirche begonnen, sie war zuerst auf den Jüngerkreis des Heilands beschränkt. Doch waren ohne Zweifel auch noch gar manche Seelen innerhalb des Volkes des Alten Bundes, welche zwar noch nicht in den Jüngerkreis des Heilands eingetreten waren, die aber doch ihrer Herzensstellung nach als Bürger des Gottes­ reiches gelten mußten. Sie sind indessen jedenfalls später, als die Kirche durch die Ausgießung des Heil. Geistes am Pfingstfest zu Jerusalem gegründet war, Glieder derselben geworden. Von da an stellte sich das Reich Gottes in der Kirche des Neuen Bundes dar. Was die Kirche nach der Absicht ihres Stifters fein sollte, das wisset ihr, liebe Christen. Eine Religionsgemeinschaftsolltesiesein,einereingeistlicheGenossenschaft, die sich freihielte von allem weltlich-staat­ lichen Wesen. Ihr werdet sagen: die Propheten des Alten Bundes haben doch geweissagt von einem herrlichen Gottesstaat, den der Messias bringen und herstellen würde; wenn sie auch dieses Reich des Messias vielfach in Bildern geschildert haben, die in ihrem Gesichtskreise lagen und die sie diesem entnahmen, so bleibt doch immer als Inhalt ihrer Weissagung das bestehen, daß es zu einem wirklichen Gottesstaat kommen soll. Ich ant­ worte euch: die Kirche ist allerdings kein Gottesstaat, sie hat nichts mit einem Staate gemein, sie ist ein religiöser Verein, der

393 frei im Staate für sich besteht. Allein damit ist nicht ausgeschlossen, daß es später und schließlich doch noch zur Aufrichtung eines Gottes staates kommen wird. Gewiß, die Weissagungen der Propheten, die darauf hinaus gehen, werden noch in Erfüllung gehen. Wird auch diese Erfüllung keine buchstäbliche sein, so doch eine Erfüllung dem eigentlichen Sinne nach. Das wird geschehen, wenn das große Zukunftsereignis der herrlichen Wiederkunft des Erlösers er­ folgt. Einstweilen fällt der Kirche die Aufgabe zu, die Bürger dieses vollendeten Gottesreiches aus der Menschheit zu sammeln und zur Teilhaberschaft an demselben zuzubereiten. Das soll sie thun mit den Gnadenmitteln, die ihr der Heiland zu bent Ende hinterlassen und anvertraut hat, mit dem Evangelium und den Sakramenten, an welche der Heil. Geist seine Wirksamkeit an den Seelen anschließt. Nun laßt mich euch, liebe Christen, auf einen wichtigen Punkt in der Entwicklung der Kirche aufmerksam machen! Als unser Heiland von seinen Jüngern gen Himmel schied, gab er ihnen, wie euch bekannt ist, den Auftrag, alle Völker der Erde zu seinen Jüngern zu machen. Die Kirche sollte sich demgemäß aus der gesamten Menschenwelt erbauen. Hatte der Heiland doch schon früher davon geredet, daß er noch andere Schafe habe, die nicht aus dem Stalle des Alten Bundes seien, und die er her­ beiführen und mit jenen zu der einen Herde unter ihm, dem einen Hirten, vereinigen müsse (Joh. 10, 16). Wenn demnach die Kirche auch auf die ganze Menschheit und nicht bloß auf das Volk des Alten Bundes angewiesen war, sobliebdabeidoch der ewige Ratschluß Gottes bestehen, dem gemäß das erwählte Volk Israel der Grundstamm der Kirche bleiben sollte, der gute Oelbaum, auf welchen die Zweige des wilden Oelbaums, die Glieder des übrigen Menschen­ geschlechts, die zur Bekehrung gebrachten Heiden, aufgepfropft und eingepflanzt werden sollten. Das ist das wohl zu beachtende Geheimnis des göttlichen Ratschlusses, welches der große Heiden­ apostel im elften Kapitel seines Briefes an die Christen in Rom dargelegt hat. Seht, aus diesem Grunde geschah es auch, daß der Heiland mit der Predigt seines Evangeliums, also mit der

394 Einladung zum Himmelreich sich ausschließlich an sein eigenes Volk wandte und erklärte: ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen vom Hause Israel! (Mtth. 15, 24). Und das nicht allein. Er that noch mehr. Er ließ auch durch seine Apostel, die er zu diesem nächstliegenden Zwecke in der den zwölf Stämmen des Bundesvolks entsprechenden Zwölfzahl berufen hatte, die Heilsanerbietung zunächst an Israel ergehen. Und er gab diesem Volk zu dem Ende eine nochmalige vierzigjährige Gnadenfrist. Aus der Apostelgeschichte erfahren wir, wie die Apostel dem Befehl ihres erhöhten Meisters nachkamen. Sie wandten sich mit ihrer Heilsverkündigung zunächst ausschließlich an die Juden. Und siehe da, eine überraschende Thatsache: ihre Einladung zum Eintritt in die Kirche hatte einen sehr erfreulichen Erfolg. Gleich auf die erste Predigt des mit dem Heiligen Geist gesalbten Petrus traten dreitausend Israeliten in die erste Christen­ gemeinde ein, und die Zahl der sich dem Glauben an den von ihrem Volk verworfenen Messias zuwendenden Juden stieg bis zu Zehntausenden (Apg. 21, 20). Die junge Kirche stand bei dem Judenvolk anfangs in hohem Ansehen und in großer Gunst (Apg. 2, 47; 5, 13). Aber das war nur ein rasch vorüber­ gehender Augenblick. Gar schnell wandelte sich die Gunst des Volks und seine Geneigtheit zur Annahme des Evangeliums in Haß gegen die Jünger des Herrn Jesus und in Verstockung gegenüber der Predigt von ihm. Auf einmal heißt es: es erhob sich aber zu der Zeit eine große Verfolgung über die Gemeinde zu Jerusalem (Apg. 8, 1). Ihr erinnert euch, daß es der junge pharisäische Schriftgelehrte Saulus, der spätere große Apostel Paulus war, der sich bei dieser Verfolgung der Christen be­ sonders hervorthat. Nachdem sich aber das Judenvolk so ge­ stellt hatte, konnte es nicht ausbleiben, daß das Gottesgericht über dasselbe hereinbrach, das ihm der Heiland angekündigt hatte. Doch war der schreckliche Untergang des jüdischen Staates und seiner Hauptstadt Jerusalem nur der äußere Teil dieses Gottesgerichts. Wisset ihr, worin dessen innerer Teil bestand? Das ist ausgesprochen in der Weissagung des Heilands: das Reich Gottes wird von euch genommen und einem Volke ge-

395 geben werden, das seine Früchte bringt (Mtth. 21, 43). Jetzt wurden die unfruchtbaren Zweige des guten Oelbaums ausgehaum, und an ihre Stelle wurden fortan Zweige des wilden Oelbaumes, der heidnischen Menschheit, eingesetzt. An der Heidenwelt arbeitet seither und immer noch die Kirche in der Mission, und diese Thätigkeit darf nicht stille stehen, bis ihr Ziel erreicht, bis die Predigt des Evangeliums vom Reiche Gottes der Absicht Gottes gemäß durch alle. Völker der Erde genügend hindurch gedrungen und die „Fülle der Heiden" eingegangen ist in die Kirche (Mtth. 24,14; Röm. 11, 25). Wahrlich, es ist den Aposteln nicht leicht geworden, ihr eigenes Volk im ganzen auf­ zugeben, Und von den Heiden meinten sie anfangs, dieselben müßten bei ihrer Bekehrung zum Glauben an den Herrn Jesus zugleich Juden werden und sich zur Befolgung des alttestamentlichen gottesdienstlichen Gesetzes verpflichten. Nur nach und nach kamen sie zu der Erkenntnis, daß dieses Gesetz für die Christusgläubigen abgethan ist. Das zeigte ihr crhöhetcr Meister damit, daß er den halb heidnischen Samaritanern, welche auf die Predigt des Evangelisten Philippus den christlichen Glauben annahmen, unter der Handauflegung der Apostel Petrus und Johannes den Heiligen Geist gerade so mitteilte, wie ihn die erste Jüngerschar am Pfingstfest empfangen hatte (Apg. 8). Das offenbarte der Herr dem Apostel Petrus, als er vom heidnischen Hauptmann Cornelius zu Cäsarea berufen wurde, durch das merkwürdige Gesicht des vom Himmel herabschweben­ den Tuches, in welchem sich allerlei Tiere befanden, auch solche, die vom Gesetze Mosis für unrein erklärt und zur Speise ver­ boten wurden, und dem gegenüber der Apostel durch göttlichen Befehl zum Essen aufgefordert ward mit dem Hinweise: was Gott gereinigt hat, das mache du nicht gemein. Ja, das zeigte der Heiland dem zweifelnden Apostel noch handgreiflicher da­ durch, daß er den unter seiner Predigt zum christlichen Glauben erwachenden Heiden im Hause des Cornelius den Pfingstgeist sogar noch vor der Taufe spendete (Apg. 10). Wer allerdings erst der Apostel Paulus hat diese Erkenntnis zum Siege gebracht, nachdem ihn der Herr Jesus durch seine persönliche Erscheinung bekehrt und zum Heidenapostel berufen hatte

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(Apg. 9). Er hat die wichtige Frage: wie stellt sich das Christentum zu dem Gesetze des Alten Bundes, die der ersten Christenheit so viel zu denken machte, zur Lösung gebracht mit der Erklärung: Christus ist des Gesetzes Ende; wer an den glaubt, der ist gerecht (Röm. 10, 4). Seitdem erbautsich die Kirche und in ihr das Reich Gottes vornehm­ lich aus den Heiden. So ist es seit achtzehn Jahr­ hunderten gegangen, und noch stehen wir in der Gnadenzeit, welche den Heidenvölkern gewährt ist. Die Kirche ist wesentlich eine heidenchristliche, und dazu hat sie der heilige Paulus gemäß der Anordnung seines Herrn gemacht. Und wenn ihr mich fragt, auf welchem Grunde sie sich erbaut, so antworte ich euch mit dem Bekenntnis des Heidenapostels: so halten wir es nun, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke allein durch den Glauben (Röm. 3, 28). Was für ein Glaube gemeint ist, das wisset ihr, liebe Christen. Es ist der selig­ machende Glaube an den, von welchem derselbe Apostel unmittel­ bar vorher bezeugt: wir werden ohne Verdienst gerecht aus Gottes Gnade durch die Erlösung, so durch Jesum Christum ge­ schehen ist (Röm. 3, 24). Und nun sehet, liebe Christen, der Heidenapostel Paulus ist es auch, der es am deutlichsten und bestimmtesten ausspricht, daß das jetzt von Gott aus seinem Bund ver­ stoßene und mit geistlicher Blindheit geschlagene Judenvolk noch eine bessere Zukunft hat. Seither und so lange die der Hcidenwelt gewährte Gnadenfrist währt, werden nur einzelne Glieder dieses Volks durch die Predigt des Evangeliums zum Glauben an den Messias Jesus geführt. Das ist der heilige Rest, das sind die Uebergebliebenen nach der Wahl der Gnaden, von welchen der Prophet Jesaia und St. Paulus reden (Jes. 11, 5; Röm. 9, 27; 11, 5). Einstweilen liegt das Volk im ganzen noch in geistlicher Blindheit, bis seine Gnaden­ stunde schlägt. Doch davon werden wir später weiter reden. n. Daß die Kirche der ersten Zeit eine in religiöser und sittlicher Hinsicht hervorragende Stellung einnahm, das habe ich euch, liebe Christen, bereits gezeigt. So hervorragend war diese Stellung, daß man sagen muß: sie ist das Urbild und

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Vorbild der Kirche für alle Zeit. Auch habe ich euch ent­ hüll, wodurch die älteste Christenheit auf diese geistliche Höhe erhlben wurde. Dies verdankte sie der Mitteilung des Pfingstgfeises und der außerordentlichen Wirkungsweise, welche er in ihr entfaltete. Wenn ihr einen merkbaren Eindruck von dem g,eislichen Leben empfangen wollt, das in den jungen Christen­ gienrinden waltete, dann lest nur die Schriften der Apostel und ihrer Schüler, welche zum Neuen Testament gesammelt sind. Wasrlich, wer im Glauben an den Heiland und in der Gemein­ schaft des Geistes mit ihm steht, der spürt das Wehen des Heiligen Geites beim Lesen dieser unter dem damaligen außerordentliichm Walten dieses Geistes verfaßten heiligen Schriften. Und ex )ankt dem himmlischen Haupt der Kirche, daß er diese Schäften seiner Gemeinde geschenkt und bis heute erhalten hat. Sie sind unstreitig das wichtigste Erbteil der Kirche aus beni apostolischen Zeitalter. Sie bilden die durch eine außerordent­ liche Erleuchtung des Heiligen Geistes entstandene irrtumslose, unfehlbare Urkunde des Evangeliums Jesu Christi. Sie sind die Quelle, aus welcher die Christenheit die richtige Erkenntnis und das zutreffende Verständnis des Christentums jederzeit schöpfen kann und soll. Nun muß ich euch aber, liebe Christen, auf eine höchst auf­ fallende Erscheinung aufmerksam machen. Es läßt sich nämlich nicht verkennen und soll auch nicht verhehlt werden, daß nach dem Heimgang der Apostel ein Sinken des geist­ lichen Lebens in der jungen Christenheit cintrat. Der letzte der Apostel, Johannes, hatte noch vor seinem Ableben der Kirche seiner Zeit ein gutes Zeugnis ausgestellt in den Worten: ihr habt die Salbung von dem, der heilig ist und wisset alles; . . und die Salbung, die ihr von ihm empfangen habt, bleibet bei euch und bedürfet nicht, daß euch jemand lehre, sondern wie euch die Salbung alles lehrt, so ist es wahr und keine Lüge (1. Joh. 2, 20. 27). Von da an trat eine Aenderung in der Entwicklung der Kirche ein. Die anfängliche außer­ ordentliche Entwicklung schlug um in einen mehr natürlichen Verlauf. Der Kirche fehlte von da an die unmittelbare göttliche Leitung durch den persönlich in ihren

398 Gliedern wohnenden Heiligen Geist, deren sie sich im ersten christlichen Jahrhundert zu erfreuen gehabt hatte. Die außer­ ordentliche Wirkungsweise des Heiligen Geistes schwand, und es blieb der Christenheit nur die ordentliche Wirkungsweise, die der­ selbe durch die Gnadenmittel ausübt. Da sah sich die Kirche auf die von den Aposteln und ersten Jüngern hinterlassenen Schriften angewiesen, die sie sorgfältig zum Neuen Testament sammelte und zum zweiten Teil der Heiligen Schrift erhob. Ihr müßt darauf achten, liebe Christen, daß die Kirche in den ersten Jahrhunderten ihres Bestehens durch beständige ent­ setzliche Verfolgungen von feiten der jüdischen und heid­ nischen Welt hindurch ging. Denket aber nicht, daß ihr diese schwere Zeit zum Schaden gewesen wäre. Die fortwährende Drangsal erhielt sie vielmehr sowohl in der äußeren Einheit, als auch in heiliger Zucht. Dabei breitete sie sich je mehr und mehr aus, so daß ein christlicher Schriftsteller aus jener Zeit sagen konnte: selbst die Kaiser wären christlich geworden, wenn die Welt ohne Kaiser sein oder wenn ein Kaiser ein Christ sein könnte. Das in unserem Textgleichnis aufgeführte Senfkorn erwuchs immer mehr zu einer großer Staude. Und wisset ihr, was hauptsächlich zu diesem Wachstum beitrug? Das war das leuchtende Beispiel des heiligen Lebens und todesmutigen Mar­ tyriums ihrer Glieder. So war es in Wahrheit das Shit der Märtyrer, welches den Acker der Kirche dermaßen befruchtete, daß derselbe eine reiche geistliche Ernte trug. Welch bewundernswerte Beispiele eines Welt und Tod über­ windenden Martyriums erzählt uns die Geschichte jener ersten Jahrhunderte von dem ersten christlichen Märtyrer Stepha­ nus an, der in seinem Tode das Vorbild seines sterbenden Meisters verwirklichte, indem er für seine Steiniger betend seinen Geist dem Heiland übergab. Ihm folgte derApostelJakob u s und der andere I a k o b u s, den selbst die Juden den G e rechten und die Christen den Bruder des Herrn nannten, und der als erster Bischof der Christengemeinde in Jerusalem Vorstand. Er wurde von einer Tempelaltane herabgestürzt, nachdem er die Erhöhung und Wiederkunft des Heilands vor

399 dem Hherat bekannt hatte. Sein Nachfolger im Bischofsamt, Symon, ebenfalls ein Anverwandter des Herrn Jesus, wurde auch sm Nachfolger im Zeugentode, denn der hundertundzwanzijährige Greis wurde nach mehrtägiger Geißelung ge­ kreuzigt Der Bischof Ignatius von Antiochien wurde zum Srauspiel des heidnischen Volks von Löwen zerrissen, nach­ dem erwklärt hatte: ich bin Christi Weizenkorn, das der Zahn der Tice erst zermalmen muß, damit ich als reines Brot er­ funden werde. Auf dem Scheiterhaufen starb der Bischof Polydrp von Smyrna, der bezeugt hatte: im sechsundachtzigsm Jahre diene ich meinem Herrn Jesus, der mir nie etwas 3: Leid gethan, sondern mich erlöst hat; wie sollte ich ihm fluchen! Doch, wie vermöchte ich die Namen aller derer aufzu­ zählen, welche ihren Christusglauben mit dem Märthrertode be­ siegelter Hunderttausende von Christen sind um ihres christ­ lichen Bekenntnisses willen im Laufe der Jahrhunderte getötet worden,denn mit tiefstem Seelenschmerze müssen wir es einge­ stehen: >ls die Heidenwelt die Verfolgung aufgab, setzte sie die Kirche egen diejenigen ihrer Glieder fort, welche ihre Verirrunger in der Lehike und im gottesdienstlichen Leben verur­ teilten. Änem ich dies sage, weise ich euch hin, liebe Christen, auf eine gr.ße Wendung in der Geschichte der Kirche, auf todje ich bereits in einer früheren Predigt aufmerksam gemacht >ab>e. Eine allumfassende Veränderung ging mit ihr vor, als n Anfang des vierten Jahrhunderts der römische Kaiser Konstaninus Christ wurde und das Christentum zur Staats­ religion 1 seinem Reiche erhob. Bis dahin hatte die Kirche eine freie Stemmg dem Staat gegenüber eingenommen. Sie war ein freier ub selbständiger religiöser Verein gewesen, und der heidnisch Säaat stand ihr feindlich gegenüber. Von jetzt an trat der Staa im ein freundliches Verhältnis zu ihr, machte sie aber abhängiovom sich. Sie wurde Staatskirche, und mußte sich nun >om der Staatsregierung Vorschriften in Betreff ihrer Glauben-lehire und ihres Gottesdienstes machen lassen. Das war ein Urhmngnisvolles Ereignis für die Kirche, denn es hatte noch einet anderen nachteiligen Erfolg für sie. Seitdem der

400 Staat Friede mit ihr geschlossen hatte, gewissermaßen einen Ehebund mit ihr eingegangen war, geschah ein massenhafter Eintritt der keineswegs immer bekehrten Heiden in die Kirche, und dadurch sank der geistliche und sittliche Zustand der Christen­ heit tief herab. Die Kirche verweltlichte, und verlor den ihr wesentlichen Charakter einer Gemeinschaft der Heiligen. Wohl vermochte sie es, die für die Geschichte der Menschheit wichtigsten Völker, zuerst die griechisch-römische, damach die germanisch-slavische Völkerwelt in ihren Schoß aufzunehmen. Wer will es verkennen, daß die Mission Großes vollbracht hat und daß zahlreiche Missionare aufgetreten sind, welche von glühender Begeisterung für den christlichen Glauben erfüllt waren, die ihr Leben nicht geliebt, sondern es freudig im Dienste des Heilands geopfert haben, um seinen Missionsbefehl zu voll­ ziehen. Es ist mir nicht möglich, alle ihre Namen aufzuzählen. Da es euch jedenfalls am meisten interessieren wird von den­ jenigen zu hören, welche unseren germanischen Vorvätern das Christentum gebracht haben, so laßt mich wenigstens einige er­ wähnen. Da nenne ich zuerst Ulphilas, der den christlichen Glauben den Westgoten verkündigte und ihnen sogar die Heilige Schrift in ihre Sprache übersetzte. Unter den F r a n k e n predigten Martin von Tours und Remigius von Rheims, und letzterer taufte den König Chlodwig, nachdem dieser in einer Schlacht gegen die Alemannen den Herrn Jesus angerufen und ihm gelobt hatte, Christ zu werden, wenn er ihm den Sieg verleihe, welchen er auch wirklich errang. In unserem eigentlichen Vaterland wirkten hauptsächlich Missionare, die von den britischen Inseln herüber kamen. Ich erwähne Kilian aus Irland. Er hatte als Mönch fleißig das Bild des gekreuzigten Heilands betrachtet und immer war es ihm, als riefe ihm der Herr Jesus zu: das that ich für dich, was thust du für mich? Das bewog ihn, sich dem Missionsdienst zu widmen. Er lehrte in B a i e r n und taufte den Herzog G o z b e r t. Dann aber mußte er das Schicksal Johannes des Täufers teilen, weil er dem Herzog Vorhalt that wegen seiner ungesetzlichen Ehe mit seines Bruders Frau Geilane, und sich dadurch den Haß

401 dieses Weibes zuzog, die ihn durch Meuchelmörder töten ließ. Ihn löste in seiner Arbeit ab Emm er an, der von dem Herzog Theodo wohl ausgenommen, aber von dessen Sohne Lambert ermordet wurde- Columban trieb das Missionswerk zuerst in Burgund, wurde aber von der Fürstin Brunhild wegen seiner Freimütigkeit und strengen Zucht gehaßt und Vertrieben. Er ging in die S ch w e i z, wurde aber auch von hier wegen Zer­ störung eines Götzentempels vertrieben, und begab sich nach Italien. Einer seiner Gefährten, Gallus, nahm seine Arbeit in der Schweiz auf und gründete das Kloster St. Gallen. Als der eigentliche Apostel der Deutschen wird jedoch Winfried angesehen, den der.Papst später Bonifacius (Wohlthäter) nannte. Er entwickelte eine große Missionsthätigkeit insbeson­ dere auch in Hessen, wo er die dem Donnergott geweihte uralte Eiche bei Geismar fällte, um den Heiden die Thorheit ihres Aberglaubens zu zeigen. Er gründete viele Klöster und Bistümer, namentlich sein Lieblingskloster Fulda. Am Abend seines Lebens zog er noch einmal nach Friesland, hatte dort auch guten Erfolg, wurde aber schließlich von einer Schar Heiden mit fünfzig Gefährten ermordet. Wir sehen, liebe Christen, daß sich die Kirche immer mehr ausbreitete. Sie glich dem Senfkorn, von dem unser Text sagt: „cs wird ein Baum, daß die Vögel unter dem Himmel kommen und wohnen unter seinen Zweigen". Aber wir können nicht leugnen, daß es bei der Aufnahme der Völker in die Kirche nicht immer in rechter Weise zuging. Einerseits war die Art des Missionsbetriebs von feiten der Missionare nicht stets die richtige, und anderseits übte die weltliche Staatsgewalt zuweilen ungehörigen Zwang aus. Teils brachten die Missionare schon bald ein von der Kirche entstelltes und mit abergläubischen Bestandteilen gemischtes Christentum, teils begnügten sie sich mit einer äußerlichen Unterwerfung der Heiden unter die kirchlichen Sitten und Gebräuche. Wenn es den Missionaren gelang, das Oberhaupt eines Volks in die Kirche aufzunehmen, so geschah es zuweilen, daß dieses dann seine Unterthanen zur Nachfolge zwang. Als der Frankenkönig Chlodwig sich taufen ließ, mußten gleich mehrere Tausende seiner Schnabel, Predigten.

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402 vornehmsten Untergebenen ihm Folge leisten. Von Kaiser Karl dem Großen wisset ihr, daß er die heidnischen Sachsen, nachdem er sie besiegt, von seinen Kriegern in die Flüsse treiben ließ zur Taufe. Ebenso wurden dieheidnischenPreußen vom Deutschen Ritterorden mit dem Schwert unter die Herrschaft der Kirche gezwungen. Wie sehr ist doch solche An­ wendung weltlicher Machtmittel zur Einführung der Menschen in die Kirche gegen den Sinn ihres göttlichen Stifters! Trotzdem bleibt es gewiß, daß die Kirche den Völkern eine gewisse Erkenntnis des Christentums, einen Anfang von Bildung, Gesittung und bürgerlicher Ordnung brachte. Ihre Mission hat die geschichtlich bedeutendsten Völker christlich, gemacht. Freilich ist das im allgemeinen nur eine äußerliche Verchristlichung, keine innerliche Bekehrung derselben. Aber auch diese Verchristlichung hat denselben unermeßlichen Segen eingetragen. Ihr gesamtes Leben hat einen christlichen Anstrich erhalten. Christliche Ge­ danken, Grundsätze und Anschauungen haben sich geltend ge­ macht, und aus denselben sind viele dem Christentum ent­ sprechende Einrichtungen, Lebensordnungen, Sitten und Ge­ bräuche erwachsen. In mancher Beziehung ist dadurch den christlichen Völkern das Wesen und die Natur des Gottesreichcs ausgeprägt worden. Denket doch, welch heilsamen Einfluß das Christentum auf viele Verhältnisse geübt hat! Es hat die Sklaverei abgeschafft, es hat das Weib dem Manne gleichwertig erklärt und ihm eine ebenbürtige Stellung neben dem Manne verschafft, es hat die Ehe geheiligt, es hat die Kindererziehung geregelt, es hat die Armen- und Krankenpflege eingeführt, es hat die Arbeit zu Ehren gebracht, es hat dem Staat die Förde­ rung der Sittlichkeit zur Aufgabe gestellt, es hat die Nächstenund Feindesliebe zur Pflicht erhoben, es hat selbst die Krieg­ führung menschlicher gemacht. Wohl fehlt noch viel daran, daß diese christlichen Gedanken auch vollständig verwirklicht wären im Leben der christlich gewordenen Menschheit. Aber sie sind da, und ihre Verwirklichung wird wenigstens angestrebt. Noch sind einige merkwürdige Erscheinungen zu erwähnen, welche in der Geschichte der Kirche während des Mittelalters hervorgetreten sind. Ich nenne zuerst das Papsttum. Es

403 gehört zur äußeren Verfassung der Kirche. Wir haben den wichtigsten Teil der Verfassung der Kirche, die Aemter, bereits kennen gelernt. Der Einzelgemeinde standen die Presbyter vor. Diese hießen ursprünglich auch Bischöfe. Später verblieb dieser Titel nur dem Vorsitzenden des Presbyteriums. Daraus ent­ wickelte sich darnach das Verhältnis, daß die Bischöfe der größeren Städte den Vorrang über die anderen Bischöfe gewannen, über welche dann wieder die Erzbischöfe und Patriarchen sich erhoben. Unter diesen Umständen konnte es nicht ausbleiben, daß später der Bischof in der Neichshauptstadt Rom an Ansehen alle anderen Bischöfe überragte. Dazu verhalf ihm zunächst schon die Sage, daß St. Petrus, den man für den Apostelfürsten erklärte, die Christengemeinde in Rom gestiftet und bis zu seinem Mär­ tyrertode regiert habe. Auf diese Sage gründeten die römischen Bischöfe ihren Anspruch, die Oberbischöfe der ganzen Christenheit zu sein, nannten sich die Nachfolger des heiligen Petrus, ja in der Folge sogar die sichtbaren Stellvertreter des unsichtbaren Christus, legten sich den Namen „Papa, Papst" bei und ließen sich „heiliger Vater" und „Heiligkeit" nennen. Ihr Anspruch war eine unberechtigte Anmaßung. Aber sie drangen durch mit demselben, und die geschichtlichen Verhältnisse waren ihnen günstig dabei. In den wilden Zeiten der Völkerwanderung übten sie vielfach einen heilsamen Einfluß auf die Völker und Fürsten aus. Nicht minder mächtig war ihr Einfluß in den -Jahrhunderten der Kreuzzüge, wo sie die Fürsten und Völker zum Kampf gegen die Muhamedaner aufriefen. Durch günstige Fügung der geschichtlichen Vorgänge wurden sie sogar weltliche Fürsten, und erst die neueren Ereignisse haben sie dieser welt­ lichen Herrschaft wieder beraubt. Schließlich erhoben sie sich über die weltliche Staatsmacht, indem sie die päpstliche Macht für die Sonne und die weltliche Obrigkeit für den Mond er­ klärten, dec sein Licht von der Sonne empfange, also von dieser abhängig sei. Sie machten in offenem Widerspruch mit der klar ausgesprochenen Absicht des Heilands aus der Kirche einen Priesterstaat, in welchem sie wie die weltlichen Könige Politik trieben, und nicht selten eine unredliche und treulose Politik. Um ihre Herrschaftsgelüste zu verwirklichen bürdeten sie der ge26*

404 samten Geistlichkeit das Eheverbot auf. Dabei warfen sie sich zu Richtern über den christlichen Glauben auf, und gestalteten das Christentum, wie es ihren Zwecken dienlich war. Worin diese Anpassung des Christentums an den Sinn des natürlichen Menschen bestand, das haben wir bereits erkannt. Diejenigen Christen aber, welche ihren irrigen Lehren und Ordnungen wider­ sprachen, verfolgten sie als Ketzer. Sie setzten zu dem Ende ein förmliches Ketzergericht ein, das die vom allgemeinen Kirchen­ glauben Abweichenden der staatlichen Obrigkeit zur Bestrafung, vielfach mit dem Tode, überliefern mußte, denn, so erklärte die heuchlerische Kirchenregierung, „die Kirche vergießt kein Blut". Zuletzt verstiegen sie sich so weit, daß sie sich in Glaubensange­ legenheiten für unfehlbar erklärten. Es soll nicht geleugnet werden, daß einzelne fromme Päpste Segen gestiftet haben. Aber dieser Segen verschwindet neben dem Unheil, welches das Papst­ tum in der Christenheit angerichtet hat. Wahrlich, es darf uns nicht wunder nehmen, daß die Reformatoren in dem Papst bett Widerchrist der biblischen Weissagung zu erkennen meinten. Eine andere merkwürdige Erscheinung in dem Leben der Kirche im Mittelalter ist das Mönchstum. Laßt mich euch sagen, liebe Christen, wie dasselbe entstand. Als die Verfolg­ ungen der Christen im römischen Reiche aufhörten und eine schlimme Verweltlichung in die Kirche eindrang, da zogen sich manche Christen als Einsiedler in die Einsamkeit zurück, um unter Gebet, Arbeit und Selbstpeinigung der Frömmigkeit sich zu weihen. Als dann ihrer immer mehrere wurden, bildeten sich Vereine, die sich eine Lebensregel schufen. So entstanden Klöster für Mönche und Nonnen. Beim Eintritt legten diese ein drei­ faches Gelübde ab: das der Armut, Ehelosigkeit und des Ge­ horsams. Sie verzichteten auf Privatbesitz, auf die Ehe und auf den eigenen Willen, den sie vielmehr bedingungslos den Oberen unterwarfen. Das nannte man die „evangelischen Ratschläge", deren Befolgung für ganz besonders verdienstlich vor Gott er­ achtet wurde. Wir wollen nicht verkennen, daß diese Klöster viel Gutes gewirkt haben. Sie waren Missionsanstalten, aus welchen viele Missionare hervorgingen, und von denen aus die Mission betrieben und die Kultur unter den Völkern angebahnt

405 Wurde. Sie waren auch Pflegstätten der Wissenschaft und Ge­ lehrsamkeit. Dazu waren sie die Orte für die Ausübung der Wohlthätigkeit und für die Zuflucht der Unglücklichen. Den Päpsten lieferte das Klosterwesen ein großes Heer von Streitern für ihr Ansehen. Als aber die Klöster durch Schenkungen und Vermächtnisse reich geworden waren, zog Ueppigkeit, Laster­ haftigkeit und Unwissenheit in ihre Mauern ein, und sie wurden zu Pflegstätten des Aberglaubens und Unglaubens. Daraus erklärt sich der Zorn eines Luther und seiner Mitarbeiter über das Klosterleben. Ich habe euch, liebe Christen, einen Blick in die Entwicklung der Kirche während des Mittelalters thun lassen. Diese Ent­ wicklung ist nicht erfreulich. Im Beginn dieser Periode hatte cs der Herr seiner Kirche gelingen lassen, in die Erkenntnis seiner Person und der menschlichen Erlösungsbedürftigkeit tief einzu­ dringen. Aber allmählich verfiel die Kirche in eine entsetzliche Glaubens- und Sittenverderbnis. Wohl hätte das furchtbare Gericht, das infolgedessen der Herr über die Christenheit durch den Muhammedanismus hcreinbrechen ließ, und durch welches das Christentum im Morgenlande fast ausgerottet wurde, die Christenheit zur Besinnung bringen sollen. Aber das geschah im allgemeinen nicht. Die Kirche verblieb auf ihrer verkehrten Bahn. Allerdings zog sich durch das ganze Mittelalter ein re­ formatorischer Zug hindurch. Er offenbarte sich in der Bildung einzelner Sekten, welche mehr oder weniger evangelische Er­ kenntnis hatten und gottseliges Leben pflegten. Sie wurden je­ doch von den Obersten der Kirche mit Gewalt unterdrückt. Ein besseres Christentum wurde auch gepflegt von Männern, wie Eckhard, Tauler, Suso, Thomas a Kempis. Ja, allmählich erwachte sogar in der Christenheit allgemein der Ge­ danke, daß der Kirche eine Reformation an Haupt und Gliedern not thue. Aber wer sollte sie ausführen? Die Kirchenver­ sammlungen, welche zu dem Ende abgehalten wurden, brachten sie nicht zu stände. Und diejenigen Männer, welche die Vorläufer der Reformation genannt werden, wie Savonarola in Ita­ lien, Wicliffe in England, Huß in Böhmen, wurden von den Vorstehern der Kirche verdammt, und der erste und letzte als

406 Ketzer verbrannt. So betrübend ging das Mittelalter der Kirche aus. HI. Aber der Herr ließ seine Kirche nicht im Stich. Er verschaffte ihr zur rechten Zeit eine Reformation. Das ist die Reformation des sechzehnten Jahrhunderts, von der an wir die neuere Zeit der Kirche rechnen. Was sie für die Kirche und damit für das Reich Gottes geleistet hat, das habe ich euch, liebe Christen, bereits in einer früheren Predigt dargelegt. Sie hat das Christentum gerettet. Sie hat es von den in dasselbe ge­ mischten Irrlehren und von den in dasselbe eingedrungenen Mißbräuchen gereinigt, das Evangelium lauter und unverfälscht aus dem Wort Gottes dargestellt und den kirchlichen Gottesdienst, insbesondere die Verwaltung der Gnadenmittel schriftgcmäß eingerichtet. Das ist ihr großes Verdienst, und wir können dem Herrn der Kirche nicht dankbar genug sein, daß er sie seiner Kirche geschenkt hat. Allein — mit tiefstem Seelenschmerz müssen wir das bekennen — sie ist mit ihrem Werke nicht durch­ gedrungen. Zwar drang sie in alle christlichen Länder ein, und fand einen außerordentlichen Beifall. Aber ein großer Teil der Kirche, und an dessen Spitze die höchste kirchliche und staatliche Obrigkeit, hat sich ihr nicht nur verschlossen, sondern sie, soweit es irgend ging, mit Verfolgung und Krieg unterdrückt und sich in seinen Irrtümern verstockt. Der damalige Papst hat den be­ deutendsten Vertreter der Reformation, unseren Luther, in den Bann gethan, während ihn der papsttreue deutsche Kaiser in die Reichsacht erklärte, und so blieb nichts anderes übrig, als daß die Anhänger dec Reformation sich zu selbständigen Kirchengemein­ schaften zusammenthaten. Dadurch kam allerdings zu der schon bestehenden großen Spaltung der Kirche in eine morgen- und abendländische Abteilung ein neuer Riß hinzu, und zwar ein solcher, der sich in der Folge als Quelle einer grenzenlosen Zer­ splitterung erwies. Da schon die Reformatoren selbst nicht in allen Stücken der Auffassung der christlichen Wahrheit einig waren, so gingen auch ihre Anhänger in verschiedene kirchliche Gemeinschaften auseinander. Und da kein Glaubenszwang bei ihnen geübt wird, so ist einer immer weiteren Zersplitterung nicht zu wehren. Diese Zersplitterung ist freilich sehr zu beklagen.

407 Wir dürfen jedoch dabei nicht außer acht lassen, daß um das wahre Christentum zu retten, die kirchliche Einheit, die übrigens doch nicht mehr vollständig war, geopfert werden mußte. Und da gereicht es uns denn zu großem Troste, daß die meisten der größeren und kleineren Kirchengemeinschaften, die aus dem Schoß der Reformation erwachsen sind, in der Hauptsache einig sind. Das ist vor allem der Fall in dem Lehrpunkt, welchen die Refor­ mation ins rechte Licht gestellt hat, in dem Glauben und Be­ kenntnis, daß der Sünder gerecht wird vor Gott ohne eigenes Werk und Verdienst allein aus dem bußfertigen Glauben an den Mittler und Versöhner Jesus Christus, womit das weitere Bekenntnis zusammenhängt, daß dieser Glaube den sündigen Menschen erneuert und zur Heiligung treibt und befähigt. Alle Christen, die das bekennen, erkennen sich als Kinder der Refor­ mation, als evangelische Christen.

Aber ist es denn auch wahr? Sind denn die Evangelischen in dieser Hauptwahrheit auch wirkliche einig? Ach, leider sucht das Widerchristentum, das besonders seit der Mitte des sieb­ zehnten Jahrhunderts als eine die göttliche Offenbarung ver­ werfende und die menschliche Vernunft an ihre Stelle setzende Richtung sich hervorgethan hat, diese Einigkeit fortwährend zu zerstören. Und wir können nicht verkennen, daß es ihm gelingt, einen riesigen Abfall von den Grundwahrheiten des Christen­ tums zu bewirken. Dadurch schmilzt die Zahl derjenigen, welche an denselben im Glauben festhalten, allerdings beträchtlich zu­ sammen, aber diese Getreuen gewinnen dadurch an Sicherheit und Festigkeit ihrer Glaubensüberzeugung. Und sehet, liebe Christen, auf diesen Getreuen beruht die weitere Entwicklung des Reiches Gottes. Also beruht sie auf dem evangelischen Teil der Christenheit, dessen rechte Vertreter diese Getreuen sind. Da­ gegen hat der andere Teil der Christenheit durch seine Ablehnung der Reformation und durch seine Versteifung im Irrtum seinen Beruf für das Reich Gottes eingebüßt. Sehen wir nun zu, liebe Christen, was die evangelische Kirche in ihren treuen Gliedern für die Förderung des Reiches Gottes in der Neuzeit leistet.

408 Das offenbart sich am meisten auf den Gebieten der Glaubenslehre und der Mission. Daß die Reformatoren vor allem den Sauerteig der päpst­ lichen Irrlehre und Mißbräuche gründlich ausgefegt, und das lautere, unverfälschte Evangelium auf den Leuchter gestellt haben, das habe ich in einer früheren Predigt gezeigt. Sie haben dem christlichen Glauben, nachdem sie seine seligmachende Wirkung an ihren eigenen Seelen erfahren und erlebt hatten, zu einem angemessenen Ausdruck verhalfen und diesen in den reformato­ rischen Bekenntnisschriften ausgesprochen. Wenn und so lange die evangelische Kirche auf dem reformatorischen Glaubensbe­ kenntnis bleibt, kann sie ihrem himmlischen Haupte als Werkzeug dienen zur Arbeit für das Himmelreich. Das muß sich auf dem Gebiete der Mission kund thun. Achten wir zuerst auf die Aeußere Mission. Wir müssen es bedauern, daß es in der evangelischen Christenheit jahrhundertelang gewährt hat, bis man die Verpflichtung er­ kannte, welche der Heiland seiner Gemeinde auserlegt hat, sein Evangelium in der ganzen Welt zu verkündigen. Es mag ihr bei dieser schweren Versäumnis zu einer gewissen Entschuldigung dienen, daß sie zunächst teils zuviel mit der Ausbildung der Glaubenslehre zu thun hatte, teils zu sehr in den Kampf unt ihre Eistenz unter Verfolgung und Krieg verwickelt war. Denkt doch nur an den schrecklichen dreißigjährigen Religionskrieg. Erst im achtzehnten Jahrhundert brach sich in einigen gläubigen Kreisen der evangelischen Christenheit die Erkenntnis der Missi­ onspflicht Bahn, und das neunzehnte Jahrhundert ist ein rechtes Missionsjahrhundert geworden. In allen Ländern, in welchen die evangelische Kirche Boden gewonnen hat, sind Missionsan­ stalten entstanden zur Ausbildung von Sendboten. Eine Wolke von Zeugen des Heilands hat sich über den ganzen Erdkreis verteilt. In allen Weltteilen erschallt die Predigt des Heils. Die Feindschaft der Heiden und die Ungunst des Klimas hat vielen Boten Leben oder Gesundheit gekostet. Aber immer wieder traten neue Kräfte an die Stelle der abgehenden. Allerdings ist durch die Missionsthätigkeit der Neuzeit erst ein gar geringer Bruchteil der heidnischen Menschheit für das Christentum ge-

409

Wonnen. Aber eine gewisse Kenntnis des Christentums ist be­ reits weithin verbreitet, und der heidnische Aberglaube ist in vielen Seelen erschüttert. Gewiß, es nahet die Zeit, wo der Ausspruch des Heilands seiner Erfüllung entgegen geht: es wird das Evangelium vom Reich gepredigt in der ganzen Welt zu einem Zeugnis über alle Völker (Mtth. 24, 14). Ihr fragt mich: was ist der rechte Sinn dieses Wortes? Und ich muß euch antworten: er bleibt in einer gewissen Dunkelheit, und diese Dunkelheit wird auch nicht völlig erhellt durch die Erklärung des Apostels von der „Fülle der Heiden" welche eingehen soll in die Kirche, ehe das Volk Israel an die Reihe kommt (Röm. 11, 25—26). Ich denke, das letzte Ziel der Mission soll uns auch wohl verborgen bleiben; wir sollen zum voraus nicht erfahren, wann, zu welchem Zeitpunkt dasselbe erreicht ist. Vielmehr sollen wir es als unsere Pflicht ansehen, die Aeußere Mission mit allem Eifer fortzutreiben bis der Heiland wiederkommt. Möge diese Pflicht von dem gläubigen evangelischen Christenvolk nicht wieder vergessen und versäumt werden. Laßt auch uns, liebe Christen, eifrig Hand anlegcn bei diesem Werke! Ich habe noch eine andere Mission zu erwähnen, welche in der Neuzeit der Heidenmission an die Seite getreten ist; ich meine die I n n e r e M i s s i o n. Sie war allerdings von Alters her in der Kirche, aber ihren Namen hat sie in der neueren Zeit erhalten. Ihr Zweck ist, durch Werke der Liebe dem allgemeinen Abfall vom christlichen Glauben und den vorhandenen leiblichen Notständen zu steuern. Zu diesem Zweck ist eine Flut von Ver­ einen und Anstalten ins Leben getreten, und ein Heer von Ar­ beitern und Arbeiterinnen steht in der Arbeit auf dem Gebiete der Inneren Mission. Ich nenne euch als solche Vereine und Anstalten diejenigen zur Verbreitung der Bibel und christlicher Erbauungsschriften und Andachtsbücher, zur Versorgung der evangelischen Brüder in der Zerstreuung mit Gotteshäusern und Schulen, wie mit Geistlichen und Lehrern, zur Erziehung der in religiöser und sittlicher Erziehung verwahrlosten Jugend, zur Ausbildung von Diakonen und Diakonissen für die Kranken­ pflege in Hospitälern, Gemeinden und Familien, zur Rettung von Trunksüchtigen in Asylen und von Prostituierten in Mag-

410 dalenenhäusern, zur religiösen und sittlichen Bewahrung und Pflege der konfirmierten Jugend in Jünglings- und Jungfrauen­ vereinen, zur Verpflegung und Unterweisung von armen Epi­ leptischen, Blinden, Taubstummen, Schwach- und Blödsinnigen, zur Fürsorge für die aus den Gefängnissen Entlassenen, und zu noch vielen anderen Zwecken. Ihr sehet, liebe Christen, welch ein weites, fast unbegrenztes Feld der Wirksamkeit der Inneren Mission eröffnet ist. Möge das gläubige evangelische Christen­ volk nicht ermüden in dem begonnenen Werke, und nicht er­ schrecken vor der sich immer mehr erweiternden Arbeit! Möge es dieses Werk aber auch weiter treiben in dem Geiste, in welchem es begonnen worden ist, in dem Geiste christlichen Glaubens und christlicher Liebe, und sich von diesem Geiste nicht abwendig machen lassen, wenn es gewahrt, daß sich die Welt aufmacht, dies Werk nachzuahmen, aber in ihrem Sinn und Geist! Laßt auch uns, liebe Christen, immer eifriger werden in der Beteiligung an dieser Missionsthätigkeit! Noch eine dritte Bestrebung, die in der evangelischen Kirche in der Neuzeit sich regt, darf ich nicht übergehen. Das ist das Streben nach Union. Darunter versteht man die Wiederver­ einigung der getrennten Kirchengemeinschaften. Nicht wahr, das gebt ihr mir willig zu: jeder gläubige evangelische Christ erkennt die gegenwärtige kirchliche Zersplitterung als ein schweres Uebel und als eine betrübende Abirrung von dem kirchlichen Urbild. Ja, wir sehen in dieser Zersplitterung ein Hindernis, welches der Kirche die Erfüllung ihrer Aufgabe unmöglich macht, das also beseitigt werden muß, wenn die Gemeinde Jesu Christi ihren Zweck erreichen soll. Wie weit ist denn den Evangelischen das Vereinigungsbestreben bis jetzt gelungen? Da muß ich leider sagen: bis jetzt sind die Erfolge noch gering. Das werdet ihr begreiflich finden, wenn ich euch die Bedingungen aufzeige, an welche das Unionsstreben gebunden ist. Wenn es glückliche Erfolge erzielen will, darf es die vorhandenen konfessionellen Unterschiede nicht verwischen. Es muß vielmehr die Besonder­ heiten im Glaubensbekenntnis unangetastet lassen, und eine Einigung nur auf dem Grunde des Gemeinsamen im Glauben und Bekenntnis suchen und aufrichten. Auf der Grundlage

411 dessen, was die lutherische und die deutsch-reformierte Konfession in ihrem Glaubensbekenntnis gemeinsam haben, ist denn seit dem letzten Reformationsjubiläum eine Union in einigen deutschen Ländern zu stände gekommen. Eine Verbrüderung aller Evan­ gelischen auf Grund des gemeinsamen reformatorischen Recht­ fertigungsglaubens unter gegenseitiger Schonung und Duldung des Besonderen im Glauben und Bekenntnis der mannigfachen evangelischen Kirchen und Secten strebt die in England ent­ standene „Evangelische Allianz" an. Liebe Christen, laßt auch uns an diesem Einigungsstreben regen, lebhaften Anteil nehmen! Können wir Menschen auch die verlorene Einheit der Gesamt­ kirche nicht machen, so bahnen wir derselben doch mit diesem Be­ streben den Weg auf die Zeit, wann der Herr, unser Heiland, selbst herstellen wird „dieeineHerdeunterdemeinen Hirten" (Joh. 10, 16), welcher die Verheißung gegeben ist: fürchte dich nicht, du kleine Herde, denn es ist eueres Vaters Wohlgefallen, euch das Reich zu geben! (Luk. 12, 32). Amen.

32. Tert: Mtth. 13, 24—30. „Das Himmelreich ist gleich einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säete. Da aber die Leute schliefen, kam der Feind und säete Unkraut zwischen den Weizen, und ging davon. Da nun das Kraut wuchs und Frucht brachte, da fand sich auch das Unkraut. Da traten die Knechte zu dem Hausvater und sprachen: Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesäet; woher hat er denn das Unkraut? Er sprach zu ihnen: das hat der Feind gethan. Da sprachen die Knechte: willst du denn, das wir hingehen und cs ausjäten? Er sprach: nein, auf daß ihr nicht zugleich den Weizen mit ausraufet, so ihr das Un­ kraut ausjätet; lasset beides mit einander wachsen bis zu der Ernte, und um der Ernte Zeit will ich zu den Schnittern sagen:

411 dessen, was die lutherische und die deutsch-reformierte Konfession in ihrem Glaubensbekenntnis gemeinsam haben, ist denn seit dem letzten Reformationsjubiläum eine Union in einigen deutschen Ländern zu stände gekommen. Eine Verbrüderung aller Evan­ gelischen auf Grund des gemeinsamen reformatorischen Recht­ fertigungsglaubens unter gegenseitiger Schonung und Duldung des Besonderen im Glauben und Bekenntnis der mannigfachen evangelischen Kirchen und Secten strebt die in England ent­ standene „Evangelische Allianz" an. Liebe Christen, laßt auch uns an diesem Einigungsstreben regen, lebhaften Anteil nehmen! Können wir Menschen auch die verlorene Einheit der Gesamt­ kirche nicht machen, so bahnen wir derselben doch mit diesem Be­ streben den Weg auf die Zeit, wann der Herr, unser Heiland, selbst herstellen wird „dieeineHerdeunterdemeinen Hirten" (Joh. 10, 16), welcher die Verheißung gegeben ist: fürchte dich nicht, du kleine Herde, denn es ist eueres Vaters Wohlgefallen, euch das Reich zu geben! (Luk. 12, 32). Amen.

32. Tert: Mtth. 13, 24—30. „Das Himmelreich ist gleich einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säete. Da aber die Leute schliefen, kam der Feind und säete Unkraut zwischen den Weizen, und ging davon. Da nun das Kraut wuchs und Frucht brachte, da fand sich auch das Unkraut. Da traten die Knechte zu dem Hausvater und sprachen: Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesäet; woher hat er denn das Unkraut? Er sprach zu ihnen: das hat der Feind gethan. Da sprachen die Knechte: willst du denn, das wir hingehen und cs ausjäten? Er sprach: nein, auf daß ihr nicht zugleich den Weizen mit ausraufet, so ihr das Un­ kraut ausjätet; lasset beides mit einander wachsen bis zu der Ernte, und um der Ernte Zeit will ich zu den Schnittern sagen:

412 sammelt zuvor das Unkraut und bindet es in Bündlein, daß man es verbrenne, aber den Weizen sammelt mir in meine Scheuer." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Wir haben die Kirche in ihrer Vergangenheit und Gegenwart betrachtet, und ihr Wesen, ihre Eigenschaften und ihre Aufgaben kennen ge­ lernt. Wir haben erfahren, was sie nach der Absicht ihres Gründers sein sollte, und was sie in Wirklichkeit ist. In Bezug auf das, was sie sein soll, hatten wir die Erklärungen des Wortes Gottes zu unserem Leitstern, und in Bezug auf das, was sie ist, diente uns die Kirchengeschichte zur Führerin. Es bleibt uns nun noch übrig, von der Zukunft der Kirche zu sprechen, und nach Aufklärung über die Frage zu forschen: was wird noch aus der Kirche werden? Die Antwort auf diese Frage, wer wird sic uns geben? Wir selbst können höchstens nur Vermutungen aufstellen, und damit ist uns nicht gedient. Menschliche Vermutungen führen meist irre. Da sind wir wieder an Gottes Wort gewiesen. Aber finden wir in ihm Aufschluß über diese Frage? Ich antworte: Gott sei Dank, ja. Wir finden diesen Aufschluß in den prophetischen Weissagungen, welche es uns darbietet, aber auch hier allein. Nun entsteht aber eine andere Frage: sind diese Weissagungen auch so gegeben, daß wir ihren Sinn und ihre Meinung zu verstehen vermögen? Allerdings sind sie vielfach in Bildern gegeben, und diese sind nicht immer leicht zu deuten. Aber daneben finden wir in der Heiligen Schrift auch Weissagungen, welche in einfacher, schlichter Rede gegeben sind, und nach diesen müssen die Bilder gedeutet werden. Ihr werfet mir vielleicht ein: es wird aber auch die einfache prophetische Rede von den Schriftauslegern oft verschieden ver­ standen? Ja, das geschieht allerdings zuweilen. Allein über die wesentlichsten und wichtigsten Punkte der Weissagung sind diejenigen Ausleger, deren Geist mit dem in der Heiligen Schrift waltenden Geiste eins ist, doch einig. Ja, die Deutung der Weissagung überhaupt, wie derjenigen über die Zukunft der Kirche hat in der neueren Zeit außerordentlich an Sicherheit ge­ wonnen. Und so können wir in Hinsicht auf das, was ich über die Zukunft der Kirche sagen will, gewisse Tritte thun. Da liegt nun unser Textgleichnis vor uns, und es handelt

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sich darum, was wir demselben über unseren Gegenstand zu ent­ nehmen haben. In demselben weist uns der Heiland darauf hin, daß in der Geschichte der Menschheit zwei Entwicklungsreihen neben einander herlaufen. Das Gute, das von Gott und zwar insbesondere durch unseren Heiland in die Menschenwelt hincingepflanzt wird, wächst, breitet sich aus und gelangt endlich zur Reife. Daneben aber pflanzt der böse Feind, der Fürst der Finsternis Böses in das Menschengeschlecht hinein, und auch dieses sproßt empor, dehnt sich aus und kommt schließlich eben­ falls zur Ausreifung. Diese allgemeine Wahrheit, die unser Gleichnis ausspricht, müssen wir festhalten im Hinblick auf die zukünftigen Schicksale der Kirche. Es ist Gottes Absicht, daß Beides, das Böse, wie das Gute, oder, um es mit anderen Worten auszudrücken, der Unglaube und die Sünde, wie der Glaube und die Gottseligkeit, das Widerchristentum, wie das Christentum sich ausgestalten soll. Das Gute ist oder soll wenigstens in der Kirche vertreten sein, wie das Böse in der Welt vertreten ist, von welcher Gottes Wort sagt, daß sie im Argen liegt. Die Kirche steht aber in der Welt und während sie sich auf der einen Seite aus ihr erbaut, wird sie auf der anderen fortwährend nicht nur von ihr äußerlich bedrängt, sondern auch innerlich vielfach be­ einflußt. Das hat sich in dem seitherigen Verlauf ihrer Ge­ schichte schon genugsam gezeigt; das wird sich in der Zukunft und gegen das Ende des gegenwärtigen Weltlaufs hin noch offen­ kundiger darstellen. Indem wir deshalb jetzt reden über Die Zukunft der Kirche

beachten wir: 1. deren Lichtseite, und 2. derenSchattenseite.

I. Fassen wir zuerst die Lichtseite in der zukünf­ tigen Geschichte der Kirche ins Auge. Ich habe euch be­ reits gesagt, liebe Christen, daß der Stifter und das Haupt der Kirche derselben den Auftrag gegeben hat, sein Evangelium zu allen Völkern der Erde zu tragen. Das soll sie so lange fortsetzen, bis „die Fülle der Heiden eingegangen ist". Dabei ist ihr in Aussicht gestellt, daß, wann dies Ziel erreicht ist, die

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geistliche Blindheit, in welcher das Volk des Men Bundes seit­ her gestanden hat und in unseren Tagen noch steht, von ihm ge­ nommen werden soll. Es soll dann zu einer Bekehrung auch dieses Volkes kommen, „ganzJsraelsollgerettetwerben". Saget selbst, liebe Christen, ist das nicht eine entzückende Lichtseite der Kirche, die sich da vor unseren Blicken aufthut? Ihr werdet sie aber noch deutlicher als solche erkennen, wenn ich euch aus Gottes Wort zeige, welche Wirkung die Bekehrung Is­ raels auf das kirchliche Leben und auf die Entwicklung des Reiches Gottes haben wird. Wenn wir aber dieses merkwürdige Zukunftsereignis näher betrachten wollen, dann müssen wir verschiedene Punkte, die da­ bei in Frage kommen, erwägen. Das Volk Israel war von Gott dazu erwählt und bestimmt, daß in ihm das Heil, die Erlösung, das Reich Gottes angebahnt werden sollte. Und so ist es auch geschehen, wie ihr aus unseren Betrachtungen ersehen habt. Da wäre doch das Natürliche und einzig Nichtige gewesen, daß es dieses Heil, als es cintrat, auch angenommen hätte. Es hätte damit allerdings seinen seitherigen sinnbildlichen Gottesdienst verloren. Der neue Geist mußte sich ja notwendigerweise auch eine neue Form des Gottesdienstes bilden, denn für den neuen Most gehören auch neue Schläuche, wie unser Heiland sagt (Mtth. 9, 17). Aber das Bundesvolk hätte dabei nicht nur nichts eingebüßt,, sondern sogar einen un­ schätzbaren Gewinn gemacht, denn durch den Geist, den der Er­ löser brachte, wäre es innerlich erneuert worden, wie seine Pro­ pheten ihm verheißen hatten im Namen des Gottes, der da spricht: ich will euch ein neu Herz und einen neuen Geist in euch geben; . . ich will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und darnach thun (Ezech. 36, 26—27). Ihr wisset, daß es anders gekommen ist, als es kommen sollte. Das Volk Israel hat das Heil verworfen, und ist infolgedessen nicht nur in seinem äußeren Bestand dem Gerichte Gottes ver­ fallen, sondern auch innerlich in geistliche Blindheit gesunken, und hat seinen Beruf für das Reich Gottes vorläufig eingebüßt. So ist die andere prophetische Voraussage an ihm in Erfüllung

415 gegangen: die Kinder Israel werden lange Zeit ohne König, ohne Fürsten, ohne Opfer, ohne Altar, ohne Leibrock und ohne Heiligtum sein (Hos. 3, 4). Aber ist es nicht höchst auffallend, daß dieses Volk, das jetzt teils ganz erstarrt ist in seinem äußer­ lichen Gottesdienst, soweit er sich überhaupt noch von ihm aus­ führen läßt, tcils seichter Aufklärung sich hingegeben hat, trotz seiner Zerstreuung über den ganzen Erdkreis, ja trotz seiner Jahrhunderte lang erduldeten Unterdrückung, in seiner natio­ nalen und religiösen Besonderheit sich erhalten hat? Müssen wir bei dieser Wahrnehmung nicht der Verheißungen gedenken, die diesem Voll ebenfalls von den Propheten des Alten Bundes gegeben sind? So lesen wir unmittelbar hinter der eben er­ wähnten Weissagung: darnach werden sich die Kinder Israel bekehren, und den Herrn, ihren Gott, und ihren König David suchen, und werden mit Zittern zu dem Herrn und seiner Gnade kommen in der letzten Zeit (Hos. 3, 5). Besonders anschaulich wird diese Wendung in dem Verhalten des Volkes Israel dem Propheten Ezechiel vorgestellt in dem merkwürdigen Gesicht von dem Totenfeld, über welches er weissagen muß: und siehe, da rauscht es, und regt es sich, und die Totengebeine kommen zusainmen, und es wächst Fleisch darauf, und kommt Odem in die­ selben, und sie werden lebendig. Der Herr aber spricht: diese Gebeine sind das ganze Haus Israel; siehe, jetzt sprechen sie: unsere Gebeine sind verdorret, und unsere Hoffnung ist verloren, und ist aus mit uns; . . ich will meinen Geist in euch geben, daß ihr wieder leben sollt; . . ich will mit ihnen einen Bund des Friedens machen, das soll ein ewiger Bund sein; . . und ich will unter ihnen wohnen, und will ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein (Ezech. 37). Das, was hier bildlich dargestellt wird, das kündigt ein anderer Prophet mit den Worten an: über das Haus David und über die Bürger zu Jerusalem will ich ausgießen den Geist der Gnade und des Gebets; und sie werden mich ansehen, welchen sie zerstochen haben, und werden ihn klagen, wie man klagt ein einiges Kind, und werden sich um ihn betrüben, wie man sich betrübt um ein erstes Kind; zu der Zeit wird große Klage sein zu Jerusalem, . . und das Land wird klagen, ein jegliches Geschlecht besonders: das Geschlecht Davids

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besonders und ihre Weiber besonders, . . also alle übrigen Ge­ schlechter, ein jegliches besonders und ihre Weiber auch besonders(Sach. 12, 10—14). Was nun die Propheten des Alten Bundes in diesen uni)1 anderen Weissagungen Vorhersagen, das spricht auch unser Heiland aus in den Worten, welche er der euch wohlbekanntem Klage über Jerusalem hinzufügte: ich sage, ihr werdet mich vom jetzt an nicht sehen, bis ihr sprechet: gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn! (Mtth. 23, 39). Eine eingehende und aus­ führliche Darlegung der Stellung des Volkes Israel im Reiche: Gottes und seiner zukünftigen Bekehrung giebt der HeidenaposteÜ Paulus, und sie geht darin aus, daß er sagt: ich will euch nicht Vorhalten dieses Geheimnis: Blindheit ist Israel zum teil wider­ fahren so lange, bis die Fülle der Heiden eingegangen sei und also das ganze Israel selig werde (Röm. 11, 25—26). Nun frage ich, liebe Christen: kann man angesichts solcher Weissagungen noch Zweifel hegen an der dereinstigen Bekehrung des Volks Israel? Und doch fehlt es nicht an Zweiflern. Zwar sagen manche unter ihnen: wir wollen nicht zweifeln, daß in der Zukunft noch viele Israeliten zum Glauben an den Heiland kommen werden, wie das auch seither schon bei nicht wenigen geschehen ist; wir wollen sogar zugeben, daß dies in der Zukunft noch zahlreicher stattfinden wird, als seither; aber daß noch eine Bekehrung des Volkes im ganzen bevorsteht, das nehmen wir nicht an; wir halten vielmehr dafür, daß unter der Bezeichnung „Israel" im Neuen Testament nicht mehr das leibliche Volk des Alten Bundes zu verstehen ist, sondern daß damit das neue geistliche Israel, die aus bekehrten Heiden und Juden zusammengesetzte Christenheit gemeint ist. Auf Grund dieser Annahme verstehen sie denn den Ausspruch des Apostels dahin, daß schließlich die ganze aus Heiden und Juden ge­ sammelte gläubige Gemeinde Jesu Christi die Seligkeit erlangen wird. Liebe Christen, das ist ein gründliches Mißverständnis der Darlegung des Apostels und der mit dieser zusammen­ stimmenden übrigen biblischen Weissagungen. Laßt mich euch das nachweisen! Zuerst spricht der Apostel seinen Schmerz

417 darüber aus, daß das erwählte Bundesvolk Israel das Heil in Christo abgewiesen hat (Röm. 9, 1—5). Dann rechtfertigt er Gott, indem er zeigt, wie die Verwerfung des Volks Israel weder gegen die Wahrhaftigkeit, noch gegen die Gerechtigkeit Gottes streite, sondern ihren Grund darin habe, daß sich das Bundesvolk das Heil nicht wollte aus Gnaden im Glauben schenken lassen (9, 6—10, 21). Aber, so erörtert er weiter, darum ist es nicht für immer verstoßen, es ist und bleibt vielinehr das Volk der Wahl. Das erkennt man schon daraus, daß bereits zu dieser Zeit ein Rest in demselben vorhanden ist, der das Heil Jesu Christi im Glauben ergreift, die Uebergebliebenen nach der Wahl der Gnade (11, 3—10). Die zeitweilige Ver­ stockung des Volksganzen dient nur dazu, den Heidenvölkern das Heil zu vermitteln. Durch deren Bekehrung soll das Volk Israel zur Nachfolge gereizt werden. Es ist der gute Oelbaum. Diejenigen seiner Glieder — und das ist die große Mehrheit —, welche das Heil in Christo verworfen haben, sind die Zweige, welche aus dem gute« Oelbaum ausgehauen werden. An ihre Stelle werden Zweige des wilden Oelbaumes eingepflanzt, nämlich Heiden, welche den Heiland im Glauben ergreifen. Wenn nun das Volk Israel, das jetzt mit geistlicher Blindheit geschlagen ist, dereinst sich bekehrt, dann werden seine Glieder als Zweige wieder eingesetzt in den Oelbaum, aus welchem sic um ihres Unglaubens willen ausgehauen waren. Und diese Be­ kehrung des Judenvolks wird eintreten, wann die Fülle der Heiden cingegangen ist in die Kirche. Es wird aber eine Be­ kehrung des Volksganzen sein. Ganz Israel wird ge­ rettet werden, denn Gottes Gaben und Berufung mögen ihn nicht gereuen (11,11—29). Wahrlich, da kann kein Zweifel auf­ kommen, daß wirklich noch eine Bekehrung des leiblichen Israel bevorsteht. Und damit wir uns von dieser Volksbekehrung einen richtigen Begriff machen, eröffnet uns die Offenbarung St. Jo­ hannis unter dem Bilde einer Versiegelung, daß es eine von Gott bestimmte Zahl von Gliedern der zwölf Stämme, zwölfmal zwölftausend, also cinhundertvierundvierzigtausend sein werden (Offenb. 7, 2—8). Daß aber diese Auswahl versiegelt wird vor dem Ausbruch der letzten Gottesgerichte, soll uns anzeigen, Schnabel, Predigten.

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418

-aß Gott beschlossen hat, in diesem bekehrten Israel seine Ge­ meinde durch die letzte große Trübsal auf Erden hindurch zu retten. Es ist leicht begreiflich, daß diese merkwürdige Volksbekehrung eine bedeutende Wirkung aus­ üben wird. Sie wird höchst segensreiche Folgen für die Kirche und das Reich Gottes haben. Sie wird Leben aus Toten bringen (Röm. 11, 15). Ein so herrliches geistliches Leben wird sich in dem bekehrten Gottesvolk regen, daß die übrige über den gesamten Erdkreis zerstreute, aus den Heidenvölkern gesammelte gläubige ChristenheitsichandasselbealsihrenMittelpunkt anschließen wird.—Leben aus Toten wird Israels Bekehrung bringen. Ich denke zunächst an das geistliche Leben, das sie dem aus dem geistlichen Tode neubekehrten Volk selbst bringen wird. Müssen wir nicht weiter auch an das geistliche Leben denken, welches dieses Ereignis der ganzeil Christenheit eintragen wird? Welch reichen geistlichen Gewinn zieht doch die Christenheit fortwährend aus ihrem Missionsbetrieb! Wie groß wird der geistliche Gewinn sein, welchen ihr die plötzliche Bekehrung eines ganzen Volks einbringt, zumal des Volks, das vordem in der Geschichte des Reiches Gottes eine so bedeutende Rolle gespielt, und nun seit Jahrtausenden in geistlicher Blindheit und Verstockung gestanden hat! — Leben aus Toten: ein viel­ deutiger Ausdruck! Sollte er nicht noch mehr anzeigen, näm­ lich auch das, daß die Bekehrung Israels einen großen Fort­ schritt in der Entwicklung des Reiches Gottes einleitet, daß sie­ bte Auferstehung der Toten, wenigstens die erste, also die Voll­ endung des Reiches Gottes, wenigstens die vorläufige, und da diese an die Wiederkunft des Heilands geknüpft ist, daß sie: dieses große Zukunftsereignis herbeizieht und zur baldigen Folge­ hat? Ihr seht, liebe Christen, welche überaus folgenschwere: Begebenheit das ist, was der heilige Apostel bezeichnet mit den: Worten: ein ganzes Israel wird gerettet werden. Es fragt sich nun noch: wann ist die Volksbekeh-rung Israels zu erwarten? Das Wort Gottes sagt:: wann die Fülle der Heiden eingegangen ist. Dafür aber läßt:

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sich kein bestimmter Zeitpunkt ermitteln. Gegenwärtig wird die Heidenmission noch mit besonderem Eifer, mit gutem Geschick, in der rechten Weise und mit erwünschtem Erfolg betrieben. Gott allein weiß, wann sie das ihr in seinem Ratschluß bestimmte Ziel erreicht haben wird. Ganz irrig ist die Meinung, daß sie ihre Aufgabe schon längst gelöst habe. Doch geht aus manchen An­ deutungen der biblischen Weissagung hervor, daß die Be­ kehrung des Volks Israel nicht allein vor der Wiederkunft des Heilands, sondern noch vor dem Auftreten des Widerchrist er­ folgen wird. Wir dürfen das wohl folgern aus dem, was uns die Weissagung über das zukünftige Auftreten der zwei Zeugen mitteilt (Offenb. 11). Daß diese im bekehrten Israel auftreten, unterliegt wohl nach ihrer Beschreibung keinem Zweifel. Mit ihnen aber streitet und sie tötet der Widerchrist. Es muß ja auch in der Zeit der letzten großen Drang- und Trübsal eine Gemeinde auf Erden vorhanden sein, die im stände ist, durch ihre Beharr­ lichkeit und Standhaftigkeit im Glauben das Widerchristentum in seinen Verlockungen und Verfolgungen, und dadurch den Fürsten der Finsternis, den Urheber des Widerchristentums, völlig zu überwinden. Eine solche Gemeinde aber wird das aus Jahrtausende langem geistlichen Tode zum geistlichen Leben erwachte Volk der göttlichen Wahl, und die mit ihm verbundene und gereinigte übrige Christenheit sein. Ihr verstehet, liebe Christen, von welch eingreifender Wichtigkeit die Bekehrung Is­ raels für die Geschichte des Reiches Gottes ist. Erkennen wir es deshalb als unsere Pflicht an, dieselbe nicht allein zu ersehnen, sondern sie auch durch eifrige Missionsarbeit an dem unter uns weilenden Judenvolk vorzubereiten und in die Wege zu leiten! Euch liegt wohl noch eine andere Frage auf den Lippen, liebe Christen, ich meine die: wird mit der Bekehrung desJudenvolksauchseineRückkehrindasLand seinerVäterverbundensein? Die Weissagungen der Propheten des Alten Bundes scheinen das mit aller Bestimmtheit voraus zu sagen, wenn wir sie buchstäblich auffassen. Aber müssen sie buchstäblich verstanden werden, oder sind diese Aus­ sagen nicht bloß die Einkleidung, der Rahmen des Gedankens, daß das Volk des Alten Bundes doch noch die Bürgerschaft im 27*

420 Reiche Gottes erlangen wird? Spricht nicht für diese geistliche Auffassung ganz entschieden der Umstand, daß im Neuen Testa­ ment von einer solchen Rückkehr gar keine Rede ist, daß nament­ lich auch St. Paulus nur von einer geistlichen Umkehr seines Volks redet? Indessen, wenn die letzte Weissagung des Neuen Testaments die zwei Zeugen (Offenb. 11) in die große Stadt versetzt, die da heißt (nämlich zur damaligen Zeit, als dem Seher dieses Zukunftsgesicht gezeigt wird) geistlich, bildlich Sodom und Aegypten, da auch ihr Herr gekreuzigt ist, also offenbar nach Jerusalem, so ist uns der Schluß nahe gelegt: das bekehrte Volk Israel ist zur Zeit des Auftretens der zwei Zeugen in feinern alten, ihm gelobten Heimatlande. Und sehet, diese Entdeckung wirft dann auch ein Licht auf die Weissagungen der Propheten des Alten Bundes, zumal wenn wir die Erwägung daran knüpfen, daß eine Volksbekehrung der Judenschaft kaum anders vorstellbar ist, als wenn wir uns die Fülle desselben gesammelt denken. Und wo auf Erden sollte das anders sein, als im Lande der Verheißung? Ja, liebe Christen, das ist die Lichtseite in dem Zukunfts­ bild der Kirche. Zur Erfüllung ihrer hohen Aufgaben wird ihr himmlisches Haupt ihr eine geistliche Neubelebung senden. In derselben wird es ihr gelingen, die Fülle der Heiden einzuführen, und sie wird reichen geistlichen Gewinn davon ernten. Sie wird dadurch auch das Judenvolk reizen, sich als Volksganzes dem Heiland zuzuwenden, und dieses Ereignis wird ihr besonders hohen Segen eintragen. Und unter diesen herrlichen Gnaden­ erweisungen von feiten ihres unsichtbaren Hauptes wird sie selbst heranreifen zu der Gestalt, in welcher sie würdig ist zum Em­ pfang ihres himmlischen Bräutigams und zur Feier der Hoch­ zeit des Lammes. Der Weizen auf dem Acker der Welt wird zu einer herrlichen Ernte heranreifen. II. Wir dürfen jedoch bei diesem entzückenden Blick auf die Lichtseite im Zukunftsbild der Kirche nicht stehen bleiben. Wir müssen auch seine Schattenseite ins Auge fassen. Auch das Unkraut wird sich auf dem Weltacker entfalten und entwickeln, denn so will es der verborgene Ratschluß Gottes. Auch bei der Enthüllung dieser Schattenseite sind wir

421 auf die biblische Weissagung angewiesen. Es ist aber ein teil­ weise sehr trübes, düsteres Bild, welches sie über die Zukunft der Kirche entwirft. Und in diesem Bild treten insbesondere zwei betrübende Erscheinungen hervor. Die eine ist der all­ gemeine Abfall vom christlichen Glauben, und die andere ist die Ausgestaltung des Widerchrist ent ums mit seiner Gipfelung im persönlichen Widerchrist. Daß es zu diesen Erscheinungen kommen, daß die Kirche einer solchen Zukunft entgegen gehen soll, das will freilich vielen Christen nicht zu Sinn. Sie sind ganz anderer Meinung. Wie die Weltleute meinen, die in stetem Fortschritt begriffene geistige Bildung werde sich nach und nach über das gesamte Menschen­ geschlecht erstrecken und schließlich das goldene Zeitalter herbei­ führen, so denken diese Christen, das immer mehr auf der Erde sich ausbreitcnde Christentum werde diese Wirkung ausüben, es werde eine allmählich sich vollziehende Weltveredlung, Welt­ verklärung bewirken. Das sind menschliche Gedanken, liebe Christen, die wohl ganz gut gemeint sein mögen, die aber doch den Aussagen der biblischen Weissagung gegenüber nicht be­ stehen. Nein, so wird es nicht gehen. Vielmehr wird die Zukunftsgeschichtc so ausgehen, daß es den Anschein haben wird, als sei das Christentum, und die Kirche, seine Vertreterin und Pflegerin, abgethan und ausgcrottet. Wenigstens für die Augen der Weltleute und Christusfcindc wird cs den Anschein haben. Laßt uns doch hören, was die betreffende Weissagung sagt. Wir lesen: laßt euch niemand verführen in keinerlei Weise, denn er kommt nicht (nämlich der Tag Christi), cs sei denn, daß zu­ vor der Abfall komme und offenbaret werde der Mensch der Sünde, das Kind des Verderbens, der da ist ein Widersacher, und sich überhebt über alles, das Gott oder Gottesdienst heißt, also daß er sich setzt in den Tempel Gottes als ein Gott und giebt sich aus, er sei Gott; und was cs noch aufhalt, wisset ihr, daß er offenbaret werde zu seiner Zeit, denn cs regt sich schon bereits das Geheimnis der Bosheit, allein daß der es jetzt auf­ hält, muß hinweg gethan werden; und alsdann wird der Boshaftige (Gesetzlose) offenbaret werden, welchen der Herr um­ bringen wird mit dem Hauche seines Mundes, und wird seiner

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ein Ende machen durch die Erscheinung seiner Zukunft, des (des Widerchrist), welches Zukunft geschieht nach der Wirkung Satans mit allerlei lügenhaftigen Kräften und Zeichen und Wundern und mit allerlei Verführung zur Ungerechtigkeit unter denen, die verloren werden dafür, daß sie die Liebe zur Wahrheit nicht haben angenommen, auf daß sie selig würden; darum wird ihnen Gott kräftige Irrtümer senden, auf daß gerichtet werden alle, die der Wahrheit nicht glauben, sondern haben Lust an der Ungerechtigkeit (2. Thess. 2, 3—12). O, welch niederschlagende Aussicht! Und diese traurige Entwicklung wird nicht etwa auf dem Gebiete der außerchristlichen Welt, sondern innerhalb der Christenheit erfolgen. Ihr fraget, liebe Christen: wie kann es aber nur dahin kommen in der Christenheit? Ihr solltet euch das nicht allzusehr befremden lassen. Merket ihr denn nicht, daß sich beides, was hier vorher­ gesagt wird, bereits vor und unter unseren Augen zu entwickeln begonnen hat? Thut doch nur die Augen auf, und ihr werdet sowohl den Glaubensabfall bereits im Gange, als auch das Widerchristentum schon im Werden erblicken. Ihr werdet das auf der einen Seite wahrnehmen, wie ihr auf der anderen Seite beobachten könnet, daß auch die erhoffte geistliche Neubelebung der Christenheit, ich meine das Erwachen geistlichen Lebens in vielen Gliedern der Kirche stattfindet. Es gab eine Zeit in der Geschichte der Kirche — ich denke dabei an unsere evangelische Kirche —, in welcher das eigentliche Christentum vergessen und dem sogenannten Denk- und Vernunftglauben gewichen war. Die Leute meinten aber das rechte Christentum gefunden zu haben. Da gab es keinen bewußten Abfall vom Christentum und kein christusfeindliches Widerchristentum. Seitdem aber wieder das wirkliche, biblische Christentum in das Bewußtsein vieler getreten ist, regt sich auch bei vielen der bewußte Abfall vom Christusglauben und das Christo feindliche Widerchristen­ tum innerhalb der Christenheit. Wenn Christus sich regt, dann regt sich auch alsbald sein Widersacher Satan. Das trat ganz besonders deutlich zu Tage sowohl während des Erdenwandels des Heilands, als während der Wirksamkeit der in außerordent­ licher Geistessalbung stehenden Apostel. Darum konnte der

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heilige Paulus schon zu seiner Zeit schreiben: es regt sich bereits das Geheimnis der Bosheit. Und St. Johannes mußte er­ mahnen: Kinder, es ist die letzte Stunde, und wie ihr gehört habt, daß der Widerchrist kommt, so sind nun viele Widerchristen worden, daher erkennen wir, daß die letzte Stunde ist; . . ihr Lieben, glaubet nicht einem jeden Geist, sondern prüfet die Geister, ob sie von Gott sind, J)enit es sind viele falsche Pro­ pheten ausgegangen in die Welt; . . das ist der Geist des Widerchrist, von welchem ihr habt gehört, daß er kommen werde, und ist schon jetzt in der Welt (1. Joh. 2, 18; 4, 1. 3). Galt das von der Zeit der Apostel, so gilt es wahrlich nicht weniger von unseren Tagen. Ihr dürft euch auch nicht darüber wundern, liebe Christen, daß die Weissagung den Abfall und den Widerchrist mit ein­ ander in enge Verbindung bringt. Der Abfall vom christlichen Glauben ist ja nichts anderes, als Widerchriskentum. Die Menschen kehren sich vom Christentum ab und verfallen in das Widerchristentum. In jeder Menschenbrust ist schon von Natur ein Widerstreben gegen das Christentum und gegen den Heiland. Aber es wirft wohl jemand ein: ist es denn nicht wahr, daß die Menschenscele von Natur eine Christin ist, wie ein Kirchenvater so schön von ihr bezeugt? Doch, die Menschenseele ist von Gott bestimmt für den seligmachenden Glauben an den Heiland, auf ihrem Grund ruht eine tiefe Sehnsucht nach Erlösung von der Sünde, und sie findet in der That, wie ein anderer Kirchenvater bekennt, nicht eher die wahre Ruhe, bis sie ruhet in Gott durch den seligmachenden Glauben an den, welchen uns Gott gemacht hat zur Weisheit und Gerechtigkeit, zur Heiligung und Erlösung. Allein, das widerspricht durchaus nicht dem, was ich gesagt habe, daß in jedem Menschenherzen ein natürliches Widerstreben gegen den Heiland und sein Evangelium vorhanden ist. Das muß erst überwunden werden, wenn es zur Bekehrung kommen soll. Es kommt jedoch bei den meisten Menschen weder zur Bekehrung, noch zur Ueberwindung des natürlichen Widerstrebens. Die ungeheuere Masse der Namenchristen beharrt in religiöser Gleich­ giltigkeit, solange ihr das Christentum nicht in lebendiger Er­ scheinung vor die Augen tritt. Geschieht das, dann schlägt die

424 Gleichgültigkeit gegen den Heiland und sein Evangelium leicht in Feindseligkeit um. Und weil der Mensch doch seine Feind­ schaft gegen das Christentum rechtfertigen will, so macht er sich einen anderen Glauben zurecht, eine andere religiöse Weltan­ schauung, die dem Christentum entgegengesetzt ist, und diese ist das Widerchristentum. Diesem fallen die bis dahin gleich­ gültigen Christen zu, und so entsteht eine Widerchristische Geistes­ richtung, die immer mehr um sich greift und durch welche dem Auftreten des persönlichen Widerchrist der Boden bereitet wird. Dieser Widerchrist, was ist er und was haben wir uns unter demselben vorzustellen? Mit dieser Frage sind wir, liebe Christen, ganz an die biblische Weissagung gewiesen. Wie wir aus derselben vernommen haben, ist er eine Einzelpersönlichkeit. Aber redet St. Johannes nicht auch von Widerchristen in der Mehrzahl? Ja, doch bezeichnet er diese deutlich als die Vorläufer und Wegbereiter des einen, der schließ­ lich erscheinen wird und den man deshalb wohl auch den Ende­ christ nennt. Er ist — das deutet sein Name an — ein Gegner des wahren Christus, und sein Absehen ist darauf gerichtet, das Christentum, den Glauben an den Herrn Jesus auf der Erde, soweit sein Machtbereich sich erstreckt, auszurotten, und eine andere Religion, einen anderen Glauben in seinem Reiche einzu­ führen, und diesen sowohl durch geistige Verführung, als durch äußere Gewalt durchzusetzen. Der Mittelpunkt seiner Religion ist die göttliche Verehrung seiner eigenen Person, die er von seinen Untergebenen fordert. Er setzt sich in den Tempel, worunter wohl die christliche Kirche zu verstehen ist, als ein Gott und giebt vor, er sei Gott. Also ist er nicht nur ein Widerchristus, sondern auch ein Widergott. Da­ bei ahmt und äfft er allerdings den wahren Christus nach, um sich dadurch bei den Christen einzuführen und sie zur Ergebung an ihn zu verführen. Und wie er der religiöse Gegensatz gegen das Christentum ist, so auch der sittliche. In ihm gelangt die Sünde der Menschheit zur vollen Reife und er­ steigt ihren Gipfelpunkt. Wie in unserem Heiland die Berechtig-leit und Heiligkeit zur höchsten Entfaltung gelangte, so int Widerchrist die Untugend und Bosheit. Aus diesem Grunde

425 nennt ihn das Wort Gottes den Menschen der Sünde und das Kind des Verderbens. Er setzt sich in offenen Widerspruch mit dem, was Gott als seinen heiligen Willen geoffenbart und den Menschen vorgeschrieben hat; und richtet seinen widergöttlichen Willen als oberstes, ja als einziges Gesetz auf in seinem Reiche. Darum heißt er im Wort Gottes der Boshaftige oder Gesetzlose. Und ein solch entsetzlicher Mensch, so fragt ihr, liebe Christen, findet Anklang unter seinen Mitmenschen, unter denjenigen, welche in den Namen des dreieinigen Gottes getauft sind? Ja, denn der Boden ist ihm für sein Auftreten bereitet durch die Widerchristische Geistesrichtung, in welche die christliche Mensch­ heit geraten ist, durch die Widerchristische Welt- und Lebensan­ schauung, welcher sie sich hingegeben hat. Soll ich euch dieselbe kurz beschreiben? Es ist die Ansicht und Meinung: es giebt keinen außerweltlichen persönlichen Gott, es ist alles Natur; es giebt auch kein verbindliches Sittengesetz, die Sittlichkeit ist etwas Schwankendes, welches je nach Zeit und Ort, nach Umständen und nach dem Bildungsgrad der Menschen sehr verschieden ist; der Mensch ist ein Naturwesen, nur für diese Erde und dies zeitliche Leben bestimmt, welches ohne selbständigen Geist und ohne persönliche Willensfreiheit unter dem Naturgesetz steht und darum auch ohne Pflicht und Verantwortung ist. Habt ihr nicht bereits wahrgenommcn, wie diese Denkungs- und Sinnesweise sich unter unseren Augen entwickelt und die Massen erobert? Sie ist das Widerchristentum, auf dessen Grundlage der persön­ liche Widerchrist sich erheben und Anklang finden wird. Dazu kommt noch ein anderes. Er wird ein Weltherrscher sein, dem es gelingen wird, einallgemeines Welt­ reich aufzurichten und in demselben die Alleinherrschaft an sich zu reißen. Dadurch wird er im stände sein, dieser Wider­ christischen Denkungsart Eingang und Geltung zu verschaffen. Daß der Widerchrist ein Weltherrschcr sein und ein Welt­ reich aufrichten wird: nicht wahr, liebe Christen, ihr findet das nicht ausgesprochen von dem Apostel Paulus? Er wird von ihm nur als der geistige Verführer der Menschen beschrieben. Das ist allerdings wahr. Aber ich meine, wir können es doch zwischen den Zeilen lesen, denn wenn von ihm gesagt wird, daß er gött-

426 liche Verehrung für sich fordert und erzwingt, so weist das un­ verkennbar auf eine allumfassende weltliche Herrscherstellung hin, die er einnimmt. Indessen, wir sind ja nicht bloß auf die Schilderung des Apostels Paulus angewiesen. Ihr zur Seite steht die Beschreibung des Widerchrist in dem Offenbarungsbuch des heiligen Johannes (Kap. 13 und 17). Das ist freilich eine bildliche Beschreibung. Aber ihre Deutung steht dabei. Der Seher erblickt ein Tier, das aus dem Meer, aus der Völkerwelt aufsteigt; cs hat sieben Häupter, und diese sind sieben Könige oder Weltreiche. Von diesen sind zu der Zeit des Gesichts bereits fünf gefallen oder untergegangen, nämlich: 1. dasassyrische des Salmanassar, 2. das babylonische des Nebukadnezar, 3. das medisch-persische des Cyrus oder Kores, 4. das griechisch-macedonische des Alexander des Großen, 5. das persische des Antiochus Epiphanes. Eines be­ steht als das sechste, dasrömischeWeltreich. Ein siebentes Weltreich erblickt der Seher in der Zukunft, es ist das noch jetztbe st eh ende, das sich in eine Anzahl von Einzelreichengliedert und durch die zehn gekrönten Hörner auf dem Haupte des Tieres abgebildet ist. Aus diesen zehn König­ reichen erhebt sich zu seiner Zeit ein achter Weltherrscher, welcher der eigentliche Widerchrist ist, und dem die zehn Regenten der Endzeit, die wie Könige Macht haben werden, sich unterwerfen. Von ihm heißt es indes, daß er einer von den sieben vorausgegangenen Weltherrschern ist. Und es fragt sich nun, wie das gemeint ist? Von dem siebenhäuptigen Tier wird gesagt, daß eines seiner Häupter tödlich verwundet ward, aber seine Wunde ward heil, und der ganze Erdkreis verwunderte sich über das wieder zum Leben gelangte Tierhaupt, das als das achte erscheint, obwohl cs eins von den sieben ist. Der Wider­ christ wird demnach einer von den bereits früher aufgetretenen Weltherrschern sein. Wer sollte dies aber anders sein, wenn nicht der Widerchrist des Alten Bundes, der syrische König Antiochus Epiphanes? Er wird wiederkommen aus dem Abgrund, und es werden sich verwundern die auf Erden wohnen (deren Namen nicht geschrieben stehen in dem Buch des Lebens vom Anfang der Welt), wenn sie sehen das Tier, daß es gewesen ist, und nicht

427 ist, und doch sein wird. Der Widerchrist ist also ein anderer, ein zweiter Antiochus Epiphanes., Ob der wirklich wieder aufer­ standene oder ein ihm ähnlicher Mensch, das wollen wir nicht ent­ scheiden, denn wir wissen nicht, wie weit die Macht des Drachen, Satans, reicht, der dem Tiere seine Kraft und seinen Stuhl giebt: ob sie so weit reicht, daß er einem Toten das Leben wiedergeben kann, oder ob es nur auf eine große Täuschung hinausläuft. Soviel ist gewiß, er verleiht dem Abgrundsmenschen große Macht, und diese Macht wird sich auch darin erzeigen, daß an ihm in Erfüllung geht, was St. Paulus schreibt: des Zukunft ge­ schieht nach der Wirkung des Satan mit allerlei lügenhaftigen Kräften und Zeichen und Wundern (2. Thess. 2, 9). Ja, zur Be­ gründung und Befestigung seines unerhörten Ansehens stellt ihm Satan eine zweite Persönlichkeit zur Seite. Der Seher schaut dieselbe in der Gestalt eines zweiten Tieres, das von der Erde aufsteigt, mit zwei Hörnern wie das Lamm und mit einer Rede gleich dem Drachen. Das istderHeroldoder Prophet des widcrchristischen Weltherrschers, der eigentliche Verführer der Menschen, der durch große Zeichen und Wunder, die er verrichtet gleich dem anderen Tier, die Menschen verleitet zur Anbetung des Widerchrist und ihnen den Gedanken eingiebt, daß sie demselben ein Bild machen, dem er dann Geist einhaucht und Sprache verleiht. Ja, er bewegt die Menschen dazu, daß sie dieses Wunderbild anbeten, wie den­ jenigen, welchen es vorstellt. Und auf der anderen Seite reizt er den Weltherrscher dazu, daß er diejenigen, welche ihm und seinem Bilde die Anbetung verweigern, tötet. Den Willigen giebt er ein Malzeichen an Stirn oder Hand, welches ihnen das Bürger-, wie das An- und Verkaufs-Recht im Reiche des Wider­ christ gewährt, so daß denen, welche es nicht aufweisen können, den treuen Jüngern des Heilands, das Recht und die Möglichkeit genommen ist, im Machtkreis des Widerchrist zu leben. Hiermit ist deutlich ausgesprochen, liebe Christen, was wir, als treue Jünger unseres Heilands, wenn wir es erleben sollten, im Reiche des Widerchrist zu erwarten haben, welches das Schicksal der Kirche in demselben sein wird. Die Kirche ist aufgehoben und ihre treuen Glieder werden ent-

428 weder getötet, oder was noch schlimmer ist, sie werden der Möglichkeit beraubt zu leben. Stellt euch das doch lebhaft vor, daß sie weder kaufen noch verkaufen können im Widerchristischen Weltreiche. Damit sind ihnen alle Existenzmittel entzogen, und sie sind aus der menschlichen Ge­ sellschaft ausgethan. Wahrlich, die Verfolgungswut hat die grausamsten Qualen ersonnen zur Bekämpfung und Ausrottung der Christen. Aber die raffinierteste Marter bleibt doch dem Widerchrist Vorbehalten, und diese Marter hat noch dazu den Anstrich der Milde und Humanität. Der Widerchrist thut so, als ob er keine Verfolgung ausüben wolle, und dabei ist sein Ver­ fahren die unmenschlichste aller Verfolgungsmaßregeln. Ja, da wird die Not groß werden und ihren Gipfelpunkt erreichen. Da wird zur Verwirklichung kommen, was unser Heiland für die Endzeit verkündigt in den Worten: alsdann werden sie euch überantworten in große Trübsal, und werden euch töten, und ihr müsset gehastet werden um meines Namens willen von alleil Völkern; . . und dieweil die Ungerechtigkeit wird überhand nehmen, wird die Liebe in vielen erkalten (Mtth. 24, 9.12), — und in den anderen: es wird alsdann eine große Trübsal fein, als nicht gewesen ist von Anfang der Welt bisher und als auch nicht werden wird (Mtth. 24, 21). Der Sieg scheint dem Wider­ christ gewiß zu sein, und es sieht so aus, als ob Satan Herr geworden sei über den Heiland. Aber das ist nur der äußere Anschein. In Wirklichkeit bleibt der Herr Jesus Sieger. Er gedenkt seiner treuen Jünger in Gnaden, und sorgt dafür, daß sie nicht versucht werden über ihr Vermögen, daß vielmehr die Versuchung ein solches Ende ge­ winne, daß sie es können ertragen. Er erfüllt sein Versprechen: wo diese Tage nicht würden verkürzt, so würde kein Mensch selig; aber um der Auserwählten willen werden die Tage verkürzt (Mtth. 24, 22). Er bewahrt und rettet seine Gemeinde, seine Kirche durch die letzte große Drang- und Trübsalsperiode hin­ durch, wie er verheißen hat in seinem himmlischen Sendschreiben: ich will dich bewahren vor (aus) der Stunde der Versuchung, welche kommen wird über den ganzen Weltkreis, zu versuchen die da wohnen auf Erden (Offenb. 3, 10). Er hilft ihr durch

429 den Beistand des Heil. Geistes alle Versuchungen und Ver­ folgungen des Widerchristentums überwinden, und dadurch den Fürsten der Finsternis ebenso zu besiegen, wie er ihn in den Tagen seines Fleisches durch Gehorsam gegen den Willen seines Vaters im Himmel besiegt hat, damit er ihn bei seiner herrlichen Wiederkunft vollends unter die Füße seiner Gemeinde zertrete (Röm. 16, 20). Liebe Christen, ich habe euch die Schattenseite im Zukunfts­ bild der Kirche vor Augen gestellt, wie vorher die Lichtseite des­ selben. Warum ich das gethan, und wozu überhaupt die Weis­ sagungen über die Zukunft der Kirche gegeben sind? Damit wir uns nicht verkehrten Vorstellungen und falschen Erwartungen hingeben, und dadurch einer seelengefährlichen Enttäuschung an­ heimfallen, damit wir uns vielmehr an der Lichtseite dieses Zu­ kunftsbildes im Geiste erquicken, und seiner Schattenseite in der getrosten Zuversicht entgegen gehen, daß sie vorüber- und in volles Licht übergehen werde, ja damit wir tüchtig werden, die Mahnung unseres Heilands zu befolgen: wenn aber dieses an­ fängt, zu geschehen, so sehet auf und erhebet eure Häupter darum, daß sich euere Erlösung nahet (Luk. 21, 28), — und die andere: so seid nur wacker allezeit und betet, daß ihr würdig werden möget, zu entfliehen diesem allem, das geschehen soll, und zu stehen vor des Menschen Sohn! (Luk. 21, 36). Amen.

33.

Tert: Offd. 19, 6 — 20, 6. „Und ich hörete als eine Stimme einer großen Schar und als eine Stimme starker Wasser unb als eine Stimme starker Donner, die sprachen: Halleluja, denn der allmächtige Gott hat das Reich eingenommen; lasset uns freuen und fröhlich sein und ihm die Ehre geben, denn die Hochzeit des Lammes ist gekommen, und sein Weib hat sich bereitet. Und es ward

429 den Beistand des Heil. Geistes alle Versuchungen und Ver­ folgungen des Widerchristentums überwinden, und dadurch den Fürsten der Finsternis ebenso zu besiegen, wie er ihn in den Tagen seines Fleisches durch Gehorsam gegen den Willen seines Vaters im Himmel besiegt hat, damit er ihn bei seiner herrlichen Wiederkunft vollends unter die Füße seiner Gemeinde zertrete (Röm. 16, 20). Liebe Christen, ich habe euch die Schattenseite im Zukunfts­ bild der Kirche vor Augen gestellt, wie vorher die Lichtseite des­ selben. Warum ich das gethan, und wozu überhaupt die Weis­ sagungen über die Zukunft der Kirche gegeben sind? Damit wir uns nicht verkehrten Vorstellungen und falschen Erwartungen hingeben, und dadurch einer seelengefährlichen Enttäuschung an­ heimfallen, damit wir uns vielmehr an der Lichtseite dieses Zu­ kunftsbildes im Geiste erquicken, und seiner Schattenseite in der getrosten Zuversicht entgegen gehen, daß sie vorüber- und in volles Licht übergehen werde, ja damit wir tüchtig werden, die Mahnung unseres Heilands zu befolgen: wenn aber dieses an­ fängt, zu geschehen, so sehet auf und erhebet eure Häupter darum, daß sich euere Erlösung nahet (Luk. 21, 28), — und die andere: so seid nur wacker allezeit und betet, daß ihr würdig werden möget, zu entfliehen diesem allem, das geschehen soll, und zu stehen vor des Menschen Sohn! (Luk. 21, 36). Amen.

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Tert: Offd. 19, 6 — 20, 6. „Und ich hörete als eine Stimme einer großen Schar und als eine Stimme starker Wasser unb als eine Stimme starker Donner, die sprachen: Halleluja, denn der allmächtige Gott hat das Reich eingenommen; lasset uns freuen und fröhlich sein und ihm die Ehre geben, denn die Hochzeit des Lammes ist gekommen, und sein Weib hat sich bereitet. Und es ward

430 ihr gegeben, sich anzuthun mit reiner und schöner Leinwand (die köstliche Leinwand, aber ist die Gerechtigkeit der Heiligen). Und er sprach zu mir: schreibe! selig sind, die zum Abendmahl des Lammes berufen sind. Und er sprach zu mir: dies sind wahrhaftige Worte Gottes . . . Und ich sahe den Himmel auf­ gethan; und siehe, ein weiß Pferd, und der darauf saß, hieß Treu und Wahrhaftig, und er richtet und streitet mit Ge­ rechtigkeit; seine Augen sind wie eine Feuerflamme, und auf seinem Haupte viele Kronen; und hatte einen Namen geschrieben, den niemand wußte, denn er selbst; und war angethan mit einem Kleide, das mit Blut besprenget war; und sein Name heißt das Wort Gottes. Und ihm folgte nach das Heer im Himmel auf weißen Pferden, angethan mit reiner und weißer Leinwand. Und aus seinem Munde ging ein scharf Schwert, daß er damit die Heiden schlüge; und er wird sie regieren mit eisernem Stabe; und er tritt die Kelter des Weins des grimmigen Zorns des Allmächtigen. Und hat einen Namen geschrieben auf seinem Kleid und auf seiner Hüfte also: ein König aller Könige und ein Herr aller Herren. . . Und ich sahe das Tier und die Könige auf Erden und ihre Heere versammelt. Streit zu halten mit dem, der auf dem Pferde saß, und mit seinem Heer. Und das Tier ward gegriffen und mit ihm der falsche Prophet, der die Zeichen that vor ihm, durch welche er verführte die das Mal­ zeichen des Tieres nahmen und die das Bild des Tieres an­ beteten; lebendig wurden diese beide in den feurigen Pfuhl ge­ worfen, der mit Schwefel brannte. Und die anderen wurden erwürgt mit dem Schwerte des, der auf dem Pferde saß, das aus seinem Munde ging; und alle Vögel wurden satt von ihrem Fleisch. Und ich sahe einen Engel vom Himmel fahren, der hatte den Schlüssel zum Abgrund und eine große Kette in seiner Hand. Und er griff den Drachen, die alte Schlange, welche ist der Teufel und Satan, und band ihn tausend Jahre, und warf ihn in den Abgrund, und verschloß ihn und versiegelte oben darauf, daß er nicht mehr verführen sollte die Heiden, bis daß vollendet würden tausend Jahre; und darnach muß er los werden eine kleine Zeit. Und ich sahe Stühle und sie setzten sich darauf, und ihnen ward gegeben das Gericht. Und

431 die Seelen derer, die enthauptet sind um des Zeugnisses Jesu und um des Wortes Gottes willen, und die nicht angebetet hatten das Tier, noch sein Bild, und nicht genommen hatten sein Malzeichen an ihre Stirn und auf ihre Hand, diese lebten und regierten mit Christo tausend Jahre. Die anderen Toten aber wurden nicht wieder lebendig, bis daß tausend Jahre vollendet wurden. Dies ist die erste Auferstehung. Selig ist und heilig, der teil hat an der ersten Auferstehung! Ueber solche hat der andere Tod keine Macht, sondern sie werden Priester Gottes und Christi sein, und mit ihm regieren tausend Jahre." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Wir haben schon mehr davon geredet, daß das Wort Gottes zwei Zeit­ alter unterscheidet, das gegenwärtige und zukünftige. Das gegenwärtige Zeitalter umspannt die Zeit vom Sündenfall unserer Stammeltern bis zur vollständigen Ausreifung wie des Guten, so auch des Bösen in der Welt, bis zur vollendeten Heiligung der Gemeinde Jesu Christi auf der einen Seite, und zur vollständigen Entfaltung des Widerchristentums auf der anderen Seite, bis zum scheinbaren Sieg des letzteren und der scheinbaren Niederlage der ersteren. Das zukünftige Weltalter beginnt mit der wirklichen Niederlage des Widerchristentums und dem wirklichen Sieg des Reiches Gottes und seiner Auf­ richtung auf der Erde. Innerhalb des jetzigen Weltalters fällt die Jnswecksetzung der Erlösung der Menschen aus der Sünde, ihre Anbahnung und Vorbereitung, wie ihre Vollbringung und Einführung in die Welt, oder die Gründung und Ausbreitung des Reiches Gottes auf der Erde. Der gnädige Gott nimmt das Volk Israel in eine zweitausendjährige besondere Erziehung dadurch, daß er den Alten Bund mit ihm schließt und ihm ein alle menschlichen Verhältnisse umfassendes Gesetz auferlegt. Er gründet in diesem Volk seiner Wahl den Gottesstaat des Alten Bundes, in welchem das Reich Gottes für die Zeit des Alten Bundes äußere Gestalt gewinnt. Der durch die Pro­ pheten des Alten Bundes angekündigte Messias-Erlöser er­ scheint, als die Zeit erfüllt ward, unter dem Bundesvolk, und vollbringt das Werk der Sühnung der Sündenschuld dec

432 Menschen und der Versöhnung Gottes, und dadurch legt er den Grund zu dem Reich Gottes, das schon vorher mit Rücksicht darauf im Gottesstaat des Alten Bundes bestanden hatte, das er aber nunmehr in seiner Gemeinde, in der christlichen Kirche zur äußeren Erscheinung kommen läßt. Die Ausbreitung der Kirche und damit des Reiches Gottes in der Menschenwelt setzt sich fort innerhalb des gegenwärtigen Weltalters, und sie muß zu dem ihr von Gott gesetzten Ziel gekommen sein, ehe der Ab­ schluß des jetzigen Zeitalters erfolgt. Mit dem Eintritt des Erlösers in die irdische Welt sieht aber das Wort Gottes schon die letzte Zeit, das Ende des gegenwärtigen Weltalters an­ gebrochen. Daher lesen wir in demselben immer wieder Aus­ sprüche, wie diese: es ist geschrieben, uns zur Warnung, auf welche das Ende der Welt, d. i. des gegenwärtigen Weltalters gekommen ist (1. Kor. 10, 11); nachdem . . Gott geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er am letzten in diesen Tagen, d. i. auf die Letzte dieser Tage zu uns geredet durch den Sohn (Hebr. 1, 1—2); nun aber am Ende der Welt, d. i. an der Vollendung des jetzigen Weltalters, ist er (der Herr Jesus) einmal erschienen (Hebr. 9, 26). Wohl aber unterscheidet das Wort Gottes von diesem Anbruch der Vollendung des jetzigen Zeitalters, von diesem Anfang des Endes, das wirkliche Ende, den vollständigen Schluß der immer noch währenden Dauer der gegenwärtigen Weltzeit. Diese tritt ein mit der Wieder­ kunft des Erlösers. Deshalb hören wir die Jünger ihren Meister fragen: welches wird sein das Zeichen deiner Zukunft und des Endes der Welt, d. i. der Vollendung dieses Weltalters? (Mtth. 24, 3). Und der auferstandene Heiland sagt zu seinen Jüngern: siehe, ich bin bei euch bis an der Welt Ende, d. i. bis zur Vollendung dieses Weltalters! (Mtth. 28, 20), wie er auch schon in der Auslegung des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen erklärt hatte: die Ernte ist das Ende der Welt, d. i. die Vollendung dieser Weltzeit (Mtth. 13, 39). Dieser Voll­ endung der gegenwärtigen Weltzeit eilt die Geschichte des Reiches Gottes entgegen. Das jetzige Weltalter ist trotzdem, daß in ihm das voll­ brachte Versöhnungswerk bereits wirksam ist, trotzdem daß in

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ihm das Reich Gottes bereits auf dem Plane ist und in der Kirche in die Sichtbarkeit tritt, doch noch gar unvollkommen, denn auch die Sünde ist in ihm noch wirksam. Noch besteht neben der Gemeinde des Heilands die Welt, die Gesamtheit der Unbekehrten, und diese liegt, wie das Wort Gottes bezeugt, in dem Argen (1. Joh. 5, 19). In ihr, in den Kindern des Unglaubens, übt der Fürst der Finsternis fortwährend noch sein Regiment. Von feiten dieser Welt und ihres Fürsten wird die Gemeinde des Herrn beständig angefochten, sei es durch Versuchung zum Unglauben und zur Sünde, sei es durch Ver­ folgung um ihres Glaubens und Bekenntnisses willen. Sie ist eine Kreuzgemeinde, sie trägt ihrem Stifter das Kreuz nach. Sie ist die streitende Kirche, welche den Sieg über Welt und Satan in der Kraft ihres Hauptes erkämpfen muß. Noch ist das Uebel, die Mannigfaltigkeit der Sündenfolgen, insbesondere der Tod, der eigentliche Sündensold, vorhanden. Und diese Folgen der Sünde hat der heilige, gerechte Gott über die ganze irdische Schöpfung verhängt. Er hat die Schöpfung der Eitel­ keit, Nichtigkeit und Vergänglichkeit unterworfen, und eine Störung in ihre Entwicklung gelegt, und zwar, wie uns Gottes Wort belehrt, nicht um ihretwillen, als ob sie gesündigt und Strafe verwirkt hätte, sondern um des Menschen willen, der durch seinen Sündenfall nicht nur die ihm ursprünglich über­ tragene Naturbeherrschung cinbüßte, sondern auch dadurch noch besonders bestraft wurde, daß Gott auf die irdische Schöpfung einen Fluch legte, unter welchem sie noch immer seufzt, harrend und wartend auf das zukünftige Weltalter, welches auch der vernunftlosen Schöpfung die Aufhebung des Bannes und die Erlösung bringen soll (Röm. 8, 19—22). Diesen Sünden­ folgen ist die ganze Menschheit unterworfen, und zwar in erster Linie, denn sie ist es, welche sie durch ihre Verschuldung herbei­ gezogen hat. Ihnen ist auch selbst noch die Gemeinde des Erlösers mit ihren Gliedern unterworfen, wie der Apostel be­ zeugt in den Worten: nicht allein aber sie (die vernunftlose Kreatur), sondern auch wir selbst, die wir haben des Geistes Erstlinge, sehnen uns bei uns selbst nach der Kindschaft, und warten auf unseres Leibes Erlösung (Röm. 8, 23). Sind doch Schnabel, Predigten.

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434 auch sie, die geistlich Erlösten, die um ihres Glaubens willen gerecht Erklärten, noch nicht völlig sündenfrei, sondern sic übertreten sämtlich noch mehr oder weniger, in Gedanken, Worten und Werken die Gebote Gottes, und ihr Leben muf;; deshalb in dieser Weltperiode eine fortgesetzte Buße sein. Und wie mit den einzelnen Christen, so ist es auch mit der Gemeinde im ganzen. Sie sollte ja wohl, wie der einzelne Gläubige, in fortschreitender Heiligung stehen, und das neue geistliche Leben, das der Heilige Geist in den Seelen erzeugt, sollte jederzeit bie Oberhand in ihr haben, aber leider ist das nicht der Fall. Die christliche Gemeinde ist eine gar unvollkommene Gestalt des Reiches Gottes, und ihre Glieder sind meist sehr unvollkommene Nachfolger ihres Heilands. Auch von den treuesten gilt noch das, was der Apostel sagt: es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden (1. Joh. 3, 2). Sie alle harren noch ihrer Voll­ endung. Nun haben sich die Christen freilich gewöhnt, ihre eigene Vollendung in die Zeit nach ihrem leiblichen Tod zu ver­ legen. Dabei sehen sie jedoch ganz ab von der Vollendung des Ganzen, dem sie angehören, der Kirche und des Reiches Gottes. Und doch ist an diese die Vollendung der einzelnen Kirchenglieder und Reichsbürger geknüpft. Das Wort Gottes bezeugt von den im Glauben Gestorbenen: diese alle haben . . nicht em­ pfangen die Verheißung, darum daß Gott etwas Besseres für uns zuvor versehen hat, daß sie nicht ohne uns vollendet würden (Hebr. 11, 40). Es läßt die unter dem Himmelsaltar weilen­ den Seelen der Märtyrer damit vertröstet werden, daß sie noch eine kleine Zeit ruhen sollten, bis daß vollends dazu kämen ihre Mitknechte und Brüder, die auch sollten noch ertötet werden, gleichwie sie (Offb. 6, 11). Es erklärt durch den Apostel: hinfort ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit, welche mir der Herr an jenem Tage, der gerechte Richter, geben wird, nicht mir aber allein, sondern auch allen, die seine Er­ scheinung lieb haben (2. Tim. 4, 8). Weil aber unsere Einzel­ vollendung an die Vollendung des Gottesreiches gebunden ist, so muß unsere Christensehnsucht auf diese gerichtet sein. Darum reden wir jetzt über

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Die Vollendung des Reiches Gottes. vorläufige Vollendung,

und zwar: Die

und betrachten:

1. die Wiederkunft des Heilands und die Heimholung der Braut, 2. die Hochzeit des Lammes und die Aufrich­ tung des tausendjährigen Reiches.

I. Liebe Christen, in einem wundervollen Gemälde stellt uns der neutestamentliche Seher in unserem Text dieWiederkunft unseres Heilands vor Augen. Der Himmel öffnet sich, der wiederkehrende Heiland tritt aus demselben her­ vor; seine Augen sind wie eine Feuerflamme, und aus seinem Munde ragt ein zweischneidig Schwert, denn er ist der alles durchschauende Richter; er ist gekleidet in ein mit Blut be­ sprengtes Gewand, und giebt sich dadurch als den Sündensühner und Versöhner zu erkennen; auf seinem Haupte trägt er viele Kronen und ist umringt von den Heerscharen des Himmels, denn er ist der König aller Könige und der Herr aller Herren; er führt einen geheimnisvollen Namen: „das Wort Gottes", und eilt Engelsherold geht ihm voran. Was uns hier in einem glänzenden Bilde vor Augen tritt, das haben bei der Himmelfahrt ihres Meisters Engel den Jüngern verkündigt in den Worten: dieser Jesus, welcher von euch ist ausgenommen in den Himmel, wird wiederkommen, wie ihr ihn gesehen habt gen Himmel fahren (Apg. 1, 11). Das sagt auch der Heiland selbst vielmals voraus in Gleichnissen und in schlichter Rede. Oft geschieht es, daß er auf seine Wiederkunft zu sprechen kommt, und dann beschreibt er dieses Ereignis in deutlichen Zügen. Im Gleichnis von den zehn Jungfrauen stellt er sich dar als der himmlische Bräutigam, der seine irdische Braut­ gemeinde heimholt zur Hochzeit des Lammes (Mtth. 25). In den Gleichnissen von der königlichen Hochzeit und von den an­ vertrauten Zentnern offenbart er sich als der Richter (Mtth. 22; 25). Daneben bezeugt er, daß er in großer Kraft und Herr­ lichkeit wiederkommcn werde, aber verhüllt in der Wolke, wie Jehova im Alten Bunde (Luk. 21, 27). Allgemein wahrnehm28*

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bar wird die Wiederkunft erfolgen: gleichwie der Blitz aus­ gehet vom Aufgang und scheinet bis zum Niedergang (Mtth. 24, 27). Aber unerwartet und überraschend wird sie der Welt sein: wie der Dieb in der Nacht (Mtth. 24, 43). Wohl ist sie ersehnt und erfleht von den wahren Jüngern des Heilands, denn er ermahnt sie: wenn solches anfähet zu geschehen, so sehet auf und hebet euere Häupter auf, darum daß sich euere Erlösung nahet (Luk. 21, 28). Doch unberechenbar ist auch für sie ihr Zeitpunkt, denn, so spricht der Herr, von dem Tag und der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein mein Vater (Mk. 13, 32). Indessen knüpft der Heiland den Zeitpunkt seiner Wiederkunft an Bedingungen. Er sagt: es wird gepredigt werden das Evangelium vom Reich in der ganzen Welt zu einem Zeugnis über alle Völker und dann wird das Ende kommen (Mtth. 24, 14). Und vor Jerusalem hören wir ihn seinen Weheruf schließen mit der Vorhersage an seine Volksgenossen: ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen bis ihr sprechet: gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! (Mtth. 23, 39). Außerdem sagt er eine große Drang- und Trübsal voraus, welche gegen den Schluß dieser Weltzcit über seine Gemeinde hereinbrechen werde, die sie nicht ertragen könnte, wenn ihre Dauer nicht aus göttlicher Gnade abgekürzt und durch seine erlösende Wieder­ kunft beendigt würde (Mtth. 24, 21—22). Die Voll­ führung der Heidenmission, die Bekehrung des Volks Israel und der Eintritt der durch das Widerchristentum erregten großen Trübsal: das sind die Bedingungen, an deren Erfüllung der Heiland seine Wiederkunft knüpft. Aber trotzdem, daß feine Jünger diese Bedingungen kennen und also die Zeichen der Zeit zu prüfen vermögen, richtet er doch an sie die immer wiederholte Mahnung: so seid nun wacker allezeit und betet, daß ihr würdig werden möget, zu entfliehen diesem allem, das geschehen soll, und zu stehen vor des Menschen Sohn! (Luk. 21, 36). Wie ihr Meister, so zeugen auch seine ersten Jünger in ihren Schriften von der Wiederkunft. Sie bezeichnen dieses Er-

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eignis als den Tag oder als die Zukunft des Herrn (1. Kor. 1,8; 1. Thess. 3, 13). Und sie erblicken die Wiederkunft als nahe bevorstehend, denn sie erklären: es ist nahe gekommen das Ende aller Dinge (1. Petr. 4, 7); auf uns ist gekommen das Ende des gegenwärtigen Weltalters (1. Kor. 10, 11) ; es ist die letzte Stunde (1. Joh. 2, 18); die Zukunft des Herrn ist nahe (Jak. 5, 8). Am bestimmtesten weissagt die Wiederkunft des Heilands der neutestamentliche Seher. Seine Schrift ist ganz diesem großen Zukunftsereignis gewidmet; darum schließt sie auch mit der Versicherung des Heilands: es spricht, der solches zeuget: ja, ich komme bald! und mit dem sehnsuchts­ vollen Gebetsseufzer: Amen, ja, komm, Herr Jesu! (Offb. 22, 20). Ihr merket, liebe Christen, daß aus all diesen Voraus­ sagen deutlich hervorgeht: die Wiederkunft Jesu Christi ist ein Ereignis von so einschneidender Wichtigkeit, wie die erste Ankunft des Heilands vor neunzehn Jahrhunderten, und zugleich von so glänzender Herrlichkeit, wie die Erde noch keines gesehen hat. So entzückend aber die Erschei­ nung des Herrn für die ihn auf der Erde erwartenden ©einigen sein wird, weil er zu ihüen kommt zur Vollendung der Er­ lösung, so erschreckend wird sie denen sein, welche ihm fremd oder gar feindselig gegenüber stehen. Wir begreifen es, wenn er selbst sagt: alsdann werden heulen alle Geschlechter auf Erden (Mtth. 24, 30), und wenn der Seher bezeugt: es werden ihn sehen alle Augen und die ihn gestochen haben und werden heulen alle Geschlechter der Erde (Offb. 1, 7). Für sie ist die Wiederkunft des Heilands der Tag des Gerichts, den das Wort Gottes als den Tag der Rache und des Zorns bezeichnet (Jes. 63, 4; Röm. 2, 5). Hiermit haben wir, liebe Christen, die Frage schon gestreift, die uns jetzt entgegentritt, die Frage: was bringt die Wiederkunft Jesu Christi? Nach der biblischen Weis­ sagung knüpft sich an sie eine ganze Reihe von Begebnissen. Laßt mich euch dieselben kurz aufzählen! Es ist: das Gericht über den Widerchrist und sein Reich, die Heim-

438 holung der Brautgemeinde, welche geschieht durch die Auferweckung der Toten in Christo, durch die Verwandlung der in Christo Lebenden und durch deren Entrückung dem kommenden himmlischen Bräutigam entgegen zur Hochzeit des Lammes, die Fesselung Satans und seine Verschließung in den Abgrund, die Aufrichtung des tausend­ jährigen Reiches, ferner: die Abwehr des Ansturms der durch den noch einmal frei gewordenen Satan verführten Menschenmassen auf das Heerlager der Heiligen, die allgemeine Auferstehung der Toten, das Weltgericht, die Weltumwandlung, die Herstellung des vollendeten Gottesreiches im Neuen Jerusalem auf der verklärten Erde. Aber laßt mich euch auch gleich von vornherein sagen: die Weissagung zählt diese verschiedenen Ereignisse nicht, wie man zu sagen pflegt, am Schnürchen auf, sondern läßt sie vielfach in einander fließen. Die Weissagung des Neuen Testaments ist darin derjenigen des Alten Bundes ganz ähnlich, denn auch diese schaute, wie wir gesehen haben, die zukünftigen Ereignisse, die doch, wie die Geschichte gezeigt hat, der Zeit nach weit auseinander liegen, in einem Bilde zusammen. Wie deutlich giebt sich das kund bei der Ankündigung der ersten und zweiten Ankunft des Messias, seiner Erscheinung in Niedrigkeit und derjenigen in Herrlichkeit, die noch bevorsteht. Unter diesen Umständen ist es denn in der That nicht leicht, aus der Weissagung heraus die rechte Reihen­ folge der zukünftigen Geschehnisse zu ergründen. Da kann ich euch, liebe Christen, nur das bieten, was ich nach redlichem Forschen in der Heiligen Schrift als das Richtige erkannt habe. Doch freue ich mich, euch dabei die Versicherung geben zu können, daß ich darin mit den tüchtigsten Schriftauslegern mich in Ueber­ einstimmung befinde. Nun achtet aber auf das, was die Schriftforschung ermittelt hat. Darnach zerfällt die Vollendung des Reiches Gottes in zwei Abschnitte, welche durch einen längeren Zeitraum von einander getrennt sind. Das tritt besonders erkennbar in dem prophetischen Buche des Neuen Testaments hervor. Unser Text umfaßt den ersten dieser beiden Abschnitte. Aber auch aus

439 dem Ausspruch des Apostels über die Reihenfolge der Auf­ erstehungen ist klar zu ersehen, daß die zur Vollendung des Reiches Gottes gehörenden Endbegebenheiten in zwei Abschnitte zerfallen. Er schreibt: ein jeglicher in seiner Ordnung; der Erstling Christus; darnach die Christo angehören, wann er kommen wird; darnach das Ende, wann er das Reich Gott, dem Vater, überantworten wird (1. Kor. 15, 23—24). Der erste Abschnitt des Schlußwerks unseres Heilands ist die Reichs­ übernahme von seiner Seite, der zweite Abschnitt bringt die Reichsübcrgabe von seiner Seite an den Vater. Oder mit anderen Worten: der erste Abschnitt führt die vor­ läufige oder vorbereitende Vollendung des Gottesreiches herbei, der zweite Abschnitt - bringt die Allvollendung desselben. Zunächst haben wir es mit der vorläufigen Vollendung zu thun, und da fragen wir denn: wie kommt sie zu stände? oder: was bringt die Wieder­ kunft des Heilands zuerst? Laßt uns, liebe Christen, darauf achten, daß die Wieder­ kunft des Heilands zu der Zeit erfolgt, wo seine Gemeinde auf der Erde in der höchsten Drang- und Trübsal, im härtesten Kampf und Streit steht, den ihr das Widerchristentum und sein persönlicher Vertreter bereitet. Erhellt das doch mit aller Bestiinmtheit daraus, daß der Heiland selbst erklärt: es wird als­ dann eine große Trübsal sein, als nicht gewesen ist von Anfang der Welt bisher und als auch nicht werden wird; und wo nicht diese Tage verkürzt würden, so würde kein Mensch selig! (Mtth. 24, 21—22). Was kann da die Erscheinung des Heilands anders bringen, als die Befreiung der Seinen aus ihrer unerträglichen Lage? Und wie vollzieht sich diese Er­ rettung? Die Weissagung zeigt uns, daß die erste That des wiederkommenden Erlösers die Aufhebung des Wider­ christ ischenReiches sein wird. Wie werden seine getreuen Jünger unter der unerhörten Bedrückung, welche sie erleiden, nach dieser Befreiung seufzen! Wie sehnsüchtig wird die Braut­ gemeinde ausschauen nach der Ankunft des himmlischen Bräuti­ gams, und wie inbrünstig wird sie rufen: komm, Herr Jesu! (Offb. 22, 17. 20). Und wenn sie an den letzten Vorzeichen,

440 insbesondere an dem der Ankunft des Herrn unmittelbar vor­ ausgehenden geheimnisvollen Zeichen des Menschensohnes am Himmel (Mtth. 24, 30), das erst dann erkannt wird, wann es erscheint, merken werden, daß das große Ereignis anbricht, wie werden sie dann aufsehen und ihre Häupter aufheben in der Gewißheit, daß ihre Erlösung bevorsteht! (Luk. 21, 28). Da wird denn der erscheinende Bräutigam seiner Gemeinde das Joch ihrer Last, die Rute ihrer Schuller, den Stecken ihres Treibers zerbrechen. Er wird den Boshastigen, den Gesetz­ losen umbringen mit dem Hauche seines Mundes, und wird sein ein Ende machen durch die Erscheinung seiner Zukunft (2. Thess. 2, 8). Mit seinem Allmachtswort wird er seinen ärgsten mensch­ lichen Feind/ den schlimmsten Feind des Reiches Gottes besiegen und toten, denn er erscheint mit einem in Engelschall und gött­ lichem Posaunenhall erfolgenden Befehlswort (i. Thess. 4,16).

Es ist ein entsetzliches Gericht, das den Widerchrist ereilt, wie unser Text berichtet. Nicht etwa leiblich töten wird der himm­ lische Sieger seinen Feind, der sich dermaßen im Gefühl seiner Weltherrschaft überhebt, daß er die Könige auf Erden und ihre Heere versammelt. Streit zu halten mit dem vom Himmel herab kommenden Heiland. Das Gericht, dem er anheim fällt, dehnt sich auch auf sein ewiges Schicksal aus. Der Richter wird ihn samt seinem falschen Propheten alsbald lebendig zur Hölle ver­ bannen, „in den feurigen Pfuhl, der mit Schwefel brennt". So ergeht es den Häuptern des Widerchristischen Weltreiches. Wie aber wird es denen ergehen, die sich zu den ergebensten Anhängern und Helfershelfern des Widerchrist hergegeben und seinem Streitheere angehört haben? Die Weis­ sagung in unserem Texte spricht: „Die anderen wurden erwürgt mit dem Schwerte des, der auf dem Pferde saß, das aus seinem Munde ging, und alle Vögel wurden satt von ihrem Fleisch". Sie erleiden eine durch ein Wunder herbeigeführte völlige Nieder­ lage, wie weiland das die Stadt Jerusalem belagernde Heer des Königs Sanherib von Assyrien. Damü ist denn auch erfüllt die Vorhersage des Propheten Daniel, die da lautet: darnach wird das Gericht gehalten

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werden; da wird dann seine Gewalt weggenommen werden, daß er zu Grunde vertilgt und umgebracht werde (Dan. 7, 26). Er meint den Widerchrist. Es ist das vorläufige End­ gericht. Und nun kann auch die Fortsetzung dieser Weis­ sagung zur Ausführung kommen: das Reich, Gewalt und Macht unter dem ganzen Himmel wird dem heiligen Volk des Höchsten gegeben werden, dessen Reich ewig ist (Dan. 7, 27). Aber vor­ her muß doch dieses Volk des Höchsten gesammelt und zur Uebernahme der Weltherrschaft fähig gemacht werden. Und sehet, liebe Christen, das ist das zweite Werk des wieder­ kommenden Heilands. Davon laßt mich jetzt reden! Eine Sammlung des Volks des Höchsten, der Brautgemeinde muß geschehen. Von dieser weissagt der Heiland in den Worten: er wird senden seine Engel mit hellen Posaunen, und sie werden sammeln seine Auserwählten von den vier Winden, von einem Ende des Himmels zu dem anderen (Mtth. 24, 31). Das soll bei seiner Wiederkunft geschehen. Und diese Sammlung der treuen Jesusjünger hat auch der Apostel im Sinne, wenn er schreibt: der Zukunft halben unseres Herrn Jesu Christi und unserer Versammlung zu ihm (2. Thess. 2, 1). Die frommen Anhänger des Heilands sind zerstreut über den ganzen Erdkreis. Deshalb ist ihre Zusammen­ bringung nötig. Und was hat diese für einen Zweck? Der Zweck ist ihre Entrückung dem kommenden Heiland und Himmelsbräutigam entgegen. So stellt es der Apostel hin, wenn er schreibt: wir. . werden. . hingerückt werden in den Wolken dem Herrn entgegen in die Luft, und werden also bei dem Herrn sein allezeit (1. Thess. 4, 17). Nehmen wir keinen Anstoß an dem Wunderbaren dieses Vor­ gangs! Wie die Wiederkunft des Heilands selbst ein Wunder ist, ein Eingriff des die Welt regierenden Gottes in den natür­ lichen Gang der Dinge, in den nach festen Gesetzen sich voll­ ziehenden Naturlauf, so sind auch die Vorgänge, welche sie in ihrem Gefolge hat, wunderbar. Auch diese Entrückung der Auserwählten ist ein höchst wunderbares Geschehnis. Wie wird doch denen zu Mute sein, welche cs an sich erfahren! Zu Ende ist all ihre Drang- und Trübsal, welche sie noch bis zum

442 höchsten Maße in der letzten Zeit erlitten haben. Die Stunde ihrer Erlösung hat geschlagen. Da wird sich bei ihnen erfüllen das Psalmwort: wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden; dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein (Psalm 126, 1—2). Da werden sie dem Heiland noch viel entzückter, als ehedem die Bewohner Jerusalems entgegen jauchzen: Hosianna dem Sohne Davids; gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn! (Mtth. 21, 9). Es ist ja nicht nur die Stunde ihrer Befreiung aus der Widerchristischen Drang- und Trübsal, sondern auch ihrer Verherrlichung, die der Apostel im Auge hat, wenn er bezeugt: meine Lieben, wir sind nun Gottes Kinder, und es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden; wir wissen aber, wann es erscheinen wird, daß wir ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist (1. Joh. 3, 2). Achtet darauf, liebe Christen: wir werden ihm gleich sein. Das ist das selige Los derjenigen, welche teil haben an der Ent­ rückung, an der Heimholung der Braut zur Hochzeit des Lammes. Und inwiefern werden sie ihm gleich sein? Das sagt uns ein anderes apostolisches Wort, das da lautet: unser Wandel ist im Himmel, von dannen wir auch warten des Heilands Jesu Christi, des Herrn, welcher unseren nichtigen Leib verklären wird, daß er ähnlich werde seinem verklärten Leibe (Phil. 3, 20—21). Ehe ihre Entrückung und Heim­ holung stattfinden kann, muß erst ihre Leiblichkeit eine Verklärung erfahren. Und nun laßt uns aus Gottes Wort ersehen, wie diese vor sich geht! Die Christen in Thessalonich waren beunruhigt durch die unter ihnen aufgetauchte Meinung, daß diejenigen von ihnen, welche vor der Wiederkunft des Herrn hinwegstürben, in Nach­ teil versetzt würden den anderen gegenüber, welche das sehn­ süchtig erwartete Ereignis erlebten. Darüber beruhigt sie der Apostel, indem er ihnen schreibt: wir wollen euch, lieben Brüder, nicht verhalten von denen, die da schlafen, auf daß ihr nicht traurig seid, wie die anderen, welche keine Hoffnung haben. Und dann setzt er ihnen auseinander, daß die bei der Erscheinung

443 des Heilands lebenden Christen den verstorbenen keineswegs Vorkommen werden, sondern der wiederkommende Erlöser wird „die Toten in Christo", die im Glauben an ihn Entschlafenen sogar zuerst auferwecken in verklärter Leiblichkeit, und dann wird er seine lebenden Getreuen mit diesen zu sich emporrücken (1. Thess. 4, 13—17). Zuvor aber, das teilt er den Christen in Korinth als ein ihm kund gewordenes göttliches Geheimnis mit, werden, da Fleisch und Blut das Reich Gottes nicht er­ erben können, diejenigen wahren Jesusjünger, welche die Wiederkunft erleben, plötzlich leiblich verwandelt und verklärt werden (1. Kor. 15, 51—52). Und wenn ihr wissen wollt, wie das möglich ist bei Menschen, die doch von Natur sündig sind, so weise ich euch darauf hin, daß der Endgemeinde eine voll­ kommene Heiligkeit gegeben werden wird (Offb. 19, 8). Sie ist die durch die erneuerte wunderbare Wirksamkeit des Heil. Geistes und unter der unerhörten Anfechtung der Widerchrist­ ischen Drang- und Trübsal zur geistlich-sittlichen Vollkommen­ heit gelangte Brautgemeinde des Herrn Jesus. Soll ich euch nun noch, liebe Christen, die Möglichkeit aller dieser wunderbaren Vorgänge zu beweisen suchen? Nein, ich verzichte darauf. Es sind Wirkungen der göttlichen Allmacht und Schöpferkraft, denen wir staunend und bewundernd gegen­ über stehen, und von der Gottes Wort bezeugt: nach der Wirkung, womit er kann auch alle Dinge ihm unterthänig machen (Phil. 3, 21). Daran lassen wir gläubige Christen uns genügen, und sprechen mit unserem Texte: „dies ist die erste Auferstehung; selig ist und heil.ig, der teil hat an der ersten Auferstehung; über solche hat der andere Tod keine Macht, sondern sie werden Priester Gottes und Christi sein!" II. Wenn das Wort Gottes zu dieser Seligpreisung in unserem Texte hinzufügt: „und mit ihm regieren tau­ send Jahre", so führt es uns damit auf den zweiten Teil dieser Predigt über. Der erste Teil hat uns gezeigt, was die Wiederkunft unseres Heilands ist und was sie bringt. Sie ist der Hauptsache nach die Heimholung der Brautgemeinde durch den himmlischen Bräutigam. Wo aber von der Heimholung

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der Braut geredet wird, da wird eine Hochzeitsfeier vor­ ausgesetzt, und eine solche ist auch das Ziel der hier gemeinten Heimholung. Es ist aber die Hochzeit des Lammes, welche das Wort Gottes in unserem Texte ankündigt mit den Worten: „die Hochzeit des Lammes ist gekommen und sein Weib hat sich bereitet". Liebe Christen, ihr dürft euch nicht stoßen an diesem Ausdruck! Er ist durch das Wort Gottes geweiht. Schon im Alten Testament wird das Bundesverhältnis Jehovas zu dem Volk seiner Wahl als eine Ehe dargestellt. Gott spricht zum Volk: der dich gemacht hat, ist dein Mann, Herr Zebaoth heißt sein Name (Jes. 54, 5), und: ich will mich mit dir verloben in Ewigkeit; ich will mich mit dir vertrauen in Gerechtigkeit und Gericht, in Gnade und Barm­ herzigkeit; ja, im Glauben will ich mich mit dir verloben (Hos. 2, 21—22). So hat auch unser Heiland selbst im Neuen Bunde das Verhältnis, in welchem er zu seiner Jüngerschar stehen will, als das des Bräutigams zu seiner Braut bezeichnet. Als er von den Jüngern seines Vorläufers zur Rede gestellt wurde wegen des Fastens, sprach er: wie können die Hochzeitsleute Leid tragen, solange der Bräutigam bei ihnen ist; es wird aber die Zeit kommen, da der Bräutigam von ihnen genommen wird, alsdann werden sie fasten (Mtth. 9, 15). Und am ausführ­ lichsten redet er über dieses geistliche Brautverhältnis und über die an dasselbe sich anschließende Hochzeit in dem lieblichem Gleichnis von den zehn Jungfrauen (Mtth. 25). War schon die Art und Weise der Brautheimholung eine wunderbar herrliche, so wird die Hochzeitsfcier selbst dies in noch viel höherem Grade sein. Deshalb wird sie auch in unserem Texte eingeleitet durch den Jubelgesang der himmlischen Heer­ scharen, der wie die Stimme großer Wasser und starker Donner erschallt: „Halleluja, denn der allmächtige Gott hat das Reich eingenommen; lasset uns freuen und fröhlich sein und ihm die Ehre geben!" Diese Hochzeit wird auch in unserem Texte als das Abendmahl des Lammes bezeichnet in der Seligpreisung: „selig sind, die zum Abendmahl des Lammes berufen sind!" Gewiß, liebe Christen, sind das bildliche Reden und Ausdrücke,

445 aber sie haben einen tiefen Sinn, den wir uns klar machen müssen. Was ist denn eine Hochzeit anders, als die Vereinigung von Bräutigam und Braut? So ist auch die Hochzeit des Lammes die engste Verbindung zwischen dem Erlöser und seinen Erlösten. Eine solche Gemeinschaft ist wohl schon im Erdenleben vorhanden, sie findet im Geiste statt, sie hat aber ihre Schranke an der örtlichen Trennung des himmlischen Bräu­ tigams und seiner irdischen Braut. Allerdings hat der Heiland seinen Jüngern die Versicherung hinterlassen: siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende (Mtth. 28, 20). Und wir wissen recht wohl, daß er diese seine Verheißung auch wahr macht. Aber dabei giebt uns doch der Ausspruch des Apostels zu denken: so sind wir denn getrost allezeit und wissen, daß, dieweil wir im Leibe wohnen, so wallen wir ferne von dem Herrn, denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen; wir fhib aber getrost und haben vielmehr Lust, außer dem Leibe zu wallen und daheim zu sein bei dem Herrn (2. Kor. 5, 6—8). Wir entnehmen daraus, daß es doch noch eine nähere Verbindung mit dem Heiland giebt, als diejenige, in welcher wir hienieden mit ihm stehen. Und diese Vereinigung ist es, welche unter dem bildlichen Ausdruck der Hochzeit des Lammes dargestellt wird. Selig preist das Wort Gottes diejenigen, welche der Teilnahme an dieser Hochzeitsfeier gewürdigt werden. Denn während die Seligkeit, die uns der Glaube an den Ver­ söhner schon diesseits gewährt, eine Seligkeit in Hoffnung ist, so ist die hier gemeinte Seligkeit eine wirkliche, eine innere und äußere, ein Mitgenuß der Herrlichkeit, welche der Heiland meint, wenn er betet: Vater, ich will, daß wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast, daß sie meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast (Joh. 17, 24). Denket aber nicht, liebe Christen, wenn von der Hochzeit des Lammes die Rede ist, sie sei vorübergehend, wie eine irdische Feier. Nein, die Hochzeit des Lammes hat ewige Dauer. Sie beginnt bei der Wieder­ kunft des Herrn Jesus und hört nie wieder auf. Ueberschwenglich köstlich sind die einzelnen Züge, in welchen uns das Wort Gottes ein Bild derselben vor Augen stellt. Es ist einmal zwischen frommen Christen die Frage aufgeworfen worden.

446 welches denn wohl die herrlichste Verheißung sei, die den Jüngern des Heilands gegeben werde? Da nannte der eine diejenige, welche der erhöhete Heiland der Gemeinde zu Laodicea giebt in den Worten: siehe, ich stehe vor der Thüre (nämlich: mit meiner Wiederkunft) und klopfe an; so jemand meine Stimme hören wird und die Thüre austhun, zu dem werde ich eingehen und das Wendmahl mit ihm halten (Offb. 3, 20). Ein anderer erachtete für die schätzbarste Verheißung diejenige, welche der Heiland an die eben erwähnte anschließt, indem er spricht: wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Stuhl zu sitzen, wie ich überwunden habe und bin gesessen mit meinem Vater auf seinem Stuhl (Offb. 3, 21). Ein dritter erhob als die höchste aller Verheißungen die, welche der Heiland seinen Aposteln einst erteilte mit den Worten: ich will euch das Reich bescheiden, wie mir es mein Vater beschieden hat (Luk. 22, 29). Der vierte aber stellte als die Krone aller Verheißungen die auf, welche der Heiland den Knechten giebt, die er, so er kommt, wachend findet, und die da lautet: wahrlich, ich sage euch, er (nämlich: der Menschensohn) wird sich aufschürzen und wird sie zu Tische setzen und vor ihnen gehen und ihnen dienen (Luk. 12, 37). Seht, liebe Christen, das sind lauter An­ deutungen über den seligen und herrlichen Zustand, welchen die Hochzeit des Lammes mit sich führt. Forschen wir nun aber: wo wird diese Hochzeüsfeier statt­ finden? so begegnen uns zwei einander widerstreitende An­ sichten der Schriftausleger. Laßt mich euch dieselben vorlegen! Die einen erklären: sie wird auf der Erde stattfinden, und zwar an einer besonderen Oertlichkeit, welche zum Zweck des Aufent­ halts der verklärten Brautgemeinde mit ihrem verherrlichten Bräutigam ausnahmsweise und vorläufig ebenfalls eine Ver­ klärung erfährt. Sie halten dafür, diese verklärte Oerllichkeit werde das gelobte Land sein mit der Hauptstadt Jerusalem. Dagegen verlegen die anderen Schriftausleger die Stätte der Hochzeit des Lammes in die unsichtbare, überirdische Himmelswelt, in das obere Vaterhaus, wohin der himmlische Bräutigam, nachdem er das Gericht über den Widerchrist und sein Reich vollzogen hat, seine ihm entgegen

447 gerückte verklärte Brautgemeinde einführt, damit sie dort mit ihm vereinigt sei nach dem Worte: und werden also bei dem Herrn sein allezeit (1. Thess. 4,17). Liebe Christen, ich schließe mich dieser letzten Auslegung an, weil sie mir als die zu­ treffendste erscheint. Doch laßt uns zusehen, wie unsere Text­ weissagung zu derselben sich stellt! Das Widerchristische Reich ist abgethan. Da stellt uns der Seher zunächst ein ganz anderes, von der Hochzeit des Lammes ganz absehendes Bild vor die Augen. Er berichtet: „ich sah einen Engel vom Himmel fahren, der hatte den Schlüssel zum Abgrund und eine große Kette in seiner Hand, und er griff den Drachen, die alte Schlange, welche ist der Teufel und Satan, und band ihn tausend Jahre, und warf ihn in den Abgrund, und verschloß ihn und versiegelte oben darauf, daß er nicht mehr verführen sollte die Heiden, bis daß vollendet würden tausend Jahre; und darnach muß er los werden eine kleine Zeit". Das ist ein Gesicht, das dem Seher vor das Geistesauge tritt. Welches ist der Inhalt dieser bildlichen Darstellung? Das kann kein anderer sein, als dieser, daß Satan, der den Widerchrist, wie wir früher erkannt haben, hcraufgeführt und das Widerchristentum hervorgebracht hat, nunmehr ebenfalls einem Gericht unterzogen wird. Es ist aber ein vorläufiges Gericht, noch nicht das Endgericht, das am jüngsten Tag über ihn ergehen soll. Und dieses vorläufige Gericht, worin besteht es? Daß Satan für einen längeren Zeit­ raum, den die prophetische Angabe auf tausend Jahre begrenzt, durch göttlichen Beschluß seiner versucherischen und ver­ führerischen Wirksamkeit unter dem Menschengeschlecht beraubt, und durch göttliche Machtwirkung unschädlich gemacht wird. Liebe Christen, wer nur irgendwie durch das Wort Gottes, durch Beobachtung der Menschen und durch eigene Erfahrung eine Ahnung bekommen hat von der verderblichen Thätigkeit des Fürsten der Finsternis auf Erden, der wird verstehen, welch befreiende Folge seine Bindung haben muß. Welch heilsame Wirkung muß das für die Menschheit üben, wenn Satan nicht mehr umhergehen darf wie ein brüllender Löwe, um zu suchen.

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Wen er verschlinge (1. Petr. 5, 8), wenn er nicht mehr als der Gott des gegenwärtigen Weltalters die Sinne der Menschen verblenden darf gegen das Helle Licht des Evangeliums (2. Kor. 4, 4). Satanische Verblendung und Verführung, denket euch dieselbe hinweg, und ihr werdet begreifen, daß damit eine ganz neue Gnadenzeit für das Menschengeschlecht anbricht. Wohl ist es noch nicht die volle und ganze Erlösung, aber es ist ein Vorschmack derselben. Und nun laßt uns Horen, was die Textweissagung weiter über diese Erlösungszeit aussagt! Der Seher berichtet über den Fortgang seines Gesichts: »und ich sah Stühle (Throne), und sie setzten sich darauf, und ihnen ward gegeben das Gericht; und die Seelen (Per­ sonen) derer, die enthauptet sind um des Zeug­ nisses Jesu und um des Wortes Gottes willen, und die nicht angebetet hatten das Tier noch sein Bild und nicht genommen hatten sein Malzeichen an ihre Stirn und auf ihre Hand, diese lebten (wurden lebendig) und regierten mit Christo tausend Jahre". Das ist die Schilderung, welche uns das Wort Gottes vom sogenannten tausendjährigen Reiche giebt, und zwar die einzige. Manche Christen wollen von diesem tausendjährigen Reiche nichts wissen, weil nur an dieser einzigen Stelle der Bibel deutlich davon die Rede ist. Aber der schriftgläubige Christ, der alles das, was die Heil. Schrift aussagt über den Ratschluß Gottes zur Erlösung der sündigen Welt und zur Herstellung des Reiches Gottes als göttliche Offenbarung annimmt, der kann an diesem Zeugnis, welches dieses Reich so überaus bestimmt bezeichnet, nicht vorüber. Er muß es gelten lassen. Und so wollen auch wir thun, liebe Christen. Vergegenwärtigen wir uns nur auch recht klar, was wir damit anerkennen! Wann der Herr Jesus in seiner Herr­ lichkeit erscheint, dann hebt er nicht allein das Widerchristische Weltreich auf, das sich über das ganze Menschengeschlecht er­ streckt, sondern er richtet auch sein Reich auf dieser Erde auf, das Gottesreich in seiner vorläufigen: Vollendung.

449 Welche Vorstellung sollen wir uns nun von dieser vor­ läufigen Gestalt des vollendeten Gottesreiches machen? Ehe ich auf diese Frage eingehe, muß ich euch, liebe Christen, erst noch zwei andere Fragen beantworten. Zuerst diese: wo findet das tausendjährige Reich statt? Es ist ein Reich, das Königreich Jesu Christi. Jedes Reich aber hat solche, die regieren, und solche, die regiert werden. So auch dieses. Die Regierenden haben wir kennen gelernt, und angenommen, daß sie sich in der Himmelswelt befinden. Wo sind nun die Regierten, die Unter­ thanen dieses Reiches? Unsere Text-Weissagung sagt das nicht ausdrücklich. Allein es geht aus verschiedenen Zügen des Bildes, das sie entwirft, hervor, daß sie auf der Erde sind, daß das tausendjährige Reich auf der Erde aufgerichtet werden und diejenigen Erdenbewohner, welche nach dem vorläufigen Ge­ richt über den Widerchrist und Satan hienieden zurückbleiben, zu Bürgern haben wird. Schon die irdische Zeitangabe von tausend Jahren deutet darauf hin. Noch deutlicher ist es daraus zu ersehen, daß Satan gebunden wird, damit er die Menschen während dieses Zeitraumes nicht wie seither verführen kann, und daß er nach Ablauf desselben noch einmal freigegeben wird, um nochmals seine Verführungskunst an den Menschen zu erweisen. So ist also die Erde ohne Zweifel der Schauplatz des tausendjährigen Reiches, und zwar die Erde in ihrem jetzigen, noch unver­ klärten Zustand. Wie haben wir uns aber die Regierung desselben zu denken? Es ist ein G o t t e s st a a t und zwar einer, der auf einer höheren Stufe der Entwicklung steht, wie der des Alten Bundes. Jetzt ist es die Kirche, diese rein geistliche Re­ ligionsgemeinschaft, in welcher das Reich Gottes zur Erscheinung kommt. Mit der Aufrichtung des tausendjährigen Reiches geht die Kirche über in diesen Gottesstaat, in dem sich dann das Reich Gottes äußerlich darstellt, und in dem die Weissagungen der Propheten des Alten Bundes von einer zukünftigen herrlichen Entfaltung und Blüte des alttestamentlichen Gottesstaates sich erfüllen. Seine Regierung geschieht vom König des Gottes­ reiches Jesus Christus und zwar in Gemeinschaft mit seinen zu seinem Throne erhöheten Auserwählten. Von einem Schnabel, Predigten.

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450 irdischen Stellvertreter seiner Person ist keine Rede. Er führt sein Regiment vom Himmel her unsichtbar, aber allerdings durch menschliche Vermittlung, wie er es anfänglich über den Gottesstaat des Alten Bundes durch Richter und Priester führte. Doch helfen bei dieser Regierung auch seine Auserwählten mit, von welchen unser Text berichtet: „sie lebten und re­ gierten mit Christo tausend Jahre". Und wie sie ihre Mitregentschaft bethätigen, auch darüber giebt uns der Text eine Andeuümg in den Worten: „sie werden Priester Gottes und Christi sein". Priesterliche Dienste werden sie den Menschen während des tausendjährigen Reiches leisten. Sie stehen demnach in dieser Periode in einem solchen Verkehr mit den Erdbewohnern, der diesen zum Heil dient. Soviel entnehmen wir der Weissagung, wenn wir uns auch keine be­ stimmte Vorstellung von diesem Verkehr der Himmlischen mit den Irdischen zu machen vermögen. Die andere Frage, welche uns nahe tritt, ist die: wer ge­ hört denn eigentlich zu dieser von uns so oft erwähnten Braut­ gemeinde, an welcher der Heiland seine Verheißung erfüllt hat: wer überwindet, dem will ich geben mit mir auf meinem Stuhl zu sitzen, wie ich überwunden habe und bin gesessen mit meinem Vater auf seinem Stuhle? (Offb. 3, 21). Unser Text giebt die Angehörigen dieser Gemeinde an als die auferweckten und ver­ wandelten Märtyrer und Bekenner aus der Widerchristischen Periode. Anderwärts dagegen dehnt die Weissagung die Zahl derjenigen, welche an der „ersten Auferstehung" und damit an der Entrückung und Erhöhung teil haben auf alle aus, „die Christo angehören, wann er kommen wird" (1. Kor. 15, 23). Und hiermit stimmt überein, was derselbe Apostel anderwärts ausspricht, wenn er schreibt: die Toten in Christo werden auf­ erstehen zuerst, und dann hinzufügt: darnach wir, die wir leben und überbleiben, werden zugleich mit diesen hingerückt werden (1. Thess. 4, 16—17), und wenn er zur Erklärung an einem anderen Orte hinzusetzt: wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt (1. Kor. 15, 51). Spricht das nicht für die Annahme, daß die Offenbarungsschrist, weil sie sich mit ihrer Weissagung ganz ausschließlich aufs Ende bezieht.

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die Märtyrer und Bekenner der Widerchristischen Zeit nur bei­ spielsweise aufführt? Wir werden demnach Wohl nicht irre gehen, wenn wir auf die Frage: wer gehört zu der Gemeinde, die bei der Wiederkunft des Heilands in die Vollendung ein­ geht? antworten: alle Glieder der Brautgemeinde, welcher gegeben wird, sich anzuthun mit der reinen Leinwand der vollkommenen Gerechtig­ keit, sowohl die bereits im Laufe des gegen­ wärtigen Weltalters in dem Herrn entschlafe­ nen, als die bei seiner Wiederkunft noch im dies­ seitigen Leben stehenden. Ja, liebe Christen, auch wir dürfen hoffen, daß wir von unserem Heiland seiner Braut­ gemeinde zugezählt werden, sei es nun, daß wir noch vor seiner Erscheinung aus diesem Erdenleben scheiden, sei es, daß wir seine herrliche Zukunft hienieden erleben. Welch trostvolle, entzückende Hoffnung! Aber das tausendjährige Reich, was ist es denn? Wir haben bereits erkannt, daß es ein Gottesstaat ist, der an die Stelle der jetzt bestehenden weltlichen Staaten und Reiche tritt. Während nun diese in beständigem Streit und Kriege mit einander stehen und vielfach gewaltsamen Aufruhr und Umsturz erfahren, wird der Gottesstaat ein Friedensreich sein, denn sein Regent ist der Friedefürst, von dem der Prophet weissagt: daß seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Stuhl Davids und in seinem Königreich (Jes. 9, 5—6), und von dessen Reichsbürgern er sagt: da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen, denn es wird kein Volk wider das andere ein Schwert aufheben und werden hinfort nicht mehr kriegen lernen (Jes. 2, 4). In solchem Friedensreiche werden sich die Werke des Friedens aufs herrlichste entfalten können: Wissenschaft und Kunst, Landwirtschaft, Gewerbe und Handel werden blühen. Was aber von noch höherem Belang ist: da Satan gebunden und also der Bann, den er auf die Seelen der Menschen gelegt, die geistige Verblendung, in welcher er sie jetzt gefangen hält, aufgehoben ist, so wird die Heilsverkündigung willige Auf­ nahme finden und die Bekehrung der Seelen ungehemmter von 29*

452 statten gehen, als es zur Zeit der Fall ist. Es wird zur Wirk­ lichkeit werden die Weissagung: das Land ist voll Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt (Jes. 11, 9). Und da die Sittlichkeit und Tugendübung im engsten Zusammen­ hang mit dem wahren Heilsglauben steht, so wird in diesem herr­ lichen Gottesstaate das zu stand kommen, was der Psalmdichter sagt: daß Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen (Ps. 85, 11). So kann und wird sich denn offenkundig zeigen, was das Christentum in der Menschenwelt zu leisten vermag, wenn ihm die Macht der Finsternis nicht mehr seinen Einfluß durchkreuzt. Liebe Christen, ich lasse mich auf eine weitere Beschreibung des tausendjährigen Reiches nicht ein. Ich will das Maß des Wortes Gottes nicht überschreiten, und über das hinaus, was die biblische Weissagung bietet, keine menschlichen Vermutungen aufstellen. Wir wollen uns vielmehr an dem genügen lassen, was wir der Weissagung des Gotteswortes entnommen haben, und fassen das zusammen in die Behauptung: das tausend­ jährige Reich ist die Vorstufe des vollendeten Gottesreiches, auf dessen schließliche Herstellung der Heils­ plan Gottes hinausläuft, und seine Ankündigung rückt uns die Vollendung des Heils, auf die wir hoffen und warten, näher, und giebt ihr bestimmtere, deutlichere Umrisse. Möge uns das anregen, um so eifriger dem Kleinod nachzustreben, das uns vorhält unsere himmlische Berufung in Christo Jesu! Amen.

34. Tert: Offb. 20, 7—15.

„Und wenn tausend Jahre vollendet sind, wird der Satanas los werden aus seinem Gefängnis, und wird ausgehen, zu ver­ führen die Heiden an den vier Enden der Erde, den Gog und Magog, sie zu versammeln zum Streit, welcher Zahl ist wie der Sand am Meer. Und sie zogen herauf auf die Breite

452 statten gehen, als es zur Zeit der Fall ist. Es wird zur Wirk­ lichkeit werden die Weissagung: das Land ist voll Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt (Jes. 11, 9). Und da die Sittlichkeit und Tugendübung im engsten Zusammen­ hang mit dem wahren Heilsglauben steht, so wird in diesem herr­ lichen Gottesstaate das zu stand kommen, was der Psalmdichter sagt: daß Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen (Ps. 85, 11). So kann und wird sich denn offenkundig zeigen, was das Christentum in der Menschenwelt zu leisten vermag, wenn ihm die Macht der Finsternis nicht mehr seinen Einfluß durchkreuzt. Liebe Christen, ich lasse mich auf eine weitere Beschreibung des tausendjährigen Reiches nicht ein. Ich will das Maß des Wortes Gottes nicht überschreiten, und über das hinaus, was die biblische Weissagung bietet, keine menschlichen Vermutungen aufstellen. Wir wollen uns vielmehr an dem genügen lassen, was wir der Weissagung des Gotteswortes entnommen haben, und fassen das zusammen in die Behauptung: das tausend­ jährige Reich ist die Vorstufe des vollendeten Gottesreiches, auf dessen schließliche Herstellung der Heils­ plan Gottes hinausläuft, und seine Ankündigung rückt uns die Vollendung des Heils, auf die wir hoffen und warten, näher, und giebt ihr bestimmtere, deutlichere Umrisse. Möge uns das anregen, um so eifriger dem Kleinod nachzustreben, das uns vorhält unsere himmlische Berufung in Christo Jesu! Amen.

34. Tert: Offb. 20, 7—15.

„Und wenn tausend Jahre vollendet sind, wird der Satanas los werden aus seinem Gefängnis, und wird ausgehen, zu ver­ führen die Heiden an den vier Enden der Erde, den Gog und Magog, sie zu versammeln zum Streit, welcher Zahl ist wie der Sand am Meer. Und sie zogen herauf auf die Breite

453 der Erde, und umringten das Heerlager der Heiligen und die geliebte Stadt. Und es fiel Feuer von Gott aus dem Himmel und verzehrte sie. Und der Teufel, der sie verführte, ward geworfen in den feurigen Pfuhl und Schwefel, da auch das Tier und der falsche Prophet war; und werden gequält werden Tag und Nacht von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und ich sah einen großen, weißen Stuhl und den, der drauf saß; vor des An­ gesicht floh die Erde und der Himmel, und ihnen ward keine Stätte erfunden. Und ich sah die Toten, beide: groß und klein, stehen vor Gott; und Bücher wurden ausgethan, und ein ander Buch ward aufgethan, welches ist des Lebens. Und die Toten wurden gerichtet nach der Schrift in den Büchern, nach ihren Werken. Und das Meer gab die Toten, die darinnen waren; und der Tod und die Hölle (Totenwelt) gaben die Toten, die darinnen waren; und sie wurden gerichtet, ein jeglicher nach seinen Werken. Und der Tod und die Hölle (Totenwclt) wurden geworfen in den feurigen Pfuhl. Das ist der andere Tod. Und so jemand nicht ward erfunden geschrieben in dem Buch des Lebens, der ward geworfen in den feurigen Pfuhl." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Wir haben aus der biblischen Weissagung ersehen, daß die Geschichte der Vollendung des Reiches Gottes in zwei Abschnitte zerfällt, welche durch einen längeren Zeitraum, den der Seher des Neuen Bundes auf tausend Jahre bemißt, von einander ge­ trennt sind. Da die Zehnzahl in der göttlichen Offenbarung das Sinnbild der Vollkommenheit ist, so ist die Zahl tausend, gleich: zehnmal zehn mal zehn, die Bezeichnung der höchsten Vollkommenheit. Es soll damit angedeutet sein, daß das so­ genannte tausendjährige Reich die höchste Vollendung des Gottesreiches darstellt, welche unter den Verhältnissen des gegen­ wärtigen Weltalters möglich ist. Die unbedingte Allvollendung des Himmelreichs bringt erst das zukünftige Weltalter, an dessen Eintritt uns unsere Textweissagung stellt. Die biblische Weissagung hat uns gezeigt, daß die vor­ läufige Vollendung durch die Wiederkunft Jesu Christi herbei­ geführt wird. Es fragt sich nun, ob für die Allvollendung eine nochmalige Wiederkunft des Erlösers geschehen wird. Sicher

454 ist, daß die Weissagung nur eine einmalige Wiederkunft er­ wähnt. Da meinen nun diejenigen das Richtige gefunden zu haben, welche annehmen, der wiedergekommene Heiland werde fortan mit seiner verklärten Brautgemeinde auf der Erde bleiben, und in dem einstweilen verklärten gelobten Lande seine Wohnung nehmen. Damit sind sie der Annahme einer noch­ maligen Wiederkunft enthoben. Nun haben wir wohl dieser Auffassung der Weissagung uns nicht anschließen können, sondern wir haben diese dahin gedeutet, daß der wieder­ gekommene Heiland seine verklärte Brautgemeinde mit sich in die Himmelswelt erhebt und von dort aus mit ihr das auf Erden errichtete tausendjährige Reich regiert. Zu dem Ende wird er aber samt seinen Auserwählten in einem steten Verkehr mit der Erdenwelt und den Erdbewohnern stehen. Das wird ein Verkehr fein, etwa dem ähnlich, in welchem er nach seiner Auferstehung und bis zu seiner Himmelfahrt mit seinen Jüngern stand. Verstehen wir die Sache so, dann ist es auch für uns nicht nötig, eine zweimalige Wiederkunft des Herrn zu be­ haupten. Wir reden nur von der Erscheinung des Königs des tausendjährigen Reiches. Es ist selbstverständlich eine Erscheinung im vollen Glanze seiner himm­ lischen Herrlichkeit, denn sie geschieht zur Allvollendung des Gottesreiches. Wir haben aus unseren seitherigen Betrachtungen schon erkannt, daß die Vollendung des Himmelreiches nicht auf ruhigem, friedlichem Wege zu stände kommt, sondern durch göttliche Gerichte sich vollzieht. Das zeigt uns auch deutlich die Weissagung in unserem Texte. Es ist in Gottes ver­ borgenem Ratschluß bestimmt, daß die eingetretene Friedenszeit noch einmal unterbrochen werden soll. Es muß ja eine Prüfung über die während der­ selben christlich gewordene Menschheit kommen, eine Prüfung, in welcher offenbar wird, ob ihre Bekehrung als eine aufrichtige nnd gründliche sich bewährt. Das ist der Grund, weshalb der in den Abgrund gebannte Verführer noch einmal freigelassen wird. Noch einmal darf er seine Verführungskunst erproben, nm die Bürger des Gottesstaates zu sichten wie den Weizen

455 (Luk. 22, 31), und siehe — die Weissagung sagt es —, er wird einen großen Erfolg haben. Es wird dem Satan ge­ lingen, eine große Menge Menschen, insbesondere die in den entfernten Gegenden der Erde wohnenden Völkerschaften, welche in unserem Texte nach dem Prophet Ezechiel als Gog und Magog bezeichnet werden, zu bethören und sie zum Streit zu sammeln und zu führen gegen den Mittelpunkt des Gottes­ staates, gegen „das Heerlager der Heiligen und die geliebte Stadt". Schon umringen sie dieselbe. Da ereilt sie das göttliche Gericht zur plötzlichen Ver­ nichtung, wie die Textweissagung im Anschluß an die Vor­ aussagen der Propheten Ezechiel und Sacharja (Ez. 38, 22; 39, 6; Sach. 12, 1—9) angiebt. Im Anschluß an dieses Gottesgericht erfolgt sofort das Schlußgericht über den Teufel. Nun hat er endlich seine Rolle in der Geschichte der Welt ausgespielt und — er hat verspielt. Sein Dasein, wie seine Geschichte ist ein uns bis jetzt nicht völlig lösbares Rätsel. Er ist kein zweiter, böser Gott, der dem guten Gott von Ewigkeit her entgegen stünde. Nein, er ist ein Geschöpf des einigen Gottes, ein überirdisches, ein Engel, und — da Gott nur Gutes schaffen kann — ein ursprünglich guter Engel, dem ohne Zweifel eine besonders hohe Stellung eingeräumt und damit zugleich eine besonders große Macht verliehen war. Er hat sich gegen Gott empört, indem er selbst Gott sein wollte. Er hat auch zahlreiche Engel auf seine Seite gezogen, zu gleichem Abfall von Gott verführt, und mit ihnen ein Reich des Bösen, der Finsternis aufgerichtet und dem Reiche Gottes entgegen gestellt. Er hat darnach auch die Stammeltern des Menschengeschlechts verführt, und dadurch sein Reich auch über die Erde und Menschheit ausgebreitet. Es bleibt ein Rätsel, das auch die Offenbarung nicht löst, sowohl wie er zur Auflehnung gegen Gott gekommen ist, als auch warum ihn das Gottesgericht nicht alsobald nach seinem Fall ergriffen und unschädlich gemacht hat, noch mehr, warum ihm trotz seiner Besiegung durch den Erlöser noch immer Spiel­ raum gelassen ist für seine gottfeindliche, verderbliche Wirksam­ keit. Das Wort Gottes sagt uns aber, daß die Erlösung des

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sündig gewordenen Menschengeschlechts „durch Recht" voll­ bracht werden mußte (Jes. 1, 27). Daraus schließen wir, daß auch Satans schließliche Verurteilung auf dem Wege des Rechts herbei geführt werden mußte. Das ist denn auch ge­ schehen, und zwar durch den Erlöser. Indem Satan an ihm seine ganze Verführungs-List und Macht verschwendete, er­ folglos verschwendete, und sich an ihm, dem Sündlos-Heiligen dermaßen vergriff, daß er ihn zum unverschuldeten Tode brachte, hat er sich selbst vernichtet. Seitdem ist ihm auch das Urteil Gottes auf ewige Verdammnis endgültig gesprochen. Daß es trotzdem nicht sofort vollzogen wird, das hat seinen Grund darin, daß nicht nur der Erlöser ihn besiegen mußte, sondern daß auch dessen Gemeinde die Aufgabe gestellt ist, in seiner Kraft denselben Sieg zu erringen (Röm. 16, 20). Ist dieser Sieg erkämpft, dann geschieht der Vollzug des längst gefällten Verdammungsurteils. Das meldet unsere Textweis­ sagung in den Worten: „und der Teufel, der sie ver­ führte, ward geworfen in den feurigen Pfuhl und Schwefel (Feuer- und Schwefel-See), da auch das Tier (der Widerchrist) und der falsche Prophet war; und werden gequält werden Tag und Nacht von Ewigkeit zu Ewigkeit (von Welt­ alter zu Weltalter, in die Aeonen der Aeonen)." Nun ist der Zeitpunkt heran gekommen, von dem es in dem Buch der Offenbarung heißt: der auf dem Stuhle saß, sprach ... zu mir: es ist geschehen! Der Ratschluß Gottes zur Beseitigung des Bösen und seiner schlimmen Folgen aus der von Gott geschaffenen Welt und zur Wiederherstellung des ursprüng­ lichen reinen und glückseligen Zustands der Schöpfung Gottes ist ausgeführt und zum Schluß gebracht. Was diese Ausfüh­ rung bewirkt und zu stände gebracht hat, das kann und muß nun zu Tage treten. Es ist

Die Vollendung des Reiches Gottes,

worüber wir zu reden haben, und zwar: Die Allvollendung,

welche zu stände kommt zunächst durch:

457 1. die allgemeine Auferstehung, und 2. das Weltgericht. I. Die Reinigung der von Gott geschaffenen Welt von dem Bösen, das in sie eingedrungen war, kann nicht zu stände kommen ohne gerichtliche Scheidung. Diese Scheidung trifft selbstverständlich vor allem die geistigen Wesen, welche die Träger des Bösen, welche Sünder geworden sind. Liebe Christen, ihr werdet vielleicht einwenden, es wäre doch denkbar, daß diese Reinigung sich friedlich vollzöge durch allmähliche Bekehrung aller Sünder. Gewiß, wenn diese stattfände. Men­ schen können das vermuten, und gläubige Christen werden es wünschen. Aber die göttliche Weissagung zeigt uns einen anderen Verlauf. Viele der Sünder werden das angebotene Heil verschmähen und sich gegen die Aufforderung zur Buße verstocken. Das macht eine gerichtliche Scheidung nötig, auf welche deshalb die Weissagung fortwährend hinweist. Damit aber die Menschen als ganze Menschen vor dem Richt­ stuhl erscheinen, und ihr Urteil nach ihrer ganzen Menschen­ natur empfangen können, geht dem Gericht die Auf­ erstehung voraus. Von dieser reden wir zuerst. Ihr erinnert euch, liebe Christen, daß wir bereits in der vorigen Predigt von einer Auferstehung gesprochen haben. Wir nannten sie nach der Offenbarung St. Johannis „die erste Auferstehung". Nur dieses prophetische Buch macht den Unterschied zwischen einer ersten und zweiten Auf­ erstehung, welche durch die Zeitdauer des tausendjährigen Reiches von einander getrennt sind. Sonst redet das Wort Gottes immer nur von einer Auferstehung der Toten. Nur ein Ausspruch des Apostels Paulus macht hiervon eine Aus­ nahme. Das ist der, in welchem er folgende Auferstehungs­ ordnung aufstellt: ein jeglicher in seiner Ordnung: der Erst­ ling Christus; darnach die Christo angehören, wann er kommen wird; darnach das Ende, wann er das Reich Gott dem Vater überantworten wird (I.Kor. 15,23—24). In diesem Ausspruche erkenne ich eine förmliche Bestätigung dessen, was uns das Buch der Offenbarung sagt. Doch finde ich sie auch eingeschlossen in all den Stellen der Heil. Schrift, welche von der Auf-

458 erstehung und Verwandlung der Auserwählten bei der Wieder­ kunft des Heilands reden. Von dieser ersten Auferstehung und Verwandlung bezeugt das Wort Gottes bestimmt, daß sie eine solche zum Leben ist. Eine solche wird nun aller­ dings auch bei der Erscheinung des Heilands zum Weltgericht stattfinden. Sie erstreckt sich auf alle Gerechten aus der Zeit des tausendjährigen Reiches und wohl auch derjenigen aus den früheren Jahrhunderten und Jahrtausenden, welche nicht würdig erfunden wurden, an der ersten Auferstehung Teil zu haben. Sie ist eine Auferstehung der Frommen, die vor dem Eintritt des Weltgerichts verstorben sind, und eine Verwand­ lung der dasselbe erlebenden Frommen. Esunterscheidet sich aber diese zweite Auferstehung und Ver­ wandlung dadurch von der ersten, daß sie eine allgemeine ist und sich über alle Toten, über Gerechte und Ungerechte ausdehnt. Laßt uns, liebe Christen, zuerst nachdenken über dieAufcrstehung und Verwandlung der Gerechten, derHeiligen. Von ihr gilt das, was wir dem ZIpostel nach­ sprechen in den Worten: unser Wandel (Bürgerschaft) ist im Himmel, von dannen wir auch warten unseres Heilands Jesu Christi, des Herrn, welcher unseren nichtigen Leib verklären wird, daß er ähnlich werde seinem verklärten Leibe (Pil. 3, 20—21). Diese Worte geben uns einen Begriff von der Leib­ lichkeit, mit welcher der allmächtige Erlöser die Seelen der Seinen bekleiden wird. Nehmen wir dazu ihre Schilderung in den Worten: es wird gesäet verweslich und wird auferstehen unverweslich; es wird gesäet in Unehre und wird auferstehen in Herrlichkeit; es wird gesäet in Schwachheit und wird auf­ erstehen in Kraft; es wird gesäet ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib (1. Kor. 15, 42—44). Diese Beschreibung erläutert uns das wohlbekannte Liedeswort: Was hier kranket, seufzt und fleht, wird einst frisch und herrlich gehen; irdisch werd' ich ausgesä't, himmlisch werd' ich auf­ erstehen; hier geh' ich natürlich ein, nachmals werd' ich geist­ lich sein. Eine solche verklärte Leiblichkeit muß der Heiland den ©einigen geben, und er kann es auch. Er muß es thun,

459 um sich dadurch als den vollkommenen Erlöser zu erweisen. In der That, er ist nicht nur der Erlöser unserer Seelen, sondern unserer ganzen Persönlichkeit. Er ist der Wiederhersteller unserer Persönlichkeit in das göttliche Ebenbild. Werden die Bekehrten ja doch versichert, daß sie von Gott verordnet sind, daß sie gleich sein sollen dem Ebenbild seines Sohnes, auf daß derselbe sei der Erstgeborene unter vielen Brüdern (Röm. 8, 29). Erst dann hat der Heiland sein Erlösungswerk an uns vollbracht, wann er unsere geheiligten Seelen mit ihren verherrlichten Leibern wieder vereinigt hat. Als der rechte und wahre Erlöser kann und darf er unseren Leib dem Ver­ derben nicht überlassen, das der Tod als der Sünde Sold über denselben bringt. Darum richtet er unseren Leib wieder auf in der Auferstehung, und zwar in einer von allem Sünden­ verderben befreiten Gestalt. — Und er kann das, weil er der Ueberwindcr des Todes ist, derjenige, der dem Tode die Macht genommen und Leben und unvergängliches Wesen an das Licht gebracht hat (2. Tim. 1, 10), weil er es dahin gebracht hat, daß wir dereinst rühmen dürfen: der Tod ist verschlungen in den Sieg; Tod, wo ist dein Stachel; Hölle (Totenwclt), wo ist dein Sieg? (1. Kor. 15, 55). Der Erlöser aus der Sünde ist auch der Befreier vom Tode. Bist du, lieber Christ, durch den Glauben an den Sünderheiland der Erlösung aus der Sünde teilhaftig geworden, dann wirst du auch vom Tode befreit werden. Das zeigt sich in unserem Erdenleben nur darin, daß du von der Todesfurcht befreit bist. Aber das zukünftige Weltalter wird es offenbaren, daß der Tod, wie er unseren Heiland nicht halten konnte, so auch die Seinigen nicht halten kann. Die Lebensgemeinschaft, in welcher du mit dem stehst, der da spricht: ich bin die Auferstehung und das Leben (Joh. 11, 25), begründet deine Auferstehung zum Leben. In all dem ist nur die Rede von der Auferstehung der Gerechten. Es ist euch aber, liebe Christen, bekannt, daß der Heiland spricht: wie der Vater das Leben hat in ihm selber, also hat er auch dem Sohne gegeben, das Leben zu haben in ihm selber, und hat ihm Macht gegeben, auch das Gericht zu halten, darum daß er des Menschen Sohn ist; verwundert euch

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des nicht, denn es kommt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, werden seine Stimme hören, und werden hervorgehen, die da Gutes gethan haben zur Auferstehung des Lebens, die aber Uebels gethan haben zur Auferstehung des Gerichts (Joh. 5, 25—29). Dementsprechend bekennt die Kirche mit dem Apostel Paulus: ich habe die Hoffnung zu Gott . . ., daß zukünftig sei die Auferstehung der Toten, beide der Gerechten und der Ungerechten (Apg. 24, 15). Lehrt nicht auch unser Text eine solche allgemeine Auferstehung? Wir lesen: „und ich sah die Toten, beide, groß und klein, stehen vor Gott, . . . und das Meer gab die Toten, die darinnen waren, und der Tod und die Hölle (Totenwelt) gaben die Toten, die darinnenwaren". Also auchdieUngerechtenwerden Teil haben an der allgemeinen Auf­ erstehung. Auch sie werden eine neue Leiblichkeit erhalten. Aber erhebt sich da nicht eine unerwartete Schwierigkeit? Wenn die Auferstehung der wahren Jünger des Heilands in ihrer Gemeinschaft mit Christo begründet ist, mit Christo, dem Ueberwinder des Todes: worin ist dann die Auferstehung der Unbekehrten begründet? Ich antworte getrost: ebenfalls in dem Sieg des Heilands über den Tod. Dieser Sieg ist so voll­ ständig, daß der Sieger auch die Unbekehrten auferwecken kann. Sein Sieg hat ihm die Macht dazu eingetragen. Und er will sie auferwecken, um sie als Richter nach ihrer ganzen mensch­ lichen Natur richten und verdammen zu können, nachdem sie ihn als Erlöser verschmäht und verworfen haben. Aber freilich, ihre Auferstehung ist keine zum Leben, sondern zum Gericht und zur Verdammnis. Darum ist auch ihre Leiblichkeit keine ver­ klärte und verherrlichte, sondern, wenn auch vergeistigt, un­ sterblich und unverweslich gemacht, doch eine ihre innerliche Bosheit abschattende, von welcher das Wort Gottes sagt, daß sie zu ewiger Schmach und Schande (Dan. 12, 2), und allem Fleisch ein Greuel sei (Jes. 66, 24). Desto schöner und herrlicher wird, wie ich bereits bezeugt habe, die verklärte Leiblichkeit der Bekehrten sein, entsprechend der vollständig entwickelten und durch und durch geheiligten

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Seele, und ihr ein williges und brauchbares Werkzeug. Das Glaubensbekenntnis sagt: ich glaube eine Auferstehung des Fleisches. Dieser Ausdruck ist mißverständlich. Gottes Wort redet nur von Auferstehung der Toten. Es schildert wohl eingehend die Herrlichkeit der auferstandenen Leiblichkeit, aber cs giebt uns keinen genaueren Aufschluß darüber, wie sich die­ selbe zu unserem diesseitigen Leibe verhält. Wohl bestätigt es, daß es derselbe Leib sein werde, den wir hienieden tragen und den wir in der Auferstehung empfangen. Ja, es stellt sogar einmal einen Vergleich an mit dem Samenkorn, welches im Schoß der Erde verwest und aus dem doch die neue Pflanze emporwächst. Aber wir dürfen diesen Vergleich nicht allzu sehr pressen. Das Samenkorn verwest doch nicht ganz, sondern es birgt einen Keim, aus dem die neue Pflanze emporsproßt. Hat denn unser Körper auch einen solchen unverweslichen Keim, dem am Tag der Auferstehung ein neuer Leib entsprießen könnte? Das behaupten wohl Juden und Muhammedaner, aber das Wort Gottes lehrt das nicht. Ebensowenig bietet es einen Anhalt für die Meinung, welche einige aufstellen, daß die Nießung des Leibes und Blutes Jesu Christi im Sakrament den Auferstehungsleib allmählich bilde. Vielmehr führt es die Entstehung desselben auf eine wunderbare göttliche Allmachts­ wirkung zurück, die plötzlich erfolgen wird (1. Kor. 15, 52). Wenn es den Auferstehungsleib einen „geistlichen" nennt, so will es übrigens damit nicht sagen, daß derselbe durchaus kein stofflicher sei. Wenn es ein Leib ist, muß er auch stofflich sein. Und welches sollte sein Stoff sein, wenn nicht der, welcher der Natur der neuen Welt entnommen ist? Ist es aber dann noch der Leib, den wir als den unsrigen erkennen? Doch, denn sein Stoff ist in die Form des alten Körpers gebildet, und darum wird sich unser Geist in demselben sofort so heimisch fühlen, wie in seiner derzeitigen Leibeshülle. Mit dieser Be­ schaffenheit des Stoffes hängt es auch zusammen, daß der Auferstehungsleib alles das entbehrt, was dem jetzigen irdischen Leben dient, wie der Ernährung so der Fortpflanzung. Das eine sagt der Apostel in den Worten: die Speise dem Bauch und der Bauch der Speise; aber Gott wird diesen und jene

462 zunichte machen (1. Kor. 6,13). Und in Bezug auf das andere erklärt der Heiland in seinem Ausspruch, mit welchem er den Sadducäern das Maul stopfte: wenn sie von den Toten auf­ erstehen, so werden sie nicht freien, noch sich freien lassen, sondern sie sind wie die Engel im Himmel (Mk. 12, 25). Liebe Christen, wir könnten ja wohl über diesen Gegen­ stand noch manche Frage zur Sprache bringen, aber wir wollen nicht verkennen, daß wir hier vor einem Geheimnis stehen, das uns erst am Tag der Auferstehung selbst völlig aufgeschlossen werden wird. Wir bescheiden uns deshalb bei dem Gesagten, und sprechen angesichts unserer großen Hoffnung mit dem Apostel: ich achte es alles für Schaden . . ., auf daß ich Christum gewinne und in ihm erfunden werde . . ., zu erkennen ihn und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden, daß ich seinem Tode ähnlich werde, damit ich entgegen komme zur Auferstehung der Toten (Phil. 3, 8—11). II. Selig, wer der Auferstehung zum Leben teilhaftig wird! Er hat von dem Gericht nichts zu befürchten, das der Auferstehung auf dem Fuße folgt, von dem Weltgericht. Zwar fern bleibt er demselben nicht, denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Nichtstuhl Christi (2. Kor. 5,10). Das Weltgericht ist ein ganz allgemeines, das sich über Menschen und Engel erstreckt. Wir lesen in unserem Texte: „und ich sah die Toten, beide: groß und klein, stehen vor Gott; und Bücher wurden aufgethan, und ein ander Buch ward aufgethan, welches ist des Lebens; und die Toten wurden gerichtet nach der Schrift in den Büchern, nach ihren Werken." Wohl sagt der Heiland: wer mein Wort hört und glaubet dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben unp kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurch gedrungen (Joh. 5, 24). Aber das ist so gewiß nur vom verurteilenden und verdammenden Gericht gemeint, als das Wort Gottes anderwärts bezeugt: wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet (Joh. 3,18). Wie der Ungläubige, so wird und muß auch der Gläubige vor dem Weltrichter er-

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scheinen, um aus dessen Munde das Urteil über sein ewiges Los zu empfangen. Allerdings ist den Bekehrten in Aussicht ge­ stellt: wisset ihr nicht, daß die Heiligen die Welt richten werden? (1. Kor. 6, 2). Das klingt freilich so, als ob sie keinem Urteilsspruch im Weltgericht unterworfen wären. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß unser Heiland selbst das Weltgericht so schildert, daß er die Bekehrten und Unbekehrten von einander scheiden will, wie der Hirt die Schafe von den Böckeu scheidet, um dann diesen wie jenen das endgültige Urteil zu sprechen (Mtth. 25). Die Bekehrten können demnach nur als Beisitzer im Gericht angesehen werden, die zu den Urteilssprüchen des Richters ihr Amen sprechen. DereinzigeRichter, das wissen wir, liebe Christen, i st derjenige, der bis dahin der Erlöser der Welt ist. Von ihm sagt unser.Text: „und ich sah einen großen, weißen Stuhl, und den, der darauf saß; vor des Angesicht floh die Erde und der Himmel, und ihnen ward keine Stätte er­ funden." Er selbst versichert uns: der Vater richtet nie­ mand, sondern alles Gericht hat er dem Sohn gegeben (Joh. 5, 22). Und seine Apostel bezeugen: er hat uns geboten . . ., zu zeugen, daß er ist verordnet von Gott ein Richter der Lebendigen und der Toten (Apg. 10, 42), und: darum, daß er einen Tag gesetzt hat, auf welchen er richten will den Kreis des Erdbodens mit Gerechtigkeit durch einen Mann, in welchem er es beschlossen hat (Apg. 17, 31). Ohne Zweifel hat es seine besondere Bedeutung, wenn das Richteramt dem Heiland als dem Menschensohne beigelegt wird. Als solcher ist er das Urbild der Menschen, und hat in sich den Maßstab zu ihrer Beurteilung. Ihr fragt wohl: inwiefern eignet sich der Erlöser zum Richter? Das ist leicht begreiflich. Nachdem Gott ein­ mal den Erlösungsratschluß gefaßt und durch seinen Mensch gewordenen Sohn ausgeführt hat, will er keinen Menschen um seiner natürlichen Sündhaftigkeit willen endgültig ver­ dammen, sondern nur diejenigen, welche die angebotene Er­ lösung verschmähen und verwerfen. Darum muß der Erlöser dereinst der Richter sein.

464 Es ist euch bekannt, liebe Christen, daß einer unserer Dichter den Ausspruch gethan hat: die Weltgeschichte ist das Weltgericht. Das sprechen ihm viele nach. Wenn sie damit das zukünftige Schlußgericht aus dem Wege schieben wollen, dann sind sie im Unrecht. Sonst liegt dem Worte eine gewisse Wahrheit zu Grunde. In der Weltgeschichte vollzieht sich aller­ dings fortwährend ein Gottesgericht, nämlich über die Völker, Es bewahrheitet sich immer wieder in der Geschichte der Völker das Gotteswort: Gerechtigkeit erhöhet ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben (Spr. 14, 34). Ein Volk steht in blühender Entwicklung, solange es in Frömmigkeit und Tugendhaftigkeit verharrt. Sobald es von diesem Wege weicht, beginnt sein Verfall. Ja, auch in der Geschichte der einzelnen Menschen können wir oft deutlich die göttlichen Ge­ richte beobachten. Doch bleiben sie bei den einzelnen vielfach auch aus, und wir bemerken oft, daß es dem Gottlosen zeit­ lebens gut geht, während den Frommen ein Schicksalsschlag nach dem anderen trifft. Das irdische Leben bringt für die Einzelnen noch nicht den Ausgleich zwischen Frömmigkeit und Glück, zwischen Gottlosigkeit und Unglück. Sehet, deshalb muß ein zukünftiges Gericht stattfinden. Ja, sagt man, aber dies ergeht über jeden Menschen alsbald nach seinem Tode, wie geschrieben steht: es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben, und darnach das Gericht (Hebr. 9, 27). Gewiß, so antworte ich auf diesen Einwurf, aber dies ist, wie wir früher erörtert haben, doch erst ein vorläufiges, und es bestimmt das Loos der Seele nur für die Zeit zwischen Tod und Weltgericht. Das Welt- oder Endegericht ist dadurch nicht überflüssig ge­ worden. Es wird und muß stattfinden. Es hat eine innere Notwendigkeit, aber es ist auch durch die Aussprüche unseres Heilands und seiner Jünger verbürgt. Der Herr hat uns das­ selbe sogar in einem großen Gemälde vor Augen geführt (Mtth. 25). Laßt uns nun, liebe Christen, auf einige Züge dieses Bil­ des näher eingehen! Nicht die Völker erscheinen vor dem Stuhl des Weltrichters, sondern der einzelne Mensch ist es, welcher von diesem sein Urteil empfängt. Und wornach richtet sich dies

465 Urteil? Das Wort Gottes sagt uns: nach dem er gehandelt hat bei Lebes Leben, es seit gut oder böse (2. Kor. 5, 10). Merket wohl: nicht mehr bloß das innerliche Verhalten zu dem Erlöser bringt im Weltgericht die. Entscheidung, wie in dem Einzelgericht, das über jede Seele bei ihrem Eingang in die jenseitige Welt ergeht. Der ganze religiös-sittliche Zu st and des Menschen ist es, der im Schlußgericht in die Wagschale fällt. Das ist es, was gemeint ist, wenn Gottes Wort erklärt, daß die Menschen gerichtet werden sollen nach ihren Werken, wenn der Heiland sagt: alsdann wird des Menschen Sohn einem jeglichen vergelten nach seinen Werken (Mtth. 16, 27), und wenn sein Apostel dies be­ stätigt: welcher geben wird einem jeglichen nach seinen Werken (Röm. 2, 6). Wisset ihr, worin dies richterliche Verfahren seinen Grund hat? Darin, daß bis zum Tag des Weltgerichts, den das Wort Gottes als den Tag der Ernte bezeichnet, es im religiös-sittlichen Leben der Menschen zu einer Ausreifung, zu einem endlichen Abschluß gekommen ist. Die Bekehrten sind dann zum Ziel der sittlichen Vollkommenheit gelangt, und die Unbekehrten haben sich in Unbußfertigkeit verstockt. Jetzt ver­ stehen wir auch, warum bei diesem Gerichte von einem Lohne geredet wird. Der Richter selbst erklärt vom Himmel herab: siehe, ich komme bald, und mein Lohn mit mir, zu geben einem jeglichen, wie seine Werke wert sein werden (Offb. 22,12). Wo und wann nach Werken gerichtet wird, da tritt Lohn ein, sei er nun gut oder schlimm. Nun wiffen aber wir, als be­ kehrte Christen, sehr Wohl, daß das, was wir an guten Werken vollbringen, nicht aus unserer eigenen sittlichen Kraft geschieht, also nicht unser Verdienst ist, sondern daß es der gnädige Gott in uns wirkt durch die Kraft des Heil. Geistes. Darum werden dereinst die mit dem Lohne der Seligkeit beschenkten Heiligen Gott die Ehre geben und sprechen: was aus uns geworden ist, das hat Gottes Gnade in uns gewirkt, und so ist das, was wir als Lohn empfingen, Gnadenlohn. Und denjenigen, ivelche den Lohn der Verdammnis empfangen, wird es ihr Ge-wissen bezeugen: wir haben ihn verdient, es ist selbstverschul­ deter Lohn. Schnabel, Predigten.

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Aber sehen wir uns doch, liebe Christen, den Gerichtslohn noch etwas näher an! Die Heiligen, die den Gnadenlohn den Seligkeit erhalten, sind sich wohl in der vollendeten Heiligkeit, zu der es schließlich bei ihnen gekommen ist, gleich. Aber sie haben im Erdenleben doch eine sehr verschiedene Wirksamkeit entfaltet. Der eine hat mehr für das Reich Gottes und zum Wohl seiner Mitmenschen gearbeitet und gelitten, als den andere. Ihr wisset, daß der Apostel Paulus von sich rühmte: ich, habe viel mehr gearbeitet, als sie alle (1. Kor. 16, 10; 2. Kor. 11, 23). Ebenso hat auch von den Unbekehrten, die es bis zur Verstockung gebracht haben, einer mehr Böses ver­ übt, als der andere. Wird der Lohn hier wie dort gleich sein? Gewiß nicht. Das Wort Gottes weist uns darauf hin, daß der Gerichtslohn einesteils allerdings gleich, aber andernteils doch verschieden ist. Im Gleichnis von den Arbeitern im Wein­ berg erscheint er gleichartig. Dagegen in dem von den Zentnern tritt er als ein stufenartiger auf. So macht auch der Heiland einen Unterschied in Bezug auf das Schicksal, das auf der einen Seite die lasterhaften Städte Tyrus und Sidon, und auf der anderen Seite die unbußfertigen Orte Chorazin und Bethsaida treffen wird (Mtth. 11, 20 ff.). Was schließen wir aus all dem? Ich antworte, daß wohl wie für die Frommen die Seligkeit, so für die Gottlosen die Ver­ dammnis das gleiche Los sein, daß es aber ver­ schiedene Grade wie der Herrlichkeit der Seligen, so der Pein der Verdammten geben wird. Doch sagt uns das Wort über diese Stufen der Himmels­ herrlichkeit und Hollenqual nichts näheres. Aus dem Bilde, das unser Heiland von dem Gerichts­ vorgang des jüngsten Tages entwirft, ersehen wir, liebe Christen, daß derselbe die endgültige Scheidung herbeiführt. Da ist denn besonders beachtenswert das Urteil, das den zur Rechten, wie den zur Linken des Richters Gestellten von diesem gefällt wird. Er ruft die Gerechten herzu mit den ge­ wichtigen Worten: kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters und ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! (Mtth. 25, 34). Wie lichtvoll und lieblich kommt hier

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zum Vorschein, welches das Ziel des ganzen göttlichen Rat­ schlusses und das Ziel aller Wege Gottes ist: die Herstellung des vollendeten Gottesreiches durch den Erlöser mit seinen Erlösten! Zu diesem herrlichen, großen Ziel führt und an demselben schließt die Geschichte des Reiches Gottes, die wir in diesen' Predigten betrachtet und kennen gelernt haben. Welch eine entzückende Aussicht eröffnet sich uns damit, wenn wir den Weg der Bekehrung und Heiligung gehen! — Vergleicht damit den Urteilsspruch des Weltrichters an die Unbekehrten: gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! (Mtth. 25, 41). Welch ein entsetzlicher Zuruf: ihr Verfluchten! gegenüber dem vorhergehenden: ihr Gesegneten meines Vaters! Und welch schreckliches Schicksal ereilt die Unbußfertigen! Vor ihnen öffnet die eigentliche Hölle, die nun erst zum Vorschein kommt, ihren Schlund. Höret doch: sie ist für Satan und die von ihm ver­ führten und in sein Schicksal verflochtenen Engel bereitet, und jetzt wird sie auch der Aufenthalt der unbekehrten Menschen. Fern von der Gemeinschaft des Heilands und seiner Erlösten, und in ewiger Gemeinschaft mit den Geistern, welche das Reich der Finsternis gebildet haben: welch ein Los der verdammten Menschen! Zweierlei ersehen wir noch aus diesem Urteilsspruch, liebe Christen. Zuerst, wie allgemein das Weltgericht ist. Es er­ streckt sich auch auf die unsichtbare Welt und ihre Bewohner. Es zieht auch das Reich der Finsternis in seinen Kreis. Und die heiligen Engel, die der Verführung Satans widerstanden haben und Gott treu geblieben sind, sie sind es, welche dem Richter wie einerseits als Sammler der Erlösten, so anderseits als Vorstrecker seiner Urteile dienen. Von ihnen sagt er selbst: so wird es am Ende der Welt gehen, die Engel werden ausgehen, und die Bösen von den Gerechten scheiden, und werden sie in den Feuerofen werfen (Mtth. 13, 49—50). Und ihnen müssen wir auch das zuschreiben, was unser Text von dem Vollzug der Urteile des Weltrichters sagt in den Worten: „und derTod und dieHölle (Toten­ welt) wurden geworfen in den feurigen Pfuhl; 30*

468 dasistderandereTod;undsojemandnichtward erfunden geschrieben in dem Buch des Lebens, der ward geworfen in den feurigen Pfuhl." Ist aber das Geschick der unbekehrten Menschen mit dem der Finsternisengel und ihres Obersten verknüpft, dann gilt von der Dauer ihrer Verdammnis auch das, was unser Text aussagt von derjenigen jener. Da lesen wir: „und werden gequält werden Tag und Nacht von Ewigkeit zuEwigkeit." Das ist das andere, welches wir dem Urteils­ spruch des Richters entnehmen. Es ist die Ewigkeit der Höllen st rasen, welche hier ausgesprochen wird. Die Hölle, der Feuer- und Schwefelpfuhl, tritt am Tage des jüngsten Gerichts erst in volle Wirklichkeit. Sie ist der andere Tod. Mit dieser Bezeichnung ist aufs deutlichste angegeben, worin die Hölle besteht. Unter Tod versteht das Wort Gottes durch­ weg das Geschiedensein von Gott. Wie die Gemeinschaft mit Gott das Leben, das ewige Leben, die Seligkeit ist, so ist die Trennung von Gott, der Ausschluß von seiner Liebe und Gnade, der Tod, die Unseligkeit. Nun hast du ja, lieber Christ, wenn du durch die Bekehrung Aufnahme in die Gotteskindschaft oder Gottesgemeinschaft gefunden hast, eine innere Erfahrung von dem, was ewiges Leben und Seligkeit ist. Es ist Friede, Aus­ söhnung mit Gott, und volle Befriedigung des Herzens. Daraus kannst du auch schließen auf das, was die Unseligkeit und Verdammnis ist. Es ist feindselige Stimmung gegen Gott und inneres Zerwürfnis. Im Erdenleben ist der un­ bekehrte Mensch entweder so verblendet über seinen Seelen­ zustand und so abgestumpft in seinem Gewissen, daß er sein inneres Elend gar nicht oder wenigstens nicht in vollem Maße empfindet. Oder er kann sich für das innere Glück, das er entbehrt, zu entschädigen suchen durch Hingabe in den Dienst des Fleisches und der Welt. Das fällt in der Hölle weg. Wahrlich, da braucht es keiner besondern Qual, sei es von feiten Gottes oder des Teufels, um den Verdammten so maßlos nnglücklich zu machen, daß wir begreifen, wenn sein Elend bezeichnet wird als „die ewige Pein" (Mtth. 25, 46), als „die nußerste Finsternis mit Heulen und Zähneklappen" (Mtth.

469 8, 12), als „das ewige Verderben von dem Angesicht des Herrn" (1. Thess. 1, 9), als „die Verdammnis" (Phil. 3, 19), als „das ewige Feuer" (Mtth. 25, 41). Daß dieses Elend vor allem S e e l e n q u a l ist, begreifen wir. Sie besteht einerseits in dem Bewußtsein des Verlorenseins, und anderseits in einem ebenso glühenden, als ohnmächtigen Gotteshaß, der an die Stelle der beseligenden Gottesliebe getreten ist. Da aber die Verdammten in der allgemeinen Auferstehung ihre Leib­ lichkeit wieder empfangen haben, so ist ihre Höllenpein ohne Zweifel auch leiblich. Was aber die Höllenpein auf den höchsten Gipfel erhebt, das ist das, daß sie unaufhörlich, ewig ist. Was von dem Leben der Seligen gilt, daß es ein „ewiges" ist, das gilt auch von dem Zustand der Verdammnis, denn es ist ein und dasselbe Wort, mit welchem das Wort Gottes diesen und jenes hinsichtlich ihrer Dauer bezeichnet. Von dem Zustand der Verdammten bezeugt unser Heiland selbst wiederholt, daß ihr Wurm nicht stirbt und ihr Feuer nicht verlöscht (Mk. 9, 44). Darum, liebe Christen, ist für uns unannehmbar die Meinung derjenigen, welche behaupten, die Verdammnis sei ein lang­ sames Sterben, die Verdammten würden durch ihre Pein all­ mählich aufgerieben, denn es sei gesagt: die Spreu wird er verbrennen mit ewigem Feuer (Mtth. 3, 12), und: der Feuereifer wird die Widerwärtigen verzehren (Hebr. 10, 27). Es ist auch nichts mit der Ansicht derjenigen, welche annehmen, die Verdammten würden sich doch noch bekehren, und dadurch aus der Hölle in das Himmelreich gerettet werden, denn eine ewige Verdammnis streite wie gegen die Liebe Gottes, welche will, daß allen geholfen werde, so auch gegen die Kraft der Erlösung Jesu Christi, von der geschrieben stehe, daß wie durch die Sünde des ersten Adam die Verdammnis über alle Menschen gekommen sei, so auch durch die Gerechtigkeit des zweiten Adam die Rechtfertigung des Lebens über alle Men­ schen kommen solle. So sehr auch der Gedanke einer „Wieder­ bringung aller Dinge" bdm menschlichen Gefühl zusagen mag, und so gern wir auch diesen Gedanken in unser christliches Be­ wußtsein aufnehmen möchten, er hat keinen Untergrund in

470 Gottes Wort. Wir müssen ihn deshalb ablehnen. Darin soll uns auch der Einwurf nicht irre machen, daß es unsere Seligkeit stören würde, wenn uns in dieselbe das Bewußtsein begleite, daß manche oder viele in der Hölle schmachten. Unser Wille ist mit dem Willen Gottes vollständig geeinigt. Alles, was Gott bestimmt, ordnet und thut, ist uns recht und findet unsere unbedingte Zustimmung. Wir begreifen es auch vollkommen, daß alle, die der suchenden Gnade Gottes endgültig wider­ streben, auch endgültig vom Heil ausgeschlossen sind. Freuen aber wollen wir, die wir das Heil in Christo ergriffen haben, uns recht von Herzen auf das, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben, und allen Ernst und Eifer daran wenden, so viele unserer Mitmenschen zum Heiland zu führen und zu Mit­ erben unserer Seligkeit zu machen, als uns möglich ist! Amen.

35. Tert: Offb. 21,1—5. „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde verging und das Meer ist nicht mehr. Und ich, Johannes, sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabfahren, bereitet als eine geschmückte Braut ihrem Manne. Und hörte eine große Stimme von dem Stuhl, die sprach: siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen; und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott, mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Thränen von ihren Augen; und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Stuhle saß, sprach:

siehe, ich mache alles neu." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Wir sind in unseren Betrachtungen über die Geschichte des Reiches Gottes zur Schlußpredigt gekommen. Wir müssen noch das Ende, den

470 Gottes Wort. Wir müssen ihn deshalb ablehnen. Darin soll uns auch der Einwurf nicht irre machen, daß es unsere Seligkeit stören würde, wenn uns in dieselbe das Bewußtsein begleite, daß manche oder viele in der Hölle schmachten. Unser Wille ist mit dem Willen Gottes vollständig geeinigt. Alles, was Gott bestimmt, ordnet und thut, ist uns recht und findet unsere unbedingte Zustimmung. Wir begreifen es auch vollkommen, daß alle, die der suchenden Gnade Gottes endgültig wider­ streben, auch endgültig vom Heil ausgeschlossen sind. Freuen aber wollen wir, die wir das Heil in Christo ergriffen haben, uns recht von Herzen auf das, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben, und allen Ernst und Eifer daran wenden, so viele unserer Mitmenschen zum Heiland zu führen und zu Mit­ erben unserer Seligkeit zu machen, als uns möglich ist! Amen.

35. Tert: Offb. 21,1—5. „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde verging und das Meer ist nicht mehr. Und ich, Johannes, sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabfahren, bereitet als eine geschmückte Braut ihrem Manne. Und hörte eine große Stimme von dem Stuhl, die sprach: siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen; und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott, mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Thränen von ihren Augen; und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Stuhle saß, sprach:

siehe, ich mache alles neu." In dem Herrn geliebte Christengemeinde! Wir sind in unseren Betrachtungen über die Geschichte des Reiches Gottes zur Schlußpredigt gekommen. Wir müssen noch das Ende, den

471 Ausgang dieser Geschichte kennen lernen. Denn die Ge­ schichte des Reiches Gottes hat ein Ende, einen Schluß. Der göttliche Heilsratschluß wird zur vollständigen Ausführung gelangen. Die Wege Gottes mit der von ihm geschaffenen Welt haben ein Ziel, und dieses Ziel wird erreicht werden. Das sage ich gegenüber der weit verbretteten Meinung, es werde die Geschichte der Menschheit in der seitherigen Weise in die Unendlichkeit weiter gehen. Nein, es strebt alles in der Welt einem Ziele zu, das ihr von Gott, dem Schöpfer der Welt und Lenker ihrer Geschicke gesteckt ist. Und zwar werden sich die Geschicke der Welt auf der Erde, dem Wohnplatz des Menschengeschlechts, vollenden. Vielen, wenn sie unsere Erde mit dem Weltall und seinen un­ zählbaren Weltkörpern vergleichen, erscheint dieselbe viel zu unbedeutend zu diesem Zweck. Aber wir wissen ja nichts über die Bestimmung dieser ungezählten Weltkörper und über den Zweck ihres Daseins. Deshalb blicken wir in die göttliche Offenbarung, die uns in der Heiligen Schrift vorliegt, und da begegnen wir der Anschauung, daß die Erde mit der auf ihr wohnenden Menschheit der Mittelpunkt derjenigen Geschichte ist, mit der wir uns beschäftigen. Sie ist der Mittelpunkt der Geschichte des Reiches Gottes. Das Reich Gottes ist, wie wir erkannt haben, ein Erlösungsreich für uns Menschen. Nachdem das ersterschaffene Menschenpaar in die Sünde geraten war, handelte es sich für sie und ihre Nachkommenschaft um die Erlösung aus der Sünde. Der erste Sündenfall zog das ge­ samte nachfolgende Menschengeschlecht in den Sündendienst. Die Sünde war aber von außen her in die Menschenwelt ein­ gedrungen, durch Verführung von feiten des Fürsten der Finsternis. Dadurch war dieser der Herr über die sündige Menschheit geworden. Deshalb handelte es sich bei der Er­ lösung darum, daß die Menschen aus der Gewalt und dem bösen Einfluß Satans befreit würdm. Und diese Befreiung konnte nur dadurch erlangt werden, daß der Verführer, der Menschenmörder von Anfang, besiegt wurde. Zu dem Ende mußte der Erlöser einen Kampf mit ihm bestehen und diesen Kampf zur Ueberwindung des Feindes durchführen. Und in

472 der That, Satan wurde auf rechtmäßigem Wege überwunden, ebenso wie der Strafgerechtigkcit Gottes in rechtmäßiger Weise genuggethan und dadurch die Versöhnung Gottes bewerkstelligt wurde. Diesen Weg und diese Weise haben wir kennen gelernt. Da nun der Fürst der Finsternis mit seinem Reiche der über­ irdischen Welt angehört, so erstreckt sich die Geschichte des Reiches Gottes über diese unsere Erde hinaus in die außerirdische Welt hinein. Das haben wir allerdings nicht so zu verstehen, als ob das Reich Gottes schließlich alles umfassen werde, die ge­ samte in die Sünde verflochtene Engel- und Menschenwelt, als ob alle gefallene Wesen schließlich der Erlösung teilhaftig werden würden. Nein, wir haben vielmehr erkannt, daß die Voll­ endung des Erlösungswerkes und die Herstellung des voll­ endeten Himmelreichs nicht anders zu stände kommt, als durch göttliches Gericht und Scheidung der Erlösten und Nichterlösten. Es bleibt uns nun noch übrig zu erforschen und zu besprechen, erstlich wie es mit der Aufhebung und Beseitigung der schlimmen Folgen gehen werde, welche die Sünde über die Schöpfung Gottes hereingezogen hat, und sodann, welches die Gestalt des vollendeten Gottesreiches und der Zustand der Erlösten in dem­ selben sein werde. Ich will mir dabei nicht anmaßen, zu ent­ scheiden, wie die einzelnen Vorgänge, welche die schließliche Vollendung herbeiführen, auf einander folgen werden, die Auferstehung, das Weltgericht, die Welterneuerung. Mag es doch wohl sein, daß sie in der Zeit ziemlich zusammenfallen. Wir übergehen darum die Untersuchung dieser Frage, und kommen sofort zur Sache selbst. Laßt uns also in dieser Predigt reden über: Die Vollendung des Reiches Sottes, und zwar: die Allvollendnng,

welche ferner zu stände kommt durch:

1. die Welterneuerung, und 2. die Herabkunft des Neuen Jerusalem.

I. Gewiß hat euch, liebe Christen, schon viel zu denken gemacht die geheimnisvolle Eröffnung, welche der Apostel über die seufzende Kreatur und ihre Erlösung macht.

473 Er erörtert: die außer dem Menschen vorhandene vernunftlose Schöpfung befindet sich in einem ihrer von Gott gesetzten Be­ stimmung nicht entsprechenden Zustand. Es ist ein Zustand der Eitelkeit, ein Dienst der Vergänglichkeit, in welchem die Natur in ihrer freien, friedlichen Entwicklung vielfach gehemmt und gestört, und in einen feindlichen Gegensatz zu dem Menschengeschlecht geraten ist. In diesen ihr nicht ursprünglich zugewiesenen Zustand ist sie ohne ihren eigenen Willen, un­ verschuldet von dem Schöpfer versetzt worden. Gott hat sie diesem Zustand unterworfen. Und aus welchem Grunde? Das ist nicht mit bestimmten Worten ausgesprochen, wir können es aber aus dem, was über ihr Seufzen gesagt ist, deutlich erschließen. Um die Gott ungehorsam gewordenen Menschen durch die sie umgebende Natur zu strafen. Dieser Grund ist auch daraus zu ersehen, daß Gott gleich nach dem Sündenfall im Paradiese die Erde mit seinem Fluche belegte. Und wenn die unter dem göttlichen Fluche seufzende Kreatur auf die Frei­ heit der Kinder Gottes wartet, also auf die vollständige Er­ lösung der Menschen, mit welcher ihre Befreiung von diesem Fluche eintreten soll, dann geht daraus doch ohne Widersprechen hervor, daß sie den traurigen Zustand, in dem sie sich befindet, der Sünde der Menschen verdankt. Der Mensch war vom Schöpfer der vernunftlosen Schöpfung zum Herrn gesetzt worden. Sein Abfall von Gott zog sie in die schlimmen Folgen dieses Falles hinein. Während seines Erdenlebens erfährt nun der Mensch, daß ihm nicht allein die ursprüngliche Herrschaft über die Natur genommen ist, daß er dieselbe nur noch mühsam und teilweise behaupten kann, sondern auch, daß die ihm ur­ sprünglich willig unterthänige vernunftlose Schöpfung jetzt sich gegen ihn auflehnt und in Kampf mit ihm tritt. Dornen und Disteln soll dir der Acker tragen, so lautet der Gottesfluch; und der Dichter sagt: die Elemente hassen das Gebild der Menschenhand. Das ist der unnatürliche Fluchzustand, in welchem die Kreatur seufzt, sich ängstet und sich sehnet. Der Apostel redet so von ihr, als ob sie mit Geist und Selbstbewußt­ sein begabt wäre. Er will damit die Unangemessenheit dieses Zustands recht stark hervorheben. Darum schreibt er: die

474 Kreatur sehnet sich gleich wie wir, die wir des Geistes Erstlinge, nämlich die Ausgießung und Spendung des Heil. Geistes zuerst empfangen haben. Wie nun unsere vollständige Erlösung mit unserer verklärenden Auferstehung eintreten wird, so wird auch das Seufzen der vernunftlosen Kreatur alsdann gestillt und der Gottesfluch von ihr genommen werden (Röm. 8, 19—23). Jetzt fragen wir: wie wird das geschehen? Darauf lautet die Antwort: durch die Erneuerung der Welt. Unser Text drückt dieses zukünftige Ereignis aus in den Worten: „und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde, denn der erste Himmel und die erste Erde verging und das Meer ist nicht mehr." Was werden soll, erblickt der Seher als bereits vollendet vor sich. Er hat das Gewordensein der neuen Welt vor Augen. Mitten hinein in das Werden derselben versetzt uns dagegen das Wort des Apostels Petrus: also auch der Himmel, der jetzund ist, und die Erde werden durch sein Wort gespart, daß sie zum Feuer behalten werden auf den Tag des Gerichts . .; es wird aber des Herrn Tag kommen als ein Dieb in der Nacht, in welchem die Himmel zergehen werden mit großem Krachen; die Ele­ mente aber werden vor Hitze schmelzen, und die Erde und die Werke, die darauf sind, werden verbrennen; . . in welchem die Himmel vom Feuer zergehen und die Elemente vor Hitze zerschmelzen werden; wir warten aber eines neuen Himmels und einer neuen Erde, nach seiner Verheißung, in welchen Ge­ rechtigkeit wohnet (2. Petr. 3, 7—13). Nicht allein aber das Wort Gottes im Neuen Testament weiß von diesem Zukunfts­ vorgang, sondern auch schon die Weissagung des Alten Bundes redet von demselben. Der Prophet Jesaia verkündet: siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, daß man der vorigen nicht mehr gedenken wird, noch zu Herzen nehmen, sondern sie werden sich ewiglich freuen und fröhlich sein über dem, das ich schaffe (Jes. 65, 17—18). Es ist ein ungeheuerer Weltbrand, den die Weissagung uns vor Augen stellt, und unvermeidlich ist es, daß die Vorstellung des­ selben unsere Gemüter mit Schrecken erfüllt. Aber an der Möglichkeit dieses Ereignisses zu zweifeln, haben wir keinen

475 Grund, wenn wir bedenken, welche Feuermassen sowohl das Innere unseres Erdballs, als auch der uns umgebende Welten­ raum birgt. Wenn wir nun diese Beschreibung der bevorstehenden Welterneuerung Vernehmen, lautet sie nicht, liebe Christen, als ob bei diesem Vorgang die jetzige Welt, Himmel und Erde, ganz vernichtet würden, und daß darauf eine völlige Neu­ schöpfung, die Schöpfung einer ganz neuen Welt erfolgen werde? Manche Schriftausleger denken sich das auch wirklich so. Aber dem widerspricht doch gar manches andere, was uns Gottes Wort darbietet. Zwar redet dasselbe allerdings von einer Neuschöpfung, durch welche die neue Welt ins Dasein gerufen werden solle, denn es heißt in unserem Texte: „der auf dem Stuhle saß, sprach: siehe, ich mache alles neu!" Aber der Heiland nennt doch die Welterneue­ rung eine Wiedergeburt, wenn er seinen Jüngern auf die Frage, was ihnen dafür werde, daß sie alles verlassen hätten und ihm nachgefolgt wären, antwortet: wahrlich, ich sage euch, daß ihr, die ihr mir seid nachgefolgt, in der Wieder­ geburt, da des Menschen Sohn wird sitzen auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit, werdet ihr auch sitzen und richten die zwölf Geschlechter Israels (Mtth. 19, 28). Das ist höchst bezeichnend und wirft das rechte Licht auf den Vorgang, von dem wir reden. Er wird nicht in der völligen Vernichtung der alten und in der Schöpfung einer ganz neuen Welt bestehen, sondern in der Umwandlung der alten Welt in eine neue, und diese Umwandlung wird zugleich eine Verklärung des Stoffes sein, aus welchem sie besteht. So ist ja auch unsere innere Wiedergeburt nicht eine Vernichtung unserer an­ geborenen Natur, sondern eine Umwandlung unseres von Ge­ burt an auf das Böse gerichteten Willens in einen Willen, der auf das gerichtet ist, was mit Gottes heiligem Willen übereinstimmt, eine innere religiös-sittliche Erneuerung. Aber sehet, liebe Christen, gerade wie diese innere Wiedergeburt auf einer schöpferischen Wirkung Gottes durch den Heil. Geist be­ ruht, so kommt auch die dereinstige Wiedergeburt der Welt nicht

476 anders zu stände, als durch eine schöpferische That des all­ mächtigen Gottes. Daß wir eine Weltumwandlung, und nicht eine Welt­ vernichtung anzunehmen haben, darauf weist auch das Seufzen der Kreatur hin, von dem wir vorhin geredet haben. Die Kreatur will frei werden von dem Dienst des vergänglichen Wesens, in dem sie derzeit steht, frei werden von dem auf ihr liegenden Gottesfluche, und das kann doch nur durch eine Um­ wandlung des jetzigen Weltbestands geschehen. Eine Vernich­ tung der alten Welt und die Schöpfung einer neuen Welt wäre ja keine Erlösung der jetzt seufzenden Kreatur. So ist also nicht ein eigentlicher Weltuntergang zu erwarten, wie die Menschen vielfach wähnen. Die Welt als Gottesschöpfung wird nicht untergehen, sondern bei der Allvollendung in einer ver­ herrlichten Gestalt hervortreten. Ihr werdet mir freilich ent­ gegenhalten: aber in Gottes Wort ist doch oft von dem Ende der Welt die Rede, wie in dem Abschiedstrost des Heilands an seine Jünger: siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende! Ich erwidere euch: da ist nicht das von Gott er­ schaffene Weltall gemeint, sondern, wie ich schon früher an­ gegeben habe, das gegenwärtige Weltalter, das bis zur Voll­ endung des Reiches Gottes währt. Wenn diese eintritt, nimmt es ein Ende, und das zukünftige Weltalter tritt an seine Stelle. Hier tritt uns noch eine andere wichtige Frage entgegen. Es handelt sich nämlich darum, wie weit sich die zu­ künftige Umwandlung der Welt er st reckt, ob nur auf unseren Wohnort, die Erde, oder auf den ganzen Sternen­ kreis, zu dem sie gehört, oder gar auf das gesamte Weltall. Ich glaube, liebe Christen, daß diese Frage sich nicht wird beantworten lassen, denn die göttliche Offenbarung läßt uns bei derselben im Stich. Wohl versteht das Wort Gottes, wenn es Himmel und Erde zusammen nennt, darunter das ganze von Gott ins Dasein gerufene All. Das ersehen wir schon aus dem ersten Satz der Heil. Schrift: im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Wenn nun Gottes Wort die Herstellung eines neuen Himmels und einer neuen Erde weissagt, wie sollen wir das anders verstehen, als daß sich die Welterneuerung

477 auf das ganze All, auf den sichtbaren und unsichtbaren Teil desselben ausdehnen soll? Durch den Fall eines Teils der Engel ist in der Himmelswelt eine so ungeheuere Störung eingetreten, daß sich ein dem Reiche Gottes feindlich gegenüber stehendes Reich der Finsternis gebildet hat. Da will sich uns die Annahme aufdrängen, auch die Himmelswelt bedürfe einer Läuterung und Reinigung von dieser Störung, einer Wieder­ geburt und Umwandlung, gleichwie unsere Erde. Doch möchte ich keine abschließende Behauptung aufstellen über die Aus­ dehnung, welche die geweissagte Welterneuerung haben wird. Lassen wir uns daran genügen, zu wissen, daß eine Erlösung der seufzenden Kreatur, daß nicht nur eine Wiederherstellung der durch die eingedrungene Sünde mit Uebeln und Mißständen erfüllten Welt zu ihrer ursprünglichen, vom Schöpfer selbst als „sehr gut" bezeichneten Gestalt, sondern sogar eine Verklärung und Verherrlichung derselben in eine Gestalt, welche sie zur Wohnstätte für die verklärten und verherrlichten Erlösten ge­ eignet macht, erfolgen soll. Wo dann in dieser Herrlichkeitswclt die Hölle, der Feuer- und Schwefelpfuhl seinen Platz haben wird? Darüber haben wir nur eine einzige Andeutung im Worte Gottes, und die lautet: draußen sind die Hunde und die Zauberer und die Hurer und die Totschläger und die Abgöttischen und alle, die lieb haben und thun die Lüge (Offb. 22, 15). Hört ihr: draußen, also nicht inner­ halb der erneuerten Herrlichkeitswelt. Daß unter diesem „Draußen" wirklich die eigentliche und richtige Hölle gemeint ist, das ersehen wir aber aus einem anderen Ausspruch des göttlichen Wortes, der da lautet: der Verzagten und Un­ gläubigen und Greulichen und Totschläger und Hurer und Zauberer und Abgöttischen und aller Lügner, deren Teil wird sein in dem Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt, das ist der andere Tod (Offb. 21, 8). Diese Hölle hat keinen Platz innerhalb der neuen Gotteswelt. Ihr Platz ist draußen. Das ist alles, was wir erfahren. Und das muß uns genügen, liebe Christen, und kann es auch, wenn wir nur die Gewißheit in uns tragen dürfen, daß wir dereinst nicht „draußen" sein.

478 sondern unsere Stätte innerhalb der verklärten Gotteswelt haben werden. Daß diese Gewißheit uns durch das Erden­ leben begleite, das laßt uns im Glauben an den Erlöser an­ streben. II. Bürger im „Neuen Jerusalem" zu sein, das sei unser letztes und höchstes Ziel. Das NeueJerusalem ist auch das Ziel alles göttlichen Thuns, denn das Neue Jerusalem ist das vollendete Gottes­ oder Himmelreich. Die endliche Herstellung des Neuen Jerusalem hat Gott von Ewigkeit her durch die ganze Dauer der gegenwärtigen Weltzeit vor Augen geschwebt. Und alle Veranstaltungen, die er getroffen hat, um seinen Heilsratschluß zur Ausführung zu bringen, die Stiftung des Alten Bundes mit seinem Gesetz und seinem Opferwesen, die Stiftung des Neuen Bundes durch das Sühn- und Versöhnungsopfer des Mensch gewordenen Gottessohnes am Kreuz mit seinem Evan­ gelium, die vorläufige Aufrichtung des Reiches Gottes unter dem sündhaft gewordenen Menschengeschlecht in dem Gottes­ staat des Alten Bundes, die endgültige Gründung und Auf­ richtung des Reiches Gottes in der Gemeinde Jesu Christi, in der Kirche des Neuen Bundes, das alles ist nur eine Anbahnung der schließlichen Herabkunft des Neuen Jerusalem und dessen bleibender Niederlassung auf der verklärten Erde. Wie haben die letzten Vorgänge kennen gelernt, liebe Christen, welche die Allvollendung herbeiführen. Sie sind von so überschwänglicher und unvergleichlicher Großartigkeit, und zum Teil auch Furchtbarkeit, daß wir schwachen Menschenkinder uns keine Vorstellung davon machen können. Der letzte dieser Vorgänge aber, die Herabkunft des Neuen Jerusalem, ist von allen unstreitig der herrlichste, aber auch der lieblichste und erfreulichste. Was ist das Neue Jerusalem? Das möge uns unsere Textweissagung sagen. Sie lautet: „und ich, Jo­ hannes, sah die heilige Stadt, das Neue Jeru­ salem, von Gott aus dem Himmel herabfahren, bereitet als eine geschmückte Braut ihrem Manne; und hörte eine große Stimme von dem Stuhl, die sprach: siehe da, die Hütte Gottes



479



bei den Menschen; und er wird bei ihnen woh­ nen, und sie werden sein Volk sein; und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Thränen von ihren Augen; und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch S,chmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen." Laßt uns, liebe Christen, auf die einzelnen Züge dieser Beschreibung näher eingehen. Wir wollen dies thun, indem wir das wundervolle Gemälde, welches das Buch der Offen­ barung im Anschluß an unseren Text in einer unvergleichlich schönen Bildersprache vom Neuen Jerusalem entwirft, zur näheren Beleuchtung herbeiziehen. Das Neue Jerusalem wird uns als eine Stadt vor­ gestellt. Es ist begreiflich, wenn'die ewige Bleibstätte der Er­ lösten, der Schauplatz des zur Vollendung gelangten Reiches Gottes als eine Stadt bezeichnet wird, denn Jerusalem war eine Stadt, und es war stets, von der Zeit an, da König David es zu seiner Residenz machte, und König Salomo dem Herrn Je­ hova daselbst einen Tempel erbaute, • der Mittelpunkt des Reiches Gottes, das im Gottesstaat des Alten Bundes zur Erscheinung kam. Daher kam es, daß von den Propheten des Alten Bundes häufig mit Jerusalem oder Zion geradezu das Gottesreich des Alten Bundes benannt wird. Diese Be­ nennung pflanzte sich dann im Neuen Bunde fort und eS wurde mit derselben das bezeichnet, was nunmehr an die Stelle des leiblichen Israel und des alttestamentlichen Gottesstaates getreten war, die Christenheit und die Kirche Jesu Christi, in welcher im Neuen Bunde das Himmelreich zur Erscheinung gekommen ist. Die Christenheit und die Kirche heißen jetzt Jerusalem und Zion. Sie sind das Zion, von welchem das Lied sagt: Zion hört die Wächter singen, das Herz thut ihr vor Freuden springen, sie wachet und steht eilend auf. Aber über diesem irdischen Jerusalem oder Zion ist noch ein himm­ lisches vorhanden. Das ist die obere Gemeinde des Heilands, die aus den Seelen der im Glauben an den Erlöser aus dem Erdenleben Geschiedenen und in das himmlische Vaterhaus Ein-

480 gegangenen besteht. Das ist das Zion und Jerusalem, von dem uns Gottes Wort versichert: ihr seid gekommen zu dem Berge Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, zu dem himmlischen Jerusalem (Hebr. 12, 22), und von dem wir singen: Jerusalem, du hochgebaute Stadt, wollt' Gott, ich wär' in dir! Von ihm rühmt auch ein anderes Lied: o Jerusalem, du schöne, ach, wie helle glänzest dul Ja, es glänzt gewiß jetzt schon hell und schön, aber wie sehr wird doch sein Glanz erhöht werden, wenn bei der Wiederkunft des Herrn die Voll­ endung seiner Jerusalems- und Zionsbürger erfolgt. Und sehet, dieses Jerusalem wird dann, am Schlüsse der gegen­ wärtigen Weltzeit als das „Neue Jerusalem" vom Himmel sich niederlassen auf die verklärte Erde, um das Volk der vollendeten Erlösten als seine Bewohner aufzunehmen, damit hier die Hoch­ zeit des Lammes mit seiner Brautgemeinde in alle Ewigkeit gefeiert werde. Nach diesem Neuen Jerusalem der Vollendung sollen unsere Blicke gerichtet sein, wenn wir beten: wie herrlich ist die neue Well, die Gott dem Volke vorbehält, das er gesetzt zum Erben; o Jesu, Herr der Herrlichkeit, du hältst die Stadt auch mir bereit, hilf sie mir auch erwerben! Man fragt, ob in diesem Neuen Jerusalem alle Erlösten Jesu Christi wohnen werden, oder nur die besonders Aus­ erwählten, die etwa, welche Teil haben an der ersten Auf­ erstehung, Verwandlung, Entrückung und Heimholung, während die anderen den übrigen Teil der verklärten Erde außerhalb der heiligen Stadt einnehmen würden. Ich hatte dafür, liebe Christen, daß das Neue Jerusalem wohl die ganze erneuerte Erde erfüllen und alle Er­ lösten im Stande ihrer Vollendung aufnehmen wird, denn in demselben ist, wie unser Text versichert, „die Hütte Gottes bei den Menschen und Gott wird bei ihnen wohnen und sie werden sein Volk sein." Und ferner heißt es von dieser Gottesstadt, daß alle, die Gottes Gebote halten, werden zu den Thoren eingehen in dieselbe und werden Macht haben an dem Holze des Lebens und an seinen Früchten, das inmitten derselben wächst (Offb. 22, 2. 14).

481 Noch eine weitere Frage wird an diese angeknüpft, näm­ lich die, ob auch die heiligen Engel im Neuen Jerusalem mit den vollendeten Erlösten dereinst sein werden. Manche wollen das daraus schließen, daß von unserem Helland im Worte Gottes bezeugt wird: Gott hat uns wissen lassen das Geheim­ nis seines Willens . ., auf daß alle Dinge zusammen verfasset würden (wörtlich: unter ein Haupt zusammengefaßt würden), in Christo, beide: das im Himmel und auf Erden ist, durch ihn. Ich denke: wohl müssen wir hieraus die Wahrheit ent­ nehmen, daß die heilige Engel- und die geheiligte Menschen­ welt in Christo schließlich zu einem Gottesvolk geeinigt sein werden. Aber daß sie auch zusammen im Neuen Jerusalem auf der erneuerten Erde wohnen sollen, das sagt das Wort Gottes nicht. Die Allvollendung bringt ja neben der neuen Erde auch einen neuen Himmel, und aus diesem Umstande müssen wir wohl folgern, daß dieser die Wohnstätte der Engel sein werde. Es sind noch andere Punkte, die wir zu besprechen haben, liebe Christen, wenn wir von der Allvollendung reden. Da sind manche, welche aus dem Schwur des Engels vor der Vollendung des Geheimnisses Gottes: daß hinfort keine Zeit mehr sein soll (Offb. 19, 6), schließen wollen, daß im Neuen Jerusalem, also in der vollkommenen Seligkeit, für die Voll­ endeten die Zeit aufgehört und die Ewigkeit begonnen habe. Was sollen wir von dieser Ansicht halten? Vor allem dies, daß sie in dem erwähnten Ausspruch keinen Grund hat. Der schwörende Engel will nur sagen, daß die letzten Ereignisse ohne Verzug geschehen sollen. Meine Ueberzeugung geht dahin, daß die Ewigkeit für geschaffene Wesen nur eine ohne Ende fortlaufende Zeit ist. Auch die Erlösten im ewigen Leben werden niemals auf den Standpunkt Gottes versetzt, für den es keine Zeit, sondern nur Ewigkeit giebt, der keine Vergangenheit und Zukunft kennt, sondern nur Gegenwart. Die geschaffenen Wesen werden hierin nie Gott gleich werden. Wie sie stets an den Raum gebunden sein werden, so werden sie auch die Ewigkeit nur in Zeitabschnitten durchleben, wenn dies auch in dem zukünftigen Weltalter in Schnätel, Predigten.

31

482

anderer Weise geschehen wird, wie im gegenwärtigen. Die Bürger des Neuen Jerusalem werden an den Raum gebunden sein. Das geht daraus hervor, daß die Stadt Gottes räumlich beschrieben wird im Buch der Offen­ barung. Sie liegt viereckig; die Länge, Breite und Höhe der­ selben sind gleich. Mes ist in derselben nach der Zahl geordnet und zwar nach der Zwölfzahl, denn diese ist die Zahl des Volkes Gottes, der Gemeinde Jesu Christi. Sie hat zwölf Thore, zwölf Gründe, zwölf mal zwölf Ellen hohe Mauern, zwölf mal tausend Stadien im Umfang. Gerade so wie an den Raum ge­ bunden, werden aber die Bürger des vollendeten Gottesreiches auch der Zeit unterworfen sein. Sie werden, wie von ihnen gesagt wird, herrschen in die Weltalter der Weltalter. Für sie ist demnach die Ewigkeit nur eine endlose Zeit. Ja, die Erlösten leben an einem herrlichen Ort und in einer seligen Zeit. Heil uns, liebe Christen, wenn wir dereinst zu ihnen gezählt werden! Vorüber ist dann für uns für immer das Weltalter der Uebel und Leiden. Unser Text sagt: „Gott wird abwischen alle Thränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein; noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen." Das Weltalter der vollendeten Erlösung ist angebrochen. Wie alle Uebel und Leiden des Erdenlebens Folgen der Sünde sind, so ist mit der vollständigen Erlösung von der Sünde auch das Ende ihrer schlimmen Folgen, ihrer Strafen eingetreten. Im Neuen Jerusalem hat das Sündigen aufgehört, denn, so sagt Gottes Wort, es wird nicht hineingehen irgend ein Gemeines und das da Greuel thut und Lügen, sondern die ge­ schrieben sind in dem Lebensbuch des Lammes (Offb. 21, 27). Die Jerusalemsleute sind zur sittlichen Vollkommenheit hin­ durch gedrungen, sie sind wirkliche Heilige geworden. Mit einer: zugerechneten Gerechtigkeit beginnt unser Christenlauf, und mit: einer eigenen Gerechtigkeit schließt er. So vollkommen ist: diese Heiligkeit, daß die Erlösten sogar frei sind von der Mög­ lichkeit zu sündigen, denn sie sind in ihrer Heiligkeit nicht allein: befestigt, sondern auch alle Versuchung ist für sie beseitigt,.

483 stamme sie nun vom Satan, oder von der Welt, oder aus dem verderbten Inneren. Diese dreifache Verführungsmacht ist aufgehoben. So ist denn in der That das, was der Erlöser den ©einigen giebt, viel mehr, als das, was die Menschen durch die Sünde verloren haben. Was der erste Mensch erst allmählich, wenn er in der anerschaffenen Ebenbildlichkeit Gottes geblieben wäre, werden sollte, dies Ziel haben die Bewohner des Neuen Jerusalem erreicht. Sie sind Gottes vollkommene Ebenbilder geworden. O, wie herrlich hat doch der Erlöser alles wiedergebracht! Die er zuvor ersehen hat, die hat er auch verordnet, daß sie gleich sein sollten dem Ebenbilde seines Sohnes . .; welche er aber verordnet hat, die hat er auch berufen; welche er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; welche er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch herrlich gemacht (Nöm. 8, 29—30). Mancherlei köstliche Namen giebt das Wort Gottes dem Zustand der vollmdeten Erlösten. Es nennt ihn: das ewige Leben, das unvergängliche, unbefleckte und unverwelkliche Erbe, das Erbteil der Heiligen im Licht, die Krone der Gerechtigkeit, das Kleinod der himmlischen Berufung in Christo, das Paradies Gottes, die Hochzeit und das Abendmahl des Lammes. Ebenso entzückend wie diese Namen, sind auch die einzelnen Züge der Beschreibung, welche uns das Wort Gottes von dem Leben der Bürger der Gottesstadt liefert. Sie werden Priester Gottes und Christi sein, sie werden als Könige herr­ schen, sie sind eingegangen zu ihres Herrn Freude, sie essen vom Baume des Lebens und vom verborgenen Manna, sie leuchten wie die Sonne in ihres Vaters Reich, sie sind immer bei dem Herrn, sie schauen ihn von Angesicht zu Angesicht. Die Gottesstadt bedarf keines Tempels mehr, denn der Herr, der allmächtige Gott ist ihr Tempel und das Lamm. Ebenso bedarf sie keiner Sonne, noch des Mondes, daß sie ihr scheinen, denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie und ihre Leuchte ist das Lamm. Die Bürger des Neuen Jerusalem haben die Höch sie Stufe der Seligkeit erstiegen; sie schauen den Herrn von Angesicht zu Angesicht 31*

484

nach der Verheißung: selig sind die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen (Mtth. 5, 8). Dies selige Schauen Gottes wird ihnen einen unanfhörltchen Lobpreis des dreieinigen Gottes, ein ewiges Halleluja auf die Lippen legen (Offb. 14,1—3; 15, 2—4). Wir ersehen daraus, liebe Christen, daß die Seligkeit kein stummer Zustand ist. Die Seligen haben ihre Sprache, wenn wir auch nicht wissen, welche Sprache sie reden. Gewiß, sie können mit dem Herrn, in dessen Nähe sie weilen, wie auch mit ihren Mitbürgern ihre Gedanken austauschen, und ihre Gedanken und Gefühle in Worte fassen. Die Unergründlichkeit und Unausforschlichkeit Gottes wird ihnen immer neue Veranlassung geben zu unermüdlichem Lob­ preise, aber auch zu beständigem Wachstum in der Erkenntnis. Da werden die Dunkelheiten und Rätsel, welche auch die Gläubigen und vom Heil. Geist Erleuchteten jetzt umlagern, wo wir nur durch einen Spiegel in einem dunkeln Worte sehen, schwinden wie Nebel vor der Sonne. Da wird der letzte Wunsch eines Melanchthon, daß er möchte Aufschluß haben über solche Geheimnisse, wie die Vereinigung der beiden Naturen, der göttlichen und menschlichen, in Christo, und andere, erfüllt werden. Da wird St. Petrus und mit ihm auch wir, in vollem Sinne das Wort des Herrn verstehen: was ich thue, das weißt du jetzt nicht, du wirst es aber hernach erfahren (Joh. 13, 7). Ihr möchtet aber auch wissen, liebe Christen, wie es mit der Beschäftigung der Vollendeten steht. Nun ich meine, wenn bei ihnen ein Wachstum an geistiger und geistlicher Erkenntnis stattfindet, dann ist ihnen damit zugleich auch eine Thätigkeit zugcschrieben. Wie manchmal ist doch die Meinung laut geworden, das ewige Leben müsse einen langweiligen Ver­ lauf haben. Davor ist mir nicht bange, denn das ist ganz gewiß eine verkehrte Ansicht. Worin freilich die Thätigkeit der Seligen bestehen wird, das entzieht sich unserer Kenntnis, denn die göttliche Offenbarung klärt uns darüber nicht auf. Doch, ist soviel sicher, daß es keine sauere und oft erfolglose Arbeit: sein wird, wie unsere jetzige, denn das ist sie durch die Sünde: geworden, und die hat im vollendeten Gottesreiche keine Stätte:

485 mehr. Da aber Arbeit dem Menschen schon im Stande seiner Unschuld von Gott aufgegeben war, da Gott selbst seinen geistigen Geschöpfen in diesem Stücke vorangeht, wie unser Hei­ land bezeugt in dem Ausspruch: mein Vater wirket bisher, und ich wirke auch! (Joh. 5, 17) — so dürfen wir mit Sicherheit annehmen, daß wir als Bewohner des Neuen Jerusalem auch eine angemessene Thätigkeit haben werden. Oder darf man dem entgegenhalten, es sei von dem Leben der Seligen in Gottes Wort gesagt, daß sie ruhen werden von ihrer Arbeit? (Offb. 14,13). Nein, denn wir wissen, daß damit die Ruhe von der mühevollen und beschwerlichen Erdenarbeit gemeint ist. Ihr erinnert euch, liebe Christen, daß wir von Graden der Verdammnis geredet haben. Wird auch die Seligkeit verschie­ dene Stufen haben? Ich habe diese Frage bereits bejaht. Zwar die Seligkeit an und für sich, soweit sie in dem voll­ kommenen Befriedigtsein des Menschen besteht, ist gewiß all­ gemein, und bei allen gleich. Aber das hindert nicht, daß verschiedene Grade der Herrlichkeit bestehen. Lehrt nicht unser Heiland selbst, daß Stufen in der Herrlichkeit stattfinden werden in dem Gleichnis von den Pfunden, die ein Edler seinen Knechten austeilte, daß sie damit wuchern sollten? Nach dem Grade ihrer Leistung teilt er ihnen dann die Grade der Macht und Herrlichkeit zu (Luk. 19, 12ff.). Also dürfen wir an einer Abstufung der Herrlichkeit nicht zweifeln. Laßt nur unser Streben dahin gehen, daß wir auch eine möglichst hohe Stufe derselben erreichen! Aber ist das nicht unheilige Ehrsucht? Bekennt doch der ebenso fromme, wie berühmte Astronom Copernicus auf seinem Grabmal zu Thorn: nicht die Ehre, welche einem Petrus und Paulus zu Teil geworden, verlange ich, sondern nur die Gnade erflehe ich, welche dem buß­ fertigen Schächer an: Kreuz widerfuhr! Liebe Christen, ich halte dafür, daß diese Bescheidenheit nicht die rechte ist. Er­ sehen wir doch aus dem angezogenen Gleichnis, daß wir mit den Gaben, welche uns der Heiland mitteilt, für ihn und sein Reich arbeiten sollen; und je eifriger wir damit arbeiten, desto besser gefallen wir ihm und desto herrlicher wird sein Lohn ausfallen. Darum wiederhole ich: laßt uns mit eifriger Thätig-

486 feit für den Herrn und sein Reich nach einer möglichst hohen Stufe der zukünftigen Herrlichkeit streben! Sollten Wesen, die in geistiger Erkenntnis wachsen, die Erinnerung an ihre Vergangenheit verlieren? Es ist euch viel­ leicht bekannt, liebe Christen, daß die Heiden sich zuweilen dies so gedacht haben. Sie haben die Meinung gehegt, daß die Seelen nach dem Tode bei ihrem Eingang in die Totenwelt durch einen Trunk aus dem Flusse Lethe die Erinnerung an das Erdenleben einbüßten. Ich denke, solch heidnischer Wahn geziemt uns Christen nicht. Würdest du dich auch noch im zu­ künftigen Leben als derselbe erkennen, wenn dein Gedächtnis geschwunden wäre? Die Auferstandenen werden aber sogar ihren Leib als den ihrigen wiedererkennen. Würdest du deinen Zustand im zukünftigen Leben als eine Folge deines Erden­ wandels verstehen, wenn du dich auf denselben nicht mehr be­ sinnen könntest? Vor dem Richterstuhl werden aber die Ver­ storbenen sich ihrer Werke, auch ihrer Sünden erinnern (Mtth. 25, 35). Meinst du nicht, daß es ein tiefes Bedürfnis für dich sei, im ewigen Leben diejenigen wiederzusehen und wiederzu­ erkennen, mit welchen du hienieden in Gemeinschaft des Blutes und des Geistes gestanden hast? Erkannten doch die Jünger auf dem Verklärungsberg Moses und Elias, die ihnen aus der Welt des Jenseits gegenübertraten. Ich bin überzeugt, wir dürfen mit Sicherheit aus den Andeutungen des Gottes­ wortes schließen, daß die im zukünftigen Leben Befindlichen, sowohl die Seligen, wie die Un­ seligen, in völliger Erinnerung ihres Erden­ lebens stehen. Wohl ist damit für die Seligen verbunden, daß sie auch das Gedächtnis ihrer sittlichen und religiösen Ver­ irrungen, Fehler und Mängel, Uebertretungen und Sünden haben. Die Erinnerung daran ist uns im Stande der Be­ kehrung und Begnadigung erfahrungsgemäß während des Erdenlebens ein drückendes Gefühl. Aber dies Gefühl wird int ewigen Leben sicher ganz geschwunden und dem vollen Genuß der Seligkeit gewichen sein. Ja, wahrlich, das Wort Gottes in unserem Text hat Recht, wenn es bezeugt: „das Erste ist vergangen!", und

487 wenn es den, der bis dahin schweigend auf dem Stuhl seiner göttlichen Majestät saß, sprechen läßt: „siehe, ich mache alles neu!" Wenn das Neue Jerusalem sich vom Himmel auf die verklärte Erde Herabgelaffen hat, dann ist das Werk der Erlösung ganz vollzogen und das Reich Gottes in völliger Vollendung hergestellt. Und der, durch den der verborgene Gott dies alles zu stände gebracht hat, das ist der eingeborene Sohn Gottes, unser Herr Jesus Christus. Durch ihn hat sich der verborgene Gott von jeher seinen geistigen Geschöpfen ge­ offenbart. Durch ihn hat er alles geschaffen, das im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare (Kol. 1, 16). Alle Dinge sind durch denselben gemacht, und in ihm war das Leben, und er war das Licht der Menschen (Joh. 1, 3—4). Durch ihn ist Gott mit den Menschen in Beziehung getreten, als sie in Ungehorsam gegen ihn und in die Sünde geraten waren. Durch ihn hat sich Gott in eine Geschichte mit ihnen eingelassen, in eine Heils- oder Erlösungsgeschichte, die in zwei Bündnissen sich vollzog. Im Alten Bund wurde die Erlösung angebahnt, im Neuen Bunde wurde sie ausgeführt. Alles dies geschah durch den Sohn Gottes, der als der Herr Jehova im Alten Bunde sich kund gab durch den Engel des Herrn, und der im Neuen Bunde selbst Mensch wurde und als Jesus von Nazareth über dreißig Jahre auf der Erde weilte. In dieser Zeit seiner Erniedrigung vollzog er die Sühnung der Sünden­ schuld der Welt und die dadurch bewirkte Versöhnung Gottes durch sein stellvertretendes Leiden und Sterben, durch seinen Opfertod am Kreuze. Dadurch legte er die Grundlage für das Reich Gottes. Nach seiner Erhöhung führt er das Er­ lösungswerk weiter durch Ausbreitung des Reiches Gottes auf Erden. Und bei seiner Wiederkunft wird er es völlig vollziehen durch Gericht, Totenauferstehung und Welterneuerung. Da vollbringt er die Aufrichtung des Reiches Gottes in Herrlichkeit, und schließt damit sein ganzes Werk ab, das Werk, das Gott der Vater dem Sohne aufgetragen hatte. Wenn er es aber abgeschlossen hat, was wird er dann thun? Auch darüber giebt uns die göttliche Offenbarung noch Aufschluß. Sie thut es, indem sie uns die Auferstehungsordnung mitteilt: der Erst-

488 fing der Erlöser; darnach die des Heilands sind bei seiner Er­ scheinung. Weiter sagt sie: dann zuletzt, wann nämlich der Erlöser das Reich, die Weltregierung, Gott, seinem Vater, über­ antworten und abthun wird alle Herrschaft, alle Gewalt und Macht, — denn er muß ja herrschen, die Weltregierung führen, bis er alle Feinde unter seine Füße gelegt hat —: dann wird als letzter Feind abgethan der Tod. Wenn alsdann der sieg­ reiche Erlöser seinem Vater gegenüber sprechen wird: alles ist unterworfen! — klarerweise mit Ausnahme dessen, der ihm alles unterwarf —: dann wird auch er, der gott­ menschliche Erlöser, sich freiwillig dem unter­ ordnen, der ihm alles unterwarf, auf daß Gott sei alles in allen (siehe 1. Kor. 15, 23—28). Wir stehen hier still, liebe Christen, und fragen: was ist hiermit gesagt? Ist etwa damit eine Abdankung des Gottes­ sohnes, der bis dahin die Regierung der Welt geführt hat, behauptet? Gewiß nicht, denn so bezeugt der Prophet: seine Gewalt ist ewig, die nicht vergeht, und sein Königreich hat kein Ende (Dan. 7, 14). In dem Reiche Gottes, das er gegründet und vollendet hat, wird er ewiger König sein. Nur in der Form seiner Regierung tritt eine Aenderung ein. Seine Regierung war bis dahin diejenige des Mitt­ lers. Nun ist seine Mittlerthätigkeit zu Ende. Darum tritt er nun wieder ganz in seine ur­ sprüngliche, ewige Stellung in der Dreieinig­ keit zurück. Nicht, daß er die seiner Zeit angenommene menschliche Natur wieder abstreifte. Nein, die behält er in Ewigkeit bei; sie ist und bleibt in ihrer Verklärung ausge­ nommen in die göttliche Dreieinigkeit. Aber wie er bis dahin die Regierung als Gottmensch geführt hat, nämlich als Mittler und mittels Uebertragung von feiten seines Vaters, — so führt er sie nun als Gottmensch gemäß des ihm kraft seiner Wesensgleichheit mit dem Vater von Ewigkeit zu Ewig­ keit zustehenden Rechts. Die mittlerische Regierung hat auf­ gehört. Sie wird nun unvermittelt ausgeübt, und Gott ist nunmehr alles in allen. Liebe Christen, wir stehen am Schluß unserer Betrach-

489 jungen über die Entwicklungsgeschichte des Reiches Gottes. Die ganze heilige Geschichte ist an unserem Blicke vorüber gezogen. Anbetend sinken wir nieder vor dem Gott der Gnade, der

seinen Hellsplan so herrlich hinausführt. All dem gegenüber, das wir hiervon wahrgenommen haben, ist unser Gefühl das, welches den Apostel am Schluffe seiner Darlegung der Heils­ geschichte zu dem Lobpreis des dreieinigen Gottes bewog, mit dem auch wir diese Predigten schließen wollen: o welch eine Tiefe des Reichtums, beide, der Weisheit und Erkenntnis

Gottes; wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege; denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder

wer ist sein Ratgeber gewesen; oder wer hat ihm etwas zuvor gegeben, daß ihm werde wieder vergolten?

Denn von ihm

und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge; ihm sei Ehre in

Ewigkeit!

Amen.

Inhaltsverzeichnis. Seite

1.

Predigt über Matth. 6,10................................................................

1

Was ist das Reich Gottes? 2.

Predigt über Offb. 7,9-12....................................................................... 13

3.

Predigt über Joh. 8,44 «nd 2. Petr. 2,4............................................ 22

Das Reich Gottes im Himmel.

Des Reiches Gottes Gegensatz: das Reich der Finsternis. 4. Predigt über 1. Mos. 1,26-27; 2, 7-9............................................ 33 Die Gründung des Reiches Gottes auf der Erde. 5.

Predigt über 1. Mos. 3, 1-7. 14-19................................................. 43

6.

Predigt über 1. Mos. 3,14—15............................................................ 55

7.

Predigt über 1. Mos. 6,11. 12. 3.5-9. 13-19. 22

Die Zerstörung des ursprünglichen Gottesreiches auf der Erde.

Die Wiederherstellung des zerstörten Gottesreiches auf der Erde. ...

.

65

Das Reich Gottes vor und bei der Sintflut. 8.

Predigt über 1. Mos. 8,14—22; 9, 8-15............................................ 76

9.

Predigt über 1. Mos. 11,1—9.................................................................. 87

10.

Predigt über 1. Mos. 12,1-3................................................................. 99

Das Reich Gottes unter dem Bunde GotteS mit Noah. Das Reich GotteS nach der Sintflut. Das Reich Gottes in der Gottesfamilie unter dem Bunde Gottes mit Abraham. 11.

Predigt über 2. Mos. 3,13-15.......................................................... 112

12.

Predigt über 2. Mos. 20,1-17.......................................................... 125

Das Reich Gottes im Gottesvolk des Alten Bundes. Das Reich Gottes im Gottesstaat des Alten Bundes, ins­ besondere: die Verfassung des Gottesstaates, und zwar zu­ nächst: daS Sittengesetz. 13.

Predigt über 4. Mos. 18,1.6-7.......................................................... 138

Die Verfassung des Gottesstaates, insbesondere: das gottes­ dienstliche Gesetz (1. Priestertum, 2. Opferwesen, 3. Heilig­ tum).

491 Seite

14. Predigt über 5. Mos. 6,27-30

...................................................

150

Die Verfassung des Gottesstaates, insbesondere: das gottes­ dienstliche Gesetz (1. Festordnung, 2. Reinigkeitsvorschristen, 3. Speisegebote).

15.

Predigt über 5. Mos. 4,5-8............................................................. 163 Die Verfassung des Gottesstaates, insbesondere: das bürger­ liche Gesetz.

16. Predigt über 5. Mos. 18,17-19........................................................178 Das Reich Gottes im Gottesstaat des Alten Bundes, ins­ besondere: das Prophetentum.

17.

Predigt über 2. Sam. 7,4.8—13.......................................................... 193 DaS Reich Gottes im Gottesstaat des Alten Bundes, und zwar: die Blüte des Gottesstaates.

18.

Predigt über Jes. 5, 1-7..................................................................208 Das Reich Gottes im Gottesstaat des Alten Bundes, und zwar: der Zerfall des Gottesstaates.

19.

Predigt über Jerem. 29,4—11 ........................................................

226

Die Wiederherstellung des Gottesstaates.

20.

Predigt über Nehem. 8,1—3.6; 10,1.29—30

..........................

239

Der wiederhergestellte Gottesstaat.

21.

Predigt über Matth. 3,1-6. 13-17............................................. 252 Das Reich Gottes im Neuen Bunde, insbesondere: die letzte Vorbereitung zur Schließung des Neuen Bundes und zur Grundlegung des Reiches Gottes.

22.

Predigt über Mark. 1,14—15............................................................ 264 Die Schließung des Neuen Bundes und die Grundlegung des Reiches Gottes durch den Erlöser in seinem dreifachen Amte, insbesondere: das hohepriesterliche Amt des Erlösers (1. die Versöhnung Gottes, 2. die Sühnung der Sünden­ schuld, 3. die Versöhnung der Menschen).

23.

Predigt über Hevr. 4,14-15; 9,11—12........................................ 278 Das hohepriesterliche Amt des Erlösers (1. die Ueberwindung Satans, 2. die Erwerbung des H. Geistes, 3. die Bereitung des Heils).

24.

Predigt über Joh. 7,16-17.............................................................291

25.

Predigt über Apg. 2,22—24

Das prophetische Amt des Erlösers.

..........................................................

304

Die prophetische Wunderthätigkeit des Erlösers.

26.

Predigt über Joh. 18,33-37

........................................................

314

Das königliche Amt des Erlösers.

27.

Predigt über Apg. 2,1-4. 14. 38. 41

.........................................

Das Reich Gottes im Neuen Bunde, insbesondere: die Kirche Jesu Christi (1. ihre Stiftung, 2. ihre Verfassung).

327



492



Sette

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

Predigt über Apg. 2,42-4-; 4, 32-35.......................................... 342 Die Eigenschaften der Kirche, welche sein soll: die eine und die allgemeine. Predigt über Sph. 6,25—27 ........................................................... 356 Die Eigenschaften der Kirche, welche sein soll: die heilige. Predigt über Sph. 2,19-22................................................................ 372 Die Eigenschaften der Kirche, welche sein soll: die apostolische. Predigt über Matth. 13,31-32 ...................................................... 391 Die Geschichte der Kirche (1. in der Anfangszeit, 2. im Mittel­ alter, 3. in der Neuzeit).. Predigt über Matth. 13,24-30 ...................................................... 411 Die Zukunft der Kirche. Predigt über Offb. 19,6-20, 6 ...................................................... 429 Die Vollendung des Reiches Gottes, und zwar: die vorläufige Vollendung. Predigt über Offb. 20,7-15 ........................................................... 452 Die Vollendung des Reiches Gottes, und zwar: die Allvollendung (1. Auferstehung, 2. Weltgericht). Predigt über Offb. 21,1-5..................................................................... 470 Die Vollendung des Reiches Gottes, und zwar: die Allvollendung (1. die Wellerneuerung, 2. die Herabkunft des Neuen Jerusalem).