Predigt und Derascha: Homiletische Textlektüre im Dialog mit dem Judentum 9783666623905, 9783525623909, 9783647623900, 3525623909


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Predigt und Derascha: Homiletische Textlektüre im Dialog mit dem Judentum
 9783666623905, 9783525623909, 9783647623900, 3525623909

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne Steinmeier in Zusammenarbeit mit den Zeitschriften PASTORALTHEOLOGIE und WEGE ZUM MENSCHEN und der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie

Band 48

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

Predigt und Derascha Homiletische Textlektüre im Dialog mit dem Judentum

Von Alexander Deeg Mit 3 Abbildungen und 8 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar ISBN 10: 3-525-62390-9 ISBN 13: 978-3-525-62390-9

© 2006, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. – Printed in Germany. Druck und Bindearbeit: O Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier

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Inhalt

Geleitwort von Rabbiner Prof. Dr. Dr. h.c. Jonathan Magonet .............

15

Vorwort ..................................................................................................

17

1.

Predigt und Derascha – Einleitung und Wegbeschreibung ......................................... 1.1 1.1.1 1.1.2 1.2

38

Eine Wegbeschreibung: Vergleichende Homiletik als Methode ..........................

42

Derascha und jüdische Predigt in historischer und hermeneutischer Perspektive ....................................................

47

Jüdische „Predigt“ als Gegenstand der Forschung ................

49

2.1 2.2

49

1.2.2

1.3

2.

22 23 30

Eine Forschungslücke: Homiletische Wahrnehmung im christlich-jüdischen Dialog ............................................................................ Anwendung als leitende Perspektive bisheriger Ansätze einer Homiletik im christlich-jüdischen Dialog ............ Wahrnehmung als Perspektive praktisch-theologischer Arbeit im christlich-jüdischen Dialog ...........................

1.2.1

I.

Eine Wiederentdeckung: Die Frage nach dem Text in der Predigt ........................ Text und Predigt – drei homiletische Herausforderungen Lesen-Lernen als homiletische Aufgabe .......................

21

2.3

Sekundärliteratur zur jüdischen „Predigt“ ..................... Jüdische Predigten, Predigtsammlungen und Homiletiken ................................................................... Folgerungen ...................................................................

32 33

55 60 5

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3.

Apriorische Tora-Erwartung und skripturale Hermeneutik. Midrasch und Derascha in tannaitisch-amoräischer Zeit ...........

63

3.1

Ursprünge der Derascha ................................................

63

3.2

Apriorische Tora-Erwartung und skripturale Hermeneutik .................................................................. Die Gefährdung der Ahnfrau – midraschisch gelesen ... Vier Kennzeichen einer Textlektüre auf der Basis skripturaler Hermeneutik ......................... „Wende sie um und wende sie um …“ – die Genauigkeit der Lektüre .......................................... „Siebzig Gesichter hat die Tora“ – die Pluralität der Lektüre ............................................... „… alles ist in ihr“ – die Intertextualität der Lektüre .... „Die Geschehnisse der Väter sind ein Zeichen für die Kinder“ – die Aktualität der Lektüre .................

3.2.1 3.2.2 3.2.2.1 3.2.2.2 3.2.2.3 3.2.2.4

3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4

4.

Midrasch und Derascha: Die Suche nach der mündlichen Derascha in den schriftlichen Midraschim .................... Rückschlüsse von schriftlichen Midraschim auf mündliche Deraschot ..................................................... Die Peticha als Derascha ............................................... Exkurs: Rabbinische Gleichnisse als Deraschot? .......... Exkurs: Rabbinische Derascha und hellenistischjüdische Predigt .............................................................

72 74 76 76 78 83 84

88 89 91 94 96

3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3

Ein Beispiel für eine Peticha ......................................... 98 Der Text: WaR 13,2 ....................................................... 98 Erläuterungen zu Form und Inhalt der Peticha .............. 100 Erläuterungen zur Hermeneutik der Peticha .................. 102

3.5

Zusammenfassung ......................................................... 103

Von der skripturalen zur meta-skripturalen Hermeneutik. Tendenzen im jüdischen Mittelalter .............................................. 105 4.1

Von der skripturalen zur meta-skripturalen Hermeneutik

4.2 4.2.1

Drei Wege meta-skripturaler Hermeneutik ................... 109 Tora-Hermeneutik in philosophischem Kontext ........... 109

6 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

105

5.

4.2.2 4.2.3

Tora-Hermeneutik in mystischem Kontext ................... 113 Ethisch-fokussierte Tora-Hermeneutik ......................... 116

4.3

Zusammenfassung: Skripturale und meta-skripturale Hermeneutik ............. 119

Zwischen Derascha und Predigt. Jüdische Predigt und jüdische Homiletik im 19. Jahrhundert .................................... 121 5.1 5.1.1 5.1.2

5.2

Der Aufbruch der Predigtbewegung und die Predigt als Imitation (1808 bis ca. 1830) ................................... 129

5.3

Jüdische Predigt als vielgestaltiges Phänomen und homiletische Differenzierungen (ca. 1830 bis 1871) .... Ludwig Philippson: „Vermittelung des Alten und Neuen“ ............................ Hermeneutik und Homiletik im liberalen, historisch-positiven und neo-orthodoxen Judentum ...... Adolf Jellinek: Der Midraschforscher als Prediger .......

5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.4

5.5

6.

Die „erste jüdische Predigt“ als Auftakt einer Predigtbewegung ........................................................... 121 Der Weg in die Familie: Joseph Wolfs Predigt in Dessau (1808) ......................... 121 Predigtbewegung im Kontext von Emanzipation und Akkulturation ............................ 125

136 136 142 148

Der Abschluss der Entwicklung moderner jüdischer Predigt und die erste jüdische Homiletik (1871 bis ca. 1900) ........................................................ 151 Zusammenfassung: Homiletische Hermeneutik zwischen Predigt und Derascha ........................................................................ 156

Neue Hermeneutik und neue Predigt. Renaissance im deutschen Judentum zu Beginn des 20. Jahrhunderts ........... 163 6.1

6.2

Die Krise im deutschen Judentum um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als Hintergrund jüdischer „Renaissance“ ................................................................ 163 Jüdische Renaissance als hermeneutische Renaissance 169 7 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

6.3 6.3.1 6.3.2 6.4

7.

Jüdische Renaissance als homiletische Renaissance? ... 175 Joseph Wohlgemuth: „Beiträge zu einer jüdischen Homiletik“ (1903/04) ...... 176 Homiletische Perspektiven in den 1920er Jahren .......... 178 „Neuer Midrasch“ und „alte“ Lehre: Jüdische Predigt im Dritten Reich und zur Zeit der Schoa ....................................................................... 185

Englischsprachige jüdische Predigt seit dem 19. Jahrhundert. Moderne Predigt zwischen Akzeptanz und Kritik ................. 191 7.1 7.2 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.4 7.4.1 7.4.2

Zur Geschichte jüdischer Predigt in den USA: Ein Überblick bis 1937 .................................................. 192 Moderne jüdische Predigt und ihre Homiletik .............. 195 Die moderne jüdische Predigt in der Diskussion der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts .............................. Die Herausforderung durch Abraham Joshua Heschels „Renaissance-Hermeneutik“ .......................................... Beginnende Predigtmüdigkeit ....................................... Reaktionen auf die Predigtmüdigkeit ............................

201 201 203 205

Midraschischer Frühling und die Frage nach homiletischen Blüten ..................................................... 211 Der Midrasch als „Living Text“ in der Arbeit des „Institute for Contemporary Midrash“ (ICM) ............... 212 „Bibliodramatic Midrash“ ............................................. 215

II.

Homiletisch lesen lernen im Kontext des Midrasch .............. 219

8.

Predigt und Derascha – Homiletik und christlich-jüdischer Dialog ........................................................ 221 8.1

8.1.1 8.1.2

Homiletik im christlich-jüdischen Dialog? – Überlegungen zur Vergleichbarkeit christlicher und jüdischer „Predigt“ ........................................................ 221 Zur Vergleichbarkeit christlicher und jüdischer „Predigt“ – zwei Impressionen ...................................... 221 Stellenwert und Ziel der „Predigt“ in Judentum und Christentum ........................................ 224

8 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

8.1.3 8.1.4 8.1.5 8.2 8.3

8.4

9.

Tora und Christus – vom bleibenden hermeneutischen Unterschied zwischen Judentum und Christentum ........ 226 Exkurs: Zur Bedeutung des Lesens in der christlichen Theologie 231 Homiletisch lesen lernen im christlich-jüdischen Dialog 238 Homiletik im christlich-jüdischen Dialog – Intertextualität als methodisches Paradigma ................. 240 Homiletische Textlektüre im Kontext des Midrasch – Vorausblick auf die Durchführung im zweiten Teil der Erarbeitung .............................................................. 244 Homiletische Wahrnehmungen des Judentums – eine Einordnung in die Forschung ................................. 248

Textbändigung, Textverlust und Textbefreiung – zum homiletischen Umgang mit dem Text ............................. 253 9.1

Textbändigung und Textverlust in der Predigt .............. 254

9.2

9.2.4

Wider Textbändigung und Textverlust: Wege zur Textbefreiung ................................................ Karl Barth: Textbefreiung in der „reinen Auslegungspredigt“ ........ Eberhard Jüngel: Die Dynamik doppelter Übersetzung als Textbefreiung Rudolf Bohren: Pneumatologische und ästhetische Textbefreiung ......... Martin Nicol: Intertextuelle Textbefreiung ...................

9.3

Exkurs: Literaturwissenschaftliche Textbefreiung ........ 271

9.2.1 9.2.2 9.2.3

260 260 265 268 270

10. Der Kontext des Midrasch ........................................................ 277 10.1 10.1.1 10.1.2 10.1.3

Was ist rabbinischer Midrasch? – Drei Perspektiven der Forschung .................................. Primär applikative Midrasch-Lektüren .......................... Primär explikative Midrasch-Lektüren .......................... Vermittelnde Modelle ....................................................

10.2

Folgerungen ................................................................... 287

277 278 281 284

9 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

11. Midrasch – Perspektiven zu Hermeneutik, Methodik und Pragmatik homiletischer Textlektüre ............................... 289 11.1

Predigt als Kon-Textualisierung: Zur Hermeneutik einer homiletischen Textlektüre im Kontext des Midrasch .... 11.1.1 Kon-Textualisierung im rabbinischen Midrasch ........... 11.1.1.1 Die Konzeptualisierung des Textes als graphisches Zeichen göttlichen Ursprungs ........................................ 11.1.1.2 Die Topographie des Textes zwischen Exil und Sinai .. 11.1.1.3 Midrasch als Kon-Textualisierung – schriftliche und mündliche Tora ....................................

289 289 290 294 298

11.1.2 Predigt als Kon-Textualisierung .................................... 301 11.1.2.1 Kon-Textualisierung wider Textbändigung und Textverlust .............................................................. 301 11.1.2.2 Kon-Textualisierung als Aufgabe von Exegese und Homiletik ....................................................................... 307 11.2

11.2.1 11.2.1.1 11.2.1.2 11.2.1.3 11.2.1.4

11.2.2 11.2.3 11.2.4

11.3 11.3.1 11.3.2 11.3.3

Predigt als slow and responsive reading: Zur Methodik einer homiletischen Textlektüre im Kontext des Midrasch .................................................... Slow and responsive reading – langsames und antwortendes Lesen ............................... Die Dialogizität eines slow and responsive reading ...... Die Intertextualität eines slow and responsive reading Die Kreativität eines slow and responsive reading ........ Exkurs: Homiletisches slow and responsive reading – Karl Barth als Beispiel ...................................................

312 312 314 318 322 325

Vierfacher Schriftsinn als systematische Leseanleitung? 327 Exkurs: Giorgio Morandi – Slow and responsive reading in der bildenden Kunst ...................................... 333 Exkurs: Slow and responsive reading wider die homiletische Eloquenz – zwei lyrische Spuren ............. 335 Predigt als Lesen-Lernen: Zur Pragmatik einer homiletischen Textlektüre im Kontext des Midrasch .... Talmud Tora: Lehren und Lernen als Ziel midraschischer Aktivität ... Talmud Tora: Zwei Wiederaufnahmen im 20. Jahrhundert ................. Predigt als Lesen-Lernen ...............................................

10 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

338 338 341 345

11.3.3.1 Voraussetzungen: Lehre als dimensionaler Begriff und dynamisch-wechselseitige Praxis ........................... 346 11.3.3.2 Folgerungen aus einer Bestimmung der Predigt als Lesen-Lernen ........................................................... 348 11.4

Zusammenfassung ......................................................... 357

12. Maschal und Nimschal – Predigt als „Übersetzung“ ............. 359 12.1 12.1.1 12.1.2

12.2 12.2.1 12.2.2

12.3 12.3.1

Die homiletische Frage nach der Verbindung von Text und Lebenswirklichkeit .................................. 359 Homiletische Modelle zur Verbindung von Text und Lebenswirklichkeit – Versuch einer Kartographie ........ 359 Die Metapher des Dritten Raumes – zur Topographie der Begegnung von Text und Lebenswirklichkeit ......... 367 Die doppelte Verfremdung im Dritten Raum rabbinischer Gleichnisse ................................................ 369 Die rabbinischen Gleichnisse als Dritter Raum zwischen Bibelwort und Lebenswirklichkeit ................................ 369 Doppelte Verfremdung im Wechselspiel von Maschal und Nimschal in rabbinischen Gleichnissen .................. 376

12.3.2

Homiletische Perspektiven: Predigt als „Übersetzung“ 380 Der Dritte Raum der „Übersetzung“ bei Franz Rosenzweig ......................................................... 382 Predigt als „Übersetzung“ ............................................. 384

12.4

Zusammenfassung ......................................................... 388

13. Haggada und Halacha – Perspektiven „haggalachischer“ Predigtrede .................................................................................. 389 13.1

Haggada und Halacha als grundlegender Wechselschritt rabbinischer Schriftauslegung ....................................... 13.1.1 Haggada und Halacha .................................................... 13.1.1.1 Haggada ......................................................................... 13.1.1.2 Halacha .......................................................................... 13.1.2

390 390 390 393

Das Miteinander von Haggada und Halacha ................. 398 11 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

13.1.2.1 Die notwendige Zusammengehörigkeit von Haggada und Halacha ................................................................... 13.1.2.2 Das Problem des Panhalachismus ................................. 13.1.2.3 Das Problem des Panhaggadismus ................................ 13.1.2.4 Die grundlegende Problematik der Trennung von Haggada und Halacha .................................................... Die Wahrnehmung des Miteinanders von Haggada und Halacha. Drei Ansätze aus dem 20. Jahrhundert ........... 13.1.3.1 Chajim Nachman Bialik (1873–1934): Haggada und Halacha als Literatur ............................... 13.1.3.2 Max Kadushin (1895–1980): Haggada und Halacha als Methodik .............................. 13.1.3.3 Abraham Joshua Heschel (1907–1972): Haggada und Halacha als Lebensform ..........................

399 401 405 408

13.1.3

Gesetz und Evangelium im Kontext evangelischer Schriftauslegung und als homiletisches Problem .......... 13.2.1 Gesetz und Evangelium als soteriologischhermeneutische Doppelformel ....................................... 13.2.2 Gesetz und Evangelium als Thema der Homiletik ........ 13.2.2.1 Die Aufnahme der Thematik durch Manfred Josuttis ... 13.2.2.2 Probleme der homiletischen Rezeption .........................

409 409 414 419

13.2

13.3 13.3.1 13.3.2 13.3.3

Haggada und Halacha/Gesetz und Evangelium – zur Verknüpfung der beiden Diskurse ........................... Axel Denecke: Haggada und Halacha in homiletischer Rezeption ........ Friedrich-Wilhelm Marquardt: Halacha (und Haggada) in dogmatischer Rezeption ..... Zur Frage nach der Analogie der Doppelformeln Halacha & Haggada und Gesetz & Evangelium ...........

„Haggalachische“ Predigtrede. Homiletische Perspektiven ............................................ 13.4.1 Die Doppelformel Gesetz und Evangelium homiletisch ernst nehmen .................................................................. 13.4.2 Von der Haggada lernen ................................................ 13.4.3 Von der Halacha lernen ................................................. 13.4.4 Vom Miteinander von Haggada und Halacha lernen .... 13.4.4.1 Die Ebene der Predigtrede .............................................

425 425 430 430 433

445 446 449 451

13.4

12 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

453 453 456 458 463 463

13.4.4.2 Die Ebene homiletischer Reflexion ............................... 467 13.5

Zusammenfassung ......................................................... 471

14. Peticha und Chatima – Predigt als Eröffnung und Einführung ........................................................................... 475 14.1 14.1.1

475

14.1.2 14.1.3

Die Peticha im Kontext midraschischer Hermeneutik .. Vernetzungen in der Schrift vs. Ermittlung der Schriftaussage .......................................................... Parataktische Collage vs. hypotaktischer Diskurs ......... Indirekte vs. direkte Applikation ...................................

14.2 14.2.1 14.2.2 14.2.3

Predigt als Eröffnung: Der Weg im Text ...................... … nos in verbum suum mutuat ...................................... Parataktische Collage als Predigt-Struktur .................... Gestaltete Intertextualität ...............................................

485 485 488 500

14.3

Predigt zwischen den Testamenten: Predigt als inszenierte kanonische Intertestamentarität . 509 Die Chatima und die Eschatologie der Predigt: Mit dem Text in Gottes neue Welt ................................ 523 Zusammenfassung ......................................................... 528

14.4 14.5

479 481 482

15. Predigt und Derascha – Rückblick und Ausblick .................. 529 16. Literatur ....................................................................................... 535 Anhang: Glossar .................................................................................. 593 Namenregister ...................................................................................... 597

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Geleitwort von Rabbiner Prof. Dr. Dr. h.c. Jonathan Magonet

The sermon offers a window into the contemporary situation of a religious community. Yet to understand that situation one needs to appreciate not only the historical background, but also the constraints, technical, theological, and often political, within which the preacher operates. It is not enough to read what is written in the text that has been preserved, but one must try to read between the lines as well. By introducing us in such a thorough and well researched way into the ‘technology’ of the Midrash and the subsequent phases of the development of the Jewish sermon, Alexander Deeg has given us the tools for the latter task and through his many examples illustrated the process itself. In addition to its evident value as a contribution to scholarship, this study reflects a significant development in post-war Jewish-Christian relations in Germany. The author can utilise the achievements of a first generation of German scholars who have pioneered Jewish studies within the framework of their own Christian commitments against the background of the devastating history of the Shoah. Their work and that of their successors is reflected in virtually every page but now without the understandable selfconsciousness and feeling of delicacy at entering the Jewish world of those who first researched in this field. That awareness of the tragic Jewish past remains so that there is still an evident sensitivity to the Jewish experience of the twentieth century in all its dimensions, but there is a self-confidence here in the handling of the Jewish source materials that indicates the maturity of the engagement and the soundness of the approach. This study reflects the change of emphasis in Jewish religious selfawareness over the period that is covered. One rabbinic view holds that there are three pillars that form the basis of the Jewish religious consciousness: God, Torah and Israel. All are always present, yet the emphasis on each of them changes over time. Thus the Biblical period can be characterised as placing God and the true relationship to be established with the divine at the centre of religious concerns. The rabbinic and mediaeval period saw the emphasis on Torah, with the development of the interpretative tradition so well sketched in this study. Modernity, as reflected in post-emancipation Judaism, is focused instead on ‘Israel’, most obviously in the Zionist endeavour, but also in the questioning about Jewish 15 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

identity so central to the concerns, and hence the preaching, of the different Jewish religious groups and indeed the writings and activities of secular Jews. What cannot be captured simply by the study of the texts that have survived of this intellectual art, is the performance of the preacher itself. I once gained an insight into the challenge that this presents through a conversation with a great cabaret performer Pearl Bailey. She explained that when performing to an audience it was important to pay equal attention to the orchestra that was accompanying her. If they felt neglected they would lose interest to the detriment of the performance. The preacher, as interpreter of the tradition, similarly stands between two audiences. He or she must be attentive to the text that is the source that he or she has chosen to expound and seek to understand it with all the skills that are available. And then he or she has to translate it so that it can speak to the needs of the congregation but in such a way that the message can be heard. In this study, Alexander Deeg has achieved both objects. London, March 2006

Jonathan Magonet

16 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

Vorwort

„Es ist nicht an dir, die Arbeit zu vollenden, aber du bist auch nicht frei, dich von ihr loszusagen.“ Mit diesem Satz wird Rabbi Tarfon in der Mischna zitiert (mAv 2,16). Ich habe im Lauf der rund vier Jahre, in denen diese Arbeit entstand, erfahren, dass er Recht hat. Die Grundidee für die vorliegende Dissertation bestand darin, das eigentümliche Phänomen jüdischer Predigt wahrzunehmen sowie mögliche Vernetzungen zwischen den homiletischen Diskursen in Christentum und Judentum zu erkunden. Dass diese Arbeit nicht zu beenden ist, wurde mir schnell klar. Ich bin eingetaucht in das Meer der jüdischen Predigt, in die Deraschot der rabbinischen Zeit, in die homiletischen Entwicklungen im Mittelalter, in die Entdeckung der landessprachlichen jüdischen Predigt im 19. Jahrhundert, in die gegenwärtigen Entwicklungen und Anfragen in Europa, Israel und den USA. Die Arbeit ist nicht zu beenden. Aber eine schmale Schneise habe ich gebahnt in den vergangenen Jahren, die ich nun mit diesem umfangreichen Buch dokumentiere. Die Arbeit ist, so Rabbi Tarfon, nicht zu beenden. Aber frei, sie deswegen gleich zu lassen, ist eine christliche Homiletik nicht. Sicher, dass die christliche Predigt irgendwie in der jüdisch-synagogalen Predigt wurzelt, ist als Grundwissen zur Entwicklung der Predigt seit langem bekannt. Aber dass durch die ganze Geschichte des Christentums hindurch auch in jüdischen Gemeinden gepredigt wurde und bis heute gepredigt wird, wurde kaum als herausforderndes Faktum wahrgenommen. Ein christlich-jüdischer homiletischer Dialog fand praktisch nicht statt. Dabei wäre, so die Überzeugung dieser Arbeit, einiges zu lernen, wenn ein solcher Dialog gesucht und gepflegt würde. Exemplarisch beschränke ich mich in dieser Untersuchung auf die homiletische Hermeneutik. Wie wird mit dem biblischen Text umgegangen in christlicher und jüdischer homiletischer Auslegung? So lautet die Grundfrage, aus der sich Perspektiven für eine homiletische Textlektüre im Kontext des Midrasch ergeben. Im Sommersemester 2005 wurde diese Arbeit als Dissertation von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg angenommen. Für den Druck habe ich sie geringfügig überarbeitet. Zu danken habe ich zunächst und vor allem Prof. Dr. Martin Nicol (Erlangen), der sich auf für ihn vielfach unbekanntes Terrain wagte und durch 17 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

seine Kritik, seine Neugier und seine Ermutigung dazu verhalf, dass dieses Buch entstehen konnte. Er ließ mir neben der Arbeit am Erlanger Institut und neben dem gemeinsamen Predigtlehren im Braunschweiger „Atelier Sprache“ alle wünschenswerte Freiheit für Erkundungen in den Bibliotheken Heidelbergs und Jerusalems, für eigene Wege in die Geschichte und Gegenwart jüdischer Predigt. Er nahm meine Zwischenergebnisse jederzeit so auf, dass ich motiviert war, weiter zu denken. Und er ermöglichte mir dichte Zeiten gemeinsamen Lernens und Lehrens, Reflektierens und Schreibens. Als Zweitkorrektor hat sich Prof. Dr. Heinz-Günther Schöttler von der Katholischen Theologischen Fakultät in Bamberg um die Arbeit verdient gemacht. Für die Unterstützung auf dem Weg der Arbeit, für die Ermutigung bei der Fertigstellung, für das umfangreiche und weiterführende Zweitgutachten und für die Chance, mit ihm die in der Arbeit beschriebenen Aufgaben weiterzuverfolgen, danke ich herzlich. Ohne fachliche Unterstützung wären die Forschungen im Judentum nicht möglich gewesen. Auf die Spur gesetzt hat mich ein Studienjahr an der Hebräischen Universität in Jerusalem 1995/96, begleitet von Dr. Michael Krupp. Literarisch und im persönlichen Gespräch gelernt habe ich darüber hinaus vor allem von Prof. Dr. Günter Stemberger (Wien) und von Prof. Dr. Axel Denecke (Hannover). Elke Morlok (Jerusalem/Stuttgart) half bei der Recherche in den Bibliotheken Jerusalems. Die Bibliothek der Jüdischen Hochschule in Heidelberg hat meine Literaturbeschaffung in Deutschland unterstützt, ebenso die Fernleihstelle der Universität Erlangen-Nürnberg, die sich – in den meisten Fällen erfolgreich – auf die Suche nach teilweise recht entlegener Literatur machte. Die Kollegen in Erlangen – exemplarisch erwähne ich nur Dr. Tanja Gojny, PD Dr. Matthias Freudenberg, Dr. Stefan Heuser, Dr. Daniel Meier und Dr. Annette von Stockhausen – und viele Freundinnen und Freunde standen als kritische und humorvolle Gesprächspartner sowie willige Korrekturleser zur Verfügung. Pfr. Sándor Percze erwähne ich beispielhaft für all die, mit denen ich während der Arbeit am Manuskript in regem homiletischem Austausch stand. Frau Eleonore Kastl, unsere Sekretärin am Institut, verstand es, zu ermutigen und voran zu treiben und stand immer mit einer helfenden Hand zur Seite. Meine Frau Claudia Franke-Deeg ertrug und unterstützte die intensive Forschungsarbeit ihres Ehemannes, sorgte für dringend notwendige Unterbrechungen und verhalf dazu, dass am Ende ein lesbarer Text entstand. Von meiner weiteren Familie habe ich alle nur wünschenswerte Unterstützung erfahren. Für die Aufnahme in die Reihe der „Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie“ danke ich den Herausgebern Prof. Dr. Eberhard Hauschildt und Prof. Dr. Anne M. Steinmeier, für die reibungslose Betreuung und jederzeit gewährte Unterstützung Lektor Jörg Persch vom Verlag 18 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

Vandenhoeck & Ruprecht sowie Frau Tina Bruns und Herrn Christoph Spill. Mit hohem Engagement und großer Verlässlichkeit erstellte Frau Andrea Siebert (Neuendettelsau) eine druckfertige Vorlage des umfangreichen Werkes und fertigte das Personenregister an. Ohne Druckkostenzuschüsse hätte ich die Arbeit in dieser Form nicht vorlegen können. Besonders freue ich mich, dass der Zentralrat der Juden in Deutschland (KdöR) die Arbeit mit einem großzügigen Zuschuss gefördert hat. Darüber hinaus danke ich an erster Stelle der Otto-von-Harling-Stiftung des Zentralrats für die Begegnung von Christen und Juden (Hannover) sowie dem Verein für die Begegnung von Christen und Juden in Bayern (BCJ.Bayern e.V.) für ihre Unterstützung. Weitere namhafte Zuschüsse, für die ich sehr dankbar bin, haben beigetragen: die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche (VELKD) sowie die Dorothea und Dr. Dr. Richard-Zantner-Busch-Stiftung (Erlangen). Es ist nicht an uns, die Arbeit zu vollenden, meinte Rabbi Tarfon. In der Hoffnung, dass viele andere mitdenken und weiterarbeiten, lege ich dieses Buch vor. ‫תושלבע‬

Erlangen, im Februar 2006

Alexander Deeg

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1. Predigt und Derascha – Einleitung und Wegbeschreibung

Predigt und Derascha – unter dieser Überschrift steht die vorliegende Arbeit. Sie verbindet in ihrem Titel das seit dem Mittelalter für die christliche gottesdienstliche Rede gebräuchliche Wort der Predigt (praedicatio)1 mit dem seit rabbinischer Zeit verwendeten Begriff für den Vortrag im synagogalen Gottesdienst und Lehrhaus: Derascha (‫)דרשה‬2. Ziel ist ein christlichjüdischer Dialog in homiletischer Perspektive. Natürlich kann dieser nicht umfassend geführt werden. Der Untertitel Homiletische Textlektüre im Dialog mit dem Judentum verweist auf den Fokus meiner Untersuchungen: Die Frage der homiletischen Hermeneutik, d.h. die Frage nach dem Umgang mit dem biblischen Text auf dem Weg zur Predigt und in der Predigt selbst, wird im Mittelpunkt stehen.3 Diese Frage scheint, wie ich zunächst darlegen werde, in der christlich-homiletischen Diskussion der vergangenen Jahre neue Aktualität gewonnen zu haben (1.1). Gleichzeitig fehlt bisher eine Erarbeitung, die versucht, durch eine Wahrnehmung jüdischer „Predigt“ und jüdischer homiletischer Hermeneutik Anregungen für die Frage nach Text und Predigt zu gewinnen. An dieser Stelle verbindet sich die homiletische Ausgangsfrage daher mit dem Bereich des christlich-jüdischen Dialogs, in dem bisher generell nur wenige Untersuchungen vorliegen, die sich mit jüdischer „Predigt“ und Homiletik beschäftigen. Diese Forschungslücke im christlich-jüdischen Dialog beschreibe ich im zweiten Abschnitt dieses Kapitels (1.2). Wie sich die konstatierte Forschungslücke mit der Frage der homiletischen Hermeneutik im methodischen Rahmen einer Vergleichenden Homiletik verbindet und welchen Weg diese Erarbeitung daher geht, führt der abschließende Abschnitt kurz vor Augen (1.3).

1

Vgl. ZERFASS: Art. Predigt, 525. Vgl. unten Kap. 3. 3 In diesem weiten Sinn verwende ich den Begriff der „Homiletischen Textlektüre“. Er nimmt den gesamten Predigtprozess von der Vorbereitung bis zur gehaltenen und wirkenden Predigt unter der Perspektive des Umgangs mit dem Text in den Blick und beschränkt sich nicht auf einen methodischen Schritt innerhalb der Predigtvorbereitung – wie dies meist für den Begriff der Homiletischen Schriftauslegung gilt (vgl. etwa die Darstellung des „Problems der homiletischen oder praktischen Bibelauslegung“ bei MÜLLER, H. M.: Homiletik, 213–217, Zitat: 213 [Hervorhebung im Original], und ausführlicher zum Begriff und seiner Geschichte NICOL: Im Ereignis den Text entdecken, bes. 270–276). 2

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1.1 Eine Wiederentdeckung: Die Frage nach dem Text in der Predigt Als man in der Homiletik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Hörerinnen und Hörer neu würdigte und gleichzeitig auch die Predigerinnen und Prediger mit ihren psychologischen Verfasstheiten und kommunikativen sowie rhetorischen Fähigkeiten neu entdeckte, geriet der Text als drittes Moment des seit Schleiermacher etablierten homiletischen Dreiecks nicht selten an den Rand homiletischer Aufmerksamkeit. Dies zeigt sich exemplarisch, wenn Gert Otto 1976 den Predigttext lediglich „als Material der Predigt“ bezeichnet4 oder der späte Wolfgang Trillhaas den Text 1974 ein „Sprachgitter“ nennt, durch das der Prediger „hindurchgreifen“ müsse, um zu seiner gegenwärtig zu kommunizierenden Predigtaussage zu gelangen.5 Und es zeigt sich umgekehrt in Rudolf Bohrens Homiletik (zuerst 1971), die den Versuch unternimmt gegenzusteuern. Im Nachwort zur vierten Auflage der „Predigtlehre“ schreibt Bohren 1979: „Der Prediger muß neu lernen, die Bibel zu lesen. Würde ich die Predigtlehre heute schreiben, möchte ich der Bedeutung der Schrift und des Textes besondere Bedeutung zumessen […]“6. Inzwischen scheint Bohrens Wegweisung gehört worden zu sein. Der Text gewinnt neue homiletische Relevanz, wie sich überhaupt das Lesen neuer theologischer Würdigung erfreut.7 Dies lässt sich exemplarisch an der Veränderung eines in seiner Wirkung bedeutsamen und viel zitierten Aufsatzes von Manfred Josuttis aufweisen: 1983 erschien er erstmals unter dem Titel „Die Bibel als Basis der Predigt“; 2002 wurde er unter der neuen Überschrift „Die Textpredigt“ charakteristisch verändert wieder abgedruckt. Bereits die Änderung des Titels weist auf die neue Ausrichtung: Josuttis versteht die Bibel nicht mehr nur „als Basis der Predigt“, als bloßen Ausgangspunkt dessen, was dann in der Predigt kommuniziert werde.8 Predigt wird bereits von der Überschrift her grundlegend als „Textpredigt“ bestimmt. Diese veränderte Pointe des Aufsatzes zeigt sich dann im neu hinzugefügten sechsten Abschnitt, der von der „Bedeutung der Lesung des Textes“ für die Predigt handelt.9 Der Spitzensatz dieses Abschnitts lautet: 4

Vgl. OTTO: Predigt als Rede, 96–98, Zitat: 97; ders.: Rhetorisch predigen, 17–19; vgl. kritisch zu dieser Äußerung SCHRÖER: Von der Genetiv-Theologie zur Adverb-Homiletik, 151. 5 TRILLHAAS: Einführung in die Predigtlehre, 35; vgl. dazu unten Kap. 9.1, 258f. 6 BOHREN: Predigtlehre, 554–562, Zitat: 558 [Hervorhebung im Original]; vgl. dann auch Horst Hirschlers Plädoyer für die biblische Predigt (HIRSCHLER: biblisch predigen). 7 Vgl. z.B. HUIZING: Homo legens; ders.: Der erlesene Mensch; KÖRTNER: Der inspirierte Leser; ders.: Theologie des Wortes Gottes. 8 Vgl. die fünf Funktionen des biblischen Textes für die Predigt (normativ, autoritativ, kreativ, kommunikativ, identitätsstiftend), die Josuttis in der ursprünglichen Fassung seines Aufsatzes und in den ersten fünf Abschnitten seiner Neufassung benennt (vgl. JOSUTTIS: Die Textpredigt, 20–28). 9 Vgl. JOSUTTIS: Die Textpredigt, 29f.

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„Ein Bibeltext bringt sich durch mein leibliches Dasein [das leibliche Dasein des Lesers, AD] zur Sprache. Ich selbst soll nur darauf achten, dass ich ihm mit meinen Wünschen und Ängsten, mit meinen Einsichten und Absichten nicht zu sehr im Weg stehe. So ist der Text nicht als Vorwort für die eigene Predigt, sondern die Predigt als Nachwort zur Lesung der Heiligen Schrift zu intonieren.“10

Die Subjektivität des Predigers habe sich dem heiligen Text11 unterzuordnen, besser: sich von ihm her neu konstituieren zu lassen. Der Prozess der Predigt wird von Josuttis asketisch reduziert auf das „Nachwort zur Lesung“.12 Die neuerliche Wende zur Betonung der konstitutiven Bedeutung des Textes für die Predigt wird auch daran ersichtlich, dass seit 1999 allein im deutschsprachigen Bereich mit den Werken von Hans-Ulrich Gehring, Georg Lämmlin und Jan Peter Grevel drei Monographien erschienen, die sich in unterschiedlicher Weise der homiletischen Texthermeneutik widmen.13 Insgesamt zeigen diese Monographien, dass homiletische Texthermeneutik immer wieder vor drei grundlegenden Herausforderungen steht, die ich im Folgenden kurz darstelle und auf leitende Fragestellungen zuspitze.

1.1.1 Text und Predigt – drei homiletische Herausforderungen (1) Die Herausforderung zwischen Text und Wort: Auf ein basales Problem homiletischer Hermeneutik hat Georg Lämmlin schon durch den Titel seiner Monographie neu aufmerksam gemacht: „Die Lust am Wort und der Widerstand der Schrift“. Er geht vom „Leiden am Textbezug“ der Predigt aus, das bei vielen Predigerinnen und Predigern feststellbar sei.14 Predigende würden in dem Bibeltext nach dem „sinnvermittelnden Wort“15 suchen, dabei aber immer neu den Widerstand erleben, den der Text bietet. Lämmlin weist jede 10

JOSUTTIS: Die Textpredigt, 30. Vgl. zu Josuttis’ Phänomenologie des heiligen und heilvollen Wortes JOSUTTIS: Die Einführung in das Leben, 102–118. 12 Vgl. zu dem veränderten homiletisch-hermeneutischen Ansatz auch JOSUTTIS: Offene Geheimnisse. Ein homiletischer Essay. – Etwas verwunderlich erscheint es mir angesichts dieser grundlegenden Neuakzentuierung, dass Josuttis – abgesehen von der Veränderung des Titels, der Hinzufügung eines zusätzlichen Abschnitts und lediglich einer marginalen Änderung (vgl. JOSUTTIS: Die Textpredigt, 24 Anm. 22) – seinen Aufsatz von 1983 im Jahr 2002 nochmals unverändert erscheinen lässt. 13 Vgl. GEHRING: Schriftprinzip und Rezeptionsästhetik; LÄMMLIN: Die Lust am Wort; GREVEL: Die Predigt und ihr Text; vgl. bereits 1998 KONRAD: Hermeneutik. Aus der Fülle der neueren Aufsätze zur Thematik erwähne ich nur exemplarisch BARTLETT: Preaching as Interpretation; HOET: De Bijbel; KÜHN: Solo verbo; LIENHARD: Was heißt biblisch predigen; NICOL: Fremde Botschaft Bibel. 14 LÄMMLIN: Die Lust am Wort, III. 15 LÄMMLIN: Die Lust am Wort, 12. 11

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vereinfachende Lösung dieses Problems durch ein lineares Modell zurück, das versuchen könnte, so „vom Text zur Predigt“ zu gelangen, dass „ein ‚Wort‘ des Textes als ein unmittelbar und objektiv gegebenes“ ermittelt und predigtpraktisch dann nur noch „in eigene Worte“ des Predigers oder der Predigerin übersetzt wird.16 Wie aber kommt die Predigt dann vom Text zu ihrem Wort? Es lohnt sich m.E., diese homiletische Frage in einen allgemeineren hermeneutischen Horizont einzuzeichnen. Einen solchen eröffnet pointiert Jochen Hörisch in seinem Essay „Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik“ (zuerst 1988).17 Für Hörisch setzt abendländische Hermeneutik mit der sokratischen Frage ti. evstin ein, die nach dem suche, was hinter dem Gesagten eigentlich gemeint sei.18 Bereits durch Paulus habe diese Hermeneutik auch im Christentum Einzug gehalten. Verstehen der Schrift werde bei Paulus imperial auf die eine, nämlich christologische Bedeutung reduziert und gebe nun vor, „die eigentliche Intention […] freizulegen“19. Hörisch verweist auf die hermeneutisch entscheidenden Sätze aus 2Kor 3 (vor allem V.6b: „Denn der Buchstabe (gra,mma) tötet, aber der Geist (pneu/ma) macht lebendig“) und zeichnet Paulus ein in eine lange Geschichte abendländischer Hermeneutik, die versucht habe, den „Geist“ zu erfassen und dadurch den „Buchstaben“ zu überwinden, d.h. sich durch Hermeneutik letztlich der Herausforderung der Texte zu entledigen.20 Sicherlich überzeichnet die plakative Hermeneutik-Kritik Hörischs; dennoch aber verdient sie m.E. gerade in homiletischem Kontext Beachtung: Welche Rolle spielt, so lässt sich fragen, der Text der Bibel tatsächlich für das Wort der Predigt? Wiederholt die Predigt nur das Bekannte, die immer 16 LÄMMLIN: Die Lust am Wort, 67. Vgl. zu einer ähnlichen Beschreibung des homiletischhermeneutischen Problems auch STEINMEIER: Schöpfungsräume, 97–129, bes. 127f [Der Widerstand des Textes]. 17 Der Begriff „Wut des Verstehens“ stammt ursprünglich von Schleiermacher; vgl. dazu auch JOSUTTIS: Über die „Wut des Verstehens“. 18 Vgl. HÖRISCH: Die Wut des Verstehens, 26. 19 HÖRISCH: Die Wut des Verstehens, 39. 20 Hörisch steht mit seiner Hermeneutik-Kritik keineswegs allein. Besonders wäre an Jacques Derrida, den französischen Dekonstruktionisten, und die breite Derrida-Rezeption in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erinnern. Derrida sprach kritisch von der langen Geschichte des abendländischen „Logozentrismus“, der sich im Rekurs auf den „Logos“ des herausfordernden Widerstands der Schrift entzogen habe (vgl. zum Begriff des „Logozentrismus“ DERRIDA: Grammatologie, 11f u.ö., und dazu insgesamt CULLER: Dekonstruktion, sowie unten Kap. 1.1.1, 28f und Kap. 13.4.1, 454 Anm. 334). Vgl. ähnlich auch Odo Marquard, der theologische Hermeneutik als „singularisierende Hermeneutik“ bezeichnet und sie von einer „pluralisierenden Hermeneutik“ abgrenzt (MARQUARD: Frage nach der Frage, 129 [Hervorhebungen im Original]). Letztere spüre „in der einen und selben buchstäblichen Gestalt viele Sinnmöglichkeiten und verschiedenartigsten Geist“ auf. Dagegen sei theologische Hermeneutik genötigt, „in den vielen biblischen Geschichten stets die eine Geschichte, die nottut, die Erlösungsgeschichte wieder[zu]finden und also stets […] im vielfältigen ‚Buchstaben‘ der Schrift den einen einzigen ‚Geist‘“.

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gleiche, begrifflich auf den Punkt gebrachte „Frohe Botschaft“ als das eigentlich in den Texten der Bibel Gemeinte, sodass auch für die Predigenden gilt, was Hörisch als Problem der Hermeneutiker beschreibt: dass sie letztlich „alle dasselbe sagen“21? Bereits Rudolf Bultmann betonte: „Die Tatsache, daß die Predigt Schriftauslegung ist, bietet noch keine Garantie dafür, daß sie nicht doch allgemeine Wahrheiten vorträgt, […] eine sog. christliche Weltanschauung oder christliche Lehren, Sätze einer christlichen Dogmatik.“22 Wie also – so bleibt als Grundfrage homiletischer Hermeneutik zu formulieren – kann in der Predigtvorbereitung und in der Predigtrede so mit dem Text umgegangen werden, dass dieser nicht zum Sprungbrett für die Ermittlung und wiederholte Weitergabe „allgemeine[r]“ und längst bekannter „Wahrheiten“ wird? Wie kann homiletische Hermeneutik die von Hörisch überpointiert herausgearbeitete Gefahr abendländischer Hermeneutik vermeiden, zu schnell vom „Buchstaben“ weg zum „Geist“ des verstandenen Textes zu gelangen? Und wie kann dies geschehen, ohne gleichzeitig jede Hermeneutik als Kunstlehre des Verstehens völlig aufzugeben und lediglich „Buchstaben“ zu wiederholen? (2) Die Herausforderung zwischen Wort Gottes und Predigt: „So kompt der glaube aus der predigt/Das predigen aber durch das wort Gottes“ – so übersetzt Martin Luther Röm 10,1723 und gibt damit den griechischen Text („a;ra h` pi,stij evx avkoh/j( h` de. avkoh. dia. r`h,matoj Cristou/“; vgl. Vulgata: „ergo fides ex auditu/auditus autem per verbum Christi“) sehr frei, aber wirkungsgeschichtlich bedeutsam wieder. In dieser Übersetzung Luthers lässt sich eine Theologie der Predigt greifen, die Predigt emphatisch als Verkündigung des Wortes Gottes versteht. Die bekannte Formel der „Confessio Helvetica Posterior“ (1562) „Praedicatio verbi Dei est verbum Dei“24 geht noch weiter, indem sie Predigtwort und Gotteswort identifiziert und mit ihrem statisch-definitorischen „est“ noch einmal deutlich von der Dynamik des Römerbriefs (evx; dia,) abweicht. Die Predigt als das Wort Gottes – diese Formel bleibt in der Perspektive dogmatischer Predigtbetrachtung unverzichtbar,25 andererseits aber droht ständige pastorale Überforderung, wenn sich Predigerinnen und Prediger 21

Vgl. HÖRISCH: Die Wut des Verstehens, 61–70 [Schleiermachers Hermeneutik oder: Warum die Größten alle dasselbe sagen]. 22 BULTMANN: Allgemeine Wahrheiten, 167; vgl. ähnlich MISKOTTE: Zur biblischen Hermeneutik, 15–17. 23 Vgl. LUTHER: Biblia Germanica (1545). 24 Vgl. zu dieser Formel und ihrem ursprünglichen Kontext LÄMMLIN: Die Lust am Wort, 3 Anm. 10. 25 Vgl. z.B. HERZOG: Predigt als „ministerium Verbi“, bes. 118–122; KARLE: „Praedicatio verbi dei […]“; LÄMMLIN: Die Lust am Wort, bes. 2–4.

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die Frage stellen, wie eigenes Wort in seiner Schwachheit Gottes Wort „sein“ („est“!) soll bzw. werden kann.26 Pastoraler Hochmut kann ebenso die Konsequenz dergestalt empfundener Überforderung sein wie pastorale Trägheit oder Lüge.27 Andererseits bieten sich problematische homiletische Sicherungsstrategien als Flucht aus dieser Überforderung an. Ich vereinfache und benenne fünf denkbare, in der homiletischen Praxis häufig miteinander verknüpfte Strategien:28 • die dogmatische Strategie: Predigerin und Prediger bewegen sich weg vom Risiko eigener Aussagen in die unangreifbare Region dogmatischer Richtigkeit, in der die frohe Botschaft des Evangeliums begrifflich auf den Punkt gebracht wird. • die historisch-kritische Strategie: Ein historisch-kritisch zu erhebender Sinn des Bibeltextes wird möglichst genau wiedergegeben, um damit das der intentio auctoris oder dem Text Gemäße zu sagen. Der Prediger verbirgt sich in seiner Verantwortung für die Predigtrede hinter der Autorität des Fachwissenschaftlers oder des rekonstruierten Autors des biblischen Textes. • die humanorientierte Strategie: Die Predigt wird in ihrem theologischen Anspruch ermäßigt, und die Aufgabe des Predigers wird darauf reduziert, Richtiges vom Menschen und seiner Situation aus der Perspektive des christlichen Glaubens zu sagen, dessen zentrale Aussagen sich auch durch den Predigttext bestätigen lassen. • die (rezeptions-)ästhetische Strategie: Die Predigtrede wird bewusst offen gehalten, weil Rezeptionsphänomene in ihrer Unterschiedlichkeit ernst genommen werden sollen. Im Extrem wird dann aus dem, zuerst von Gerhard Marcel Martin in Anlehnung an Umberto Eco in die Diskussion gebrachten, offenen Kunstwerk Predigt ein beliebiges Kunstwerk.29 • die liturgische Strategie: Ausgehend von Manfred Josuttis’ neueren Überlegungen könnte die Predigtrede in ihrer Bedeutung gegenüber der gottesdienstlichen Lesung des Textes radikal relativiert werden.30 Die Verkündigung des Wortes Gottes würde dann mit dem in liturgischem

26 Vgl. zur Fragestellung auch KARLE: „Praedicatio verbi dei […]“, bes. 140f; KÜHN: Solo verbo, bes. 29. 27 Vgl. zu den Begriffen „Hochmut“, „Trägheit“ und „Lüge“ BARTH: KD IV,1–3 (hier in hamartiologischem Kontext). 28 Ich lehne mich hier an Georg Lämmlins Rede von „homiletischen Sicherungsstrategie[n]“ an (LÄMMLIN: Die Lust am Wort, 30 und 30 Anm. 86). Grob könnten anhand der fünf von mir im Folgenden genannten Strategien leitende Entwicklungen der homiletischen Diskussion seit der Mitte des 20. Jahrhunderts erkannt werden. 29 Vgl. MARTIN: Predigt als „offenes Kunstwerk“; GARHAMMER: Predigt. 30 Vgl. JOSUTTIS: Die Textpredigt, 29f.

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Kontext verlesenen Text verknüpft; die Predigt erschiene demgegenüber nur noch als „Nachklang“. Welchen Weg gibt es, so bleibt zu fragen, dem theologischen Anspruch der Predigt jenseits homiletischer Sicherungsstrategien und pastoraler Überforderung gerecht zu werden und welche Rolle spielt dabei der biblische Text? (3) Die Herausforderung angesichts der Krise der exegetisch-homiletischen Paarbeziehung: Gerd Theißen sah das homiletisch-exegetische Paar in einem im Jahr 2000 erschienenen Aufsatz in einer ernsten Beziehungskrise. Gleichzeitig aber könnten, so Theißen, beide Partner nicht voneinander lassen und blieben daher trotz aller Krisen wechselseitig aufeinander angewiesen.31 Die von Theißen neu beschriebene exegetisch-homiletische Krise hat weit zurückreichende Wurzeln und beginnt letztlich mit der Trennung dogmatischer und historischer Methodik in der Theologie des 18. Jahrhunderts, in deren Folge Johann Philipp Gabler die biblische Theologie tendenziell der historischen Methodik zuordnete.32 Es kam zu einer für die Homiletik folgenreichen historisch-kritischen Dekanonisierung, indem aus den Texten des Kanons der Heiligen Schrift die historischen Texte der einzelnen biblischen Bücher wurden.33 Dieser Satz allerdings darf nicht romantisierend gelesen werden und kommt daher ohne seine Ergänzung durch die Umkehrung der Leserichtung nicht aus: Die Texte des Kanons wurden – spätestens seit der Renaissance – mehr und mehr als alte Texte empfunden,34 und die neuen Methoden der historisch-kritischen Untersuchung halfen, den erfahrenen garstigen Graben zu überbrücken. Beide Lesarten des Phänomens sind möglich.35 In jedem Fall aber wird der Kanon in der conditio moderna zum Problem, das innerhalb der Theologie die hermeneutische Frage viru-

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Vgl. THEISSEN: Plaidoyer; ders.: Exegese und Homiletik. Vgl. MERK: Art. Gabler; vgl. zum geistesgeschichtlichen Umbruch im 18. Jahrhundert und seinen hermeneutischen Konsequenzen auch FOUCAULT: Die Ordnung der Dinge, bes. 12f.24– 26.74–77.360f. 33 Vgl. WISCHMEYER: Hermeneutik, 76. Vgl. auch LÄMMLIN: Die Lust am Wort, 58f: „Die historisierende Exegese bringt den Text in genau diejenige Position, in der seine gegenwärtige Relevanz verschwunden ist, indem sie ihn zum historischen (Quellen)Text macht.“ 34 Vgl. REINMUTH: Hermeneutik des Neuen Testaments, 9. Marianne Grohmann spricht zu Recht von einer „Krise des Schriftprinzips“ in der protestantischen Theologie, datiert diese Krise m.E. allerdings zu spät, wenn sie meint, sie sei seit dem 19. Jahrhundert virulent, vgl. GROHMANN: Aneignung der Schrift, 10–17. 35 Die beiden Leserichtungen entsprechen den beiden Aspekten der Hermeneutik, die Odo Marquard unterscheidet und „distanzierende Hermeneutik“ (MARQUARD: Frage nach der Frage, 122– 124, Zitat: 124 [im Original hervorgehoben]) bzw. „adaptierende Hermeneutik“ nennt (124–127, Zitat: 126 [im Original hervorgehoben]). 32

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lent macht und die Homiletik vor die Aufgabe stellt, zu klären, welche Funktion der Bibeltext für die Predigt (dann noch) haben könne.36 Rudolf Bohrens polemischer Aufsatz „Die Krise der Predigt als Frage an die Exegese“ nimmt diese moderne Problemlage 1962 wieder auf – in einer Zeit, als die (vor allem neutestamentliche) Exegese ihren Weg zur Leitwissenschaft für weitere Disziplinen der Theologie angetreten hatte. Bohren warnt vor zwei typisch modernen Fehlkonzeptionen des Textes in der Predigt: Die „orthodoxe Predigt“37 rekurriere auf den alten Text, behaupte diesen als bedeutsam und vergesse so „die Gegenwart und Zukunft des Lebendigen im Wort“38. Die „modern-sein-wollende Predigt“39 hingegen distanziere sich vom alten Text und halte ihn für tendenziell „anrüchig, dem modernen Menschen nicht mehr zumutbar“40. Zwischen rein musealer Betrachtung und mehr oder weniger behutsamer Einmottung des Textes – so lässt sich die moderne Gefahr im Umgang mit dem alten Text beschreiben. Bohren attackierte auf diesem Hintergrund vor allem die neutestamentliche Exegese, die den Text zuerst „historisch-kritisch beerdig[e]“ und dann das Wunder seiner neuerlichen Auferweckung durch existentiale Interpretation erwarte.41 Bohrens Polemik gehört hinein in die moderne Konfrontation des exegetisch-homiletischen Paares. Inzwischen allerdings prägt die schillernde „condition postmoderne“42 die hermeneutische Diskussion. Mit ihr scheint einerseits eine erneute Verschärfung des hermeneutischen Problems für die Theologie und ganz besonders auch für die Homiletik verbunden, da nun nach der modernen, historisch-kritischen Dekanonisierung eine zweite, nun dekonstruktivistische Dekanonisierung auf den Plan tritt – am deutlichsten bei Jacques Derrida, der emphatisch das „Ende des Buches“ ausruft, um so die Energie der Schrift neu zu entdecken.43 Zugleich mit dem „Buch“ verab-

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Vgl. dazu etwa SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 222–251. BOHREN: Die Krise der Predigt, 106. 38 BOHREN: Die Krise der Predigt, 106. 39 BOHREN: Die Krise der Predigt, 106. 40 BOHREN: Die Krise der Predigt, 106. 41 BOHREN: Die Krise der Predigt, 93. Gerade umgekehrt sah Gerhard Ebeling die historischkritische Methode als die entscheidende hermeneutische Voraussetzung jeder Predigt, da sie es ermögliche, „Historizität“ und „Offenbarungscharakter“ der biblischen Texte zugleich im Blick zu behalten (vgl. EBELING: Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode, Zitate: 15; vgl. zu Ebeling unten 11.1.2.2, 311 Anm. 105; vgl. ähnlich BARTH, H.-M.: „Nimm und lies!“, bes. 40f). 42 Vgl. zum Begriff LYOTARD: La condition postmoderne, und zur Diskussion des Begriffs z.B. KOSLOWSKI: Moderne; WELSCH: Unsere postmoderne Moderne, bes. 9–85. Vgl. zu einem Versuch der homiletischen Rezeption der conditio postmoderna GRÖZINGER: Die Predigt der Gnade; ALLEN: Preaching and Postmodernism; HUGHES/KYSAR: Preaching Doctrine, 1–19, bes. 8f. 43 Vgl. DERRIDA: Grammatologie, 16–48, bes. 35: „Die Idee des Buches, die immer auf eine natürliche Totalität verweist, ist dem Sinn der Schrift zutiefst fremd. Sie schirmt die Theologie und 37

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schiedet Derrida jedes transzendentale Signifikat und mit ihm jede auf Sinn oder Wahrheit zielende Textlektüre. Das unendliche Spiel der Signifikanten weist in die Richtung eines hermeneutischen „anything goes“ (Paul Feyerabend),44 mit dem sich weder theologische Reflexion noch kirchliche Schriftlektüre abfinden kann. Andererseits aber bedeutet die nach-moderne Situation auch eine nicht unerhebliche Chance für das alte exegetisch-homiletische Paar.45 Die Dominanz einer den („eigentlichen“) Sinn des Textes methodisch entschlüsselnden historisch-kritisch arbeitenden Exegese scheint zerbrochen – und mit ihr jeder Schematismus einer Aufgabenverteilung zwischen Exegese und Homiletik, bei der die Exegese den Inhalt vorgibt und die Homiletik diesen formal appliziert. In der Exegese zeigen sich nach-kritische Wege eines Umgangs mit der Schrift, die sich von der Kritik nicht verabschieden, sondern – im Sinne von Barths Vorwort zur zweiten Auflage des „Römerbriefs“ – kritischer als die Kritik sind.46 Gerd Theißen verweist auf die Intertextualität, den „canonical approach“ sowie auf rezeptionsorientierte Wege der Exegese.47 In diesen sieht er die Chance für ein neues exegetischhomiletisches Gespräch, in dem die Exegese die „Liebe zum Text fördert“ und sich mit der Homiletik in einer gemeinsamen Anerkennung des „Primat[es] des Textes“ trifft.48 Allerdings bleibt zu fragen, ob sich diese neue Wechselseitigkeit bereits auf die exegetische und homiletische Praxis auswirkt oder – wie Gottfried Bitter aufgrund einer Analyse von Predigtzeitschriften des Jahrgangs 1998/99 konstatiert – die „Schere zwischen biblischer Wissenschaft und biblischer Verkündigung“ noch immer existiert.49

den Logozentrismus enzyklopädisch gegen den sprengenden Einbruch der Schrift ab, gegen ihre aphoristische Energie und […] gegen die Differenz im allgemeinen.“ 44 Vgl. FEYERABEND: Wider den Methodenzwang, 21–32, Zitat: 21 u.ö. 45 Vgl. auch unten Kap. 14.2.2, 496 Anm. 92. 46 Vgl. BARTH: Der Römerbrief, XVIII, und TROWITZSCH: „Nachkritische Schriftauslegung“. Vgl. zur Bedeutung postmodernen Fragens für die Exegese z.B. ADAM: What Is Postmodern Biblical Criticism; AICHELE/PHILLIPS: Introduction; BRUEGGEMANN: Biblical Theology; BURNETT: Postmodern Biblical Exegesis; GREENWOOD: Poststructuralism; PHILLIPS: Exegesis as a Critical Praxis; VOELZ: Multiple Signs; WATSON: Introduction. Vgl. exemplarisch auch die Aufnahme postmoderner Fragestellungen in neuere neutestamentliche Hermeneutiken (z.B. REINMUTH: Hermeneutik, bes. 81–85.91–111; WISCHMEYER: Hermeneutik, bes. 159–211). 47 Vgl. THEISSEN: Exegese und Homiletik, 60–66; vgl. ähnlich auch BARTLETT: Preaching as Interpretation, 154–156; UTZSCHNEIDER: Die „Theologische Ästhetik“. 48 THEISSEN: Exegese und Homiletik, Zitate: 67.66. Nur hinweisen kann ich an dieser Stelle darauf, dass neue exegetische Einsichten in den USA wesentlich für die Entwicklung einer veränderten Homiletik waren. Die „New Homiletic“ verdankte sich auch einer erneuerten Exegese und Hermeneutik (vgl. NICOL: To Make Things Happen; ders.: Homiletik, 1051f; ders.: Einander ins Bild setzen, 21–28; FARRIS: Limping Away with a Blessing; kritischer SANDERS: Biblical Criticism, 10–13). 49 BITTER: Bibel und Verkündigung, 300.

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1.1.2 Lesen-Lernen als homiletische Aufgabe Mit der knappen Darstellung der drei Herausforderungen scheint mir der Hintergrund für die gegenwärtige Diskussion der Frage nach dem Text in der Predigt grob ausgeleuchtet. Auf je unterschiedliche Art und Weise bewegen sich die bereits erwähnten neueren Monographien von Hans-Ulrich Gehring, Jan Peter Grevel und Georg Lämmlin innerhalb dieser Fragebereiche und weisen m.E. insgesamt darauf hin, dass es für die Homiletik gegenwärtig vor allem auch darum geht, das Lesen der biblischen Texte neu zu lernen. Hans-Ulrich Gehring profiliert dieses geforderte neue Lesen in rezeptionsästhetischer Hinsicht und zeigt überzeugend, wie sich eine von Robert Jauß inspirierte Rezeptionsästhetik mit dem protestantischen Schriftprinzip verbinden lässt. Eine Einkehr im Wort eröffne „Wortgenuß“ und fordere die Lesenden (und Hörenden) zu zahlreichen unterschiedlichen Antworten heraus.50 Jan Peter Grevel schließt seine Überlegungen zur homiletischen Hermeneutik mit einem „Plädoyer für das Lesen“ ab und wirbt darin – leider nur in wenigen Andeutungen – für ein „ehrfürchtig[es], kritisch[es] und phantasievoll[es] Lesen“ des Textes durch den Prediger.51 Es gehe darum, so zu lesen, dass das „wirklichkeitserschließende Potential biblischer Texte“ entdeckt werden könne.52 Den weitreichendsten Versuch einer hermeneutischen Neuorientierung der Homiletik unternimmt Georg Lämmlin, der nicht nur das gesamte Predigtgeschehen – einschließlich der Predigtkommunikation – von der Lektüre der biblischen Texte her bestimmt, sondern für die Homiletik generell eine lektorale Epistemologie vorstellt und durchführt:53 Durch eine homiletische Relektüre von sieben Psalmen entwickelt Lämmlin Perspektiven für die Frage nach dem Text in der Predigt und die religiöse Praxis des Lesens (Ps 1), die Predigtsprache in Bezug auf und im Unterschied zur Sprache der Welt (Ps 12), die Konstitution der Person des Predigers/der Predigerin (Ps 51), die Gegenwart des Hörers (Ps 102), die Frage nach der durch Gottes Gegenwart bestimmten Zeit und ihrer Ansage in der Predigt (Ps 90), die Predigt vom Neuen jenseits des Verhaftetseins in leeren Appellen (Ps 82) sowie die Eschatologie der Predigt als Verwandlung der Sprache in den kosmischen Jubel hinein (Ps 148).54 Grundlegend stützt sich Lämmlin auf Wolfgang Isers Modell eines Lesens, das „Texte als Basis und Referenz 50

Vgl. GEHRING: Schriftprinzip und Rezeptionsästhetik, bes. 160–177. Vgl. GREVEL: Die Predigt und ihr Text, 263f, Zitate: 263.264. 52 GREVEL: Die Predigt und ihr Text, 176. 53 Vgl. LÄMMLIN: Die Lust am Wort, 96: Die „Lektüre des Textes“ stellt „den umfassenden Rahmen für die Reflexion der Predigtarbeit dar […]“. 54 Vgl. LÄMMLIN: Die Lust am Wort, 156–290. 51

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eines Kommunikationszusammenhangs“ begreift, „in dem Welt- und Selbstauslegung in Form von Textauslegung erfolgt“55. Auf dieser Grundlage konzipiert Lämmlin ein homiletisches Lesen, das die Widerständigkeit des Textes nicht leichtfertig überspringt, sondern Predigende und Hörende „in die Interaktion mit dem Text“ führt.56 Lämmlin verknüpft diese radikallektorale Bestimmung der Homiletik mit Überlegungen zur Bedeutung der Schrift bei Schleiermacher, Barth und Luther und ordnet sie ausführlich in die homiletische Diskussion der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein.57 Gegenüber dieser dogmatisch-theologiegeschichtlichen und homiletischen Verortung fällt allerdings das Predigt-Schweigen in Lämmlins Entwurf auf. Wie soll eine Predigt gestaltet werden, die eine „‚Lektüre‘ der Hörer“ anregt und bei der „die Lust am Wort auf den Widerstand der Schrift bezogen“58 bleibt? Wie kann die Predigt insgesamt zum Lesevorgang und wie können Predigende zu „Moderator[en] der Schrift“59 werden? An dieser Stelle gilt es m.E. weiterzudenken, und ich frage, ob eine Wahrnehmung jüdischer „Predigt“ und „Homiletik“ nicht einen wesentlichen Schritt weiterführen könnte. Lämmlins homiletische Hermeneutik steht – aufgrund ihres Bezugs auf die Lektüre der Psalmen – implizit in einem permanenten Dialog mit jüdischer Hermeneutik. Jüdische „Homiletik“ und jüdische „Predigt“ kommen bei Lämmlin allerdings nicht vor. Dabei läge ein Blick darauf, wie das Judentum in seinen gottesdienstlichen Vorträgen mit den Texten des Tanach umging und umgeht, nahe, da dort nach einer homiletischen Konkretion der von Lämmlin so engagiert betonten lektoralen homiletischen Hermeneutik gesucht werden könnte.60 Diesen Schritt möchte ich gehen und fragen: Lässt sich durch eine Wahrnehmung jüdischer Hermeneutik und Homiletik neu homiletisch lesen lernen? An diesem Punkt verbinden sich die Überlegungen dieser Arbeit mit dem christlich-jüdischen Dialog.

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LÄMMLIN: Die Lust am Wort, 141. LÄMMLIN: Die Lust am Wort, 8. 57 Vgl. LÄMMLIN: Die Lust am Wort, 344–396 [zu Schleiermacher, Barth und Luther]; 16–131 [zur homiletischen Verortung]. 58 LÄMMLIN: Die Lust am Wort, 405. 59 Vgl. zu diesem pastoralen Leitbild LÄMMLIN: Die Lust am Wort, 397. 60 Daniel Boyarin betont, dass sich bereits durch das semantische Spektrum des Verbs ‫ קרא‬q. (= lesen und ausrufen) im biblischen und rabbinischen Hebräisch ein unmittelbarer Zusammenhang von „lesen“ und „predigen“ ergibt (vgl. BOYARIN: Placing Reading, 65f.68–71). 56

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1.2 Eine Forschungslücke: Homiletische Wahrnehmung im christlich-jüdischen Dialog Den Begriff „christlich-jüdischer Dialog“ verstehe ich als Bezeichnung für die Veränderungsprozesse christlicher Theologie und kirchlicher Rede, die mit dem Erschrecken angesichts der Verbrechen der Schoa einsetzten und nach „Schuld und Verantwortung“61 sowie nach verstecktem oder offensichtlichem kirchlichem Antijudaismus fragen ließen. Zu dieser kirchlichen und theologischen Selbstreflexion kam als entscheidender Anstoß eine neue Wahrnehmung der Stimme des Judentums, seiner Gegenwart und seiner Tradition – nicht zuletzt durch den Austausch mit jüdischen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern.62 Vor allem im Bereich der Systematischen Theologie und der Exegese hat christlich-jüdischer Dialog in den vergangenen ca. 50 Jahren wesentliche Ergebnisse erzielt, die inzwischen breit rezipiert und in zahlreichen kirchlichen Erklärungen aufgenommen wurden.63 Selbstverständlich ist auch die Praktische Theologie im christlich-jüdischen Dialog von Anfang an herausgefordert. So formuliert etwa der Lutherische Weltbund in einer Erklärung des Jahres 1975: „Wenn die offiziellen lutherischen Stellungnahmen auf regionaler und örtlicher Ebene nicht zu praktischen Konsequenzen führen, wird die auf sie gewandte Studienarbeit […] vergeblich bleiben.“64 Es muss sich in der kirchlichen Praxis, im Reden und Handeln der Christinnen und Christen erweisen, ob von einer Erneuerung der Kirche in Israels Gegenwart gesprochen werden kann oder nicht. Die letzte der drei EKD-Studien „Christen und Juden“ (2000) betont: „Das christlich-jüdische Gespräch hat bedeutende Ergebnisse erzielt. Es ist bisher jedoch trotz großer Bemühungen nur unzureichend gelungen, diese auch auf die Ebene der Gemeinde zu tragen. Hier liegt eine der wichtigsten Aufgaben für die Zukunft.“65 Gefragt ist dabei natürlich auch, und vielleicht sogar im 61

Vgl. BREIT: Schuld und Verantwortung. Kurze Darstellungen zur Entwicklung des christlich-jüdischen Gesprächs finden sich u.a. bei PETERSEN: Theologie nach Auschwitz, 29–41; RENDTORFF: Hat denn Gott sein Volk verstoßen; RUDNICK: Auf dem langen Weg. 63 Es ist hier nicht der Ort, das Erreichte materialiter zu explizieren. Vgl. dazu vor allem die drei EKD-Studien Christen und Juden I–III; den erreichten Konsens bis 1991 fasst Christen und Juden II: 15–20, knapp zusammen (vgl. auch KURTH: Das christlich-jüdische Gespräch; FRANKEMÖLLE: Christen und Juden). Vgl. zu den kirchlichen Erklärungen RENDTORFF: Die Kirchen; HENRIX: Die Kirchen. 64 Konsultation der Studienabteilung des Lutherischen Weltbundes „Die Einheit Gottes und die Einzigartigkeit Christi. Das christliche Zeugnis und das jüdische Volk“ (August 1975), in: RENDTORFF: Die Kirchen, 377. 65 Christen und Juden III: 105. Einen Überblick über die bisherige Rolle der Praktischen Theologie im christlich-jüdischen Dialog bietet vor allem das Themenheft „Praktische Theologie ange62

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Besonderen, die Homiletik. So formulierte die EKD-Studienkommission „Christen und Juden“ 1991: „Mit der Auslegung und Verkündigung eines Textes vor der Gemeinde steht der christlich-jüdische Dialog in der Bewährungsprobe.“66 Bisher, so meine Einschätzung, hat sich die Homiletik vor allem in der Anwendung der systematischen und exegetischen Ergebnisse des christlich-jüdischen Dialogs an diesem beteiligt (1.2.1).67 Wie die Wahrnehmung jüdischer Predigt und Homiletik zu einer neuen Perspektive homiletischer Reflexion im christlich-jüdischen Dialog führen könnte, zeige ich im Anschluss auf (1.2.2).

1.2.1 Anwendung als leitende Perspektive bisheriger Ansätze einer Homiletik im christlich-jüdischen Dialog Wenn nicht nur die Aufgabe der Systematischen, sondern auch die der Praktischen Theologie als die „wissenschaftliche Selbstprüfung der christlichen Kirche hinsichtlich des Inhalts der ihr eigentümlichen Rede von Gott“68 bestimmt werden kann, so muss die Prüfung kirchlichen Redens auf latenten oder offensichtlichen Antijudaismus und der Versuch der Überwindung des Antijudaismus einen entscheidenden Stellenwert in gegenwärtiger praktisch-theologischer Arbeit gewinnen. Christliche Verkündigung dürfe, so der Grundtenor aller kirchlichen Verlautbarungen im christlich-jüdischen Dialog, nicht „falsche Klischeevorstellungen und abwertende Urteile über das Judentum und Juden“ weitertragen.69 Ziel müsse es daher sein, ein differenziertes und stimmiges Bild des Judentums zu vermitteln, antijudaistische Sackgassen in der theologischen Entwicklung zu verlassen und biblische Texte so auszulegen, dass bei alttestamentlichen Texten deren primärer jüdischer Kontext und bei neutestamentlichen Texten deren Verwurzelung im zeitgenössischen Judentum deutlich werde. Wie die Homiletik sich dieser Aufgabe bisher gestellt hat, versuche ich zu zeigen, indem ich (1) zunächst ausgehend von Evelina Volkmanns Monographie „Vom ‚Judensonntag‘ zum ‚Israelsonntag‘“ (2002) auf die Ebene homiletischer Reflexion im christlich-jüdischen Dialog blicke und (2) anschließend kurz die sichts des Judentums“ (PrTh 38, 2004, H. 4) und darin besonders SCHRÖDER: Praktische Theologie. 66 Christen und Juden II: 58. 67 Vgl. zu einer Übersicht über die „Bedeutung der Predigt in kirchlichen Erklärungen und Dokumenten des christlich-jüdischen Gesprächs seit 1945“ VOLKMANN: Vom „Judensonntag“ zum „Israelsonntag“, 10–13; dies.: Homiletik und christlich-jüdisches Gespräch; STÄBLEIN: Predigen nach dem Holocaust, 168–310. 68 So die Bestimmung der Dogmatik im Leitsatz zu §1 der KD (BARTH: KD I/1, 1). 69 Hier zitiert nach der Erklärung der Synode 72 des Bistums St. Gallen vom 03.06.1973/ 17.11.1974, in: RENDTORFF: Die Kirchen, 162. Vgl. dazu auch KEE: Removing Anti-Judaism.

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Predigthilfeliteratur vorstelle, die sich explizit im christlich-jüdischen Dialog verortet. (1) Evelina Volkmann fragt anhand einer Inhaltsanalyse von Predigthilfeliteratur zum 10. Sonntag nach Trinitatis (dem sogenannten „Judensonntag“ bzw. „Israelsonntag“) danach, inwiefern sich Veränderungen im christlichjüdischen Dialog tatsächlich auf die homiletische Praxis ausgewirkt haben.70 Sie erkennt dabei, dass trotz der weithin rezipierten Umbenennung vom „Judensonntag“ zum „Israelsonntag“ auch nach 1975 eine Mehrheit der Predigthilfen „theologischem Antijudaismus verhaftet“ bleibe.71 Volkmann weist sensibel auf hermeneutische und homiletisch-rhetorische Probleme der Predigt hin – etwa darauf, wie in der Predigtrede „die Situation des Menschen unter dem Gesetz […] einseitig durch alttestamentliche oder jüdische Exempel illustriert“ werde.72 Gegenüber der sehr ausführlichen und differenzierten Analyse Volkmanns fallen die Impulse und Perspektiven für die Homiletik im Kontext des christlich-jüdischen Gesprächs allerdings eher knapp aus.73 Volkmann fordert eine „antijudaismusfrei[e]“74, sich ihrer Situation nach Auschwitz bewusste75 und daher „sachgemäß“ von Israel redende Predigt76, die „die Dialektik von Verbindendem und Trennendem zwischen Christentum und Judentum“77 aufzeigt. Dazu sei auch die „Berücksichtigung jüdischen Selbstzeugnisses im Rahmen der Predigtvorbereitung“78 nötig. Eine methodische Neuformulierung der Predigtaufgabe oder eine formale Reflexion der Predigtgestaltung erachtet Volkmann demgegenüber für nicht angezeigt; es gelte vielmehr, inhaltlich an der Predigt weiterzuarbeiten.79 Diese Konzentration auf die materiale Homiletik lässt sich nicht nur in Volkmanns Monographie feststellen, sondern kann m.E. als ein Charakteristikum bisheriger homiletischer Arbeit im christlich-jüdischen Kontext gewertet werden.80 Sie zeigt sich etwa auch in dem Aufsatz von Jürgen Seim 70 In historischer Dimension weitet und vertieft Irene Mildenberger in ihrer Monographie („Der Israelsonntag“) die Wahrnehmung zur liturgischen und homiletischen Gestaltung des Israelsonntags. 71 VOLKMANN: Vom „Judensonntag“ zum „Israelsonntag“, 245f, Zitat: 245. 72 VOLKMANN: Vom „Judensonntag“ zum „Israelsonntag“, 255 [vgl. insg. 252–256: Die homiletische Pointe: Die Überwindung des Legalismusvorurteils in der Homiletik]. Vgl. dazu auch dies.: Das christlich-jüdische Verhältnis in der kirchlichen Praxis. 73 Vgl. VOLKMANN: Vom „Judensonntag“ zum „Israelsonntag“, 247–261. 74 Vgl. zum Begriff VOLKMANN: Vom „Judensonntag“ zum „Israelsonntag“, 258 u.ö. 75 Vgl. VOLKMANN: Vom „Judensonntag“ zum „Israelsonntag“, 261. 76 VOLKMANN: Vom „Judensonntag“ zum „Israelsonntag“, 261. 77 VOLKMANN: Vom „Judensonntag“ zum „Israelsonntag“, 261. 78 VOLKMANN: Vom „Judensonntag“ zum „Israelsonntag“, 248. 79 Vgl. dazu VOLKMANN: Vom „Judensonntag“ zum „Israelsonntag“, 247, und vgl. zu der inhaltsorientierten Sicht Volkmanns auch dies.: „Gesetz“ und „Evangelium“ in der Predigt. 80 Vgl. dazu auch VOLKMANN: Homiletik und christlich-jüdisches Gespräch, bes. 253.

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mit dem Titel „Predigen in Israels Gegenwart“ oder in dem Beitrag zum „Predigen im christlich-jüdischen Kontext“ von Anne-Kathrin und Wolfgang Kruse. Seim betont vor allem die Notwendigkeit, christliche Exegese durch die Wahrnehmung jüdischer Auslegung zu verändern,81 um so das „Eigne des Alten Testaments“82 sowie das „Jüdische“ im Neuen Testament83 aufzeigen zu können. Gleichzeitig werde es dadurch möglich, Jesus Christus neu aus seiner „Verwurzelung im Alten Testament“ heraus zu verstehen, und es könne erkannt werden, dass „wir das Neue Testament vom Alten her lesen müssen“84. Das Ehepaar Kruse spricht explizit davon, dass die Aufgabe der Homiletik in der „Umsetzung der theologischen Erkenntnisse [aus dem christlich-jüdischen Dialog, AD] in die Praxis“ liege.85 Beachtung jüdischer Auslegung alttestamentlicher Texte, Sensibilität für den jüdischen Kontext des Neuen Testaments und Vermeidung von (latenten) Antijudaismen – aber auch Philosemitismen (!) – werden zu entscheidenden Aufgaben einer Predigt im christlich-jüdischen Kontext, die in dem Aufsatz abschließend in „zehn Selbstverpflichtungen für Predigerinnen und Prediger“ gebündelt werden.86 Einen weiterführenden Aspekt bringt Christian Stäblein in die Diskussion um die Predigt im christlich-jüdischen Kontext ein. Er fragt – ausgehend von einer Analyse erfahrungswissenschaftlicher Perspektiven zur „Erinnerung“ und von einer ausführlichen Würdigung der homiletischen Entwicklung seit 194587 – nach der Bedeutung der Erinnerung an den Holocaust für die christliche Predigt und entwickelt die Perspektive eines „bewahrende[n] Gedenken[s]“ als gangbaren Weg für die homiletische Reflexion und inhaltliche Predigtgestaltung.88 (2) Auch die beiden Reihen der Predigtmeditationen, die bisher im Kontext des christlich-jüdischen Gesprächs entstanden, sind vor allem an einer in81 Vgl. SEIM: Predigen in Israels Gegenwart, bes. 262–265. Vgl. ähnlich auch MÜLLER, K.: Homiletik, 72. Praktisch ausgerichtet und mit zahlreichen konkreten Predigtbeispielen zeigt auch Siegward Kunath, wie die Predigt davon profitieren kann, wenn sie „die Schrift gemeinsam mit den Juden“ liest (KUNATH: … forschet in der Schrift, Zitat: 3; vgl. auch die knappen Andeutungen bei FIEDLER: Die Bibel). 82 SEIM: Predigen in Israels Gegenwart, 262–264, Zitat: 262. 83 Vgl. SEIM: Predigen in Israels Gegenwart, 264f. 84 SEIM: Predigen in Israels Gegenwart, 265; vgl. insg. 264f [Die christologische Pointe]. 85 KRUSE: Predigen im christlich-jüdischen Kontext, 206. 86 Vgl. KRUSE: Predigen im christlich-jüdischen Kontext, 215–217. Die Formulierung dieser „Selbstverpflichtungen“ lehnt sich an Helmut Barié an (vgl. BARIÉ: Juden aus der Sicht junger Prediger, 77–79; ders.: Ertrag, 255–257). 87 Vgl. STÄBLEIN: Predigen nach dem Holocaust, 31–67 [Erinnerung – Erfahrungswissenschaftliche Perspektiven]; 168–310 [Homiletische Entwürfe]. 88 Vgl. zum „bewahrende[n] Gedenken“ bes. STÄBLEIN: Predigen nach dem Holocaust, 103– 113.315.

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haltlichen Veränderung christlicher Predigtrede durch eine Vermeidung von Antijudaismus und durch eine neue Wahrnehmung jüdischer Schriftauslegung in der exegetischen Vorbereitung der Predigt interessiert. Zunächst erschienen – im Auftrag der EKD-Studienkommission „Kirche und Judentum“ – die drei Bände der „Predigtmeditationen im Kontext des christlich-jüdischen Gesprächs“, die unter dem Titel „Predigen in Israels Gegenwart“ einige der Texte aus der dritten, fünften und ersten Reihe der lutherischen Perikopenordnung homiletisch auslegen. Die Herausgeber wollen zur Vermeidung antijudaistischer Stereotype beitragen89 und fordern, dass christliche Predigt einen aktiven Beitrag zur Überwindung des Antijudaismus leisten solle.90 Praktisch gestalten sich die Beiträge so, dass in den klassischen Ablauf einer Predigtmeditation (Exegese, theologischhomiletische Überlegungen, Überlegungen zur Situation) als ein weiterer Punkt „Beiträge aus der Begegnung mit dem Judentum“ integriert werden, bevor abschließend Anregungen zur Gestaltung der Predigt und des Gottesdienstes folgen. Ähnlich arbeiten auch die ersten acht Bände der „Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext“, die seit 1996 jährlich erscheinen, von Wolfgang Kruse herausgegeben und von ehemaligen Teilnehmerinnen und Teilnehmern am Programm „Studium in Israel“ verfasst werden. Sie sind durch einen exegetischen Schwerpunkt gekennzeichnet und integrieren Beiträge aus der jüdischen Tradition (unter der Überschrift „Kontexte“) nach einer Annäherung, einer ausführlichen exegetischen Wahrnehmung und ersten homiletischen Entscheidungen. Abschließend werden Vorschläge zur liturgischen Gestaltung des Gottesdienstes weitergegeben. Seit dem 2004 erschienenen neunten Jahrgang der „Predigtmeditationen“ (zu den Perikopen des dritten Jahrgangs) gibt es von Seiten des Redaktionsteams den Impuls, die „Kontexte“ bereits zu Beginn, d.h. nach der ersten „Annäherung“, in den Duktus der Predigtmeditation aufzunehmen, um so die Wahrnehmung jüdischer Auslegung nicht als Appendix zur bereits fertigen Predigtmeditation erscheinen zu lassen, sondern als ein Gegenüber zu würdigen, das den ganzen Weg der Meditation begleitet und herausfordert.91 Diese Anregung wurde allerdings keineswegs von allen Autorinnen und Autoren aufgenommen.

Homiletik im christlich-jüdischen Dialog versucht bisher vor allem – so lässt sich zusammenfassend feststellen –, die christliche Predigt inhaltlich zu verändern. Es geht um die Vermeidung von Antijudaismus, um die Stereotype verhindernde Wahrnehmung der Vielgestaltigkeit des Judentums in Geschichte und Gegenwart und um die Berücksichtigung jüdischer Auslegung alttestamentlicher Texte bei der exegetischen Erarbeitung der Predigt. Dies alles ist und bleibt m.E. notwendig; allerdings erscheinen mir

89 „Die Predigtmeditationen wollen dazu helfen, in der Predigt eine angemessene christliche Verkündigung zu erreichen, die auf schablonenartiges Reden über das Judentum verzichtet“ (BAUMANN: Predigen, Bd. 2, 7). 90 Vgl. BAUMANN: Predigen, Bd. 3, 13. 91 Vgl. KRUSE: Predigtmeditationen. Zur Perikopenreihe III, 2004, IIIf.

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zwei Probleme mit dieser vornehmlich materialen Ausrichtung der Praktischen Theologie im christlich-jüdischen homiletischen Dialog verbunden: • Christlich-jüdischer Dialog kann aufgrund der häufig erkennbaren und etwa das Buch Evelina Volkmanns bestimmenden Dominanz der Kritik in der Beurteilung und Wahrnehmung bisheriger kirchlicher Praxis leicht einseitig als mahnend erhobener Zeigefinger wahrgenommen werden, der richtiges und falsches, angemessenes und problematisches Reden92 unterscheidet und auf Fehler deutlich hinweist.93 Die Rolle des unbequemen Mahners wird wohl auch in Zukunft nötig bleiben; sie droht aber, die Chancen für ein neues kirchliches Reden zu überdecken, die sich aus dem christlich-jüdischen Gespräch ergeben, und im schlimmsten Fall dagegen zu immunisieren, solche Chancen überhaupt wahrzunehmen. • Gewichtiger erscheint mir das zweite Problem: Die Praktische Theologie (und mit ihr auch die Homiletik) übernimmt bislang primär die Ergebnisse christlich-jüdischen Gesprächs in systematisch-theologischer und exegetischer Perspektive, appliziert diese und ordnet sie in den Kontext ihrer bisherigen Arbeit ein. Exemplarisch deutlich wird dies, wenn man die beiden oben skizzierten Reihen der Predigtmeditationen im christlichjüdischen Dialog betrachtet: Die Wahrnehmung jüdischer Tradition erscheint hier als ein Punkt im Zusammenhang einer ansonsten klassisch strukturierten Predigtmeditation. Eine grundlegende Hinterfragung christlicher Predigtarbeit in inhaltlicher und formaler Hinsicht ist damit nicht im Blick, woraus sich tendenziell ein Form-Inhalt-Dualismus ergibt. Gleichzeitig bleibt der Homiletik faktisch nur die Aufgabe, Transmissionsriemen zur Umsetzung der andernorts erkannten Inhalte in die Predigt hinein zu sein. Zu fragen wäre m.E., ob sich an dieser Stelle nicht ein ästhetisches Defizit vieler homiletischer Ansätze im christlich-jüdischen Dialog zeigt, zu dessen Überwindung u.a. die Wahrnehmung jüdischer Predigt und Homiletik als Ausgangspunkt eigener homiletischer Reflexion beitragen könnte.94 92 Vgl. hierzu etwa den Titel der Handreichung „Hinweise für eine richtige [!, Hervorhebung AD] Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der Katechese der katholischen Kirche“ von 1985, zitiert in: RENDTORFF: Die Kirchen, 92–103. 93 Vgl. dazu auch die von ihrem Sprachduktus her deutlich moralisierenden „Zehn Selbstverpflichtungen für Predigerinnen und Prediger“, die das Ehepaar Kruse in Anlehnung an Barié zusammenstellt (KRUSE: Predigen, 215–217). Die Problematik einer solchen Perspektive zeigt sich – in sehr viel weiterem Horizont – etwa auch bei der Auseinandersetzung um die Rede Martin Walsers anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels vom 10.11.1998 – vgl. dazu SCHIRRMACHER: Die Walser-Bubis-Debatte; STÄBLEIN: Predigen nach dem Holocaust, 113–128. 94 Vgl. zu diesem ästhetischen Defizit auch meinen Überblick über die Entwicklung christlichjüdischen Dialogs in liturgischer Perspektive (DEEG: Liturgik und christlich-jüdischer Dialog, 252).

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1.2.2 Wahrnehmung als Perspektive praktisch-theologischer Arbeit im christlich-jüdischen Dialog „Zu den Voraussetzungen eines gelungenen Dialogs gehört die Bereitschaft, die vielfältige Gestalt des Judentums wahrzunehmen“, so formuliert die EKD-Studie „Christen und Juden III“.95 Für die Praktische Theologie würde dies bedeuten, dass in ihren einzelnen Reflexionsfeldern jeweils „jüdische Äquivalente“ in den Blick kämen – wie Bernd Schröder dies in seiner Beurteilung der Situation des christlich-jüdischen Dialogs im Bereich der Praktischen Theologie 2004 eindringlich fordert.96 Als leitende Perspektive geschieht dies bisher nur in vier praktisch-theologischen Monographien: (1) Im Bereich der Poimenik bringt Stefan Fritsch in seiner 1997 erschienenen Leipziger Dissertation die chassidische Seelsorge mit neueren therapeutischen Konzepten (humanistische Psychologie und Tiefenpsychologie) ins Gespräch. Am Ende seiner Einleitung stellt er dabei – etwas verallgemeinernd – fest: „Die exegetischen Fächer stehen in einem regen Austausch mit der Judaistik, in der Kirchengeschichte und der Systematischen Theologie gibt es einige hoffnungsvolle Ansätze. Zwischen den Fachbereichen Judaistik und Praktische Theologie dagegen, hat das Gespräch noch nicht einmal begonnen.“97 Fritsch beschreitet neue Wege; gleichzeitig werden in seiner Arbeit aber auch Probleme eines Zugangs, der von einer Wahrnehmung des Judentums ausgeht, deutlich: Zum einen entgeht Fritsch nicht immer der Gefahr, die Strömung des Chassidismus als von ihm gewähltes Paradigma zu romantisieren und zu idealisieren. Die chassidische Welt wird recht undifferenziert als diejenige Welt beschrieben, die die spezifischen Gefahren der Moderne, vor allem die „Maßlosigkeit des Intellektualismus“98, überwindet. Eng mit dieser Gefahr erscheint mir eine weitere, methodisch noch gewichtigere verbunden zu sein: Das, was Fritsch selbst in der Reflexion auf verschiedene Therapieformen als richtig erkennt, sucht er auch in der chassidischen Seelsorge. So stellt er unter der Überschrift „pastoralpsychologische Aspekte innerhalb des Chassidismus“ u.a. die „Ganzheitlichkeit“, die „dialogischen Strukturen“, die „Aktualisierung der Beziehungen“ und die „Kanalisierung des Bösen“ vor und untersucht die „seelsorgerlichen Arbeitsweisen der Zaddikim“ unter den Überschriften „Empathie und bedingungslose Annahme“, „non-direktive und partnerzentrierte Haltung“, „paradoxe Intervention“…99 Es ergibt sich ein sich selbst bestätigender Kreislauf, der eine möglicherweise kritische Anfrage von außen nicht mehr zulässt. Chassidische Seelsorge degradiert tendenziell zur Lieferantin von Belegstellen für gängige poimenische Überzeugungen. Ansatzweise ist sich der Autor dieser Gefahr bewusst, wenn er schreibt: „Doch ist mir klar, daß ich damit [mit der Korrelierung rekonstruierter chassidischer Phänomene und gegenwärtiger Therapieformen, AD] 95

Christen und Juden III: 103 [Hervorhebung AD]. SCHRÖDER: Praktische Theologie, 283–285, Zitat: 283. 97 FRITSCH: Die chassidische Seelsorge, 17 [Interpunktion sic!]. 98 FRITSCH: Die chassidische Seelsorge, 12. 99 Vgl. dazu nur das Inhaltsverzeichnis (FRITSCH: Die chassidische Seelsorge, 7f) und die entsprechenden Ausführungen des vierten und fünften Kapitels. 96

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die chassidischen Geschichten und Lehrtexte in einen Rahmen presse, den sie eigentlich sprengen.“100 Allerdings berücksichtigt Fritsch die methodische und epistemologische Bedeutung dieser Einsicht in seiner Erarbeitung kaum. (2) Klaus Müller publizierte 1999 seine diakoniewissenschaftliche Heidelberger Habilitation „Diakonie im Dialog mit dem Judentum“. Nach „Präliminarien“, die Zugang und Methode offen legen, ist Müllers Arbeit in zwei Hauptteile gegliedert: „Explikation jüdischer Sozialtraditionen“ und „Diakoniewissenschaftliche Vergewisserung“. Dabei ist der erste, das Judentum wahrnehmende und darstellende Teil der weitaus ausführlichere (Kap. 3–14), die eigentlich dialogischen Abschnitte (Kap. 15– 18) lesen sich fast nur noch als Anhang zu den herausfordernden Überlegungen des ersten Teils. Gleichzeitig fällt auf, dass Müller sich bei der „Explikation jüdischer Sozialtraditionen“ ausschließlich auf „das klassische Judentum“101 bezieht, womit er die rabbinische Zeit meint. Dies ist allein aufgrund der Fülle des von Müller untersuchten Materials zu den Begriffen ‫„( חסד‬Gemeinschaftspflicht“) und ‫צדקה‬ („rechtes Verhalten“; „Gerechtigkeit“) durchaus verständlich und wird von ihm – sicherlich zu Recht – so begründet, dass die rabbinische Tradition „bis heute den zentralen formgebenden Faktor jüdischer Religion“ darstelle.102 Dennoch scheint es bedauerlich, dass jüdische diakonische Gegenwart und auch die Wirkungsgeschichte der von Müller ins Auge gefassten Begriffe (vor allem die Folgen des Umbruchs im 19. Jahrhundert für die Konkretion der ‫צדקה‬-Praxis in den jüdischen Gemeinden!) in seinem Buch keine tragende Rolle spielen – dies umso mehr, als Müller hermeneutisch von der Erkenntnis der „Gleichzeitigkeit mit Israel“ ausgehen möchte.103 (3) Als in methodischer Hinsicht besonders reflektiert erweist sich die Habilitationsschrift von Bernd Schröder im Bereich der Religionspädagogik (2000). Ihr Ziel ist zunächst die Wahrnehmung „jüdische[r] Erziehung“ im gegenwärtigen Staat Israel und davon ausgehend der Vergleich mit christlicher Religionspädagogik. Schröder bedient sich der Vergleichenden Erziehungswissenschaft als methodischem Referenzrahmen104 und entwickelt diese weiter. Da Schröders Erkenntnisse auch für meine eigene Methode leitend sind, komme ich auf seinen Ansatz unten wieder zurück.105 Bedauerlich erscheint mir lediglich, dass bei Schröder – wie analog auch in Müllers diakoniewissenschaftlicher Arbeit – gegenüber der breiten, ausgewogenen und informativen Darstellung der Geschichte und Gegenwart jüdischer Erziehung in Israel der explizite Vergleich mit christlicher Religionspädagogik und damit der praktisch-theologische Impuls sehr knapp ausfallen.106 (4) 2003 legte Andrea Bieler eine vergleichende Arbeit in homiletisch-liturgischer Perspektive vor. Sie stellt Entwicklungen im Gottesdienst- und Predigtverständnis sowie konkrete liturgische Reformen und homiletische Neuentwicklungen im 19. Jahrhundert in Christentum und Judentum dar. Dabei schreibt sie nicht die Ge100

FRITSCH: Die chassidische Seelsorge, 14. MÜLLER: Diakonie im Dialog mit dem Judentum, 19 [Hervorhebung im Original]. 102 MÜLLER: Diakonie im Dialog mit dem Judentum, 19. 103 MÜLLER: Diakonie im Dialog mit dem Judentum, 33 [Hervorhebung im Original]. 104 Vgl. SCHRÖDER: Jüdische Erziehung im modernen Israel, 28–36. 105 Vgl. meine methodischen Überlegungen unten Kap. 1.3. 106 Vgl. das Verhältnis des ausführlichen zweiten Teils (Darstellung) zum sehr viel kürzeren dritten Teil (Vergleich) in Schröders Untersuchung. 101

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schichte jüdischer (und christlicher) Liturgik und Homiletik im 19. Jahrhundert, sondern fragt nach den durch die Moderne ausgelösten Transformationsprozessen. In homiletischem Kontext heißt dies, dass sowohl christliche als auch jüdische Prediger „eine komplexe Vermittlungsleistung vollziehen [mussten, AD], indem sie zwischen dem Bestand der geschichtlichen Überlieferung, wie er sich in den textlich fixierten Grundlagen der jeweiligen Religion finden lässt, und dem Modernitätsbewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft eine Verbindung herstellen.“107 Die Predigt habe sich – zunächst für Vertreter der Reformbewegung, dann auch für Vertreter der Neoorthodoxie – als geeignetes Medium erwiesen, um in der spannungsreichen Situation zwischen Akkulturation und der Notwendigkeit der Bewahrung eigener Tradition zu vermitteln108 und „Religion und Modernität in Einklang zu bringen“109. Bieler nimmt vergleichend „Gottesdienstreformen“ in Judentum und Christentum, „homiletische Reflexionen“ sowie konkrete Predigten („Predigtkulturen“) wahr.110 Ausblicke auf die gegenwärtige Liturgik und Homiletik, die Bieler zu Recht noch immer als von der analysierten „Modernitätsproblematik“ gezeichnet beschreibt, werden in dem Buch nur auf etwas mehr als einer Seite anvisiert.111

Neben Bielers Arbeit kam es in der bisherigen praktisch-theologischen Reflexion am ehesten dort zu einer Wahrnehmung jüdischer Predigt und Homiletik, wo die Frage nach der christlichen Predigt alttestamentlicher Texte diskutiert wurde. Bereits Rudolf Bohren rief in seinen Überlegungen zur Predigt des Alten Testaments dazu auf, „vom Rabbiner zu lernen“ und den Kontext der „Synagoge“ für das eigene Predigen nicht aus dem Blick zu verlieren.112 Eine weitere Ausführung dieser Anregung findet sich bei Bohren nicht; die Richtung ist allerdings klar: Alttestamentliche Predigt fordert dazu heraus, jüdische Stimmen in Vergangenheit und Gegenwart wahrzunehmen. Dies geschieht ausführlicher bei dem Alttestamentler Horst Dietrich Preuß, der in seinen 1984 erschienenen Überlegungen zur christlichen Predigt des Alten Testaments auf die jüdische Auslegung des Tanach in rabbinischer Zeit und in der Gegenwart und auch auf ihm zugängliche Beispiele für jüdische Predigten zu sprechen kommt.113 Angesichts der Wahr107

BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, 26. Vgl. BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, 39.47. 109 BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, 198. 110 Vgl. BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, 63–111 [Gottesdienstreformen].112–155 [Homiletische Reflexionen].156–198 [Predigtkulturen]. 111 Vgl. BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, 199f, Zitat: 199. 112 BOHREN: Predigtlehre, 121. Das Zitat lautet im Zusammenhang: „Nur Hochmut und Ignoranz könnten den evangelischen Prediger hindern, vom Rabbiner zu lernen. Nur unheiliger Egoismus wird das heutige Judentum von den Verheißungen der Propheten ausklammern und damit dem stets latenten Antisemitismus Nahrung geben. Soll der Prediger nicht reden wie ein Rabbiner, so soll er nicht ohne den Rabbiner predigen: Die Kirche kann von der Synagoge nicht absehen, es sei denn, sie verliere ihre Verheißung.“ 113 Vgl. PREUSS: Das Alte Testament in christlicher Predigt, 140–164 [Jüdische und christliche Auslegung des Alten Testaments]. 108

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nehmung rabbinischer Predigten scheint es ihm möglich, „vielleicht auch anders zu predigen als bisher“114. Es kann m.E. allerdings gefragt werden, inwiefern sein eigenes Modell der „Strukturanalogie“ in der Auslegung des Alten Testaments eine eigene, herausfordernde und verändernde jüdische Stimme tatsächlich hörbar werden lassen kann.115 Den entscheidenden Schritt in diese Richtung geht die 2001 erschienene Studie von Heinz-Günther Schöttler, der eine „relational eigenwertige Auslegung des AT“ fordert und an zahlreichen konkreten Beispielen vor Augen führt.116 Schöttlers Grundanliegen sei an einem etwas ausführlicheren Zitat veranschaulicht: „Christliche Predigt über alttestamentliche Texte kann und darf sich nicht (‚mehr‘) allein auf die christliche Sicht und Tradition stützen. Sie muß das gelebte jüdische Glaubenszeugnis in die Verkündigung wieder als ein heute gelebtes und unverzichtbares Zeugnis für den Glauben an den einen Gott einbeziehen. […] Diese ‚neue‘ Predigtweise, bei der die ChristInnen am Glauben Israels wahrhaft partizipieren dürfen, muß in der Kirche so selbstverständlich werden, wie die traditionale christologische Relativierung der Bibel Israels fraglich geworden ist.“117

Auch Schöttler nimmt jüdische Predigten, wenn auch knapp, in seine Überlegungen auf und zeigt exemplarisch, wie der Jakobskampf von Gen 32,23– 33 in jüdischer homiletischer Schriftauslegung gedeutet werden konnte. Damit gelingt Schöttler die Schärfung des Blicks für die Unmöglichkeit einer allzu einfachen christlichen Identifikation mit „Israel“ in christlicher Predigt zum Jakobskampf – und generell in christlicher Predigt alttestamentlicher Texte.118 Jenseits dieser Bezugnahmen auf jüdische Predigt in Überlegungen zur alttestamentlichen Predigt, der Arbeit Bielers und einiger kleinerer Beiträge, auf die unten näher einzugehen sein wird (8.4), stammt der umfassendste Versuch einer homiletischen Erarbeitung, die von der Wahrnehmung des Judentums ausgeht, von Axel Denecke. Sein Buch „Als Christ in der Judenschule“ erschien 1996 als eine Sammlung von Aufsätzen und Vorträgen. Ausgehend von einem eher durch dogmatische Fragestellungen nach einem 114

PREUSS: Das Alte Testament in christlicher Predigt, 161. Vgl. zum Modell der „Strukturanalogie“ PREUSS: Das Alte Testament in christlicher Predigt, 120–140. 116 Vgl. SCHÖTTLER: Christliche Predigt und Altes Testament, 159–437 [Homiletische Kriteriologie für eine relational eigenwertige Auslegung des Alten Testaments in christlicher Predigt – dargestellt an Levitikus 19 und Genesis 32]. 117 SCHÖTTLER: Christliche Predigt und Altes Testament, 372. Auf die äußerst umfangreiche Literatur zum Thema einer in Israels Gegenwart veränderten christlichen Predigt des Alten Testaments kann ich hier nicht näher eingehen; vgl. aber den Literaturüberblick bei SCHÖTTLER: Christliche Predigt und Altes Testament, bes. 87–140, und vgl. unten Kap. 14.3. 118 Vgl. SCHÖTTLER: Christliche Predigt und Altes Testament, 374–376, und unten Kap. 8.1.3, 230. 115

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„Neuanfang christlicher Theologie“119 bestimmten ersten Teil, versucht der zweite Teil des Buches, „in der ‚Judenschule‘ neu das Reden von Gott [zu] lernen“120. Eine Wahrnehmung jüdischer Schriftauslegung (besonders ausgehend von dem Begriffspaar Haggada und Halacha) verbindet Denecke mit hermeneutischen und praktischen Überlegungen zur christlichen Schriftauslegung und Predigt, auf die ich unten zurückkomme.121 Axel Denecke erkennt, dass zahlreiche weitere Anregungen für eine inhaltliche und formale Neugestaltung der Predigt aus der Wahrnehmung jüdischer Predigt und Hermeneutik gewonnen werden könnten und schreibt: „[…] immerhin ist die jüdische Erfahrung des Gelingens und auch Mißlingens der Rede von Gott doppelt so alt wie die christliche. Es ist eigentlich verwunderlich, daß bisher – soweit ich es sehen kann, und ich denke, ich habe mich überall umgesehen – noch keiner auf den naheliegenden Gedanken gekommen ist, hier als Homiletiker […] in die Judenschule zu gehen und von der jüdischen Rhetorik [!, AD] für unsere Predigt zu lernen.“122 Der Spur, die Denecke legt und die auf eine – durch die bisherigen Erarbeitungen konturierte, aber keineswegs bereits gefüllte – Forschungslücke im christlich-jüdischen homiletischen Dialog verweist, folge ich in dieser Arbeit. Von der Wahrnehmung jüdischer Predigt und jüdischer homiletischer Reflexion ausgehend soll christliche Homiletik, genauer: die oben eröffnete Frage nach dem Text in der Predigt, neu in den Blick genommen werden. Methode und Struktur meiner Untersuchung bestimme ich im Folgenden näher.

1.3 Eine Wegbeschreibung: Vergleichende Homiletik als Methode Einen Anhaltspunkt zur Bestimmung meiner Methode bietet komparatistisches Arbeiten – etwa die seit einigen Jahren etablierte Vergleichende Erziehungswissenschaft. Dort hat man erkannt, dass es für jedes vergleichende Arbeiten grundlegend entscheidend ist, sich der Zielsetzungen eines Vergleichs bewusst zu werden. Anatol Pikas bietet eine grobe Differenzierung und nennt egoistische, altruistische und interaktive Ziele eines Vergleichs:123 Egoistisch wäre das Ziel dann, wenn bei der Wahrnehmung des Anderen vor allem das Eigene im Blick wäre, das verbessert oder zumindest verändert werden soll. Altruistische Motive hätten das Andere im Blick, 119

Vgl. DENECKE: Als Christ in der Judenschule, 16–40. DENECKE: Als Christ in der Judenschule, 83–142; vgl. zu Deneckes Ansatz auch STÄBLEIN: Predigen nach dem Holocaust, 266–273. 121 Vgl. unten Kap. 8.4, 249f; Kap. 13.3.1. 122 DENECKE: Als Christ in der Judenschule, 84. 123 Vgl. PIKAS: How to Introduce Symmetric Interaction. 120

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würden dieses darstellen und eventuell versuchen, auf Veränderungen dieses Anderen hinzuwirken. Interaktiv wären Zielsetzungen dann, wenn sie beides, das Eigene und das Andere, gleichermaßen in den Blick nähmen. Diese dreifache Unterscheidung erscheint m.E. zu holzschnittartig, um hilfreich zu sein; letztlich wird es beim Vergleich immer zu einer Interaktion kommen, die dann einmal eher egoistisch, einmal eher altruistisch akzentuiert sein kann. Differenzierter ist das Funktionsspektrum, das Bernd Schröder für seine Wahrnehmung jüdischer Religionspädagogik bestimmt.124 Schröder rekurriert vor allem auf vier Funktionen eines Vergleichs: Ideographie als Entdeckung des je Besonderen und Einmaligen, Generalisierung als Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten, Elenchie als Schärfung des Bewusstseins für Schwächen und Probleme in der eigenen Tradition und schließlich Initiierung von Dialog.125 In seiner Beurteilung dieser vier Dimensionen aus Schröders Arbeit warnt Christian Grethlein vor den Gefahren einer zu weitgehenden und letztlich vereinnahmenden Generalisierung und fordert die Verstärkung der elenchtischen Funktion. Sie könne vor allem auch dazu dienen, durch die „Außenperspektive […] Verkrustungen aufzubrechen und auf die Notwendigkeit von Veränderungen aufmerksam zu machen“126. Grethleins Aussagen stehen im Kontext seiner Forderung, eine Vergleichende Liturgik als notwendigen Arbeitsgang gegenwärtiger Praktischer Theologie zu etablieren.127 Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen kann die vorliegende Arbeit als exemplarische Durchführung einer Vergleichenden Homiletik gesehen werden. In Aufnahme der methodischen Ansätze von Schröder und Grethlein erscheinen mir dabei vor allem drei Funktionsaspekte entscheidend: • Ideographie: Auszugehen ist zunächst von der Wahrnehmung der jüdischen gottesdienstlichen Rede in diachroner (Entwicklung durch die verschiedenen Epochen jüdischer Geschichte hindurch) sowie synchroner (unterschiedliche Strömungen im Judentum) Differenzierung. • Provokation: Anstatt den vor allem auf die Beseitigung von Missständen und Problemen bezogenen Begriff der Elenchie aufzunehmen, ziehe ich den Begriff der Provokation vor. Die ideographische Wahrnehmung wird dann, wenn sie mit eigenen Fragestellungen christlicher Homiletik in Beziehung gesetzt wird, heraus-rufen (pro-vocare), Neues (oder eigentlich

124

Vgl. SCHRÖDER: Jüdische Erziehung im modernen Israel, 28–36. Vgl. SCHRÖDER: Jüdische Erziehung im modernen Israel, bes. 37, und dazu die Zusammenfassung bei GRETHLEIN: Der Gottesdienst, 286. 126 GRETHLEIN: Der Gottesdienst, 287. 127 Vgl. GRETHLEIN: Der Gottesdienst, 285–287. 125

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Altbekanntes, aber Vergessenes) in der eigenen Tradition erkennen lassen und so Impulse zur Veränderung geben. • Dialog: Die ersten beiden Aspekte werden einerseits durch den Dialog ermöglicht, andererseits – und das ist die Hoffnung dieser Erarbeitung – zu einem neuen Dialog hinführen. Jüdisch-christlicher homiletischer Dialog ist bisher noch wenig entwickelt. Dies gilt sowohl für die Ebene der homiletischen Forschung128 als auch für den Austausch christlicher und jüdischer Predigerinnen und Prediger. Fragen, die gemeinsam vorangetrieben werden könnten, gäbe es genügend. So kann sich Evelina Volkmann einen christlich-jüdischen Austausch etwa darüber vorstellen, „wie Kirchen- bzw. Synagogendistanzierten gepredigt und eine gute Predigt aufgebaut werden kann, welche Funktion der Predigttext für die Predigt besitzt oder welche die Grundregeln einer ethischen Predigt sind“129. Sicher wäre es möglich, zahlreiche weitere Gesprächsthemen zu ergänzen. Aus diesen knappen methodischen Hinweisen folgt der grundlegende Aufbau der vorliegenden Erarbeitung in zwei Schritten: Im Gesamtrahmen des Dialogs gehe ich einen ersten ideographischen Schritt der Wahrnehmung, gefolgt von einem zweiten provokativen Schritt des Vergleichs. (1) Der erste Schritt hat die Derascha bzw. jüdische „Predigt“ zum Gegenstand und beleuchtet sie in unterschiedlichen Phasen ihrer Geschichte. Das Ziel ist dabei nicht die Konstruktion einer Entwicklungsgeschichte, wenngleich eine geschichtliche Darstellung ohne die Wahrnehmung von Entwicklungen und Kontinuitäten nicht auskommt.130 Unhintergehbar ist mein 128 Auf dem Gebiet der Liturgik gab es durch die Symposien und daraus entstandenen Bände mit dem Titel „Two Liturgical Traditions“ einen Austausch jüdischer und christlicher Liturgikerinnen und Liturgiker über historische und aktuelle Fragen der Liturgik. Vergleichbare Tagungen zu den „Two Homiletical Traditions“ wären m.E. reizvoll. Die Heidelberger Gerhard von Rad-Tagung im Jahr 2001 war bisher die im deutschsprachigen Bereich m.W. einzige Fachtagung, bei der christliche und jüdische Wissenschaftler zur Diskussion homiletischer Fragen in einer praktischtheologischen Arbeitsgruppe zusammenkamen (vgl. ALSTON: Die Predigt des Alten Testaments). 129 VOLKMANN: Homiletik und christlich-jüdisches Gespräch, 259. 130 Die positivistische Annahme, Geschichte objektiv (und das würde heißen: jenseits eigener Interessen) darstellen zu können, wurde im 20. Jahrhundert – etwa durch die Diskursanalysen Michel Foucaults – als Illusion entlarvt. Knapp bringt auch Karl Briegleb diese Unmöglichkeit zur Sprache: „Der positive Wissenschaftler hört es nicht gern, wenn seine Arbeit Zauber heißt. Aber die geringste Selbstprüfung sagt ihm, daß er, wenn er nur das Auge von seinen Dokumenten erhebt, schon zu zaubern beginnt, nämlich einen Zusammenhang herstellt […], der sich über das QuellenArchiv erhebt und etwas Eigenes wird.“ (BRIEGLEB: „Jeder Reiche ist ein Judas Ischariot!“, 99 [Hervorhebung im Original]; vgl. auch SCHWARTZ: Is it Possible) Auch der Begriff der „dichte[n] Beschreibung“, den Clifford Geertz in Anlehnung an Gilbert Ryle prägte, verweist darauf, dass jede geschichtliche bzw. ethnologische Darstellung, die nicht nur Daten sammelt, immer „Aus-

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Blick auf die Phänomene und Entwicklungen im Judentum perspektivisch geprägt und – aufgrund meiner Leitfrage nach dem Text in der Predigt – vor allem hermeneutisch orientiert. Die Frage danach, wie jüdische „Predigt“ mit dem Text des Tanach umgeht, diesen mit den Herausforderungen der jeweiligen Situationen und mit weiteren Texten der Tradition verbindet, prägt meine Beobachtungen in den auf den Forschungsüberblick (Kap. 2) folgenden fünf Kapiteln (Kap. 3–7). (2) Der zweite, provokative Schritt soll aufgrund der Wahrnehmung der jüdischen Tradition und Gegenwart einen neuen Blick auf Problemstellungen im eigenen christlich-homiletischen Diskurs ermöglichen. Das Ziel muss bescheiden formuliert werden, um den Dialog nicht zu überfrachten: Nicht unbedingt die Lösungen der in diesem Kapitel bereits grundlegend eröffneten homiletischen Fragen nach dem Text in der Predigt erwarte ich mir von diesem Gespräch, aber Neubrüche im Denken und Fragen.131 Eine Eingrenzung und präzisere methodische Klärung für diesen zweiten Schritt der Arbeit (Kap. 9–14) nehme ich zu Beginn des zweiten Teils vor (Kap. 8).

legung[en]“ bzw. „Fiktion[en]“ biete (vgl. GEERTZ: Dichte Beschreibung, bes. 14 [„Auslegung“].23 [„Fiktion“]). 131 Von einem „‚Neubruch‘ […] aus der ‚Wurzel, die uns trägt‘ (Röm 11,18)“, spricht Friedrich-Wilhelm Marquardt als Ziel seiner Dogmatik im christlich-jüdischen Horizont (MARQUARDT: Von Elend und Heimsuchung der Theologie, 8).

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I. Derascha und jüdische Predigt in historischer und hermeneutischer Perspektive

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2. Jüdische „Predigt“ als Gegenstand der Forschung

Der folgende kurze Überblick stellt den Stand der Forschung zur jüdischen „Predigt“ anhand der wichtigsten Sekundär- (2.1) und Primärliteratur (2.2) vor und leitet anschließend zwei Folgerungen für den ersten ideographischwahrnehmenden Teil dieser Arbeit ab (2.3).

2.1 Sekundärliteratur zur jüdischen „Predigt“ Die Bezeichnung „Predigt“ wird im deutschsprachigen Judentum erst seit dem frühen 19. Jahrhundert für den Vortrag im synagogalen Gottesdienst verwendet.1 Die jüdische Reform nahm ihn aus der christlichen Umgebung auf und suchte in Hermeneutik und Gestaltung den Anschluss an die christliche Predigt. Seit rabbinischer Zeit war demgegenüber der Begriff „Derascha“ (‫ )דרשה‬üblich.2 Im engeren Sinne könnte sich eine Geschichte jüdischer Predigt folglich auf die vergangenen zwei Jahrhunderte beschränken, würde damit aber die lange Vorgeschichte der Derascha, deren Wurzeln bis in biblische Zeit reichen, ausblenden. Geht man bei der Darstellung der Entwicklung jüdischer Predigt bis zu den Anfängen der Derascha in rabbinischer Zeit zurück, so steht die Forschung vor dem Problem, eine ungeheuere Menge sehr disparaten Materials zu bewältigen zu haben. Eine grundlegende, monographische Darstellung der Geschichte jüdischer Predigt gibt es bislang nicht. Auch wenn Leopold Zunz’ 1832 erschienene Monographie dies vom Titel her nahelegt („Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden. Historisch entwickelt“), bleibt sein Buch hinter der durch den Titel gestellten Aufgabe zurück. Faktisch handelt es sich bei Zunz’ Darstellung um die erste kritische Literaturgeschichte der Midraschim von ersten Anfängen, die Zunz in den Büchern der Chronik findet, bis zu den Midraschsammlungen des Hochmittelalters unter besonderer Berücksichtigung des „hagadische[n] Schriftthum[s]“3. Die ursprüngliche Mündlichkeit des in den Midraschim gesammelten Materials stand für Zunz nicht in Frage, weswegen sich die Beschäftigung mit den Midraschim 1

Die hier zur Kennzeichnung der Problematik des Terminus „Predigt“ verwendeten Anführungszeichen werden im Fortgang dieses Kapitels weggelassen. 2 Vgl. unten Kap. 3. 3 ZUNZ: Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden, bes. 13–342, Zitat: 323.

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zur Ermittlung der Geschichte jüdischer gottesdienstlicher Vorträge für ihn nahelegte.4 Nur relativ knapp blickt Zunz auf die Entwicklungen in den beiden von ihm unterschiedenen „rabbinischen“ Zeitaltern, deren erstes er von ca. 970 bis zur Vertreibung der Juden aus Spanien 1492 datiert, deren zweites daran anschließend vom Ende des 15. Jahrhunderts bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts reicht.5 Vor allem für den deutschen und polnischen Bereich zeichnet Zunz in dieser Zeit das Bild des Verfalls der gottesdienstlichen Rede, um auf diesem Hintergrund dann die „Sehnsucht nach einem Gottesdienste, der Erbauung und Belehrung gewähre“, und einer ihm entsprechenden Predigt zu skizzieren.6 Hier zeigt sich, dass Leopold Zunz sein Buch nicht nur mit dem Ziel vorlegte, eine kritische Literaturgeschichte der Midraschim zu bieten. Gleichzeitig wollte er aufweisen, dass die landessprachliche jüdische Predigt, wie sie in jüdischen Reformkreisen des 19. Jahrhunderts neu eingeführt worden war, auf eine lange Tradition seit dem frühen Judentum zurückblicken könne. Im aschkenasischen Judentum der vorangehenden Jahrhunderte hingegen sei diese lange Regelpraxis verdunkelt worden. Seine Darstellung der Predigt in der Zeit vor dem Umbruch des 19. Jahrhunderts fällt daher nicht nur sehr knapp aus, sondern gerät auch teilweise deutlich polemisch. So schreibt Zunz: „Schon war die Mitte des 18ten Jahrhunderts überschritten, und noch lastete auf Israel der Fluch des 14ten: die Gesetze des Mittelalters, der Grimm der Concilien, waren in der bürgerlichen Stellung der Juden sichtbar, und der Ideenkreis vieler ihrer Lehrer, die Form ihrer Einrichtungen wenig seit jenem Zeitalter erweitert; vielmehr war man, zumal in Deutschland, Polen, dem Orient, in wissenschaftlicher Ausbildung, in Schul- und Synagogenwesen, ja selbst in der Sprache, hinter dem 11. und 12. Säculum zurück.“7 Auch seien „Vorträge […] nur in wenigen, grösseren Gemeinden regelmässig gehalten“ worden.8

Ein Projekt der Gesamtdarstellung jüdischer „gottesdienstlicher Vorträge“ ist seit Zunz nicht mehr in Angriff genommen worden. Inzwischen weisen – auch im deutschsprachigen Bereich – zahlreiche Lexikonartikel auf die 4

„Ursprünglich war jede Erläuterung des Midrasch […] ein Gesprochenes; überall finden wir Discussion, Unterhaltung, Unterricht und Vortrag. Bevor die Hagada aufgeschrieben worden, war sie eine geredete und gehörte Lehre“ (ZUNZ: Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden, 371). Vgl. zur Diskussion dieser Ansicht unten Kap. 3.3. 5 Vgl. ZUNZ: Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden, 373–463. 6 Vgl. ZUNZ: Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden, 463–496, Zitat: 473. 7 ZUNZ: Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden, 463. 8 ZUNZ: Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden, 464. Vgl. zur „Tendenz“ in Zunz’ Darstellung auch Nahum N. Glatzer: „Trotz seines wissenschaftlichen Charakters und der Akribie der gelehrten, wohl die Hälfte des Textes ausmachenden Belege in den Fußnoten verfolgt das Werk außerwissenschaftliche Tendenzen. Die Vorrede macht es zu einem Kampftraktat für bürgerliche Emanzipation, das Schlußkapitel zu einer Rechtfertigungsschrift für religiöse Reform.“ (GLATZER: Einleitung, 32).

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äußerst vielschichtige Entwicklung jüdischer Predigt von ihren Anfängen bis zur Gegenwart hin und zeigen damit auch, dass zur Darstellung jüdischer Predigt unterschiedliche Predigtkulturen differenziert nach historischen und geistesgeschichtlichen Epochen, Orten bzw. geographischen Räumen und verschiedenen Strömungen betrachtet und gleichzeitig einzelne Predigerpersönlichkeiten zum Gegenstand der Forschung gemacht werden müssen.9 Genau dies geschah in der historischen Erforschung jüdischer Predigt in den vergangenen ca. 200 Jahren. Seit dem Startschuss durch Zunz’ monumentales Werk entwickelte sich die literarhistorisch-kritisch arbeitende Forschung zu den Midraschim bis zur Gegenwart beständig weiter.10 In der gegenwärtigen Midrasch-Forschung, die den Bezug des in den Midraschim enthaltenen Materials zu den Predigten der Synagoge teilweise im Gegensatz zu Zunz sehr kritisch beurteilt,11 lassen sich m.E. im Wesentlichen drei Schulen unterscheiden: (1) eine historisch-philologische, die die Linie der Forschung des 19. Jahrhunderts fortsetzt und etwa durch den Jerusalemer Midrasch-Forscher Jona Fraenkel repräsentiert wird, (2) eine kanonisch-historische, für die besonders Jacob Neusner mit seinen überaus zahlreichen Publikationen steht, sowie (3) eine formanalytische, die auf den Frankfurter Judaisten Arnold Goldberg zurückzuführen ist. Auf die drei genannten Schulen und neuere Tendenzen der Midrasch-Forschung gehe ich unten näher ein.12 Wesentliche Beiträge zur Erforschung jüdischer Predigt im Mittelalter leistete Israel Bettan, langjähriger Professor für Midrasch am Hebrew Union College. In sieben – mehrheitlich zunächst in HUCA ab 1929 erschienenen – biographisch orientierten Beiträgen charakterisiert er Predigerpersönlichkeiten vom 13. bis ins 18. Jahrhundert.13 Die einzelnen Beiträge wurden 1939 als Buch mit dem Titel „Studies in Jewish Preaching“ publiziert und 1987 nachgedruckt.14 In aller Regel stellt Bettan nach einer kurzen Einleitung den jeweiligen Prediger zunächst biographisch vor, bevor er dann formale Besonderheiten seiner Predigten und schließlich wesentliche inhaltli9

Vgl. die folgenden Lexikonartikel zur jüdischen Predigt: ALINER: Art. Derascha; BEN-SASArt. Derascha; CARLEBACH: Art. Homiletic Literature; DAN: Art. Homiletic Literature; EGO: Art. Predigt; FRIEDENBERG: Art. Jewish Preaching; HEINEMANN/WIGODER/JACOBS: Art. Preaching; HERRMANN: Art. Predigt; KUYT: Art. Homiletik; SAPERSTEIN: Art. Sermon. Vgl. auch den groben Überblick bei MAGONET: The Jewish Sermon. 10 Vgl. dazu die Hinweise bei STEMBERGER: Midrasch, 222–225. Einen kurzen Überblick über die Methodik der Analyse rabbinischer Literatur bietet STEMBERGER: Einleitung, 55–65. 11 Vgl. z.B. PORTON: Midrash and the Rabbinic Sermon, und unten Kap. 3.3. 12 Vgl. unten Kap. 10.1. 13 Vgl. BETTAN: The Sermons of Judah Moscato; ders.: The Sermons of Azariah Figo; ders.: The Sermons of Ephraim Luntshitz; ders.: The Sermons of Jonathan Eybeshitz; ders.: The Sermons of Jacob Anatoli; ders.: The Sermons of Isaac Arama. 14 Vgl. BETTAN: Studies in Jewish Preaching. Neben den bereits erschienenen Texten findet sich in dem Band noch ein Beitrag zu BaÎya Ben Asher (vgl. 89–129). SON:

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che Charakteristika vor Augen führt. Bettan sieht seine historische Forschung auch dadurch motiviert, dass er die mittelalterliche jüdische Predigt als einen unmittelbaren Vorläufer der modernen jüdischen Predigt – mit ihrer Stringenz der Argumentation und ihrer gedanklichen Logik – begreift.15 Die historischen Studien erachtet Bettan daher auch als relevant für die Gestaltung jüdischer Predigt der Gegenwart.16 Auch Marc Saperstein veröffentlichte zur Predigt im jüdischen Mittelalter. In der Einleitung seiner 1989 erschienenen Anthologie „Jewish Preaching 1200–1800“ übt er deutliche Kritik an der vorauslaufenden Arbeit Israel Bettans. In dessen Forschungen seien einerseits große Lücken festzustellen; darüber hinaus blicke er bei der Darstellung einzelner Predigerpersönlichkeiten oftmals wenig spezifisch auf deren Predigt, sondern betrachte allgemein deren Veröffentlichungen, ohne dabei genauer nachzufragen, inwiefern sich von den schriftlich überlieferten Texten auf tatsächlich gehaltene mündliche Predigten schließen lasse. Auch komme bei Bettans flächigem Blick auf das Gesamtwerk der mittelalterlichen Prediger die genaue Wahrnehmung einzelner Predigten in inhaltlicher und rhetorischer Perspektive manchmal zu kurz.17 Diese Probleme versucht Saperstein zu umgehen, indem er nach einer ausführlichen Einleitung zur mittelalterlichen jüdischen Predigt in seinem Hauptteil 16 Predigten in Übersetzung vorstellt und jeweils mit einer knappen Einführung versieht (angefangen bei Jacob Anatoli bis zu Ezekiel Landau) sowie einige Quellen zur Geschichte und Theorie jüdischer Predigt im Mittelalter beifügt. 1996 ließ Saperstein seiner ersten Monographie zur Homiletik eine zweite folgen: „‚Your Voice Like a Ram’s Horn‘. Themes and Texts in Traditional Jewish Preaching“. Die 18 Kapitel dieses Buches sind einerseits thematischen Studien zur jüdischen Predigt im Mittelalter gewidmet, wobei Saperstein vor allem den engen Konnex zwischen Schriftauslegung und Predigt, Hermeneutik und Homiletik betont,18 andererseits werden einzelne Texte im hebräischen Original und in Übersetzung vorgestellt.19 Mit den Werken von Bettan und Saperstein liegen zur jüdischen Predigt im Mittelalter drei materialreiche Monographien vor, die dennoch nur einen Ausschnitt aus der Fülle der Quellen vor Augen führen. So fällt z.B. auf, 15 Vgl. z.B. Bettans Aussagen zu Juda Moscatos Predigten (16. Jahrhundert). In ihnen findet er „unity of thought and uninterrupted progression of ideas“ (BETTAN: Studies in Jewish Preaching, 192) und stellt fest: „[…] one is tempted to characterize Moscato as the father of the modern Jewish sermon“ (194); vgl. auch 369–377. 16 Vgl. zu einer ähnlichen Studie auch RIVKIN: The Sermons of Leon de Modena. 17 Vgl. SAPERSTEIN: Jewish Preaching 1200–1800, 2–4. 18 Vgl. die Kapitel 1–11 des Bandes und dazu SAPERSTEIN: „Your Voice […]“, xii–xiv. 19 Vgl. die Kapitel 12–18 und dazu SAPERSTEIN: „Your Voice […]“, xiv–xviii. Es handelt sich bei den vorgestellten Texten um eine „ars praedicandi“ aus dem frühen 15. Jahrhundert sowie um Predigten aus der Zeit vom 14. bis zum 18. Jahrhundert.

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dass die Predigt der Kabbala, aber z.B. auch sabbatianische bzw. chassidische Predigt bisher in der Forschung zu kurz kommt, allerdings auch methodisch schwer zu bearbeiten ist.20 Zur jüdischen Predigt und Homiletik in der Zeit des Umbruchs des 19. Jahrhunderts ist bisher erst eine einzige monographische Studie erschienen. Andrea Bieler nimmt in ihrem Buch „Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel“ (2003) neben der Predigt auch die Liturgik in ihre Darstellung auf und betrachtet jüdische Predigt, Homiletik und Liturgik im Vergleich zu parallelen christlichen Entwicklungen und auf dem Hintergrund der allgemeinen Modernitätsproblematik.21 Bereits vor Bielers Studie wurden allerdings wichtige Einzelbeiträge zu dieser Epoche veröffentlicht – etwa die Aufsätze Alexander Altmanns (1906–1987).22 Durch seine weite philosophische und theologische Kenntnis gelingt es Altmann in seinen Studien, jüdische Predigt im 19. Jahrhundert auf ihrem philosophiegeschichtlichen Hintergrund zwischen Aufklärung, Kant, Romantik, Idealismus und christlicher Theologie zu verorten. In einem 1961 erschienenen Beitrag „Zur Frühgeschichte der jüdischen Predigt in Deutschland“ beschreibt Altmann die Richtung, die eine künftige Forschung einschlagen sollte: Durch die eingehende Analyse mehrerer einzelner Predigerpersönlichkeiten müsse nach und nach ein Gesamtbild entwickelt werden. Erst dann könne man sehen, wie der „Gestaltwandel“ jüdischer Predigt zu Beginn des 19. Jahrhunderts insgesamt beschrieben werden kann.23 Außerdem müsse – so Altmann an anderer Stelle – der Theologie der Predigt größere Aufmerksamkeit zukommen.24 Bis heute wurden diese Desiderate nicht abgearbeitet; auch Andrea Bielers Monographie beleuchtet nur einen Aspekt der jüdischen Predigtgeschichte des 19. Jahrhunderts. Es ist zu erwarten und zu hoffen, dass im Zuge des Bedeutungszuwachses liberalen Judentums in Deutschland – wie es sich etwa in der Gründung des Abraham Geiger-Kollegs in Potsdam 1999 manifestiert – auch die Forschung zur jüdischen Predigt und Homiletik im 19. Jahrhundert intensiviert werden wird. Bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dann vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg und der Schoa trat Europa (mit Ausnahme Englands) als ehemals entscheidendes Zentrum des Judentums immer mehr 20

Vgl. GRIES: Between History and Literature, 117–119. Vgl. BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, und dazu oben Kap. 1.2.2, 39f. 22 Geboren in Ungarn war Altmann zunächst in England als Rabbiner und Wissenschaftler tätig; seit 1959 arbeitete er als Professor für Jüdische Philosophie an der Brandeis-University (MA); vgl. ALTMANN: Zur Frühgeschichte der jüdischen Predigt in Deutschland; ders.: The New Style of Preaching in Nineteenth-Century German Jewry; ders.: The German Rabbi 1910–1930; ders.: Studies in 19th Century Jewish Intellectual History. 23 Vgl. ALTMANN: Zur Frühgeschichte der jüdischen Predigt, 4. 24 „An analysis of the theology of the sermon is still a desideratum“ (ALTMANN: The New Style of Preaching, 65). 21

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in den Hintergrund. Stattdessen entwickelten sich Nordamerika und Israel zu den beiden Mittelpunkten jüdischen Lebens.25 Da jüdische Predigt seit dem 19. Jahrhundert vor allem in liberalen und konservativen Kreisen des Judentums gepflegt wurde und sich diese Richtungen mehrheitlich in Nordamerika sammelten und entwickelten, ist primär dieses Gebiet homiletisch interessant. Dies zeigt etwa die 1989 erschienene Monographie zur Geschichte jüdischer Predigt in Nordamerika von 1654 bis 1970, die Robert V. Friedenberg vorlegte.26 Friedenbergs Buch markiert auch deshalb eine Besonderheit gegenüber anderen Veröffentlichungen zur jüdischen Predigt, da Friedenberg kein Judaist oder Historiker, sondern Rhetoriker ist und als Professor für Kommunikationswissenschaften arbeitet. Seine Studie verbindet die Felder der „speech communication and Judaic studies“27. Unter rhetorischen Aspekten geht er in sechs Kapiteln den Entwicklungen US-amerikanischer Predigt von ersten Anfängen bis in die Gegenwart nach; der Schwerpunkt der Untersuchungen liegt dabei auf der zweiten Hälfte des 19. und ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.28 Neben diesen Beiträgen, die sich ausschließlich der jüdischen Predigt widmen, wird jüdische Predigt en passant immer wieder in schwerpunktmäßig anders gelagerten Darstellungen thematisiert. So etwa in Beiträgen zur jüdischen Geschichte29, zur Liturgie und Liturgik30, zum Rabbinat und seinen 25

Vgl. unten Kap. 7, 191f. Vgl. FRIEDENBERG: „Hear O Israel“. 27 FRIEDENBERG: „Hear O Israel“, ix. 28 Einen herausfordernden Aspekt US-amerikanischer Predigtgeschichte stellt daneben Bernhard N. Cohn in einem ausführlichen Aufsatz vor Augen. Er beschreibt frühe deutschsprachige Predigten in den USA, jene Predigten also, die von in die USA ausgewanderten deutschsprachigen Reformrabbinern im 19. Jahrhundert gehalten wurden und die Predigtgeschichte im liberalen Judentum der USA prägten (vgl. COHN: Early German Preaching in America). 29 Vgl. etwa die Darstellungen in den großen Sammelwerken zur jüdischen Geschichte: GRÄTZ: Geschichte der Juden; DUBNOW: Weltgeschichte des jüdischen Volkes. Einen groben Überblick über die jüdische Geschichte in Deutschland bietet HERZIG: Jüdische Geschichte in Deutschland. Vgl. zum jüdischen Mittelalter z.B. BONFIL: Jewish Life in Renaissance Italy; DAN: Hebrew ethical and homiletical Literature; TWERSKY: Studies. Vgl. zur Entwicklung in der Moderne z.B. ALLERHAND: Das Judentum in der Aufklärung; BATTENBERG: Das europäische Zeitalter der Juden; COHN-SHERBOK: Modern Judaism; ELBOGEN: Ein Jahrhundert jüdischen Lebens; GRAB: Der deutsche Weg der Judenemanzipation; GRAUPE: Die Entstehung des modernen Judentums; KATZ: Tradition und Krise; LIEBESCHÜTZ: Das Judentum; MEYER: Antwort auf die Moderne; MEYER: Deutsch-jüdische Geschichte; MEYER: Jüdische Identität in der Moderne; SCHOEPS: Deutsch-jüdische Symbiose; VOLKOV: Das jüdische Projekt der Moderne. Den Umbruch im frühen 20. Jahrhundert charakterisiert BRENNER: The Renaissance of Jewish Culture in Weimar Germany. Zwei Detailstudien widmen sich dem neo-orthodoxen Judentum im frühen 20. Jahrhundert in Deutschland; vgl. BEN-AVNER: Vom orthodoxen Judentum in Deutschland; BREUER: Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich. 26

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Veränderungen31, zur synagogalen Architektur32, zur philosophischen Entwicklung33 oder zur Geschichte der Bibelinterpretation34.

2.2 Jüdische Predigten, Predigtsammlungen und Homiletiken Bezieht man auch diejenigen Werke ein, die sich nicht ausschließlich der jüdischen Predigt widmen, so lässt sich von einer großen, annähernd unüberschaubaren Fülle der Sekundärliteratur sprechen. Dem entspricht auch der Umfang der Primärquellen – zumindest was Predigten und Predigtsammlungen angeht. Dezidiert homiletische Literatur hingegen ist in weitaus geringerem Umfang greifbar. (1) Predigten und Predigtsammlungen: Für Leopold Zunz war, wie oben erwähnt, unstrittig, dass zur Ermittlung der Geschichte jüdischer gottesEinen Überblick über die Entwicklung des Judentums in Deutschland nach 1945 bis zum Erscheinen des Bandes bietet BRUMLIK: Jüdisches Leben. Auch einzelne Gemeinden und ihre Entwicklung wurden zum Gegenstand historischer Nachfrage. Vgl. BRÄMER: Judentum und religiöse Reform; DROBNER: Zur Entwicklung der Mainzer Jüdischen Gemeinde; FREIMARK: Die Hamburger Juden. Daneben finden sich auch in historischen Darstellungen über jüdische Strömungen Informationen zur Bedeutung der jüdischen Predigt, vgl. z.B. BOROWITZ: Liberal Judaism; ROMAIN/HOMOLKA: Progressives Judentum; SKLARE: Conservative Judaism. 30 Vgl. BÖCKLER: Jüdischer Gottesdienst; ELBOGEN: Der jüdische Gottesdienst; IDELSOHN: Jewish Liturgy; MCKAY: Sabbath and Synagogue; REIF: Judaism and Hebrew Prayer; TREPP: Der jüdische Gottesdienst u.a. 31 Einen groben Gesamtüberblick über die Geschichte des Rabbinats bietet SCHWARZFUCHS: A Concise History of the Rabbinate. Vgl. zur rabbinischen Bewegung in ihren Anfängen HEZSER: The Social Structure; URBACH: The Sages. Vgl. zu modernen Entwicklungen ALTMANN: The German Rabbi 1910–1930; BRÄMER: Rabbiner und Vorstand; DEEG: Pastor legens; FELDMAN: The American Reform Rabbi; JOSPE: A Profession in Transition; MARCUS: The American Rabbinate. Außerdem liegen Studien und Sammelwerke zu einzelnen Rabbinern vor, vgl. z.B. BRÄMER: Rabbiner Zacharias Frankel; KATZ: American Rabbi; RÜLF: Paul Lazarus-Gedenkbuch. 32 Vgl. zu den Anfängen und frühen Entwicklungen der Synagoge z.B. GUTMANN: Ancient Synagogues; LEVINE: Ancient Synagogues Revealed; vgl. zur Geschichte synagogaler Architektur in Deutschland HAMMER-SCHENK: Synagogen in Deutschland; SCHWARZ: Die Architektur der Synagoge. 33 Vor allem die Beiträge, die sich mit jüdischer Hermeneutik beschäftigen, werden auch für die Frage nach jüdischer Homiletik interessant; vgl. z.B. BRUCKSTEIN: Die Maske des Moses; GOODMAN-THAU: Aufstand der Wasser; ROJTMAN: Black Fire on White Fire. Vgl. auch die spezieller auf die Kabbala und ihre Rezeption bezogene Studie KILCHER: Die Sprachtheorie der Kabbala. 34 Vgl. grundlegend für die rabbinische Zeit MULDER: Mikra; vgl. auch MANN: The Bible; MANN/SONNE: The Bible. Vgl. dann z.B. SAPERSTEIN: Decoding the Rabbis, der anhand der Haggada-Kommentare von R. Isaac ben Yedaiah Wege des Umgangs mit der Haggada im 13. Jahrhundert vor Augen führt, oder auch die Beiträge von Maren Niehoff zum Umgang mit der Haggada im 19. Jahrhundert (bes. NIEHOFF: Die Wiederentdeckung der Haggada im 19. Jahrhundert).

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dienstlicher Vorträge ein wesentlicher Ausgangspunkt bei den haggadischen Midraschim rabbinischer Zeit zu suchen sei, bei jenen Sammlungen rabbinischer Schriftauslegung also, die seit etwa dem vierten Jahrhundert entstanden. Sicher muss hier kritischer gefragt werden, inwiefern das in diesen Werken gesammelte Material tatsächlich auf einen Sitz im Leben im synagogalen Gottesdienst zurückgeführt werden kann oder nicht. Und sicher wird man die haggadischen Midraschim – und auch die Untergruppe der sogenannten „homiletischen Midraschim“ – nicht einfach als Predigtsammlungen aus rabbinischer Zeit bezeichnen können. Dennoch ist der Bezug von in ihnen enthaltenen Texten (vor allem in den Formen der Peticha und Chatima sowie z.B. der rabbinischen Gleichnisse) auf einen gottesdienstlichen Sitz im Leben wahrscheinlich, weswegen die Midraschim zunächst zu konsultieren sind, wenn es um eine historische Wahrnehmung jüdischer Predigt geht.35 Im jüdischen Mittelalter entstanden umfangreiche Midraschkompilationen, d.h. dem biblischen Text entlanggehende Sammlungen von Materialien aus unterschiedlichen Midraschim. Eine ihrer wesentlichen Funktionen kann darin gesehen werden, durch die Zusammenstellung des Materials Hilfen für die in den Synagogen zu haltenden Deraschot zu geben. Besonders zu erwähnen ist hier der – bis heute bedeutsame – „Jalqut Schimoni“ des Schimon ha-Darschan aus dem 13. Jahrhundert.36 Im Hochmittelalter lässt sich eine wesentliche Veränderung in der Tradierung jüdischer Schriftauslegung greifen. Waren es vorher Sammelwerke, in denen die Stimmen der einzelnen Ausleger mit- und nebeneinander überliefert wurden, so entstanden seit Raschis (1040–1107) Kommentaren Auslegungen Einzelner, die unter deren Namen publiziert wurden. Entsprechend finden sich nun auch Überlieferungen von Predigten und Predigtsammlungen einzelner jüdischer Prediger.37 Die Predigten wurden in aller Regel auf Hebräisch veröffentlicht; es scheint aber durchaus denkbar, dass sie in der jeweiligen Landessprache gehalten wurden. Die sprachliche Differenz zwischen der Veröffentlichung und der tatsächlichen synagogalen Predigt macht bereits auf die Schwierigkeit aufmerksam, von den erhaltenen Texten auf die faktischen Predigten zurückzuschließen.38

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Vgl. zu diesen Fragestellungen unten Kap. 3.3. Vgl. zu den Sammelwerken insgesamt STEMBERGER: Einleitung, 341–349 (zum Jalqut Schimoni: 341f); vgl. auch ELBAUM: Yalqut Shim’oni. 37 Vgl. BETTAN: Studies in Jewish Preaching, 47, der die ersten einem Prediger zugeordneten Deraschot in das 13. Jahrhundert datiert. 38 Vgl. zum Überblick über das Material sowie zur Benennung der Probleme der Forschung die drei oben genannten Bände: BETTAN: Studies in Jewish Preaching; SAPERSTEIN: Jewish Preaching 1200–1800; SAPERSTEIN: „Your Voice […]“. 36

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Im 19. Jahrhundert wurde im Kontext der Predigtbewegung (Kap. 5) in der jüdischen Reform zunächst im deutschsprachigen Bereich, dann auch darüber hinaus, eine große Fülle von landessprachlichen Predigten gehalten, die teilweise als Einzeldrucke, teilweise in Zeitschriften oder Sammelwerken veröffentlicht wurden. Sehr häufig sind veröffentlichte Texte von ihrer Ausrichtung her apologetisch geprägt und bewusst auch für christliche Leser verfasst. Es bleibt damit auch hier fraglich und müsste jeweils im Detail geprüft werden, inwiefern von ihnen ausgehend auf die tatsächlich gehaltenen Predigten zurückgeschlossen werden kann.39 Eine erste bedeutsame Predigtsammlung eines Einzelpredigers erschien in Berlin 1823. Unter dem Titel „Predigten. Gehalten in der neuen israelitischen Synagoge zu Berlin“ veröffentlichte Leopold Zunz seine Berliner Predigten, die er selbst als durchaus paradigmatisch für die neue Gestalt der Predigt betrachtete.40 Von Zunz’ Sammlung ausgehend wurden zahlreiche Predigtsammlungen publiziert; nicht selten waren sie bewusst auch als Predigthilfen konzipiert – etwa die zwei Bände der „Predigt-Skizzen“ Eduard Kleys (Hamburg).41 Eine gewisse Bedeutung beanspruchte schon allein durch ihren Titel die 1870 und 1872 erschienene und von Meir Kayserling herausgegebene Sammlung „Bibliothek jüdischer Kanzelredner“. Im Vorwort zum ersten Jahrgang schreibt Kayserling: „Die jüdische Homiletik entbehrte bis anhin der wissenschaftlichen Bearbeitung, ihre Literatur und Geschichte waren unbeachtet: es sollte ihr ein einigendes Organ geschaffen, ihre bedeutungsvolle Vergangenheit wissenschaftlich gewürdigt und eine Sammlung der besten Erzeugnisse jüdischer Homiletik Jedermann zugänglich gemacht werden.“42 Kayserling beginnt mit einer Predigt Joseph Wolfs in Dessau aus dem Jahr 180843 und stellt danach weitere Prediger vor. Zugleich charakterisiert Kayserling in einzelnen Artikeln auch die Entwicklung jüdischer Predigt in verschiedenen Territorien. Außerdem finden sich in dem Sammelband ausführliche bibliographische Hinweise, die ein breites Spektrum gedruckter Predigten aus dem 19. Jahrhundert umfassen.44 Entsprechend der Verschiebung des geographischen Schwerpunkts des Judentums weg von Europa und hin nach Amerika und Israel sind es im 20. Jahrhundert vor allem Predigten aus dem englischsprachigen Judentum, die veröffentlicht werden (sowie einzelne Sammlungen von Deraschot aus Is39

Vgl. BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, 16f, bes. 17. Vgl. unten Kap. 5.2, bes. 134–136. 41 Vgl. KLEY: Predigt-Skizzen; vgl. z.B. auch die in der von Ludwig Philippson herausgegebenen „Allgemeinen Zeitung des Judenthums“ (AZJ) erschienenen „Predigtentwürfe“ sowie das „Literarische und Homiletische Beiblatt“ der AZJ (dazu unten Kap. 5.3.1). 42 KAYSERLING, in: ders.: Bibliothek jüdischer Kanzelredner, 1. Jahrgang, III. 43 Vgl. zu einer Analyse dieser Predigt unten Kap. 5.1.1. 44 Vgl. daneben auch die bibliographischen Hinweise bei MAYBAUM: Jüdische Homiletik, und DAXELMÜLLER: Erzähler auf der Kanzel, 53–66. 40

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rael).45 Deutschsprachige Sammlungen jüdischer Predigten sind nach der Schoa kaum noch erschienen. Zu nennen sind aber z.B. die 1965 publizierten gesammelten „Freitagabend-Vorträge im bayerischen Rundfunk“ von Baruch Graubard46 sowie der Predigtband von Yehoschua Amir aus dem Jahr 198347. Ausgewählte Predigten des aus Deutschland stammenden kanadischen Rabbiners Erwin Schild erschienen 1996 in deutscher Übersetzung.48 (2) Homiletische Werke: Seit dem 15. Jahrhundert wurden, beginnend mit Joseph Ibn Shem Tovs Überlegungen49, zahlreiche jüdische homiletische Anleitungsbücher veröffentlicht. Allerdings sind nur wenige dieser Texte in greifbaren Ausgaben zugänglich. Eine hervorragende Edition eines der umfangreichsten dieser Texte, des Predigtmanuals ‫( אור הדרשני‬Or ha-darschanim; etwa: „Licht für die Prediger“) von Ja’akob Zachalon aus dem 17. Jahrhundert, legte Henry Adler Sosland 1987 vor.50 Zachalon wollte den angehenden Predigern mit seinem Werk die notwendigen Schritte zur Vorbereitung und Durchführung einer wirkungsvollen Predigt vor Augen führen und äußert sich u.a. zu Inhalt und Ziel jüdischer Predigt, zu deren Länge, Aufbau, Einleitung und Abschluss, aber auch zur Stimme, Gestik und Pflege der Gesundheit des Predigers.51 Eine völlig neue Art homiletischer Literatur entwickelte sich dann im 19. Jahrhundert in Deutschland. Im Zuge der Neukonzeptualisierung jüdischer Predigt in der Reformbewegung entstanden erste dezidiert so bezeichnete jüdische Homiletiken. Am wichtigsten in ihrer Wirkung und am umfassendsten in ihrer Anlage war die Homiletik Siegmund Maybaums (1844– 1919) aus dem Jahr 1890, die die homiletische Entwicklung im deutschsprachigen Judentum des 19. Jahrhunderts bündelt. Im gleichen Jahr erschien die von Meir Kayserling herausgegebene Sammlung von verstreut erschienenen homiletischen Beiträgen Ludwig Philippsons (1811–1889) unter dem Titel „Die Rhetorik und die jüdische Homiletik“. Philippsons Ziel ist die Gewinnung einer modernen und zeitgemäßen, aber dennoch spezifischen – und d.h. nicht einfach die christliche Predigt kopierenden – jüdischen Predigtrede. Gut ein Jahrzehnt später (1903/04) folgten Joseph Wohl45

Vgl. als bedeutende Predigtbände einzelner Prediger z.B. COHEN: Sabbath Sermons; FREEBible Sermons for Today; FREEHOF: Preaching the Bible; SAPERSTEIN, H. I.: Witness from the Pulpit; vgl. auch die beiden neueren Sammelwerke GREENBERG: A Treasury of Favorite Sermons; TEPLITZ: The Best of Best Jewish Sermons. 46 Vgl. GRAUBARD: Gelesen in den Büchern Mose. 47 Vgl. AMIR: Deraschot. 48 Vgl. SCHILD: Die Welt durch mein Fenster. 49 Vgl. SOSLAND: A Guide for Preachers, 80–84. 50 SOSLAND: A Guide for Preachers. 51 Vgl. dazu unten Kap. 4.2.3, bes. 117–119.

HOF:

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gemuths „Beiträge zu einer jüdischen Homiletik“ – ein neo-orthodoxes Pendant zu den Werken von Maybaum und Philippson, das jüdische Predigt nicht im Anschluss an die Rationalität der Aufklärung, sondern an eine durch Kant und die Romantik geprägte Ästhetik entwickelt.52 Die Epoche der Veröffentlichung jüdischer Homiletiken ging bereits eine Generation später mit den beiden englischsprachigen und jeweils auf Vorlesungen basierenden Werken von Abraham Cohen („Jewish Homiletics“; 1937) und Solomon B. Freehof („Modern Jewish Preaching“; 1941) wieder zu Ende. Dennoch sieht Abraham Cohen seine „Jewish Homiletics“ nicht als einen Schlusspunkt, sondern vielmehr als einen Neuanfang jüdischer Homiletik. So schreibt er in seinem Vorwort – nach einem kurzen Verweis auf Siegmund Maybaums Homiletik: „[…] it is my privilege to produce the first comprehensive treatise on Jewish Homiletics.“53 Beide, Cohen und Freehof, gehen von der Wichtigkeit jüdischer Predigt für den synagogalen Gottesdienst und das Leben der jüdischen Gemeinden aus und wollen ihr dementsprechend neue Bedeutung verschaffen. Sie schreiben damit gegen eine gewisse Predigtmüdigkeit an: „[…] the preachers themselves and many members of the congregation are beginning to feel that the Scriptural sermon is a relic of the past and is perhaps on the verge of complete disappearance.“54 Inhaltlich suchen Cohen und Freehof nach einer materialiter spezifisch jüdischen Predigt, die sich formal aber der Einsichten allgemeiner Rhetorik bedienen soll.55 Seit Cohen und Freehof wurden keine monographischen jüdischen Homiletiken mehr veröffentlicht. Bis heute finden aber die sechs zwischen 1957 und 1961 am „Hebrew Union College. Jewish Institute of Religion“ (HUCJIR) in Cincinnati gehaltenen und als Kopie verbreiteten Vorlesungen „Aspects of Jewish Homiletics“ in der homiletischen Ausbildung Beachtung.56 Außerdem erschienen zahlreiche kleinere, vor allem praktisch-orientierte Beiträge zur jüdischen Homiletik in verschiedenen Zeitschriften (etwa CCAR.J oder CJud).57

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Vgl. zu den Homiletiken des 19. Jahrhunderts unten Kap. 5.2–5.4; vgl. zu Wohlgemuth unten Kap. 6.3.1. 53 COHEN: Jewish Homiletics, v. 54 FREEHOF: Modern Jewish Preaching, 42. 55 Vgl. dazu unten Kap. 7.2, bes. 195–198. 56 Vgl. KAHN: Aspects of Jewish Homiletics; FELDMAN: What to Preach About; PILCHIK: Sources and Themes; RUDIN: On the Nature of the Rabbi; NAROT: The Textual Sermon; GITTELSOHN: Speak to the Children of Israel. 57 Vgl. dazu unten Kap. 7.3.2 und 7.3.3.

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2.3 Folgerungen Zwei Folgerungen aus der Wahrnehmung des Standes der Forschung sowie des Umfangs der Primärliteratur zur jüdischen Predigt scheinen mir wesentlich: (1) Es wäre – wie bereits oben betont – unsinnig und vermessen, im ersten, wahrnehmenden Teil einen historischen Gesamtüberblick über die jüdische Predigt bieten zu wollen. Wichtig erscheint mir aber, dass die wesentlichen Epochenschwellen, die sich sowohl in der Sekundär- als auch in der Primärliteratur zur jüdischen Predigt deutlich abzeichnen, berücksichtigt werden: einerseits die Wende zum jüdischen Mittelalter, andererseits die Wende am Beginn des 19. Jahrhunderts.58 Ich gehe daher zunächst auf die rabbinische Zeit ein (Kap. 3) und bestimme dann kurz die wesentlichen hermeneutischen Umbrüche im jüdischen Mittelalter und ihre homiletischen Konsequenzen (Kap. 4). Die Zeit vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart als die Epoche moderner jüdischer Predigt soll aufgrund der Fülle des Materials nochmals untergliedert werden: Ich betrachte zunächst die homiletische Entwicklung im deutschsprachigen Bereich im 19. Jahrhundert (Kap. 5), dann die hermeneutischen und homiletischen Veränderungen in diesem Gebiet in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts bis zur Schoa (Kap. 6). Ein letztes Kapitel des historischen Überblicks nimmt schließlich den englischsprachigen und vor allem US-amerikanischen Raum vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart in den Blick (Kap. 7). (2) Als besonders problematisch erweist sich historische Forschung immer dann, wenn sie Entwicklungslinien aufzeigen möchte. Die Interessen der Forschung bestimmen dann die Rekonstruktion der Geschichte besonders deutlich, wie sich im Blick auf die jüdische Predigt paradigmatisch an der

58 Der Bedeutung der Epochenschwelle des 19. Jahrhunderts wird nicht in allen Darstellungen zur jüdischen Predigt ausreichendes Gewicht beigemessen. Ich erwähne exemplarisch den TREArtikel von Beate Ego aus dem Jahr 1997. Obwohl die Überschrift „Predigt III. Judentum“ eine umfassende Darstellung nahelegt, blendet der Artikel den Umbruch der Moderne fast vollständig aus. In dem 213 Zeilen umfassenden Artikel kommen nur die letzten vier (!) Zeilen auf das 19. Jahrhundert zu sprechen. Dort heißt es lapidar: „Erst durch den Einfluß der jüdischen Reformbewegung des 19. Jh. wurde die Predigt in der jeweiligen Landessprache zu einem integralen Bestandteil des Synagogengottesdienstes am Sabbatmorgen“ (EGO: Art. Predigt, 239). Vgl. ähnlich den auf die Entwicklung im und seit dem 19. Jahrhundert nur knapp eingehenden Beitrag von Annelies Kuyt (KUYT: Art. Homiletik); vgl. demgegenüber die ausgewogene, die Antike, das Mittelalter und die Neuzeit etwa gleichmäßig berücksichtigende Darstellung von Klaus Herrmann (HERRMANN: Art. Predigt).

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Darstellung von Leopold Zunz studieren lässt.59 Mein eigenes Interesse an der Entwicklung homiletischer Hermeneutik habe ich oben (Kap. 1) deutlich gemacht. Es soll bei der folgenden Darstellung versucht werden, eine sich primär auf die Sekundärliteratur stützende flächige Betrachtung der hermeneutischen Entwicklung jüdischer Predigt mit einigen Einzelanalysen von Predigten und homiletischen Werken zu verbinden. In der Sprache der Archäologie ließe sich sagen: Es wird darum gehen, Oberflächensurveys und einzelne Tiefenbohrungen zu kombinieren.

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An ein für das christlich-jüdische Miteinander bedeutsames und bekanntes Beispiel für eine vermeintlich objektive historische Forschung im Bereich christlicher Theologie sei kurz erinnert. Als kritischer Wissenschaftler entwickelte Julius Wellhausen im 19. Jahrhundert seine Theorie zur zeitlichen Abfolge der Entstehung der Schriften des Alten Testaments, die sich auf die Formel „lex post prophetas“ zusammenfassen lässt. Mit dieser Zuspitzung der Entwicklungstheorie aber war das Gesetz theologisch entschärft, da es als Spätling gegenüber dem Eigentlichen der prophetischen Botschaft gelten konnte. Am Ende der Entwicklung des Alten Testaments stand folglich ein starres, nomistisches und von Wellhausen nicht selten ironisch gezeichnetes Judentum (vgl. KRAUS: Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, 260–269).

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3. Apriorische Tora-Erwartung und skripturale Hermeneutik. Midrasch und Derascha in tannaitisch-amoräischer Zeit

Eine geschichtlich orientierte Darstellung jüdischer Predigt steht vor dem Problem, den Anfang jüdischer Predigt zu ermitteln. Je nach Forschungsinteresse und Vorverständnis kann dieser sehr unterschiedlich bestimmt werden. Der erste Abschnitt dieses Kapitels fragt nach Ursprüngen jüdischer Predigt und führt zur Derascha in tannaitischer und amoräischer Zeit1 (3.1). Das rabbinische Judentum in diesen rund 400 Jahren kann – trotz aller Einflüsse von außen und Entwicklungen im Innern – als eine Auslegungsgemeinschaft verstanden werden, die durch eine gemeinsame Tora-Hermeneutik verbunden war.2 Diese Hermeneutik soll im zweiten Abschnitt anhand einiger Quellen in Grundzügen erarbeitet werden (3.2). Von dieser leitenden Hermeneutik ist auch die Derascha, die Predigt in rabbinischer Zeit, gekennzeichnet. Vor allem in der Form der Peticha lässt sie sich im rabbinischen Schrifttum wahrnehmen (3.3). Exemplarisch soll daher abschließend eine Peticha vorgestellt und kurz analysiert werden (3.4).

3.1 Ursprünge der Derascha Je nach leitendem Interesse und je nach Definition des Begriffs der Predigt bzw. Derascha gelangt die Forschung zu sehr unterschiedlichen Aussagen, was den Beginn jüdischer Predigt betrifft. So legten jüdische Forscher des 19. Jahrhunderts, die an der Einrichtung regelmäßiger landessprachlicher Predigt im synagogalen Gottesdienst interessiert waren, Wert darauf, den Beginn jüdischer Predigt möglichst weit zurückzudatieren, am besten bis in biblische Zeit, um damit allein durch den Verweis auf das hohe Alter dieser 1 Abraham Ibn-Daud baute die Unterteilung in tannaitische und amoräische Zeit um 1160/1161 als erster aus. In seiner Systematik beginnt die tannaitische Zeit nach 70, genauer nach Jochanan ben Sakkai, und endet nach fünf tannaitischen Generationen im frühen dritten Jahrhundert. Danach schließen sich die sieben amoräischen Generationen bis etwa 500 an (vgl. STEMBERGER: Einleitung, 17). 2 Vgl. z.B. GOLDBERG: Der verschriftete Sprechakt, 10; ders.: Die Schrift der rabbinischen Schriftausleger, 230.

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Institution deren Bedeutung und Legitimität zu begründen.3 Demgegenüber beginnt der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienene Lexikonartikel „Derascha im Judentum“ (‫ )דרשה ביהדות‬in der „Encyclopedia Hebraica“ in seinem ersten Teil mit der „Zeit des Talmud“, womit er die Derascha als spätes, nämlich rabbinisches Phänomen bestimmt.4 Eine legitimierende Rückbindung an biblische Zeit liegt nicht im Interesse des Artikels. Sucht man dennoch nach Wurzeln der Predigt in biblischer Zeit, so kann – je nachdem, wie Predigt vorgängig definiert wird, – auch das Ergebnis dieser Suche sehr unterschiedlich ausfallen. So erkennt der jüdische Forscher Ismar Elbogen das Ziel der Predigt in der „Herbeiführung einer eingehenden Kenntnis des Inhalts der Bibel“ und in der „Verbreitung ihres Verständnisses“5. Elbogen sieht Predigt folglich in engem Zusammenhang mit Lehre6 und sucht dementsprechend nach den Verben ‫ למד‬pi. und ‫בי‬ hi. in der Hebräischen Bibel – ein Weg, der ihn zu Esra und seiner Zeit als „Vorbild“ für die jüdische Predigt führt.7 Alfons Weiser hingegen geht in seinem 1999 erschienenen Artikel „Predigt II. Biblisch“ im LThK von einem spezifisch anderen Predigtverständnis aus: Predigt sei „die sprachl. Vermittlung der v. Gott ergehenden offenbarenden Botschaft“8. Folgerichtig sind es Formen prophetischer Rede, die Weiser als Beispiele für Predigt im Alten Testament anführt; ihren Höhepunkt habe diese in der „Heilsbotschaft v. Anbruch der Kg.-Herrschaft Gottes“ erreicht.9 3 So betont etwa Leopold Zunz, dass „zu allen Zeiten […] in Israel das Wort der Lehre von Mund zu Mund vernommen worden“ sei (ZUNZ: Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden, X [Hervorhebung AD]). Vgl. auch ZUNZ: Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden, 2.2 Anm. c; hier verweist Zunz auf Jes 1,12–15 und belegt damit die „Versammlungen an den Sabbat- und Neumondstagen“ und die Existenz von „Ermahnungs-Vorträgen der Propheten in den Tempelhallen“. Vgl. dazu auch unten Kap. 5.2, 134–136. 4 Vgl. ALINER: Art. Derascha. 5 ELBOGEN: Der jüdische Gottesdienst, 194. 6 Vgl. ELBOGEN: Der jüdische Gottesdienst, 194–196. 7 ELBOGEN: Der jüdische Gottesdienst, 194. Elbogen verweist hier vor allem auf Neh 8 und 2Chr 17,9. 8 WEISER: Art. Predigt, 525. 9 WEISER: Art. Predigt, 526. Weiser nennt deutero- und tritojesajanische Beispiele (Jes 40,9– 11; 41,27; 52,7; 60 und 61). Gegen eine Ableitung jüdischer Predigt aus der Prophetie wandten sich etwa die jüdischen Forscher Siegmund Maybaum (MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 2) und Israel Bettan (BETTAN: Studies in Jewish Preaching, 3f). – Nur am Rande kann hier auf die zusätzliche Problematik der Übersetzung des Tanach verwiesen werden. Überblickt man diejenigen Verben, für die die Lutherbibel auf die Übersetzung „predigen“ zurückgreift, so zeigt sich: Die Verben ‫קרא‬, ‫בשר‬, ‫דבר‬, ‫ נבא‬und ‫חזה‬, die sonst auch als (aus-)rufen, frohe Botschaft verkündigen, reden/ sagen, prophetisch reden, (prophetisch) schauen übersetzt werden können, werden vor allem dann mit „predigen“ übersetzt, wenn sie im Corpus propheticum erscheinen (vgl. nur Jes 40,2.6; Jer 2,2 …/Jes 52,7/Jer 1,6f; 20,9 …/Jer 14,14f …/Ez 13,23). Das Vorverständnis, Predigt in der Prophetie verwurzelt zu sehen, bestimmt die Übersetzung.

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Wenn eine Ableitung jüdischer Predigt aus der Hebräischen Bibel aufgrund des jeweils leitenden Interesses und des vorgängigen Predigtverständnisses schwierig erscheint, so bietet es sich an, von Gesichertem auszugehen und von diesem Punkt aus zurückzufragen. Für das 1. Jahrhundert n.Chr. sind schriftauslegende Vorträge in synagogalem Kontext auf jeden Fall für den Bereich der jüdischen Diaspora belegt. Folker Siegert meint, dass die „Kunst der Predigt“ dort – und nicht zunächst in Palästina – entstand.10 U.a. kann Siegert dabei auf Zeugnisse von Josephus sowie auf Philo und die von ihm überlieferten Homilien verweisen.11 Die ausführlichste Schilderung eines synagogalen Gottesdienstes mit schriftauslegendem Vortrag im Gebiet Palästinas im 1. Jahrhundert findet sich in Lk 4,16–30 – einer Perikope, die in der Lutherbibel die Überschrift „Jesu Predigt [!] in Nazareth“ trägt. Der lukanischen Schilderung lässt sich die Gewohnheit mancher (keineswegs aller; vgl. kata. to. eivwqo.j auvtw/| [V.16]) entnehmen, am Sabbat in die Synagoge zu gehen. Auch zeigt sie, dass die Schriftlesung durch anwesende Gottesdienstbesucher stehend vor der Gemeinde erfolgte (vgl. V.16b–19), und deutet eventuell eine gewisse Erwartungshaltung der Anwesenden im Blick auf die Auslegung der Schrift an (vgl. V.20b). Gleichzeitig könnte dieser Text darauf hinweisen, dass prinzipiell jeder – auch der Gast Jesus – zur Auslegung gebeten werden konnte.12 Auffallend in Lk 4,16–30 ist, dass Jesus nicht aus der Tora, sondern aus dem Propheten Jesaja liest (Jes 61,1f), was auf die Einführung einer die Toralesung begleitenden Haftara-Lesung hinweisen könnte.13 Allerdings gilt es zu bedenken, dass das Interesse des Evangelisten selbstverständlich nicht darin lag, einen Bericht über die Elemente synagogalen Gottesdienstes im ersten Jahrhundert zu liefern. Vielmehr gipfelt seine Darstellung in der christologischen Pointe von V.21: „Heute ist dieses Wort erfüllt vor euren Ohren.“ Erzähldetails wie die Auswahl des Prophetentextes könnten gut darauf zurückgeführt werden. Zudem ist in dem Abschnitt nicht dezidiert gesagt, dass es sich um einen Gebetsgottesdienst der Synagoge handelt; auch die Situation „gemeinsame[n] Lernen[s]“ könnte

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Vgl. SIEGERT: Die Synagoge, bes. 346; SIGAL: Das Judentum, 104. Allerdings liegen Philos Homilien als literarische Texte vor, nach deren mündlichem Sitz im Leben eigens gefragt werden müsste. Vgl. zur jüdischen Predigt in der Diaspora unten Kap. 3.3.4. 12 Diese Offenheit der Schriftauslegung auch für Gäste wird – vor allem nach den Schilderungen der Apg – zur entscheidenden Voraussetzung christlicher Missionspredigt (vgl. bes. Apg 13,15 und 15,21). 13 Vgl. IDELSOHN: Jewish Liturgy, 139. Viel zu weitreichend erscheint m.E. die Vermutung von BOVON: Das Evangelium nach Lukas, 211, der in der Schilderung von Lk 4 bereits die Grundstruktur der späteren rabbinischen Peticha erkennt. 11

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vorausgesetzt sein.14 Schließlich kennt Lukas zwar den Hintergrund der Diasporasynagoge, kaum aber den des palästinischen Judentums.15 Auch wenn Lk 4,16–30 aufgrund dieser Einschränkungen schwerlich als Beweis für eine Regelpraxis synagogaler Predigt angeführt werden kann, weist der Text doch auf jeden Fall auf die synagogale Lesung der Heiligen Schrift als Sitz im Leben der Predigt. Seit wann aber wird in der Synagoge die Tora gelesen? In jMeg 4,75a heißt es dazu: „Mose verordnete für Israel, dass sie lesen sollen in der Tora an Sabbaten, Festtagen, Neumonden und an den Mittelfeiertagen der Festtage […]. Esra verordnete für Israel, dass sie montags und donnerstags und zur Sabbat-Mincha in der Tora lesen sollen.“ Der frühest denkbare Zeitpunkt, die Zeit Moses selbst, wird in dieser Aussage als Beginn der regelmäßigen Toralesung bestimmt.16 Für die historische Nachfrage interessanter erscheint der Verweis auf Esra, wird mit ihm doch nicht selten die (neuerliche bzw. erste) Einführung der Zentralität der Tora für das Leben Israels verknüpft.17 So charakterisiert Esra 7,6 Esra als ‫( סופר‬LXX: grammateu,j) in der Tora des Mose, was in Esra 7,10 dahingehend spezifiziert wird, dass er aufgrund seiner Forschung in der ‫תורת‬ ‫ דרש( יהוה‬q.; LXX: zhth/sai to.n no,mon) und seiner eigenen Tora-Praxis (‫ )ולעשת‬in Israel Gebot und Recht lehrte (‫ למד‬pi.; LXX: dida,skein).18 Auch wenn zahlreiche der Formulierungen dieses Abschnitts eher aus der Zeit der (End?)-Redaktion des Esra-Nehemia-Buches (um 300 v.Chr.) stammen dürften19 und auch wenn bis heute in der Forschung umstritten ist, worum es sich bei dem Gesetzeswerk (vgl. Esra 7,14), das Esra mit nach Jerusalem brachte, genau gehandelt haben könnte,20 scheint mit Esra, d.h.

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BÖCKLER: Jüdischer Gottesdienst, 131. Vgl. MCKAY: Sabbath, 164; HILTON: „Wie es sich christelt […]“, 250–252; positiver zum historischen Quellenwert des lukanischen Berichts äußert sich RUNESSON: The Origins of the Synagogue, 214–220, der darin lokale, galiläische Gebräuche gespiegelt sieht. 16 Vgl. nur z.B. Ex 24,4; 34,4.29; Dtn 1,5; 4,44f; 32,44–47; 33,4 und die geläufige Wendung ‫( )ספר( תורת משה‬vgl. Jos 8,31; 23,6; 1Kön 2,3 …; vgl. auch Mk 12,26; Lk 16,29; 24,27; Joh 1,17; 1Kor 9,9). jT begründet seine Aussage mit Verweis auf Lev 23,44. Vgl. dazu auch ALBECK: The Mishna, 350. 17 Vgl. HANDELMAN: The Slayers of Moses, 43, die von „reestablish[ment]“ der Tora durch Esra spricht [Hervorhebung AD]. Vgl. auch GRAETZ: Ueber Entwickelung, 388. 18 Vgl. auch COHEN: New Wine in Old Vessels, 16 Anm. 5, der von diesem Vers ausgehend sein Verständnis des Wortes ‫ דרש‬entwickelt. 19 Vgl. WILLIAMSON: Ezra, 93; vgl. zur Datierung der Esra-Grundschrift: xxviii–xxxii, und zur Datierung der Endredaktion: xxxvi. Williamson geht davon aus, dass es sich in den genannten Versen von Esra 7 um eine Ausgestaltung von Esra 7,14 (Esra-Grundschrift) handeln könnte. 20 Ist der ganze Pentateuch gemeint oder nur ein Teil davon, etwa die Priesterschrift? STEINS: Die Bücher Esra und Nehemia, 275, geht davon aus, dass die Endredaktion auf jeden Fall den ganzen Pentateuch vor Augen hatte; über das „‚Gesetzbuch‘ des historischen Esra“ aber ließen sich keine Angaben machen. 15

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mit dem Ende des 5. Jahrhunderts vor Christus,21 doch eine Entwicklung einzusetzen, die das Leben des Volkes Israel von der Tora her gestalten und damit die Tora unmittelbar auf dieses Leben des Volkes hin auslegen will. In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, Neh 8–10, die Schilderung der Bundeserneuerung22, und dabei vor allem Neh 8,1–18 zu betrachten – ein Text, der immer wieder als Spiegelung eines Synagogengottesdienstes23 mit Esra als dem Prototyp des Predigers24 gelesen wurde. Neh 8,1–18 lässt sich in zwei Teile gliedern, wobei die Verse 1–12 die Versammlung am ersten Tag des siebten Monats und die Verlesung des Gesetzes an diesem Tag thematisieren, der zweite Teil in den Versen 13–18 dann die Ausführung des Gehörten in der Feier des Laubhüttenfestes. Als Elemente der Versammlung werden das Lob Gottes durch Esra und das versammelte Volk (vgl. V.6), die Lesung des Buches durch Esra (vgl. V.2–4) und das „Verständlichmachen“ durch die Leviten (vgl. V.7f) genannt. Was genau die Aktivität der Leviten in diesem Kontext war, ist mit „Verständlichmachen“ bewusst undeutlich formuliert: Die Wendungen am Ende des siebten und am Anfang des achten Verses (‫ בי‬hi. – „zur Einsicht, zum Verstehen bringen“; ‫ קרא‬q. + ‫„ – מפרש‬deutlich lesen“) könnten eine laute und deutliche Wiederholung aber auch eine Übersetzung (z.B. ins Aramäische) oder eine Auslegung mit eigenen Worten bedeuten.25 Mit Williamson ist m.E. nicht davon auszugehen, dass es sich bei Neh 8,1–18 um die Schilderung eines in nachexilischer Zeit schon vorhandenen Synagogengottesdienstes mit Schriftlesung und Auslegung handelt.26 Besonders die Darstellung der Sabbatheiligung in Neh 13,15–22 (vgl. auch Neh 10,32), die zwar die Arbeitsruhe erwähnt, aber von einem Synagogengottesdienst mit Schriftlesung und Schriftauslegung nicht spricht, kann dagegen angeführt werden. Umgekehrt aber zeigt der Text des um 300 v.Chr. endredigierten Esra-Nehemia-Buches, dass in nachexilischer Zeit neben der äußeren Rekonstruktion der Tempelgemeinde eine innere Neukonstitution des Volkes Israel auf der Basis des Buches/der Tora begann. Für letztere wurde die Lesung, Auslegung und die beidem entsprechende Lebensführung des Volkes entscheidend. 21

In der Esra-Forschung werden bis heute zwei unterschiedliche Datierungen vertreten: 458 bzw. 398 v.Chr. gelten als die beiden möglichen Jahre der Sendung Esras (vgl. STEINS: Die Bücher Esra und Nehemia, 273). 22 Neh 8–10 wird meist als eine selbständige Einheit im Nehemia-Buch erkannt (vgl. nur WILLIAMSON: Ezra, 279f). 23 Vgl. zum Forschungsüberblick WILLIAMSON: Ezra, 281. SAFRAI: Oral Tora, 54, nennt Neh 8 als ersten Zeugen für eine „form of worship“, für die die Lesung und das Studium der Tora zentral seien. 24 Vgl. bereits MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 3 Anm. 1, der andeutet, dass Esra in weitem Sinne als „Schöpfer der Predigt“ gesehen werden könne. Vgl. aber auch TREPP: Der jüdische Gottesdienst, 182f. ASSMANN: Fünf Stufen, 22–26, reflektiert den Text auf dem Hintergrund der Frage nach der Entstehung des Kanons. 25 Alle drei Deutungen sind in der Forschung belegt. So tendiert WILLIAMSON: Ezra, 290f, dazu, die Worte als laute und deutliche Wiederholung zu verstehen; u.a. HANDELMAN: The Slayers of Moses, 43 Anm. *, möchte die Übersetzung darin erkennen, und In der Smitten spricht hier von „sermon“ (zitiert bei WILLIAMSON: Ezra, 281). 26 Vgl. WILLIAMSON: Ezra, 281f.

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Sicher ist anzunehmen, dass die Synagoge als Ort der Toralesung in nachexilischer Zeit zunehmend an Bedeutung gewann.27 Die zahlreichen Versuche der Forschung, die Anfänge der Synagoge in einem historischen Datum genauer zu bestimmen, sind allerdings „über ein gelehrtes Ratespiel“ bis heute nicht hinausgekommen.28 Auf jeden Fall kann davon ausgegangen werden, dass sich die Synagoge als Versammlungsort in nachexilischer Zeit nach und nach entwickelte, wobei das gemeinsame Gebet sowie die Schriftlesung Bedeutung erlangten.29 Sukzessive entstanden – wohl im Zusammenhang mit der Kanonisierung dieser Korpora – Lesezyklen für die Tora und dann auch für die Nebiim.30 Freilich war es nötig, dass die Lesung nicht nur gehört, sondern auch verstanden wurde. Als das Aramäische im westlichen Perserreich an Bedeutung zunahm und Hebräisch als Alltagssprache ablöste, ergab sich die Notwendigkeit der Übersetzung der Bibellesung ins Aramäische. Dieser zunächst mündlich-aktuale Vorgang31 fand später seinen Niederschlag in 27 Vgl. nur die berühmte, in Jerusalem gefundene Theodotus-Inschrift aus dem 1. Jahrhundert n.Chr. Die Widmungsinschrift einer Synagoge nennt als Ziel des Synagogenbaus die Lesung des Gesetzes (no,moj) und das Studium der Gebote (vgl. BÖCKLER: Jüdischer Gottesdienst, 157.191 Anm. 72). 28 LEVINE: Art. Synagoge, 499. Die alte communis opinio lautet, dass die Zeit des babylonischen Exils den Ursprung der Synagoge markiert; diese Meinung ist zum ersten Mal schon im 10. Jahrhundert n.Chr. bei Sherira ben Chanina belegt (vgl. GUTMANN: Synagogue Origins, 1; vgl. auch LEVINE: Ancient Synagogues, 3, und IDELSOHN: Jewish Liturgy, 23–25, bes. 24). Sie wird allerdings gegenwärtig verstärkt hinterfragt. Neben einzelnen Datierungen in die vorexilische Zeit hinein (vgl. etwa Louis Finkelstein und dazu COHEN: Blessed Are You, 15f), nimmt vor allem die Zahl derer zu, die eine Spätdatierung in die Zeit des 3. Jahrhunderts v.Chr. (vgl. GUTMANN: Synagogue Origins, 1; COHEN: Blessed Are You, 18) oder in die Hasmonäische Zeit vornehmen (vgl. GUTMANN: Synagogue Origins, 3f; vgl. zu dem Spektrum der Ansätze in der Forschung auch LEVINE: Art. Synagoge, 499f, und ders.: Ancient Synagogues, 1–3). 29 Vgl. dazu und zur Begriffsentwicklung SCHRAGE: Art. sunagwgh,. Vgl. ausführlicher zur Entwicklung der Funktion der Synagoge auch RUNESSON: The Origins of the Synagogue; WICK: Vom Tempelgottesdienst (Avodah) zum Wortgottesdienst; ders.: Die urchristlichen Gottesdienste. 30 Die Mischna diskutiert in mMeg ausführlich die Lesung der Tora und der Propheten an den Sabbaten, den Festen und den beiden Wochenfasttagen Montag und Donnerstag (vgl. ALBECK: The Mishna, 349–353). Zur Zeit der Mischna (um 200 n.Chr.) waren die Lesungen längst eingeführter Diskussionsgegenstand. Es ist anzunehmen, dass die Kanonisierung der Tora und des Prophetenkanons (bis spätestens 200 v.Chr.) und die Einführung synagogaler Tora- und Haftaralesungen zwei miteinander unmittelbar verwobene Abläufe darstellen. Die Festlegung von Lesezyklen geschah in Israel und in der babylonischen Diaspora auf unterschiedliche Weise, war aber wohl auch innerhalb der jeweiligen Gebiete nicht vollständig normiert (vgl. zur umfangreichen Forschungsdiskussion zu den synagogalen Lesezyklen BÜCHLER: The Reading; ELBOGEN: Der jüdische Gottesdienst, 155–174; MONSHOUWER: The Reading of Scripture, bes. 119–128; PERROT: The Reading of the Bible in the Ancient Synagogue; STEMBERGER: Einleitung, 239–241.273f, sowie im Blick auf WaR SHINAN: Sermons, 97f.100). 31 Die rabbinische Tradition berichtet, dass bei der Toralesung nach jedem Vers, bei der Prophetenlesung jeweils nach drei Versen übersetzt wurde (vgl. DÖBB: Art. Targum, 799). Ein

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den verschrifteten Targumim.32 In diesen aramäischen Toraübersetzungen zeigt sich deutlich, dass Übersetzung sehr oft auch Interpretation bedeutet. Eines der bekanntesten Beispiele findet sich bereits am Anfang des Targums Jeruschalmi (TPsJ zu Gen 1,1)33 im Vergleich zu dem Targum Onkelos (TO; zur Stelle)34: Die Worte „im Anfang“ (‫ )בראשית‬gibt TPsJ mit ‫„( בחוכמא‬mit/in Weisheit“) wieder, TO hat – semantisch korrekt – ‫בקדמי‬. In der Übersetzung von TPsJ verbindet sich Gen 1,1 mit Spr 3,19 („Der HERR hat die Erde in Weisheit [‫]בחכמה‬ geschaffen“) und mit Spr 8,22–31 (vgl. das Wort ‫ ראשית‬in Spr 8,22 und Gen 1,1). Der Anfang der Schöpfung, die Weisheit und die Tora werden in TPsJ miteinander verknüpft, wodurch der Targum die Grundlage für weitreichende Deutungen liefert (etwa gegen jede gnostisch-dualisierende Abwertung der Schöpfung).35

Es erscheint gut vorstellbar, dass sich aus der Praxis einer interpretierenden Übersetzung freiere Auslegungen in der Landessprache entwickelten.36 Für solche Auslegungen wird in rabbinischer Zeit das Verb ‫ דרש‬mit seinen Derivaten verwendet. In der um 200 n.Chr. redigierten Mischna steht es (sowie das Nomen Midrasch37) für die Forschung in der Schrift und gleichzeitig für die Auslegung der Schrift vor anderen. Forschung und Auslegung, beides gehört zusammen und wird zum Kern rabbinischer Aktivität.38 Ange-

wichtiger Beleg für die Mündlichkeit des Targum-Vortrags im synagogalen Gottesdienst ist auch mMeg 4,6 (vgl. dazu GLESSMER: Einleitung, 78 Anm. 280). Darüber hinaus scheint es schon in zwischentestamentarischer Zeit schriftliche Targumim gegeben zu haben, worauf u.a. die Qumranfunde hinweisen (vgl. GLESSMER: Einleitung, 77–82); als Sitz im Leben dieser Texte kann aber eher das private Studium denn der gottesdienstliche Vortrag angenommen werden. 32 Auf die komplexen literarhistorischen Fragen zur Entstehung der Targumim kann ich hier nicht eingehen; vgl. dazu GLEßMER: Einleitung; ALEXANDER: Jewish Aramaic Translations. 33 Dieser Targum, der sich seit 1591 in verschiedenen Ausgaben der Biblia Rabbinica neben Onkelos findet, wird auch als Targum Jonathan bzw. Pseudo-Jonathan bezeichnet (vgl. GLESSMER: Einleitung, 182f). Seine Entstehungszeit ist äußerst schwer zu bestimmen. Insgesamt spricht vieles für ein Wachstum im Zeitraum von etwa einem Jahrtausend (!), wobei früheste Teile in die Zeit des 2. Jahrhunderts v.Chr. zurückreichen könnten (vgl. 185–191). 34 Targum Onkelos kann am wahrscheinlichsten in die Zeit zwischen 70 und 135 n.Chr. datiert werden (vgl. GLESSMER: Einleitung, 92–94). 35 Vgl. dazu auch GINZBERG: Die Haggada. 36 Vgl. EGO: Art. Predigt, 235; HEINEMANN/WIGODER/JACOBS: Art. Preaching, 994; ZUNZ: Die gottesdienstlichen Vorträge, 344 u.v.a. 37 Die beiden Belege von ‫ מדרש‬im Tanach (2Chr 13,22; 24,27) sind in ihrer genauen Bedeutung umstritten (vgl. WAGNER: Art. ‫דרש‬, 328; STEMBERGER: Midrasch, 22). Schon in den Qumran-Texten meint Midrasch Auslegung (vor allem der Tora) im Blick auf das Leben und Verhalten Einzelner und der Gemeinde. Den „Bund zu halten“ kann gleichgesetzt werden mit dem „Fragen“ (‫ )דרש‬nach Gottes Willen (‫)רצונו‬. Vgl. 1QS 5,9 und WAGNER: Art. ‫דרש‬, 329. 38 Häufig findet sich ‫ דרש‬daher unmittelbar mit dem Namen eines Rabbinen verbunden als Einleitung eines Zitats; vgl. mBer 1,5; mYom 8,9; mYev 10,3; mSot 5,1f.4f; mHul 5,5, teilweise auch in der Formel ‫( זה מדרש דרש‬vgl. mSheq 5,7; mKet 4,6). Die einzige mischnische Verwendung des Wortes Darschan begegnet in mSot 9,15, wo es heißt: „Als Ben Soma starb, gab es keine Darschanim mehr.“ Der Kontext weist darauf hin, dass damit primär die Aktivität der Schriftfor-

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sichts der Bedeutung dieses Verbs, das zum Terminus technicus jüdischer Schriftauslegung und Predigt in rabbinischer Zeit wurde, scheint es mir weiterführend, einen kurzen Blick auf die Entwicklung der Semantik des Verbs ‫ דרש‬in der Hebräischen Bibel zu werfen. Das semantische Spektrum des Verbs ‫ דרש‬q. in der Hebräischen Bibel lässt sich grob in einen profanen/allgemeinen und einen theologisch-religiösen Bereich differenzieren.39 Gegenüber der profanen Verwendung des Begriffs überwiegt die theologische. In der Exilszeit ist dabei ein Bedeutungswandel festzustellen: Bezeichnete das Verb vorher die „Institution der Befragung“ Gottes durch einen Propheten,40 so schließt Ezechiel die Möglichkeit dieser unmittelbaren Befragung explizit aus.41 Das Verb büßt seinen Bezug auf die Gottesrelation nun aber nicht ein; im Gegenteil bedeutete die Loslösung von der prophetischen Institution der Gottesbefragung die Öffnung im Blick auf weitere Subjekte und nach und nach auch die Weitung des Kontextes: Zunächst blieb der Kontext der Klage, der zur Institution der Prophetenbefragung gehörte, erhalten, das Subjekt konnte sich aber über den Propheten hinaus erweitern: In Jes 58,2 und in Ps 78,34 wird ‫ דרש‬zur Bezeichnung für die „Volksklage“42; aber auch die Klage Einzelner kann mit ‫ דרש‬bezeichnet werden.43 Nach und nach verbreiterte sich auch der Kontext des Verbs: Weil die Teilnahme an der Volksklage als entscheidendes Charakteristikum der Zugehörigkeit zum Volk in exilisch-nachexilischer Zeit gelten konnte, war es möglich, ‫ דרש‬allgemein zur Bezeichnung dafür zu gebrauchen, „sich zu Jahwe und seinen Ordnungen zu halten“44. Aus der einmaligen Handlung wird ein Habitus.45 Das Verb konnte teilweise zur „Bezeichnung des Gottesverhältnisses“ insgesamt dienen46 („Und meinem Volk, das nach mir fragt [‫]אשר דרשוני‬, soll Scharon eine Weide für die Herde werden

schung bezeichnet ist (vgl. zu Ben Soma z.B. URBACH: The Sages, 189–191; vgl. zur Stelle auch ELBOGEN: Der jüdische Gottesdienst, 195). 39 Vgl. GERLEMAN/RUPRECHT: Art. ‫דרש‬, 461f; WAGNER: Art. ‫דרש‬, 314. Angesichts der Tatsache, dass ‫ דרש‬häufig mit Begriffen wie Recht, Friede etc. verbunden ist, müsste die klare Trennung zwischen dem, was hier „profan“ (Gerleman) bzw. „allgemein“ (Wagner) bedeuten kann, m.E. allerdings nochmals hinterfragt werden. 40 Vgl. GERLEMAN/RUPRECHT: Art. ‫דרש‬, 462–464; WAGNER: Art. ‫דרש‬, 323f; WESTERMANN: Die Begriffe für Fragen und Suchen, 17–22. 41 Ezechiel gibt den Ältesten Israels das JHWH-Wort weiter: „So spricht Gott der HERR: Seid ihr gekommen, mich zu befragen [‫ ?]… לדרש אתי‬So wahr ich lebe: ich will mich nicht von euch befragen lassen […]“ (Ez 20,3; vgl. auch Ez 14,3.7; 20,31 [8,18] und WESTERMANN: Die Begriffe für Fragen und Suchen, 20f). 42 Vgl. GERLEMAN/RUPRECHT: Art. ‫דרש‬, 465. 43 Vgl. Hiob 5,8: ‫„ ;אול אני אדרש אלאל‬Ich aber würde mich zu Gott wenden […]“. 44 GERLEMAN/RUPRECHT: Art. ‫דרש‬, 465; Zitat nach Hans-Walter Wolff. 45 Vgl. GERLEMAN/RUPRECHT: Art. ‫דרש‬, 466; WESTERMANN: Die Begriffe für Fragen und Suchen, 24. 46 GERLEMAN/RUPRECHT: Art. ‫דרש‬, 466. Gleichzeitig nimmt die Häufigkeit und Bedeutung des Verbs in dieser Zeit zu; vgl. WAGNER: Art. ‫דרש‬, 314.

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[…]“47). Am pointiertesten bringt Am 5,4b das Verhältnis von Gottessuche, Gottesbeziehung und Leben zur Sprache: ‫דרשוני וחיו‬.48 Später kann sich schließlich auch das Objekt von ‫ דרש‬verändern: Befragt werden die Gebote49 bzw. das „Buch JHWHs“ (Jes 34,1650): Im Zu-gehen51 auf die Schrift, im suchend-fragenden Umgang mit ihr erweist und realisiert sich Gottesbeziehung.52

‫ דרש‬bezeichnet in späten Texten des Alten Testaments den Umgang mit der Schrift in der Erwartung, dass sich die lebendige Beziehung zu Gott gerade im Befragen der Schrift realisiert. Diese Erwartung wird zur Grundlage rabbinischer Hermeneutik und soll im folgenden Abschnitt (3.2) näher bestimmt werden. Zur Frage nach dem Ursprung der jüdischen Predigt bleibt – die Andeutungen dieses Abschnitts zusammenfassend – festzuhalten: Die Kanonisierung der Tora sowie des Corpus propheticum ging mit der Einrichtung regelmäßiger Lesung aus diesen Texten einher. Als wesentlicher Ort dieser Lesungen kann die – sich in nachexilischer Zeit nach und nach entwickelnde – Synagoge betrachtet werden. Die Praxis der (interpretierenden) Toraübersetzung in die aramäische Umgangssprache, wie sie in den Targumim schriftlich greifbar wird, scheint dann den Weg für freiere Auslegungen des Gelesenen geebnet zu haben. Allerdings dürfte die Derascha, so der spätere rabbinische Terminus technicus für die Predigt, in der Zeit der Mischna (bis 200 n.Chr.) wohl noch nicht regelmäßiger Bestandteil der Synagogengottesdienste gewesen,53 in nach-mischnischer, amoräischer Zeit aber mehr und mehr geworden sein.54 47

Jes 65,10 (weitere Stellenangaben bei WAGNER: Art. ‫דרש‬, 314). Hans-Joachim Kraus verweist in seinem Kommentar zu Ps 24,6 darauf, dass ‫( דרש‬neben ‫ בקש‬pi.) auch zum Terminus für die Wallfahrt zum Tempel werden konnte (KRAUS: Psalmen, 1. Teilband, 197). 48 Vgl. zum Entstehungsprozess des Amosbuches die kurze Übersicht bei ZENGER: Das Zwölfprophetenbuch, 539–541. Ob es sich hier tatsächlich um ein exilisch-nachexilisches Stück handelt, ist in der Forschung umstritten. Am 5,4b könnte evtl. auch das ältere Institut der Gottesbefragung durch den Propheten meinen (vgl. Am 5,5f: „Suchet nicht Beth-El […]“). 49 Vgl. Ps 119,45.155; 1Chr 28,8. 50 Wohl eine späte Glosse zum Jesajabuch, vgl. GERLEMAN/RUPRECHT: Art. ‫דרש‬, 466. 51 Wagner: Art. ‫דרש‬, 323.325, verweist darauf, dass schon in den Belegen, die wahrscheinlich von einer Institution der Befragung Gottes durch einen Propheten erzählen, der Befragung ein „Bewegungsvorgang“ vorgeschaltet sei. Ohne den Zu-Gang als konkrete Hinwendung sei ‫דרש‬ nicht vorstellbar (vgl. auch WESTERMANN: Die Begriffe für Fragen und Suchen, 18). 52 Problematisch erscheint die Formulierung bei WAGNER: Art. ‫דרש‬, 319: „In späten Texten ist die personale Beziehung abgelöst durch die (schriftlich fixierte) Torah […]“. Wagners Interpretation verkennt, dass gerade im suchend-forschenden Umgang mit der Tora personale Gottesbeziehung gesucht werden konnte. Wagner steht hier freilich in der Tradition Westermanns, der angesichts dieses Wandels des Objekts von ‫ דרש‬davon spricht, dass nun ein wirkliches Suchen nicht mehr gemeint sei, „denn Gott hat alles gesagt, was er zu sagen hatte“ (WESTERMANN: Die Begriffe für Fragen und Suchen, 25). Es sei zu einer Statik gekommen (vgl. 26). Der pejorativ gefärbte Blick auf das „Spätjudentum“ (vgl. 28) verstellt die Wahrnehmung der Lebendigkeit gerade auch dieses Suchens und Fragens in der Schrift, die sich im nachexilischen Judentum entwickelte. 53 Vgl. nur mMeg 4,3 – hier werden anhand der Ausführungen über den Minjan wichtige Teile des Gottesdienstes erwähnt, die dann nicht erfolgen, wenn kein Minjan vorhanden ist. Ein Vortrag

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3.2 Apriorische Tora-Erwartung und skripturale Hermeneutik Im umfangreichen rabbinischen Schrifttum kommunizieren Rabbinen aus unterschiedlicher Zeit und von unterschiedlichen Orten miteinander, verbinden sich – bildlich gesprochen – zu einem zeiten- und generationenübergreifenden Lehrhaus und „weben“ trotz aller Individualität der Positionen und trotz aller Situationsbedingtheit der einzelnen Aussagen an einem „textum“. Voraussetzung dafür ist neben der gemeinsamen Sprache (Hebräisch bzw. Aramäisch) und dem ausgeprägten Traditionsprinzip der Lehre vor allem eine in ihren Grundlagen allgemein akzeptierte Tora-Hermeneutik.55 Richard S. Sarason spricht von einer „Ideologie der Tora als göttlicher Mitteilung“ („ideology of Torah as divine communication“) als Grundlage rabbinischer Beschäftigung mit der Schrift.56 David Stern erkennt die „virtual ideology of rabbinic thought“ spezifischer darin, die Tora nicht primär als einen Text zu sehen, sondern sie als (Selbst-)Ausdruck Gottes („a trope for God“) zu verstehen.57 Den Begriff der „Ideologie“ verwenden beide, um die apriorisch-geltende, grundlegende und die Gemeinschaft verbindende „Idee“ zu charakterisieren; er hat – zumindest im deutschen (und französischen) Sprachraum – aber das Problem, weithin pejorativ konnotiert zu sein.58 Stattdessen könnte von „Dogma“ gesprochen werden – ein Begriff, der zur Beschreibung des Sachverhalts aber vor allem deshalb nicht zutreffend ist, weil ein Dogma explizit verkündigt und als Glaubensgrundsatz von den je einzelnen Gläubigen akzeptiert werden muss.59 Daher schlage ich vor, das von Sarason und Stern als „Ideologie“ bezeichnete Phänomen apriorische Tora-Erwartung zu nennen und wie folgt zu bestimmen: Rabbinischer Umgang mit der Tora ist von der Erwartung geprägt, dass die Worte und Buchstaben der Tora als Wort Gottes vom Sinai und als grundüber die – erwähnten – Lesungen aus der Tora und den Propheten wird nicht angeführt. Auch wenn dies nicht ex negativo bedeutet, dass es überhaupt keine Vorträge gab, heißt es doch, dass diese nicht zum unverzichtbaren Kern des synagogalen Gottesdienstes gehörten. 54 Vgl. etwa die bei EGO: Art. Predigt, 235, zitierten talmudischen Belege. 55 Rabbinische Tora-Hermeneutik soll hier nur in Grundzügen vor Augen geführt werden; vgl. die Ausführungen dieses Kapitels erweiternd unten Kap. 11.1; vgl. grundlegend zum Folgenden KASHER: The Interpretation of Scripture; STEMBERGER: Die Schriftauslegung der Rabbinen. 56 SARASON: Kadushin’s Study of Midrash, 62; vgl. ähnlich auch FISHBANE: The Exegetical Imagination, 9. 57 STERN: Art. Midrash, 616.619, Zitat: 619; vgl. auch ders.: Midrash and the Language of Exegesis, 108, wo Stern von der „rabbinic ideology of the canonical Torah“ spricht. 58 Vgl. DIERSE: Art. Ideologie I. Anders verhält es sich im amerikanischen Kontext, wo – von der Soziologie herkommend – Ideologie allgemeiner als „ein jedes System von Ideen, Meinungen, Einstellungen und Wertsetzungen […]“ verstanden werden kann (DIERSE: Art. Ideologie III, 178). 59 So die Prägung des erst seit dem Humanismus häufiger verwendeten Dogmenbegriffs zur Zeit seiner Durchsetzung im 19. Jahrhundert (vgl. ELZE: Art. Dogma, 276).

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legender Bauplan für alle Weltwirklichkeit zu lesen sind. Im suchend-fragenden (‫ )דרש‬Weg in die Tora wird daher – so die Erwartung – Gottes Wort als Wort vom Sinai und dementsprechend als „mündliche Tora“ gegenwärtig hörbar. Aus dieser apriorischen Tora-Erwartung folgt eine Hermeneutik, die sich auslegend in die Worte und Buchstaben der Tora begibt und daher – so mein weiterer terminologischer Vorschlag – als skripturale Hermeneutik bezeichnet werden kann.60 Die apriorische Tora-Erwartung rabbinischen Judentums mit ihrer skripturalen Hermeneutik hat ihren zeitgeschichtlichen Hintergrund und wird verständlich, wenn man sie im Kontext der Entwicklung des rabbinischen Judentums insgesamt betrachtet. Rabbinisches Judentum, das sich nach 70 n.Chr. mehr und mehr herausbildete, war mit seiner Fokussierung auf die Tora in der Lage, eine Antwort auf die Frage nach dem Woher jüdischer Identität nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 n.Chr. (und zeitgleich mit der Herausforderung durch das sich konstituierende Christentum) zu geben. Anstelle des Tempels bot sich die Tora als orientierendes Zentrum jüdischen Lebens an: Lesen und Tun der Tora konnten (neben dem täglichen Gebet) mit dem Terminus für „Opfer“ (‫ )עבודה‬bezeichnet werden.61 Jonathan Rosen spricht davon, dass das rabbinische Judentum nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem einen „virtuellen Tempel“ der Tora und ihrer immer neuen Auslegung konstruiert habe;62 Eveline Goodman-Thau erkennt in der Tora „das menschliche Zeugnis der Buchstaben, aufgehoben in der Arche des Textes, die in den Fluten der Zeit allen Wellen widersteht“63. Besonders in dem – allerdings teilweise späten – Mischna-Traktat Avot finden sich viele Stellen, die die Zentralität der Tora unterstreichen. U.a. heißt es dort: „Bedeutend [groß; ‫גדולה‬, AD] ist die Tora, denn sie gibt denen, die sie tun, Leben, sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft [wörtlich: sowohl in dieser als auch in der kommenden Welt, AD]“64. Die Konzentration auf die Tora bietet – das zeigt dieses Zitat

60

Angeregt zu dieser Begrifflichkeit hat u.a. Max Kadushin, der davon spricht, dass die Rabbinen ihre Auslegungen nicht als Ausarbeitungen aufgrund der Schrift, sondern als Implikationen der Schrift verstanden („implications imbedded in the Scriptures“; KADUSHIN: Organic Thinking, 27; vgl. zu Kadushin auch unten Kap. 13.1.3.2). 61 Vgl. insgesamt DEEG: Opfer als ‚Nahung‘, 122–138; SCHREINER: Wo man Tora lernt. – Gleichzeitig wird der Kanon des Tanach in früher rabbinischer Zeit zu einem Abschluss gebracht (vgl. SCHÄFER: Die sogenannte Synode zu Jabne, bes. 116–121; TALMON: Heiliges Schrifttum, und vgl. zur groben Orientierung über den Prozess der Kanonisierung auch ASSMANN: Fünf Stufen; WANKE: Art. Bibel). 62 ROSEN: Talmud und Internet, 90. 63 GOODMAN-THAU: Aufstand der Wasser, 28 (das Zitat ist im Original bezogen auf die jüdische Tora-Hermeneutik insgesamt). 64 mAv 6,7; Übersetzung nach BÖCKLER: ‫פרקי אבות‬, 187.

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– den Weg zu einer Identität, die sich zwar nicht haben und etwa begrifflich fixieren, aber im Lesen und Tun der Tora immer neu gewinnen lässt. Wie die Tora im Kontext skripturaler Hermeneutik gelesen werden kann, stelle ich dar, indem ich einen Text aus dem Midrasch Tanchuma vorstelle (3.2.1) und im Anschluss vier hermeneutische Charakteristika benenne (3.2.2.1–3.2.2.4). Es handelt sich bei folgendem Textbeispiel um eine Form des haggadischen (d.h. nicht auf die Halacha fokussierten)65 Midrasch, der sich auf Gen 12,10–20 (Abram und Sarai in Ägypten) bezieht.66

3.2.1 Die Gefährdung der Ahnfrau – midraschisch gelesen [1] Aufbruch als Versuchung des Gerechten „Es kam aber eine Hungersnot in das Land […]“ [Gen 12,10]. Vorher [Gen 12,1] heißt es: „Und der HERR sprach zu Abram […]“. Gepriesen sei der Name des Königs der Könige, des Heiligen, gepriesen sei Er, der diesen gerechten Mann versuchen [‫ ]לנסות‬wollte, um seine guten Taten in der Welt bekannt zu machen. Sofort kam eine Hungersnot ins Land, die das Land Israel überwältigte. Er sagte zu Sara, seiner Frau: „Es ist eine Hungersnot im Land“. […] Er sagte zu ihr: „Es ist gut, in Ägypten zu leben; lass uns dort hingehen, denn dann sind wir reichlich mit Brot und Fleisch ausgestattet.“ Zur gleichen Stunde gingen die beiden miteinander [‫באותה‬ ‫]שעה הלכו שניה‬. [2] Saras Schönheit im Spiegel des Nil Als sie das Tor Ägyptens erreichten und am Nil standen, da sah Abraham, unser Vater, wie sich Sara im Wasser spiegelte bei der aufgehenden Sonne. […] Daher sagte er: „Siehe, ich weiß, dass du ein schönes Weib bist“ [Gen 12,11]. Aus diesem lernst du, dass er bis dahin Sara noch nicht gekannt hatte auf die Art, wie Männer Frauen kennen. [3] Gescheiterte Rettung im Kasten am Nil Er sagte zu ihr: „‚Siehe, Ägypten ist voller Hurerei‘, wie geschrieben steht: ‚[…] deren Brunst war wie die der Esel und der Hengste‘ [Ez 23,20]. So werde ich dich in eine Kiste stecken und dich einschließen, da ich Angst 65 Vgl. zur Unterscheidung von Haggada und Halacha STEMBERGER: Einleitung, 26.235f, und ausführlicher unten Kap. 13.1. 66 Tan, Lech Lecha, 5. Der Text des Midrasch ist der gebräuchlichen Lesefassung (hier aus Bar Ilan’s Judaic Library) entnommen. Die Gliederung des Textes und die Übersetzung stammen von mir. Der Midrasch Tanchuma ist durch eine extrem komplizierte Textgeschichte gekennzeichnet; der größte Teil könnte um ca. 400 vorgelegen haben; mit erheblichen Weiterentwicklungen ist aber zu rechnen (vgl. STEMBERGER: Einleitung, 298–301, hier: 301).

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habe um mich selbst; denn es wird geschehen, ‚wenn dich nun die Ägypter sehen, so werden sie sagen: Das ist seine Frau, und sie werden mich umbringen und dich leben lassen‘ [Gen 12,12]“. Als er dies getan hatte, machte er sich auf hinüberzugehen. Die Zollbeamten stellten sich umher und fragten: „Was trägst du in der Kiste?“ Er antwortete: „Gerste.“ Sie sagten: „Nein, es ist Weizen.“ Er antwortete: „Dann berechnet die Kosten für Weizen.“ Sie sagten: „Es ist Paprika.“ Er sagte: „Dann berechnet den Zoll für Paprika.“ Sie sagten: „Aber es sind Goldmünzen.“ Als sie ihn so bedrängten, öffneten sie die Kiste und sahen sie so glänzend wie die Sonne in ihrem Schein. Sie sagten zu ihm: „Das ist keine Frau für einen gewöhnlichen Menschen.“ „Und die Großen des Pharao sahen sie und priesen sie vor ihm“ [Gen 12,15]. [4] Gebete Abrahams und Saras Als Abraham dies sah, begann er zu weinen und zu beten, indem er sagte: „Herr der Welt, ist dies nun der Lohn für das Vertrauen, das ich dir schenkte? Nun aber handle aufgrund deines Erbarmens und deiner Gnade und mache mein Vertrauen nicht zuschanden.“ Und auch Sara schrie auf und sagte: „Herr der Welt, ich wusste nichts, aber weil er mir sagte, dass Du gesagt habest: ‚Mach dich auf den Weg‘, hatte ich Vertrauen [‫ ]האמנתי‬in Deine Worte. Nun aber bleibe ich ganz allein ohne meinen Vater, meine Mutter, meinen Mann. Soll jener üble Mensch kommen und seinen Mutwillen mit mir treiben? Handle aufgrund deines großen Namens und aufgrund meines Vertrauens in Deine Worte.“ Der Heilige, gepriesen sei Er, antwortete ihr: „Bei deinem Leben, kein Übel soll dich oder deinen Mann treffen. Das ist es, was geschrieben steht: ‚Es wird dem Gerechten kein Leid geschehen; aber die Gottlosen werden voll Unglücks sein‘ [Spr 12,21]. Und ich werde ein Exempel statuieren am Pharao und seinem Haus, wie geschrieben steht: ‚Aber der HERR plagte den Pharao und sein Haus mit großen Plagen um Sarais, Abrams Frau, willen‘ [Gen 12,17]“. [5] Saras Wort, des Engels Rute Warum heißt es: „auf das Wort Sarais hin“ [‫ ;עלדבר שרי‬Gen 12,17]? In jenem Augenblick kam ein Engel vom Himmel, eine Rute in seiner Hand. Und als der Pharao gerade dabei war, ihren Schuh auszuziehen, schlug er ihn auf seine Hand. Als er dabei war, ihre Kleidung zu berühren, schlug er ihn. Der Engel beriet sich mit Sara im Hinblick auf jeden einzelnen Schlag. Woher wissen wir das? Weil geschrieben steht: „auf das Wort Sarais hin“. Es heißt da nicht: „wegen des Redens Sarais“ oder „wegen Sarais Lage“ […], sondern „auf das Wort Sarais hin“. Wenn Sara dem Engel befahl, den Pharao zu schlagen, dann schlug er. Und wenn sie ihm sagte, ein wenig zu warten, dann tat er dies. Auch die Präfekten und Minister und alle Haus75 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

haltsangehörigen wurden zur gleichen Zeit geschlagen, da wir lesen: „Und der HERR plagte den Pharao und sein Haus mit großen Plagen […]“ [Gen 12,17], größer als alle Plagen, die bisher kamen oder die noch kommen werden auf die Menschen. Die Worte „und sein Haus“ bedeuten, dass auch die Sklaven, die Wände, die Säulen, die Geräte und alles andere eingeschlossen waren, um das zu erfüllen, was geschrieben ist: „Es wird dem Gerechten kein Leid geschehen, aber die Gottlosen werden voll Unglücks sein“ [Spr 12,21]. [6] Das Wohlergehen des Gerechten Aber von Abraham ist gesagt: „Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum, er wird wachsen wie eine Zeder auf dem Libanon“ [Ps 92,13].

3.2.2 Vier Kennzeichen einer Textlektüre auf der Basis skripturaler Hermeneutik Der zitierte Abschnitt des Midrasch geht Gen 12,10–17 entlang und stellt Auslegungen zu den einzelnen Versen zusammen, die die erste der drei Ahnfraugeschichten der Genesis (Gen 12,10–20; 20; 26,1–11) in den theologischen Kontext der Versuchung des „Gerechten“ (‫ )צדיק‬rücken. Wie kommt der Midrasch zu seinen Aussagen? Vier Kennzeichen einer Textlektüre im Kontext skripturaler Hermeneutik stelle ich von dem zitierten Midrasch ausgehend vor: Der Midrasch liest genau (3.2.2.1), stellt herausgefordert durch diese genaue Lektüre und durch die Entdeckung von Lücken und Leerstellen der Schrift verschiedenartige Interpretationen zusammen (3.2.2.2) und legt die Tora durch die Tora aus (3.2.2.3). So verstrickt sich gleichzeitig der Ausleger mit seiner Situation in die Schrift (3.2.2.4).

3.2.2.1 „Wende sie um und wende sie um …“ – die Genauigkeit der Lektüre Wenn im Blick auf die Tora apriorisch davon ausgegangen wird, dass sie Wort des lebendigen Gottes vom Sinai ist, so gilt es, auf jedes Wort und jeden Buchstaben genau zu achten. Im Blick auf den Midrasch schreibt Günter Stemberger: „Im sorgfältigen Hinhören auf den Text, im Achten auf das kleinste Detail sprachlicher Formulierung der Bibel ergründet man die Tiefen der Offenbarung, erlebt Gott als stets gegenwärtig, ist sich seiner Verheißungen gewiß.“67 Eveline Goodman-Thau betont in ihrem Buch zur 67

STEMBERGER: Midrasch, 10. Vgl. ähnlich auch ESCHELBACHER: Die Predigt im Judentum, 135: „Feinfühlig hört er [der Midrasch, AD] die leisen Töne aus den biblischen Erzählungen heraus.“

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jüdischen Hermeneutik, dass es bei jüdischem Umgang mit der Schrift weniger um eine Interpretation gehe als vielmehr um eine „Begegnung mit der Schrift, die sich jeder Systematik“ entziehe.68 Ein bei Betrachtungen zur Hermeneutik und Methodik des Midrasch immer wieder zitiertes Wort von Ben Bag Bag lautet: „Wende sie [die Tora, AD] um und wende sie um, denn alles ist in ihr“ (mAv 5,22). Es gilt, die Worte lesend umzuwenden, genau zu betrachten, um in den Worten Entdeckungen zu machen. Auch wenn es sich bei diesem Zitat traditionsgeschichtlich um einen Zusatz zu mAv 5 und daher eher um „eine späte Quintessenz rabbinischen Denkens, nicht seine frühe Basis“ handelt,69 lässt sich die erwartungsvolle Genauigkeit der Lektüre im rabbinischen Schrifttum immer wieder wahrnehmen – im obigen Beispiel etwa in der Auslegung der Worte ‫י‬‫ר‬‫ר שׂ‬‫ב‬‫לדּ‬‫ע‬ ‫בר‬‫ת א‬‫שׁ‬‫( א‬V.17), die Luther semantisch korrekt mit „um Sarais, Abrams Frau, willen“ wiedergibt. Wörtlich lässt sich aber auch übersetzen: „wegen des Wortes Sarais […]“. Dann kann gefragt werden: Wegen welches Wortes? Was hat Sarai gesagt? Der obige fünfte Abschnitt des Midrasch widmet sich dieser Frage und entwickelt daraus eine Szene im Hause des Pharao. Die beiden von Isaak Heinemann unterschiedenen Richtungen haggadischer Exegese, die „schöpferische Philologie“ (‫ )פילולוגיה יוצרת‬und die „schöpferische Geschichtsschreibung“ (‫)היסטוריוגרפיה יוצרת‬, kommen zusammen: Die philologisch genaue Beobachtung wird zum Anlass für die kreative Ergänzung der biblischen Erzählung.70 Genaue Lektüre der Schrift bedeutet – wie im zitierten Beispiel – auch die Möglichkeit, aufgrund scheinbarer Kleinigkeiten Neues in der Schrift wahrzunehmen. Nicht ohne Selbstironie angesichts mancher vielleicht zu weitgehender neuer Deutung erzählt davon bMen 29b: Mose selbst wird von einer Auslegung R. Akivas überrascht, die R. Akiva allerdings ausgerechnet auf Mose zurückführt: „R. Yehuda sagte im Namen Ravs: In der Stunde, da Mose in die Höhe stieg, fand er den Heiligen, er sei gepriesen, wie er saß und Kronen für die Buchstaben [der Torah] knüpfte. Da sagte er vor ihm: Herr der Welt, wer wartet darauf? Er antwortete ihm: Ein Mensch wird dereinst am Ende einiger Generationen erstehen – Aqiva b. Yosef ist sein Name –, der über jedes einzelne Häkchen [der Torah] Berge von Halakhot auslegen wird. Er sagte vor ihm: Herr der Welt, zeig ihn mir! [Gott] antwortete ihm: Dreh dich um! Da ging er, setzte sich am Ende der acht Reihen [im Lehrhaus R. Akivas, AD] hin, verstand aber nicht, was sie sagten und begann schon zu verzweifeln. 68 GOODMAN-THAU: Der Aufstand der Wasser, 32. Vgl. zu dieser anti-systematischen Grundtendenz rabbinischer Bibelauslegung auch STERN: Art. Aggadah, 12; ders.: Midrash and Theory, 53. 69 STEMBERGER: „Wende und wende sie …“, 94. 70 Vgl. zur Unterscheidung HEINEMANN: Darche ha-Aggada, und dazu unten Kap 11.2.1.3, 322f.

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Als [Aqiva] zu einem [bestimmten] Thema kam, sagten seine Schüler zu ihm: Meister, woher hast du dies? Er antwortete ihnen: Es ist eine Halakhah des Mose vom Sinai! Da wurde [Mose] beruhigt. Er ging zum Heiligen, er sei gepriesen, zurück und sagte zu ihm: Herr der Welt, du hast einen Menschen wie diesen und gibst die Torah durch mich?! [Gott] antwortete ihm: Schweig, so ist es mir in den Sinn gekommen!“71

Die Lektüre des Midrasch kann – mit ihrer Genauigkeit und Aufmerksamkeit für das Detail des Textes bis hin zu den „Kronen“ und „Häkchen“ der Tora – als das Gegenteil eines flächig Sinn entnehmenden Lesens verstanden werden. Der Ausleger bleibt schöpferisch im Text hängen und entwickelt diesen weiter.72

3.2.2.2 „Siebzig Gesichter hat die Tora“ – die Pluralität der Lektüre Durch die genaue Lektüre des biblischen Textes entdecken rabbinische Ausleger Lücken und Leerstellen im Text, die sie im (haggadischen) Midrasch füllen.73 Auf die Entdeckung einer solchen Lücke ist die Aussage des dritten Abschnitts des oben zitierten Midrasch zurückzuführen, wonach Abram den Versuch unternahm, Sarai in einer Kiste über die Grenze zu schmuggeln. In V.14 nämlich heißt es: „Als nun Abram nach Ägypten kam […]“ – von Sarai ist hier keine Rede! Auf die Frage, wo sie denn sei, sucht der Midrasch eine Antwort und findet sie durch die Erzählung von der Kiste. Falsch verstanden wäre solches midraschisches Lückenfüllen, wenn man meinte, die entdeckten Lücken durch eine Antwort, auf eine bestimmte Art und Weise füllen zu können. Dies zeigt sich exemplarisch an der Auslegung zu V.11: Die Lutherbibel übersetzt V.11b mit: „Siehe, ich weiß, dass du ein schönes Weib bist.“ Im Hebräischen lautet der Halbvers: ‫תּ‬‫ה א‬‫א‬‫ר‬‫תמ‬‫פ‬fl‫ה י‬‫שּׁ‬‫י א‬‫י כּ‬‫עתּ‬‫ד‬‫א י‬‫הנ‬‫נּ‬‫ה‬. Gegenüber dem Luthertext wäre auch die Übersetzung „Siehe, ich habe (jetzt) erkannt, dass du eine schöne Frau bist!“ möglich. Dass Abram noch nicht gewusst haben soll, dass Sarai eine schöne Frau ist, verwundert die rabbinischen Ausleger. In obigem Midrasch erklären sie diese Merkwürdigkeit daher so, dass sie das Verb ‫ידע‬ als sexuelles Erkennen verstehen und erklären: „Aus diesem lernst du, dass er bis dahin Sara noch nicht gekannt hatte auf die Art, wie Männer Frauen kennen.“ Im rabbinischen Schrifttum bleibt diese Auslegung aber keineswegs die einzig denkbare. 71 bMen 29b, zitiert in der Übersetzung von SCHÄFER: Das „Dogma“ von der mündlichen Torah, 158. Vgl. dazu auch HAVLIN: Towards an Understanding; LENHARDT/OSTEN-SACKEN: Rabbi Akiba, 318–329; LEVINE: Reading Crowned Letters. 72 Vgl. ausführlicher unten Kap. 11.1.1. 73 Vgl. dazu auch SCHWARTZ: Reimagining the Bible, ix–xi; STERN: Introduction, in: Rabbinic Fantasies, 7.

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So heißt es in BerR 40: „All die Jahre war sie [Sarai, AD] mit ihm zusammen, und jetzt erst sagt er: Siehe, ich weiß, dass du eine schöne Frau bist? Allein durch das Reisen verliert der Mensch an Aussehen [aber Sarai behielt ihre Schönheit, AD]“.

Die Pluralität der Schriftinterpretation im rabbinischen Judentum gehört zu den in der Rezeption der vergangenen Jahre am meisten beachteten Kennzeichen.74 In diesem Zusammenhang wird unter anderem auf die in rabbinischen Texten häufig wiederkehrende Wendung ‫( דבר אחר‬abgekürzt: ‫ )ד"א‬verwiesen, die – nachdem eine Auslegung vorgestellt wurde – das „andere Wort“, die andere Auslegung eines weiteren Rabbinen einführt. Auch werden einige rabbinische Aussagen als Beleg für die Vielfalt der Möglichkeiten, die Schrift zu deuten, immer wieder zitiert. So finden sich zwei bibelhermeneutisch interessante Formulierungen im Kontext eines komplexen halachischen Diskurses im babylonischen Talmud (bSan 34a). Dort wird Abaje mit den Worten zitiert: „[…] eine Bibelstelle hat mehrere Bedeutungen, nicht aber ist eine Bedeutung aus verschiedenen Bibelstellen zu entnehmen.“ Abajes Wort bezieht sich auf Ps 62,12, wo es heißt: „Eines hat Gott geredet, ein Zweifaches habe ich gehört.“ Gleich danach findet sich die zweite Aussage, diesmal aus der Schule Rabbi Jischmaels: Wie das Wort Gottes als ein Hammer bezeichnet wird, der Felsen zerschmeißt (Jer 23,29), so seien die vielfältigen Auslegungen als die vielen Funken zu verstehen, die dabei entstehen.75 Im mittelalterlichen Midrasch BemR heißt es dann, die Tora habe siebzig Gesichter (‫ )שבעי פני לתורה‬und damit letztlich unendlich viele Möglichkeiten, gegenwärtige Hörer und Leser „anzublicken“.76 Wo liegen die Gründe für die explizite Betonung der Pluralität der Schriftinterpretation in der rabbinischen Hermeneutik? Sicherlich geht es einerseits darum, durch die plurale Auslegung der Schrift der Erfahrung Rechnung zu tragen, dass sich die Schrift immer wieder aktuell in das sich verändernde Leben hineinspricht. Innovation im Kontext einer Schriftreligion ist nur durch immer neue Interpretation möglich. Die midraschische Aktivität führt zum „chiddusch“ (von ‫ חדש‬pi.), 74

Vgl. auch unten Kap. 10.1.1 und 10.1.3, 285f. Vgl. dazu GOJNY/DEEG/NICOL: Vernetzte Texte, 307–310; GREENBERG: Parschanut Chasal, 8f; PETUCHOWSKI: Aus der Geschichte erwachsen, 25; STEMBERGER: Midrasch, 23; STERN: Midrash and Theory, 17f. Stern schreibt: „The idea of Scriptural polysemy […; Bezug auf bSan 34a, AD] represents a virtual ideological cornerstone of midrashic exegesis“ (18). 76 BemR Naso 13,15; zitiert u.a. bei GROHMANN: Aneignung, 77 (vgl. 77 Anm. 12); vgl. auch COHEN: New Wine in Old Vessels, 12. Chananel Mack legt die Entwicklung dieser Wendung des mittelalterlichen Midrasch (vgl. MACK: Schivim panim, 456–458) von Anfängen in rabbinischer Zeit ausgehend dar und verweist dabei etwa auf die rabbinischen Auslegungen zu Jer 23,29, Ps 12,7 und Ps 62,12 (vgl. 449–452). 75

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zum „neuen Wort“ aufgrund der gleichbleibenden Schrift, wobei jede (moderne) Fixierung auf die intentio auctoris als vermeintlich eigentlicher Bedeutung keine Rolle spielt.77 Doch reicht die Notwendigkeit der Aktualisierung zur Erklärung der betonten Pluralität rabbinischer Schriftauslegung m.E. nicht aus, da die notwendige Aktualisierung ja durchaus auch zu jeder Zeit einlinig hätte konzipiert werden können.78 Daher kommt wohl wesentlich auch das Faktum hinzu, dass das benachbarte und konkurrierende Christentum die Schrift spezifisch christologisch rezipierte,79 wie z.B. auch die Gemeinschaft von Qumran die Schrift in pointiert eschatologischer und auf die eigene Gemeinschaft hin konzentrierter Perspektive deutete. „Gegenüber […] den Auslegungen in den Texten von Qumran oder im Neuen Testament, die davon ausgehen, daß man die wahre Bedeutung des Bibeltextes erkannt hat, gibt es für die Rabbinen keine exklusiv geltende Auslegung“ – so Günter Stemberger.80 Gegen die vermeintliche Eindeutigkeit einer abschließenden Interpretation betont rabbinische Auslegung die bleibende (!) Offenheit der Schrift. Allerdings – und dies muss einschränkend bemerkt werden – gilt die Wertschätzung der Offenheit der Auslegung nicht für alle Bereiche der rabbinischen Literatur; sie hat ihren primären Ort im Bereich der Haggada, der sich nur negativ abgrenzen lässt: Sie gilt für diejenige Schriftauslegung, die nicht Halacha ist, d.h. die nicht die Frage nach dem heute geforderten Verhalten im Kontext der Tora (Weisung Gottes) und der darin formulierten göttlichen Gebote (‫ )מצות‬tangiert. Im Bereich der Halacha muss nach dem Willen Gottes für das Handeln des Menschen gefragt und insofern um die gegenwärtig gültige Auslegung des Wortes Gottes immer neu gerungen werden. Dazu ist es nötig, verschiedene Stimmen und Meinungen zu hören. Gleichzeitig aber ist man angehalten, aufgrund dieses Ringens und Suchens möglichst zu einer Entscheidung für die jeweilige Zeit und Situation zu gelangen. Die Mischna kann in mAv 3,11 sogar sehr scharf formulieren: „[…] 77

Vgl. dazu etwa ROJTMAN: Feu noir sur feu blanc, 8, die den Chiddusch als grundlegendes Prinzip rabbinischer Auslegung erkennt. Vgl. auch CRONBACH: Unmeant Meanings, bes. 99.123; SAFRAI: Oral Tora, 56f; THOMA: Rabbinische Verantwortung, 37. Vgl. als grundlegenden rabbinischen Bezugstext vor allem bHag 3a und dazu unten Kap. 4.2.3, 118. 78 Vgl. ähnlich TABOR: Reflections. 79 Vgl. dazu z.B. das hermeneutisch entscheidende Kapitel 2Kor 3 oder auch Joh 5,45–47. Vgl. insgesamt KOCH: Die Überlieferung und Verwendung der Septuaginta; ders.: Die Schrift als Zeuge des Evangeliums. 80 STEMBERGER: Art. Schriftauslegung, 446 [Hervorhebung im Original]; vgl. auch ders.: Midrasch, 17–21; ders.: Die Schriftauslegung der Rabbinen, 81. Vgl. auch STERN: Midrash and Theory, 22f, und mit zahlreichen Beispielen KALIMI: Early Jewish Exegesis and Theological Controversy, bes. 59–103. VONACH: Der Ton macht die Musik, 43f, verweist ausgehend von einer vergleichenden Studie zur Bibelauslegung des Hieronymus und der Rabbinen auf den Unterschied zwischen einer Hermeneutik, die eindeutige Antworten suche (Hieronymus), und einer, die „verschiedene Sichtweisen nebeneinander akzeptieren“ könne (Zitate 44).

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wer eine Bedeutung in der Tora entdeckt, die nicht der Halacha entspricht, […], der hat keinen Teil in der kommenden Welt.“81 Ohne die je und je neue Festlegung der Halacha (sowie der jeweiligen lokalen Minhagim [Gebräuche]) wäre die Aufrechterhaltung jüdischer Gemeinschaft, die sich auch und vor allem als eine Gemeinschaft derer, die den Willen Gottes tun, versteht, nicht denkbar. Vielfalt und Grenze halachischer Auslegung werden in einer häufig zitierten rabbinischen Erzählung deutlich: „Rabbi Abba sagte im Namen Schmuels: Drei Jahre stritten die Schule Schammais und die Schule Hillels. Jene sagten: Die Halacha ist nach uns. Die anderen sagten: Die Halacha ist nach uns. Es ging heraus die Himmelsstimme [‫ ]בת קול‬und sprach: Diese und jene sind Worte des lebendigen Gottes [%‫ חיי‬%‫]אלה ואלה דברי אלהי‬, jedoch ist die Halacha nach der Schule Hillels zu entscheiden.“ (bEr 13b)

Die beiden unterschiedlichen Aussagen werden auf Gottes Wort bezogen, beide Schulen haben in dieser Hinsicht Recht, und die Meinung beider wird festgehalten und bewahrt. Dennoch aber ist es nötig, die Halacha festzulegen, was in diesem Fall durch die Intervention der Himmelsstimme geschieht.82 Die halachische Frage nach dem, was heute gemäß dem Gebot Gottes getan werden soll, kann in dieser Hinsicht nicht als Begrenzung der Freiheit der Auslegung verstanden, sondern geradezu als der Rahmen gelesen werden, der das Miteinander der Auslegungsgemeinschaft und damit die Freiheit der Befragung des biblischen Wortes gerade erst ermöglicht. Die Bewahrung dieser Freiheit erscheint konstitutiv für die Schriftinterpretation der Rabbinen. Sie bedeutet, dass der Mensch in der Lage ist, durch sein Suchen und Fragen in die Tora einzudringen und Antworten zu finden. Dies veranschaulicht besonders die viel zitierte Erzählung vom Streit um die In81 Vgl. zur Übersetzung auch BÖCKLER: ‫פרקי אבות‬, 89 (nach Böcklers Zählung handelt es sich um mAv 3,15), und vgl. ebenfalls mAv 4,10; 5,20; 6,6 (jeweils nach Böckler). 82 Vgl. SAGI: „Both are the Words […]“. Im unmittelbaren Anschluss wird im Talmud ein weiteres Beispiel für einen Streit der beiden Schulen zitiert. Diesmal allerdings dauert der Streit nur (!) zweieinhalb Jahre, und es geht um die haggadische Frage, ob der Mensch besser erschaffen worden wäre oder nicht. Die Schule Schammais steht für die pessimistische Deutung, die Schule Hillels meint hingegen, es sei auf jeden Fall besser, dass der Mensch erschaffen wurde. „Darauf“, so der Talmud weiter, „stimmten sie ab und entschieden, dass es für den Menschen zwar besser wäre, nicht erschaffen worden zu sein, nachdem er aber erschaffen worden ist, untersuche er seine Handlungen [mit JASTROW: A Dictionary, 856: die Handlungen der Vergangenheit, AD], manche lesen: erwäge er seine Handlungen [mit JASTROW: A Dictionary, 856: die Handlungen in Gegenwart und Zukunft, AD].“ – Nur anmerken kann ich hier, dass die Begrenzung der Freiheit der Auslegung mit Rücksicht auf den Zusammenhalt der jüdischen Gemeinschaft nicht nur für den Bereich der Halacha gilt. Der Talmud kennt den Begriff der ‫הגדות של דופי‬, der zu weitreichenden haggadischen Auslegung (vgl. bSan 99b und dazu FISHBANE: The Exegetical Imagination, 21; ders.: „Orally Write Therefore Aurally Right“, 545). Auch das Wort ‫ דיי‬kann im rabbinischen Diskurs verwendet werden, das am ehesten mit „du hast genug/zuviel gesagt“ wiedergegeben werden könnte (vgl. dazu z.B. MekhY, BeSchalach, 6); vgl. dazu auch unten Kap. 11.1.1.1, 292–294.

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terpretation des Rabbi Eliezer und die Einmischung der Himmelsstimme in den freien rabbinischen Diskurs (bBM 59b). Ausgangspunkt ist die Auseinandersetzung zwischen R. Eliezer und der Mehrheit der anderen über die Verunreinigungsfähigkeit des sogenannten Schlangenofens, der nach R. Jehuda deshalb so heißt, weil man ihn mit Worten umringt habe wie eine Schlange.83 Die Mehrheit erklärte ihn für verunreinigungsfähig – gegen R. Eliezer. Doch damit ist der Streit noch nicht beendet: „Es wird gelehrt: An jenem Tage machte R. Eliezer alle Einwendungen der Welt, man nahm sie aber nicht von ihm an. Hierauf sprach er: Wenn die Halacha ist, wie ich es sage, so soll es dieser Johannisbrotbaum beweisen. Da rückte der Johannisbrotbaum 100 Ellen von seinem Orte fort. Manche sagen: 400 Ellen. Sie aber erwiderten: Man bringt keinen Beweis vom Johannisbrotbaum. Hierauf sprach er: Wenn die Halacha ist, wie ich es sage, so mag es dieser Flussarm/Kanal beweisen. Da trat der Kanal zurück. Sie aber erwiderten: Man bringt keinen Beweis von einem Kanal. Hierauf sprach er: Wenn die Halacha ist, wie ich es sage, so mögen es die Wände des Lehrhauses beweisen. Da neigten sich die Wände des Lehrhauses und drohten einzustürzen. Da schrie R. Jehoschua sie an und sprach zu ihnen: Wenn die Gelehrten einander in der Halacha bekämpfen, was geht euch das an? Sie stürzten hierauf nicht ein wegen der Ehre Rabbi Jehoschuas, und richteten sich auch nicht gerade auf wegen der Ehre R. Eliezers, sie stehen jetzt noch geneigt. Hierauf sprach er: Wenn die Halacha ist, wie ich es sage, so mögen sie das aus dem Himmel beweisen. Da ging die Himmelsstimme aus und sprach: Was habt ihr gegen R. Eliezer? Die Halacha ist stets wie er. Da stand R. Jehoschua auf und sprach: ‚Sie ist nicht im Himmel‘ (Dtn 30,12). Was heißt: sie ist nicht im Himmel? R. Jirmeja erwiderte: Die Tora ist bereits vom Berg Sinai her verliehen worden. Wir achten nicht auf die Himmelsstimme, denn bereits hast du am Berg Sinai in die Tora geschrieben: ‚nach der Mehrheit zu entscheiden‘ (Ex 23,284). R. Nathan rief Elia und fragte ihn, was der Heilige, gepriesen sei Er, in dieser Stunde tat. Dieser erwiderte: Er lachte und sprach: Meine Söhne haben mich besiegt, meine Söhne haben mich besiegt.“85 Die Reaktion der Rabbinen ist radikal: Es wird alles, was R. Eliezer für rein erklärte, verbrannt und gleichzeitig der Bann über R. Eliezer verhängt.

Gott zieht sich, so die talmudische Erzählung, lachend von der Deutung seines Wortes in sein Wort zurück und überlässt die Deutung den vielfältigen Stimmen der rabbinischen Ausleger und ihrem gemeinsamen Ringen um die Mehrheitsmeinung. Elie Wiesel schreibt dazu: „Die Weisen hatten ein Recht, mit ihm [R. Eliezer, AD] nicht einverstanden zu sein. Er hätte mit 83 Goldschmidt ergänzt hier (GOLDSCHMIDT: Talmud Bavli, Bd. 7, 637 Anm. 504): „Durch die vielen Kontroversen über denselben.“ 84 Die Worte von Ex 23,2 werden hier sehr eigenwillig gedeutet. Von seinem Kontext her meint der Vers das Gegenteil: Man solle sich nicht nach der Meinung der Mehrheit richten. 85 Die Übersetzung stammt von mir [AD], lehnt sich aber an Goldschmidts Übersetzung an (GOLDSCHMIDT: Talmud Bavli, Bd. 7, 637f).

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ihnen diskutieren, hätte Gegenargumente anführen müssen. Er hätte […] Beispiele und Bibelzitate bringen können, wenn es auch den ganzen Tag, die ganze Nacht und länger gedauert hätte. Das ist doch eine typische Erfahrung, die man im Talmud macht! Wenn die Tannaiten und die Amoräer sich auf die himmlische Stimme verlassen hätten, wäre der Talmud um seine Fülle und seinen eigentlichen Sinn gebracht worden.“86

3.2.2.3 „… alles ist in ihr“ – die Intertextualität der Lektüre Ben Bag Bag begründet seine Aufforderung zum Umwenden der Tora damit, dass „alles in ihr“ enthalten sei (mAv 5,22). Wenn dies gilt, so lässt sich folgern, dass „die Tora aus der Tora“ ausgelegt werden kann – worin Günter Stemberger ein „wesentliches Auslegungsprinzip“ der Rabbinen erkennt.87 Auch darauf weist der zitierte Midrasch zu Gen 12,10–20 explizit und implizit hin: • Explizit wird die Abramsgeschichte aus Gen 12 vor allem in weisheitlichen Kontext eingeordnet: Spr 12,21 erscheint zweifach ([4] und [5]); die zitierte Auslegung schließt mit Ps 92,13 [6]. Ps 92,13 betont das Wohlergehen des Gerechten (‫)צדיק‬, Spr 12,21 profiliert dieses noch im Gegenüber zum Gottlosen (‫)רשע‬. Aus Gen 12,10–20 wird so eine Beispielgeschichte für ein zentrales Theologumenon weisheitlichen Denkens.88 • Implizit spielt der Midrasch auf zahlreiche weitere Texte an. Schon durch das Verb ‫ נסה‬pi. in [1] verbindet sich die Geschichte von der Gefährdung der Ahnfrau mit Gen 22,1 – der Aqeda bzw. der Erzählung von der „Gefährdung des Sohnes“. Diese Verbindung wird noch dichter, wenn man die Worte „gingen die beiden miteinander“ (‫באותה שעה הלכו‬ ‫ ;שניה‬am Ende von [1]) als Anspielung auf die in Gen 22,6 und Gen 22,8 begegnende Wortfolge ‫ו‬‫חדּ‬‫ י‬‫יה‬‫לכוּ שׁנ‬‫יּ‬‫ ו‬hört: „und gingen die beiden [Abraham und Isaak, AD] miteinander“. Mit dem Hinweis auf den Nil [2] sowie die Plagen, die Ägypten heimsuchen [4 und 5], ergibt sich eine Verbindung von Gen 12 zur Mose- und Exoduserzählung. In dieser Hinsicht ist es auch interessant, dass Abram versucht, Sarai in einer Kiste (‫ )תבה‬zu verbergen: Auch Mose wird in einer ‫ תבה‬versteckt 86 WIESEL: Die Weisheit des Talmud, 106; vgl. insg. 84–108 [Rabbi Elieser ben Hyrkanos oder eine halsstarrige Treue]. 87 STEMBERGER: Einleitung, 26. Die in der rabbinischen Tradition gesammelten Auslegungsregeln (die „sieben Middot Hillels“, die „13 Middot R. Jischmaels“ sowie die „32 Middot des R. Eliezer“) können cum grano salis als Konkretionen dieses Prinzips verstanden werden (vgl. insg. STEMBERGER: Einleitung, 27–40, und unten Kap. 11.2.2, 327f). 88 Vgl. z.B. RAD: Weisheit in Israel, bes. 170–178.

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(Ex 2,3 u.ö.). Mit dem gleichen Wort ‫ תבה‬könnte der Hörer/Leser auch an die Sintfluterzählung erinnert sein, in der es für den Kasten (die Arche) Noahs steht (vgl. Gen 6,14 u.ö.). Auch wenn nicht im Sinne einer intentio auctoris nachgewiesen werden kann, dass alle diese Kontexte auch von den rabbinischen Verfassern der entsprechenden Aussagen im Blick waren, ist es auf der Ebene der intentio operis möglich, im Midrasch zu erkennen, wie die (zumindest im christlichen Kontext häufig überlesene) Erzählung von der Gefährdung der Ahnfrau in den Kontext der großen Bedrohungs- und Rettungserzählungen der Tora integriert wird. Eine entscheidende Frage, die sich durch diese impliziten intertextuellen Verweise im Text wahrnehmen lässt, ist die nach der Möglichkeit des Vertrauens zu Gott (vgl. explizit in [4]89) angesichts der Bedrohung. Rabbinische Auslegung führt hinein in ein dichtes Textgewebe, indem unterschiedliche Texte des Tanach intertextuell miteinander verbunden werden und sich wechselseitig deuten.90 Entscheidend dafür ist, dass nach rabbinischem Verständnis alle Texte des Tanach – ungeachtet ihres ursprünglichen Kontextes – wechselseitig miteinander ins Spiel gebracht werden können. Es gibt – wie es u.a. in bPes 6b heißt – „kein Vorher oder Nachher in der Tora“ (‫)אי מוקד ומאוחר בתורה‬.

3.2.2.4 „Die Geschehnisse der Väter sind ein Zeichen für die Kinder“ – die Aktualität der Lektüre Die Tora könne – so habe ich oben in meiner Definition apriorischer ToraErwartung formuliert – nach rabbinischem Verständnis als grundlegender Bauplan für alle Weltwirklichkeit gelesen werden. Die Metapher des Bauplans lehnt sich an David Stern an; dieser schreibt: „No longer merely a sacred historical narrative or a divine law code, Scripture now [in rabbinischer Zeit, AD] became the blueprint for all existence, the key to all meaning as well as its repository.“91 Wenn sich – mit Ben Bag Bag – „alles“ in der Tora findet, so bedeutet dies dementsprechend auch, dass sich jede Lebenssituation (des Volkes Israel) im Midrasch widerspiegelt. Auch wenn der oben zitierte Midrasch zur Gefährdung der Ahnfrau nicht explizit zu einer Applikation des Gesagten 89 Mit dem Verb ‫ האמנתי‬im Gebet Sarais könnte der Leser/Hörer gleichzeitig an Gen 15,6 (und damit an das Vertrauen Abrams) erinnert sein. 90 Vgl. vor allem BOYARIN: Intertextuality (und dazu unten Kap. 10.1.3, 286f); ders.: Inner Biblical Ambiguity. 91 STERN: Introduction, in: Rabbinic Fantasies, 7; vgl. auch SCHOLEM: Offenbarung und Tradition, 90–105.

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voranschreitet, so bietet er den Lesern bzw. Hörern doch genügend Möglichkeiten, sich selbst mit ihren Fragen – z.B. nach der Möglichkeit, einem Gott, der sein Volk (und besonders den Gerechten) versucht, noch zu vertrauen – in der Tora wiederzufinden.92 Mit den Gebeten Abrahams und Saras legt der Midrasch seinen Hörern oder Lesern Formulierungen nahe, die in solchen Situationen tragen könnten, und er zeigt, wie Gott auf solches Gebet reagieren wird. Im Talmudkommentar „Pne Jehoschua“ von Rabbi Jakob Josua Falk (18. Jh.) heißt es: ‫„ – מעשה אבות סימ לבני‬die Geschehnisse der Väter sind ein (Vor-)Zeichen für die Kinder“. Alles, was die Väter durchleben, – so wird Stück für Stück vor Augen geführt – durchleben auch die Nachfahren, die Kinder Israels, bis in die Gegenwart hinein. Michael Fishbane bringt das, was apriorische Tora-Erwartung in dieser Hinsicht bedeutet, mit einer Begrifflichkeit Saussures zur Sprache: „[…] each midrashic parole participates in God’s canonical langue and revitalizes it for new generations.“93 Und Joseph Heinemann erkennt in dem Darschan denjenigen, der die Tora zur unversiegbaren Quelle ständig neuer und gegenwartsrelevanter Bedeutung mache: „By using at times daring methods of interpretation, the preacher [!; gemeint: der Darschan in rabbinischer Zeit, AD] succeeded in making the Bible an unceasing source of ever-new meaning and inspiration in which answers to the problems of every generation could be found.“94 In der Begegnung der jeweils neuen Situation – mit ihren Fragen, Problemen und Ideen – mit dem biblischen Text findet der midraschische Ausleger immer neue biblische Worte für die Zeit. Selbstverständlich folgt auch daraus die Offenheit der Auslegung auf die Zukunft hin. Es wird unmöglich, den Text als verstandenen und endgültig interpretierten zur Seite zu legen. Aus dem begrenzten Text entwickelt sich die unbegrenzte Fülle seiner Auslegung.

92

Vgl. STEMBERGER: Einleitung, 235, der davon spricht, dass der Midrasch „immer auch Aktualisierung“ [Hervorhebung im Original] sei – auch wenn „der Gegenwartsbezug der Midraschexegese“ nicht immer „offensichtlich“ erkannt werden könne; vgl. dazu unten Kap. 3.4.3 und Kap. 14.1.3. 93 FISHBANE: The Exegetical Imagination, 18 [Hervorhebungen im Original]; vgl. ders.: „Orally Write […]“, 533–536.541–544. 94 HEINEMANN/WIGODER/JACOBS: Art. Preaching, 994; vgl. GUTTMANN: Foundations of Rabbinic Judaism, 453.473. Die hermeneutische Bedeutung dieser Verbindung von Schrift und Auslegung deutet z.B. EBACH: Gehen oder Bleiben, 24, an: „Das Verhältnis zwischen festem Text und offener Auslegung ist eine Antwort auf die Frage nach der Relation von Gehen und Bleiben, Tradition und Erneuerung. […] Prinzipiell kann alles mit allem verknüpft werden zu einem ‚wor[l]d wide web‘ eines virtuellen Gesamttextes, der alle vorhandenen und noch möglichen Auslegungen umfasst. Es geht um Vielfalt ohne Beliebigkeit, Mobilität ohne Ortlosigkeit.“

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Der unabschließbare Prozess dieser Auslegung erhält solche Bedeutung, dass im rabbinischen Judentum auch die Auslegung selbst als Tora bezeichnet werden konnte. Als mündliche Tora steht sie neben der schriftlichen. Beide – so die sich entwickelnde Überzeugung – gehen als „Tora vom Sinai“ auf Gottes dort gesprochenes Wort zurück.95 Das Menschenwort der aktuellen (!) und unabgeschlossenen (!) Auslegung (mündliche Tora) wird mit dem Gotteswort vom Sinai in Verbindung gebracht.96 Der oben zitierte Midrasch aus bMen 29b, in dem Mose (der Empfänger der Tora vom Sinai) die mündliche Tora des R. Akiva nicht kennt, treibt „das Prinzip von der Einheit der mündlichen und schriftlichen Überlieferung in paradoxer Weise auf die Spitze […]: Der Mittler der Offenbarung, Mose, kann das, was sich im Laufe der Generationen aus der Torah vom Sinai entwickelt hat, nicht mehr verstehen, und doch ist dies alles ‚Torah des Mose vom Sinai‘.“97 Die Lehre vom Miteinander mündlicher und schriftlicher Tora war keineswegs unmittelbar nach 70 n.Chr. entwickelt worden. Sie setzte schon früher ein und entfaltete sich – wie Peter Schäfer zeigt – von der vor-jabneischen bis in die frühe amoräische Zeit. Erst dann könne von dem „‚Dogma‘ von der Rückführung der ganzen mündlichen Torah auf Mose“ gesprochen werden.98 Auch in der Entwicklung der Lehre von der mündlichen Tora spielt – so Schäfer – die Auseinandersetzung mit der heidnischen Umwelt und mit dem Christentum eine entscheidende Rolle.99 Besonders ein Text, der auf R. Jehuda ben Schalom (um 350 n.Chr.) zurückgeführt wird, unterstreicht die Bedeutung des polemischen Gegenübers zum Christentum. Die Mischna als Teil der mündlichen Tora wird darin als Gottes Geheimnis, das er exklusiv seinem Volk Israel offenbart habe, bezeichnet. 95 Vgl. insgesamt STEMBERGER: Einleitung, 41–54; SAFRAI: Oral Tora; vgl. auch unten Kap. 11.1.1.3. 96 Die Formulierung lehnt sich an Karl Barths berühmten und die Homiletik der dialektischen Theologie prägenden Königsberger und Danziger Vortrag vom 25./26.11.1924 „Menschenwort und Gotteswort in der christlichen Predigt“ an. Vgl. zu der Verbindung des Wortes der Auslegung mit dem Wort Gottes z.B. PesK 12,25. Dort werden Tanach (die schriftliche Tora) und Mischna, Talmud und Haggadot (die mündliche Tora) unmittelbar auf das „Angesicht Gottes“ bezogen. Die Aussage stützt sich auf Dtn 5,4, wo es heißt, Gott habe mit Israel ‫פני אל פני‬, von Angesicht zu Angesicht, gesprochen. ‫ פני‬selbst ist ein Pluralwort und müsse – so die exegetische Logik – also mindestens zwei Angesichter bedeuten. Durch das zweite ‫ פני‬kämen zwei weitere hinzu, so dass sich vier Angesichter ergeben, nämlich ein ernstes, stürmisch-bedrohliches Angesicht der Schrift, ein gemäßigtes Angesicht der Mischna, ein freundliches Angesicht des Talmud und ein lachendes Angesicht der Haggada. Vgl. zu diesem Text auch PORTON: Midrash and the Rabbinic Sermon, 465. 97 SCHÄFER: Das „Dogma“ von der mündlichen Torah, 159. 98 SCHÄFER: Das „Dogma“ von der mündlichen Torah, 197. 99 Vgl. SCHÄFER: Das „Dogma“ von der mündlichen Torah, 192; HIRSHMAN: A Rivalry of Genius, 13–22.

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„R. Yehuda b. R. Shalom sagte: Mose bat darum, daß [auch] die Mishnah schriftlich sein solle. Doch der Heilige, er sei gepriesen, sah voraus, daß die Völker dereinst die Torah übersetzen und in ihr Griechisch lesen und sagen würden: Sie sind nicht Israel! Da sagte der Heilige, er sei gepriesen, zu ihm: Mose, einst werden die Völker sagen: Wir sind Israel, wir sind die Kinder Gottes, und Israel behauptet: Wir sind die Kinder Gottes – jetzt ist die Wage [sic, AD] ausgeglichen! Da sagte der Heilige, er sei gepriesen, zu den Völkern: Was sagt ihr, daß ihr meine Kinder seid? Ich weiß nur, daß der, in dessen Hand mein Geheimnis ist, mein Kind ist! Sie antworteten ihm: Und was ist dein Geheimnis? Er gab ihnen zur Antwort: Das ist die Mishnah!“100

Die Herausforderung durch das Christentum nahm zur Zeit der Entstehung dieses Textes im vierten Jahrhundert sicherlich nochmals zu,101 setzte aber bereits viel früher ein. Das Judentum hatte sich schon im ersten Jahrhundert damit auseinanderzusetzen, dass nun andere behaupteten, sie seien „Israel“ (vgl. Röm 9,6–13 u.ö.). Gleichzeitig meinten Christen die „wahre“, nämlich christologische Auslegung der Schriften Israels bieten zu können (vgl. 2Kor 3; Apg 8,26–40). Die Zerstörung des Tempels konnte als Folge dessen gedeutet werden, dass Israel „die Zeit nicht erkannt“ habe, in der es „heimgesucht worden“ sei (Lk 19,44; vgl. insgesamt Lk 19,41–44). Die Polemik forderte das eigene Forschen in der Schrift heraus. In dieser Hinsicht sieht Jacob Neusner den Midrasch als „Antwort auf das Christentum“ („reply to Christianity“)102 und die Auslegungen der Rabbinen als „counter-exegesis“103. Gleichzeitig ist klar, dass das, was forschend in der Schrift erkannt war, angesichts der kontroversen Situation auch popularisiert („gepredigt“) werden musste. Mit dem Midrasch war auch die Weitergabe der Auslegung in der rabbinischen Derascha herausgefordert. Ein eindrucksvolles Beispiel für eine konkrete Herausforderung und ihre „midraschisch-deraschische“ Beantwortung führt Leo Baeck vor Augen:104 Auf dem Weg der Kanonisierung des Hohenliedes hatte das rabbinische Judentum den dort erwähnten Salomo (Hhld 1,1.5; 3,7; 8,11) auch als gleichbedeutend mit „Gott“ verstanden (‫„ ;מל& שלומו‬König des/seines Friedens“).105 Christen, die davon hörten, konnten dies als polemisches Argument gegen das Judentum verwenden und in der im Hohenlied erwähnten Mutter des Königs einen Beleg für die Existenz der „Mutter Gottes“ ausgerechnet aus der jüdischen Interpretation herauslesen.106 Rabbinische 100

PesR 5,1, zitiert nach SCHÄFER: Das „Dogma“ von der mündlichen Torah, 168. Vgl. STEMBERGER: Juden und Christen im Heiligen Land, 233f. Gleichzeitig warnt Stemberger davor, die Lage der jüdischen Bevölkerung Palästinas im 4. Jahrhundert zu dramatisieren; vgl. auch NOETHLICHS: Das Judentum und der römische Staat; RITTER: Juden und Christen im Heiligen Land. 102 NEUSNER: What is Midrash, 46. Vgl. auch STEMBERGER: Midrasch, 39f. 103 NEUSNER: What is Midrash, 48. 104 Vgl. BAECK: Haggadah and Christian Doctrine. 105 Vgl. BAECK: Haggadah and Christian Doctrine, 551f. 106 Vgl. BAECK: Haggadah and Christian Doctrine, 553f. 101

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Auslegung musste reagieren: Exegetisch kühn wurde nun – unter Aufnahme von Jes 51,4 – Israel als „Mutter Gottes“ gedeutet, indem das dort vorkommende ‫י‬‫ לאוּמּ‬defektiv als ‫י‬‫מּ‬‫ לא‬gelesen wurde.107 In PesK findet sich diese Auslegung im Kontext einer Derascha im Umkreis des Chanukka-Festes, das in zeitlicher Nähe zum Weihnachtsfest gefeiert wird. Gerade zu dieser Zeit seien – so Baeck – Darschanim gefordert gewesen, ihren Gemeinden angesichts der christlichen Polemik den Rücken zu stärken.108

Apriorische Tora-Erwartung führt zu einer – so lässt sich zusammenfassend sagen – Lektüre der Schrift, die im genauen Lesen des Textes und durch seine intertextuelle Verknüpfung mit weiteren Texten des Tanach verschiedenartige und jeweils neu gegenwartsrelevante Interpretationen entdeckt. In diese leitende skripturale Hermeneutik ordnet sich auch die Derascha als Predigt in rabbinischer Zeit ein, nach der nun spezifischer gefragt werden soll.

3.3 Midrasch und Derascha: Die Suche nach der mündlichen Derascha in den schriftlichen Midraschim Die Derascha wurde vor allem in amoräischer Zeit zu einem populären Phänomen,109 das unterhielt und so Glauben zu unter-halten in der Lage war.110 Max Dienemann beschrieb 1926 drei Aufgaben jüdischer Predigt seit rabbinischer Zeit: Es gehe darum, (1) Frömmigkeit zu wecken als Vertrauen auf Gott, (2) spezifisch jüdische Frömmigkeit hervorzurufen, d.h. den Willen, die Tora zu halten, und (3) Trost zu spenden.111 Leopold Zunz betonte daneben (für eine Darstellung im 19. Jahrhundert keineswegs selbstverständlich!), dass die Haggada auch „anziehen und aufheitern“ solle.112 Israel Bettan schreibt: „The ‚darshan‘ […] is the expounder, the explorer, the creative interpreter“ und charakterisiert die Derascha als „poetic, imaginative, inspiring“.113 Wie aber sahen die Deraschot konkret aus, die diese Funktionen erfüllten? Welche Aussagen über die Gestaltung mündlicher Deraschot lassen sich aufgrund der in den Midraschim schriftlich überlieferten Texte machen? 107

Vgl. BAECK: Haggadah and Christian Doctrine, 554. Vgl. BAECK: Haggadah and Christian Doctrine, 558f. 109 Vgl. BREGMAN: The Darshan; EGO: Art. Predigt, 235; ESCHELBACHER: Die Predigt im Judentum, 134; HEINEMANN: Deraschot baZibbur, 8f. 110 Vgl. die drei Dimensionen des Begriffs der „Unterhaltung“, die Manfred Josuttis unterscheidet: das Dialogische, das Nutritive sowie das Entertainment (JOSUTTIS: Unterhaltsam von Gott reden, 83–85). 111 Vgl. DIENEMANN: Eine alte jüdische Predigt, 366–370. 112 ZUNZ: Die gottesdienstlichen Vorträge, 364 und 364 Anm. e. 113 BETTAN: Studies in Jewish Preaching, 9. 108

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3.3.1 Rückschlüsse von schriftlichen Midraschim auf mündliche Deraschot Einen ersten Hinweis auf die Gestalt der Derascha in rabbinischer Zeit könnte die übliche Unterteilung der Midraschim in exegetische und homiletische Midraschim geben.114 Die sogenannten exegetischen Midraschim gehen dem Text eines biblischen Buches nach und sammeln Auslegungen verschiedener Rabbinen zu den einzelnen Versen. Aufgrund der Komplexität der Diskussion ist es nicht vorstellbar, dass diese Midraschim in den Synagogen vorgetragen worden wären.115 Primär geben sie Zeugnis für die Art und Weise der Schriftforschung in den Lehrhäusern.116 Demgegenüber ermöglichen die homiletischen Midraschim – so die von vielen rezipierte, dennoch nicht unwidersprochene These – einen Einblick in die Art und Weise synagogaler Derascha. In diesen wird der biblische Text nur teilweise Vers für Vers ausgelegt. Auffällig ist stattdessen eine – nach der Eingangsformel Rabbi X „eröffnete“ (‫ – )פתח‬Peticha bzw. Petichta genannte Form.117 Diese führt (in den meisten Fällen) von Versen oder Versteilen aus den Nebiim oder Ketubim durch verschiedene Auslegungen zu Versen aus dem Pentateuch. Im Kontext der Forschungen des 19. Jahrhunderts wurde erkannt, dass es sich bei diesen Schlussversen der Petichot meist um die ersten Verse des jeweiligen synagogalen Wochenabschnitts nach dem (ca. dreijährigen) palästinischen Lesezyklus handelt.118 Damit ist ein unmittelbarer Zusammenhang von synagogaler Lesung und den entsprechenden Petichot anzunehmen. An die Petichot schließt sich im Kontext der homiletischen Midraschim eine Auslegung mehrerer Verse des Schriftabschnitts an (Injan; ‫)עני‬119, bevor dann meist ein eschatologisch geprägter Schluss die Einheit beendet (Chatima; ‫)חתימה‬120. Damit ergibt sich folgende Struktur der einzelnen Homilien der homiletischen Midraschim, die sich zunächst im homiletischen Midrasch zu Lev (WaR; 5. Jahrhundert) findet:121 114

Vgl. z.B. STEMBERGER: Einleitung, 237f. Vgl. dazu z.B. HIRSHMAN: The Preacher, 113f. 116 Vgl. GAFNI: The World of the Talmud, 256. 117 ‫ פתיחה‬ist hebräisch, ‫ פתיחתא‬aramäisch (vgl. STELLER: Giv’on, 61 Anm. 34; BACHER: Die Proömien, 26–29). In der Forschung werden beide Termini verwendet; im Folgenden soll der hebräische Terminus durchgängig gebraucht werden. 118 Vgl. BACHER: Die Proömien, 7; vgl. zu den Lesezyklen und ihrer Entwicklung die oben Kap. 3.1, 68 Anm. 30, genannte Literatur. 119 Vgl. LENHARD: Die rabbinische Homilie, 54–61. 120 Die Chatima kann als eine Art umgekehrter Peticha verstanden werden. Sie geht aus von einem Vers der Injan-Auslegung und führt zu einem eschatologischen Chatima-Vers (meist aus den Nebiim); vgl. nur GOLDBERG: Die Peroratio; HEINEMANN: Deraschot baZibbur, 23; LENHARD: Die rabbinische Homilie, 61–69; MAYER: Art. Midrasch, 740, und unten Kap. 14.4. 121 HEINEMANN: Deraschot baZibbur, 27 (vgl. insg. 24–28), spricht im Blick auf den Redaktor von WaR vom „Schöpfer“ der genannten Form. Vgl. zu WaR STEMBERGER: Einleitung, 284–287; 115

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A B C

Peticha (in aller Regel: mehrere Petichot) Injan Chatima

Beate Ego stellt die Darlegung dieser Struktur unter die Überschrift „Die Gliederung der rabbinischen Predigt“122, was insofern ungenau ist, als diese Struktur zunächst nur die Gliederung der schriftlich überlieferten homiletischen Midraschim wiedergibt und von dieser Gliederung ausgehend weiter nach der möglichen mündlichen Vorform gefragt werden muss.123 Die Forschung des 19. Jahrhunderts konnte die Struktur von Peticha, Injan und Chatima insgesamt als Wiedergabe ursprünglicher mündlicher Vorträge sehen, die in den Midraschim gesammelt wurden.124 Auch Wilhelm Bacher betrachtet in seiner das gesamte ihm bekannte Quellenmaterial aus rabbinischer Zeit untersuchenden grundlegenden Studie aus dem Jahr 1913 die Petichot als „Prooemien der alten jüdischen Homilie“125, betont allerdings, dass es sich bei ihnen um „das formgebende Element der alten jüdischen Homilie [handele, AD], durch welches sich diese von der einfachen, die Texte von Vers zu Vers begleitenden Schriftauslegung unterscheidet“126. Philipp Bloch („Studien zur Aggadah“; 1885) hingegen sah die Peticha als eine „in sich zusammenhängende, einheitlich gefügte Partie“, die auf ihre eigene Pointe hinziele.127 Er nennt sie „perikopische Homilie“ und lenkt den Blick auf ihre Eigenständigkeit.128

VISOTZKY: Golden bells and pomegranates. Vgl. zur rabbinischen Homilie insgesamt LENHARD: Die rabbinische Homilie (vgl. zur Lit.: 1 Anm. 1f und 487–499). 122 EGO: Art. Predigt, 236. 123 Ego selbst verwendet die ungenaue Überschrift, obwohl sie dann durchaus die Diskussion um den Sitz im Leben und die mündliche Vorform der einzelnen Teile erwähnt (vgl. EGO: Art. Predigt, 236f). 124 Vgl. z.B. THEODOR: Zur Composition, 500, und folgendes Zitat (505f [Hervorhebung im Original]): „Wurde aber der Vortrag mit allen seinen Proömien [=Petichot, AD] von einem Darschan gehalten […], so wäre durch die vielfachen Proömien der Gegenstand des Tages von verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet, das Interesse der Zuhörer gleichfalls befriedigt; der Vortragende brauchte darum bei der Einzelauslegung nicht mehr länger zu verweilen, er brachte noch kurz einiges über einige Verse oder Verstheile vor […] und eilte der Derascha ihren ‚ordentlichen Schluß‘ in der üblichen Weise zu geben. Der Reiz der Vorträge lag vorzugsweise in den Proömien […]“. Vgl. dann auch MAYBAUM: Die ältesten Phasen, 1–8.36; ders.: Jüdische Homiletik, 8–10, bes. 8f Anm. 8, der Theodor nur insofern korrigiert, als er davon ausgeht, dass wohl lediglich ein Proömium die mündliche Predigt prägte. 125 BACHER: Die Proömien, passim. 126 BACHER: Die Proömien, 1. 127 BLOCH: Studien zur Aggadah, 210 [Hervorhebung im Original]. 128 BLOCH: Studien zur Aggadah, 217; dagegen wendet sich MAYBAUM: Die ältesten Phasen, 9 Anm. 2. Allerdings erkennt Maybaum, dass in der späteren Entwicklung der rabbinischen Predigt das „Proömium“ immer wichtiger geworden und die Injanauslegung demgegenüber zurückgetreten sei (vgl. 41f und 42 Anm. 1).

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Diese Tendenz der Forschung setzt sich im 20. Jahrhundert fort129 bis hin zu der These, die Joseph Heinemann am einflussreichsten vertrat, wonach die Peticha als die eigentliche rabbinische Predigt anzusehen sei.130 Nach der Zählung Bachers ist mit ca. 1380 Petichot zu rechnen;131 nach Heinemann sind mehr als 2000 Petichot in der rabbinischen Überlieferung enthalten.132 Die meisten entstammen der amoräischen Zeit, wogegen in der tannaitischen Zeit lediglich Entwicklungen hin zur Form der Peticha zu verzeichnen sind.133 Zahlreiche Petichot sind sehr knapp überliefert; manchmal bestehen sie nur aus wenigen Sätzen. Heinemann wehrt sich aber dagegen, dies als Argument gegen die ursprüngliche Mündlichkeit der Petichot anzuführen, da sie einerseits sehr bewusst, um das liturgische Ganze des Gebetsgottesdienstes nicht zu stören, knapp gewesen sein könnten und da andererseits die heutige schriftliche Gestalt nichts über die tatsächliche Länge der mündlich ausgeführten Peticha aussage.134 Kann die Peticha also als eine Grundform rabbinischer Derascha gesehen werden?

3.3.2 Die Peticha als Derascha Formal führt die Peticha von einem Peticha-Lemma, das nicht der ToraParascha entnommen ist, sondern meist aus dem Bereich der Hagiographen oder Propheten stammt, über Auslegungen zu diesem Vers oder anderen Versen hin zum Injan-Lemma (meist dem ersten Vers des Leseabschnitts):135

129

Vgl. etwa DIENEMANN: Eine alte jüdische Predigt; BAECK: Zwei Beispiele midraschischer Predigt. 130 Vgl. HEINEMANN: Deraschot baZibbur; vgl. auch SCHÄFER: Die Peticha; STERN: Midrash and Theory, 55–71.107–109 (Anm.). Anders u.a. STEMBERGER: Psalmen in Liturgie und Predigt, 210. – K.-E. Grözinger geht von einer Multifunktionalität der Peticha als Einleitung oder eigenständiger Predigt aus (vgl. GRÖZINGER: Prediger gottseliger Diesseitszuversicht). 131 Vgl. BACHER: Das Proömium, 105.114. 132 Vgl. HEINEMANN: Deraschot baZibbur, 12; ders.: The Proem, 101. 133 Vgl. HEINEMANN: The Proem, 112–120; ders.: Deraschot baZibbur, 17; vgl. auch BACHER: Das Proömium, 19–26. 134 Vgl. HEINEMANN: The Proem, 105f; ders.: The Art of the Sermon, 69; HIRSHMAN: A Rivalry of Genius, 28f. 135 Die Bezeichnungen LPet (Peticha-Lemma) und LIn (Injan-Lemma) verwendet LENHARD: Die rabbinische Homilie, 31 u.ö.; vgl. zur Formbeschreibung auch GOLDBERG: Versuch über die hermeneutische Präsupposition und Struktur der PetiÎa.

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Peticha-Lemma136 Auslegungen137 Injan-Lemma138 Natürlich sind die in den homiletischen Midraschim vorliegenden Petichot alle literarisch geformt, und Richard S. Sarason ist Recht zu geben, wenn er betont, dass diese daher (primär) über die redaktionelle Arbeit und die Überlieferung der midraschischen Literatur Aufschluss geben können.139 Sarason möchte – wenn überhaupt – nur mit überaus großer Vorsicht nach eventuellen mündlichen Vorformen fragen.140 Demgegenüber hält es Avigdor Shinan für durchaus denkbar, von den schriftlich vorliegenden Texten der haggadischen Midraschim ausgehend nach mündlichen Vorstufen zu suchen. In seinem 1981 erschienenen Aufsatz „The Aggadic Literature: Written Tradition and Oral Transmission“ (Hebr.) setzt er sich mit dieser Frage auseinander und betont, dass von einer sukzessiven Verschriftung von ursprünglich mündlichen Traditionen auszugehen sei. Frühe Verschriftungen seien über lange Zeit im Fluss gewesen und konnten noch verändert werden. Erst mit dem endredaktionellen Einbau in ein Schriftkorpus endete diese Freiheit.141 Eine Überlieferung könne dann als umso näher an der mündlichen Tradition stehend gesehen werden, je mehr rhetorische Figuren, die für mündliche Rede typisch sind, sie ent-

136

In der sogenannten Jelammedenu-Form steht anstelle des Peticha-Lemmas eine halachische Frage, von der aus der Darschan zu dem Injan-Lemma weiterführt. Vgl. hierzu ELBAUM: „How Many Benedictions Does One Say Every Day?“; HEINEMANN: Deraschot baZibbur, 17–22; LENHARD: Die rabbinische Homilie, 29–42; MAYBAUM: Die ältesten Phasen, 2–8. 137 Eine Übersicht über verschiedene Möglichkeiten der Verbindung zwischen beiden Versen bieten BACHER: Das Proömium, 116–120; MAYBAUM: Die ältesten Phasen, 24–27, und STELLER: Giv’on, 50–54. Ausführlich hat sich auch Jacob Mann in seinem zweibändigen Werk „The Bible as Read and Preached in the Old Synagogue“ mit dem Phänomen der Petichot und der rabbinischen Deraschot auseinandergesetzt und zahlreiche Strukturen solcher Predigten gesammelt. Eine seiner Grundannahmen allerdings wurde in der Forschung nicht wieder aufgenommen und hat sich als unhaltbar erwiesen: Die Petichot könnten in ihrem Wechselspiel von Peticha-Lemma und InjanLemma insgesamt auf der strukturellen Hintergrundfolie der Haftara-Lesung verstanden werden. 138 BLOCH: Studien zur Aggadah, 218, spricht hier von „Textvers“ bzw. „Stichvers“ oder „Schlagvers“ (216), weil mit diesem Vers die Pointe der Peticha verknüpft sei. – Angemerkt sei, dass gelegentlich auch Formen auftreten, die wieder zum Ausgangsvers zurückkehren und daher zirkular verlaufen (vgl. dazu LENHARD: Die rabbinische Homilie, 39; MAYBAUM: Die ältesten Phasen, 21; STELLER: Giv’on, 76f). 139 Vgl. SARASON: The PetiÎtot, 558, und ähnlich GOLDBERG: Der verschriftete Sprechakt, bes. 10.14. 140 Vgl. zu den wesentlichen Argumenten SARASON: The PetiÎtot, 561f; vgl. zu einer Auseinandersetzung mit Sarason STELLER: Giv’on, 62 Anm. 36. 141 Vgl. SHINAN: The Aggadic Literature, 46–49.

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halte.142 Unter anderem konkretisiert Shinan diese Überlegungen auch im Blick auf die Peticha. Diese sei, so setzt er voraus, als am weitesten verbreitete Form der Derascha auf jeden Fall ursprünglich mündlich gewesen. Aufgrund der Häufigkeit rhetorischer Figuren in der Peticha ließe sich dann auf Nähe oder Ferne zur ursprünglichen mündlichen Form schließen.143 Als ein Argument für die ursprüngliche Mündlichkeit der Peticha wird immer wieder auf eine Erzählung aus WaR 3,6 verwiesen. In ihr wird berichtet, wie Rabbi Chananja bar Rabbi Acha an einen Ort kam, um dort zu sprechen, sich aber auf einen anderen Injanvers vorbereitet hatte. Dennoch gelang ihm (unvorbereitet) eine Peticha.144 Auch wenn einiges dafür spricht, dass Petichot nicht nur literarisch gebildet wurden, sondern vielfach auch auf mündliche Vorformen zurückgehen,145 ist damit noch nicht gesagt, dass die Peticha auf einen Sitz im Leben im synagogalen Gottesdienst zurückgeführt werden kann. Auch in WaR 3,6 ist nicht dezidiert von einem Gottesdienst als Ort der Peticha Rabbi Chananjas die Rede. Es wäre z.B. auch denkbar, dass die Petichot ursprünglich als Vorträge im Lehrhaus gehalten wurden. So möchte etwa Folker Siegert die Petichot „eher in den Lehrbetrieb einer rabbinischen Schulklasse als in den Synagogengottesdienst“ einordnen.146 Das stärkste Argument für die Annahme eines gottesdienstlichen Sitzes im Leben der Peticha scheint mir demgegenüber aber darin zu liegen, dass es sich bei den Injanversen der überlieferten Petichot in aller Regel um die ersten Verse der Tora-Lektionen im palästinischen Judentum handelt. Dieser Regelbezug auf die liturgisch perikopierte Tora scheint mir kaum erklärbar, wenn ein anderer Ursprungskontext der Petichot angenommen werden sollte. Gut vorstellbar wäre es hingegen, dass die Peticha im Gottesdienst vor der Lesung des Toraabschnitts vorgetragen wurde und damit die Toralesung eröffnete.147 142 Vgl. SHINAN: The Aggadic Literature, 49f. Shinan verweist hier etwa auf unterschiedliche Formen der Wiederholung, Wortspiele, Wendungen an die Hörer, direkte Rede, Dialogpassagen etc. (vgl. 52). 143 Vgl. SHINAN: The Aggadic Literature, 50–54. 144 Vgl. MARGULIES: Midrash Wayyiqra Rabbah, 69f, und dazu SHINAN: Aramaic Translations, 131f; STEMBERGER: Juden und Christen im Heiligen Land, 221; STELLER: Giv’on, 73. 145 So auch SARASON: The PetiÎtot, 564, der davon ausgeht, dass die hermeneutische Struktur, einen Vers der Schrift durch einen anderen zu erklären, auf jeden Fall einen Ursprung in der „oral exegesis of Scripture“ gehabt habe. 146 SIEGERT: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 2, 17; ähnlich auch PORTON: Midrash and the Rabbinic Sermon; ders.: Midrasch, 129f. 147 So die Meinung vieler, die von einem Sitz im Leben der Peticha im synagogalen Gottesdienst ausgehen (vgl. nur SHINAN: Sermons, 98; HEINEMANN: Deraschot baZibbur, 10; ders.: The Proem, 109–111). U.a. führt Heinemann hier ein Argument aus der Liturgiegeschichte an: Als im 5./6. Jahrhundert Pijutim (liturgische Dichtungen) an die Stelle der Deraschot traten, nahmen diese den Ort vor der Toralesung ein (vgl. 110f); vgl. auch STERN: Parables in Midrash, 159f und

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Eine eindeutige Antwort auf die Frage, inwiefern die Peticha als Form synagogaler Derascha in rabbinischer Zeit zu werten ist, scheint kaum möglich. Zusammenfassend spricht m.E. aber vieles dafür, in der Peticha nicht nur eine eigenständige Gattung der Midraschim, sondern auch eine Grundform der synagogalen Derascha zu sehen. Die Petichot in den heute vorliegenden Midraschim sind freilich literarische Produkte und dürfen nicht als unmittelbare Niederschläge mündlicher Predigt gesehen werden. Dagegen spricht vor allem die Dichte der Sprache und der Argumentation. Die Verschriftung könnte u.a. deshalb erfolgt sein, um für die Darschanim in den Synagogen geeignetes Material für deren Deraschot zur Verfügung zu stellen. Die Sammelwerke der homiletischen Midraschim verhielten sich zu den mündlichen Deraschot in den Synagogen dann am ehesten so wie in gegenwärtiger christlicher Literatur Predigthilfen zu gehaltenen Predigten.148 Ein Beispiel für eine Peticha soll im Folgenden kurz vorgestellt und auf dem Hintergrund der erarbeiteten Kennzeichen einer skripturalen Hermeneutik des rabbinischen Midrasch analysiert werden (3.4). Vorher allerdings gehe ich in einem Exkurs auf rabbinische Gleichnisse ein, in denen Clemens Thoma und Ernst Lauer ebenfalls Beispiele rabbinischer Predigt erkennen (3.3.3). Ein weiterer Exkurs fragt knapp nach der hellenistisch-jüdischen Predigt und ihrem Verhältnis zur rabbinischen Derascha (3.3.4).

3.3.3 Exkurs: Rabbinische Gleichnisse als Deraschot? In der rabbinischen Überlieferung lassen sich ca. 500 bis 1400 Gleichnisse zählen, die in einem von Clemens Thoma betreuten Projekt seit einigen Jahren gesammelt, übersetzt und kommentiert herausgegeben werden.149 Die Gleichnisse finden sich in Midrasch und Talmud teilweise selbständig, teilweise als Teile von Petichot oder im Kontext anderer Gattungen rabbinischer Literatur. 317 Anm. 15. Kritisch dagegen äußert sich GOLDBERG: Versuch über die hermeneutische Präsupposition und Struktur der PetiÎa, 328–331. Vor allem erkennt Goldberg keinen Raum im liturgischen Ablauf zwischen der Beracha (Preisung) vor der Lesung und der Lesung selbst (vgl. 328f). Wenn überhaupt ein gottesdienstlicher Ort für die Peticha angenommen werden könne, dann sieht Goldberg diesen eher nach der Lesung (vgl. 331; ähnlich auch SACHOT: La proclamation scripturaire synagogale, 278–281; HOFFMAN: Art. Liturgie, 380). 148 Vgl. ähnlich auch BAECK: Griechische und jüdische Predigt, 147; ESCHELBACHER: Die Predigt im Judentum, 134; GOLDBERG: Der verschriftete Sprechakt, 10.14; MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 10; ders.: Die ältesten Phasen, 35; SIEGERT: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 2, 15f; STELLER: Giv’on, 66; STERN: Vajikra Rabbah, 31. 149 Vgl. THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster bis dritter Teil; THOMA/ERNST: Die Gleichnisse der Rabbinen. Vierter Teil. Vgl. grundlegend auch BOYARIN: Intertextuality, 80– 92 [Interpreting in Ordinary Language: The Mashal as Intertext]; FRAENKEL: Darche ha-Aggada, Bd. 1, 323–393; STELLER: Giv’on, 12–47; STERN: Midrash and Theory, 39–54.103–106 (Anm.).

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Den Sitz im Leben der rabbinischen Gleichnisse bestimmen Clemens Thoma und Ernst Lauer als homiletischen: „Die Gleichnisse […] sind vorwiegend Teile einer Derascha (Homilie) oder machen eine ganze Derascha aus.“150 Dabei gelte es allerdings zu differenzieren: Es gebe Gleichnisse (Thoma und Lauer beziehen sich hier auf Gleichnisse in PesK) „von derartiger Tiefe und Hintergründigkeit, dass die Vermutung naheliegt, sie seien ursprünglich selbständige Entwürfe für Predigten oder Lehrvorträge gewesen, die erst nachträglich in einen midraschischen Zusammenhang […] eingefügt worden seien […]. Andere Gleichnisse zeigen deutliche Spuren ihrer Verwiesenheit auf die sie umgebenden Midraschim […]“151. Auch den Anlass zur Entstehung der Gleichnisse charakterisieren Thoma und Lauer grundlegend als homiletischen: „Der Gleichniserzähler will und muss bei der gegebenen liturgischen oder nichtliturgischen Situation aus diesen Texten [den Texten, die ihm vorgegeben sind, AD] etwas Plausibles, sein Auditorium Ansprechendes, ihre Situation Treffendes, herausholen und zwar so, dass es mit rabbinischer Tradition, Halacha und Theologie korrespondiert. Im Gleichnis sieht er eine Möglichkeit, diese Ziele zu erreichen.“152 Im Blick auf die Veranlassung ist dabei sicherlich Richtiges erkannt; hermeneutisch aber erscheint mir das Verb „herausholen“ im Kontext des rabbinischen Judentums und seiner skripturalen Hermeneutik nicht unproblematisch; treffender wäre es wohl, davon zu sprechen, dass es die Aufgabe des Gleichniserzählers sei, mit seiner Hörerschaft etwas „Treffendes“ im biblischen Wort zu entdecken. Die Hermeneutik der Peticha ist darin grundlegend mit der der rabbinischen Gleichnisse153 zu vergleichen, dass auch sie in die Schrift hineinführen. Das klassische rabbinische Gleichnis besteht aus zwei Hälften: einer Maschal-Ebene (‫ )משל‬und einer Nimschal-Ebene (‫)נמשל‬.154 Im Maschal wird „Weltwirklichkeit“ in Form einer kurzen Erzählung oder eines Bildwortes dargestellt. Der Nimschal verbindet dies mit der schriftlichen oder mündlichen Tora, wodurch das Gleichnis „die Offenbarung von aussen her nahe“ bringt155 und Gottes- und Weltwirklichkeit miteinander in Beziehung setzt. Wie die Petichot enthalten die Gleichnisse ebenfalls ein Moment der 150

THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 33. THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 18. 152 THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 19 [Hervorhebung im Original]. Im neuesten, vierten Band rücken Clemens Thoma und Hanspeter Ernst von der primär homiletisch-synagogalen Verortung der Gleichnisse ab: „Der Ort der Gleichnisse ist die gelehrte rabbinische Diskussion.“ (THOMA/ERNST: Die Gleichnisse der Rabbinen. Vierter Teil, 12) David Stern sieht beides, den synagogalen Gottesdienst und das Torastudium im Lehrhaus, als mögliche Sitze im Leben der Gleichnisse (vgl. STERN: Parables in Midrash, 47.297f Anm. 6). 153 Gemeint sind hier jeweils die rabbinischen Gleichnisse, die vor allem im 3. und 4. Jahrhundert entstanden. Demgegenüber lässt sich zu Beginn des 1. Jahrhunderts eine frühere Phase der Gleichnisentwicklung im Judentum beobachten, in deren Kontext sich dann auch die in vielen Punkten vergleichbaren, in mancher Hinsicht aber auch deutlich unterschiedenen Gleichnisse Jesu einordnen lassen; vgl. zu der Unterscheidung beider Phasen OBERHÄNSLI-WIDMER: Biblische Figuren in der rabbinischen Literatur, 113, und zu den Beziehungen zwischen den rabbinischen Gleichnissen und den Gleichnissen Jesu unten Kap. 12.2.1, 375 Anm. 91. 154 Vgl. nur z.B. STERN: Parables in Midrash, 8f. 155 THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 16. 151

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Überraschung, des Neuen (chiddusch).156 Thoma und Lauer heben als Kennzeichen der rabbinischen Gleichniserzählung hervor: „Sie steht nicht um ihrer selbst willen da. Vielmehr weist sie auf die rabbinisch verstandene Tora hin und steht ganz in deren Dienst.“157 Auch Gabrielle Oberhänsli-Widmer betont in ihrer Untersuchung zu Gleichniserzählungen aus BerR: „Im Gleichnis des Midrasch ist der Heilige Text Auslöser und Nimschal zugleich, Anfang und Ende jeder Weisheit.“158 Hermeneutisch scheinen die rabbinischen Gleichnisse daher in jedem Fall interessant und sollen unten näher betrachtet werden (Kap. 12); ob sie darüber hinaus aber (zumindest teilweise) als eigenständige Deraschot verstanden werden können, müsste für die einzelnen Gleichnisse überprüft und kann m.E. nicht generell entschieden werden.159

3.3.4 Exkurs: Rabbinische Derascha und hellenistisch-jüdische Predigt Hartwig Thyen unternahm in seiner 1955 erschienenen Arbeit „Der Stil der JüdischHellenistischen Homilie“ als erster den Versuch, die Predigt der Diasporasynagoge der Zeit um das erste Jahrhundert genauer zu untersuchen. Sein Ergebnis bleibt allerdings wenig aussagekräftig. Er beschreibt – wie er selbst eingesteht auf schmalem Quellenmaterial160 – die „Predigt der hellenistischen Synagoge“ im Kern als „erbauliche Schriftexegese“ mit „praktisch-paränetisch[em]“ Ziel161. Gespeist worden sei diese Predigt einerseits aus der hellenistischen Umgebung (besonders aus der kynisch-stoischen Diatribe) und andererseits aus der eigenen „synagogalen Tradition“.162 1980 veröffentlichte Folker Siegert die deutsche Übersetzung zweier Predigten (sowie eines Predigtfragments163) aus der (wohl alexandrinischen164) Diasporasynagoge des ersten vorchristlichen bis zweiten nachchristlichen Jahrhunderts.165 Durch ihren „Anredecharakter“ sowie durch ihre „Gebundenheit an einen Bibelabschnitt“

156

Vgl. THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 21f. THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 17. 158 OBERHÄNSLI-WIDMER: Biblische Figuren in der rabbinischen Literatur, 96. 159 Vgl. ausführlicher zum rabbinischen Gleichnis unten Kap. 12.2. 160 Thyen betrachtet vor allem Philos Genesis-Kommentar, 1Clem, 4Makk, Jak, Hebr, 1Makk und 3Makk, Barn, Herm, Tob, TestXII und Sap. Vgl. zur Kritik an Thyens Vernachlässigung der bekannten hellenistisch-jüdischen Predigten SIEGERT: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 2, 3 Anm. 7.15. 161 THYEN: Der Stil der Jüdisch-Hellenistischen Homilie, 6. 162 THYEN: Der Stil der Jüdisch-Hellenistischen Homilie, 117; vgl. zur Beziehung zur Diatribe bes. 62. 163 „De Deo“ (zu Gen 18,2), vgl. SIEGERT: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 1, 84–93. Das Fragment „De Deo“ erkennt Siegert dann allerdings in dem 1992 erschienenen Kommentarband als lediglich predigtähnliches Stück Philos – und gliedert es daher aus der Kommentierung des zweiten Bandes aus (vgl. ders.: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 2, 7). 164 Vgl. SIEGERT: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 2, 11.49–52. 165 Vgl. SIEGERT: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 2, 48. 157

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seien die Texte „De Jona“ und „De Sampsone“ als Predigten zu erkennen,166 die durch einen Stenographen festgehalten worden seien.167 „De Jona“ könnte am ehesten als „rewritten Bible“ bezeichnet werden.168 Der Prediger geht der Jonageschichte (weniger dem konkreten Jonatext) nach und erzählt ihn interpretierend neu. Besonders betont er dabei Gottes Souveränität169, die aus dem Tod ins Leben bringt und so sowohl von dem aus dem Bauch des Seeungeheuers wiedergeborenen Jona als auch von den zum Tode verurteilten (und daher eigentlich schon toten) Niniviten erfahren wird.170 Aus knappen Andeutungen im Jonatext gestaltet der Prediger ausführliche Passagen; so wird aus der kurzen Berufungsskizze in Jona 1,2 eine lange Gottesrede171 und aus der knappen Rede des Königs von Ninive (Jona 3,6–9) eine ausführliche Rede in der Volksversammlung172. Die Schlussrede Gottes (Jona 4,9–11) verwandelt die Predigt in eine lange Apologie des göttlichen Handelns.173 Die Dehnung der Jona-Geschichte verfolgt einerseits das Ziel der theologischen Deutung und Einordnung; andererseits versucht sie, Details der biblischen Erzählung (teilweise sehr unterhaltsam) zu klären: so z.B. die Frage, wie es gelingen kann, im Bauch des Tieres ein Gebet zu sprechen174 und wie der Kapitän durch das (schon in der LXX belegte) Schnarchen Jonas im Rumpf des Schiffes auf diesen aufmerksam werden konnte175. Vergleicht man die Predigt „De Jona“ insgesamt mit der rabbinischen Auslegung im Kontext skripturaler Hermeneutik, so könnte man zu der Überzeugung kommen, dass die hellenistische Predigt weit weniger direkt vom biblischen Text und seiner genauen Lektüre ausgeht als die rabbinische. Die Predigt „De Sampsone“ allerdings (die wohl nur fragmentarisch vorliegt) revidiert diesen Eindruck: Sie geht Ri 13f (Geburt und Hochzeit Simsons) nacherzählend entlang; ihr leitender Gedanke ist es dabei, die Bedrohung des Menschen (auch des Gerechten!) durch die Begierde und gleichzeitig die Macht und Menschenliebe Gottes aufzuzeigen.176 Im Verlauf der Nacherzählung befragt die Predigt einzelne Verse des biblischen Textes akribisch,177 fordert auch die Hörer zu einer solch genauen Betrachtung des biblischen Wortlautes 166 Vgl. SIEGERT: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 1, 6 (Text von „De Jona“ 9–48; Text von „De Sampsone“ 51–83). 167 Vgl. SIEGERT: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 1, 7. 168 Siegert spricht von „Erzählpredigt[en]“ (SIEGERT: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 2, 293). 169 Vgl. SIEGERT: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 1, 9. 170 Vgl. SIEGERT: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 1, 26.36.42. 171 Vgl. SIEGERT: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 1, 10f. 172 Vgl. SIEGERT: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 1, 28–34. 173 Vgl. SIEGERT: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 1, 41–48. 174 Vgl. SIEGERT: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 1, 20; vgl. dazu ders.: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 2, 147f. 175 Vgl. SIEGERT: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 1, 13; vgl. dazu ders.: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 2, 125–127. 176 Vgl. SIEGERT: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 1, 51f; ders.: Drei hellenistischjüdische Predigten, Bd. 2, 309. 177 Vgl. z.B. die Auslegung von Ri 14,15 im Verhältnis zu Ri 14,17 (vgl. SIEGERT: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 1, 76f, und dazu ders.: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 2, 288).

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auf178 und stellt Querverbindungen zu anderen Texten der Schrift her179. Die Predigt liest sich an vielen Stellen wie ein zur Rede ausgeführter rabbinischer Midrasch. Fragt man weiter nach den Unterschieden zur (späteren) rabbinischen Derascha kann wohl eher auf die formal-inhaltliche Einheitlichkeit der hellenistischen Predigt verwiesen werden. In der Nacherzählung des biblischen Textes dominiert die Ausrichtung auf ein Thema bzw. das Ziel der Entwicklung einer These. Demgegenüber bleibt die rabbinische Derascha offener.180 Allerdings muss bei dieser Gegenüberstellung bedacht werden, dass es sich bei den beiden von Siegert vorgelegten Predigten aller Wahrscheinlichkeit nach um stenographische Mitschriften mündlicher Predigten handelt, wogegen in den Midraschim bestenfalls Kurzfassungen vorliegen. Zu weitreichende Schlussfolgerungen über die Unterschiede sollten daher nicht gezogen werden (im Gegenteil scheint es mir vorstellbar, dass manches exegetische Material der Midraschim zu Deraschot führte, die den beiden von Siegert untersuchten hellenistischen Predigten durchaus nahegekommen sein könnten!).

3.4 Ein Beispiel für eine Peticha Im Folgenden soll eine Peticha exemplarisch vor Augen geführt und kurz analysiert werden. Ich wähle dazu eine Peticha aus WaR, die Avigdor Shinan als eine der schönsten Petichot in der rabbinischen Literatur bezeichnet.181

3.4.1 Der Text: WaR 13,2182 R. Schimon ben Jochai eröffnete [‫]פתח‬183 [mit]: „Er stand [auf] und maß184 die Erde, er sah und ließ beben die Völker [ ‫[ “]גוי‬Hab 3,6].

178

Vgl. SIEGERT: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 1, 76: „Lies die Schrift genau

[…]“.

179

Besonders eindrucksvoll erscheint mir z.B. die Verbindung des Textes aus dem Richterbuch mit Jes 11,2 (vgl. SIEGERT: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 1, 65–68, und dazu ders.: Drei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 2, 273–280). 180 Vgl. das Beispiel unten Kap. 3.4 sowie Kap. 14.1. 181 Vgl. SHINAN: Sermons, 98; vgl. zum Text auch BACHER: Das Proömium, 23f; GOLDBERG: Das Schriftauslegende Gleichnis, 187–190. 182 Ich gebe den folgenden Text in meiner eigenen Übersetzung wieder. 183 ‫ פתח‬wird – wegen seines regelmäßigen Vorkommens als Einleitung der Petichot – gelegentlich auch als synonym zu ‫ דרש‬bestimmt und dann entsprechend mit „predigen“ (o.ä.) übersetzt (vgl. nur STELLER: Giv’on, 61). 184 BHS schlägt mit LXX und Tg. die Lesung „und ließ wanken“ vor (par. membr. mit dem zweiten Glied des Verses). Demgegenüber stützt sich die rabbinische Auslegung auf die lectio difficilior ‫וימדד‬, die daher hier übersetzt wird.

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[I – Eine Auslegung des ersten Teils des Petichaverses] Es maß der Heilige, gelobt sei Er, unter allen Völkern [‫ ]אומות‬und nicht fand er ein Volk, das würdig gewesen wäre die Tora zu empfangen, außer Israel. Und es maß der Heilige, gelobt sei Er, unter allen Generationen, und fand keine Generation, die würdig gewesen wäre die Tora zu empfangen, außer die Generation der Wüste. Es maß der Heilige, gelobt sei Er, unter allen Bergen, und nicht fand er einen Berg, auf dem die Schechina185 wohne, außer dem Berg Moria. Es maß der Heilige, gelobt sei Er, alle Städte und nicht fand er eine Stadt, in der der Tempel gebaut werde, außer Jerusalem. Es maß der Heilige, gelobt sei Er, alle Berge und nicht fand er einen Berg, auf dem die Tora gegeben werde, außer dem Berg Sinai. Es maß der Heilige, gelobt sei Er, alle Länder und nicht fand er ein Land, das würdig gewesen wäre für [das Volk] Israel, außer das Land Israel. Denn so steht geschrieben: „Er stand [auf] und maß die Erde“ [Hab 3,6].186 [II – Eine Auslegung des zweiten Teils des Petichaverses] „Er sah und ließ beben [‫ ]ויתר‬die Völker“ [Hab 3,6]. Rab sagte: Er gab frei [‫ ]התיר‬ihr Blut, er gab frei ihren Besitz.187 Er gab frei ihr Blut: „[…] kein Mensch soll am Leben bleiben“ [Dtn 20,16].188 Er gab frei ihren Besitz: „[…] du sollst essen die Beute deiner Feinde“ [Dtn 20,14]. R. Jochanan sagte: Er ließ sie springen [*‫ קפ‬hi.] in die Gehenna, wie gesagt ist: „[…] zu springen [‫ נתר‬pi.] mit ihnen auf der Erde“ [Lev 11,21189]. R. Huna Rabbi von Zippori sagte: Er gab frei ihre Gürtel, denn so steht ge185 Von ‫ שכ‬q., sich niederlassen, wohnen. Im rabbinischen Judentum Bezeichnung der göttlichen Einwohnung im Bereich menschlicher Welt; vgl. ERNST: Die Schekhîna; SCHOLEM: Kabbala und Mythos, 140f. 186 Textkritisch weicht die Anzahl der Glieder der hier dargebotenen Reihe in den einzelnen Handschriften deutlich ab. U.a. sind folgende weitere Glieder belegt (vgl. MARGULIES: Midrash Wayyiqra Rabbah, 273): – Es maß der Heilige, gelobt sei Er, alle Menschen, und nicht fand er einen Menschen geeignet, sodass Israel durch ihn erlöst werden sollte, außer Mose. – Es maß der Heilige, gelobt sei Er, unter allen Meeren, und nicht fand er ein Meer geeignet, dass hindurchgeführt werde Israel durch seine Mitte, außer das Schilfmeer. – Es maß der Heilige, gelobt sei Er, alle Menschen, und nicht fand er einen Menschen geeignet, dass durch ihn die Tora gegeben werde außer Mose. 187 Die Auslegung von Rab gründet sich auf ‫ נתר‬hi., das sowohl „beben lassen“ als auch „freimachen/freigeben“ bedeuten kann. 188 Hier zitiert Rab aus den sogenannten Kriegsgesetzen in Dtn 20. Hier V.16: „Nur von den Städten jener Völker, die dir der HERR, dein Gott, als Erbbesitz gibt, soll kein Mensch am Leben bleiben [‫]לא תחיה כלנשמה‬.“ 189 Dieser Vers aus dem Kontext der Liste der reinen und unreinen Tiere (auf die die gesamte Peticha zuläuft), spricht von den geflügelten Tieren, die vier Füße haben und gegessen werden dürfen, wenn sie oberhalb der Füße noch zwei Schenkel haben, womit sie auf der Erde springen.

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schrieben: „Er löst [‫ פתח‬pi.] die Züchtigung [‫ ]מוסר‬der Könige, und er gürtet mit einem Gurt ihre Lenden“ [Hiob 12,18]. [III – Das Gleichnis vom Hund und dem Esel] Ula Bira’a im Namen von R. Schimon ben Jochai: [Das gleicht] einem, der hinausging zur Scheune und sein Hund und sein Esel mit ihm. Er lud auf seinen Esel fünf Sea und auf seinen Hund zwei. Und es geschah, dass jener Hund keuchte. Er nahm eines von ihm weg – er aber keuchte; [er nahm] alle beide [weg], er aber keuchte. Er sagte zu ihm: Ob du beladen bist oder nicht beladen, du keuchst. So sogar mit den sieben Geboten, die die Söhne Noahs auf sich nahmen,190 da sie diese nicht tragen konnten, blieben sie stehen und luden sie Israel auf. [IV – Das Gleichnis von den beiden Kranken] R. Tanchum bar Chanilai sagte: [Das gleicht] einem Arzt, der eintrat, um zwei Kranke zu besuchen, einen, der das hat, um zu leben, und einen, der nicht das hat, um zu leben. Zu dem, der das hat, um zu leben, sagte er: Diese und jene Sache soll er nicht essen. Und bei dem, der nicht das hat, um zu leben, da sagte er zu ihnen: Alles, worum er bittet, bringt ihm! So die Völker [‫ ]אומות‬der Welt, die nicht bestimmt sind zum Leben der kommenden Welt: „[…] wie das grüne Kraut habe ich euch alles gegeben“ [Gen 9,3], aber Israel, die bestimmt sind zum Leben der kommenden Welt: „[…] das ist das Lebewesen, das ihr essen sollt, von allem Vieh, das auf der Erde ist“ [Lev 11,2 = Injan-Lemma].

3.4.2 Erläuterungen zu Form und Inhalt der Peticha Formal spannt sich in der Peticha ein Bogen vom Peticha-Lemma aus Hab 3,6 zum Vers der Parascha Lev 11,2, der durch Auslegungen zu den beiden Halbversen von Hab 3,6 [I und II] und durch zwei Gleichnisse [III und IV] gestaltet wird. Die Spannung lässt sich auch inhaltlich bestimmen: Die Kaschrut-Gesetze (Speisegesetze) mit ihren detaillierten Erläuterungen zu Reinheit und Unreinheit der Tiere einerseits, der Vers aus dem „Psalm Habakuks“ mit seiner klagend-sehnsüchtigen Beschreibung der Macht Gottes und vorsichtigen Hoffnung auf Gottes Eingreifen zugunsten Israels scheinen unüberbrückbar entfernt. Der Bogen der Peticha löst die Spannung 190 Hier spielt das Gleichnis in seiner zweiten Hälfte (Nimschal) auf die sieben noachidischen Gebote an, die nach rabbinischer Auslegung den Völkern der Welt gegeben wurden (vgl. dazu MÜLLER: Tora für die Völker, bes. 25–33).

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nicht auf, ordnet sie aber in einen theologischen Rahmen ein, der sich durch die Begriffe Erwählung, die Völker und die Mizwot bestimmen lässt. Zu bedenken ist, dass dieses formal-inhaltliche Spannungsfeld zur Zeit der Entstehung der Peticha (terminus a quo aufgrund der beteiligten Rabbinen: nach dem Ende des dritten Jahrhunderts; terminus ad quem aufgrund der Redaktion des Midrasch: etwa im fünften Jahrhundert; daher am ehesten im vierten Jahrhundert oder zu Beginn des fünften Jahrhunderts) als durchaus aktuell angenommen werden kann: Die Klage des Habakukpsalms und die darin aufgrund der Erinnerung an Gottes Macht vorsichtig Sprache findende Hoffnung auf Gottes erneutes Eingreifen zugunsten Israels191 hatte in einem die christliche Herrschaft zunehmend als bedrückend wahrnehmenden Judentum sicherlich aktuelle Relevanz.192 In den Worten des Psalms konnten Klage und Sehnsucht Raum finden. Ganz anders wohl in der mit Lev 11,2 beginnenden Tora-Lesung: Ohnehin schon durch die politische Situation unfrei und bedrückt sollte das Volk Israel nun auch noch auf die Reinheit der Speisen achten!? Und die herrschenden Völker sind auch hiervon befreit!?193 Im Kontext dieser Spannung eröffnet die Peticha ein Feld unterschiedlicher Antwortansätze, ohne eine Lösung anzubieten: Die Auslegung von Hab 3,6aa spricht das Handeln Gottes an Israel mit der Erwählung Israels (und eben nur Israels!) durch Gott zusammen. Der zweite Teil untersucht das schwer zu interpretierende Verb ‫ נתר‬auf seine möglichen Bedeutungsfelder hin, indem Hab 3,6ab u.a. mit den Kriegsgesetzen aus Dtn 20 verbunden wird. Das Gleichnis vom Hund und Esel überrascht mit der Pointe, dass Israel (als Esel!) für die Völker stellvertretend trägt, wogegen das Gleichnis von den beiden Kranken aufweist, dass die Speisegebote nur denen gelten, die zum Leben in der kommenden Welt bestimmt sind. Die Spannung wird in der Peticha nicht gelöst, sondern in unterschiedliche Kontexte gerückt, in denen sie nicht mehr als destruktive, sondern als konstruktiv zu bejahende Spannung erscheinen kann. Jacob Neusner konnte es – allgemeiner im Blick auf die rabbinische Schriftauslegung – so sagen: Nicht zu einem Ende führe diese Art der Schriftauslegung, sondern zu Wegen, die „wir“ gehen können.194 Insgesamt findet auch die oben ausgeführte These, dass die Petichot auf mündliche Deraschot zurückgehen könnten, in ihrer heute im Midrasch er191 Vgl. nur V.16b: „Aber ich will harren auf die Zeit der Trübsal, dass sie heraufziehe über das Volk, das uns angreift.“ 192 Vgl. zur Situation im Heiligen Land zur Entstehungszeit der Peticha oben Kap. 3.2.2.4, 87, und vgl. KADUSHIN: A Conceptual Commentary on Midrash Leviticus Rabbah, 93. 193 Vgl. zu dieser zeitgeschichtlichen Kontextualisierung und Deutung auch SHINAN: Sermons, 98f; HEINEMANN: The Art of the Sermon, 69–74. 194 Vgl. NEUSNER: What Judaism can Teach Christianity, 300.

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haltenen Form aber deutliche Anzeichen der Schriftlichkeit der Überlieferung tragen und auf keinen Fall als Nachschriften tatsächlich gehaltener synagogaler Ansprachen gesehen werden können, in dieser Peticha Bestätigung: Die Relevanz der Peticha in der Situation etwa des vierten oder fünften Jahrhunderts unterstreicht die Möglichkeit, von ursprünglicher Mündlichkeit auszugehen: Wenn die mit Lev 11,2 beginnende Parascha gelesen wurde, ist es gut vorstellbar, dass die Frage nach der Bedeutung der Speisegebote im Kontext der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit den Völkern und der schwierigen Situation des Gottesvolkes ein Gegenstand intensiver Diskussion bzw. klagender Nachfrage war. Gleichzeitig ist es nicht denkbar, dass die Peticha in der vorliegenden Form mit ihrer sprachlichen Dichte und ihrer Vielfalt der Bibelbezüge (vor allem in Teil II) mündlich gehalten worden sein soll.

3.4.3 Erläuterungen zur Hermeneutik der Peticha Die Peticha kann in den Kontext apriorischer Tora-Erwartung rabbinischen Judentums eingezeichnet werden und unterstreicht dann zwei Kennzeichen skripturaler Hermeneutik besonders deutlich: (1) Die Peticha entfaltet sich im Deutehorizont der ganzen Schrift. Die in der lutherischen Reformation betonte hermeneutische Regel, dass Schrift durch Schrift interpretiert werden müsse und dass dies aufgrund der „semetipsum interpretandi facultas“ der Schrift auch möglich sei,195 findet sich als implizite Hermeneutik in dieser Peticha (und generell in der rabbinischen Schriftauslegung). Die – im aktuellen Kontext – nicht mehr (selbst-)verständlichen Speisegebote bedürfen einer Einordnung und gewinnen diese im multiperspektivischen Rekurs auf andere Aussagen der Schrift, die die Geschichte des wüstenwandernden Volkes ebenso evozieren wie die Auseinandersetzung mit anderen Völkern (Kriegsgesetze) oder die prophetische Klage (vgl. Hab 3). Die Form der Peticha unterstreicht schon durch ihren Aufbau eine solche – auf Intertextualität hin angelegte – hermeneutische Grundposition eindrucksvoll.196 (2) Die Bedeutung der Texte in der Derascha (Peticha-Lemma; InjanLemma) verhindert keineswegs, dass sich die Peticha mit dem Leben bzw. einer Lebens- und Glaubensfrage auseinandersetzt. Die Peticha verwebt zunächst Texte miteinander, ohne den biblischen Text explizit zu aktualisieren. So werden die „Völker“ nicht näher bestimmt, und es bleibt offen, was 195 196

Vgl. dazu unten Kap. 8.1.4, 233f, bes. 233 Anm. 60. Vgl. ähnlich bereits BACHER: Die Proömien, 9–19.

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mit den „Gürteln der Feinde“ genau gemeint ist. Dennoch aber steckt die Peticha – wie die obigen Andeutungen wahrscheinlich machen – voller Weltwirklichkeit und zeigt, dass die Schrift als „commentary on everyday life“ (Neusner)197 gelesen werden kann. Der Weg in den biblischen Textraum setzt Assoziationen frei – und dies ohne explizit die Alltags- bzw. Lebensrelevanz der Auslegung zu behaupten.198

3.5 Zusammenfassung Zahlreiche historische Fragen zum Ursprung und zur frühen Gestalt jüdischer Predigt müssen auch nach dem Durchgang dieses Kapitels offen bleiben. Auf jeden Fall aber ließ sich der Zusammenhang von Hermeneutik und Homiletik, von Midrasch und Derascha deutlich vor Augen führen. Bereits die Wahl des Verbes ‫ דרש‬und seiner Derivate für die Schriftauslegung in Lehrhaus und Synagoge zeigt, dass rabbinische Schriftauslegung im biblischen Text und aufgrund der genauen Lektüre dieses Textes jeweils aktuelle Auslegung sucht. Apriorische Tora-Erwartung korrespondiert mit einer skripturalen Hermeneutik, die Wege in die Tora geht und diese auch in der Derascha, vor allem in der Form der Peticha (aber auch im rabbinischen Gleichnis), gestaltet. Vom biblischen Text ausgehend führt die Peticha neu in diesen hinein und nimmt dabei unterschiedliche Aspekte der Weltwirklichkeit und Fragen des Glaubens implizit auf. Im jüdischen Mittelalter verschiebt sich diese skripturale Hermeneutik tendenziell hin zu unterschiedlichen meta-skripturalen Hermeneutiken. Diese Verschiebung ist Gegenstand des folgenden Kapitels (Kap. 4) und soll im Anschluss an das fünfte Kapitel nochmals zusammenfassend in den Blick genommen werden (Kap. 5.5).

197 198

NEUSNER: What Judaism can Teach Christianity, 299. Vgl. ausführlicher unten Kap. 14.1.3.

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4. Von der skripturalen zur meta-skripturalen Hermeneutik. Tendenzen im jüdischen Mittelalter

Das Kapitel setzt ein mit der Beobachtung einer grundlegenden hermeneutischen Verschiebung im jüdischen Mittelalter1, die ich als den Weg von einer skripturalen zu einer meta-skripturalen Hermeneutik näher bestimme (4.1). Die meta-skripturale Hermeneutik wird dann in ihrer philosophischen, mystischen und ethischen Spielart beleuchtet und auf ihre Bedeutung für die Homiletik befragt (4.2). In einer abschließenden Zusammenfassung vergleiche ich hermeneutische und homiletische Entwicklungen im Mittelalter mit skripturaler rabbinischer Hermeneutik (4.3).

4.1 Von der skripturalen zur meta-skripturalen Hermeneutik Moshe Idel konstatiert im Mittelalter eine deutlich wahrnehmbare Veränderung in der jüdischen Hermeneutik. Im Kern habe diese in dem Versuch bestanden, die assoziative Vielgestaltigkeit rabbinischer Schriftinterpretation zu überwinden und zu einem einheitlicheren, kohärenteren Reden und Denken zu gelangen.2 Es sei darum gegangen, die Aussage der Schrift zu ermitteln, nicht mehr die Pluralität der Auslegungen nebeneinander zu stellen. Folgt man der Unterscheidung Abraham Joshua Heschels, ließe sich davon sprechen, dass nach dem talmudischen Zeitalter, das durch die wenig kohärente Sammlung verschiedener Stimmen und unterschiedlicher Auslegungen gekennzeichnet ist, nun ein neues mischnisches Zeitalter eintritt, 1

Der Begriff „Mittelalter“ setzt meist eine tendenziell problematische Perspektive voraus, durch die dieser in aller Regel pejorativ konnotiert wird. Israel Bettan warnt im Vorwort seiner Studien zur jüdischen Predigt im Mittelalter vor jeder Abwertung dieser Zeit; vielmehr habe die jüdische Predigt erst im Mittelalter wesentliche Schritte ihrer Entwicklung getan (vgl. BETTAN: Studies in Jewish Preaching, ix.369–377). – Das jüdische Mittelalter kann in vier Phasen untergliedert werden. Eine erste Phase reicht vom Abschluss der beiden Talmudim bis ca. 1038 (der Zeit des Bedeutungsverlustes des babylonischen Gaon angesichts neuer Zentren des Judentums in Nordafrika und Spanien) und kann als saboräisch-gaonäische Zeit bezeichnet werden (vgl. STEMBERGER: Einleitung, 17; DEXINGER: Art. Judentum, 550). Das jüdische Hochmittelalter erstreckt sich dann etwa vom 11. bis ins 15. Jahrhundert; darauf folgt eine Zeit, in der RenaissanceEinflüsse spürbar werden (15./16. Jahrhundert), und der Weg in die jüdische Neuzeit (16. bis 18. Jahrhundert). 2 Vgl. IDEL: Preface, ix.

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in dem es – wie in der Mischna – um die Reduktion der Komplexität und um die Klarheit der Aussage geht. Exemplarisch dafür steht bei Heschel der Philosoph, Arzt und Rabbiner Maimonides (1135–1204), der die Fülle und Komplexität des Talmud in seinem Werk „Mischne Tora“ zur leichteren Anwendung zusammenfassen wollte. Sein großes Vorbild dabei war Rabbi Jehuda ha-Nasi, der Kodifikator der Mischna.3 Heschel beurteilt diesen Weg „mischnischer“ Synthese kritisch: „Hierin besteht der natürliche Mangel seiner Kodifikation: an die Stelle des Vorgangs tritt der Begriff, an die Stelle des Falles das Gesetz, an die Stelle der Personen die Sache, an die Stelle der Geschichte die Theorie, an die Stelle der lebendigen Atmosphäre die anonyme Autorität, an die Stelle der Situation die Abstraktion.“4 Jede hermeneutische Verschiebung hat homiletische Konsequenzen. So spiegelt sich auch die gegenüber der rabbinischen Zeit neue Hermeneutik in der jüdischen Predigt im Mittelalter. Israel Bettan bestimmt konzise Klarheit und Linearität der Argumentation als wesentliche Kennzeichen mittelalterlicher Deraschot. So hebt er – bezogen auf den bedeutenden Prediger des 16. Jahrhunderts Juda Moscato – die „logische Stringenz und ununterbrochene Entwicklung der Gedanken“ („unity of thought and uninterrupted progression of ideas“5) in dessen Deraschot hervor, sieht ihn damit als „Vater moderner jüdischer Predigt“ („father of the modern Jewish sermon“6) und grenzt dies gegen die rabbinischen Deraschot ab. Diese seien „not climaxes in a thought; they are sparks escaping from the rock when the darshan’s hammer falls heavily upon it.“7 Die Entwicklung hin zu einer einheitlicheren Auslegung und konziseren Derascha setzt keineswegs erst im Hochmittelalter ein. Bereits in gaonäischer Zeit wird die tannaitisch-amoräische Diskussion des biblischen Textes im Wechselspiel schriftlicher und mündlicher Tora nicht mehr einfach weitergeführt. Neben Sammelwerken8 entstehen nun Bibelauslegungen, die nicht mehr wie die bisherigen Midraschim Zitate einzelner Rabbinen neben3

Vgl. HESCHEL: Maimonides, 36–41. HESCHEL: Maimonides, 107; vgl. zur Unterscheidung von mischnischem und talmudischem Weg vor allem 104f. Vgl. zu Maimonides’ „Mischne Tora“ als Paradigma für ein neues Denken im Judentum des Mittelalters auch GOODMAN-THAU: Aufstand der Wasser, 118–157 [Kabbala und neues Denken], bes. 139. 5 BETTAN: Studies in Jewish Preaching, 192. 6 BETTAN: Studies in Jewish Preaching, 194. 7 BETTAN: Studies in Jewish Preaching, 192. 8 Vgl. zu den Midraschsammlungen DAN: Art. Homiletic Literature, 953; HOROWITZ: The Jewish Sermon, 134; JAPHET: The Nature and Distribution of Medieval Compilatory Commentaries; ZUNZ: Die gottesdienstlichen Vorträge, 356–358. Ein Höhepunkt dieser Sammlungstätigkeit lässt sich in dem – wahrscheinlich im 13. Jahrhundert – entstandenen Sammelwerk „Jalqut Schimoni“ erkennen, das aus mehr als 50 Midraschwerken kompiliert wurde (vgl. STEMBERGER: Einleitung, 342; vgl. dazu auch ELBAUM: Yalqut Shim’oni). 4

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einander stellen, „sondern als Leistung einer Schriftstellerpersönlichkeit“9 betrachtet werden können. Ein Beispiel bieten die wohl im 8. oder 9. Jahrhundert entstandenen Pirqe de Rabbi Eliezer. Das Werk erzählt biblische Geschichte von der Schöpfung bis zu Num 12 zusammenhängend nach (rewritten Bible) und bricht dann ab.10 Gegenüber der Vielgestaltigkeit der unterschiedlichen rabbinischen Stimmen, die sich kontextualisierend um den biblischen Text lagern, tritt nun die eine, bestimmte Nacherzählung bzw. Interpretation.11 Entscheidend für das hermeneutische Streben nach mehr Kohärenz und Eindeutigkeit in der Schriftauslegung war u.a. die grundlegende karäische Kritik an dem rabbinischen Umgang mit der Schrift. Die Karäer – eine im 8. Jahrhundert entstandene jüdische Gruppierung – lehnten jede andere als die literale Deutung der schriftlichen Tora ab, kritisierten vor allem die haggadischen rabbinischen Auslegungen radikal und verwarfen so insgesamt das Konzept der zweifachen schriftlichen und mündlichen Tora.12 Für nachfolgende Bibelauslegung trat daher der einfache Sinn, der peschat (‫ )פשט‬der biblischen Worte, mehr und mehr in den Mittelpunkt und wurde zum kritischen Maßstab, wobei freilich die hermeneutisch prekäre Frage, wie der peschat bestimmt werden soll und ob er überhaupt eindeutig bestimmt werden kann, kaum gestellt wurde. Gefragt wurde aber, wie der einfache, literale Sinn mit der Tradition des Midrasch und seinen vielfältigen Auslegungen in Verbindung gebracht werden könne. Eine solche Fragestellung lässt sich exemplarisch in Raschis (Rabbi Salomo ben Isaak, 1040–1107) wirkungsgeschichtlich eminent bedeutsamem Kommentar zur Hebräischen Bibel wahrnehmen. Dieser verbindet konsequent den einfachen Wortsinn (‫ )פשט‬mit der Tradition des Midrasch (‫)דרש‬,13 wobei der peschat zum Kriterium für alle weiteren Auslegungen wird. Vom peschat ausgehend wählt Raschi daher aus der rabbinischen Auslegung das aus, was diesem nahekommt. So schreibt er etwa in seiner Erklärung zu Gen 3,8: „[…] es gibt viele agadische Midraschim […], ich aber komme nur, den einfachen Sinn 9

STEMBERGER: Einleitung, 322. Vgl. STEMBERGER: Einleitung, 321f. 11 Vgl. auch RUBENSTEIN: From Mythic Motifs to Sustained Myth. 12 Vgl. SAPERSTEIN: Decoding the Rabbis, 1; vgl. auch DÖRING/KWASMAN: Art. Karäer; HARRIS: How do we know this, 74f; STEMBERGER: Die Schriftauslegung der Rabbinen, 104.111– 113; ders.: Art. Schriftauslegung, 448. Stemberger spricht hier von einem „Ruf zurück zur Bibel“ durch die karäische Bewegung. Es wäre denkbar, dass in Folge karäischer Kritik auch die synagogale Derascha in Misskredit geriet und an ihrer statt die freien liturgischen Dichtungen (Pijutim) größere Bedeutung erlangten (vgl. zu den Pijutim insgesamt MAIER: Synagogale Poesie). Gelegentlich wird dafür auch das – allerdings in seiner Interpretation sehr umstrittene – Verbot der deute,rwsij durch Kaiser Justinian im Jahr 533 verantwortlich gemacht (vgl. z.B. TREPP: Der jüdische Gottesdienst, 223; ELBOGEN: Der jüdische Gottesdienst, 288; vgl. dazu insgesamt auch STEMBERGER: Midrasch, 216; LINDER: The Jews, 402–411, bes. 406.409). 13 Vgl. STEMBERGER: Art. Schriftauslegung, 448; SCHEUER: Vorwort, IX. 10

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des Verses und solche Agada zu bringen, welche die Worte des Verses erklärt, dass sich jedes Wort dem Zusammenhang einfügt.“14 Für den Umgang mit dem rabbinischen Midrasch ist auch Raschis Erläuterung zu Ex 6,9 interessant: Er stellt zunächst eine Aussage aus dem Midrasch vor, zeigt dann, dass diese schwer mit dem peschat zu verbinden sei, und räumt ihr in Folge eine Art nachgeordneter Selbständigkeit ein: „[…] der Vers muss nach seinem einfachen Sinne erklärt werden […]; der Midrasch aber belehre selbständig in seiner Weise [mit Verweis auf Jer 23,29, AD]“15. Wurde rabbinische Hermeneutik oben als skripturale Hermeneutik charakterisiert, bei der sich der Ausleger mit eigenen Fäden in das Gewebe des biblischen Textes verstrickt, so können – so mein terminologischer Vorschlag – die neuen hermeneutischen Ansätze des jüdischen Mittelalters als Wege meta-skripturaler Hermeneutik bestimmt werden. Dabei werden Fäden des biblischen Textes (etwa der aus dem Text erhobene peschat) herausgegriffen und mit eigenen Fäden zu einem neuen Gewebe (textum) verbunden. Dies geschieht – wie ich im Folgenden darstelle – vor allem auf drei unterschiedlichen Wegen: einem philosophischen, einem mystischen und einem ethischen. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die knappe und jeweils mit einigen Beispielen erläuterte Darstellung dieser drei hermeneutischen Linien. Eine Übersicht über die Entwicklung der Derascha im Mittelalter ist nicht im Blick, da sie den Rahmen dieser Erarbeitung sprengen würde. „[…] die homiletische Literatur“ stellt – so Beate Ego – „im Mittelalter neben dem halachischen Corpus die reichste und umfangreichste literarische Form überhaupt“ dar.16 Zur Beschreibung der Entwicklung der Derascha im Mittelalter müsste daher eine fast unüberschaubare Literatur berücksichtigt werden. Gleichzeitig wäre – wie bereits in rabbinischer Zeit – die Frage zu thematisieren, inwiefern von der überlieferten homiletischen Literatur auf tatsächlich gehaltene Deraschot geschlossen werden kann.17

14 Raschis Pentateuch-Kommentar: 11 (zu Gen 3,8); vgl. auch 13 (zu Gen 3,22); 106f (zu Gen 33,20). 15 Vgl. Raschis Pentateuch-Kommentar: 171f, Zitat: 172. 16 EGO: Art. Predigt, 239. 17 In seiner Analyse zur jüdischen Predigt im Mittelalter erkennt Marc Saperstein, dass erst ab dem 15. Jahrhundert die Aufzeichnung der tatsächlich gehaltenen Predigt wichtiger wurde (vgl. SAPERSTEIN: Jewish Preaching, 18; vgl. auch KUYT: Art. Homiletik, 1877; SAPERSTEIN: „Your Voice […]“, xv.368).

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4.2 Drei Wege meta-skripturaler Hermeneutik 4.2.1 Tora-Hermeneutik in philosophischem Kontext Zunächst kam vor allem das spanische Judentum im 10. und 11. Jahrhundert – vermittelt durch arabische Texte18 – in Kontakt mit (aristotelischer) Philosophie. Maimonides kann exemplarisch für die frühe Auseinandersetzung zwischen jüdischer Tradition und neuen philosophischen Ansätzen stehen. Ihm liegt daran, die vorauslaufende rabbinische Auslegung nicht grundsätzlich in Abrede zu stellen; vielmehr geht er davon aus, dass diese – wie auch der Text der Bibel – nun neu interpretiert werden müsse, und zwar so, dass eine aristotelisch geprägte Philosophie mit der Schrift in Verbindung gebracht wird. Günter Stemberger spricht von einer „systematische[n] Allegorisierung“ der Tradition bei Maimonides,19 und Leopold Zunz zeigt sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts begeistert von Maimonides’ Interpretation: „Sein Genie ergründet die wahre Natur der Hagada […]“. Nicht mehr der Buchstabe der Tradition sei entscheidend, sondern „ein höherer Geist“, der in den Buchstaben entdeckt werde.20 Wie die 13 ‫( עקרי‬Iqqarim; Glaubensregeln) des Maimonides21 zeigen, hält er an der „Wahrheit“ der Worte der Propheten22 und an der Abgeschlossenheit der Tora23 fest. Gerade diese Überzeugungen nötigten überhaupt erst zur vertieften Auseinandersetzung mit der Schrift: Derjenige – so Maimonides in der Einleitung seines „Führer[s] der Unschlüssigen“ ( ‫– )מורה הנבוכי‬, der „an die Worte der Schrift glaubt“ und gleichzeitig „die wahre Wissenschaft kennt“, gerate in einen Zwiespalt „durch die wörtliche Auffassung der dunklen Worte und der Gleichnisse“ der Schrift. An dieser Stelle wollen Maimonides’ Erläuterungen weiterhelfen.24 Dazu stellt er den „Sinn“ der Worte der Schrift als den eigentlichen „Edelstein“ dem relativ dazu unbedeutenden „Wortlaut“ der Schrift gegenüber.25 Damit zeigt sich bei Maimonides, was ich als grund18

Zu nennen sind hier Alfarabi (ca. 870–950) und Avicenna (980–1037) als Vermittler eines noch neuplatonisch gefärbten Aristotelismus, dann aber vor allem Averroes (1126–1198), der sich um eine Wiedergewinnung des „ganzen“ Aristoteles bemühte und diesen kommentierte (vgl. dazu mit Hinweis auf weitere Literatur KROCHMALNIK: Art. Aristotelismus, 75). 19 STEMBERGER: Art. Schriftauslegung, 450; vgl. auch HESCHEL: Maimonides, 158–160. 20 ZUNZ: Die gottesdienstlichen Vorträge, 413. 21 Niedergeschrieben in der Einleitung zu seinem Kommentar zu mSan 10. 22 Vgl. den sechsten Glaubenssatz; ähnlich auch Satz 7, beide zitiert in Sidur Sefat Emet: 79. 23 Vgl. Satz 9: „Ich bin vollkommen überzeugt, daß diese Lehre [‫ ]תורה‬nicht umgetauscht werden wird und keine andere Lehre kommen wird von dem Schöpfer, gelobt sei sein Name.“ (Sidur Sefat Emet: 79). 24 Vgl. MAIMONIDES: Führer der Unschlüssigen, 12. Vgl. dazu auch WEISS: Mose ben Maimons Leben und Werke, CLV.CLXXVII–CLXXXII [Die Anthropomorphismen und Anthropopathien der H. Schrift].CCLXII–CCLXXIII [Maimunis Lehre von der Prophetie und Offenbarung]. 25 MAIMONIDES: Führer der Unschlüssigen, 13.

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legend für jede meta-skripturale Hermeneutik erachte: Der Text in seiner Materialität und formalen Konkretion verliert an Bedeutung, sobald seine „eigentliche“ Aussage gefunden ist. Gleichzeitg reduziert sich die potentielle Vielfalt der Deutungen einer Schriftstelle auf den einen zu erhebenden Sinn.26 Wie wirkt sich eine solche Hermeneutik in der Derascha aus? Als herausragender Exponent einer philosophischen Predigt im Mittelalter gilt Jakob Anatoli (1194–1256),27 weswegen ich im Folgenden kurz auf die von Marc Saperstein ausgewählte und übersetzte Derascha Anatolis blicke.28 Sie entstammt seinem Sammelwerk ‫( מלמד התלמידי‬Melammed ha-Talmidim; Ansporn der Lernenden), in dem insgesamt 46 Deraschot gesammelt sind,29 und bezieht sich auf den Wochenabschnitt ‫( וארא‬Ex 6,2–9,35). Die Derascha lehnt sich (wie viele Deraschot vor allem zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert) in ihrer Struktur unmittelbar an das aus den homiletischen Midraschim bekannte Aufbauschema an: Nach einer Peticha, die von einem Vers aus den Ketubim (Spr 22,29) zum Toraabschnitt (Ex 6,2) führt,30 folgt ein Hauptteil, der homilieartig dem biblischen Text entlanggeht (nun allerdings nicht der Tora-Parascha, sondern dem durch den Eingangsvers eröffneten Abschnitt aus den Ketubim);31 die Chatima erfolgt in Form einer Schlussbitte.32 Mit der ersten Auslegung des Eröffnungsverses (Spr 22,29) inauguriert Anatoli eine thematische Leitlinie der Predigt: die Frage nach dem Lernen und Lehren.33 Dieses Thema bringt er dann in ein ständiges Gespräch mit den Aussagen des Buches der Sprüche.34 Anatoli versucht nicht, in die Lücken und Leerstellen der Schrift einzudringen, sondern von der ihn interessierenden Fragestellung aus mit unterschiedlichen 26

Vgl. ähnlich auch SEGAL: Midrash and Literature, bes. 58–61. Vgl. BETTAN: Studies in Jewish Preaching, 49–88; DAN: Art. Homiletic Literature, 953f; HOROWITZ: The Jewish Sermon, 16.24f. Vgl. insgesamt auch SAPERSTEIN: „Your Voice […]“, 75– 87 [Sermons as Evidence for the Popularization of Philosophy in Fifteenth-Century Spain]; ESCHELBACHER: Die Predigt im Judentum, 135–137. 28 Vgl. SAPERSTEIN: Jewish Preaching, 111–123 [Derascha: 113–123]; vgl. auch ders.: „Your Voice […]“, 55–74. 29 Vgl. BETTAN: Studies in Jewish Preaching, 51.55. Umstritten und schwer zu bestimmen ist, inwiefern es sich bei seinen Deraschot um literarische Erzeugnisse handelt (so SAPERSTEIN: Jewish Preaching, 111f) oder um ursprünglich mündliche Deraschot, die dann aus der Landessprache ins Hebräische übertragen wurden (so BETTAN: Studies in Jewish Preaching, 57f). 30 Vgl. SAPERSTEIN: Jewish Preaching, 113–116. 31 Vgl. SAPERSTEIN: Jewish Preaching, 116–123; die Derascha lässt sich insgesamt entlang der zitierten Verse aus Spr 23 gliedern: Spr 23,1f (116–118); Spr 23,3 (118–120); Spr 23,4f (120); Spr 23,6f (120f); Spr 23,8f (121f); Spr 23,10f (122f). 32 Vgl. SAPERSTEIN: Jewish Preaching, 123. 33 Saperstein spricht von „education and transmission of culture“ als leitendem Thema der Derascha (SAPERSTEIN: Jewish Preaching, 112). 34 Dazu zieht Anatoli dann auch noch weitere Aussagen aus dem Buch der Sprüche, aber auch aus Hos (6,2f), aus Dtn (32,2), dem Richterbuch (5,4), dem Psalter (68,9f) und rabbinische Auslegungen heran. 27

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Schrifttexten ins Gespräch zu kommen; die Schrift wird zu einem Gesprächspartner auf Augenhöhe. Ähnlich formuliert es Israel Bettan: „It is chiefly through the interpretation of the sacred text […] that Anatoli seeks to communicate his enlightened views of religion.“35 Freilich erscheint die Tora36 für Anatoli dabei als leitender Rahmen, in den hinein sich die philosophischen Aussagen zu fügen haben. So bezieht er sich auf Spr 22,28 („Verrücke nimmer Vorzeit-Grenze [ ‫“]… ;גבול עול‬37) sowie Spr 23,10 und deutet ‫ גבול עול‬als Tora: „Er [Salomo, AD] nannte die Tora eine ‚Vorzeit-Grenze‘, weil sie der grundlegende und ewige Rahmen ist.“38 Die Tora aber lasse sich in ein Schema des Wissens einzeichnen, das über die propädeutischen Disziplinen und die Physik hin zur Metaphysik führe. Die Integration der drei Stufen der Wissenschaft gelingt Anatoli – und dies kann exemplarisch seine philosophische Allegorisierung treffend veranschaulichen – u.a. durch eine Interpretation von Hos 6,3 („Lasst uns darauf achthaben und danach trachten, den HERRN zu erkennen; denn er wird hervorbrechen wie die schöne Morgenröte und wird zu uns kommen wie ein Regen, wie ein Spätregen, der das Land feuchtet“). Das strebende Bemühen („Lasst uns …“) wird mit den propädeutischen Fächern gleichgesetzt, die „Morgenröte“ mit der Physik und der „Regen […], der das Land feuchtet“, mit der Metaphysik.39 Ob damit bei Anatoli tatsächlich die Tora der leitende Rahmen für die philosophische Aussage ist oder nicht doch umgekehrt die philosophische Grundlegung zum Rahmen wird, in den hinein die Aussagen der Tora eingetragen werden, kann freilich gefragt werden. Eine Schriftauslegung, die durch philosophische Allegorisierung über den peschat hinausgeht, bleibt – trotz aller kritischer Anfragen40 – ein häufiges Phänomen in schriftlich überlieferten Deraschot des Mittelalters. Rund 35 BETTAN: Studies in Jewish Preaching, 71. Nicht nur bei Anatoli, sondern allgemein in der jüdischen Predigt des Mittelalters erkennt Israel Bettan einen primär instrumentellen Umgang mit der Schrift. Die Ideen der Prediger speisten sich häufig aus anderen Quellen und hätten durch den Rekurs auf die Schrift „cogency“, „authority“ und „luster“ gewonnen (vgl. 93). „Textual interpretation meant to be only the starting-point of the sermon […]“ (94). 36 Der Begriff „Tora“ ist in Anatolis Derascha nicht eindeutig bestimmt: Einerseits meint „Tora“ das Ganze des Tanach (vgl. SAPERSTEIN: Jewish Preaching, 114.120.122), andererseits differenziert Anatoli innerhalb des Tanach: „It is all the more necessary to be careful with regard to the words of the Prophets and the Writings, and even more so with regard to the Torah.“ (120) Demgegenüber scheint für Anatoli die rabbinische Literatur deutlich nachgeordnet; sie ist Auslegung der Tora und wird jeweils als solche eingeführt: „[…] according to the rabbis […]“ (113); „[…] the rabbis interpreted these verses […]“ (116). 37 BUBER/ROSENZWEIG: Die Schrift, Bd. 4, 253. 38 SAPERSTEIN: Jewish Preaching, 115 [Übersetzung AD]. 39 Vgl. SAPERSTEIN: Jewish Preaching, 119f. 40 Vgl. z.B. die innerjüdischen Auseinandersetzungen über die Bedeutung der Philosophie in Südfrankreich und Aragon zwischen 1303 und 1306 und dazu SAPERSTEIN: Jewish Preaching, 380– 383 (Literatur 380 Anm. 1); vgl. auch SAPERSTEIN: Decoding the Rabbis, 206f; STEMBERGER: Die Schriftauslegung der Rabbinen, 125.

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300 Jahre nach Anatoli zeigt sie sich auch bei dem Renaissance-Prediger Juda Moscato (ca. 1530–159041). In einer seiner Deraschot (Mantua, ca. 1585) beleuchtet auch er die Frage nach dem Verhältnis der Tora zum übrigen, weltlichen Wissen.42 Seine Grundthese lautet – etwas anders als bei Anatoli –, dass nur die Tora, nicht aber die anderen Disziplinen menschlichen Lernens (Propädeutik, Physik, Metaphysik), der vernünftigen Seele des Menschen das bieten könne, was sie brauche.43 Hier verweist Moscato als Beleg u.a. auf Dtn 8,3b – einen Vers, den er allegorisch deutet, indem er das „Brot“ mit der Philosophie gleichsetzt: „[…] der Mensch lebt nicht vom Brot [dem philosophischen Wissen, AD] allein, sondern von allem, was aus dem Mund des HERRN [die Tora, AD] geht“.44 Die gleiche Aussage findet Moscato dann auch in zahlreichen weiteren biblischen Versen und ebenso in zwei haggadischen rabbinischen Texten (RutR 5,4 und bBB 74a.b). Damit stellt sich dann freilich für Moscato die Frage, warum die Rabbinen und die Tora solche einfachen philosophischen Tatsachen in rätselhaften Bildern und der Deutung bedürftigen Wendungen ausdrückten und nicht einfach direkt und explizit formulierten.45 Moscatos Antwort, die die Trennung von Form und Inhalt als Grundlage seiner philosophischen Allegorisierung biblischer und rabbinischer Aussagen deutlich zum Ausdruck bringt, lautet: Die Texte der Tradition wollten zum Nachdenken anregen und gerade so einen wirkungsvollen Eindruck hinterlassen.46 Moscato fährt fort (ich zitiere aus der englischen Übersetzung der Derascha durch Marc Saperstein): „This is why the sages decided to incorporate these precious teachings […] in statements that are obscure in their language, knowing that these teachings would remain in the shadows until the true wisdom of their words was discovered by the wisest luminaries among the people. […] Others, too, who hear these statements explained by those who have uncovered their true meaning, will derive benefit from the joy and pleasure which they feel in finally understanding after having been entangled in the realm of allegory and enigma.“47 Das Zitat unterstreicht, dass auch bei Moscato der eigentliche Inhalt als die „wahre Bedeutung“ der Schrift und der rabbinischen Tradition jenseits der konkreten Form (der „sprachlich dunklen Aussagen“) gesucht wird – ein typisches Kennzeichen philosophischer Allegorisierung und generell meta-skripturaler Hermeneutik.

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Nach BETTAN: Studies in Jewish Preaching, 194f, lebte er zwischen 1500/1510 und 1594. Vgl. SAPERSTEIN: Jewish Preaching, 253–269. 43 Vgl. SAPERSTEIN: Jewish Preaching, 257. 44 SAPERSTEIN: Jewish Preaching, 257. 45 Vgl. SAPERSTEIN: Jewish Preaching, 268. 46 Vgl. SAPERSTEIN: Jewish Preaching, 269. 47 SAPERSTEIN: Jewish Preaching, 269 [Hervorhebungen AD]. 42

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4.2.2 Tora-Hermeneutik in mystischem Kontext Wie die philosophisch-allegorische Auslegung so führt auch die zweite bedeutende und etwa zeitgleich entstandene hermeneutische Linie des jüdischen Mittelalters, die mystisch-esoterische Auslegung,48 vom Text der Schrift ausgehend zu dessen eigentlicher Bedeutung. Genauer gesagt geht mystische Tora-Hermeneutik den Weg durch den Text der Schrift hindurch zu dessen Wahrheit, die in der mystischen Erfahrung gesucht wird. Greifbar wird diese Hermeneutik besonders in der Kabbala, der Hauptströmung jüdischer Mystik des Mittelalters.49 In der Kabbala wird die schriftliche Tora zum Weg, auf dem letztlich die unio mystica erreicht werden soll. Als dieser Weg freilich spielt sie eine herausgehobene Rolle; Kabbala kann – mit Andreas Kilcher – geradezu als „Sprachmystik“50 bezeichnet werden. Aufgrund der Sprache der Schrift sind Erkenntnis und religiöse Erfahrung möglich, die dann aber letztlich in der Unsagbarkeit mystischer Erfahrung jenseits der Sprache liegen. Dem entspricht, dass die eigentliche und wahre Tora im „mystischen Bereich des absoluten Buches“51 hinter der konkreten Materialität der Schrift gesehen und mit Gott selbst identifiziert werden konnte.52 Diese veränderte Sicht der Tora wird etwa an der Deutung sichtbar, die das rabbinische Bild vom schwarzen und weißen Feuer in der Kabbala erfährt. Das Bild wird in jSheq 6,49d (Ende von Halacha 1) auf Simon ben 48 STEMBERGER: Die Schriftauslegung der Rabbinen, 123–130, bezeichnet die philosophische Allegorisierung und die mystische Auslegung als die beiden entscheidenden hermeneutischen Strömungen des Mittelalters. 49 Eine knappe Definition der Kabbala zitiere ich nach KILCHER: Die Sprachtheorie der Kabbala, 16f: „[…] die jüdisch-mystische Tradition, wie sie, nach frühmittelalterlichen Vorläufern in der ‚Merkaba‘-Mystik und in der jüdischen Gnosis, im Hochmittelalter in der Provence und im nordspanischen Kastilien und Katalonien entstand, im Sefer ha-Sohar ihren ersten Höhepunkt hatte, nach der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492 im Italien und im Palästina des 16. Jahrhunderts weiter entwickelt wurde, in der Kabbala Isaak Lurias ihren zweiten Höhepunkt hatte und schließlich fortgelebt hat in den messianischen und zuweilen häretischen Bewegungen um Sabbatai Zwi im 17. und 18. Jahrhundert und in der popularisierten Kabbala des Chassidismus im 19. Jahrhundert.“ Vgl. zur klassischen Kabbala auch MAIER: Die Kabbalah, 44–85, zur Entwicklung mystischen Denkens durch die Jahrhunderte jüdischer Geschichte KAPLAN: Meditation and Kabbalah, und zur homiletischen Bedeutung der Kabbala HOROWITZ: The Jewish Sermon, 14–16.159–170. 50 KILCHER: Die Sprachtheorie der Kabbala, 58; vgl. auch DAN: Midrash and the Dawn of Kabbalah, passim (bes. 127); SCHOLEM: Der Sinn der Tora, 54f. 51 KILCHER: Die Sprachtheorie der Kabbala, 36. 52 Vgl. IDEL: Infinities of Torah, 143f; FISHBANE: The Garments of Torah, 42; vgl. auch STERN: Midrash and Theory, 29f, der als Grundlage kabbalistischer Hermeneutik die „full identification of Torah with God“ (29) erkennt, wogegen die rabbinischen Ausleger Gott und Tora in eine metonyme Relation gebracht hätten. Vgl. weiterhin Sohar 2,60a und Sohar 3,36a, wo die Tora insgesamt als heiliger Gottesname gesehen wird (‫)דאורייתא כלא חד שמא קדישא עלאה איהי‬, und dazu SCHOLEM: Der Sinn der Tora, 55–64.266 Anm. 9; ders.: Offenbarung und Tradition, 106–108.

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Laqisch zurückgeführt; von ihm ist der Satz überliefert: „Die Tora, die der Heilige, gepriesen sei Er, Mose gab, war weißes Feuer eingegraben auf schwarzem Feuer.“ In der Kabbala findet sich die Interpretation, wonach das weiße Feuer für die schriftliche Tora stehe, die erst durch die Kraft des schwarzen Feuers, der mündlichen Tora, sichtbar werde. „Nicht die Schwärze der von der Tinte umrissenen Schrift […], sondern die mystische Weiße der Buchstaben auf dem Pergament der Rolle, auf dem wir überhaupt nichts sehen, ist die eigentliche schriftliche Tora!“53 Durch die empfangene und weitergegebene Tradition (Kabbala; von ‫ קבל‬pi.) und durch die eigene Lektüre der materialiter vorliegenden Tora kann sich der Kabbalist dem Bereich der eigentlichen, jenseitigen Tora und damit Gott selbst annähern – bis hin zur mystischen unio.54 Michael Fishbane schreibt: „[…] the mystics ascend exegetically into God.“55 Dabei wird die Vielfalt der Deutungen der Schrift auf dem Weg hin zu deren eigentlicher Erkenntnis emphatisch unterstrichen.56 Letztlich aber ist nicht das horizontale Nebeneinander der verschiedenen Stimmen, sondern die vertikale Eröffnung der Gottesbeziehung als der „verborgenen, übernatürlichen Wahrheit“ (Fishbane) entscheidend.57 Gershom Scholem schreibt: „Was in der Begegnung des Mystikers mit den heiligen Schriften seiner Tradition erfolgt, ist kurz dies: die Aufschmelzung des heiligen Textes und die Entdeckung neuer Dimensionen an ihm. Mit anderen Worten: der heilige Text verliert seine Gestalt und nimmt unter dem Auge des Mystikers eine neue an.“58 Ziel ist es dabei immer, durch den Text der Tora hindurch zur eigentlichen, hinter dem Text liegenden Tora (zu Gott selbst) zu gelangen. Dies verdeutlicht am besten ein Gleichnis aus dem Sohar, das Gershom Scholem als „locus classicus der Kabbalisten“59 bezeichnet (Sohar 2, 99a.b).60 53 SCHOLEM: Offenbarung und Tradition, 109; vgl. 108f; vgl. auch IDEL: Infinities of Torah, 145; ders.: „Schwarzes Feuer […]“. Vgl. zur Einordnung der mündlichen und der schriftlichen Tora in das System der zehn Sefirot der klassischen Kabbala MAIER: Die Kabbalah, 53 [Skizze].74–79. 54 Vgl. IDEL: Infinities of Torah, 141. Vgl. auch FISDEL: The Practice of Kabbalah, 1, der als Ziele jüdischer Meditation in Aufnahme kabbalistischer Vorstellungen die „direkte Verbindung mit Gott“ („direct connection with God“) und die „Vereinigung mit dem Licht Seiner Gegenwart im Universum“ („unification with the Light of His Presence in the universe“) nennt. 55 FISHBANE: The Book of Zohar, 105. 56 Vgl. SCHOLEM: Der Sinn der Tora, 72–90. 57 Michael Fishbane schreibt im Blick auf den Sohar: „[…] while midrashic exegesis activates the letters and words of Scripture along a horizontal plane, Zoharic exegesis adds a vertical axis – through its belief that the grammar of Scripture conceals traces of hidden, supernal truth.“ (FISHBANE: The Book of Zohar, 106) Vgl. ähnlich auch IDEL: Midrashic versus Other Forms of Jewish Hermeneutics, 49–51. 58 SCHOLEM: Religiöse Autorität und Mystik, 21. 59 SCHOLEM: Der Sinn der Tora, 77 [Hervorhebung im Original]. 60 Vgl. zu dem Gleichnis auch STEMBERGER: Die Schriftauslegung der Rabbinen, 129.

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Die Tora wird mit einer „schöne[n] und wohlgewachsene[n] Geliebte[n]“ verglichen, „die sich in einer verborgenen Kammer in ihrem Palast verbirgt“.61 Die Begegnung mit dieser Geliebten „von Angesicht zu Angesicht“62 ist Wunsch und Ziel des Liebenden. Daher umkreist er den Palast beständig und wartet auf jene Momente, in denen sie „für einen Augenblick ihr Antlitz dem Geliebten“ „enthüllt“, es aber sofort wieder verbirgt.63 Diese Momente sind es, die ihn antreiben, immer wieder den Palast zu umkreisen. In der Fortführung des Gleichnisses ist dann von mehreren Stufen der Enthüllung die Rede: Zunächst redet die Geliebte „hinter dem Vorhang […] Worte, die seinem [des Liebenden, AD] Verständnis entsprechen, bis er ganz langsam näher hinschaut und eindringt, und das wird Derascha genannt. Dann spricht sie mit ihm durch einen dünnen Schleier allegorischer Worte […], und das wird unter Haggada verstanden. Dann erst, wenn er mit ihr vertraut geworden ist, enthüllt sie sich ihm von Angesicht zu Angesicht und spricht mit ihm von allen ihren verborgenen Geheimnissen und allen ihren verborgenen Wegen, die seit den Urtagen in ihrem Herzen sind. Dann wird ein solcher Mensch vollendet genannt, ein ‚Meister‘, das heißt aber ein ‚Vermählter der Tora‘ im genauen Verstand, wie der Meister des Hauses, dem sie alle ihre Geheimnisse enthüllt und nichts von ihm fernhält oder verbirgt. […] Und dann wird ihm erst der wahre Wortsinn der Tora, so wie er dasteht, klar, zu dessen Wortlaut weder ein Buchstabe zuzufügen noch von ihm wegzunehmen ist.“64

Im Weg zunehmender Annäherung an die ferne Geliebte erschließt sich – so das Gleichnis – letztlich der eigentliche Wortsinn der Tora, der mit dem mystischen Sinn identisch ist, der sich also – anders formuliert – auf das Geschehen der Begegnung von Gott und Mensch in der Tora und durch die Tora konzentriert.65 Wie in dem Gleichnis Derascha und Haggada als Stufen auf dem Weg zur Offenbarung des Angesichts erscheinen, so differenziert auch Sohar 3,152a verschiedene Schichten innerhalb der Tora: Über die äußeren Hüllen (etwa die Erzählungen der Tora in ihrem Wortsinn) und den Körper der Tora (ihre Gebote und Vorschriften) sei es möglich, zu deren Seele vorzudringen, die nur der Weise schauen könne.66 Die hermeneutische Stufenfolge konnte in der Entwicklung kabbalistischer Gedanken und wohl beeinflusst durch den christlichen vierfachen Schriftsinn des Mittelalters auf das berühmte Akronym Pardes zusammengefasst werden, dessen Auflösung im Einzelnen auf unterschiedliche Weise geschah, bis sich dann eine Deutung herauskristallisierte, die neben dem einfachen Sinn den allegorischen und deraschischen und schließlich den mystischen kennt:67 61

SCHOLEM: Der Sinn der Tora, 77. SCHOLEM: Der Sinn der Tora, 78. 63 SCHOLEM: Der Sinn der Tora, 78. 64 SCHOLEM: Der Sinn der Tora, 78f [Hervorhebungen im Original]. 65 Vgl. WOLFSON: Beautiful Maiden Without Eyes. 66 Vgl. SCHOLEM: Der Sinn der Tora, 87–89; FISHBANE: The Garments of Torah, 34f. 67 Vgl. zur Entwicklung von Pardes SCHOLEM: Der Sinn der Tora, 52.76–85; STEMBERGER: Die Schriftauslegung der Rabbinen, 128–130; TALMAGE: Apples of God, 319–321. Vgl. dazu unten Kap. 11.2.2, 329f. 62

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[peschat] ‫[ רמז‬remez] e ‫[ דרש‬d rasch] ‫[ סוד‬sod] ‫פשט‬

Im Blick auf die Praxis der Deraschot ist die Kabbala bisher noch kaum untersucht. Dabei handelte es sich sowohl bei der Kabbala als auch bei dem – viele Gedanken der Kabbala aufnehmenden – Chassidismus um ausgesprochene Predigtbewegungen.68

4.2.3 Ethisch-fokussierte Tora-Hermeneutik Neben die Ausprägungen meta-skripturaler Hermeneutik in philosophischer und mystischer Perspektive stelle ich als dritte hermeneutisch bedeutsame Entwicklung eine ethisch orientierte Meta-Skripturalität. Selbstverständlich war jüdische Schriftauslegung immer ethisch ausgerichtet. Die Halacha bestimmte neben der Haggada die rabbinische Hermeneutik. Halacha meint dabei den Versuch, Wege des Lebens in den Texten der Schrift durch ständig fragenden Rekurs auf diese Texte und wechselseitigen Dialog innerhalb der Auslegungsgemeinschaft zu entdecken.69 Im jüdischen Mittelalter ergab sich demgegenüber tendenziell eine Verschiebung hin zu einer ethischen Derascha, die unterschiedliche Aussagen der Schrift zur Begründung moralischer Forderungen und ethischer Handlungsanweisungen gebraucht. Die hermeneutische Akzentverschiebung wird etwa bei dem aschkenasischen Rabbiner Ephraim Luntshitz greifbar, der im Polen des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts lebte.70 Die Aufgabe der Derascha sah er darin, in das geforderte ethische Handeln einzuweisen.71 In dieser Hinsicht interpretiert Luntshitz Ps 62,12: „Eines hat Gott geredet, ein Zweifaches habe ich gehört […]“. In rabbinischem Kontext wurde dieser Vers 68

Vgl. GRIES: Between History and Literature, 117; vgl. zur Bedeutung der Predigt im Chassidismus auch HESCHEL: Die Erde ist des Herrn, 13.36. Teilweise wurden in mittelalterlichen Predigten kabbalistische Gedanken in eine umfassendere Hermeneutik integriert. So stellt Bachja Ben Ascher (Mitte des 13. Jahrhunderts bis ca. 1340; vgl. BETTAN: Studies in Jewish Preaching, 89f) vier Wege der Interpretation der Schrift zusammen: neben der (1) literalen Bedeutung stehen (2) der midraschische (‫)על דר המדרש‬, (3) der philosophische (‫ )על דר השכל‬und (4) der kabbalistische (‫ )על דר הקבלה‬Weg. Allerdings beschränkt er sich in seinen Deraschot fast ausschließlich auf die ersten beiden Wege (vgl. 104f.107). Rabbi Joshua ibn Shueib hingegen nimmt sowohl kabbalistische als auch philosophisch-allegorische Auslegungen in seine Deraschot auf (vgl. HOROWITZ: The Jewish Sermon, 7.28; dies.: An Unpublished Sermon). 69 Vgl. unten Kap. 13.1.1.2. 70 Geboren um 1550, gestorben 1619 (vgl. BETTAN: Studies in Jewish Preaching, 273). 71 Vgl. BETTAN: Studies in Jewish Preaching, 285.

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vor allem als Hinweis auf die Pluralität der Tora-Auslegung gedeutet. Das „Zweifache“ ( ‫י‬‫ )שׁתּ‬stand dann für die vielfältigen Auslegungen des einen Wortes der Tora.72 Luntshitz versteht diesen Vers charakteristisch anders: Nötig sei neben dem einfachen Sinn der Schrift immer noch die konkrete ethische Handlungsanweisung als deren zweiter und gegenwärtig bedeutsamer Sinn.73 Die Derascha wird zum Mittel, um auf der Grundlage des Schriftwortes die ethische Botschaft als neue Auslegung (‫ )דרוש חדוש‬zu transportieren.74 Für den Darschan verwendet Luntshitz das Bild des Schofarhorns: Wie dieses Horn – zum Neujahrsfest und an Jom Kippur geblasen75 – für den Aufruf zur Buße steht, so wird der Prediger zu dem, der beinahe prophetisch76 zur Umkehr ruft.77 Marc Saperstein betont, dass sich durch die Metapher des Schofarhorns zugleich eine Verschiebung des Verständnisses der Rolle des Darschan im ausgehenden Mittelalter ergibt. Mehr und mehr wird er als Instrument des Wortes Gottes gesehen, das durch ihn hindurch in seiner Derascha an die Gemeinde ergehe.78 Auch in dem in Rom im 17. Jahrhundert entstandenen Predigtmanual ‫( אור הדרשני‬Or ha-Darschanim; Licht für die Ausleger) von Ja’akob Zachalon (1630–1693)79 wird eine Akzentuierung der Derascha deutlich, die sich m.E. am ehesten als ethisch-meta-skriptural charakterisieren lässt.80 Leitend in Zachalons Text erscheint mir der Begriff des ‫( חדוש‬Chiddusch; Neuerung; neue Lehre; neue Auslegung)81, der bereits in rabbinischer Zeit 72

Vgl. MACK: Schivim panim, 450f, und oben Kap. 3.2.2.2. Vgl. BETTAN: Studies in Jewish Preaching, 310f, und dazu auch SAPERSTEIN: „Your Voice […]“, 16. 74 Vgl. ELBAUM: Aspects of Hebrew Ethical Literature, 153–155, bes. 153f. 75 Vgl. z.B. ELBOGEN: Der jüdische Gottesdienst, 140f. 76 Vgl. zur Charakterisierung der Predigten von Luntshitz als „prophetisch“ BETTAN: Studies in Jewish Preaching, 286. 77 Vgl. SAPERSTEIN: Jewish Preaching, 403. Ausgangspunkt für die Verwendung des Bildes vom Schofarhorn für den Prediger ist Jes 58,1ab: „wie ein Schofar sollst du deine Stimme erheben“ (vgl. dazu SAPERSTEIN: „Your Voice […]“, 3f; sowie ders.: Jewish Preaching, 387–392, bes. 387– 389). 78 Vgl. SAPERSTEIN: „Your Voice […]“, 8f; ders.: Art. Sermon, 871. 79 Vgl. zur Biographie und zum Hintergrund SOSLAND: A Guide, 5–97. 80 Historisch sieht Reuben Bonfil die Verschiebung von einer primär exegetischen bzw. philosophischen Ausrichtung der Derascha im Hochmittelalter hin zu einer zunehmend ethischen Akzentuierung als eine Folge des Einflusses der Renaissance auf die jüdischen Gemeinden und deren Deraschot. Im Zuge der Rezeption antiker Rhetorik auch in der jüdischen Derascha habe man u.a. auch die Formel Ciceros, der die Redekunst als die „ars bene beateque vivendi“ bezeichnet, aufnehmen und als Aufforderung zu einer deutlicheren ethischen Konzentration verstehen können (vgl. SOSLAND: A Guide, 120f Anm. 45; vgl. zum Einfluss der Renaissance auf das Judentum insgesamt BONFIL: Jewish Life; ROTH: The Jews in the Renaissance; vgl. zur Bedeutung der Rhetorik im Judentum der Renaissance-Zeit ALTMANN: Ars rhetorica). 81 Der Begriff Chiddusch erscheint bereits im ersten Satz des Manuals. „Unerlässlich ist es in dem Derusch, dass ‫[ עני‬Thema, AD] und ‫[ נושא‬Inhalt, AD] schön [‫ ]יפה‬und neu [‫]דבר חדוש‬ sind.“ (SOSLAND: A Guide, 16*, 257f). 73

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begegnet und auch vor Zachalon homiletisch rezipiert wurde.82 In bHag 3a heißt es: „Es ist unmöglich, dass es im Lehrhaus keinen Chiddusch gibt“. Dabei bezieht sich das „Neue“ im Kontext der im Folgenden von mir übersetzten talmudischen Erzählung auf eine haggadische Auslegung von Dtn 31,12: „Es lehrten die Rabbinen: Ein Tatfall [‫]מעשה‬: Es gingen Rabbi Jochanan ben Beroqa und Rabbi Elasar ben Chisma, um Rabbi Jehoschua in Peqiin zu sehen. Dieser sagte zu ihnen: Welchen Chiddusch gab es heute im Lehrhaus? Sie sagten ihm: Wir sind deine Schüler und trinken dein Wasser [d.h.: wir lernen nur von dir, AD]. Er sagte zu ihnen: Dennoch, es ist unmöglich, dass es im Lehrhaus keinen Chiddusch gibt. Wessen Sabbat war es? [Sie antworteten:] Der Sabbat von Rabbi Elasar ben Asarja. [Er fragte:] Und worüber war die heutige Haggada? Sie sagten ihm: Über die Parascha von der Versammlung [Dtn 31]. [Er fragte:] Und was trug er vor? [Sie antworteten:] ‚Versammle das Volk, die Männer, die Frauen und die Kinder‘ [Dtn 31,12]. Wenn die Männer kommen, um zu lernen, und die Frauen kommen, um zu hören, warum kommen die Kinder? Um denen Lohn zu geben, die sie bringen. Er sagte zu ihnen: Eine schöne Perle war in eurer Hand, und ihr wolltet sie vor mir verbergen!“

An diese Erzählung erinnert auch Zachalon83 und betont die Notwendigkeit, nicht einfach beim bekannten peschat der Schrift stehenzubleiben, sondern zu einer neuen Aussage zu gelangen.84 Allerdings bedeutet Chiddusch bei ihm nicht die Entdeckung und Weitergabe einer haggadischen „Perle“, sondern primär die ethisch fokussierte und thematisch spezifische Neuauslegung der überlieferten Texte. So betont er im Rückgriff auf Jes 40,3b und Jes 62,10: „Dies ist es, was unsere Vorgänger uns lehrten [in der Derascha zu tun, AD]: die Steine in der Wüste hinwegzuräumen, um einen Weg zu bereiten für unseren Gott.“85 Daher müsse Derascha in ihre Zeit sprechen, um einen Nutzen (‫ )תועלת‬zu haben, „Früchte zu bringen“ und zu „guten Werken“ zu führen.86 An anderer Stelle heißt es: „Das Ziel dessen, der eine Derascha hält, soll es sein, das Volk […] dem Gottesdienst [‘‫]עבודת ה‬ anzunähern, sie von Übertretung abzubringen und ihnen die Tora Gottes zu lehren […]“87. Entsprechend solle die Derascha entweder mit einem Gebet darum enden, dass der Herr die Hörer dazu führe, die Worte zu Herzen zu nehmen, oder mit einem Aufruf an die Hörer, die Worte des Herrn zu befol82

Vgl. das älteste bisher bekannte Predigtmanual (Moskau Gunzberg 926) und dazu SAPERSTEIN: „Your Voice […]“, 171. Vgl. die folgende Wendung aus dem Manual: ‫שישתדל‬ ‫( הדורש לחדש דבר במדרשו‬frei übersetzt: „damit sich der Ausleger bemühe, eine neue Aussage in seiner Auslegung zu bieten“; zit. bei SAPERSTEIN: „Your Voice […]“, 177). 83 SOSLAND: A Guide, 24*, 380. 84 Vgl. SOSLAND: A Guide, 21*f , 344–348. 85 SOSLAND: A Guide, 6*f, 91–93. 86 SOSLAND: A Guide, 19*, 303f. 87 SOSLAND: A Guide, 39*, 649–652 [Übersetzung AD].

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gen.88 Der Chiddusch der Derascha bewahrheitet sich bei Zachalon also im Chiddusch des Lebens derer, die die Derascha hören. Nur konsequent ist es, dass er daher der Wahrnehmung der Hörer in ihrer Situation bei der Erarbeitung der Derascha große Bedeutung einräumt; es gelte – mit Spr 15,23b – das „Wort zur [rechten] Zeit“ [‫ ]דבר בעתו‬zu finden.89 Im Blick auf das biblische Wort will Zachalon in der Predigtvorbereitung die „Wahrheit“ (‫ )אמת‬als eigentliche, über die einfache Bedeutung (peschat) des biblischen Wortes hinausgehende Aussage dieses Wortes ermitteln, um diese dann in der Derascha an die Hörer weiterzugeben.90 In der Derascha selbst dient das Wort der Tora (neben Worten aus der rabbinischen Literatur) zum Nachweis (‫ )ראיה‬der Aussagen des Darschan.91 Vereinfacht lässt sich sagen, dass der Chiddusch für Zachalon trotz der Bindung an das überlieferte und in seinem peschat letztlich bekannte Wort der Tora in der ethisch orientierten und so potentiell das Leben verändernden Botschaft gefunden werden soll.

4.3 Zusammenfassung: Skripturale und meta-skripturale Hermeneutik Die in diesem Kapitel eingeführte Unterscheidung von skripturaler und metaskripturaler Hermeneutik soll Akzentsetzungen verdeutlichen, keineswegs aber behaupten, dass es in rabbinischer Zeit nur die skripturale und dann im jüdischen Mittelalter nur die meta-skripturale Spielart der Hermeneutik gegeben habe. Ausgehend von den Beobachtungen dieses Kapitels lassen sich aber Verschiebungen deutlich wahrnehmen. Ich benenne vier Aspekte: • Philosophische, mystische und ethisch-orientierte Hermeneutik berühren sich darin, dass die gelungene hermeneutische Operation die Möglichkeit bedeutet, auf den biblischen Text, von dem sie ausging, letztlich zu verzichten. Sie hat ihr Ziel erreicht, wenn sie die philosophische Wahrheit oder die ethische Aussage ermittelt hat bzw. wenn der Ausleger die unio mystica durch den Text hindurch erfährt. Demgegenüber führt die skripturale Hermeneutik in rabbinischer Zeit zu unaufgebbarer Intertextualität: Im Wechselspiel mit dem biblischen Text, im Wahrnehmen von dessen Lücken und Leerstellen oder durch die Verbindung verschiedener Texte der Schrift werden Aussagen entdeckt. 88

Vgl. SOSLAND: A Guide, 42*, 694–696. SOSLAND: A Guide, 18*, 298. 90 Vgl. SOSLAND: A Guide, 39*, 643–646, Zitat: 645. 91 SOSLAND: A Guide, 35*, 576f. 89

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• Diese Aussagen bleiben – in der Haggada rabbinischer skripturaler Hermeneutik – notwendig plural. Apriorische Tora-Erwartung bedeutet, dass der Interpret durch das Lesen der Schrift eine Aussage als Chiddusch entdecken kann. Diese trägt er zur Auslegung des Textes bei, wobei die anderen Ausleger im zeitenübergreifenden Lehrhaus tannaitisch-amoräischer Zeit ihre Auslegungen hinzufügen. Das Gewebe des Textes erweitert sich, ohne dass es zur Fixierung auf die eine Auslegung kommen müsste oder könnte. In meta-skripturaler Hermeneutik hingegen wird der Versuch der Ermittlung der Aussage bzw. Wahrheit des Textes unternommen. • Damit verändert sich im Mittelalter auch die Rolle des Auslegers. Dies wird deutlich daran sichtbar, dass vor allem seit dem Hochmittelalter Gesamtauslegungen einzelner Interpreten erscheinen und die Schriftauslegung nicht mehr als Zusammenstellung der verschiedenartigen Deutungen unterschiedlicher Rabbinen gesammelt wird. Der eine (!) Ausleger wird zum autoritativen Deuter der überlieferten Tradition. • Schließlich gehen die hermeneutischen Veränderungen selbstverständlich auch mit homiletischen Veränderungen einher. In rabbinischer Zeit war die Derascha – wie sich trotz aller Vorsicht im Blick auf die Möglichkeit der Ableitung mündlicher Deraschot aus den schriftlichen Midraschim sagen lässt – Hineinnahme der Hörerinnen und Hörer in die Entdeckungen in der Schrift. Am deutlichsten lässt sich diese hermeneutische Orientierung an der Form der Peticha studieren: Ausgehend von einem biblischen Text führt diese in den Text der Tora. Dagegen wird die Derascha im Mittelalter tendenziell zur rhetorisch reflektierten und auf ein Thema fokussierten Rede auf der Grundlage eines oder mehrerer Texte der Schrift (sowie der rabbinischen Tradition). Blickt man auf die Entwicklung der folgenden Jahrhunderte, so zeigt sich, dass die Linie der mystischen Tora-Hermeneutik über die lurianische Kabbala und den Chassidismus bis in die Gegenwart hinein ihre Fortsetzung findet. Bedeutend für die jüdische Predigt in der Moderne waren dann aber vor allem die philosophische und ethische Meta-Skripturalität. Diese beiden hermeneutischen Wege verbanden sich in der Predigtbewegung des 19. Jahrhunderts und führten zu einer Neugestaltung jüdischer gottesdienstlicher Rede. Darauf gehe ich im nächsten Kapitel näher ein (Kap. 5). Die Kritik an den Entwicklungen der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die in die jüdische „Renaissance“ jener Jahre mündete, führte auch zu einer neuen hermeneutischen Reflexion, die sich als der Versuch lesen lässt, Grundlagen skripturaler Hermeneutik angesichts der Herausforderungen der Moderne neu zur Sprache zu bringen. Die Darstellung dieser Überlegungen und die Frage nach ihrer Bedeutung für die jüdische Predigt sind Gegenstand des übernächsten Kapitels (Kap. 6). 120 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

5. Zwischen Derascha und Predigt. Jüdische Predigt und jüdische Homiletik im 19. Jahrhundert

Die hermeneutischen Entwicklungen des jüdischen Mittelalters, besonders die philosophische und ethische Meta-Skripturalität, setzen sich im 19. Jahrhundert fort. Dennoch aber zeigt sich in diesem Jahrhundert ein Neuansatz jüdischer Hermeneutik und Predigt. Im Kontext von Emanzipation und Akkulturation entsteht die moderne jüdische Predigt, und die Reformbewegung im deutschsprachigen Judentum des frühen 19. Jahrhunderts kann auch als eine Predigtbewegung bezeichnet werden. An ihren Anfang stellt Meir Kayserling in seiner 1870 erschienenen „Bibliothek jüdischer Kanzelredner“ eine Predigt Joseph Wolfs aus dem Jahr 1808. Eine Analyse dieser Predigt und eine Einordnung in die Emanzipations- und Akkulturationsbestrebungen ihrer Zeit bilden daher den Ausgangspunkt der Darstellungen dieses Kapitels (5.1). Im Folgenden versuche ich, die komplexe homiletische Entwicklung im deutschsprachigen Judentum in drei Phasen darzustellen und dabei jeweils hermeneutische Grundlegungen und ihre homiletischen Konsequenzen in den Blick zu nehmen (5.2 bis 5.4). Eine Zusammenfassung verortet jüdische homiletische Hermeneutik des 19. Jahrhunderts zwischen Predigt und Derascha und expliziert dies auf dem Hintergrund der Unterscheidung von skripturaler und meta-skripturaler Hermeneutik (5.5).

5.1 Die „erste jüdische Predigt“ als Auftakt einer Predigtbewegung 5.1.1 Der Weg in die Familie: Joseph Wolfs Predigt in Dessau (1808) Joseph Wolf (1762–1826)1, Lehrer an der jüdischen Franzschule in Dessau, hielt im Oktober 1808 eine Rede zu Ehren der 50-jährigen Regentschaft von Herzog Leopold von Dessau. Meir Kayserling schreibt dazu: „Im October 1808 hielt Wolf die erste deutsche Predigt; es war dies überhaupt die erste, welche in einer Synagoge Deutschlands von dem Verfasser selbst vorgetra-

1

Vgl. zur Biographie KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 6f.

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gen wurde.“2 Kayserling sieht in dieser Predigt den Ausgangspunkt einer Bewegung: „[…] klein und unbedeutend in ihrem Anfange, verbreitete sie [die Institution der Predigt, AD] sich trotz mannigfachem Widerstande innerhalb weniger Decennien über ganz Deutschland und die angrenzenden Länder.“3 Aufgrund der Bedeutung, die Kayserling der Predigt Wolfs beimisst, stelle ich im Folgenden eine kurze semantische Analyse des Textes vor. Joseph Wolfs Dessauer Predigt ehrt den Landesvater an seinem Jubeltag und möchte die Nähe der jüdischen Gemeinde zum regierenden Herzog aufzeigen. Auffallend sind in der Predigt daher diejenigen Signifikanten, die in das semantische Feld der „Familie“ weisen. Die Begriffe „Vater“ und „Kinder“ werden zu Leitworten der Predigt und verbinden sich charakteristisch mit dem Begriff des „Volks“. (1) Vater: Joseph Wolf nennt Gott in seiner Rede „Vater“. Allerdings fügt er dem jeweils noch steigernde Attribute hinzu: So spricht er von ihm als dem „Allvater“4, dem „ewigen Vater“5, dem „Vater der Güte“6. Auch der Herrscher, Fürst Leopold, erscheint als „Vater“ („Landesvater“7, „Vater seines Volkes“8). Beide Väter werden begrifflich also durchaus differenziert, dennoch aber in unmittelbare Nähe gerückt.9 Dies geschieht vor allem im Blick auf die väterlichen Eigenschaften: Gott wird in seiner „Vatergüte“10 und „Vaterhuld“11 gezeichnet, der Herrscher in seiner „Vater-

2 KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 7. Die deutsche Sprache gegenüber dem Jiddischen wird für Kayserling zu einem entscheidenden Grund, die Predigt Wolfs gegenüber dem Vorhergehenden als neu zu bezeichnen (vgl. zur Sprachenfrage im deutschen Judentum des 19. Jahrhunderts auch VOLKOV: Das jüdische Projekt der Moderne, bes. 229 Anm. 64). Gleichzeitig betont Kayserling, dass Wolf seine Rede vorbereitet und selbst gehalten habe. Bereits im 18. Jahrhundert gab es bisweilen synagogale Ansprachen in deutscher Sprache – am berühmtesten wohl die beiden Reden anlässlich der Siege bei den Schlachten von Roßberg und Leuthen und anlässlich der Feier des Hubertusburger Friedens. Beide Reden wurden von Moses Mendelssohn verfasst. Den Vortrag aber überließ er anderen (vgl. KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 3; vgl. auch LINDNER: Patriotismus, 27–36). 3 KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 4; vgl. auch ALTMANN: Zur Frühgeschichte, 5; MEYER: Jüdische Gemeinden im Übergang, 128. Meyers Bemerkung ist allerdings nicht ganz korrekt, wenn er schreibt: „Die ersten regelmäßigen wöchentlichen Predigten auf deutsch hielt[en] ab 1808 der aufgeklärte Erzieher Joseph Wolf in Dessau […]“; Wolf wurde zunächst nur beauftragt, „an den hohen Festtagen und außerordentlichen Sabbathen zu predigen“ (KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 7). 4 KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 9. 5 KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 9. 6 KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 9. 7 KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 9 (bis).11. 8 KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 10. 9 So kann Wolf Gott darum bitten, dass er „Ihm [dem Landesvater, AD] stets Vater“ sein möge (KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 9). 10 KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 8. Vgl. auch die Wendung „Vater der Güte“ (9). 11 KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 9.

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liebe“12, in väterlicher Gnade13, väterlichem Wohltun14, väterlicher „Sorgfalt“15 und Güte16. Als biblische Begründung dieser Nähe dient Wolf Ps 21,7, ein Vers aus einem Königspsalm17: „Du [Gott, AD] setzest ihn [den König, AD] zum ewigen Segen ein […]“.18 Der Landesvater wird bei Wolf zum Agenten der providentia Dei der Welt und dem Volk gegenüber. (2) Kinder: Den Vätern gegenüber stehen die Kinder. Deren gebührende Haltung beschreibt Wolf als von „Liebe und Ehrfurcht“ bestimmt.19 Dazu kommt – und diese Stimmung prägt den Kasus der Ansprache – der Dank gegenüber dem Landesvater und dem Allvater.20 Es verwundert nicht, wenn Wolf im letzten Abschnitt seiner Predigt, in der er auf das jetzt geforderte Handeln der Kinder eingeht, die Bindung an Gott und die Bindung an den Landesvater mehrfach unmittelbar hintereinander erwähnt: „Lasset uns […] als gute Menschen und als gute Unterthanen Gott fürchten, unsern Fürsten lieben und ehren […]“21. (3) Volk: In der Hebräischen Bibel und in den jüdischen Gebetbüchern wird Israel Gottes „auserwähltes Volk“ (‫ סגולה‬%‫)ע‬, „Volk seines Eigentums“ genannt. Aufregend ist es demgegenüber, dass in Wolfs Predigt der Herrscher als „Vater seines Volkes“22 bezeichnet wird. Der Begriff des Volks löst sich von seiner exklusiven Bindung an das Volk der Erwählung, Israel, und wird auch von einem jüdischen Prediger so verwendet, dass er das Landesvolk, Juden und Christen, umfasst. Dabei geht Wolf sprachlich geschickt vor, wie bereits das Eingangsgebet zeigt. In dessen zweitem Abschnitt heißt es: „Von Deiner göttlichen Majestät theilst Du gnadenvoll den Auserwählten Deines Volkes, den Regenten der Erde mit […]“23 – ein ambiguitärer Satz. Der letzte Satzteil konnte sowohl additiv gehört werden (und den Regenten der Erde) als auch explikativ (das heißt den Regenten der Erde). Der weitere Duktus der Rede Wolfs spricht dafür, dass der Verfasser selbst an eine explikative Apposition dachte. Wolfs Taktik24 aber ist interessant: Nicht definitorisch stellt er seinen jüdi12 KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 9.11. Vgl. auch die verbale Umschreibung „uns alle väterlich liebt“ (9). 13 Vgl. KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 9: Wolf spricht vom „gnädigsten Landesvater“. 14 Vgl. KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 11: „ein wohlthuender Landesvater“. 15 KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 11. 16 Vgl. KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 9: der „gute Landesvater“. 17 Vgl. KRAUS: Psalmen, 1. Teilband, 168–173. 18 Zitiert nach KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 11. 19 Vgl. KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 9; vgl. auch die Wendungen: „geliebte[r] Herzog und Fürst“ (9); „den wir Alle wie Kinder ihren Vater lieben und verehren“ (9). 20 Vgl. KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 9. 21 KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 12. Diese Aussage erinnert an Luthers Auslegung zum vierten Gebot im GrKat (vgl. BSLK: 586–605, bes. 596–601). Allerdings unterscheidet Luther dieses vierte Gebot deutlich von den ersten drei Geboten und damit das, was Gott gegenüber gefordert ist, von dem, was „dem Nähisten“ gegenüber geboten ist (586). 22 KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 10. 23 KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 8f. 24 Vgl. zum Begriff der „taktischen Ambiguität“ ENGEMANN: Semiotische Homiletik, 153– 156.212–217; ders.: Wider den redundanten Exzeß, 792.

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schen Zuhörern ein neues Verständnis von „Volk“ vor. Vielmehr nimmt er sprachlich vorsichtig in eine Bewegung mit hinein, die den Begriff des „Volkes“ weitet. An keiner Stelle seiner Rede spricht Wolf explizit von „Israel“ oder vom „Judentum“, nirgendwo verwendet er das Adjektiv „jüdisch“. Im Gegenteil verbinden die beiden Väter das Volk des Landes brüderlich untereinander.25 Worte, die Verbindung und Gemeinschaft ausdrücken, prägen daher die ganze Rede. „[…] jedem seiner Unterthanen, ohne Unterschied des Glaubens und des Standes“, bezeuge der Herrscher seine „Vaterliebe“26, „uns Alle“ verbänden daher die gleichen Gefühle an diesem besonderen Tag.27 Theologisch bezieht sich Wolf konsequent auf die Schöpfungslehre. Die Universalität der Konstitution der Wirklichkeit in Gott28 bildet die Basis einer Verbindung von Christen und Juden als Geschwister unter einem Gott und einem Herrscher, d.h. unter den beiden Vätern.29 An einer einzigen Stelle seiner Ansprache droht das harmonische Bild der einen Familie unter den beiden Vätern Brüche zu erhalten. Dort nämlich, wo Wolf von der „heiligen Religion unserer Väter“30 spricht und damit das Judentum meint. Aber sofort ordnet er dieses Reden wieder ein in die Allgemeinheit seiner schöpfungstheologisch bestimmten universalen Ethik:31 Der Treue zu dieser Religion der Väter entspreche es, zu guten Menschen und guten Untertanen32 zu werden.

25 Im letzten Abschnitt seiner Predigt spricht Wolf die Zuhörer als „meine theuren Mitbrüder“ an und fordert dann ein paar Sätze später: „Lasset uns […] unsere christlichen Mitbrüder wie unsere eigenen Brüder lieben.“ (KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 12) Vgl. ähnlich auch Jacobson zur Eröffnung der Synagoge in Seesen 1810, zitiert bei STERN: Dann bin ich um den Schlaf gebracht, 97f. 26 KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 11 [Hervorhebung AD]. 27 Die Wendung „uns alle“ erscheint dreimal auf einer Druckseite der Predigt, vgl. KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 9. 28 Vgl. zu dieser Beschreibung der „Theologie“ im Unterschied zur „Ökonomie“ als Restitution der Wirklichkeit durch Gott MILDENBERGER: Biblische Dogmatik, Bd. 1, 230–247. 29 Schon im Eingangsgebet spricht Wolf dezidiert schöpfungstheologisch: Der Schöpfer ist angeredet („Allmächtiger, erhabener Schöpfer des Weltalls!“ [KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 8]) und bleibt als „Schöpfer alles Guten“ (9) auch in der Predigt im Blick. Als Teil der creatio continua erscheint dann das Segen vermittelnde Handeln des Herrschers (vgl. 9). Die Allgemeinheit des Blicks auf den Schöpfer lässt Wolf in Folge konsequent von der „Menschheit“ (9) sprechen. Folglich kann es am Ende der Predigt für Wolf nicht darum gehen, die Hörer aufzufordern, zu guten Juden zu werden, sondern als „gute Menschen und gute Unterthanen“ (12) die Allgemeinheit des göttlichen Willens, die sich in „Tugend und Wahrheit“, „Recht und Gerechtigkeit“ erweise, zu tun (12). 30 KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 12 [Hervorhebung AD]. 31 Dieser aufklärerischen universalen Ethik schließt sich Wolf in einer breiten Passage seiner Predigt explizit an: Der entscheidende Segen Gottes bestehe in der „moralischen Glückseligkeit“ (KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 11), die unvergänglich, unzerstörbar und ewig gegenüber allem zeitlichen Wohlergehen sei. 32 Vgl. KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 11. Wolf kann auch die „Gesetze Gottes und des Landes“ unmittelbar nebeneinander stellen (12). Ein (möglicher) Widerspruch kommt nicht in den Blick.

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Joseph Wolfs Kanzelrede versucht, sprachlich die christlich-jüdische Familie unter dem einen „Allvater“ und dem einen Landesvater darzustellen. Entsprechend dieser Intention Wolfs gestaltet sich auch sein Bibelgebrauch. Insgesamt werden sechsmal Verse aus der Bibel als Belegstellen zitiert. Auffällig ist, dass kein einziges der sechs Bibelzitate aus dem Pentateuch stammt; meist handelt es sich um Verse aus dem auch christlich weit rezipierten Psalter33, einmal klingt sogar das Neue Testament34 mit an. Inwiefern, so ließe sich nach dieser kurzen Analyse kritisch fragen, kann diese von Kayserling als Beispiel einer jüdischen Kanzelrede in seine „Bibliothek“ aufgenommene Predigt überhaupt als jüdisch bezeichnet werden? Die Antwort klingt paradox: Gerade das Fehlen des unterscheidend Jüdischen ist typisch für diejenigen Gruppen im Judentum zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die zu den frühen Trägern der Predigtbewegung werden. Shulamit Volkov sieht das Judentum des 19. Jahrhunderts in weiten Teilen als „eine angepaßte Mischung für gesetzestreue Bürger, die gleichzeitig patriotische Deutsche und loyale Juden sein wollten“35; Joseph Wolfs erste Predigt fügt sich präzise in dieses Bild.

5.1.2 Predigtbewegung im Kontext von Emanzipation und Akkulturation Wolfs Dessauer Predigt hat ihren Ort in einem Judentum um die Wende zum 19. Jahrhundert, das sich als Antwort auf die Herausforderungen der Moderne neu definierte, nachdem die traditionelle „Plausibilitätsstruktur“36 jüdischen Lebens, die Einheit eines sich im handelnden Vollzug stabilisierenden „umfassende[n] Kultursystems“, das weithin noch im 18. Jahrhundert existierte,37 nach und nach zerbrochen war.38 Die Rationalität und Universalität der Aufklärung stellte ein Judentum in Frage, das sich in seiner Lebensgestaltung von einer aus Vernunftgründen nicht ableitbaren, parti33

Vgl. Ps 118,21 (KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 10; eher ein Kontextzitat Ps 118,18– 21; vgl. auch Ps 51,14); Ps 31,20 (10; auch dieser Vers klingt nur – zusammen mit 1Sam 2,6 – an); Ps 145,18; 21,7 (11); Ps 85,11–14 (12). 34 Vgl. hier das vom Herausgeber nicht nachgewiesene Zitat: „[…] denn unerforschlich sind die Wege des Herrn; wer kann ihn fragen, warum thust du das?“ Der zweite Teil dieses Zitats entspricht Hiob 9,12b. Der erste Teil ist in dieser Form nur in Röm 11,33 belegt, klingt allerdings in Jes 55,8f an. 35 VOLKOV: Die Erfindung einer Tradition, 132f. Volkov hat allerdings nicht diese Predigt Wolfs vor Augen, sondern wirft insgesamt einen Blick auf liberales und neo-orthodoxes Judentum des 19. Jahrhunderts in Deutschland. 36 MEYER: Jüdische Identität, 45 Anm. 10. 37 VOLKOV: Die Erfindung einer Tradition, 123. Vgl. dazu vor allem die Studie von GOTZMANN: Jüdisches Recht. 38 Vgl. insgesamt BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, 21–42, die die Umbrüche im Kontext der Herausforderung der „Moderne“ reflektiert.

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kular-jüdischen Halacha bestimmen ließ. Eine zunehmende Abwendung von der Halacha vor allem im städtischen Judentum führte zu einem wachsenden Verlust geprägten jüdischen Lebens und jüdischer Sozialisation.39 Gleichzeitig suchten Jüdinnen und Juden nach Wegen der Akkulturation, Wegen hinein in die bürgerliche Gesellschaft.40 In dieser galt das Christentum zwar – zumindest in aufgeklärten Kreisen – nicht mehr unbedingt als allein selig machende Religion, aber doch als allein Achtung gebietende kulturelle Größe und gewann in dieser Hinsicht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Kontext von Romantik, Nationalismus und Idealismus wieder an Bedeutung. Der Schritt, an die Stelle der problematisierten bzw. verlorenen jüdischen eine neue christliche Identität zu setzen und sich taufen zu lassen, lag für viele Jüdinnen und Juden nahe.41 Eine Alternative dazu bestand in der Reformulierung jüdischen Glaubens und in der Neugestaltung jüdischen Lebens. Es ging darum, aus „Jews-byfate“ „Jews-by-faith“ zu machen42 – eine Aufgabe, der sich die jüdische Reform zu Beginn des 19. Jahrhunderts annahm. Dabei spielte der Gottesdienst43 eine herausragende Rolle im Denken und Handeln der Reformer.44 Mit seiner festgelegten Form und seinen als unzeitgemäß empfundenen Sprachen (Hebräisch und Aramäisch) sah man in ihm ein charakteristisches Element mittelalterlicher jüdischer Partikularität. Gleiches galt auch für die Derascha, die im 18. Jahrhundert, wenn überhaupt, auf Jiddisch gehalten wurde und in den Augen der Reformer weit unterhalb der Ästhetik christlicher Predigt lag. Daher suchte man nach einer neuen, formal und inhaltlich veränderten, deutschsprachigen jüdischen Predigt. Leopold Zunz (1794–1886) stufte die Predigten, die er selbst in den Jahren 1820 bis 1822 als Prediger in der Neuen Synagoge zu Berlin hielt,45 in dieser Hinsicht als zukunftsweisend ein. So schrieb der damals erst 2639

Vgl. z.B. Henriette Herz (1764–1847), die in ihren Memoiren beschreibt, wie leer ihr das Judentum bereits während ihrer Kindheit geworden war. Eine religiöse Erziehung habe sie kaum noch genossen (vgl. LANDSBERG: Henriette Herz, 107–109). 40 Mit STERN: Dann bin ich um den Schlaf gebracht, 12–14.75, ziehe ich es vor, anstatt von „Assimilation“ von „Akkulturation“ zu sprechen, da dieser Begriff stärker die Wechselwirkungen zweier Kulturen zur Sprache bringt; vgl. ähnlich BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, 45; WIESE: Wissenschaft des Judentums, 42–49. 41 Vgl. zur „Taufepidemie“ unter den Berliner Jüdinnen und Juden zu Beginn des 19. Jahrhunderts TOURY: Der Eintritt der Juden ins deutsche Bürgertum, 196 Anm. 219. 42 Vgl. SCHORSCH: Emancipation. 43 Die Bezeichnung „Gottesdienst“ kann nicht ungebrochen auf das Judentum übertragen werden. Dort ist „Gottesdienst“ zunächst nichts anderes als das dreimal tägliche Gebet, das am Sabbat und Feiertag innerhalb der gleichbleibenden Struktur charakteristische Veränderungen (Kürzungen und Zusätze) erfährt. 44 Vgl. insgesamt BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, 63–111. 45 Vgl. dazu ALTMANN: Zur Frühgeschichte; BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, 166–177.

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jährige Prediger am 15. Mai 1821 in einem Brief: „Eine Auswahl meiner Predigten werde ich einst herausgeben, daß die Welt sehe, was ich von dem deutschen Gottesdienste verlange.“46 Von den älteren Kollegen in den jüdischen Gemeinden hielt er nicht viel: „Den Breslauer Rabiner hat der Schlag gerührt; der hiesige alte Chasen [Vorsänger, AD] […] ist gestern begraben worden. Nach und nach wird das alte Zeug abgetragen sein und verfallen.“47 Und „[…] den ganzen Rabbinismus zu stürzen“ – das konnte der junge Prediger und Wissenschaftler durchaus als sein Ziel sehen.48 In seinem wissenschaftlichen Hauptwerk, den 1832 erstmals erschienenen „Gottesdienstlichen Vorträge[n] der Juden“, verortete er die neue Predigt in scharfer Abgrenzung gegenüber der unmittelbar vorausgehenden Epoche mittelalterlicher Derascha, gleichzeitig aber in Anknüpfung an eine lange Geschichte landessprachlicher jüdischer Predigt seit dem frühen Judentum. Dies entspricht der generellen Wahrnehmung der Reformer, die sich in scharfer Verurteilung der unmittelbar vorauslaufenden Zeit als eigentliche Fortsetzung und konsequente Weiterentwicklung des Prozesses jüdischer Geschichte sahen, als Wiederbelebung der „ehrwürdige[n] Religion der Väter“49, als die, die einen Weg fortsetzten, der von biblischer Zeit über Maimonides bis hin zu Mendelssohn reichte.50 Aus der Außenperspektive und im Rückblick beurteilt lässt sich von der „Erfindung einer Tradition“ durch die jüdischen Reformer sprechen (Volkov).51 Die deutschsprachige jüdische Predigt gehört hinein in die Reformbewegung mit ihrer Doppelrichtung von Emanzipation als dem Woher und Akkulturation als dem Wohin der Bewegung. In mehrfacher Hinsicht erschien sie in diesem Kontext ideal: Man erkannte in ihr die Möglichkeit der Verbindung deutscher Sprache (als Wohin) mit jüdischem Gehalt auf der Basis von Tora und jüdischer Tradition (als Woher).52 Als Predigt schien sie in der Lage, sich einem gesellschaftlich akzeptierten kulturellen Medium (dem der christlichen Predigt) in einer ästhetisch ansprechenden Form anzuschließen, was den Aspekt des Aufbruchs in die neue Lebenswelt markiert.53 46

Zitiert in GLATZER: Leopold Zunz, 120 [Hervorhebung im Original]. GLATZER: Leopold Zunz, 116. 48 GLATZER: Leopold Zunz, 117. 49 So die Gründungsurkunde des 1817 entstandenen „Neuen Tempelvereins zu Hamburg“, zitiert nach HAMMER-SCHENK: Synagogen in Deutschland, 153f, Zitat: 154. Vgl. zu dieser Weltsicht der Reform auch NEUSNER: When Reform Judaism Was Judaism, 69.76–78. 50 Die Linie dieser Kontinuität führte zu der Aussage: ‫„( ממשה עד משה לא ק כמשה‬von Mose bis Mose [Mendelssohn] stand keiner auf wie Mose [Maimonides]“; vgl. GEIGER: Allgemeine Einleitung, 204). 51 Vgl. VOLKOV: Die Erfindung einer Tradition. 52 Vgl. auch BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, 39. 53 Die gesellschaftliche Bedeutung deutschsprachiger jüdischer Predigt war auch der Hintergrund für die religionspolitische Kontroverse um das preußische Predigtverbot des Jahres 1823; 47

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Gleichzeitig erkannte man in der Predigt die Möglichkeit, die gesuchte Verbindung von Jüdischsein und Deutschsein nicht nur symbolisch zu repräsentieren, sondern zugleich selbst zu schaffen. Die jüdischen Prediger jener Zeit sahen in der Predigt einen wesentlichen Bildungsträger. Und sie entdeckten den homiletischen Beitrag zur Erziehung der zuhörenden Jüdinnen und Juden.54 Es verwundert daher nicht, dass sowohl traditionellals auch reformorientierte Juden deutsche Predigten einführten. Allerdings ging der Anstoß zunächst von den Reformgemeinden aus und musste in traditionellen Kreisen mit Widerständen rechnen. Aus dem Rückblick des Jahres 1870 heißt es in der „Bibliothek jüdischer Kanzelredner“, die Widerstände eher überbetonend: „Die Predigt in der Landessprache fand bei den Juden Deutschland’s im Allgemeinen eine keineswegs günstige Aufnahme: sie wurde als etwas Fremdartiges, Reformatorisches betrachtet und schon deshalb wurde ihr von der Orthodoxie ein heftiger Widerstand entgegengestellt. Die Einführung derselben rief in vielen größeren und kleineren Gemeinden einen mehrjährigen Kampf hervor, und es vergingen Jahrzehnde, bis die deutsche Predigt zu einem integrirenden Elemente des Gottesdienstes erhoben wurde.“55 Ich versuche im Folgenden, die allgemeine Einordnung dieses Abschnitts in einem Gang durch die Entwicklung der Predigtbewegung im 19. Jahrhundert56 zu vertiefen (5.2–5.4) und abschließend in hermeneutischer Perspektive zusammenzufassen (5.5). Dazu gliedere ich die Entwicklung im 19. Jahrhundert in drei Phasen, wobei ich mich an die Darstellungen von Jacob Katz57 und Ismar Elbogen58 anlehne. Beide allerdings sehen im Jahr 1814/15, dem Ende der Befreiungskriege und dem Beginn des Wiener Kongresses, einen Einschnitt, der sich im Blick auf die politische Geschichte des Judentums im 19. Jahrhundert erkennen lässt,59 im Blick auf die homile-

vgl. dazu NOWAK: Judenpolitik in Preussen; GOTZMANN: Jüdisches Recht, 129–133; MEYER: The Religious Reform Controversy, 147. 54 Vgl. hierzu z.B. das Baugesuch, das Dr. Beer an die Stadt Dresden richtete: Die Errichtung eines „gemeinschaftlichen israelitischen Bethauses, worin erbauende Vorträge in deutscher Sprache regelmäßig gehalten werden sollen“, solle die religiös-moralische Gesinnung der Israeliten befördern und damit für die ganze Stadt Dresden von Nutzen sein (zitiert nach HAMMER-SCHENK: Die Architektur der Synagoge, 186). 55 KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 412 [Orthographie sic]. 56 Vgl. zu einer sehr umfassenden Bibliographie jüdischer Predigtsammlungen (vor allem) des 19. Jahrhunderts DAXELMÜLLER: Erzähler auf der Kanzel, 53–66. 57 Vgl. KATZ: The Term „Jewish Emancipation“, 99f. 58 Vgl. ELBOGEN: Ein Jahrhundert. 59 Die romantische Wende nach den Befreiungskriegen und der Weg in die Restauration hatten erhebliche Auswirkungen auf die jüdische Emanzipation. Die teilweise naive Reformeuphorie, verbunden mit großem Fortschrittsoptimismus, bekam erstmals Brüche (vgl. LINDNER: Patriotismus, 108; SCHULZ: Der späte Nationalismus).

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tische Entwicklung, die in den Jahren nach 1814/15 erst in größerem Umfang einsetzt, aber nicht nachvollzogen werden kann:60 • Die Entwicklung bis 1830: Der Aufbruch der Predigtbewegung und die Predigt als Imitation (5.2) • Die Entwicklung zwischen 1830 und 1871: Jüdische Predigt als vielgestaltiges Phänomen und homiletische Differenzierungen (5.3) • Die Entwicklung ab 1871 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts: Der Abschluss der Entwicklung der modernen jüdischen Predigt und die erste jüdische Homiletik (5.4).

5.2 Der Aufbruch der Predigtbewegung und die Predigt als Imitation (1808 bis ca. 1830) Entscheidend für die Entwicklung und Ausbreitung landessprachlicher jüdischer Predigt waren die erste reformjüdische Synagoge, der Jacobsonsche Tempel in Seesen, die Hamburger Tempelgemeinde mit den Predigern Eduard Kley (1789–1867) und Gotthold Salomon (Prediger in Hamburg bis 1857), die ebenfalls von Israel Jacobson (1768–1828) wesentlich beeinflusste und getragene Berliner Reformgemeinde sowie der Filialgottesdienst der Hamburger Gemeinde in der Messestadt Leipzig. Von diesen frühen Zentren ausgehend verbreitete sich die Bewegung – nicht ohne Widerstände – über Deutschland.61 Deutschsprachige jüdische Predigt in ihrer akkulturatorischen und emanzipatorischen Funktion wurde möglich durch die für die jüdische Reform grundlegende Unterscheidung von Form und Inhalt, die bereits als wesentliches Kennzeichen meta-skripturaler Hermeneutik bestimmt wurde. Eine Veränderung der Form erschien möglich, ohne gleichzeitig den Inhalt, das Wesen, die Substanz zu tangieren.62 Das methodische Instrumentarium zur Unterscheidung von Form und Inhalt stellte die historisch-kritisch arbeitende Wissenschaft zur Verfügung, deren Bedeutung etwa von dem – von Leopold Zunz mitbegründeten – „Verein für Cultur und Wissenschaft der Ju-

60 Vgl. hierzu auch ALTMANN: Zur Frühgeschichte, 3–9, der eine erste Phase der Predigtbewegung mit dem Jahr 1808 (Joseph Wolfs Dessauer Predigt) beginnen und im Jahr 1822 (Ende der Predigttätigkeit Zunz’ in Berlin) enden lässt. 61 Vgl. zur Entwicklung deutschsprachiger Predigt KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 1– 5.412–414; DAXELMÜLLER: Erzähler auf der Kanzel, 34–41. Vgl. zur graduellen Überwindung der Widerstände gegenüber der Predigt auch DROBNER: Zur Entwicklung der Mainzer Jüdischen Gemeinde, 136–146, bes. 137; LINDNER: Patriotismus, 139 Anm. 20. 62 Vgl. SIGAL: Das Judentum, 205–207; GEIGER: Allgemeine Einleitung, 3.

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den“ (1819) betont wurde.63 Hält man das Wesen für bestimmt, kann die Form verändert und dem Geschmack angepasst werden. In vieler Hinsicht lässt sich jüdische Reform zu Beginn des 19. Jahrhunderts am ehesten an formalen Veränderungen wahrnehmen;64 manche sprechen insgesamt von einer ästhetischen Reform.65 Der wesentliche Ort dieser Veränderungen ist dabei der Gottesdienst und in ihm – neben der Einführung der Orgel und landessprachlicher, charakteristisch gekürzter Gebete66 – die deutschsprachige Predigt. Letztere wurde auch von traditionellen Kreisen leichter angenommen als viele andere formale Veränderungen;67 allerdings nicht selten als rein „ästhetisches“ Element des Gottesdienstes auch kritisiert. So warf Moses Mendelson-Hamburg den Hamburger Reformkräften vor, die Menschen kämen nur noch in die Synagoge, um eine angenehme Predigt zu hören, nicht mehr aber „um Himmels willen“68. Formal lehnte sich die frühe deutschsprachige jüdische Predigt an das Vorbild christlicher, vor allem protestantischer Kanzelrede an.69 Die protestantische Predigt konnte primär in ihrer Ausprägung in der Homiletik der Aufklärung leicht als Paradigma dienen, da dort klare Regeln für deren formale Disposition entwickelt wurden. Mit einem Wort des Homiletikers Lorenz v. Mosheim musste jede Predigt „schulgerecht“ sein, d.h. formalen Anforderungen genügen, die sich besonders auf den klaren Aufbau und die stringente Entfaltung der Predigtgedanken beziehen.70 Der weitaus größte Teil der jüdischen Predigten der frühen Predigtbewegung, darüber hinaus 63 Vgl. dazu bereits Zunz’ erstes größeres wissenschaftliches Werk „Etwas über die rabbinische Literatur“ (1818), in dem er fordert, auch die jüdische Traditionsliteratur einer historisch-kritischen Untersuchung zu unterwerfen. Vgl. zu den Zielen des Vereins HOFFMANN: History versus Memory, 29–31; WALLACH: The Beginnings of the Science of Judaism; WIESE: Wissenschaft des Judentums, 59. 64 Vgl. GRAUPE: Die Entstehung, 200–225; IDELSOHN: Jewish Liturgy, 268–300. Vgl. zu einer Bibliographie der umfangreichen Literatur DEXINGER: Art. Judentum; MEYER: Antwort auf die Moderne. 65 Vgl. REIF: Judaism and Hebrew Prayer, 270f, und dazu auch ELBOGEN: Ein Jahrhundert, 27.115; KOZIŃSKA-WITT: Die Krakauer Jüdische Reformgemeinde, 36–40; SCHOEPS: Deutschjüdische Symbiose, 53. 66 Vgl. insgesamt ELBOGEN: Der jüdische Gottesdienst, 395f; ders.: Ein Jahrhundert, 28. Als der erste Versuch eines neuen Gebetbuches kann der Siddur des Hamburger Tempelvereins aus dem Jahr 1819 gelten (vgl. FRÄNKL: Ordnung der öffentlichen Andacht). 67 So war Isaac Bernays (1792–1849) als eher konservativer Rabbiner in Hamburg durchaus bereit, deutschsprachige gottesdienstliche Vorträge zu halten (vgl. LORENZ: Zehn Jahre Kampf, 44). Vgl. auch MEYER: Religious Reform Controversy, 153f. 68 Zitiert bei SHOHAM: Altona, 39. 69 Vgl. BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, 77; WOHLGEMUTH: Beiträge zu einer jüdischen Homiletik, 4; Chaim Shoham verwendet den Begriff der „Imitation“ für das Handeln der frühen Reform (vgl. SHOHAM: Altona, 23). 70 Vgl. ALTMANN: The New Style, 65–68. Vgl. ausführlicher zu Mosheims Homiletik DREESMAN: Erbauliche Aufklärung.

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aber generell des 19. Jahrhunderts, folgte dementsprechend dem formalen Typ der Drei-Punkte-Predigt mit einer ein Thema entwickelnden und motivierenden Einleitung und einem erbaulichen Abschluss. Die homiletischen Veränderungen spiegeln sich auch im Synagogenbau, wo sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenfalls eine wesentliche Formveränderung in imitierender Übernahme des christlichen Paradigmas beobachten lässt.71 Am deutlichsten treten imitierende Angleichungen in der Gestaltung des synagogalen Innenraums an den Tag: Die in mittelalterlichen aschkenasischen Synagogen übliche Bipolarität von Aron ha-qodesch und Bima, vom Ort der Aufbewahrung der Tora an der östlichen Stirnseite und dem Ort der Lesung der Tora in der Mitte des synagogalen Raumes,72 löst sich mehr und mehr auf. Die Bima rückt in Richtung der Ostwand bzw. verschmilzt sogar mit dem Aron ha-qodesch.73 Das entstehende Ensemble erinnert an einen protestantischen Kanzelaltar.74 Gleichzeitig verändert man die Sitzordnung: Nicht mehr um die Bima herum, sondern nach vorne sind die Bänke ausgerichtet.75 An der Ostwand erlangte das Pult des Vorbeters neue Bedeutung: Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurde dieses bei zunehmender Bedeutung jüdischer Predigt mehr und mehr als Kanzel ausgestaltet.76 Mit dem Ende der Bipolarität klassischer Synagogenarchitektur wird symbolisch auch eine neue Tora-Hermeneutik sichtbar. Die Tora ist nicht mehr das, was in der Mitte der Gemeinde gelesen, „deraschisch“ befragt und diskutiert wird. Vielmehr ist sie der ferne Text, der durch den sie interpretierenden Rabbiner/Prediger der Gemeinde nahegebracht werden muss.

Inhaltlich transportierten die frühen landessprachlichen jüdischen Predigten im Kern ein aufklärerisches Programm, das mit einigen romantischen Formulierungen durchsetzt war.77 Aufklärerischer Rationalismus und romanti71

Vgl. GROTTE: Rez. zu: Körner, 313, der diesen Trend deutlich in den Blick nimmt: „Sie [die neuen Synagogen des 19. Jahrhunderts, AD] sind mehr eine dem jüdischen Kult angepaßte Form der protestantischen Predigtkirche als eine selbständige Schöpfung des jüdischen Sakralbaugedankens.“ [Hervorhebung im Original] Vgl. auch GRAUPE: Die Entstehung, 236; LEVINE: Art. Synagoge, 508. 72 KÜNZL: Der Synagogenbau in der Antike, 54, zeigt, dass die beiden Einrichtungselemente bereits in der Antike zentral waren. Vgl. zur Bipolarität in mittelalterlichen Synagogen KÜNZL: Der Synagogenbau im Mittelalter, 62; dies.: Europäischer Synagogenbau, 90; MÜHLINGHAUS: Der Synagogenbau, 121, und ähnlich KORN: Synagoge ´88, 344f. 73 Bereits in der frühesten Reformsynagoge, im „Tempel“ Jacobsons in Seesen, kommt es zu einer solchen Verschmelzung der beiden Elemente, vgl. HAMMER-SCHENK: Synagogen in Deutschland, 151. Vgl. als spätere Neubauten etwa den Hamburger Tempel und dazu BRÄMER: Judentum und religiöse Reform, 40–44. 74 Vgl. KORN: Synagogenarchitektur in Deutschland nach 1945, 291; HAMMER-SCHENK: Synagogen in Deutschland, 148. 75 Die Synagoge wurde so vom Versammlungsraum mehr und mehr zum Sakralraum; vgl. MEYER: „How awesome […]“; LINDNER: Patriotismus, 139. 76 Vgl. z.B. die Frankfurter Reformsynagoge 1855/1860 und dazu HEUBERGER: Frankfurt, 400. 77 Vgl. exemplarisch die Predigten, die Zunz von 1820 bis 1822 in Berlin hielt. Thematisch orientiert (vgl. GLATZER: Leopold Zunz, 110f.113f.116) verbinden sie das „Erbe der Aufklärung“ (ALTMANN: Zur Frühgeschichte, 21–27, Zitat: 21) mit Spuren der Lehre Kants (27–35) und „romantische[n] Züge[n]“ (35–42, Zitat: 35).

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sches Gefühl verbinden sich in dem Begriff der „Erbauung“.78 Predigt müsse der „Erbauung“ dienen: Inhaltlich gelinge ihr das am ehesten dann – so die Meinung früher Reformer –, wenn sie Bildung und Moral transportiere.79 Formal korreliert der Begriff der „Erbauung“ mit dem Leitwort der „Andacht“: Predigt findet ihren Ort in einem ansprechend gestalteten und daher andächtig erlebten Gottesdienst. Dieses Ineinander wird etwa in dem gedruckten Sendschreiben der Tempeldirektion der Hamburger Tempelgemeinde an die „geehrten Mitglieder des neuen Tempel-Vereins“ deutlich.80 Dort wird als Ziel des Tempels genannt, man wolle den „wahre[n] Gottesdienst unter Israeliten […] wecken und […] erhalten“. Entscheidend dafür seien der Religionsunterricht, die Übertragung der Gebete in die Muttersprache sowie „erbauliche Vorträge über unsere heiligen Urkunden“.81 Die Texte der eigenen religiösen Tradition erscheinen hier als das urkundlich überlieferte Alte, die Predigt als Vortrag soll erbaulich sein und über diese Texte sprechen. Exemplarisch für frühes landessprachliches Predigen stelle ich kurz eine Predigt des Hamburger Tempelpredigers Eduard Kley vor: Die Predigt trägt den Titel „Der Auszug aus Mizrajim, auch für das Alltagsleben“ und wurde am letzten Tag des Passafestes 5586 (=1826) gehalten.82 Schon der Titel zeigt die grundlegende Hermeneutik der Predigt: Sie möchte applicatio sein und aufweisen, wie die „alte“ Geschichte vom Auszug aus Ägypten für das Alltagsleben (noch) bedeutsam sein kann. Diese Ausgangsfrage wird in der Einleitung entfaltet. Bezugstext ist dabei Dtn 16,3, wo es u.a. heißt: „Sieben Tage sollst du Ungesäuertes essen, Brot des Elends – denn in Hast bist du aus Ägyptenland geflohen –, auf dass du des 78 Vgl. dazu ALTMANN: The New Style, 87–97. Das semantische Spektrum des Begriffs der „Erbauung“ verschob sich in seinem christlichen Gebrauch spätestens im 18. Jahrhundert deutlich. Bezog er sich vorher primär auf die Auferbauung der Gemeinde (im Sinne des neutestamentlichen oivkodome,w), so wurde er mehr und mehr auf die individuelle Erbauung bezogen (vgl. BEUTEL: Art. Erbauung, 1385; HAIZMANN: Erbaulichkeit; KRAUSE: Art. Erbauung II; vgl. zur Bedeutung im 19. Jahrhundert auch WINTZER: Die Homiletik seit Schleiermacher, 47–51). Damit konnte er sich auch aus dem christlichen Kontext herausbewegen und vom Judentum rezipiert werden (vgl. z.B. EISEN: Secularization, 296; GRAUPE: Die Entstehung, 204). Im 19. Jahrhundert prägte der Begriff sowohl jüdische als auch christliche Homiletiken. Im jüdischen Kontext wurde „Erbauung“ nacheinander primär im Sinne moralischer Belehrung, romantischen Gefühls und idealistischer Geistigkeit gefüllt (vgl. ALTMANN: The New Style of Preaching; ders.: Zur Frühgeschichte; BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, 52.144–147). 79 So sieht sich der Hamburger Tempelverein in seinem Programm als „Pflanzschule für wahre Frömmigkeit, Sittlichkeit und Bürgertugend“ (zitiert nach BRÄMER: Judentum und religiöse Reform, 130; aus einem Sendschreiben an die Mitglieder des Tempelvereins aus dem Jahr 1819). Dieses Programm grenzen die Reformer von der vermeintlichen Weltabgewandtheit der Altgläubigen ab (vgl. auch LINDNER: Patriotismus, 139; DROBNER: Zur Entwicklung der Mainzer Jüdischen Gemeinde, 122). 80 Zitiert bei BRÄMER: Judentum und religiöse Reform, 129–132. 81 BRÄMER: Judentum und religiöse Reform, 129. 82 Vgl. KLEY: Predigten, 65–76.

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Tages deines Auszugs aus Ägyptenland gedenkest dein Leben lang.“ In drei Punkten, die allesamt appellativen Charakter haben, entfaltet Kley die Botschaft des Exodus in ihrer Bedeutung für den Alltag. Zunächst müsse so gearbeitet werden, dass dabei nicht das „Leben“ und der „Feiertag“ aus dem Blick geraten.83 Dann gelte es, den Feiertag nicht durch Zerstreuung zu zerstören, sondern durch „Enthaltsamkeit und Entbehrung“ im Alltag Wege wahren Festgenusses zu entdecken.84 Schließlich sei es nötig, nicht zu einem Alltagsmenschen zu werden, der nur an sich selbst denkt, sondern den Blick auf den Nächsten zu richten.85 Wo das geschehe – und damit kommt Kley zum Schluss seiner Predigt –, könne die Erde zum Himmel werden, könne der Alltag ein „Vorgeschmack der Seligkeit“ sein.86 Der Ausgangstext selbst spielt bei den rhetorisch ansprechend gestalteten thematischen Einlassungen Kleys zur Frage nach dem Exodus im Alltag keinerlei tragende Rolle mehr.

Auf zwei in der frühen jüdischen Predigtbewegung begegnende, damals aber freilich nicht gesehene Probleme mache ich aufmerksam: Zum einen zeigen die Predigten dieser Phase, dass sich die grundlegende Maxime der jüdischen Reform, nach der Form und Inhalt separat bestimmbar und unabhängig voneinander seien, nicht halten lässt. Die Formübernahme zieht eine inhaltliche Anlehnung an das Konzept einer dominant aufklärerischen Predigt mit romantischen Spuren nach sich, das – und dies markiert das zweite Problem – in der christlichen Predigt, an die man sich anlehnen wollte, vor allem im Blick auf die aufklärerische Komponente, bereits wieder überwunden war.87 Von Anfang an steht das Projekt deutschsprachiger jüdischer Predigt damit unter dem Stern „einer fundamentalen Ungleichzeitigkeit“, die Volkov als Kennzeichen der jüdischen Moderne insgesamt beschreibt.88 Im Bild gesprochen: Schon längst waren am Himmel der geistesgeschichtlichen Entwicklung romantische und idealistische Wolken aufgezogen, als man meinte, mit der jüdischen Predigt noch in der strahlenden Sonne der Aufklärung zu stehen.89

83

Vgl. KLEY: Predigten, 67–71. Vgl. KLEY: Predigten, 71–73, Zitat: 73 [Hervorhebungen im Original]. 85 Vgl. KLEY: Predigten, 73–76. 86 KLEY: Predigten, 76 [Hervorhebung im Original]. 87 Schleiermacher etwa verband die beiden Erbauungskonzepte des Pietismus und der Aufklärung zu einem neu auf das religiöse Selbstbewusstsein bezogenen Konzept von Erbauung; vgl. dazu ALBRECHT: Schleiermachers Predigtlehre, bes. 109.115; BEUTEL: Art. Erbauung, 1386. 88 VOLKOV: Das jüdische Projekt der Moderne, 133. 89 Vgl. auch BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, 156; BAECK: Predigt und Wahrheit, 315 – im kritischen Rückblick auf einige der Versuche des Reformjudentums, „zeitgemäß“ zu sein, bemerkt Baeck: „Unterdrückte von vorgestern, die emanzipiert wurden, bekleiden sich gern mit der neuesten Tracht, der des Gewandes wie der des Gedankens. Und die Komödie ist dann oft, daß diese letzte Mode, während sie von ihnen angenommen wird, inzwischen von anderen abgelegt wurde, zur Mode von vorgestern geworden ist.“ 84

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Auf dem Höhepunkt einer ersten Phase der Entwicklung jüdischer Predigt erscheint Leopold Zunz’ (1794–1886) opus magnum „Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden“ (1832).90 Zunz versucht darin, mit Mitteln der historischen Kritik eine Entwicklung landessprachlicher jüdischer Predigt zu beschreiben, die die Kontinuität der neuen jüdischen Predigt mit der Geschichte aufweist.91 Die Neuheit des Phänomens jüdischer Predigt des 19. Jahrhunderts gerät dabei verständlicherweise kaum in den Blick; vielmehr wird sie nur im Gegenüber zum „Verfall“ der unmittelbar vorauslaufenden so genannten „zweiten rabbinischen Zeit“ als Erneuerung bzw. Wiederherstellung des Eigentlichen gesehen.92 Für seine Geschichtsdarstellung greift Zunz vor allem auf die Midraschim zurück. Er fragt dabei kaum nach dem Verhältnis der in den Midraschim schriftlich überlieferten Texte zu den mündlichen gottesdienstlichen Vorträgen, weswegen sein Buch über weite Strecken zu einer Literaturgeschichte der Midraschim gerät, für die er in vielen Fällen Pionierarbeit leistet. Hermann Cohen bemerkte zu Zunz, er könne eher als Antiquar denn als Philosoph gesehen werden; der Katalog, nicht etwa die philosophisch-ideengeschichtliche Darstellung sei sein Ideal.93 Fritz Bamberger dagegen betont, Zunz’ Ziel sei es gewesen, jüdische Geschichte und jüdische Literatur als Teil des „Weltgeist[es]“ im Kontext eines spezifisch jüdischen „Volksgeist[es]“ darzustellen.94 In der Tat gehen Zunz’ Beobachtungen über ein rein antiquarisches Interesse deutlich hinaus. Zunz möchte anhand der Darstellung der Entwicklung jüdischer Predigt aufweisen, dass der lebendige „Organismus“ des Judentums95 auf den Wandel angewiesen sei, ohne dadurch seine Identität und Kontinuität zu verlieren.96 Mit den Begriffen Prophetie und Haggada lässt sich beschreiben, wie Zunz diese Kontinuität der Kanzelrede durch die Jahrhunderte fassen will. Nach dem Ende des nationalen Judentums sei der einzelne Jude, seien dann auch alle Menschen und Nationen zum Träger prophetischen Geistes geworden. Dieser Geist lasse sich besonders in der sich entwickelnden und

90

Vgl. zur Bedeutung des Werkes etwa SIGAL: Das Judentum, 207f. Noch Ismar Elbogen übernimmt diese Einschätzung der jüdischen Predigt durch Zunz, indem er schreibt: Durch Zunz sei der jüdischen Predigt „wieder ihre alte Stellung im Gottesdienst eingeräumt worden.“ (ELBOGEN: Der jüdische Gottesdienst, 196f). 92 Vgl. oben Kap. 2.1, 50. 1844 spricht Zunz in einem Brief davon, dass er in seinem Buch des Jahres 1832 „die Deraschah“ verfochten habe (zitiert nach GLATZER: Leopold Zunz, 228). 93 Zitiert bei BAMBERGER: Zunz’s Conception of History, 1f. 94 BAMBERGER: Zunz’s Conception of History, Zitate: 12.17. 95 Vgl. zu dem romantischen Begriff des „Organismus“ auch NIEHOFF: Zunz’s Concept of Haggadah, 24. 96 Vgl. BAMBERGER: Continuity, 20. 91

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verändernden Haggada wahrnehmen97 und setze sich auch in jenen Predigten der Gegenwart, die auf „Erbauung und Belehrung“98 ausgerichtet sind, fort.99 Zunz grenzt sich mit dem Bezug auf die Haggada von dem vorauslaufenden, halachisch dominierten Mittelalter ab.100 Gleichzeitig verbindet er Haggada und Prophetie in dreifacher Hinsicht.101 (1) Zunächst sei die Haggada, wie auch die enthusiastischen Reden der Propheten, als freier, mündlicher Diskurs zu sehen.102 Ihre Mündlichkeit garantiere Lebendigkeit und Beweglichkeit; die Erstarrung drohe mit der schriftlichen Fixierung der mündlichen Lehre. Zunz sieht in dem Übergang von mündlicher Lebendigkeit hin zur schriftlichen Aufzeichnung den Weg zum „ersten rabbinischen Zeitalter“ (ca. 970–1492).103 Hier sei es ansatzweise, vollends dann aber im sich anschließenden „zweiten rabbinischen Zeitalter“ zu Erstarrungen gekommen. (2) Weiterhin teile die Haggada ihre ethischen Prinzipien mit den Propheten,104 (3) und schließlich sei sie organisch, d.h. drücke – wie die Propheten einst – den „Volksgeist“ aus.105 Die Haggada – und dies sieht Zunz als eine ihrer wesentlichen Aufgaben – schaffe es daher, Neues aus dem Alten (d.h. der Schrift) zu machen und so aktuelles Wort im Kontext der Überlieferung zu sein.106 Hier kann Zunz das im Mittelalter in kabbalistischen Kreisen entstandene jüdische System vierfachen Schriftsinns charakteristisch verändert rezipieren. Er kürzt es um den Aspekt des remez und folgert:107 Haggada bestehe aus der Betrachtung des peschat, des einfachen Wortsinnes, aus dem derusch (also der Aktivität des Midrasch) als aktuelle „Auslegung, Unterordnung, Amplification“ und schließlich aus dem sod (Geheimnis) als der metaphysischen Betrachtung. In seine wissenschaftliche Darstellung mit ihren vielen literarhistorischen Details trägt Zunz so seine Homiletik ein. Predigt als aktuelles, haggadi97 Vgl. NIEHOFF: Die Wiederentdeckung der Haggada, bes. 76; dies.: Zunz’s Concept of Haggadah, 17–24. Niehoff sieht die „Gottesdienstlichen Vorträge“ als den Versuch von Zunz, das von ihm zwischenzeitlich sehr universal konzipierte Prophetische an das Judentum zurückzubinden; dazu diene ihm die Verbindung von Prophetie und Haggada. 98 ZUNZ: Die gottesdienstlichen Vorträge, 473. 99 Vgl. NIEHOFF: Zunz’s Concept of Haggadah, 6–16. 100 Eine gewisse Paradoxie ergibt sich dadurch, dass der Rückbezug auf die Haggada einhergeht mit einer neuerlichen moralischen Zielrichtung der Predigt, die sich nun – wie bereits tendenziell in der ethischen Meta-Skripturalität des Mittelalters – allerdings von ihrer Begründung im Tanach und von der Begrenzung der Halacha auf das Judentum emanzipiert (vgl. auch unten Kap. 13.1.2.3, 405f). 101 Vgl. NIEHOFF: Zunz’s Concept of Haggadah, 18. 102 Vgl. ZUNZ: Die gottesdienstlichen Vorträge, 334f. 103 Vgl. ZUNZ: Die gottesdienstlichen Vorträge, 379.424–441. 104 Vgl. ZUNZ: Die gottesdienstlichen Vorträge, 473. 105 Vgl. ZUNZ: Die gottesdienstlichen Vorträge, 323f. 106 Vgl. ZUNZ: Die gottesdienstlichen Vorträge, 61–65.338 u.ö. 107 Vgl. zum Folgenden ZUNZ: Die gottesdienstlichen Vorträge, 62.

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sches und daher anti-halachisches, dennoch aber moralisch orientiertes Wort im Kontext eines sich verändernden jüdischen Organismus – auf diese Formel lässt sich das Predigtverständnis zusammenfassen, das nicht nur für Zunz, sondern auch für weite Teile der frühen Predigtbewegung charakteristisch ist.

5.3 Jüdische Predigt als vielgestaltiges Phänomen und homiletische Differenzierungen (ca. 1830 bis 1871) In seinem 1945 erschienenen Aufsatz mit dem Titel „Jewish Preachers and Preaching“ führt Adolf Kober keine homiletischen Epochen oder Entwicklungslinien vor Augen, sondern geht einzelnen Predigerpersönlichkeiten nach.108 Damit wird er der Binnendifferenzierung jüdischer Predigt, wie sie sich für die Mitte des 19. Jahrhunderts feststellen lässt, gerecht. Im Folgenden unternehme auch ich nicht den Versuch, die Entwicklung jener Jahrzehnte zusammenfassend zu beschreiben. Die Geschichte jüdischer Predigt im 19. Jahrhundert ist verwoben in die äußerst komplexe Geschichte des sich emanzipierenden und differenzierenden Judentums dieser Zeit. Ich wende mich stattdessen zunächst einem Prediger und homiletischen Theoretiker zu, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts prägend war: Ludwig Philippson (5.3.1). Mit ihm ist es möglich, der entscheidenden homiletischen Fragen gewahr zu werden, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts gestellt wurden. In Folge weite ich den Blick und stelle die drei sich entwickelnden Strömungen im Judentum des 19. Jahrhunderts, das liberale, das historischpositive und das neo-orthodoxe Judentum, in homiletischer und hermeneutischer Perspektive kurz dar (5.3.2). Die Frage nach der Bedeutung des Midrasch für die Predigt führt abschließend zu einer Betrachtung des Wiener Predigers Adolf Jellinek, der als einer der bedeutendsten jüdischen Kanzelredner des 19. Jahrhunderts gelten kann (5.3.3).

5.3.1 Ludwig Philippson: „Vermittelung des Alten und Neuen“ Eines der wichtigsten Ziele des Publizisten, Rabbiners, Predigers und Schriftstellers Ludwig Philippson (1811–1889) war die Einheit des Judentums als selbstbewusste Gemeinschaft im Kontext der Gesellschaft.109 We108

Vgl. KOBER: Jewish Preaching and Preachers. Vgl. zu Person und Wirken Philippsons DODE/HERZIG: Art. Philippson; GRAB: Der deutsche Weg, 108–133; ROTH: Art. Ludwig Philippson. Sein Streben nach jüdischer Einheit motivierte ihn u.a. auch dazu, die drei letztlich gescheiterten deutschen Rabbinerkonferenzen zu organisieren 109

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sentliche Bedeutung zur Erreichung dieses Zieles maß Philippson der deutschsprachigen jüdischen Predigt bei. Das erklärt sein umfangreiches Wirken als Prediger110 und seine zahlreichen homiletischen Reflexionen, die u.a. im „Literarischen und Homiletischen Beiblatt“ erschienen, das Philippson der von ihm herausgegebenen „Allgemeinen Zeitung des Judenthums. Ein unparteiisches Organ für alles jüdische Interesse“ (AZJ) beifügte.111 (1) Die Bedeutung der deutschsprachigen jüdischen Predigt: In einem seiner homiletischen Beiträge in der AZJ spricht Ludwig Philippson 1838 kritisch vom „Schwalle der überströmenden Mittelmäßigkeit“112, die er in der gegenwärtigen jüdischen Kanzelrede wahrnehme.113 Dagegen verweist er auf die Bedeutung und Notwendigkeit der deutschsprachigen jüdischen Predigt gegenüber dem bloß Rituellen des Gottesdienstes: „Es ist mit Bestimmtheit zu sagen, daß die Predigt das eigentliche Vehikel alles Gottesdienstes in neuerer Zeit ist – da dem neuern Menschen alles Wiederkehrende und Gleichförmige trotz aller Anstrengung dagegen bloße Form ist, er dagegen überall etwas zu denken verlangt.“114 Gleichzeitig verortet Philippson die jüdische Predigt von Anfang an in einem apologetischen Kontext: Zu Beginn der Predigtbewegung sei es darum gegangen, zu zeigen, „dass die Juden sehr wohl geeignet wären, eine gebildetere, regelmäßigere und wissenschaftlichere Form zu concipiren“115. Damit ging dann eine

(zuerst 1844 in Braunschweig, dann 1845 in Frankfurt, schließlich 1846 in Breslau; vgl. ELBOGEN: Der jüdische Gottesdienst, 416–421; SIGAL: Das Judentum, 212–214). 110 Vgl. KAYSERLING: Bibliothek, 2. Jahrgang, 40–84. 111 Die AZJ ging 1837 aus dem von Philippson 1834 begründeten „Israelitischen Predigt- und Schulmagazin“ hervor. Von 1837 bis 1839 erschien des „Literarische und Homiletische Beiblatt“. Eine wesentliche Motivation für die Herausgabe des Beiblatts war es, die Flut von Predigtliteratur vorstellen und rezensieren zu können (vgl. PHILIPPSON: Neueste homiletische Schriften, 26). 1890 gab Meir Kayserling zahlreiche verstreut erschienene homiletische Beiträge Philippsons unter dem Titel „Die Rhetorik und die jüdische Homiletik“ heraus. 112 PHILIPPSON: Rez. zu: Holdheim, 78. 113 Generell lassen sich in der Zeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts auch in reformorientierten Kreisen zahlreiche kritische Töne gegenüber der modernen jüdischen Predigt vernehmen. Vorgeworfen wurde ihr mangelndes jüdisches Profil und ihre zu weitgehende Anlehnung an die christliche Kanzelrede (vgl. SCHOEPS: Deutsch-jüdische Symbiose, 68) sowie ihre formale und inhaltliche Gleichförmigkeit. So heißt es in einem 1849 anonym erschienenen Leserbrief in der AZJ, die Predigten im Reformgottesdienst seien „in ihrer Form und ihrem Inhalt nach in beklagenswerter Weise vorhersehbar“ (zitiert nach MEYER: Antwort auf die Moderne, 268). Vgl. auch die Klagen über die geringen Besucherzahlen im Reformgottesdienst im Hamburg der Mitte der 1840er Jahre und dazu BRÄMER: Judentum und religiöse Reform, 37. 114 PHILIPPSON: Neueste homiletische Schriften, 26 [Hervorhebung im Original]. 115 PHILIPPSON: Neueste homiletische Schriften, 26. Philippson versteht die Predigt – wie etwa auch Schleiermacher – als Rede-Kunst (vgl. PHILIPPSON: Die Rhetorik und die jüdische Homiletik, 1f.4 u.ö.). An dieser Stelle sind auch Philippsons zahlreiche Reflexionen über eine der jüdischen

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zweite apologetische Herausforderung einher, nämlich die, zu zeigen, dass das Judentum auch moralisch höchsten Maßstäben gerecht werde.116 Inzwischen habe sich eine dritte, primär dogmatische Herausforderung ergeben. Man müsse in der Predigt „das Judenthum als die Vereinigung des Glaubens mit der höchsten Vernunft“ darstellen und „das Menschenthum in die reinste Versöhnung mit Gott“ führen.117 Es ist wohl kein Zufall, dass sich diese Worte Philippsons wie eine populäre Kurzfassung des Hegelschen Idealismus lesen. Um nicht weniger geht es der Predigt nach Philippson als darum, zu zeigen, dass das Judentum auf der Höhe der Philosophie seiner Zeit stehe.118 Diesem apologetischen Ziel nach außen korrespondiert bei Philippson eine bildungsorientierte Funktion der Predigt nach innen. In den jüdischen Gemeinden sei „wahrhafte Belehrung“ dringend nötig.119 Predigt müsse dem Ziel dienen, „einen bedeutsamen religiösen Gedanken in den Geist und das Herz der Zuhörer zu legen“, und stehe daher vor der Aufgabe, Gedanken und Gefühl gleichermaßen zu erreichen.120 Dieses Ziel der Predigt wird exemplarisch an einer der ersten in AZJ abgedruckten „Predigthilfen“ ersichtlich, die dort am 16.05.1837 erschien. Mit zahlreichen Zitaten aus dem Tanach wird darin eine Predigt vorgeschlagen, die sich dem Thema „Die Grundlage der israelitischen Religion ist die Grundlage der Weltreligion“ widmet und dieses in drei Punkten entfaltet. Insgesamt führen diese Punkte das Judentum als die „Religion des einzigen […] und vollkommenen Gottes“, als die „Religion der Vernunft“ und als die „Religion der Gerechtigkeit und Menschlichkeit“ vor Augen. Die vorgeschlagene Predigt endet mit einem „Aufruf an die Israeliten, ihrer Religion demnach treu zu sein, und ihre Gesetze zu vollführen.“121 Hermeneutisch interessant ist, dass PhilippPredigt angemessene Rhetorik zu erwähnen (vgl. PHILIPPSON: Die Rhetorik und die jüdische Homiletik, 1–50 [Rhetorik. Ueber Redekunst].80–83.85–90). 116 Vgl. PHILIPPSON: Neueste homiletische Schriften, 26. 117 PHILIPPSON: Neueste homiletische Schriften, 26 [Hervorhebungen im Original]. 118 Vgl. dazu auch Philippsons Predigt zu Jer 1,6–8 (1846): Das Judentum erkenne heute so bewusst wie nie zuvor, „daß unsere Religion das Höchste lehrt, was des Menschen Geist aufklärt.“ (KAYSERLING: Bibliothek, 2. Jahrgang, 60–64, Zitat: 60). 119 PHILIPPSON: Rez. zu: Wassermann, 102 [Hervorhebung im Original]. 120 PHILIPPSON: Homiletische Literatur (Fortsetzung), 586. Genau diese rational-emotionale Doppelbewegung der Predigt sei es, die ihren Charakter als „Erbauung“ bestimme (vgl. dazu auch die Charakterisierung in KAYSERLING: Bibliothek, 2. Jahrgang, 41). Etwas pathetisch schreibt Philippson: Der Redner „führt seine Hörer aus der Eisregion der berechnenden Vernunft in die Frühlingsatmosphäre des Gemüthes.“ (PHILIPPSON: Die Rhetorik und die jüdische Homiletik, 19; vgl. auch 60.96) Alexander Altmann sieht bei Ludwig Philippson – den Aspekt der Vernunft eher unterbewertend – die „platte Sentimentalität in die Welt der jüdischen Kanzel“ einziehen (ALTMANN: Zur Frühgeschichte, 54; gesteigert fortgesetzt findet er diese Tendenz dann auch bei Maybaum; vgl. dazu unten Kap. 5.4). 121 PHILIPPSON: Predigtentwürfe, 27f.

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son von seinem Thema her biblische Verse findet und zuordnet. Der umgekehrte Weg, in der jüdischen Predigt einfach von der Sabbat-Parascha auszugehen und diese auszulegen, scheint ihm angesichts der Entfernung vieler Jüdinnen und Juden von der Tora kaum noch möglich.122 (2) Jüdische Predigt der Gegenwart als „Vermittelung des Alten und Neuen“: Hegelsche Dialektik kennzeichnet Philippsons Bild der Entwicklung jüdischer Predigt: Die These als Ausgangspunkt sei die alte Derascha gewesen.123 Die Antithese wurde in der neuen Predigt gesucht. „So wie die alten Deraschot durchweg das Ceremoniale als faktisch und an und für sich bestehend behandelten: so war im Gegentheil die israelitische Predigt in ihrer ersten Periode dem von allem innerlichen Offenbarungs- und Berufungsglauben entfernten und aller Geschichte entfremdeten strengen Rationalismus ergeben.“124 Derascha und Predigt, „Ceremoniales“ und „Rationales“ standen sich nach Philippsons Darstellung als zwei Extreme gegenüber. An anderer Stelle kann Philippson davon sprechen, dass in den frühen Predigten des 19. Jahrhunderts die „Moral“ in den Mittelpunkt gerückt und „Theosophie“ bzw. „Offenbarung“ zu kurz gekommen seien.125 Nun sei es Zeit zur Synthese, zur „Vermittelung des Alten und Neuen“126. In theologisch-philosophischer Hinsicht deutet Philippson verschiedene Wege eines Ausgleichs von partikularer Offenbarung und universaler Moral an.127 In spezifisch homiletischer Perspektive liege die Aufgabe darin, „daß die israelitischen Prediger die öfter bis zur Caricatur getriebene Nachahmung christlicher Formeln und Formen aufgeben und israelitisch predigen soll-

122 So bemerkt Philippson zu den Predigten von Abraham Alexander Wolff (Kopenhagen; vgl. PHILIPPSON: Rez. zu: Wolff), die jeweils eine „Stelle der laufenden Sabbatsidra“ erklären (57): „Diese Predigtsammlung setzt allerdings eine Wiedererweckung des biblischen Studiums, eine Wiederbelebung der Lust und Liebe am biblischen Geiste voraus, diese selbst vermöchte sie nicht bewirken.“ (57); vgl. ähnlich auch Freehof, unten Kap. 7.2, 197f. 123 Vgl. PHILIPPSON: Die Rhetorik und die jüdische Homiletik, 51f. 124 PHILIPPSON: Neueste homiletische Schriften (Fortsetzung), 34 [Hervorhebungen im Original]. Vgl. dazu auch PHILIPPSON: Neueste homiletische Schriften, 27; ders.: Rez. zu: Fassel, 387: In dieser Rezension erläutert Philippson, dass der rezensierte Prediger (Hirsch B. Fassel) seine Predigttätigkeit zunächst mit Deraschot begonnen habe, „denen er allmälig immer mehr reine Elemente [!, AD] beigemischt, bis er sich seine Gemeinde herauferzogen, des witzigen Drusch im Gotteshause sich zu entschlagen, und an wahren gottesdienstlichen Vorträgen Gefallen zu finden.“ 125 Vgl. PHILIPPSON: Die Rhetorik und die jüdische Homiletik, 53f. 126 PHILIPPSON: Neueste homiletische Schriften, 27 [Hervorhebung im Original]. 127 In Philippsons „Die Rhetorik und die jüdische Homiletik“ finden sich Andeutungen eines Stufenmodells (Grundlage ist die allgemeine Moral; die Offenbarung kommt als „höhere Flamme“ ins Spiel; vgl. 55), eines Progressionsmodells (das Individuell-Partikulare wird im Lauf seiner Entwicklung immer universaler, vgl. 53.56) und eines Realisationsmodells (das davon ausgeht, dass es das Universale jeweils nur in konkret-partikularer Realisation gibt, vgl. 56).

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ten.“128 Sie müssten inhaltlich das Judentum neu als wahrhafte Religion darstellen und sich dazu material auf die Bibel, auf die talmudische und rabbinische Literatur sowie auf die jüdischen „Ceremonialien“ beziehen.129 Interessant ist, dass der Ausgleichs- und Vermittlungstheologe Philippson auch eine neuerliche Integration der Derascha in die moderne jüdische Predigt versucht. Dazu bestimmt er das Lehrhaus und nicht die Synagoge als den ursprünglichen Sitz im Leben der Derascha. Ihr Ausgangspunkt sei daher die Frage. Die Predigt hingegen gehöre in die Synagoge130 und gehe nicht von einer Frage aus, sondern von einem Inhalt der Lehre,131 der dann als Teil des Gottesdienstes populär entfaltet werde.132 Ziel sei es damit im einen Fall, einen biblischen Text zu befragen, im anderen Fall, einen Lehrinhalt in Bezug auf einen oder mehrere Texte aus der Bibel oder der Tradition so darzustellen, dass die Hörerinnen und Hörer ihn aufnehmen und annehmen können.133 Die Methodik der Derascha, sich fragend der Lehre zu widmen, möchte Philippson dann aber als rhetorische Option in das übergreifende Konzept der Predigt integrieren. Die Struktur der Derascha könne als Abfolge von introductio (Frage), These/Antithese, conclusio und peroratio den Aufbau der Predigtrede bestimmen.134 Neben dieser rhetorischen hält Philippson auch eine materiale Anknüpfung an die Derascha für möglich: „[…] das Gute aus der Deraschah“ könne bleibend bedeutsam sein; die jüdische Predigt könne sich „passender Theile der Talmude, Midraschim, der Liturgie bemächtigen“.135 So ließen sich midraschische Texte als „Supplementar-Text[e]“136 bzw. zur Bestätigung einzelner Gedanken der Predigt137 einbauen. Nicht selten könne sich der Midrasch auch als Sprachhilfe für gegenwärtiges Reden, als „Retter aus der Wortfluth“138 erweisen. Für einen auf den Ausgleich zwischen verschiedenen jüdischen Auffassungen und entstehenden jüdischen „Konfessionen“ bedachten Theologen war diese Vermittlungslinie zwischen Derascha und Predigt sicher auch ein Teil jüdischer Religionspolitik. Ähnlich kann Philippsons Überzeugung be128 PHILIPPSON: Homiletische Literatur (Fortsetzung), 585; vgl. auch ders.: Die Rhetorik und die jüdische Homiletik, 56.71f.100–103. 129 Vgl. PHILIPPSON: Neueste homiletische Literatur (Fortsetzung), 586. 130 Vgl. PHILIPPSON: Die Rhetorik und die jüdische Homiletik, 51f. 131 Vgl. PHILIPPSON: Die Rhetorik und die jüdische Homiletik, 60. 132 Vgl. zu dieser Definition der Predigt PHILIPPSON: Die Rhetorik und die jüdische Homiletik, 60.63–67.95. 133 Vgl. PHILIPPSON: Die Rhetorik und die jüdische Homiletik, 62–68. 134 Vgl. PHILIPPSON: Die Rhetorik und die jüdische Homiletik, 69–77, und ähnlich Wohlgemuth (vgl. unten Kap. 6.3.1). 135 Philippson zitiert nach KAYSERLING: Bibliothek, 2. Jahrgang, 41. 136 PHILIPPSON: Die Rhetorik und die jüdische Homiletik, 74. 137 Vgl. PHILIPPSON: Die Rhetorik und die jüdische Homiletik, 74. 138 PHILIPPSON: Die Rhetorik und die jüdische Homiletik, 75.

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urteilt werden, in der jüdischen Predigt – wie bereits Zunz vor ihm – die Fortsetzung und Neuentdeckung der Haggada zu sehen. Dies entspricht seinem Konzept eines „historischen Judentums“, das einerseits voll und ganz in je seiner Zeit stehe, sich dabei aber andererseits seiner historischen Wurzeln bewusst bleibe.139 Der für die jüdische Reform typische Form-InhaltDualismus ermöglicht Philippson eine differenzierte Sicht, wonach die Predigt als Haggada nach Inhalt und Ziel betrachtet werden könne, gleichzeitig aber nach ihrer Form unterschieden von der traditionellen Haggada sei.140 (3) Der Prediger Philippson: Korrelative Bildbetrachtung141: Auch Predigt ist für Philippson ein Vermittlungsgeschehen und bedeutet – so meine Formulierung – korrelative Bildbetrachtung. Die Metapher der Bildbetrachtung verwendet Philippson selbst mehrmals explizit in seinen Predigten. Dabei ist es der Tanach, der Bilder vorlege, deren Betrachtung Aufgabe (denn nur so erweist sich die Predigt als jüdische142) und Chance der Predigt sei – Chance vor allem deshalb, weil das Bild nicht irgendetwas zeige, sondern als Abbild des Lebens verstanden werden und mit diesem korrelativ in Beziehung gesetzt werden könne. „Wohl, meine Zuhörer, auch hier [bei der Erzählung vom Krieg gegen Amalek (Ex 17,8–16), AD] bewährt sich, was wir schon so oft als das Eigenthümliche dessen, wovon uns die Schrift erzählt, hervorgehoben haben: daß sie nämlich aller Orten in kleinsten Raum ein großes, tiefsinniges Lebensgemälde hineinlegt, in welchem wir die Menschheit und den Menschen zu erblicken vermögen, wie sie gewaltet haben, und wie sie noch walten.“143

Das „tiefsinnige Lebensgemälde“ der Bilder der Schrift zu entschlüsseln, wird zur Aufgabe des Predigers. Korrelativ kann der Weg dabei entweder vom biblischen Text zum Leben des Individuums bzw. der Gemeinschaft führen oder umgekehrt von einer Fragestellung des Lebens zu einem oder mehreren Bildern/Texten der Bibel. Die erste Richtung findet sich etwa in 139 Vgl. PHILIPPSON: Die Rhetorik und die jüdische Homiletik, 71–74; vgl. auch 59.91f; vgl. zum Begriff des „historischen Judentums“ PHILIPPSON, J.: Ludwig Philippson, 288. 140 Vgl. PHILIPPSON: Die Rhetorik und die jüdische Homiletik, 72. 141 Vgl. zu einer kurzen Darstellung auch KOBER: Jewish Preaching and Preachers, 111–113. Eine ausführliche Bibliographie des Predigtwerkes Philippsons findet sich in KAYSERLING: Bibliothek, 2. Jahrgang, 42–50. Die Bemerkungen dieses Abschnitts beziehen sich auf die acht dort abgedruckten Predigten (vgl. 51–84). 142 Lediglich die Kasualansprache zur Trauung seiner eigenen Tochter (vgl. KAYSERLING: Bibliothek, 2. Jahrgang, 82–84) kommt ohne biblischen Bezugstext aus und zitiert nur an einer Stelle Hhld 8,6. 143 KAYSERLING: Bibliothek, 2. Jahrgang, 78. Vgl. auch 80 („Bild des Lebens“) und 51 („Diese wenigen Worte, meine Freunde, zeichnen uns, wie überall in der Schrift, mit wenigen Strichen und Farben ein tiefes sinniges Lebensgemälde, zu dessen näherer Betrachtung ich Euch hiermit einlade.“).

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der bereits zitierten Amalek-Predigt. Philippson zeigt anhand der Erzählung im ersten Teil seiner Predigt auf, wie auch unsere Streitigkeiten und Kämpfe allermeist „aus Eigennutz“ geschähen,144 im zweiten Teil ermutigt er seine Zuhörer zum „Ausharren“ in den Kämpfen des Lebens, „bis unseres Lebens Sonne hienieden untergeht“ (vgl. Ex 17,12)145. Die zweite Richtung (vom Leben zum Text) findet sich z.B. in einer Predigt zum Abschluss des Passafestes (1839), wo Philippson auf „Trennungen“ zu sprechen kommt und diese dreifach spezifiziert (Trennung vom Glück, von der Liebe, vom Leben). Die drei Aspekte der Trennung verbindet er dann mit biblischen Figuren und deren Erfahrungen (Hiob, Isaak, Joseph).146 In hermeneutischer Hinsicht ist es charakteristisch für die Art und Weise der Philippsonschen Korrelation, dass sie jeweils über ein begrifflich fassbares Drittes als vermittelnder Abstraktionsebene verläuft: Aus dem Kampf Amaleks werden die Themen des Eigennutzes und des Ausharrens ermittelt, die sich dann mit dem gegenwärtigen Leben verbinden lassen; das Thema der Trennungen führt Philippson zur Betrachtung dreier biblischer Figuren. Dieses begriffliche Dritte beschreibt das „tiefe Sinnige“147, das in den biblischen Geschichten liege und das in Philippsons Konzeption die zeitübergreifende Wahrheit der „alten“ Worte der Bibel garantiert.

5.3.2 Hermeneutik und Homiletik im liberalen, historisch-positiven und neo-orthodoxen Judentum Jüdinnen und Juden „entwickelten sich seit der Jahrhundertmitte zu weitgehend akkulturierten und säkularisierten Bürgern jüdischer Konfession“ – so Walter Grab.148 Allerdings entstand dabei nicht die eine jüdische Konfession; vielmehr entwickelten sich Konfessionen, Judentümer. Als der Reformeifer erlahmte, als zunehmende Reflexion die Zeit der dynamischen Aktionen ablöste,149 ergab sich eine Binnendifferenzierung des Judentums, die vor allem durch die Frage entstand, inwieweit Jüdinnen und Juden bereit waren, sich der christlichen Gesellschaft anzunähern und dazu spezifisch 144

Vgl. KAYSERLING: Bibliothek, 2. Jahrgang, 80. KAYSERLING: Bibliothek, 2. Jahrgang, 81. Vgl. ähnlich auch die Predigt zu Gen 26,19–22: In der Geschichte vom Brunnenstreit sieht Philippson ein Bild menschlicher Streitigkeiten und zugleich ein Bild für den Weg in die göttliche Freiheit (vgl. 51–54). 146 Vgl. KAYSERLING: Bibliothek, 2. Jahrgang, 56–59. 147 Vgl. KAYSERLING: Bibliothek, 2. Jahrgang, 51. 148 GRAB: Der deutsche Weg, 121 [Hervorhebung im Original]. Vgl. zum Begriff der „Konfession“ im Blick auf das Judentum der Mitte des 19. Jahrhunderts auch PETUCHOWSKI: Manuals and Catechisms, 63. 149 Vgl. DROBNER: Zur Entwicklung der Mainzer Jüdischen Gemeinde, 125–134; HAMMERSCHENK: Synagogen in Deutschland, 156; MEYER: Antwort auf die Moderne, 197. 145

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Jüdisches aufzugeben. Diese Frage war in besonderer Weise auch eine Frage nach der Tora-Hermeneutik. Abraham Geiger, Zacharias Frankel und Samson Raphael Hirsch als die wesentlichen Vertreter der drei sich konsolidierenden Richtungen im Judentum des 19. Jahrhunderts sollen kurz auf ihre Hermeneutik und auf damit verbundene homiletische Ansätze befragt werden. (1) Liberales Judentum: Abraham Geiger (1810–1874)150: Geiger setzte das Programm der frühen Wissenschaft des Judentums in der Mitte des 19. Jahrhunderts fort und betrieb historische Kritik mit dem Ziel der Unterscheidung des bleibend Bedeutsamen gegenüber dem nur Zeitbedingten. „Wir aber sind die Wissenden“ – diese epistemologisch gewichtige Feststellung steht am Beginn von Geigers „Zwölf Vorlesungen: Das Judenthum und seine Geschichte“.151 Auch Offenbarung kann und muss nach Geiger von der Perspektive der „wissenden“, kritischen Wissenschaft aus in den Blick genommen werden. Leitend für die Frage nach der Gewichtung des Erkannten ist für ihn die Gegenwart, nicht die Achtung vor der Vergangenheit: „Jerusalem ist ein Grab, das wir ehren, aber aus dem Grabe entsteht nicht das neue Leben, aus der frischen Gegenwart mußt Du schöpfen und sie verwerthen.“152 Von Geiger selbst sind nur wenige Predigten schriftlich erhalten.153 Adolf Kober charakterisiert Geigers Predigten so, dass sie von einem leitenden Thema ausgehend auf unterschiedliche Texte des Tanach, aber auch des Midrasch als Belegstellen zurückgreifen.154 Geiger meinte, dadurch „an die frühere Gestalt“ der jüdischen Predigt in der Synagoge anzuknüpfen und durch Talmud- und Midraschstellen „den neuen Gedanken als bloße Frucht schon alter […] nach[zu]weisen“155 – ein Satz, der unmittelbar an die philosophische Meta-Skripturalität des Hochmittelalters erinnert. (2) Historisch-positives Judentum: Zacharias Frankel (1801–1875): Zacharias Frankel bezeichnet seine eigene Methode als historisch-positiv.156 Damit 150 Vgl. zu den Lebensdaten und wichtigsten Werken GRAUPE: Die Entstehung, 186–188. Vgl. insgesamt zu Geiger auch WIESE: Wissenschaft des Judentums, 68–74. 151 GEIGER: Das Judenthum und seine Geschichte, 4. 152 GEIGER: Das Judenthum und seine Geschichte, 154. Vgl. zu Geigers Hermeneutik im Kontext der Reformbewegung auch HARRIS: How do we know this, 157–165. 153 Vgl. KOBER: Jewish Preaching and Preachers, 116. 154 Vgl. KOBER: Jewish Preaching and Preachers, 116; vgl. auch MEYER: Antwort auf die Moderne, 146. 155 Zitiert bei MEYER: Antwort auf die Moderne, 147. 156 Vgl. zum Begriff „historisch-positives Judentum“ DROBNER: Zur Entwicklung der Mainzer Jüdischen Gemeinde, 127; vgl. insgesamt zu Frankel auch WIESE: Wissenschaft des Judentums, 65–68, und vor allem BRÄMER: Rabbiner Zacharias Frankel.

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markiert er einerseits den Anschluss an das Paradigma historischer Wissenschaft, andererseits aber zeigt er mit der Wahl des Adjektivs „positiv“ anstelle von „kritisch“, dass für ihn die prinzipielle Bejahung der Tradition vor jeder kritischen Unterscheidung Geltung beansprucht. Leitendes Ziel Frankels ist die „Neuformulierung einer verbindenden und verbindlichen Tradition“157. Offenbarung sieht er dabei als gegebene Größe, mit der aber dennoch ein kritischer Umgang möglich sei. Im Blick auf die Tora (im Kern: im Blick auf den Pentateuch158) hält er es jedoch für undenkbar, an deren Worten kritisch urteilend zu arbeiten. Demgegenüber aber könne die Art und Weise der Tora-Interpretation und -Rezeption in ihrer Entwicklung verfolgt werden.159 Neben seiner Zurückhaltung gegenüber der historischkritischen Forschung an der Tora warnt Frankel auch vor „Symbolisirung [sic!]“ bei der Auslegung der Tora, d.h. davor, die Worte der Tora abstrahierend nur als „ein Gewand“ zu betrachten, hinter dem das eigentliche „Wesen“ gesucht werden müsse.160 Die Kern-Schalen-Hermeneutik des modernen Judentums wird somit deutlich hinterfragt. Die Bedeutung, die Frankel der Tora beimaß, manifestiert sich auch in seinen Predigten. Eines seiner Ziele war es, die jüdische Predigt, deren Einrichtung er unbedingt begrüßte und die er gleich in seiner ersten Gemeinde Teplitz einführte,161 weg von der Themenpredigt zurück zur Homilie zu lenken.162 Gleichzeitig sollte die Predigt wieder unterscheidbar jüdischer werden und ihre Anlehnung an die protestantische Kanzel verringern.163 Aufgabe der Predigt sei es, „die Gemeinde [zu, AD] erbauen“, nicht primär den Einzelnen.164 Predigt hat so für Frankel zunächst ein oikodomisches Ziel. Daher sei sie auch Aufgabe des Rabbiners, die nicht von einem nicht

157

BRÄMER: Rabbiner Zacharias Frankel, 97. Vgl. BRÄMER: Rabbiner Zacharias Frankel, 264f. 159 Frankels eigene Forschungen in diesem Bereich konzentrierten sich vor allem auf das alexandrinische Judentum; die LXX betrachtete er konsequent als Deutung der Hebräischen Bibel (vgl. vor allem FRANKEL: Ueber den Einfluss der palästinischen Exegese auf die alexandrinische Hermeneutik; vgl. dazu NIEHOFF: Alexandrian Judaism, 14–17). 160 Zitiert nach BRÄMER: Rabbiner Zacharias Frankel, 158f, Zitat: 158. Mit dieser Aussage ist auch eine Absage an den Symbolismus Samson Raphael Hirschs verbunden (vgl. 159 Anm. 11; vgl. zu Hirsch unten 145–147 und Kap. 13.1.2.2). 161 Vgl. BRÄMER: Rabbiner Zacharias Frankel, 55; vgl. zur Predigt Frankels insg. 127–130. 162 Vgl. KOBER: Jewish Preaching and Preachers, 113. 163 Vgl. BRÄMER: Rabbiner Zacharias Frankel, 128.130. Interessant in diesem Zusammenhang ist es, dass Frankel das Leitwort der „Erbauung“ als spezifische Leistung des jüdischen Gottesdienstes bezeichnet. Zwar intendiere auch der katholische Gottesdienst „Erbauung“, hebe dabei aber zu sehr auf das „Sinnliche“ ab. Der evangelische Gottesdienst sei vor allem auf Belehrung („Contemplation“) ausgerichtet. Der jüdische ermögliche „Erbauung“ als „reine Gemüthserhebung“ (zitiert nach BRÄMER: Rabbiner Zacharias Frankel, 129). 164 Zitiert nach BRÄMER: Rabbiner Zacharias Frankel, 128. 158

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zum Rabbiner ordinierten Prediger übernommen werden könne, da nur der Rabbiner insgesamt für die Gemeinde Verantwortung trage.165 Das 1854 von Frankel gegründete Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau unterhielt auch einen Lehrauftrag für Homiletik, den seit 1856 Manuel Joel innehatte. Auch das Studium des Midrasch im Jüdisch-Theologischen Seminar sah Frankel als entscheidende Vorbereitung für die Predigt. Den Studierenden solle „der reiche Schatz der in den Midraschim angehäuften tiefsinnigen Sprüche, Lehre und Sagen eine Fundgrube sein, aus der sie Mittel zur Anregung und Belebung des Vortrags schöpfen und ihnen fern von Wortschwall jene Gediegenheit an Inhalt und Tiefe geben, durch die auf Geist und Gemüth des Hörers gewirkt wird.“166 (3) Neo-orthodoxes Judentum: Samson Raphael Hirsch (1808–1888)167: Bereits Hirschs Hamburger Lehrer Isaak Bernays (1792–1849) zeigt, was für Hirsch und das Programm der Neo-Orthodoxie insgesamt gilt: Er verband ein Eingehen auf die Forderungen der Zeit mit unbedingter Treue zur Tradition. In Hegelscher Dialektik versuchte Hirsch, die These des Judentums vor der Aufklärung mit der Antithese der Reform im 19. Jahrhundert zu neuer Synthese zu verbinden,168 wofür sein Leitwort *‫ אר‬-‫תורה בדר‬ (Tora im Weg/auf die Art und Weise der Welt) stehen kann.169 Wichtig war allerdings die Richtung, die Hirsch für nötig erachtete: Entscheidend sei eine Erziehung hin zur Tora, nicht aber der umgekehrte Weg einer Nivellierung der Tora in Anpassung an die Zeit. Methodisch wollte auch Hirsch wissenschaftlich arbeiten.170 Allerdings betonte er, dass alle Wissenschaften von nicht weiter hinterfragten und letztlich nicht weiter hinterfragbaren Axiomen ausgingen.171 Für eine jüdische Wissenschaft laute das grundlegende Axiom: Offenbarung der Tora.172 165

Vgl. hier das Gutachten Frankels vom 02.03.1835 („Acta, die Angelegenheiten des jüdischen Kultus und der jüdischen Schule betreffend“), zitiert bei BRÄMER: Rabbiner Zacharias Frankel, 128. 166 FRANKEL: Das jüdisch-theologische Seminar zu Breslau, 20. 167 Vgl. insgesamt zu Hirsch ROSENBLÜTH: Samson Raphael Hirsch; WIESE, Wissenschaft des Judentums, 74–78. 168 Vgl. TREPP: A Reappraisal, 34. Vgl. ähnlich die Beschreibung Philippsons oben Kap. 5.3.1, bes. 139f. 169 Vgl. BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, 54–56; BREUER: Jüdische Orthodoxie, 5; KOBER: Jewish Preaching and Preachers, 117. Im rabbinischen Schrifttum ist die Wendung ‫ תלמוד תורה ע דר אר‬belegt (mAv 2,2 u.ö.). 170 Vgl. BREUER: Jüdische Orthodoxie, 31f.164. 171 Vgl. BREUER: Jüdische Orthodoxie, 186. 172 Vgl. BREUER: Jüdische Orthodoxie, 166f. Dabei sieht Hirsch die Tora selbstverständlich in ihrer Einheit aus schriftlicher und mündlicher Tora, vgl. dazu 25–27. Breuer spricht vom „Festhalten an der Heteronomie des an den Menschen […] geoffenbarten Gottesgesetzes“ (66 [Hervorhebung im Original]).

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Wissenschaft im Judentum könne daher nur so gestaltet werden, dass sie sich denkend hineinversetzt in die Welt der Tora und sich keinesfalls distanziert-reflektierend, historisch-kritisch über die Tora erhebt.173 Die Tora sei „einzig wie Gott, ihr Schöpfer“174. Aus dieser Grundlegung ergeben sich zwei Konsequenzen für die ToraHermeneutik Hirschs: (i) Zum einen warnt Hirsch davor, die Tora in begriffliche Allgemeinheit und Abstraktion hinein aufzulösen, wie es die Tendenz der „Weisheit des Menschen“ sei.175 Auch einen Kern-Schale-Dualismus will Hirsch keinesfalls praktizieren.176 Eine solche Abstraktion bedeute Bemächtigung einer als greifbar betrachteten Tora durch den Interpreten; vielmehr gehe es darum zu erkennen, dass die Tora dem Volk in seiner Geschichte immer neu voraus sei.177 Noch heute stehe jeder am Fuße des Sinai.178 „Gott sprach. Und darum spricht noch Gott aus dem Buche seiner Thora unmittelbar zu uns und zu einem jeglichen unserer spätesten Enkel.“179 (ii) Tora-Auslegung bedeutet für Hirsch daher zunächst, der Tora zu antworten und d.h. ihr Wort „in alle Fugen des irdischen Daseins“ zu tragen.180 Tora sei grundlegend Gesetz, das das Leben in seiner Ganzheit meine – nicht nur „la foi“, sondern „la loi“.181 Mit dieser Bestimmung hält Hirsch an der Zusammengehörigkeit von Haggada und Halacha fest und grenzt sich vom Mainstream der Reform ab, der sich als Fortsetzung der Haggada bei gleichzeitigem Verzicht auf die Halacha verstand. Allerdings ist sich auch Hirsch der modernen Fragestellung angesichts des Zeremonialgesetzes bewusst; der Frage nämlich, warum nach diesem mit Vernunftargumenten nicht zu begründenden Gesetz noch gelebt werden 173 Vgl. zur Abgrenzung gegen das historische Paradigma HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 1, 131: Die Aussagen der jüdischen Tradition seien nicht alt und verstaubt. Bisherige Generationen hätten dies richtig erkannt: „Unsere Väter, die einfältigen, glaubten gar nicht an den Tod jener Verfasser; ihnen waren sie gar nicht gestorben; sie, ihr Lied, ihre Klage, ihr Trost, ihr Gebet lebte fort in der Brust jüdischer Tausende.“ 174 HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 1, 81 [Hervorhebung im Original]. Deshalb auch sei das Schawuotfest als Fest der Tora ein symbolloses Fest. Die Symbollosigkeit interpretiert Hirsch als Zeichen für die Inkommensurabilität der Tora (vgl. 82). 175 Vgl. HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 1, 82f, Zitat: 82. 176 Vgl. HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 1, 86: Hirsch kritisiert eine Hermeneutik, die behauptet: „Sehet, das ist der Kern, darauf allein kommt es an; alles andere ist nur Form, und somit gleichgültig […]“. Hirsch nennt dies einen „Prozeß gedankenlosester Vermessenheit“. 177 Vgl. HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 1, 84f; vgl. auch 112: Die Tora sei „nicht der Ausgangspunkt, sondern der Höhe- und Zielpunkt für Israels weltgeschichtliche Entwickelung“ [Hervorhebung im Original]. 178 Vgl. HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 3, 162. 179 HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 3, 164 [Hervorhebungen im Original]. 180 Vgl. HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 1, 97–103, Zitat: 101. 181 HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 2, 422 (hier das Zitat: „La loi und nicht la foi […]“); vgl. auch HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 1, 114–122, bes. 116f.

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solle. Zur Lösung der Problematik wird für Hirsch die Kategorie des Symbols entscheidend. Die Gesetze seien Symbole, die als Gottes Gedanken182 auch rational gedeutet werden könnten, vor allem aber gelebt werden müssten. Max Wiener spricht hier von einer „philosophisch-symbolische[n] Auslegung der Bibel“183. Hirschs Symbolik184 gründet in der Unterscheidung von „Idee“ und „Symbol“185, womit sich Hirsch – von ihm selbst nicht bemerkt – mit dem Ziel des wörtlichen Festhaltens an den Gesetzen der Tora genau jene abstraktionshermeneutische Problematik einhandelt, die er an anderer Stelle massiv kritisiert. Allerdings hält er daran fest, dass sich – auch wenn die Idee erkannt sei – das Symbol nicht wegdenken ließe, da es einerseits die „Stetigkeit“, andererseits die Körperlichkeit der Idee garantiere.186 Insgesamt versucht Hirsch, Wege der Rückkehr zu einer skripturalen Hermeneutik zu gehen; allerdings zeigt seine Symbollehre, wie auch er in meta-skripturalen Kategorien denkt. Folge der Fokussierung auf die Tora war für Hirsch der leitende Imperativ an das Judentum seiner Tage: „Wecket die Thora im Volk!“187 Dabei allerdings denkt er weniger an die Predigt188, vielmehr an die Neugründung von Bate-Midrasch, Lehrhäusern, in denen generationenübergreifend gelernt und in denen eine Anknüpfung an das vormoderne Paradigma jüdischgemeindlichen Lebens gesucht werden solle.189 Im Rückblick auf die drei sich differenzierenden Bewegungen im Judentum des 19. Jahrhunderts zeigt sich, dass nur Geigers liberale Theologie die Position der frühen Reform weitgehend ungebrochen fortsetzt. Bei Frankel und Hirsch wird die Frage nach dem Eigenen, dem unterscheidend Jüdischen wichtig.190 Für die Predigt bedeutet dies, dass bei Geiger das Thema 182

Vgl. HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 1, 87. Vgl. WIENER: Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation, 132–139. 184 Vgl. HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 3, 212–446 [Grundlinien einer jüdischen Symbolik]; vgl. dazu auch BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, 93–96, und unten Kap. 13.1.2.2. 185 Vgl. HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 3, 213. 186 Vgl. HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 3, 217f.228. 187 HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 1, 259. 188 Dennoch nutzte Hirsch selbst die Möglichkeit der Predigt durchaus intensiv – und die meisten der hier zur Tora-Hermeneutik aufgeführten Zitate stammen ursprünglich aus Predigten (vgl. dazu KOBER: Jewish Preaching, 117; LERNER: S. R. Hirschs ‫ זצ"ל‬erste Predigt). Auch in dem 1873 gegründeten Rabbinerseminar für das Orthodoxe Judentum in Berlin (vgl. dazu BREUER: Jüdische Orthodoxie, 12.120–128) gehörte die homiletische Ausbildung selbstverständlich zur Rabbinatsausbildung (vgl. z.B. Joseph Wohlgemuth als bedeutenden homiletischen Lehrer und dazu BREUER: Jüdische Orthodoxie, 141f, sowie unten Kap. 6.3.1). 189 Vgl. HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 4, 74; ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 5, 220– 248; ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 6, 240–265. 190 Eine interessante Entsprechung findet diese Suche nach dem spezifisch Jüdischen, wenn man die Entwicklung des Synagogenbaus im 19. Jahrhundert verfolgt. Seit der Mitte des 19. Jahr183

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die entscheidende Rolle spielt und dieses durch Zitate aus dem Tanach und weiteren Quellen in der Tradition verankert wird. Bei Frankel hingegen ist es die Tora, durch die die Predigt Gemeinde erbaut. Bei Hirsch schließlich führt der Weg von der Tora in ein halachisch geprägtes Leben; die Predigt kann dabei die Funktion einnehmen, die hinter den Symbolen der Tora stehenden Ideen zu ermitteln und weiterzugeben.

5.3.3 Adolf Jellinek: Der Midraschforscher als Prediger Adolf Jellinek (1821–1893)191 wurde 1856 zum zweiten Prediger der Wiener Jüdischen Gemeinde gewählt192 und entwickelte sich zu einer Art Wiener Kanzelereignis.193 Bereits seit Isaak Noah Mannheimer (1793–1865) war die Wiener jüdische Predigt durch ihren intensiven Bezug auf die rabbinische Haggada und damit auf die Midraschim gekennzeichnet.194 Diese Linie wurde durch Jellinek fortgesetzt, der neben seiner Predigttätigkeit auch als Wissenschaftler, vor allem als Herausgeber midraschischer Texte, tätig war.195 Diese waren für ihn – so Maren Niehoff – vor allem wegen des volkstümlichen Charakters der Haggada interessant. Im Gegenüber zum halachischen Pilpul des jüdischen Mittelalters sah Jellinek die Haggada nahe beim Volk, weswegen sie ihre Rezipienten bis heute begeistern könne.196 Jellineks Biograph, Moses Rosenmann, erkennt eine unmittelbare Verbindung zwischen der Tätigkeit Jellineks als Midraschforscher und seiner Bedeutsamkeit als Prediger: „Adolf Jellinek ist ein Meister der Homiletik geworden, weil er ein unermüdlicher Midrasch-Forscher gewesen, weil er die Midrasch-Literatur mit neuen Sammlungen bereicherte, weil er sich an die Grund- und Lehrsätze der Agada gebunden hielt, aber

hunderts kommen Synagogen maurischen Stils auf, die in den Stadtbildern deutlich auffallen (vgl. HAMMER-SCHENK: Die Architektur der Synagoge, 239–255). Allerdings setzt sich der maurische Stil niemals mehrheitlich durch. Auch in seiner Blüte in den Jahren zwischen etwa 1850 und 1870 werden nur etwa 40% der Synagogenneubauten so errichtet (vgl. 246). 191 Die einzige Biographie Jellineks stammt von Moses Rosenmann (ROSENMANN: Dr. Adolf Jellinek [1931]). 192 Jellinek wollte sich nie als Rabbiner bezeichnen, sondern legte Wert auf die Bezeichnung „Prediger“ (vgl. ROSENMANN: Dr. Adolf Jellinek, 44). Vgl. zur religiösen und gesellschaftlichen Situation in Wien SCHWARZ: Germans and Jews in Viennese Culture. 193 Vgl. ROSENMANN: Dr. Adolf Jellinek, V.6 u.ö.; vgl. zu Jellinek als Prediger auch BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, 184–189. 194 Vgl. KOBER: Jewish Preaching and Preachers, 113; KAYSERLING: Bibliothek, 1. Jahrgang, 285–328. 195 Vgl. ROSENMANN: Dr. Adolf Jellinek, 60f. 196 Vgl. NIEHOFF: Tfisat ha-Aggada, 121–125; JELLINEK, Der ästhetische Kanon der Haggada.

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ganz besonders, weil er aus der Agada das eigentliche Wesen der jüdischen Volksseele erkannte.“197

Jellineks homiletische Midrasch-Rezeption ist m.E. in zwei Dimensionen zu bedenken: Einerseits nutzte Jellinek die Midraschim als Material für seine Predigt, andererseits aber konnte seine Predigt – bereits in der Wahrnehmung von Zeitgenossen – insgesamt als Midrasch gehört werden. (1) Jellinek geht in einem 1862 erschienenen Beitrag davon aus, dass die Haggada „trotz der veränderten Geschmacksrichtung, welche die moderne Predigt im Gegensatze zur frühern üblichen Drascha genommen“, für die jüdische Predigt der Gegenwart bedeutsam sei. „[…] die jüdischen Zuhörer [seien, AD] sehr empfänglich für eine geschickte Benützung des Midrasch in der Predigt“.198 Für die Aufnahme der Haggada in die Predigt stellt Jellinek grundlegende Regeln auf, deren wichtigste lautet, dass die Haggada „den Organismus der Rede als eines rhetorischen Kunstwerkes nicht stören“ dürfe.199 Die Haggada müsse eine klare Funktion im Blick auf die Rede erfüllen. Jellineks Überlegungen zur Haggada in der Predigt bewegen sich im Bereich instrumenteller Rhetorik und unterscheiden sich damit nicht grundsätzlich von dem, was auch andere im 19. Jahrhundert formulierten.200 (2) Demgegenüber ist es interessant, dass ausgerechnet ein christlicher Zeitgenosse in einer Würdigung des Predigers Jellinek bemerkt: „Jellineks Reden waren nicht nur von Midraschstellen erfüllt, sondern seine ganze Predigt war selbst ein Midrasch.“201 Diese Aussage wird im Kontext nicht näher ausgeführt – und es kann daher nur gemutmaßt werden, was zu dieser Feststellung führte. Sicherlich war Jellinek ein Sprachkünstler. Er faszinierte seine Hörer durch ausgefeilte (für heutige Leser weit übertriebene) Rhetorik, die durch ihre ausladende Diktion allerdings der äußerst verknappten Ausdrucksweise der rabbinischen Midraschim völlig entgegenläuft. Schon eher erinnert an den Midrasch, wie Jellinek sein Predigthandwerk selbst zwischen „Epos“ und „Drama“ verortet: Predigen bedeute einerseits Geschichten zu erzählen, andererseits das Drama, von dem in der Bibel die Rede ist, zur Aufführung zu bringen.202 Weiter fällt auf, dass Jellinek in seinen Predigten oft auf eine direkte applicatio der biblischen Worte verzichten kann. Dennoch scheint es ihm gelungen zu sein, die biblischen Texte dergestalt lebendig zu inszenieren, dass manche Jellineks Predigt als 197

ROSENMANN: Dr. Adolf Jellinek, 202 [Hervorhebung im Original]. JELLINEK: Vom Gebrauch der Hagada, 59. 199 JELLINEK: Vom Gebrauch der Hagada, 60. 200 Vgl. z.B. oben Kap. 5.3.1, 140, und unten Kap. 5.4, 154–156. 201 Zitiert bei ROSENMANN: Dr. Adolf Jellinek, 213. Ähnlich auch ESCHELBACHER: Die Predigt im Judentum, 139, der in Jellineks Predigt eine „moderne Deraschah“ erkennt. 202 Vgl. Jellinek im Orientalischen Literaturblatt (1847), 50, zitiert bei ROSENMANN: Dr. Adolf Jellinek, 46. 198

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prophetische Predigt bezeichneten.203 In der Trauerrede auf Kantor Sulzer sagte Jellinek 1890: „Was er sang, das sah er vor sich […]“204 – ganz ähnlich wirkte wohl auch Jellinek auf seine Hörer. Sie beschrieben ihn als einen Prediger, dem es gelang, das biblische Wort so auszusprechen, dass es nicht als altes und vergangenes Wort, sondern als Wort der Gegenwart und in die Gegenwart erschien. Eine vermittelnde Ebene denkerischer Abstraktion – wie sie oben bei Philippsons Predigten beobachtet worden war – konnte wegfallen. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür bietet die wohl berühmteste Predigt Jellineks, eine Predigt zum Hohenlied (am siebten Tag des Passafestes 1861). „Ein ganzer Legendenkranz windet sich um die Entstehung dieser Predigt, und Zuhörer, die unter dem Eindruck derselben standen, wußten noch Jahrzehnte später mit Begeisterung von ihr zu erzählen. Sie gilt als der Höhepunkt der rhetorischen Beredsamkeit Jellineks.“205 Jellinek inszeniert die dramatische Bewegung des Hohenliedes neu. Israel in seinem Gegenüber zu Gott (dem Geliebten) einerseits, in seinem Gegenüber zu den anderen, den Völkern (den Töchtern Jerusalems) andererseits erzählt seine Geschichte, wird in einem Streitgespräch mit den Völkern herausgefordert und erlebt schließlich das Heraufziehen eines neuen Morgens nach der Nacht.206 Ständig verbindet die Predigt den Text der Exodusgeschichte (Passa) mit dem des Hohenliedes (Megilla zum Passafest) – und in beiden spiegelt sich die Geschichte Israels bis in die Gegenwart. Entspricht diese intertextuelle und indirekt applikative Hermeneutik grundsätzlich dem rabbinischen Midrasch, so gilt dies nicht für die Form. Jellineks Predigt zum Hohenlied – wie auch die Mehrzahl seiner sonstigen Predigten – war eine Drei-Punkte-Predigt. Die drei Akte des Dramas des Hohenlieds entsprechen den drei Punkten „Israels Ruhm“, „Israels Verteidigung“ und „Israels Hoffnung“. Allerdings dynamisiert und dramatisiert Jellinek dieses übliche Schema und inszeniert ein Sprachkunstwerk, das nicht über drei Aspekte des Textes redet, sondern den Hörenden drei verschiedene Blickwinkel auf den Text vor Augen und Ohren führt. Vergleicht man die Predigt Jellineks mit der oben vorgestellten Predigt Eduard Kleys, die ebenfalls am letzten Tag des Passafestes gehalten wurde,207 wird die Besonderheit der Predigtweise Jellineks deutlich: Spricht Kley ausgehend von einem biblischen Vers über das Verhältnis von Alltag und Feiertag, so nimmt Jellinek in die Bewegung des Hohenlieds und damit in die Dramatik der Geschichte Israels mit seinem Gott hinein.

Aufgrund der Betrachtung des Midraschforschers und Predigers Jellinek stellt sich die Frage, was es bedeuten könnte, im Kontext des Midrasch zu 203

Vgl. zu Jellineks Predigt als prophetischer Predigt die Äußerungen über Jellinek bei ROSENMANN: Dr. Adolf Jellinek, 207.210 u.ö. Auch Jellinek selbst sah den Prediger in einer Linie zu den Propheten. Entsprechend sei der Rabbiner der Nachfolger der Priester und der Kantor der Nachfolger der Leviten (vgl. 113). 204 Zitiert bei ROSENMANN: Dr. Adolf Jellinek, 172 [im Original hervorgehoben]. 205 ROSENMANN: Dr. Adolf Jellinek, 87 [Hervorhebung und Orthographie im Original]. Jellinek soll ein oder zwei Jahre an dieser Predigt geschrieben haben (vgl. 211). 206 Vgl. JELLINEK: Predigten. Erster Theil, 13–29. 207 Vgl. oben Kap. 5.2, 132f.

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predigen. Seine eigenen expliziten Reflexionen zur rhetorischen Integration des Midrasch in die Predigtrede bleiben dabei hinter dem Sprachkünstler Jellinek zurück, dessen Predigt als Midrasch erlebt werden konnte. Genau diese zweite Dimension aber ist es – wie der kurze Verweis auf die Predigt zum Hohenlied zeigt –, die Predigtrede in ihrer Hermeneutik und ihrer formal-inhaltlichen Gestaltung herauszufordern in der Lage wäre.

5.4 Der Abschluss der Entwicklung moderner jüdischer Predigt und die erste jüdische Homiletik (1871 bis ca. 1900) Mit der Reichsgründung 1871 und der zumindest juristischen Gleichberechtigung der Jüdinnen und Juden in ganz Deutschland ging eine lange Phase des Kampfes um jüdische Emanzipation vorläufig zu Ende208 – und mit ihr auch eine Phase der Entwicklung moderner jüdischer Predigt seit Joseph Wolfs akkulturatorisch ausgerichteter „erster“ Predigt aus dem Jahr 1808. Dies verdeutlicht etwa die Herausgabe der „Bibliothek jüdischer Kanzelredner“ durch Meir Kayserling (1829–1905)209 in den Jahren 1870 und 1872 – ein Projekt, das inmitten einer Phase stürmischer Entwicklung sicher nicht in Angriff genommen worden wäre. Dies zeigt sich aber besonders in der 1890 erschienenen „Jüdische[n] Homiletik“ Siegmund Maybaums (1844–1919), der ersten monographischen deutschsprachigen jüdischen Homiletik.210 Maybaum sieht sich selbst am Ende der Entwicklung eines bewegten Jahrhunderts, er blickt zurück auf „Kampf und Sieg“211 und nimmt wie von einer Brücke das einst stürmisch fließende, nun ruhiger plätschernde Wasser der jüdischen Predigt wahr. Von der grundlegenden Bedeutung der Predigt für den jüdischen Gottesdienst ist Maybaum überzeugt. Sie sei „die Seele des Gottesdienstes“212, das Bewegliche im starren Ablauf der Liturgie. Es solle daher gegenwärtig keinen jüdischen Gottesdienst mehr ohne Predigt geben.213 Insgesamt ist Maybaums Sicht jüdischer Predigt – 208

Freilich bedeutete die juristische Gleichberechtigung noch keineswegs die Integration der Jüdinnen und Juden in die christliche Mehrheitsgesellschaft. Im Gegenteil wuchs der „Antisemitismus“ (das Wort wurde erstmals 1879 dezidiert verwendet) und wurde mehr und mehr salonfähig (vgl. nur BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, 56–60; HERDE: Von der mittelalterlichen Judenfeindschaft; SCHOEPS: Deutsch-jüdische Symbiose, 149–167). 209 Vgl. zur Biographie ALLERHAND: Das Judentum in der Aufklärung, 95 Anm. 335. 210 Im gleichen Jahr erschien die – oben bereits erwähnte – Sammlung homiletischer Beiträge Ludwig Philippsons (vgl. oben Kap. 5.3.1). Vgl. zur Biographie Maybaums GELBER: Art. Maybaum, und zu Maybaum als Prediger BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, 189–193. 211 MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 1; vgl. zur Darstellung der Geschichte jüdischer Predigt 1–22. 212 MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 350. 213 Vgl. MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 19.23; ganz ähnlich argumentiert 1914 auch ESCHELBACHER: Die Predigt im Judentum, 141.

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und hier setzt er eine Linie fort, die sich bereits bei Philippson andeutete – eine vermittelnde. Spannungsfelder – etwa zwischen christlicher und jüdischer Kanzelrede, zwischen alter Derascha und moderner Predigt – nimmt er zwar wahr, versucht aber jeweils eine ausgleichende Lösung zu finden. Den beiden genannten Spannungsfeldern gehe ich im Folgenden kurz nach und charakterisiere so die „Jüdische Homiletik“ Maybaums. (1) Jüdische und christliche Predigt: Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Frage nach dem Eigenen jüdischer Predigt vermehrt gestellt. Die Eigenständigkeit betont auch Maybaum214 und setzt sich dazu mit Christian Palmer auseinander. Dieser hatte die jüdische Predigt als bloße Imitation christlicher Kanzelrede gesehen und in seiner Homiletik bemerkt: „Was von homiletischen Producten jüdischer Theologen bis jetzt in die Oeffentlichkeit gelangt ist, hat freilich für den christlichen Prediger wenig Instructives, da nicht ein originaljüdischer, alttestamentlicher Geist, sondern vorzugsweise das Reformjudenthum darin zu vernehmen ist.“215 Maybaum hingegen greift historisch weiter zurück und verweist darauf, dass die christliche Predigt nicht ohne die jüdische denkbar gewesen wäre.216 Die Predigten seien ein „ureigenes Produkt jüdischen Geistes“217; daher auch sei die jüdische Predigt im 19. Jahrhundert nicht dem Christentum entlehnt worden, höchstens hätten jüdische Prediger in formaler und stilistischer Hinsicht von christlichen Musterpredigten gelernt.218 Generell aber sei jüdische Predigt selbständig „in Inhalt und Form“219. Von der christlichen Predigt sei die jüdische schon allein dadurch unterschieden, dass die jüdische Predigt an den Text, die christliche hingegen an das Dogma gebunden sei: „Der Inhalt der jüdischen Predigt ist ja auch in der That so grundverschieden von demjenigen der christlichen, deren Mittelpunkt stets das Dogma bildet, daß sich diese Verschiedenheit auch in der Form kundgeben muß […]“220. 214 Wie eine seiner Predigten aus dem Jahr 1902 zeigt, ist es auch die „schwere Sorge für den Bestand unserer [der jüdischen, AD] Gemeinschaft“, die Maybaum bei diesen Überlegungen leitet (vgl. MAYBAUM: Predigten. Siebter Teil, 118). 215 PALMER: Evangelische Homiletik, 1 Anm. *. 216 Vgl. MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 4f; u.a. verweist er auf Josephus und Philo. 217 MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 21. 218 Vgl. z.B. MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 20: „Die deutsche jüdische Predigt trat gleich bei ihrem Beginne im Anfange dieses Jahrhunderts in so festgefügter Form auf, daß man dadurch zu der Annahme verleitet werden konnte, sie wäre der protestantischen Predigt entlehnt worden. Dennoch war das nicht durchweg der Fall, wenn auch zugegeben werden mag, daß mancher jüdische Prediger sich durch die Lektüre protestantischer Musterpredigten eine gewisse Festigkeit in der Handhabung der Form und im Gebrauche des Predigtstils erworben hat.“ 219 MAYBAUM: Jüdische Homiletik, VII. 220 MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 21. Zur Illustration sei auf Maybaums Vorwort zum fünften Teil seiner Predigtausgabe verwiesen. Maybaum kontrastiert hier die schwer vermittelbare dogmatische Überfrachtung der christologisch geprägten christlichen Feste mit der unmittelbar vernünftig

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Auch wenn Maybaum den Unterschied zur christlichen Predigt und Homiletik betont, so zeigt doch bereits die Gliederung seiner Homiletik in einen prinzipiellen, materialen und formellen Teil, wie sie seit Alexander Schweizer die christliche Homiletik prägt, die wesentliche Nähe an. Nach einer Grundlegung zu „Begriff und Zweck der Predigt“221 folgt ein Kapitel zum „Inhalt der Predigt“222, an das sich ausführliche Betrachtungen zur „Form der Predigt“223 anschließen.224 Auffallend im Gegenüber zu Schweizer erscheint lediglich die geringe Bedeutung der prinzipiellen Homiletik, die als zweiter Abschnitt der Einleitung auf wenigen Seiten verhandelt wird, wogegen – mit Friedrich Wintzer – die ausführliche Voranstellung der prinzipiellen Überlegungen gerade die Neuheit und Besonderheit der Homiletik Schweizers ausmachte.225 Gegenüber dem Verweis auf den vermeintlich deutlichen Unterschied zwischen textorientierter jüdischer und dogmenorientierter christlicher Predigt in formaler und inhaltlicher Perspektive lassen Maybaums eigene, in insgesamt sieben Bänden vorgelegte Predigten von diesem Unterschied nicht viel erkennen. Alle Predigten tragen einen Titel, der sie als Themenpredigten kennzeichnet. Sie sind in ihrer Disposition klar gegliedert226 und inhaltlich meist auf ein allgemeines Ethos ausgerichtet. Auch die Definition, die Maybaum für die jüdische Predigt findet, erscheint so offen, dass sie auch für eine liberale christliche Predigt gelten könnte: „Die Predigt ist ein auf dem Schriftworte beruhender gottesdienstlicher Vortrag, der die vorhandene oder herbeizuführende Übereinstimmung des Lebens mit der Lehre zum Inhalte hat.“227 Faktisch verwandelt sich die von Maybaum theoretisch einsichtigen Prägung jüdischer Feste (vgl. MAYBAUM: Predigten und Schrifterklärungen. Fünfter Teil, VIIf). In seiner Homiletik benennt Maybaum als einen wesentlichen Vorzug jüdischer Predigt gegenüber christlicher, dass es dem jüdischen Homiletiker sehr viel leichter falle, die Welt in den Blick zu nehmen. Der jüdische Prediger habe „den Vorteil, sich mit seinen Zuhörern auf den Boden unserer Zeit stellen zu dürfen und aus seiner Liebe zum Leben heraus auf sittliche und religiöse Verklärung derselben dringen zu können.“ (MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 37). 221 Neben der Geschichte der Predigt bildet diese Grundlegung den zweiten Teil der Einleitung in die Homiletik, vgl. MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 22–28. 222 MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 29–108. 223 MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 109–173. 224 Vgl. etwa auch den vergleichbaren Aufbau der fast zeitgleich erschienenen Homiletik August Theodor Christliebs (1893) und dazu WEEBER: Kultivierte Kulturdistanz, 147–153. 225 Vgl. WINTZER: Die Homiletik seit Schleiermacher, 24f. 226 Maybaum stützt sich hier auf die „allgemein gültigen Regeln der Rhetorik“, die zu beachten seien (MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 25); vgl. auch seinen analogen Rekurs auf die allgemeine Pädagogik zur Begründung einer jüdischen Katechetik (MAYBAUM: Abraham Jagel’s Katechismus; ders.: Methodik des jüdischen Religionsunterrichts). 227 MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 26 [im Original hervorgehoben]. Entsprechend dieser Zielbestimmung bewegt sich Predigt bei Maybaum im Wechselschritt von „Erbauung“ und „Erweckung“ (vgl. 26–28), wobei seine Bestimmung der „Erbauung“ als „Selbstzweck“ der Predigt (26) deutlich an Schleiermachers Verständnis der Predigt als darstellendes Handeln erinnert, wo-

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geforderte Textpredigt228 in seiner Homiletik und Predigtpraxis jeweils zur Themenpredigt. Vom Text zum jeweils aktuellen Thema gelangt Maybaum im (auch christlich-homiletisch) bewährten Zweischritt von explicatio und applicatio,229 wobei die historische Kritik die entscheidende Rolle für die Aufgabe der explicatio spielt.230 Der Prediger habe die durch die explicatio erkannte historische Aussage des Textes in der Predigt durch die Wahl des Themas und seine Ausführung zu applizieren.231 Die Differenzierung von Text und Thema entspricht der im Reformjudentum des 19. Jahrhunderts eingeübten hermeneutischen Unterscheidung von Form und Inhalt, die auch Maybaums Reflexionen grundlegend bestimmt. Bereits in seinem ersten veröffentlichten Werk zu den „Anthropomorphien und Anthropopathien bei Onkelos“ (1870) misst Maybaum dem Anthropomorphismus als Metapher zwar große Bedeutung zu; allerdings folge diese Bedeutung daraus, dass anthropomorphe Metaphern zur „reine[n] Gotteserkenntnis“ jenseits der metaphorischen Sprache führten.232 In einer Predigt aus dem Jahr 1889 betont Maybaum, dass die konkreten Bilder der Schrift nur „als die Hülle des […] innewohnenden Gedankens“ zu sehen seien.233 Der Prediger als „Führer seiner Gemeinde“234 habe diese Gedanken wissenschaftlich zu erarbeiten und in der Predigt weiterzugeben. (2) Predigt und Derascha: Es erinnert an Zunz’ „Gottesdienstliche Vorträge“, wenn sich Maybaum einerseits von der mittelalterlichen Derascha homiletisch distanziert,235 andererseits aber Anschluss an den rabbinischen gegen seine Bestimmung der „Erweckung“ als „äußere[r] Zweck“ (27) vor allem Nähe zu einer sittlichen Zielbestimmung christlicher Aufklärungspredigt (etwa bei Mosheim u.a.) aufweist. Vgl. ähnlich dann auch Wohlgemuth und dazu unten Kap. 6.3.1. 228 Vgl. MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 24: Predigt sei „Erklärung der Schrift“ [Hervorhebung im Original]. 229 Vgl. MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 24. Auch als „Darlegung“ und „Anwendung“ (29) kann Maybaum das Verhältnis bestimmen. Ein vergleichbarer hermeneutischer Zweischritt findet sich vielfach auch in der christlichen Homiletik des 19. Jahrhunderts; vgl. nur WINTZER: Die Homiletik seit Schleiermacher, 29, der Alexander Schweizer mit dem Satz zitiert: „Die Predigt ‚muß immer explicatio und applicatio oder usus zugleich sein‘“. 230 Vgl. z.B. MAYBAUM: Die Entwicklung des altisraelitischen Priesterthums, 2. 231 Vgl. MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 41f. Vgl. z.B. Maybaums Predigt zu Jakob und Esau, die er unter die Frage nach der Pietät und dem Zusammenhalt in den Familien stellt (vgl. MAYBAUM: Predigten. Erster Teil, Predigt Nr. 18). Vgl. aber vor allem auch die „Auswahl von Texten und Themen für alle Sabbate, Festtage und Casualien“, die im Anhang von Maybaums Homiletik erscheint. 232 MAYBAUM: Die Anthropomorphien, 26. 233 MAYBAUM: Predigten. Dritter Teil, 3. 234 MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 40 (vgl. insg. 39f). 235 In der mittelalterlichen Derascha bildete – nach Maybaum – „nur noch selten die Erläuterung der heiligen Schrift, sondern zumeist die Erklärung irgend einer schwierigen MidraschStelle den Hauptgegenstand der Predigt“ (MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 15).

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Midrasch sucht. Diesen Anschluss findet er, indem er paradigmatisch, hermeneutisch-methodisch und ornatorisch an den Midrasch anknüpft. Maybaums paradigmatische Anknüpfung an den Midrasch zeigt sich am deutlichsten dort, wo er davon spricht, dass die Predigt „von Haus aus einen Zweig des Midrasch, der Schriftauslegung im weitesten Sinne“236 bilde. Bereits die präzisierende Apposition verdeutlicht, dass die Anknüpfung der Predigt an den Midrasch lediglich einen abstrakt, nämlich als „Schriftauslegung im weitesten Sinne“, rezipierten Midrasch meint. Es geht beim Midrasch als Paradigma der Predigt um die Bereitschaft zur je neuen Ermittlung der Schriftaussage für die jeweilige Zeit. In diesem Sinn gilt für Maybaum: „Der midraschische Sinn und Trieb darf in uns nicht aussterben: wir müssen uns selber einen Midrasch machen, wie und wo wir ihn gerade brauchen.“237 In hermeneutisch-methodischer Perspektive greift Maybaum – in seinen Überlegungen zur „Sabbat-Predigt“238 – auf das mittelalterliche Akronym Pardes zurück.239 Die vier Aspekte des Umgangs mit der Schrift (peschat, remez, derasch und sod) werden von ihm allerdings auf die einfache Schriftauslegung (peschat) hin zentriert. In ihr kämen „homiletische und wissenschaftliche Exegese“ zusammen.240 Die Wissenschaft habe den Text „aus der Zeit seiner Abfassung“ zu erklären, die Homiletik müsse auf dieser Grundlage die „ewige Geltung“ des Textes ermitteln.241 „Die wissenschaftliche Exegese giebt nur an, was der Text aussagt, ohne sich über den Wert des Gesagten auszusprechen; die homiletische spricht von der Wahrheit, Weisheit und Vortrefflichkeit des Text-Inhaltes und nimmt denselben zur Richtschnur für die Wertschätzung der That und Gesinnung des Menschen.“242

Die zweite Art der Auslegung, Maybaum fasst hier derasch und remez zusammen, habe hingegen nur dann Bedeutung, wenn die „homiletische Wahrheit“ durch sie nicht verletzt werde.243 Sie stehe wie die Allegorese in der Gefahr, „die Grenze des Zulässigen zu überschreiten“.244 Die dritte Art der Auslegung (sod) bedeute hingegen, den Text „mit einer typologischen 236

MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 3. MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 46. 238 Vgl. MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 31–49. 239 Vgl. oben Kap. 4.2.2, bes. 115f; vgl. zum Folgenden auch BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, 123–125. 240 MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 32 [Hervorhebungen im Original]. 241 MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 32. 242 MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 32. 243 MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 33. 244 MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 34. Maybaum begründet dies damit, dass diese Art der Auslegung zur „Hineintragung eines Sinnes in den Text“ führe (32). Dies müsse methodisch, und d.h. wissenschaftlich, begrenzt werden. 237

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Beize“ zu überziehen und letztlich aufzulösen: „Daß diese Auslegungsart jedem vernünftigen Prediger fern bleiben muß, bedarf keiner weiteren Begründung.“245 Damit stützt sich Maybaum allenfalls terminologisch auf traditionelle Auslegung und ordnet sie in seine an der historischen Kritik orientierte Methodik ein. Schließlich nimmt Maybaum einzelne Aussagen aus den rabbinischen Midraschim ornatorisch in die Predigt auf. Er schreibt: „Das aber unterliegt keiner Frage, daß die Kernsprüche und Sittenlehren in Midrasch und Talmud, die sinnigen Erzählungen, die scharf zugespitzten Gespräche, die herrlichen Gleichnisse und die tiefgründigen Legenden der Hagada der Predigt noch heute zu höchstem Schmuck gereichen.“246 Kriterium für die Aufnahme bleibt dabei, dass die (wissenschaftlich-erkannte!) „homiletische Wahrheit“247 nicht verletzt werde. Letztlich bleibt in Maybaums Homiletik der Begriff Midrasch – trotz seiner vielfachen Erwähnung – wie eine Hülse, die mit dem Inhalt einer modernen jüdischen Predigt als erbauende, belehrende und erziehende Themenpredigt auf der Basis biblischer Texte und angereichert mit Zitaten aus der jüdischen Tradition gefüllt wird.

5.5 Zusammenfassung: Homiletische Hermeneutik zwischen Predigt und Derascha Das 19. Jahrhundert ist die Zeit der Entstehung, Entwicklung und Konsolidierung der modernen jüdischen Predigt, der Kritik an ihr und der Versuche ihrer Reformulierung seit der Mitte des Jahrhunderts.248 Inwiefern Hermeneutik und Homiletik bei diesen Entwicklungen interagieren, bringe ich in zwei – die Haupttendenzen beschreibenden – Punkten zusammenfassend zum Ausdruck: Hermeneutisch ist die Unterscheidung von Form und Inhalt dominierend; homiletisch entspricht ihr die Bewegung vom Text zum Thema. Beides kann in den Rahmen dessen eingeordnet werden, was ich oben als Kennzeichen meta-skripturaler Hermeneutik vorgestellt habe. (1) Die Unterscheidung von Form und Inhalt Die Unterscheidung von Form und Inhalt war für die jüdische Reform grundlegend, bot sie doch die Möglichkeit, die Form zu verändern und 245

MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 35. MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 48. 247 MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 33. 248 Diese Entwicklung gehört hinein in den Gestaltwandel des Judentums im 19. Jahrhundert, in dessen Folge sich z.B. auch das Bild des Rabbiners grundlegend veränderte (vgl. dazu DEEG: Pastor legens, bes. 414–418). 246

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gleichzeitig auf inhaltliche Kontinuität zu vertrauen. So formulierte 1845 die in Berlin gegründete „Genossenschaft zur Reform im Judentum“ im Blick auf die mittelalterliche jüdische Entwicklung: „Nur der Ausdruck, nur die Form ist unserem Wissen, unserem Leben, unserer Ästhetik fremd geworden, nicht also ihr Inhalt.“249 Es kam – mit den Worten einer 1856 in Berlin gehaltenen Predigt Immanuel Heinrich Ritters – darauf an, im „Gefäß“, in der „Schale“ des Glaubens den eigentlichen „Kern“ immer wieder neu zu finden.250 Dies galt nun auch hermeneutisch für den Umgang mit der Tora. Ziel musste es sein, – mit den zur Verfügung stehenden Mitteln der Kritik – die eigentliche Aussage bzw. Wahrheit hinter den Worten und Buchstaben des Textes zu finden.251 Andrea Bieler nennt dies „Akkommodationsmodell“; sein Prinzip sei die Unterscheidung der „zeitbedingte[n] Form biblischer Aussagen vom bleibenden Gehalt“252. Dieser Gehalt freilich – und dies gilt es mit Andreas Gotzmann kritisch gegen die kritische Wissenschaft des 19. Jahrhunderts anzuführen – stand in Form einer Sittenlehre mit annähernd dogmatischer Autorität faktisch vor jeder Beschäftigung mit den Texten der Schrift bereits fest.253 Heftig kritisiert wurde die dualisierende Hermeneutik – wie gezeigt – einerseits von Frankel, andererseits von Hirsch.254 Beide erkannten, dass mit der Formfrage immer auch der Inhalt berührt ist.255 So verließ etwa Zacharias Frankel die Frankfurter Rabbinerversammlung im Jahr 1845 vor allem, weil Hebräisch als Sprache des Gottesdienstes in Frage stand.256 Für Hirsch war die Kernfrage die nach der Halacha. Tora bedeute nicht, eine Idee zu erkennen, sondern sei zu lesen als Einweisung in eine gestaltete (und so Form und Inhalt verbindende) Lebensform. Freilich ist es interessant, dass Hirsch über den Begriff des „Symbols“ und der in ihm liegenden „Idee“ einer Unterscheidung von Form und Inhalt nicht völlig zu entgehen vermochte. Von dieser grundlegenden Hermeneutik ist auch der Zugang zur mündlichen Tora, zu Talmud und Midrasch geprägt. Die frühen Reformer – wie Jakob Weil257 und Leopold Zunz258 – suchten bewusst gegen die Halacha 249

Zitiert bei HAMMER-SCHENK: Synagogen in Deutschland, 162. Vgl. RITTER: Kanzelvorträge, 1–12, Zitate: 9f. 251 Vgl. zu Philippson und Maybaum oben Kap. 5.3.1 und 5.4. Vgl. zur Bedeutung der „Wissenschaft des Judentums“ für einen neuen Umgang mit der Schrift auch SIMON-NAHUM: Wissenschaft des Judentums. 252 BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, 34. 253 Vgl. GOTZMANN: Jüdisches Recht, 250. 254 Vgl. aber z.B. auch Isaac Noah Mannheimer und dazu ALTMANN: The New Style, 77–87. 255 Vgl. dazu grundlegend auch PLAUT: The Rise of Reform Judaism, XIII. 256 Vgl. REIF: Judaism and Hebrew Prayer, 276. 257 Vgl. NIEHOFF: Jakob Weil’s Contribution. 250

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einen Anschluss an die Haggada, die mit der Prophetie in Verbindung gebracht wurde. Haggadischen „Geist“ sah man in den prophetischen Reformbestrebungen des Judentums am Werk, wodurch das, was Haggada meint, nicht mehr an den konkreten Texten der rabbinischen Tradition verifiziert wurde, sondern letztlich nur als Chiffre stehen blieb. Ähnlich rezipierte etwa der Homiletiker Maybaum den Midrasch, wenn er ihn zum homiletischen Paradigma erhebt, dabei aber lediglich an das ständige Streben nach Aktualisierung der Schrift denkt. Die Texte der Midraschim hingegen und vor allem deren leitende Hermeneutik beurteilte man – mit einzelnen Ausnahmen, wie sie sich etwa bei Jellinek greifen lassen, – mit großer Skepsis.259 Exemplarisch dafür zitiere ich aus einem Aufsatz von Philipp Bloch aus dem Jahr 1880: „Um so mehr muß es unser Befremden erregen, wie eine derartige Interpretationsmanier, welche niemals mit dem vollen Wortsinn des Schriftwortes sich deckt, dagegen öfters überaus willkührlich [sic!] und gekünstelt verfährt, welche mehr darauf auszugehen scheint, den Worten unterzulegen, als sie auszulegen, nicht bloß ab und zu auf der Kanzel vernommen wurde, sondern ein ganzes homiletisches Genre beherrscht, ja gebildet habe.“260

Homiletisch war daher (außer in der Neo-Orthodoxie) in aller Regel nur ein eklektischer Zugriff auf einzelne, inhaltlich brauchbare Texte der rabbinischen Tradition möglich,261 die zur Ausschmückung der Predigtrede bzw. zur Betonung des jüdischen Charakters der Predigt262 verwendet wurden. Demgegenüber kommt eine rhetorisch-ästhetische Aufnahme des Midrasch nicht in den Blick,263 und wird erst im frühen 20. Jahrhundert neu als Notwendigkeit erkannt. So schreibt Max Eschelbacher 1914: „Im Midrasch liegt die Poesie des Judentums jener Jahrhunderte [der rabbinischen Zeit, AD] verborgen und wartet darauf, von uns neu belebt zu werden.“264 258

Vgl. NIEHOFF: Zunz’s Concept of Haggadah. Noch Israel Bettan kann in seiner Studie zu Azariah Figo ausführen, dass die midraschischexegetischen Prinzipien, die den Deraschot Figos zugrundelägen, „of course […] unacceptable to the scholar“ seien (BETTAN: Studies in Jewish Preaching, 245 [Hervorhebung AD]). 260 BLOCH: Studien zur Aggadah, 389. 261 GÜDEMANN: Midraschische Exegese, 84, und BLOCH: Studien zur Aggadah, betonen, dass auch für den Midrasch die Unterscheidung von Kern und Hülle hermeneutisch angewandt werden müsse. 262 Vgl. z.B. Josef Nobel, der noch 1912 betont, dass das midraschische Zitat „der Predigt jüdischen Charakter gibt“ (NOBEL: Bausteine, 12). 263 Die Begrifflichkeit „rhetorisch-ästhetisch“ entlehne ich Andreas Kilcher, der im Blick auf die neuzeitliche Rezeption der Kabbala eine historisch-philologische, philosophisch-ideengeschichtliche und rhetorisch-ästhetische Rezeption unterscheidet, vgl. KILCHER: Die Sprachtheorie der Kabbala, 15f. 264 ESCHELBACHER: Die Predigt im Judentum, 135; vgl. ähnlich auch BUBER: Universität und Volkshochschule, bes. 673. 259

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(2) Vom Text zum Thema Die überkommene Derascha des mittelalterlichen Judentums sahen die frühen Reformer als sinnlose, kleinliche Spielerei im Umgang mit dem Text. Die eigentliche Aussage der Texte könne durch sie nicht erkannt werden. Jüdische Predigt im reformorientierten Kontext des 19. Jahrhunderts bemühte sich nun aber um diese zeit- und teilweise auch religionsübergreifend universal bedeutsame Wahrheit.265 Die Predigten konnten zwar noch von der Schrift ausgehen, wurden aber konsequent zu Themenpredigten, deren Ziel darin bestand, das Gemeinte des Textes zu extrahieren, um die so ermittelte Aussage dann neu applizieren zu können.266 Dieser hermeneutische Weg führt zu einer universalisierenden Abstraktion der Schriftworte, die sich nicht nur in der Predigt, sondern auch darüber hinaus, z.B. in der Reformulierung jüdischer Liturgie, zeigt.267 Die Dualisierung von Form und Inhalt und der damit einhergehende homiletische Weg vom Text zum Thema können als grundlegende Kennzeichen meta-skripturaler Hermeneutik bestimmt werden. Die folgende Tabelle führt die plakative Unterscheidung skripturaler und meta-skripturaler Hermeneutik in einer Übersicht vor Augen. Skripturale Hermeneutik Charakteristikum Spielarten

Intertextualität (1) Haggada (2) Halacha

Folgen für die Predigt „RedenIn“

Meta-skripturale Hermeneutik Der verstandene Text (1) philosophisch (2) ethisch (3) mystisch „RedenÜber“

Grundlegend charakterisiert ist skripturale Hermeneutik dadurch, dass sie sich interpretierend in die Texte, ihre Binnenstrukturen und Kontexte verstrickt und insofern als intertextuell bezeichnet werden kann. Deutung oder Verstehen eines Textes sind nur mit ihm und seinen Kontexten denkbar. 265 In dieser Hinsicht ist besonders auf die jüdische Rezeption des Idealismus mit seiner Konzeption eines „objektiven Geistes“ zu verweisen; vgl. ALTMANN: The German Rabbi, 33; EISEN: Secularization, 297 (im Rückgriff auf Altmann); GRAB: Der deutsche Weg, 121; GRAUPE: Die Entstehung, 258–312. 266 Vgl. DAXELMÜLLER: Erzähler auf der Kanzel, 45. BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, 116, spricht im Blick auf die jüdisch-liberale Predigt von einer impliziten „Skopustheorie“. 267 Vgl. exemplarisch bereits die Veränderungen bei der Übersetzung der hebräischen und aramäischen Texte der Liturgie im Hamburger Tempelgebetbuch des Jahres 1819 (FRÄNKL: Ordnung der öffentlichen Andacht) und dazu PETUCHOWSKI: Liturgiereform, 114.

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Demgegenüber sucht meta-skripturale Hermeneutik nach dem Sinn bzw. Gehalt des Textes. Die Aussage des in dieser Hinsicht verstandenen Textes kann dann jenseits der konkreten Sprachgestalt des Textes weitergegeben werden. In rabbinischer Zeit begegnet skripturale Hermeneutik in den beiden Spielarten haggadischen und halachischen Redens, im jüdischen Mittelalter lassen sich philosophische, ethische und mystische Spielarten der MetaSkripturalität wahrnehmen. Im direkten Vergleich der beiden Hermeneutiken könnte der halachische Weg skripturaler Hermeneutik mit dem ethischen Weg meta-skripturaler Hermeneutik verbunden werden und der haggadische mit dem philosophischen. Es ist m.E. charakteristisch, dass der mystische Weg des Mittelalters keine Entsprechung im rabbinischen Kontext kennt. Genau darin zeigt sich das grundlegend andere Textverständnis rabbinischer Zeit, das ich mit dem Begriff apriorischer Tora-Erwartung charakterisiert habe. Der Text wird in rabbinischer Zeit als unausschöpflich gesehen. Als sacra scriptura erscheint er in skripturaler Hermeneutik nie völlig verstehbar, und doch ist mit jeweils neuen Ereignissen des Verstehens (‫ )חדוש‬aufgrund intensiver Befragung des Textes (‫ )דרש‬zu rechnen. Diese Konzeption des Textes wird am ehesten in der mystischen Hermeneutik des Mittelalters weitergetragen, wobei allerdings auch diese – wie gezeigt – meta-skripturale Züge annimmt, indem der mystisch Lesende durch den Text hindurch zur Gottesbeziehung gelangen und so den Text verstehend hinter sich lassen möchte. In der jüdischen Reform des 19. Jahrhunderts wird der Text nicht mehr primär als sacra scriptura, sondern vor allem als alter Text religiöser Tradition gelesen, in dem bis in die Gegenwart hinein Bedeutendes vermutet wird. Es geht darum, sich forschend mit dem Text auseinanderzusetzen, damit er mit seiner zeitübergreifenden ethisch-moralischen oder religiös-philosophischen Aussage auch gegenwärtig sprechen kann. Hermeneutik und Homiletik sind – das haben bereits die bisherigen Untersuchungen gezeigt – untrennbar miteinander verbunden. Jeder Weg des Textverstehens zieht eine ihm entsprechende Art der Predigt nach sich. Im Blick auf die Praxis der Predigt bzw. Deraschot scheint mir die homiletische Konsequenz skripturaler bzw. meta-skripturaler Hermeneutik am besten durch eine von Martin Nicol eingeführte und ebenfalls plakative Begrifflichkeit auf den Punkt gebracht werden zu können: Skripturale Hermeneutik führt predigend zu einem „RedenIn“ dem Text und seinen Kontexten, meta-skripturale Hermeneutik zu einem „RedenÜber“ den Text anhand erkannter und verstandener Textaussagen.268

268

Vgl. NICOL: Dramaturgische Homiletik, 55; NICOL/DEEG: Im Wechselschritt, 15f.

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Die Gegenüberstellung skripturaler und meta-skripturaler Hermeneutik soll auf Tendenzen aufmerksam machen und in dieser Hinsicht als heuristische Hilfe dienen, keineswegs aber behaupten, dass der eine oder andere hermeneutische Weg in Reinform in rabbinischer Zeit bzw. im Mittelalter oder im 19. Jahrhundert beschritten worden wäre. Dennoch aber lässt sich die leitende Hermeneutik des 19. Jahrhunderts – mit Vorläufern im Mittelalter – als meta-skripturale Hermeneutik beschreiben. Um die Wende zum 20. Jahrhundert und vor allem seit dem Ersten Weltkrieg verstärkte sich allerdings die bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts artikulierte Kritik an den Ansätzen des Reformjahrhunderts auch in hermeneutischer Hinsicht. Aspekte der hermeneutischen Neuansätze dieser Zeit, die sich als nach-moderne Wege hin zur Reformulierung einer skripturalen Hermeneutik lesen lassen, untersucht das folgende Kapitel und nimmt im Anschluss auch homiletische Konsequenzen in den Blick.

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6. Neue Hermeneutik und neue Predigt. Renaissance im deutschen Judentum zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war eine Zeit umfangreicher Neuorientierungen – keineswegs nur im Judentum, wo die Krisen der Jahrhundertwende zu einem Phänomen führten, das häufig als jüdische „Renaissance“ bezeichnet wird. Grundlagen dieser Entwicklungen stellt der erste Abschnitt vor Augen (6.1). Inwiefern die jüdische Renaissance eine hermeneutische Renaissance in Richtung einer skripturalen Hermeneutik und dann auch eine dementsprechende homiletische Renaissance bedeutet, ist Gegenstand der folgenden Überlegungen (6.2 und 6.3). Anhand der Begriffe „neuer Midrasch“ und „alte“ Lehre betrachte ich abschließend die Entwicklungen jüdischer Predigt im Dritten Reich und zur Zeit der Schoa, gefolgt von einem kurzen Ausblick auf die Situation in Deutschland nach 1945 (6.4).

6.1 Die Krise im deutschen Judentum um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als Hintergrund jüdischer „Renaissance“ 1871 hatten die Emanzipationsbestrebungen des deutschen Judentums mit der rechtlichen Gleichstellung der Jüdinnen und Juden als deutsche Bürger Erfolg. Gleichzeitig aber ging die Neugründung des Deutschen Reiches mit dem Aufleben eines „integralen Nationalismus“ einher,1 der Jüdinnen und Juden „die bleibenden Grenzen der Emanzipation“ deutlich vor Augen führte.2 Im Kontext dieses neuartigen Nationalismus entfaltete sich der Antisemitismus als politisch einflussreiche und mehr und mehr salonfähige Bewegung.3 Zur selben Zeit verlor der politische Liberalismus als wesentliche unterstützende Kraft der jüdischen Emanzipation an Bedeutung. Auch im deutschen Judentum stellte sich eine Fin de siècle-Stimmung ein.4 War 1

Vgl. zu diesem Begriff WIESE: Wissenschaft des Judentums, 7.28–35.35–42. Vgl. WIESE: Wissenschaft des Judentums, 35–42, Zitat: 35. Vgl. als biographische Schilderung des Spannungsfeldes zwischen Judesein und Deutschersein WASSERMANN: Mein Weg als Deutscher und Jude. 3 Vgl. MEYER: Jüdische Identität, 48–82. 4 Vgl. zur Stimmung um 1900 und zum Begriff „Fin de siècle“ WOLFF-THOMSEN: Weltende oder Zeiten(w)ende; DREHSEN/SPARN: Die Moderne. 2

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die jüdische Reform des 19. Jahrhunderts durch Rationalität, Universalität und Fortschrittsoptimismus geprägt, so wurde alles dies zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich hinterfragt. (1) Krise der Rationalität: Der Aufschwung von Psychologie5 und Religionspsychologie6 kann als ein Indikator dafür gelten, dass die Zeit um die Wende zum 20. Jahrhundert eine kritische Infragestellung der Rationalität bedeutete. Dies galt auch für das Judentum, das sich vor allem (aber nicht nur) in der Reformbewegung dem Paradigma der Rationalität und kritischer Wissenschaft angeschlossen hatte. Die Krise der Rationalität konnte doppelt beantwortet werden – einmal mit einer Abkehr von der ausschließlich rationalen Orientierung und der Suche nach neuen Paradigmen, andererseits mit der Affirmation der Rationalität unter veränderten Bedingungen. Eine Abkehr von der rationalen Orientierung7 zeigte sich etwa dort, wo die rationale Kälte der Reform kritisch beurteilt8 oder im 19. Jahrhundert Vernachlässigtes neu entdeckt wurde: z.B. der osteuropäische Chassidismus9 oder das verschmähte Jiddisch10. Eine veränderte Affirmation der rationalen Orientierung wird am deutlichsten bei Hermann Cohen (1842–1918) greifbar. Der Begründer der neukantianischen Marburger Schule charakterisiert das Judentum als „Religion der Vernunft“.11 Es füge sich als solche harmonisch in die deutsche Kultur ein. Dabei allerdings werden Offenbarung und Vernunft, Jüdisches und Allgemeines nicht mehr – wie nicht selten im 19. Jahrhundert – linear einander zugeordnet, etwa so, dass das Jüdische die Vorstufe zum Allgemeinen wäre, sondern treten in ein korrelatives, gerade so aber offenes Spannungsverhältnis, das das Ideal der Wechselwirkung zu seiner Grundlage hat.12 5

Vgl. hierzu nur die Namen Wilhelm Wundt (1832–1930) und Sigmund Freud (1856–1939). Vgl. HOHEISEL: Art. Religionspsychologie, bes. 2f; HEIMBROCK: Art. Religionspsychologie, bes. 8. 7 Vgl. dazu insgesamt auch BRENNER: The Renaissance of Jewish Culture, 42–46; MENDESFLOHR: Fin de Siècle Orientalism. 8 Vgl. ELBOGEN: Der jüdische Gottesdienst, 439–443. 9 Vgl. z.B. ELBOGEN: Ein Jahrhundert, 32f; vgl. auch die Sammelwerke chassidischer Geschichten, die Martin Buber herausgab, und dazu GRIES: The Jewish Background; TREFZ: Jugendbewegung und Juden, 50f. 10 Vgl. ELBOGEN: Ein Jahrhundert, 32f. 11 Vgl. COHEN: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. 12 Franz Rosenzweig bemerkt bei aller Kritik zu Cohens posthum erschienener „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“: „Das Große dieses Buches ist, daß es (im Gegensatz zu aller früheren jüdischen Religionsphilosophie, auch der Cohenschen selber) nicht das ‚Religiöse‘ einordnet, mißt, bewertet, beurteilt usw., sondern aus ihm heraus ordnet, mißt usw. (Der weitere Schritt wäre ein Umarbeiten des großen Systems von diesem Punkt aus. Das tat Cohen natürlich nicht mehr.)“ (ROSENZWEIG: Über Hermann Cohens „Religion der Vernunft“, 225; vgl. dazu BUBER: Franz Rosenzweig, bes. 805; GUMPERT: Gottesliebe). 6

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Von der Kritik am Paradigma der Rationalität war auch eine Bibelhermeneutik betroffen, die historisch-kritischer Forschung zutraut, die eigentlich gemeinte Schriftaussage aus den Texten der Bibel zu erheben und die im 19. Jahrhundert auch im Bereich der homiletischen Hermeneutik weit verbreitet war. So versuchte – wie gezeigt – Siegmund Maybaum im Zweischritt von wissenschaftlicher und homiletischer Exegese die zeitbedingte Textaussage und dessen „ewige Geltung“ in einem vernunftgeleiteten Prozess zu ermitteln.13 Kritische hermeneutische Neuansätze lassen sich vor allem in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und am deutlichsten bei Franz Rosenzweig und Martin Buber wahrnehmen. Unten komme ich auf diese Ansätze zurück, die versuchen, die rational-meta-skripturale Mehrheitshermeneutik des 19. Jahrhunderts zu überwinden (6.2). (2) Krise der Universalität: Die jüdische Reform im frühen 19. Jahrhundert war überzeugt davon, dass das Individuell-Partikulare des Judentums nur ein Abschnitt seiner Entwicklung war, die immer weiter in Richtung einer Universalisierung voranschreite. Demgegenüber wurde bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts erneut nach dem spezifisch Jüdischen gefragt. Befördert wurden diese Ansätze zu einer neuen Selbstbestimmung durch Adolf von Harnacks „Das Wesen des Christentums“, jenem prominenten Versuch, das Besondere des Christentums in Rückkehr zur Botschaft Jesu und in teilweise scharfem Gegensatz zum Judentum zu beschreiben.14 Die bedeutendste jüdische Stellungnahme zu Harnack stammt von Leo Baeck, der 1905 sein „Wesen des Judentums“15 vorlegte. Leo Baeck geht dabei nicht mehr den Weg einer reduktionistischen Scheidung von zeitübergreifendem Kern und zeitbedingter Schale; vielmehr sucht er – in Anlehnung an seinen Lehrer Dilthey – nach einem leitenden Prinzip, das Divergentes miteinander verbinden kann.16 Dieses findet Baeck in der Prophetie17, die er als das eigentliche jüdische Wesen, als Grundkraft und leitende Idee bestimmt.18 In einer Art paradoxer Umkehrung gelingt Baeck damit der Schachzug, genau jene Elemente als das partikular Eigene des Judentums zu behaupten, die 13

MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 32; vgl. oben Kap. 5.4, bes. 154. Vgl. HARNACK: Das Wesen des Christentums. Die Vorlesung fand in Berlin im Wintersemester 1899/1900 statt. Die daraus hervorgegangene Publikation wurde zum meistgelesenen theologischen Buch um die Jahrhundertwende. Bis zum Jahr 1927 erlebte es vierzehn Auflagen. Vgl. dazu insgesamt WIESE: Wissenschaft des Judentums, 131–139. Vgl. zur antijudaistischen Frontstellung Harnacks WIESE: Ein unerhörtes Gesprächsangebot, 150. 15 Vgl. BAECK: Das Wesen des Judentums; ders.: Harnack’s Vorlesungen. Vgl. insgesamt zur Auseinandersetzung von Baeck mit Harnack WIESE: Ein unerhörtes Gesprächsangebot, 149–155. 16 Vgl. BRUMLIK: Leo Baecks Theorie des Judentums, 172f. 17 Vgl. BRUMLIK: Leo Baecks Theorie des Judentums, 174. 18 Vgl. BRUMLIK: Leo Baecks Theorie des Judentums, 172f; vgl. ähnlich bereits Zunz und dazu oben Kap. 5.2, 134f. 14

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den Universalismus des Judentums begründen. In der eigenen Tradition werde das universal Gültige sichtbar. Ähnliches hatte allerdings auch Harnack in seiner Rekonstruktion des „Wesen[s] des Christentums“ behauptet. Gerade diese Nähe beider Ansätze führte dazu, dass ein wirklicher Dialog beider liberaler Konzepte faktisch unmöglich wurde.19 Als eine völlig andere Art der Aufnahme der Krise der Universalität lässt sich die Entwicklung des modernen Zionismus lesen.20 Das Spannungsfeld des 19. Jahrhunderts, der Spagat zwischen Jüdisch-Sein und Deutsch-Sein, wurde als Unmöglichkeit behauptet. Die Wege der Emanzipation und Akkulturation seien, so die communis opinio der Zionisten, ad absurdum geführt worden; eine Lösung könne nur in der neuen Suche nach einem Jüdisch-Sein jenseits der Anpassung an ein vorgegebenes Paradigma des Deutsch/Europäisch- oder Christlich-Seins liegen. Homiletisch bedeutete die Krise der Universalität, dass die bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts gestellte Frage nach dem Eigenen jüdischer Predigt auch im frühen 20. Jahrhundert nicht verstummte. So fordert der Düsseldorfer Rabbiner Max Eschelbacher 1914: „Die jüdische Predigt muß jüdisch sein.“21 Dies könne nur dadurch erreicht werden – und hier zeigt sich der Konnex zwischen der homiletischen und der hermeneutischen Frage –, dass sie sich wieder neu auf die Tora bezieht. Eschelbacher schreibt: Wir „halten […] nicht freie Reden, sondern wir bauen auf einer gegebenen Grundlage. Und wir predigen nicht über Goethe und nicht über Nietzsche, sondern über das Grundbuch des Judentums, über unsere Heilige Schrift.“22 Deshalb müsse Predigtvorbereitung entscheidend von einer genauen Wahrnehmung der Bibel ausgehen: „Die Welt der Bibel wird bei näherer Betrachtung immer größer, wie die Kleinwelt unter dem Mikroskop.“23 Für Eschelbacher ist es der biblische Bezug der Predigt, der sie zu einem „Symbol für die Einheit des Judentums“ werden lässt.24 Der Rest des Artikels ist dann einer kurzen Geschichte jüdischer Predigt in ihrer Entwicklung gewidmet, sodass Eschelbacher weitere homiletische Folgerungen nicht mehr erwähnt. Die Grundrichtung aber hin zu einer durch ihre Tora-Bindung spezifisch jüdischen Predigt verbindet sich mit weiteren hermeneutischen und homiletischen Ansätzen, die nach dem Ersten Weltkrieg bedeutsam werden. 19

Vgl. WIESE: Ein unerhörtes Gesprächsangebot, 157f; SURALL: Juden und Christen, bes. 153. Die Literatur ist beinahe unüberschaubar; für einen knappen Überblick vgl. AVINERI: Art. Zionismus. Vgl. zum Zionismus als Umkehr des Konzepts der akkulturatorischen Emanzipation hin zur „Selbstemanzipation“ WIESE: Wissenschaft des Judentums, 55–58. 21 ESCHELBACHER: Die Predigt im Judentum, 142. 22 ESCHELBACHER: Die Predigt im Judentum, 129. 23 ESCHELBACHER: Die Predigt im Judentum, 130. 24 ESCHELBACHER: Die Predigt im Judentum, 132. 20

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(3) Krise des Fortschritts: Das Reformjudentum war von einem aufklärerischen Fortschrittsoptimismus geprägt. Die Blickrichtung nach vorne hatte Konsequenzen für die Rezeption der Tradition, wie exemplarisch am Umgang mit den Midraschim gezeigt wurde. Diese wurden teilweise grundlegend kritisiert und abgelehnt, teilweise apologetisch zum Aufweis der Kontinuität zu vorangehenden Phasen jüdischer Geschichte gebraucht und dann in aller Regel jenseits ihrer zeitbedingten Form auf bleibend-gültige Inhalte hin untersucht. Bricht der Fortschrittsoptimismus zusammen, so stellt sich auch die Frage nach einer Relektüre der Tradition neu. Der Karlsbader Rabbiner Ignaz Ziegler legte in seinem 1899 erschienenen Aufsatz mit dem Titel „Die haggadische Exegese und der einfache Wortsinn“ einen Beitrag zur Neuentdeckung des Midrasch vor. Ziegler wehrt sich vehement gegen diejenigen fortschrittsorientierten wissenschaftlichen Exegeten und ihre sogenannte „moderne Exegese“, die den Midrasch als Relikt einer überwundenen Vergangenheit betrachteten und ihm nicht „mit jenem Respecte“ begegneten, den er verdiene.25 „[…] vornehmes Achselzucken, eine höhnische Bemerkung“26 sei bereits alles, was die modernen Kritiker für den Midrasch übrig hätten. Ja, sogar für „rabbinischen Aberwitz und Blödsinn“27 hielten ihn manche. Damit aber verschlössen sie die Augen für den „Sprachgeist“ des Midrasch und für die tiefe „religiöse Tradition“, die die Haggadisten in ihre Auslegungen einbrächten.28 Der „Geist der Haggadisten“29 sei vor allem dadurch gekennzeichnet, „alles, was die Zeit an Gedanken hervorzubringen vermag, in der heiligen Schrift wieder zu finden“30, wozu Witz, Tiefe des Studiums und Phantasie nötig seien.31 Ziegler betont damit nicht nur einzelne Inhalte des Midrasch, sondern blickt – in Aufnahme des idealistischen Begriffs des „Geistes“ – bewusst auf midraschisches Denken. Allerdings bleibt seine Relektüre midraschischer Tradition apologetisch legitimiert. Es geht auch ihm nicht um eine formal-inhaltliche Neuentdeckung des Midrasch und seiner Hermeneutik, sondern vor allem um dessen religionsgeschichtliches Gewicht. Es könne sein, so Ziegler, dass der Haggadist aus der „Volksseele und Volkssage“ schöpfe und seine Aussagen insofern bedeutsam für die „Alterthumswissenschaft“ werden könnten.32 25

ZIEGLER: Die haggadische Exegese, 160. ZIEGLER: Die haggadische Exegese, 160. 27 ZIEGLER: Die haggadische Exegese, 243. 28 ZIEGLER: Die haggadische Exegese, 160. 29 ZIEGLER: Die haggadische Exegese, 159. 30 ZIEGLER: Die haggadische Exegese, 159. 31 Vgl. ZIEGLER: Die haggadische Exegese, 248; vgl. zu Beispielen dieser Auslegung 161– 167.241–250. 32 Vgl. ZIEGLER: Die haggadische Exegese, 244; ähnlich auch 160. 26

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Die Krise um die Jahrhundertwende ließ das Judentum nach sich selbst, seiner Identität und seiner Geschichte fragen, wobei auch die schriftliche und mündliche Tora neu in den Blick kamen. Martin Buber sprach bereits 1901 von einer „Jüdische[n] Renaissance“ – ein Begriff, der in der Folgezeit vielfach aufgenommen wurde.33 Versteht man die Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts so, dass in dieser Zeit durch eine Neuentdeckung der (hier antiken) Tradition eine formal-inhaltliche Veränderung des Staatswesens, der Kunst und des Denkens angestrebt und erreicht wurde,34 so macht der Begriff einer „jüdischen Renaissance“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus Sinn: Es wurde nach Wegen eines erneuerten Zugangs zur Tradition gesucht; und es wurden dabei Perspektiven eines neuen Denkens und neuen Lesens der Schrift jenseits meta-skripturaler Hermeneutik sichtbar – Wege, die die Moderne in gewisser Weise einklammern,35 gleichzeitig aber die zwei Gefahren jeder nach-modernen Neuanknüpfung an vor-moderne Traditionen vermeiden: die Gefahr des Fundamentalismus36 einerseits, der Neo-Romantik37 andererseits. Im Folgenden frage ich nach Spuren jüdischer Renaissance im Bereich der Hermeneutik (6.2), um anschließend auf die Auswirkungen der jüdischen Renaissance für die Predigt zu sprechen zu kommen (6.3).

33

Vgl. BUBER: Jüdische Renaissance; vgl. ders.: Renaissance und Bewegung; ders.: Rede auf dem XII. Zionisten-Kongress in Karlsbad; vgl. dazu auch BRENNER: The Renaissance of Jewish Culture, 4.223 Anm. 10. Eine Aufnahme findet sich etwa bei Leo Baeck, der im Rückblick aus den 1930er Jahren von der Zeit einer „jüdischen Wiedergeburt“ spricht (vgl. dazu BRENNER: Leo Baeck und der Wandel, 69). Vgl. zu dem Begriff der „Renaissance“ auch insgesamt ASCHHEIM: German Jews Beyond Bildung and Liberalism; STERN: Dann bin ich um den Schlaf gebracht, bes. 133–135. 34 Vgl. MARGOLIN: Art. Renaissance, bes. 77–85. 35 Vgl. zur Metapher der „Klammer der Moderne“ BRUCKSTEIN: Versuch einer Topographie, 173. 36 Fundamentalismus kann als ein Weg zurück zur vor-modernen Tradition unter impliziter Beibehaltung und daher Repristination moderner Denkschemata verstanden werden. Als Beispiel für einen fundamentalistischen Rückgriff auf die Tradition verweise ich auf die 1912 von Pinchas Kohn verfassten „Grundlehren der Orthodoxie“, die die Verbindung von ‫ תורה‬und ‫דר אר‬ (Hirsch) kritisierten und stattdessen die Göttlichkeit jedes einzelnen Wortes der Tora, die Göttlichkeit der mündlichen Lehre und die Identität der überlieferten mit der geoffenbarten Tora behaupteten (vgl. BREUER: Jüdische Orthodoxie, 321.474 Anm. 34). 37 Mit dem Begriff Neo-Romantik charakterisiere ich eine Idealisierung der Vergangenheit bei gleichzeitig mangelnder Reflexion der inzwischen veränderten Situation. In mancher Hinsicht kann die bis heute bedeutsame Midrasch-Sammlung, die Chajim Nachman Bialik und Yehoschua Hana Ravnitzky zuerst in Odessa 1908 bis 1911 unter dem Titel ‫ ספר האגדה‬zusammenstellten, als ein Produkt neo-romantischer Sehnsucht verstanden werden (vgl. BIALIK/RAVNITZKY: The Book of Legends; vgl. dazu STERN: Introduction, in: The Book of Legends, xvii.xixf; vgl. dazu auch unten Kap. 13.1.3.1).

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6.2 Jüdische Renaissance als hermeneutische Renaissance Die verschiedenen Ansätze einer Renaissance in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts verstärkten und intensivierten sich durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs.38 Martin Buber (1878–1965) erkennt 1916 alarmiert, dass der Krieg im Namen einzelner Nationen gegeneinander kämpfende Juden hervorgebracht habe und damit deutlich mache, dass „es nur noch Juden, aufgeteilte Juden, und kein Judentum“ mehr gebe. Notwendig sei es, zu neuer Einigkeit zu finden.39 Dies betont auch Franz Rosenzweig (1886– 1929) im Jahr 1917 in einem Aufsatz mit dem Titel „Zeit ists“40. Die während des Krieges umgeschlagene Stimmung im Judentum, von der „Hoffnungsfreude“ zu Beginn hin zur Ernüchterung, sei „vom ernsthaft jüdischen Standpunkt aus ein Glück“41. Denn nun könne und müsse eine neue Orientierung an dem einsetzen, was das Jüdische eigentlich ausmache. Mit „neue[r] Lebendigkeit“42 müsse der Weg in die eigene und eigentümliche „jüdische Sphäre“43 gesucht werden – und dies besonders in einem neugestalteten jüdischen Religionsunterricht, der nicht primär Lerninhalte traktieren, sondern in den gegenwärtig gefeierten synagogalen Ritus44, in das jüdische Festjahr45 und in die im Gebet und in der Lesung verwendete hebräische Sprache46 hineinführen solle. Entscheidend für diesen Unterricht sei die „Lebendigkeit“ der Lehre als Einübung in eine bestimmte Art des Denkens.47 So möchte Rosenzweig – in höheren Klassen – auch die Midraschim lesen, nicht primär wegen ihres Inhalts, sondern weil „die Kenntnis dieser ganz eigentümlichen, man möchte sagen, wissenschaftlichen Mythologie 38

Vgl. zu dieser Zeit insgesamt MAURER: Reife Bürger der Republik. Vgl. BUBER: Die Losung, Zitat: 1; vgl. auch MENDES-FLOHR: The Politics of Covenantal Responsibility, bes. 197f; GELBER: 1916: The first issue. 40 Die Überschrift „Zeit ists“ entnahm Rosenzweig Ps 119,126 (…‫)עת ל‬. WALLACH: The Beginnings of the Science of Judaism, 57, parallelisiert diesen Aufsatz Rosenzweigs und den genau hundert Jahre vorher geschriebenen (und 99 Jahre vorher erschienenen) Aufsatz von Leopold Zunz „Etwas über die rabbinische Literatur“. Beide hätten eine Initialzündung für einen neuen Umgang mit der jüdischen Tradition bedeutet. 41 Vgl. ROSENZWEIG: Zeit ists, 478f, Zitat: 479. 42 ROSENZWEIG: Zeit ists, 478. 43 Vgl. ROSENZWEIG: Zeit ists, 462.473 [462 noch selbst in Anführungszeichen; 473 nicht mehr]. 44 Religionsunterricht soll für Rosenzweig wesentlich Unterricht in Siddur und Machsorim sein und in das Gebet hineinführen (ROSENZWEIG: Zeit ists, 462). Daher auch solle der Religionsunterricht zum Besuch der Synagoge anleiten und von diesem her neues Leben erhalten (vgl. 466), er sei „der Vorraum […], aus dem der Weg zur Teilnahme am Kult der Gemeinde führt“ (463). 45 Vgl. ROSENZWEIG: Zeit ists, 464; Rosenzweig spricht in Anführungszeichen von „Kirchenjahr“. 46 Hebräisch als Sprache der Bibel und des Gebets erscheint für Rosenzweig „unübersetzbar“ (ROSENZWEIG: Zeit ists, 463). „An der Sprache hängt der Sinn“ (466). 47 Vgl. ROSENZWEIG: Zeit ists, 464. 39

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[…] für das tiefere Verständnis des jüdischen Geistes geradezu Voraussetzung“48 sei. Drei Jahre später (1920) konkretisierten sich Rosenzweigs Überlegungen in erwachsenenpädagogischer Hinsicht durch die Gründung des „Freien Jüdischen Lehrhauses“ in Frankfurt/Main.49 Im Lehrhaus ging es nicht allein um den Inhalt der Lehre, sondern vor allem auch um die Art und Weise des Lernens. Eindrücklich stellt Rosenzweig in seiner Eröffnungsrede vom 17.10.1920 dieses „Neue Lernen“ vor Augen.50 Rosenzweig kontrastiert den neuen Weg des Lehrhauses gegenüber den beiden Wegen, die er als die charakteristischen des 19. Jahrhunderts bestimmt, gegenüber dem Liberalismus und der Orthodoxie. Beiden sei das nicht gelungen, was Lernen eigentlich ausmachen müsse, nämlich: „sich das Leben in Zusammenhang mit dem Buch zu halten“51. Heute stünden alle Jüdinnen und Juden draußen, alle kämen von der Peripherie. Damit aber sei der Weg des neuen Lernens gekennzeichnet als Weg „zurück in die Tora“52, „von der Peripherie ins Zentrum […], vom Außen ins Innen“53. Ziel eines solchen Lernens ist für Rosenzweig die im gemeinsamen Lernen gestaltete, nicht in abstrakten Begriffen antizipierte Einheit des Judentums.54 Gemeinsames Lernen bedeutet daher auch den gemeinsamen Weg zur Tora, weswegen die pädagogische Renaissance für Rosenzweig zugleich eine hermeneutische Renaissance impliziert.55 Dabei kehrt sich für Rosenzweig der Vektor hermeneutischer Bewegung nicht einfach um; es kommt nicht zu einer meta-skripturalen Hermeneutik mit umgekehrten Vorzeichen. Lernen und Lesen führt nicht einfach von einer Frage des Lebens zurück zur repristinierenden Wiederholung grund48

ROSENZWEIG: Zeit ists, 469. Vgl. dazu z.B. BRENNER: Leo Baeck und der Wandel, 62; ders.: The Renaissance of Jewish Culture, 69–99; MAYER: Judentum – Christentum – Menschentum; VOLKMANN: Eine andere Frankfurter Schul’. 50 Vgl. ROSENZWEIG: Neues Lernen. Vgl. insgesamt auch die Beiträge in LICHARZ: Lernen mit Franz Rosenzweig. 51 ROSENZWEIG: Neues Lernen, 507. 52 ROSENZWEIG: Neues Lernen, 507. 53 ROSENZWEIG: Neues Lernen, 508. 54 „Die Einheit des Zentrums ist nichts, was wir hell und deutlich und aussprechbar besitzen.“ (ROSENZWEIG: Neues Lernen, 508) Vgl. zu dieser anti-idealistischen Pointe Rosenzweigs auch MAYBAUM: Franz Rosenzweig, 157. Mitzuhören ist in diesen Sätzen auch Rosenzweigs Kritik am Zionismus, der auf die manifeste Größe eigener jüdischer Staatlichkeit als „Einheit des Zentrums“ hinarbeitet. 55 Vgl. als Gegenmodell z.B. den – die liberale Tradition des 19. Jahrhunderts fortsetzenden – Beitrag von Rafael Seligman (SELIGMAN: Modernes Judentum). Seligman hält es für die Aufgabe der Zeit, sich der Kultur zuzuwenden und das Vergangene kritisch auf das heute noch Leistungsfähige hin zu befragen. Man müsse als Archäologe tätig werden. Dabei gebe es in der jüdischen Vergangenheit Wesentliches zu entdecken, etwa den „Primat des Humanismus über den Naturalismus“ oder den Gedanken der „Kulturdemokratie“ (Zitate 614f). 49

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legender Sätze der Tora oder der jüdischen Tradition, wogegen das 19. Jahrhundert aus der verstandenen und auf ihren Inhalt reduzierten Tora ins Leben führte. Vielmehr wird – im Bild gesprochen – aus dem Vektor ein Doppelpfeil, der Tora und Leben, Tradition und Gegenwart in ständiger Bewegung miteinander verschränkt und damit dem nahe kommt, was oben als Kennzeichen skripturaler Hermeneutik im Rahmen apriorischer ToraErwartung beschrieben wurde. Gleichzeitig ist es dieser Aspekt, der Rosenzweigs Richtungsangabe von manchen etwa zeitgleichen orthodoxen Wegbeschreibungen unterscheidet.56 Die hermeneutischen Konsequenzen eines erneuerten Zugangs zur Tradition lassen sich besonders in der Bibelübersetzung durch Buber und Rosenzweig wahrnehmen.57 Angesichts der Bedeutung, die das hebräische Wort für Rosenzweig hatte, und angesichts seiner fortschreitenden Krankheit58 war es für ihn kein leichter Schritt, sich ab 1925 bis zu seinem Tod auf die Mitarbeit an einem Projekt einzulassen, dem es um eine neue Übersetzung der Schrift ging. Dennoch beteiligte er sich, weil auch er davon überzeugt war, dass die Schrift im Korsett bisheriger Übersetzungen nicht mehr zu ihrem eigentümlichen Sprechen kommen könne. Gleichzeitig hatte Rosenzweig durch seine Übersetzungen der religiösen Poesie Jehuda Halevis (1075– 1141) Vorarbeiten im Blick auf die Möglichkeiten, Grenzen und Bedeutung von Übersetzung geleistet und sich dazu im Nachwort zu dieser Übersetzung geäußert.59 In diesem Nachwort zeigt sich vor allem, dass Rosenzweig als entscheidende Voraussetzung der Übersetzung die Wahrnehmung und Beibehaltung der Distanz zwischen den Texten aus anderer Zeit und in anderer Sprache und dem Heute sieht. Die Übersetzungen – so Rosenzweig – 56 Eine solche lässt sich exemplarisch im Mottoartikel der Zeitschrift „Jeschurun“ (gegründet 1914) greifen, der eine Erneuerung des Judentums durch Abwendung von der Gegenwart, Rückkehr in die Welt des Textes und Wiederaufnahme jüdischer Lehre fordert. Entscheidend für das Judentum, so betont das Motto der Zeitschrift, sei nicht das Schielen auf die Kultur oder die Erfordernisse der Zeit, vielmehr müsse es darum gehen, sich neu und ausschließlich auf Gott zu besinnen. Weil das Wesen Gottes aber „unerforschlich“ sei, gelte es „Seinen Spuren“ zu „folgen“ und sich immer neu in die Klarheit seiner Lehre zu versenken (Jeschurun: 1). Vgl. ähnlich auch COHN: Judentum. Ein Aufruf an die Zeit – und die schneidend kritische Rezension von Rosenzweig dazu (vgl. ROSENZWEIG: Rez. zu: Cohn, Emil). 57 Vgl. dazu insgesamt ASKANI: Das Problem der Übersetzung; BANON: Kritik und Tradition, 32–36. Vgl. zur Geschichte der Bibelübersetzung in ihren unterschiedlichen Etappen auch TALMON: Martin Bubers Werk, 22–33. 58 Vgl. zu dieser biographischen Situation Rosenzweigs ASKANI: Das Problem der Übersetzung, 5f. 59 Dieses Nachwort Rosenzweigs erscheint in den „Gesammelten Schriften“, Bd. 4,1, als Vorwort (vgl. ROSENZWEIG: Vorwort zu Jehuda Halevi). Vgl. zu einer ausführlichen Interpretation ASKANI: Das Problem der Übersetzung, 67–135. Vgl. zur Entwicklung von Rosenzweigs Hermeneutik KORNBERG GREENBERG: The Hermeneutic Turn.

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„wollen den Lesern keinen Augenblick vergessen machen, daß er nicht Gedichte von mir, sondern von Jehuda Halevi liest, und daß Jehuda Halevi kein deutscher Dichter und kein Zeitgenosse ist.“60 Das Rosenzweigsche Insistieren auf der Fremdheit des Textes erinnert an seinen Einspruch gegen Bubers dialogphilosophische Programmschrift „Ich und Du“ (1923).61 Rosenzweig wollte gegenüber der tendenziell mystischen Auflösung des Gegensatzes von „Ich und Du“ in der Ich-Du-Einheit bei Buber das unerlässliche und bleibende Gegenüber des Anderen unbedingt festhalten. Buber hatte die hermeneutischen Implikationen seiner Dialogphilosophie mit ihrer Grundunterscheidung einer Ich-Du- und Ich-Es-Relation nur angedeutet. Im Fall einer Ich-Es-Relation stünde das erkennende Subjekt seinem Gegenstand (der Bibel) gegenüber. Wie alle Gegenstände hätte dann auch die Schrift „nur Vergangenheit, keine Gegenwart“.62 In einer Ich-Du-Relation ereigneten sich demgegenüber Momente eines „Anhauch[s]“ oder auch eines „Ringkampf[es]“,63 Momente, in denen nicht ein Inhalt empfangen, sondern eine Gegenwart erfahren werde,64 Momente, die das „Geheimnis“ offen ließen: „Erlösung haben wir verspürt, aber keine Lösung.“65 Rosenzweig sieht in Bubers Ansatz die Gefahr, dass sich in solchen Momenten das für den Dialog notwendige Gegenüber auflöst. Er schreibt: „Um Meinet- und Deinetwillen muß es noch andres geben als – Mich und Dich.“66 Wenn nicht die Externität, das bleibende extra nos Gottes und seines Wortes, aufrechterhalten werde und so zu dem Grundwort „Ich-Du“ noch die Grundworte „ER-Es“ und „Wir-ES“ hinzutreten,67 verschwinde die Möglichkeit, „von Gott wieder in der dritten Person zu sprechen und daraus (allein daraus) die Möglichkeit sogar vom Schöpfer zu sprechen.“68 Diese Externität, die freilich grundlegend von der vermeintlichen, da nur gedachten Externität einer Ich-Es-Beziehung zu unterscheiden sei,69 wird für Rosenzweig auch zur entscheidenden hermeneutischen Voraussetzung. Er erläutert seine 60 ROSENZWEIG: Vorwort zu Jehuda Halevi, 1; vgl. dazu auch FISHBANE: Speech and Scripture, sowie unten Kap. 12.3.1; vgl. grundlegend zu Rosenzweigs Ästhetik EICKER: Einsäen der Ewigkeit, bes. 84–160. 61 Vgl. BUBER: Ich und Du. 62 BUBER: Ich und Du, 16. 63 BUBER: Ich und Du, 110.110f. 64 Vgl. BUBER: Ich und Du, 111. 65 BUBER: Ich und Du, 113; vgl. zum Begriff des Geheimnisses 112. Vgl. ausführlicher zu Bubers Schriftauslegung VETTER: Im Dialog mit der Bibel. 66 ROSENZWEIG: Brief an Martin Buber, September 1922, 827 [Hervorhebung im Original]; vgl. dazu auch CASPER: Franz Rosenzweigs Kritik; FRIEDMAN: Dialogue, Speech, Nature, And Creation. 67 Vgl. ROSENZWEIG: Brief an Martin Buber, September 1922, 825f. 68 ROSENZWEIG: Brief an Martin Buber, September 1922, 826 [Hervorhebung im Original]. 69 Vgl. ROSENZWEIG: Brief an Martin Buber, September 1922, 824: „Dieses Es [der Ich-Es-Relation, AD] haben Sie freilich leicht abführen. Aber es ist das falsche Es, das Produkt der großen Täuschung, in Europa noch keine 300 Jahre alt. Nur mit diesem Es wird ein Ich mitge-(nicht: sprochen, sondern:)-dacht. Zum gesprochenen Es wird kein Ich mitgesprochen. Jedenfalls kein menschliches“ [Hervorhebungen im Original].

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Kritik an Buber, indem er zwei Worte aus dem Tanach zitiert (1Sam 2,6), die gleichzeitig im Morgengebet ihren Ort haben:70 „Sagen Sie einmal ‫[ !ממית ומחייה‬ER tötet und belebt, AD] dann haben Sie dies Grundwort [gemeint: ER-Es, AD] gesagt und haben es ganz wesentlich gesagt.“71 Entscheidend bleibt für Rosenzweig wie für Buber, die denkerische Abstraktion des Redens von Gott, von der Bibel etc. aufzuheben in eine neue Konkretion und Zeitlichkeit dieses Redens und Denkens hinein, die das Leben prägt und damit auch ethisch relevant wird;72 allerdings betont Rosenzweig das bleibende Gegenüber Gottes und seines Wortes als unaufgebbare Voraussetzung dafür.

Bubers Betonung dialogischer Relation zur Schrift mit ihrer mystischen Tendenz und Rosenzweigs Insistieren auf der bleibenden Fremdheit und der zu bewahrenden Alterität der Schrift bilden die spannungsreiche hermeneutische Mischung, aus der sich die Übersetzung durch Buber und Rosenzweig speist. Auch wenn Bubers Bemerkungen zu dieser Übersetzung erst 1954 entstehen (und damit sicher mehr Buber und weniger Rosenzweig zeigen),73 erscheinen sie mir doch geeignet, um das Neue der „RenaissanceHermeneutik“ aufzuzeigen, die als der Versuch einer nach-modernen Wiedergewinnung skripturaler Hermeneutik bezeichnet werden könnte. Drei eng aufeinander bezogene Schritte eines Weges des Lesens, der hin zur Schrift führt, in ihr verweilt und mit der Schrift ins Leben weist, führe ich – Bubers Überlegungen systematisierend – vor Augen. (1) Bewegung hin zur Schrift: Nach Buber führt die Richtung der Übersetzung nicht vom gegebenen Text in die Sprache der Gegenwart. Vielmehr sei es entscheidend, dass sich Zeit, Sprache und Leben in Richtung der Schrift bewegen. Nicht primär einzelne Worte der Schrift und deren Bedeutung würden dann entscheidend, vielmehr werde der Leser einzelner Worte diese

70

Vgl. Sidur Sefat Emet: 41 (vor dem 18-Bitten-Gebet). ROSENZWEIG: Brief an Martin Buber, September 1922, 825 [Hervorhebung im Original]. 72 Die Wertschätzung der ethischen Relevanz alles Denkens und jeder Hermeneutik zeigt sich ex negativo auch in der pointierten Abrechnung Rosenzweigs mit der „Richtigkeit“ der sogenannten dialektischen Theologie, die die Verbindung von Theologie und Leben nicht beachte: „Die richtigste Theologie ist die gefährlichste. Wir haben heute, nach langer Dürre, eine Theologie, meist protestantisch, die an Richtigkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Wir haben es also nun heraus, daß Gott der Ganz-Andre ist […]. Die Folge dieser ungeheuren Richtigkeit ist, daß wir Richtigen heute allesamt wie die Kinder im Kreis stehen, einer sagt eine Richtigkeit, sein Nachbar fährt ihm mit der noch richtigeren, daß seine Richtigkeit eben als Richtigkeit falsch war, über den Mund, und so geht es rundum, bis wieder der erste dran ist. Das Ganze heißt Theologie.“ (Vgl. ROSENZWEIG: Sprachdenken im Übersetzen, Bd. 1, 68–71, Zitat: 70). 73 Vgl. zu den Differenzen zwischen Buber und Rosenzweig im Blick auf die Übersetzungsarbeit TALMON: Martin Bubers Werk, 37; vgl. insgesamt zu Bubers Nachbemerkungen zur Bibelübersetzung KEPNES: Introductory Comments. 71

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als eingebettet in den Kontext der ganzen Schrift erfahren.74 Nur so werde eine Bedeutungskonstitution möglich, die sich – mit einem Leitwort der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – als „intertextuell“ beschreiben ließe. Buber spricht von einer „dynamische[n] Gesamtwirkung“: „[…] wem das Ganze gegenwärtig ist, der fühlt die Wellen hinüber und herüber schlagen.“75 Jede den einzelnen Text auf seine „ewige Geltung“ (Maybaum)76 hin abstrahierende Hermeneutik erscheint damit unmöglich. Der Weg des Lesens führt vielmehr in den biblischen Kanon, der das Volk als Gemeinschaft der Lesenden konstituiert.77 (2) Bleiben an der Gestalt des Textes: Scharf wendet sich Buber gegen jede Hermeneutik, die Form und Inhalt separiert. „Als ob eine echte Botschaft, ein echter Spruch, ein echter Gesang ein von seinem Wie ohne Schaden ablösbares Was enthielte, als ob der Geist der Rede anderswo als in seiner sprachlichen Leibgestalt aufzuspüren […] wäre […]“78. Nicht um den ablösbaren Inhalt könne es daher gehen, sondern um die „Gestalt“, in der Form und Inhalt – noch dichter und unauflösbarer als beim Gedicht – vereint seien79 und die als die „Gestalt des um- und übergreifenden Geheimnisses“ bezeichnet werden könne.80 Daher müsse langsam gelesen und auch auf das einzelne Wort geachtet werden. Notwendig sei „die Freimachung seiner ursprünglichen Sinnlichkeit von der Kruste der geläufigen Abstraktion“81. In der Übersetzung versuchten Buber und Rosenzweig, diese Sinnlichkeit durch eine expressive Sprachgestalt auch im Deutschen zum Ausdruck zu bringen, was bei den Rezipienten viel Begeisterung, aber auch scharfe Kritik hervorrief.82 74

Vgl. BUBER: Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, 11.13f.40f. BUBER: Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, 15. Vgl. auch Rosenzweigs Metapher vom „Fluoreszieren des Gelesenen“ (ROSENZWEIG: Vorwort zu Jehuda Halevi, 11). 76 MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 32. 77 Vgl. BUBER: Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, 3. Vgl. dazu auch ROSENWALD: On the Reception, 160: „Buber and Rosenzweig’s universalist Bible in its universalist aims is also a parochial book, which draws the reader back from an omnilingual Pentecost to the local specifity of Hebrew after Babel.“ 78 BUBER: Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, 6. 79 BUBER: Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, 11. Zu der Gestalt gehört dann u.a. auch der „Rhythmus“ als die „gegliederte Bewegung“ des Textes (12; vgl. auch 16f). 80 BUBER: Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, 17. 81 BUBER: Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, 21. Vgl. auch DEEG: Opfer als ‚Nahung‘, 116f. 82 Vgl. ROSENWALD: On the Reception; vgl. besonders die kritisch das Archaische und Reaktionäre der Übersetzung betonende Rezension von Siegfried Kracauer (KRACAUER: Die Bibel auf Deutsch). Vgl. auch BRENNER: The Renaissance of Jewish Culture, 107, der darauf verweist, dass die Übersetzung in der jüdischen Jugendbewegung stürmisch rezipiert und von jüdischen Theatergruppen inszeniert wurde; vgl. zu neueren Einordnungen auch STERN: Dann bin ich um den Schlaf gebracht, 123f, und vor allem NIEHOFF: The Buber-Rosenzweig Translation. 75

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(3) Bewegung hin zum Leben: Der Leser (oder Hörer) der Schrift solle diese so „vernehmen, als kennte er sie noch nicht“83. Er müsse sich von den „Strahlen“ des Buches treffen lassen.84 Methodisch wirbt Buber dabei für das laute Lesen und die dadurch gegebene Möglichkeit des eigenen Hörens.85 Die Folge eines solchen Hörens werde das Ende aller Beredsamkeit einerseits, das Ende alles „erkenntnislose[n] Respekt[es]“ und aller „anschauungsloser Familiarität“86 andererseits sein. Vielmehr folge aus solchem wahrnehmenden Hören die Nachbildung des Gehörten im Hörer, das Gestalten.87 An dieser Stelle erfolgt der Schritt von der Lektüre in die Ethik: Das Lesen des biblischen Wortes formt das Leben, und es zeigt sich, dass der Weg in die Schrift nach Buber weit mehr bedeutet als bloße Kenntnisnahme eines Gehalts, aber auch weit mehr als bloßes „ästhetisches“ Genießen einer Sprachgestalt.88 Die Aspekte einer neuen Hermeneutik heben sich markant von einer im 19. Jahrhundert verbreiteten meta-skripturalen Hermeneutik ab: Buber (und Rosenzweig) setzen die Partikularität des Textes gegen die Universalität seiner Aussage, die Gestalt des Wortes gegen die Trennung von Inhalt und Form, die Externität der Schrift gegen deren applikative Einebnung und die Ästhetik des Wahrnehmens sowie die Ethik des Nach-Gestaltens gegen jeden instrumentellen Schriftgebrauch.

6.3 Jüdische Renaissance als homiletische Renaissance? Lassen sich neben den Ansätzen einer erneuerten Hermeneutik auch Spuren einer erneuerten Predigt im deutschen Judentum zu Beginn des 20. Jahrhunderts greifen? Sicher kann in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts nicht von einer generellen jüdischen Predigtkrise gesprochen werden. Dennoch sind Aussagen zu finden, die auf einen Niedergang der Popularität der Kanzelrede und spezieller des Konzepts einer modernen jüdischen Predigt, wie 83 BUBER: Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, 4. Vgl. dazu auch SCHOTTROFF: Die Bedeutung der Verdeutschung. 84 BUBER: Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, 4. 85 Vgl. BUBER: Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, 5.8. Vgl. dazu ROSENZWEIG: Die Schrift und das Wort; FISHBANE: The Biblical Dialogue of Martin Buber. 86 BUBER: Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, 5. 87 Vgl. zu dem Begriff der „Nachbildung“ BUBER: Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, 6. 88 Vgl. BUBER: Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift, 3, wo Buber von einer „Einheiligung“ der Schrift im Leser spricht. Die Verbindung von Lesen und Leben, gleichzeitig auch von Denken und Lernen war für Franz Rosenzweig zeitlebens ein wesentliches Anliegen (vgl. ROSENZWEIG: Der Stern der Erlösung, 472; ders.: Brief an Martin Buber vom 20.12.1922, 876; ders.: Brief an Martin Buber vom 14.2.1923, 893; KRACAUER: Die Bibel auf Deutsch, 174).

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es sich im 19. Jahrhundert entwickelte, hinweisen. So beschreibt etwa Caesar Seligmann, von 1889 bis 1902 Prediger am Hamburger Tempel, in einem autobiographischen Bericht, wie er angesichts der schlechten Besuchszahlen der Synagogengottesdienste wenigstens die großen Festtage, anlässlich derer er mit einem gefüllten Tempel rechnen konnte, für besonders gut vorbereitete Predigten nutzen wollte. Seligmann hält dabei an der klassischen, liberalen Predigtweise des 19. Jahrhunderts fest, entwickelt und entfaltet ein Thema und versucht, durch rhetorische Perfektion die Hörerinnen und Hörer zu beeindrucken.89 Andere, wie etwa der orthodoxe Homiletiker Joseph Wohlgemuth, forderten dagegen eine Neukonzeption jüdischer Predigt, die der Derascha wieder ähnlicher werden solle.90 Auf Wohlgemuths Reflexionen aus den Jahren 1903/1904 gehe ich zunächst ein (6.3.1). Im folgenden Unterpunkt stelle ich dann homiletische Perspektiven aus den 1920er Jahren vor (6.3.2).

6.3.1 Joseph Wohlgemuth: „Beiträge zu einer jüdischen Homiletik“ (1903/04) Joseph Wohlgemuth (1867–1942) schreibt: „Es wäre ein Idealzustand, wenn es gelänge, die alte Deraschah in moderner Form auf die Kanzel zu bringen.“91 Damit ist ein leitendes Ziel des am orthodoxen Rabbinerseminar in Berlin lehrenden Homiletikers benannt. Gleichzeitig deutet sich bereits in der Formulierung die synthetische Grundtendenz der Homiletik Wohlgemuths an: Es geht um die „alte Deraschah in moderner Form“. Ein eigentümliches Gemisch aus moderner Psychologie, philosophischer Ästhetik, christlicher Homiletik und jüdischer Tradition durchzieht die in drei Teile gegliederte Homiletik, die nacheinander prinzipielle, formale und materiale Homiletik behandelt.92 Die auffallende Reihenfolge mit der Vorordnung des Formalen vor dem Materialen ist dabei kein Zufall, sondern zeigt das be89 „Großen Wert […] verwendete ich in Hamburg auf meine Predigten zu den Hohen Festtagen, wenn ich einen voll gefüllten Tempel hatte; ich arbeitete oft viele Wochen. Meine besten Gedanken legte ich in sie hinein, und jedes Wort derselben, kann ich wohl sagen, war stilistisch gefeilt und gedanklich überlegt. Ich bildete für mich einen neuartigen Aufbau der Predigt aus, indem ich ein Thema – und alle meine Predigten waren thematisch, auch wenn ich in der Regel einen Text verwendete – zuerst negativ, dann positiv, zuerst mit allen Argumenten dagegen, dann aber mit viel stärkeren Argumenten dafür behandelte.“ (zitiert bei BRÄMER: Judentum und religiöse Reform, 230; vgl. allgemeiner zum Niedergang der Bedeutung der Predigt am Beispiel der Hamburger Situation: 79). 90 Vgl. WOHLGEMUTH: Beiträge zu einer jüdischen Homiletik; vgl. dazu KOBER: Jewish Preaching and Preachers, 125. 91 WOHLGEMUTH: Beiträge zu einer jüdischen Homiletik, 98. 92 Vgl. WOHLGEMUTH: Beiträge zu einer jüdischen Homiletik, 1–26 [Ueber den Zweck der Predigt]; 27–84 [Ueber die Form der Predigt]; 85–107 [Ueber den Inhalt der Predigt].

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sondere Gewicht, das Wohlgemuth der Ästhetik der Predigt zukommen lässt. Predigt sei ein „Kunstwerk“, der Prediger ein „Künstler“93, so betont Wohlgemuth und schließt sich in seiner Bestimmung des Kunstwerks als ästhetisch Schönem vor allem Kant an.94 Neben der Ästhetik prägt die um die Jahrhundertwende populäre Psychologie Wohlgemuths Homiletik wesentlich.95 Die Anregung des religiösen Gefühls mit dem Ziel der Beeinflussung des Willens der Hörer – so umschreibt Wohlgemuth mehrfach das Ziel der Predigt, wobei er das spezifisch jüdische religiöse Gefühl näher dadurch charakterisiert, dass es in einer Doppelbewegung von „Demut“ und „Erhebung“ existiere.96 Wohlgemuth rekurriert dabei explizit auf die jüdische prophetische Tradition: Zwar sei der Prediger kein Prophet, aber er versuche wie dieser den Willen durch eine Anregung spezifisch religiösen Gefühls zu beeinflussen.97 Implizit aber erscheinen andere Anleihen gewichtiger – etwa an Schleiermacher mit seiner Unterscheidung zwischen einem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, das der „Erhebung“ Wohlgemuths nahe kommt, und einem geteilten Freiheits- und Abhängigkeitsgefühl entsprechend der „Demut“ in Wohlgemuths Konzept. Auch lassen sich Nähen zu Niebergalls 1902 erschienener Homiletik unschwer ausmachen, der „Motive“ (vgl. „Demut“) und „Quietive“ (vgl. „Erhebung“) unterscheidet.98 Nicht nur in den jüdischen „Grundgefühlen“ von Demut und Erhebung sieht Wohlgemuth das Spezifische jüdischer Predigt, sondern auch in der sprachlichen Prägung der Predigtrede von der Bibel her99 sowie in der Orientierung des Predigers an der jüdischen Gemeinde und deren „Freude am Denken“100. An dieser Stelle wird die Derascha für Wohlgemuth als Paradigma bedeutsam. Diese habe in ihrer mittelalterlichen Ausprägung als spezifisch religiöse Rede zu denken gegeben. Dabei setzte sie allerdings weitreichende Kenntnisse in Bibel und Midrasch voraus, die gegenwärtig nicht mehr vorhanden seien. Es könne daher nur darum gehen, „die alte Deraschah in abgeschwächter Form wieder aufleben zu lassen, das Denken der Hörer zu beschäftigen“101. Dazu könne der Midrasch auch in materialer Hin93

Vgl. z.B. WOHLGEMUTH: Beiträge zu einer jüdischen Homiletik, 43.67 u.ö. Vgl. WOHLGEMUTH: Beiträge zu einer jüdischen Homiletik, bes. 46–48; BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, 117–119. 95 Vgl. nur WOHLGEMUTH: Beiträge zu einer jüdischen Homiletik, 17 Anm. 1 (Rekurs auf Höffdings Grundzüge der Psychologie); vgl. 20f (Betonung der Bedeutung des „Unbewusste[n]“). 96 WOHLGEMUTH: Beiträge zu einer jüdischen Homiletik, 86; vgl. insg. 86–96. 97 Vgl. WOHLGEMUTH: Beiträge zu einer jüdischen Homiletik, 8–10.22–26. 98 Vgl. NIEBERGALL: Wie predigen wir dem modernen Menschen, bes. 133–144. 99 Vgl. WOHLGEMUTH: Beiträge zu einer jüdischen Homiletik, 57–60. „[…] die homiletische Sprache wird nur dann schön sein, wenn sie biblisch ist.“ (57). 100 WOHLGEMUTH: Beiträge zu einer jüdischen Homiletik, 96; vgl. zur Orientierung an den Hörern auch 32.82 u.ö. 101 WOHLGEMUTH: Beiträge zu einer jüdischen Homiletik, 98 [Hervorhebung im Original]. 94

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sicht Verwendung finden: Wohlgemuth stellt einige Beispiele midraschischer Texte vor Augen, die zeigen, wie durch die Interpretation des „feinsinnige[n], begeisterte[n] und gelehrte[n]“ Predigers der alte Midrasch neu zu sprechen anfange.102 Interpretation bedeutet dabei für Wohlgemuth die Festlegung der Aussage des Midrasch, die Bestimmung seines Sinns.103 Insgesamt zeigt sich, dass Wohlgemuth den Versuch der Neukonzeption einer spezifisch jüdischen und gleichzeitig modernen Predigt unternimmt. Allerdings bleibt das spezifisch Jüdische blass und formal (Demut und Erhebung!), was auch für Wohlgemuths Midrasch-Rezeption gilt, die diesen einerseits als Stichwortgeber für eine Predigt sieht, die zu denken gibt, ihn andererseits als Materialsammlung für die Predigt verwenden möchte. Demgegenüber fragt Wohlgemuth – trotz seiner vielen Anleihen aus der Kunst – nicht nach der Gestalt einer spezifisch jüdischen Predigt jenseits der Übernahme der Strukturen der Predigt des 19. Jahrhunderts. Letztlich führt er daher hermeneutisch und homiletisch die Wege des 19. Jahrhunderts fort.

6.3.2 Homiletische Perspektiven in den 1920er Jahren Auch in den 1920er Jahren lässt sich kein Aufbruch einer erneuerten jüdischen Predigt in Deutschland konstatieren. Vielfach wurde der Weg des 19. Jahrhunderts, wie er sich erst einige Jahre vorher in homiletischen Lehrbüchern niedergeschlagen hatte, fortgesetzt. Eine junge Generation allerdings belächelte diese homiletischen Versuche nicht selten104 und suchte nach neuen Wegen, die häufig in die Richtung einer Neuentdeckung der Predigt als Lehre führten.105 Damit grenzte man sich klar gegen das – noch von Maybaum in seiner Homiletik hochgehaltene – Konzept der Predigt als „Erbauung“ ab. Inhalt dieser Lehre konnte erneut auch die jüdische Tradi102

WOHLGEMUTH: Beiträge zu einer jüdischen Homiletik, 105; vgl. auch 102–104. Vgl. die Vorstellung der Beispiele aus dem Midrasch (WOHLGEMUTH: Beiträge zu einer jüdischen Homiletik, 102–104) und Wohlgemuths Wendungen: dies „bedeutet“ (102); die Rabbinen „wollen […] damit sagen“ (102), dies sei „wirklich der Sinn des obenerwähnten rabbinischen Ausspruchs“ (103), es gehe um einen „Gedanken“ (103), der unterschiedlich ausgesprochen werden könne. 104 Vgl. UCKO: Der Rabbiner in der Kleingemeinde, 73: „In ihrem Bewusstsein [dem Bewusstsein einer jungen Rabbinergeneration, AD] stand die Predigt durchaus nicht mehr so im Mittelpunkt, und auf die Regeln der Homiletik, die in den Rabbinerseminaren immer noch gelehrt wurden, blickte man schon mit einer gewissen Ironie.“ Vgl. zu zeitgleichen Veränderungen im Verständnis des Rabbinats auch ESCHELBACHER: Eine Krisis im rabbinischen Berufe; JOSPE: A Profession in Transition. 105 Vgl. dazu z.B. den Beitrag von BLOCH: Volksbildung, in dem er der Entwicklung von Derascha und Haggada nachgeht und diese in den Duktus der Bildung einordnet: Der eigentliche Sinn der Predigt sei die „Volksbelehrung“ gewesen (104 [Hervorhebung im Original]). 103

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tionsliteratur werden – Talmud und Midrasch.106 Sinai Ucko schreibt: „Der junge Rabbiner [der 1920er Jahre, AD] […] strebte danach, die Predigt häufig durch einen Lehrvortrag zu ersetzen, um so auch in ziemlich entjudeten [sic!] Gemeinden an die alte Tradition des ‚Lernens‘ anzuknüpfen. So sah sich der Rabbiner sehr wesentlich als ‚Erwachsenenlehrer‘.“107 – Einige homiletische Perspektiven aus den 1920er Jahren trage ich in den folgenden drei Punkten zusammen, indem ich auf Leo Baeck (1) und Franz Rosenzweig (3) und deren Aussagen über die Predigt sowie auf den Prediger Nehemia Anton Nobel (2) blicke. (1) Besonders bei Leo Baeck (1873–1956) lässt sich eine Orientierung der Predigt am Paradigma der Lehre greifen. Baeck war Lehrer und blieb dies zeitlebens – sogar im Konzentrationslager Theresienstadt hörte er nicht auf, Lehrer für die dort Inhaftierten zu sein. Gemäß seiner Auffassung, wonach im Judentum „romantische“ und „klassische“ Religion, Geheimnis und Gebot immer miteinander verbunden sein müssten,108 konzipierte er Predigt als Lehre in genau dieser Verbindung.109 So grenzt sich Baeck in einem 1928 für den „Jewish Guardian“ geschriebenen Artikel mit der Überschrift „Predigt und Wahrheit“110 von der Auffassung ab, dass das Judentum vor allem eine Religion „des Wortes und der Rede“ sei.111 So sei dies häufig mit Verweis auf die Propheten verstanden worden, aber: „Die Propheten sind nicht Propheten dadurch gewesen, daß sie predigten, sondern umgekehrt: weil sie Propheten waren, darum durften, darum mußten sie predigen.“112 Predigt könne daher nicht von der Person und von derem Handeln abgelöst und auf die Ebene des reinen Wortes transferiert werden. Eine zweite Problematik erkennt Baeck bei vielen Bestimmungen dessen, was Predigt ausmache. Man sage, „daß sie ‚modern‘ und ‚von heute‘, daß sie zeitgemäß, ‚up to date‘ sein will. Aber wenn der Religion […] irgend etwas widerspricht, so ist es dieses Attribut ‚von heute‘“113. Judentum sei immer unzeitgemäß. Dies bedeutet für Baeck nun aber nicht, dass sich das Judentum von der kulturellen, gesellschaftlichen oder politischen Entwicklung zurückziehen solle; vielmehr gehe es darum, dass ihm die – durchaus auch widerständige – Tora als entscheidende und bleibende Aufgabe gegeben sei. Das Judentum müsse „um die Tafeln des Bundes“ ringen114, d.h. 106

Vgl. nur ALTMANN: The German Rabbi, 44. UCKO: Der Rabbiner in der Kleingemeinde, 73f. 108 Vgl. BAECK: Romantische Religion. 109 Vgl. KOBER: Jewish Preaching and Preachers, 126. 110 Vgl. BAECK: Predigt und Wahrheit. 111 BAECK: Predigt und Wahrheit, 310. 112 BAECK: Predigt und Wahrheit, 310. 113 BAECK: Predigt und Wahrheit, 312. 114 BAECK: Predigt und Wahrheit, 322. 107

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der Tradition in der Gegenwart immer neu nachgehen und in diesem Sinne die Lehre pflegen. Eine Predigt als Lehre entfalte sich daher im Blick auf das Leben der Gegenwart und im Kontext der Tradition; Baeck kann sie (bereits in einer Rede im Jahr 1913) insgesamt als „nachschaffende Beredtsamkeit“ verstehen.115 (2) Bei dem Frankfurter Rabbiner Nehemia Anton Nobel (1871–1922)116 sah Baeck eine Predigt realisiert, die Geheimnis und Gebot, „Mystik und Halacha“ verbindet.117 Auch andere Zeitgenossen vernahmen bei Nobel eine neue und andersartige Predigt – etwa Franz Rosenzweig, der in dem in Frankfurt/Main wirkenden orthodoxen Rabbiner den schlechthin herausragenden Prediger seiner Zeit sah.118 Über die orthodoxe Gemeinde hinaus zog Nobel mit seiner anderen Art der Predigt zahlreiche Hörer an.119 Wenn überhaupt irgendwo, so lässt sich wohl bei Nobel wahrnehmen, wie eine im Kontext hermeneutischer Renaissance nach dem Ersten Weltkrieg veränderte Homiletik predigtpraktisch Gestalt gewinnen konnte. Der einzige mir vorliegende Predigtband Nobels stammt aus dem Jahr 1912 und zeigt ihn als einen Prediger, der sorgfältig mit der Sprache umgeht, rhetorisch eindringlich predigt und zahlreiche biblische sowie rabbinische Aussagen explizit in seine Predigten aufnimmt.120 Um ein Bild von dem Prediger Nobel zu erhalten, das nicht nur die wenigen schriftlich überlieferten Texte seiner Predigten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, sondern auch seine Predigerpersönlichkeit einbezieht, gehe ich im Folgenden einen indirekten Weg und blicke auf die Aussagen von Hörern seiner Predigt. Etwa ein Jahr nach seinem plötzlichen und unerwarteten Tod entstand ein Buch mit einer Sammlung von Nachrufen auf den Rabbiner Nobel. Teilweise handelt es sich um Texte, die unmittelbar beim Trauergottesdienst in der Synagoge am Börneplatz am 02.02.1922 verlesen wurden,121 teilweise um Ansprachen bei der Gedächtnisfeier zehn

115

Vgl. BAECK: Griechische und jüdische Predigt, 152. Es handelt sich bei diesem Vortrag um Baecks Antrittsrede an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums (04.05.1913). 116 Nobel war Student am orthodoxen Berliner Seminar, studierte aber auch bei Wilhelm Dilthey an der Berliner Fakultät, ab 1900 dann auch bei Hermann Cohen in Marburg. In seinen verschiedenen religionspolitischen Stellungnahmen war er stets auf Ausgleich bedacht. So konnte er 1919 auch zum Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Rabbinerverbandes werden (vgl. zu diesen Angaben GOTZMANN: Art. Nobel; JAY: 1920: The Free Jewish School, 396). 117 BAECK: Nehemia Anton Nobel, 266. 118 Vgl. SIMON: N. A. Nobel, 88f. 119 Vgl. SIMON: N. A. Nobel, 85. 120 NOBEL: Fünf Reden. 121 Vgl. Dr. Julius Blau (in: Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel: 5–7) und Dr. Jacob Horovitz (8–19).

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Tage später122 und schließlich um eine Sammlung von im Blick auf ihre Quellen nicht näher belegten weiteren Nachrufen.123 Die wenigen Texte umreißen ein Bild des Rabbiners, das diesen – dem Charakter des „hesped“ (der jüdischen Trauerrede) entsprechend – in den höchsten Tönen lobt. Gleichzeitig zeigen sie Spuren einer homiletischen Charakterisierung Nobels, die ich in drei Aspekten zusammenfasse. Ich spreche von dem Prediger Nobel als dem Propheten, dem Lehrer und dem Künstler. (a) Der Prophet: Nobels Predigt grenzte sich ab von purer Emotionalität einerseits, purer Rationalität andererseits124 und stand – so Jacob Horovitz – im Kontext der allgemeinen Wende zum „Irrationalen“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts: „Längst, bevor die neuere Wissenschaft sprach von dem Irrationalen und Numinosen, von dem fascinosum und tremendum, hast du in ihm eine der Wurzeln des Religiösen erkannt […]“125. Die Predigt Nobels schien in der Lage, für das „Numinose“ Zeugnis zu geben, da sie nicht – so Isaak Heinemann – eine „begriffene Lehre“ zum Ausgangspunkt gehabt habe, sondern der Prediger „zum Zeugen eines Geistes“ geworden sei, „der ihn ergriffen“ habe.126 Als Nobel die Stelle als Rabbiner in Frankfurt annahm, bezog er sich selbst auf den prophetischen Geist und antwortete auf die Frage, ob er bereit zur Übernahme des Frankfurter Rabbinats sei, mit dem Satz: „Ja. Jesaja 61,1!“127 („Der Geist des HERRN ist auf mir, weil der HERR mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen […]“). Zeitgenossen meinten, man habe an Nobel „die Propheten und den Charakter des Prophetismus erlebt“128. Vielleicht war dies auch eine Folge dessen, dass Nobels Predigtrede nicht einfach im Vortrag eines fertigen Konzepts bestand, sondern sich erst auf der Kanzel vollendete. So bemerkt Franz Rosenzweig, dass Nobel in der „Einsamkeit seines Studierzimmers“ niemals Antworten hatte; es sei ihm „erst dann, wenn er vor den Vielen auf der Kanzel seines Gotteshauses stand, Antwort und Lösung geschenkt“ worden.129 „Er ‚hatte‘ sie [die Lösung, AD] nicht, aber er durfte sie geben.“130

122

Vgl. Dr. Richard Merzbach (in: Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel: 20f); Caesar Seligmann (22–27) und Dr. Leo Baeck (28–32). 123 Vgl. Jacob S. Posen (in: Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel: 33f); Dr. Isaak Heinemann (35–39); Cand. phil. Fritz Goitein (40–43) und Franz Rosenzweig (44–46). 124 Vgl. Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel: 35 (Heinemann). 125 Vgl. Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel: 9 (Horovitz). 126 Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel: 38 (Heinemann). 127 Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel: 6 (Blau). 128 Vgl. Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel: 6 (Blau) [Hervorhebung im Original]. 129 Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel: 45 (Rosenzweig). 130 Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel: 45 (Rosenzweig) [Hervorhebung im Original].

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(b) Der Lehrer: Julius Blau bezeichnet Nobel zusammenfassend als „Lehrer und Künder seines [Gottes, AD] Wortes“.131 Diese klassische Aufgabe des Rabbiners habe Nobel – so betont Jacob Horovitz – deshalb so gut ausführen können, da er selbst zeitlebens „Lernender“ gewesen sei.132 Besonders Franz Rosenzweig zeigte sich von dem Lehrer Nobel begeistert. Die Klarheit der Gedanken und die intellektuelle Durchdringung habe er bisher auf der jüdischen Kanzel stark vermisst, bei Nobel aber wiedergefunden. „Jener intellektuelle Zug, der der jüdischen Drosche gegenüber der wesentlich ‚erbaulichen‘ christlichen Predigt ihr eigentümliches Gesicht gibt, kehrte darin [in Nobels Predigt, AD] in einer modernisierten Form wieder.“133 Gleichzeitig konnte Rosenzweig den Frankfurter Prediger als einen Sprachlehrer sehen, der zeigte, wie sich eigene Sprache mit der Sprache der Bibel verbinden und so zu einer neuen Sprache werden konnte.134 Horovitz betont darüber hinaus, dass Nobel predigend zu einem Lehrer des Gebets geworden sei, da er es verstanden habe, die Predigt zu einem Teil des Gottesdienstes werden zu lassen: „Deine Predigt schien deinen Hörern wie eine Erläuterung der Gebete, selber wie ein großes Beten, denn worüber du auch sprachst, was du auch anfaßtest, es wurde in deinen Händen ein Gottesdienst.“135 (c) Der Künstler: Zuhörer beschrieben Nobels Predigt als „hinreißend“136 oder als ein „Erlebnis“137. Dies ist wohl vor allem auf Nobels sprachliche Fähigkeiten zurückzuführen. Leo Baeck bemerkte, Nobel habe zu einer „eigene[n] Sprache“ gefunden: „Denn jeder Mensch, der zum Schöpferischen gelangt […], beginnt gleichsam ‚ein neues Lied dem Ewigen zu singen‘.“138 Ganz ähnlich formuliert auch Caesar Seligmann: „Melodien blühten auf seinen Lippen, wenn er sprach. Hymnen waren seine Predigten. […] Er rang mit der Sprache, als sagte er zu ihr: Ich lasse dich nicht, du habest mich denn gesegnet mit deiner letzten Schönheit, deiner letzten Tiefe.“139 Für Isaak Heinemann ergab sich die Sprachkunst Nobels aus seiner Be131

Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel: 5 (Blau). Vgl. Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel: 12.15 (Horovitz). 133 Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel: 44 (Rosenzweig). 134 Vgl. Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel: 44 (Rosenzweig). 135 Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel: 15 (Horovitz). Ähnlich äußerte sich auch ROSENZWEIG: Rez. zu: Cohn, Emil, 676: „Wenn er [Nobel, AD] oben [auf der Kanzel, AD] stand, war die Gemeinde ihm nicht der heiß und vergeblich umworbne Zuhörer, sondern sie war nur da, um ihn emporzutragen. Er aber stand dann unmittelbar vor dem Angesicht. So konnte er es ansprechen, so konnte er beten. Wir sahen nicht zu, wir waren in seinem Gebet, wie die Worte und Buchstaben darin waren. So trug er uns mit.“ 136 Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel: 40 (Goitein). 137 Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel: 23 (Seligmann). 138 Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel: 29 (Baeck). 139 Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel: 26f (Seligmann). 132

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schäftigung mit Goethe; charakteristisch für ihn sei es gewesen, „[…] daß Nobel nie ‚über‘ irgend welche Dinge spracb [sic!], so wenig wie Goethe ‚über‘ Iphigenie oder Tasso gedichtet hat. Stoffe behandeln mag und soll der Gelehrte. Der Künstler strömt sein Wesen aus dem Stoff“140. Auffallend ist – und dies beobachteten vor allem Caesar Seligmann und Franz Rosenzweig –, dass der Künstler Nobel auf sein „Publikum“ keinerlei Rücksicht zu nehmen schien.141 Rosenzweig beschreibt die faszinierende Abgewandtheit des Predigers Nobel und charakterisiert die letzte Predigt, die er von ihm hörte (zu Kohelet), wie folgt: „Er sprach fast die ganze Predigt in ruhigem Ton, wohl eine Stunde lang. Es war, als ob er mit jemandem redete. Aber dieser Jemand saß nicht unter uns. Plötzlich merkte ich: er sprach wirklich nicht zu uns, er redete ja in jedem Satz Kohelet unmittelbar an, er sprach nicht über, er sprach mit Kohelet. Und nun sah auch ich ihn [Kohelet, AD; …]“142. Der Sprachkünstler inszeniert – so deute ich Rosenzweigs Aussage – einen Dialog mit der Schrift, in dem es geschehen kann, dass der Hörer zum Beteiligten wird. Mit einer Metapher könnte seine Predigt bezeichnet werden als eine Predigt in Gegenwart des brennenden Dornbusches: „Am letzten Sabbath deines Lebens“, so Rabbiner Jacob Horovitz in seiner Rede beim Trauergottesdienst, „sprachst du zu der Gemeinde von dem brennenden Dornbusch. Der Engel in der Feuerflamme stand dir selber zuseiten. Du verstandest das Wort: ‚ich will das große Wunder sehen, daß der Dornbusch brennt und dennoch nicht verzehrt wird‘. […] Du hörtest die Stimme, die einst Moses erklungen ist, die Stimme, die den Menschen ruft, bei seinem Namen ruft, immer und immer wieder ruft ‚Moses, Moses!‘, bis sie ihn erfaßt und erreicht.“143 (3) Auch Franz Rosenzweig war – wie gezeigt – ein begeisterter Anhänger der Predigt Nobels. Dies erscheint insofern verwunderlich, als sich Rosenzweig eigentlich als vehementer Kritiker der Institution Predigt sah und demgegenüber die Liturgie mit ihren geprägten Texten für entscheidend hielt.144 In den wenigen expliziten Aussagen Rosenzweigs zur Predigt wird 140

Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel: 37 (Heinemann). Vgl. Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel: 25 (Seligmann). An diesem Punkt etwa zeigt sich ein gewaltiger Unterschied zu Jellinek als einem ansonsten in vieler Hinsicht durchaus vergleichbaren „Kanzelereignis“. 142 Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel: 45f (Rosenzweig) [Hervorhebungen im Original]. 143 Nachrufe auf Rabbiner N. A. Nobel: 10 (Horovitz). 144 Besonders kritisierte er den verzweifelten Versuch der Predigt, aktuell sein zu wollen, sowie die Effekthascherei, die das Individuum des Predigers in den Mittelpunkt rücken wolle (vgl. nur ROSENZWEIG: Rez. zu: Cohn, Emil, 672f; ders.: Brief an Eugen Mayer vom 26.9.1928, 1199). Einmal bezeichnet er sich als „Verächter aller Predigten“ (ders.: Brief an Gertrud Oppenheim vom 6.10.1921, 726), der nun aber durch Nobel eines Besseren belehrt sei und ausgerechnet wegen der Predigt in die Synagoge gehe. 141

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deutlich, dass er diese auf die Lesung des biblischen Textes in liturgischem Kontext fokussieren möchte. Die hebräischen Worte der Liturgie seien es, die den Weg bahnen in das Eigentliche jüdischer Existenz. Besonders deutlich macht Rosenzweig dies bereits im „Stern der Erlösung“: Jüdisches Gebet zeichnet er dort ein in die umgreifende Bewegung von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung.145 Im Angesicht dieser Bewegung gelte: „Das Wort selber muß den Menschen dahin führen, daß er gemeinsam schweigen lerne. Der Anfang dieser Erziehung ist, daß er lerne zu hören.“146 Entscheidend wird die Externität des anderen Wortes, das auf den Menschen zukommt, von ihm gehört und im Schweigen beantwortet werden will. Die Predigt drohe dieses Wechselspiel von Wort und Antwort zu zerstören. In ihr sieht Rosenzweig die Gefahr, dass sie nicht zu einem Hören im schweigenden Einverständnis führt, sondern wie die politische Rede zu einem Hören mit Widerrede. Daher müsse für den im Gottesdienst Redenden gelten, dass er nicht seine eigenen Worte sage, sondern sich zurücknehme. Letztlich müsse der Prediger zum „Vorleser“ werden und „hinter das verlesene Wort“ zurücktreten.147 Daraus folgt für Rosenzweig die unbedingte Textbindung der Predigt148 und die Tatsache, dass sie nicht Rede, sondern (in spezifischem Sinne) „Exegese“ sein solle: „[…] die Verlesung des Schriftworts ist die Hauptsache; denn in ihr allein wird die Gemeinsamkeit des Hörens und damit der feste Grund aller Gemeinsamkeit der Versammelten geschaffen.“149 Eine ähnliche Erfahrung scheint Rosenzweig beim Hören der Kohelet-Predigt Nobels gemacht zu haben. Zusammenfassend wäre es sicher falsch, von einer umfassenden homiletischen Renaissance in der Zeit der Weimarer Republik zu sprechen. Ein Ungenügen an der aus dem 19. Jahrhundert überkommenen modernen Predigt mit ihrer meta-skripturalen Hermeneutik und einzelne Neuansätze hin zu einer dezidierter jüdischen Predigt lassen sich aber durchaus wahrnehmen. Es ist ein Teil der Dramatik des Abbruchs dieser Renaissance-Entwicklungen in Deutschland durch die Judenverfolgung im Nationalsozialismus, dass damit auch die herausfordernden Ansätze zur Erneuerung der Predigt nicht mehr weiter verfolgt werden konnten.

145

Vgl. nur ROSENZWEIG: Der Stern der Erlösung, 326f. ROSENZWEIG: Der Stern der Erlösung, 343. 147 ROSENZWEIG: Der Stern der Erlösung, 343. 148 Vgl. ROSENZWEIG: Der Stern der Erlösung, 343f. 149 ROSENZWEIG: Der Stern der Erlösung, 344. Vgl. zur Bedeutung des Wortes für die Schaffung der Gemeinschaft auch 397f.402. 146

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6.4 „Neuer Midrasch“ und „alte“ Lehre: Jüdische Predigt im Dritten Reich und zur Zeit der Schoa Die Schoa bedeutete für das Judentum in Deutschland das grausame Scheitern eines Weges der gesuchten Verbindung von „Deutschtum“ und Judentum, der Emanzipation und Akkulturation. Für das weltweite Judentum bedeutete sie das Ende einer Epoche. „We […] are no longer modern Jews“ – mit dieser Formel beschrieb Arthur Green die Wende.150 Welche Bedeutung hatte jüdische Predigt während der Zeit des NS-Regimes und in der Schoa?151 Bei aller Vorsicht angesichts der Quellenlage lässt sich sagen, dass jüdische Predigt im Dritten Reich eher wieder an Bedeutung gewann.152 Sie stand vor der Aufgabe, herausgeforderten Gemeinden Trost zuzusprechen und Halt zu bieten in einer Zeit – wie Max Nussbaum eindrücklich schildert –, in der man während eines Sabbat-Gottesdienstes niemals wissen konnte, wer von den Betenden in der nächsten Woche noch anwesend sein würde.153 Zwei Predigtweisen scheinen angesichts der Herausforderungen besonders bedeutsam geworden zu sein, die beide unterschiedlich einen Anschluss an die Tradition des Midrasch und der Derascha signalisieren, im ersten Fall eher (!) formal („neuer Midrasch“), im zweiten eher (!) inhaltlich („alte“ Lehre). (1) „Neuer Midrasch“: Den Begriff „neuer Midrasch“ prägte Ernst Simon in seinem 1956 erschienenen Buch zur jüdischen Erwachsenenbildung im Dritten Reich.154 Gemeint ist damit ein Rückgriff auf indirekte, midraschische Redeweise in einer Situation der geistigen Auseinandersetzung „der Juden als verfolgte[r] Minderheit mit der feindlichen Umwelt“155. Die Gegner, hier die Nationalsozialisten, im rabbinischen Midrasch die Römer, mussten in Predigt und Lehre nicht explizit benannt werden. Es genügte, Bibelworte, in denen von Israels Bedrückung etwa durch Edom die Rede 150 GREEN: Introduction, xv. Green hat in diesem Satz die Jahre 1933 und 1945, aber auch die für die Geschichte des Staates Israel entscheidenden Jahre 1948 (Staatsgründung) und 1967 (Sechs-Tage-Krieg) im Blick. Vgl. auch GRAUPE: Die Entstehung, 367, und insgesamt GUROCK: America. 151 Vgl. zu einem allgemeinen Überblick über das Judentum zur Zeit der Schoa GARBER: Art. Holocaust. 152 Vgl. z.B. WEILER: Rabbi Paul Lazarus. 153 Vgl. NUSSBAUM: in: YLBI 19, 1974, 60. 154 SIMON: Aufbau im Untergang. Die Arbeit Simons beschäftigt sich – wie der Untertitel sagt – mit „Jüdischer Erwachsenenbildung im nationalsozialistischen Deutschland“ in ihrer Vorgeschichte, in ihren institutionellen Voraussetzungen und in ihrem Wesen als „neuer Midrasch“ (vgl. dazu 76–91). Vgl. auch BRENNER: The Renaissance of Jewish Culture, 214–216; WASHBURN: Interview, 9. 155 HEUBERGER/BACKHAUS: Einleitung, 8.

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ist, zu zitieren und midraschisch zu befragen, um damit Aussagen über die gegenwärtige Bedrückung der jüdischen Bürger durch die Nationalsozialisten zu machen. Oder davon zu sprechen, dass vor Gott 1000 Jahre wie ein Tag seien, um – ohne ein direktes Wort zu sagen – die nationalsozialistischen Ideen eines 1000-jährigen Reiches zu konterkarieren.156 Applikation konnte implizit erfolgen: „Eine verfolgte Minorität schaffte sich im Midrasch schon zur Zeit seiner Entstehung eine Binnensprache für die Auseinandersetzung mit der Außenwelt, die der Gegner selten, der Volks- und Glaubensgenosse immer verstand.“157 Aus einer der wenigen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs erhaltenen jüdischen Predigten zitiert Marc Saperstein. Rabbi Israel Spira trug zum Passafest 1942 im Konzentrationslager Bergen-Belsen eine Derascha vor, die sich auf die vier Fragen der Passa-Haggada bezieht. Die Frage „Warum ist diese Nacht anders als alle anderen Nächte?“ beantwortet Spira dabei so: weil sie dunkler und das Leiden aussichtsloser ist als je zuvor.158 Die dunkle Nacht in Ägypten spricht Spira mit der vielleicht noch dunkleren Nacht von Bergen-Belsen zusammen. Die Zeiten überlagern sich – und im Blick auf die Fortsetzung der Passa-Haggada wird die Dunkelheit der Nacht so zur vielleicht einzig noch möglichen Sprachhilfe für einen Funken der Hoffnung auf die Möglichkeit der Veränderung der Dunkelheit, auf das neue Licht des Morgens des Auszugs aus der Gefangenschaft. Eine andere Art des „neuen Midrasch“ texteten, komponierten und inszenierten Franz Werfel (1890–1945), Kurt Weill (1900–1950) und Max Reinhardt (1873–1943) mit ihrem szenischen Oratorium „Der Weg der Verheißung“. Die Initiative dazu ging zurück auf den in Polen geborenen zionistischen Aktivisten Meyer W. Weisgal und auf das Jahr 1933. Weisgals Ziel war es, ein Kunstwerk zu schaffen, das der zionistischen Bewegung dienen und sich als Antwort auf Hitler verstehen sollte. Von 1934 bis 1936 entstanden Text und Musik,159 am 07.01.1937 kam es in New York zur Uraufführung. Trotz des Erfolgs dieser Uraufführung musste „The Eternal Road“ – wie der englische Titel lautete – bereits am 15.05. wieder abgesetzt werden. In deutscher Sprache wurde das Stück erstmals 63 Jahre später, am 13.06.1999, im Opernhaus Chemnitz aufgeführt.160 Der „Weg der Verheißung“ kann in doppelter Hinsicht als „neuer Midrasch“ gelesen werden. (a) Zum einen erzählt das Werk biblische Geschichte von Abraham bis zu den Propheten nach und erinnert an die kreative Geschichtsschreibung der rabbinischen 156

Vgl. BAERWALD: Paul Lazarus, 17. SIMON: Aufbau im Untergang, 76f. Simons Begriff des „Neuen Midrasch“ betont zu Recht, dass die Schriftauslegung im Midrasch nur implizit appliziert (vgl. oben Kap. 3.2.2.4 und unten Kap. 14.1.3); andererseits erscheint er hermeneutisch insofern problematisch, als er zentral auf die Verhüllung des eigentlich Gemeinten verweist (vgl. 85; Simon spricht auch vom „Vorhang des Midrasch“ [87]). Eine Midrasch-Hermeneutik, die hinter den Worten die eigentliche Bedeutung vermutet, deutet sich hier an. 158 Vgl. SAPERSTEIN: „Your Voice […]“, 21. 159 Franz Werfels Text erschien zuerst im Jahr 1935 (vgl. WERFEL: Der Weg der Verheißung, 509). 160 Vgl. ABELS: Von den Mühen eines Bibelspiels, 141–143, und insg. LOOS: Kurt Weill. 157

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Midraschim. Franz Werfels Textvorgabe bleibt dabei dicht an den Worten der Bibel; in weiten Teilen handelt es sich formal um eine Montage biblischer Texte.161 So schreibt Werfel in dem Anfang 1934 entstandenen Begleitwort zum „Weg der Verheißung“: „Der vorliegende Versuch will keine Dichtung sein, sondern ein dienendes Werk. Er wurde unternommen, um Gott durch sein eigenes Wort zu loben und vor der Welt den ewigen Plan darzustellen, der Israel auferlegt ist. Zu diesem Zwecke war es notwendig, im Bibelspiel das biblische Wort selbst und keine erfundene Poesie sprechen zu lassen.“162 Ziel Werfels ist es, den „Weg der Geschichte“ des biblischen Volkes als „Weg des Geheimnisses“ darzustellen – unter Aufnahme der Worte der Schrift.163 Wie im rabbinischen Midrasch kommt es auch in Werfels Montage nicht zur bloßen linearen Nacherzählung der Bibel, sondern zur intertextuellen Verbindung unterschiedlicher Bibelstellen. Etwa dort, wo nach der Abwendung des Opfers Isaaks ein jauchzender Engel Gen 1,1 anstimmt,164 Jesaja und Jeremia mit Kernsätzen ihrer jeweiligen Prophetie nebeneinander auftreten165 oder Worte der Psalmen als Lieder in die Handlung eingeflochten werden166. (b) Zum andern inszeniert der „Weg der Verheißung“ die für den Midrasch grundlegende Simultaneität der Zeiten.167 Franz Werfels Text beginnt nach der Nennung des Titels mit der Szenenanweisung: „Dieses Bibelspiel ereignet sich unter einer zeitlosen Gemeinde Israel in einer zeitlosen Nacht der Verfolgung.“168 Dieses Transzendieren der Zeiten zeigt sich in der dramatischen Polyphonie, die das Stück charakterisiert: In der Synagoge einer zeitlosen Gemeinde wird in einer Verfolgungssituation die Tora eine ganze Nacht lang gelesen; während dieser Lesung wird auf einer anderen Ebene der Bühne das Gelesene im Theater sichtbar.169 Die Rezensenten erkannten das inszenierte Ineinander der Zeiten durchaus,170 waren sich aber uneins über die Wertung des Stücks im Blick auf die aktuelle politische Situation. Manche hoben positiv hervor, dass das Stück keine unmittelbaren politischen Anspielungen enthalte; andere vermissten genau dies.171

(2) „Alte“ Lehre: 1933 provozierte Karl Barth mit seinem Ausspruch, es sei jetzt nötig, „Theologie zu treiben“, „als wäre nichts geschehen“.172 Es sei 161

Vgl. zum Begriff der Montage ABELS: Von den Mühen eines Bibelspiels, 136f. WERFEL: Der Weg der Verheißung, 509. 163 WERFEL: Der Weg der Verheißung, 510; vgl. z.B. die Worte des aus der Tora vorlesenden Rabbiners an die Synagogengemeinde: „Wir sollen uns erinnern. […] Bringt die heilige Lehre! […] Ich will mit euch noch einmal den Weg gehen, den unsre Seelen, Israels Seelen, gegangen sind […]. Und der alte Weg soll uns kräftigen für den neuen, der morgen beginnt […]“ (99 [Hervorhebung im Original]). 164 Vgl. WERFEL: Der Weg der Verheißung, 109. 165 Vgl. WERFEL: Der Weg der Verheißung, 163f. 166 Vgl. WERFEL: Der Weg der Verheißung, 148 [Ps 114]; 158 [Ps 22 und 51]; 176f [Ps 126]. 167 Vgl. ABELS: Von den Mühen eines Bibelspiels, 136. 168 WERFEL: Der Weg der Verheißung, 91. 169 Vgl. WERFEL: Der Weg der Verheißung, 511f; vgl. auch Werfels Beschreibungen zum „Aufbau des Schaugerüstes“ (94). 170 Vgl. CITRON: Art and Propaganda, 215. 171 Vgl. FIEDLER: The Eternal Road, 171. 172 BARTH: Theologische Existenz heute, 3. 162

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jetzt an der Zeit, die Lehre und das Studium fortzusetzen und eben nicht auf die vermeintliche „deutsche Stunde“ einzugehen. Ähnlich setzte Leo Baeck seine Lehrtätigkeit an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin so gut es ging unbeirrt bis in das Jahr 1942 hinein fort.173 Einer seiner Berliner Schüler, Nathan Peter Levinson, erinnert sich an diese Lehrtätigkeit und beschreibt sie als den Weg, „trotz allem zu überleben, weil man sich in die Welt der Lehre flüchtet. Weil alles andere da draußen nicht die Realität ist, um die es letztlich geht.“174 Auch als Leo Baeck ab 1943 im Konzentrationslager Theresienstadt inhaftiert und ab Mai 1943 zur Tätigkeit als Rabbiner im Lager freigestellt war,175 bot er abendliche Erwachsenenbildungsveranstaltungen an und sprach dabei über Themen, die „scheinbar keine aktuellen Bezüge“ enthielten.176 Dazu schreibt Fritz Backhaus: „Leo Baeck sah diese Bildungsarbeit als einen Akt des Widerstands, der das Überleben ermöglichte und der aus der Masse, in der der einzelne unterzugehen drohte, eine Gemeinschaft machte.“177 Jelena Makarova spricht im Blick auf diese abendlichen Veranstaltungen, zu denen Baeck auch weitere Lagerinsassen als Referenten einlud, von einer „Akademie des Überlebens“.178 Lehren als sei nichts geschehen, Rückkehr in die bleibend relevante Tradition, dies galt auch für zahlreiche Predigten der NS-Zeit. Marc Saperstein verweist auf die erhaltenen Sabbat-ha-Gadol-Deraschot (Deraschot am Sabbat vor dem Passafest) von Ephraim Oshry, die dieser 1942/43/44 hielt. Die Derascha des Jahres 1944 folgt auf eine Woche, in der zahlreiche Kinder bei einem Massaker ums Leben kamen. Dennoch geht Oshry darauf mit keinem Wort explizit ein, sondern hält talmudische Vorträge und erklärt die Passa-Bräuche, „as if he and his listeners were studying in a talmudic academy during the most peaceful of times.“179 Mit der Schoa kam die Entwicklung deutsch-jüdischer Predigt an ihr vorläufiges Ende. Nach 1945 war in Deutschland (zunächst) keine Anknüpfung an diese Tradition mehr möglich. So sah Leo Baeck – unmittelbar nach dem 173 Vgl. BARKAI: Im Schatten der Verfolgung und Vernichtung, 91; vgl. auch die Wiedereröffnung des Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt/M. am 19. November 1933 und die Rede, die Buber dort unter dem Titel „Aufgaben jüdischer Volkserziehung“ hielt. 174 LEVINSON: Ein Ort ist, mit wem du bist, 48 [Hervorhebung im Original]; vgl. auch HAMBURGER: Leo Baeck. 175 Vgl. BACKHAUS: „Ein Experiment des Willens zum Bösen“, 115. 176 BACKHAUS: „Ein Experiment des Willens zum Bösen“, 117. Vgl. zur Lehre Baecks in Theresienstadt auch KLAPPERT: Der Midrasch aus Theresienstadt; GEIS: Leo Baeck, bes. 6–8. 177 BACKHAUS: „Ein Experiment des Willens zum Bösen“, 118. 178 Vgl. BACKHAUS: „Ein Experiment des Willens zum Bösen“, 118.127 Anm 27; Erinnerungen an Leo Baeck: 201f. 179 SAPERSTEIN: „Your Voice […]“, 21.

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Krieg – die von ihm in den Jahren bis 1943 so intensiv mitgeprägte Geschichte des Judentums in Deutschland als beendet an.180 Noch schärfer zog die Orthodoxie die Trennungslinie zu der Entwicklung in Deutschland vor der Schoa. Viele ihrer Vertreter machten die versuchte Assimilation der Juden wesentlich für die Schoa verantwortlich und forderten einen radikalen Neuanfang,181 wobei in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg fraglich schien, ob es eine jüdische Gemeinschaft in Deutschland je wieder geben werde. Man sprach nicht selten von einer jüdischen „Restgemeinde“ in Deutschland und erwartete deren Auswanderung in andere Länder.182 Dennoch etablierten sich neue jüdische Gemeinden, und 1950 wurde der „Zentralrat der Juden in Deutschland“ gegründet.183 Das leitende Gemeindekonzept war und ist dabei die Einheitsgemeinde, die im Rahmen eines orthodox geprägten Gemeindelebens das Zusammenleben und -feiern religiös unterschiedlich orientierter Jüdinnen und Juden ermöglichen soll.184 Erst in den letzten Jahren lässt sich ein Wiederaufleben liberalen bzw. reformierten Judentums in Deutschland beobachten, was zu nicht unerheblichen Spannungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Deutschlands führt.185 Es erscheint klar, dass eine Wiederaufnahme der jüdischen Predigt in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst nicht denkbar war. Zu stark schien sie mit dem leitenden Konzept des gescheiterten Weges der Assimilation verbunden. In den Einheitsgemeinden verzichtete man entweder ganz auf die Predigt oder knüpfte verstärkt an die Derascha an, die häufig nur zwei- oder dreimal jährlich gehalten wurde. Mit dem Erstarken jüdischer Gemeinden seit den 1990er Jahren186 wurde eine eigene RabbinerAusbildung in Deutschland im Rahmen des Ignatz Bubis-Lehrstuhls für Religion, Geschichte und Kultur des europäischen Judentums in Heidelberg187 sowie des Abraham Geiger-Kollegs in Potsdam188 wieder eingeführt. 180 Vgl. MEYER: Denken und Wirken, 130, und vgl. insgesamt BAECK: Nach der Schoa. Vgl. dazu auch das Sammelwerk „Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit“, das in seinem vierten Band mit dem Jahr 1945 endet und lediglich in einem Epilog kurz auf die deutsch-jüdische Nachkriegsgeschichte eingeht (vgl. LOWENSTEIN: Epilog, bes. 374). 181 Vgl. WIESEMANN: Jüdische Kultur in Deutschland, 199. 182 Vgl. RICHARZ: Juden in der BRD und in der DDR seit 1945, 15. 183 Vgl. RICHARZ: Juden in der BRD und in der DDR seit 1945, 18. 184 Pnina Navè Levinson bezeichnet dieses jüdische Gemeindeleben als das Leben „auf einer Insel“, „abgeschnitten von den Entwicklungen in anderen Ländern“ (LEVINSON: Religiöse Richtungen und Entwicklungen in den Gemeinden, 141). 185 Vgl. z.B. HOMOLKA: Judentum im 21. Jahrhundert. 186 Die jüdische Bevölkerung in Deutschland nahm von ca. 30.000 1989 auf etwa 100.000 zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu (vgl. SPIEGEL: Deutschland). Vgl. zu den neuen deutsch-jüdischen Entwicklungen seit 1989 auch GILMAN: Negative Symbiosis. 187 Der im Wintersemester 2001/2002 errichtete Lehrstuhl hat seinen Ort an der 1979 gegründeten Hochschule für Jüdische Studien. Sein Ziel ist es, in einem vier Semester umfassenden

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Es bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen diese Ausbildungsgänge im Blick auf die (mögliche) Wiedergewinnung einer jüdischen Homiletik im deutschsprachigen Kontext haben werden.

Grundstudium den ersten Schritt der Ausbildung ins Rabbinat zu ermöglichen. Die Studierenden sollen dann an eine liberale oder konservative Ausbildungsstätte in Jerusalem, London oder New York wechseln. 188 Das Abraham Geiger-Kolleg wurde 1999 gegründet und nahm im Oktober 2001 seinen regulären Studienbetrieb mit vier Studierenden aus Deutschland und den Niederlanden auf. Es bietet als erstes Rabbinerseminar in Deutschland eine fünfjährige Ausbildung, die mit der Smicha (Ordination) abgeschlossen werden kann. Im zweiten Studienjahr steht ein Homiletik-Kurs auf dem Programm („Homiletik. Advanced speech and oral communication. Building the effective sermon. Effective sermon delivery. Use of illustration“ – aus dem vorläufigen Studienprogramm), im vierten Studienjahr ein Predigtkurs mit praktischen Übungen („Homiletics and Chapel Sermon. Presentation and critical analysis of the Sermon under direction of the Rabbinic mentor“).

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7. Englischsprachige jüdische Predigt seit dem 19. Jahrhundert. Moderne Predigt zwischen Akzeptanz und Kritik

Seit der Schoa entwickelt sich jüdisches Leben in einer Ellipse um die beiden Brennpunkte Israel und Nordamerika. Judentum in Israel gestaltet sich im Einzelnen plural, wird nach außen aber von einem orthodoxen Judentum mit seiner Spitze im sephardischen und aschkenasischen Oberrabbinat geprägt. Entwicklungen der Neo-Orthodoxie des 19. Jahrhunderts verbinden sich mit Anleihen am prä-emanzipatorischen Judentum – was besonders in der Gestaltung der Gottesdienste und im Bild des Rabbinats deutlich wird. Jüdische Predigt spielt im orthodoxen Judentum in Israel eine geringe Rolle.1 Häufig werden Deraschot – wie im aschkenasischen Judentum vor dem 19. Jahrhundert – nur an zwei bis drei ausgezeichneten Sabbaten gehalten. Freilich brachten europäische Einwanderer – vor allem in den Jahren während und nach der Schoa – auch reformorientiertes Judentum nach Israel, das seither an der Predigt festhält.2 Dieses lebt aber seit Jahren in nur kleinen Gemeinden und erlangte bislang wenig Einfluss auf die Gestaltung jüdischen Lebens in Israel.3 In homiletischer Perspektive lohnt es sich daher, auf den zweiten Brennpunkt der Ellipse jüdischen Lebens zu blicken. In Nordamerika, vor allem in den USA, liegt der Schwerpunkt jüdischer Reformgemeinden. Die homiletischen Entwicklungen dort sollen im Folgenden Gegenstand der Untersuchung sein. Dazu blicke ich zunächst kurz auf die Geschichte US-amerikanischer Predigt bis 1937 (7.1) und anschließend auf die moderne jüdische Predigt mit ihrer tendenziell meta-skripturalen Hermeneutik, wie sie um die Mitte des 20. Jahrhunderts in der homiletischen Theorie und in der Predigtpraxis etabliert war (7.2). Auf diesem Hintergrund wird es möglich, die 1

Exemplarisch verweise ich auf EISENSTEIN: Ozar Deraschot. Dieser Sammelband stellt Texte bekannter Darschanim aus der Präemanzipationszeit zusammen, um damit gegenwärtig neu zu haltende Deraschot anzuregen. Die falschen Wege, sich auf die „heidnischen Prediger“ (‫דרשני‬ ‫ )הגוי‬einzulassen und von ihnen zu lernen, sollten – so explizit das Ziel des Bandes – verlassen werden (vgl. vif). 2 Vgl. hierzu z.B. ELK: Paul Lazarus in Israel; vgl. auch die 1958 durch Schalom Ben-Chorin in Jerusalem gegründete Har-El-Gemeinde. Vielfach waren reformorientierte jüdische Predigten in der Zeit nach der Schoa in Israel deutschsprachig. 3 Vgl. zur Entwicklung der Reformbewegung in Israel bis etwa 1970 BEN-CHORIN: Art. Israel.

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Herausforderungen, denen sich die moderne Predigt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellen musste, sowie Reaktionen auf diese Herausforderungen in den Blick zu nehmen (7.3). Seit ca. 20 Jahren gewinnt der Midrasch als hermeneutisches Paradigma in universitärem Kontext neue Bedeutung. Ich frage – dieses Kapitel abschließend –, inwiefern dieses neue Interesse an skripturaler rabbinischer Hermeneutik bislang Konsequenzen für den praktischen Umgang mit biblischen Texten gehabt hat (7.4).

7.1 Zur Geschichte jüdischer Predigt in den USA: Ein Überblick bis 1937 Auch in den USA gibt es, wie im deutschsprachigen Bereich, eine Geburtsstunde der modernen, landessprachlichen jüdischen Predigt.4 Fast 22 Jahre nach Joseph Wolfs „erster jüdischer Predigt“ hielt Isaac Leeser (1806– 1868), der aus Deutschland in die USA eingewandert war,5 am 02.06.1830 die erste US-amerikanische Predigt in einem regulären Synagogengottesdienst. In den seit 1654 entstandenen jüdischen Gemeinden in Amerika waren landessprachliche Predigten im regulären Gottesdienst – wie in Europa – bis zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt.6 Die erste Predigt Isaac Leesers war thematisch orientiert und trug den Titel „Confidence in God“.7 Leeser sah die Aufgabe dieser und seiner weiteren Predigten darin, jüdischen Glauben zu lehren.8 Der große und für die Entwicklung jüdischer Predigt in den USA entscheidende Unterschied zur Situation in Deutschland war, dass Leeser als Verteidiger orthodoxer Tradition bezeichnet werden kann.9 Die landessprachliche Predigt war damit der Kontroverse zwischen jüdischer Reform und „Altgläubigen“ enthoben.10 Gleichzeitig versuchte Leeser, die Predigt auch für die Gegner gottesdienstlicher Neuerungen akzeptabel zu machen, vor allem dadurch, dass er erst am Ende des Gottesdienstes, nach Abschluss des Gebets, predigte. So ermöglichte er die Teilnahme an einem vollständigen Sabbatgebet, ohne eine landessprachliche Predigt hören zu 4 Auch in England gibt es ein solches Datum: Der 19.11.1817 kann – nach FRIEDENBERG: „Hear o Israel“, 23 – mit der Predigt von Tobias Goodman als der Ausgangspunkt landessprachlicher jüdischer Predigt bezeichnet werden. 5 Vgl. zur Biographie FRIEDENBERG: „Hear o Israel“, 24f. 6 Ähnlich wie im deutschsprachigen Bereich gab es allerdings auch in Nordamerika zu kolonialer Zeit und zur Revolutionszeit einzelne landessprachliche jüdische gottesdienstliche Vorträge. Diese waren Kasualansprachen, die meist von den Behörden veranlasst wurden, vgl. dazu FRIEDENBERG: „Hear o Israel“, 5–18. 7 FRIEDENBERG: „Hear o Israel“, 34; vgl. insg. 34f. 8 Vgl. FRIEDENBERG: „Hear o Israel“, 31f. 9 Vgl. FRIEDENBERG: „Hear o Israel“, 27. 10 Vgl. FRIEDENBERG: „Hear o Israel“, 40.

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müssen.11 Leeser selbst war kein großer Redner und als kurzsichtiger „manuscript-preacher“, der gebeugt über seinem Pult vorlas, sicherlich keine rhetorisch eindrucksvolle Erscheinung.12 Dennoch breitete sich jüdische Predigt in den USA von diesem Ausgangspunkt weiter aus. Wie in Deutschland lässt sich auch in den USA von einer Predigtbewegung sprechen, und landessprachliche jüdische Predigt wurde in vielen Gemeinden üblich. Mit der Zunahme jüdischer Einwanderung aus Deutschland und Europa ab den 1840er Jahren13 kamen auch zahlreiche in Deutschland ausgebildete und der Reformbewegung zugeneigte Rabbiner in die USA. Ideen der europäischen Reform setzten sich in Amerika mehr und mehr durch. Predigt wurde – so lässt sich im Vergleich zu den Anfängen bei Leeser grob sagen – politischer14 und moralischer15. Gleichzeitig veränderte sich die Hermeneutik der Predigten: Wie in Europa wurde die Differenzierung zwischen den zeitbedingten Formen und dem zeitübergreifenden Wesen des Judentums zunehmend bedeutsam. Nur Letzteres sollte zum Gegenstand der Predigten gemacht werden.16 Wurden Predigten aufgrund der zahlenmäßigen Überlegenheit deutscher Einwanderer zunächst vielfach auf Deutsch gehalten, so veränderte sich dies in den 1850er und 1860er Jahren: Die Predigten wurden inhaltlich, aber auch im Blick auf ihre Sprache „amerikanischer“.17 Im Unterschied zur Entwicklung in Deutschland stellte die Reformbewegung in den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die deutliche Mehrheit der Jüdinnen und Juden.18 Die kritischen Anfragen an die jüdische Reform, wie sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum laut wurden, blieben aus. Es gab keine Bestrebung, jüdisch Eigenes zu betonen; leitend war eher das Ziel, als Juden in dem „gelobten Land“ Amerika Fuß zu fassen.19 11

Vgl. FRIEDENBERG: „Hear o Israel“, 27f. Vgl. FRIEDENBERG: „Hear o Israel“, 30f. 13 Zwischen 1848 und 1860 wanderten rund zwei Millionen Menschen vor allem aus dem deutschsprachigen Europa in die USA ein, darunter wohl ca. 200.000 Jüdinnen und Juden, vgl. FRIEDENBERG: „Hear o Israel“, 41. 14 Vgl. vor allem die Predigten im Kontext der Diskussion um die Sklaverei und dazu FRIEDENBERG: „Hear o Israel“, 39–58 [Jewish Preaching in a House Divided]. 15 Vgl. FRIEDENBERG: „Hear o Israel“, 36. 16 Vgl. COHN: Early German Preaching, 109f.119f.124f. 17 Vgl. FRIEDENBERG: „Hear o Israel“, 59–84 [Isaac Mayer Wise and the Americanization of the Jewish Sermon]; COHN: Early German Preaching. Ein kurzes Wiederaufleben deutschsprachiger jüdischer Predigt in Amerika ist in der Zeit der Schoa und kurz danach durch die Einwanderung verfolgter deutscher Jüdinnen und Juden zu verzeichnen, vgl. dazu FRANK: As a German Rabbi to America. 18 Vgl. SIGAL: Das Judentum, 223f. 19 Vgl. FRIEDENBERG: „Hear o Israel“, 78.92. Vgl. dazu auch MEYER: Antwort auf die Moderne, 324–377 [Amerika. Das Gelobte Land der Reformbewegung]; COHN: Early German Preaching, 99. 12

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Als Ausdruck der fortschrittsoptimistischen, universalistischen Tendenz US-amerikanischen Reformjudentums dieser Zeit kann die Grundsatzerklärung aus dem Jahre 1885, die sogenannte „Pittsburgh-Platform“, gelesen werden.20 Jakob J. Petuchowski sieht sie als ein Zeichen dafür, dass sich der radikalere Flügel im US-amerikanischen Reformjudentum gegenüber einem gemäßigteren durchgesetzt hatte.21 Die „Platform“ bestimmt das Judentum nicht mehr als „Volk“ oder „Nation“, sondern als „religiöse Gemeinschaft“ („religious community“) und beurteilt jüdische Lehre und Praxis im Blick auf ihre Bedeutung für die gegenwärtige „seelische Erhebung“ („spiritual elevation“) der Jüdinnen und Juden.22 Jüdische Predigt sollte diese „Erhebung“ vermitteln und gleichzeitig die Einzelnen ethisch anleiten. In dieser doppelten Ausrichtung konnte ihr eine zentrale Rolle im Gottesdienst zuerkannt werden.23 Freilich war die „Pittsburgh-Platform“ bereits zur Zeit ihrer Entstehung faktisch überholt und markierte eher den Endpunkt als den Ausgangspunkt einer Entwicklung. Die verstärkte Einwanderung osteuropäischer Juden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts24, die kritischeren und zurückhaltenderen Töne, die aus dem Reformjudentum Europas in die USA drangen, vor allem aber die Herausforderung durch den Zionismus bedeuteten nun auch in den USA den Weg zur Rückbesinnung auf spezifisch Jüdisches. Hatte diese Rückbesinnung im deutschen Judentum eher eine Abkehr von der als Moment der Akkulturation gesehenen Predigt zur Folge, so gilt dies allerdings für die USA nicht. Im Gegenteil stand die jüdische Predigt gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA hoch im Kurs, ermöglichte sie doch die thematische Auseinandersetzung mit zahlreichen bedrängenden Fragen (z.B. der Frage nach dem Umgang mit dem Zionismus).25 Gleichzei20

Vgl. COHN-SHERBOK: Modern Judaism, 82–84; MEYER: Antwort auf die Moderne, 547f [Text in deutscher Übersetzung]; SIGAL: Das Judentum, 225; TEMKIN: The Pittsburgh Platform; TREPP: Der jüdische Gottesdienst, 253. 21 Vgl. PETUCHOWSKI: Art. Reform Judaism, 26. 22 Zitiert nach PETUCHOWSKI: Art. Reform Judaism, 26. 23 Vgl. TREPP: Der jüdische Gottesdienst, 253. Im Gebetbuch der amerikanischen Rabbinerkonferenz von 1894 hat die Predigt im Gottesdienst einen festen Platz, vgl. ELBOGEN: Der jüdische Gottesdienst, 438f. 24 Vgl. FRIEDENBERG: „Hear o Israel“, 88: Zwischen 1880 und 1900 wanderten – bei einer jüdischen Bevölkerung in den USA von rund 250.000 im Jahr 1880 – rund 500.000 osteuropäische Juden in die USA ein, zwischen 1900 und 1914 nochmals rund 1.250.000. Die Herausforderung durch diese Einwanderung ist nummerisch um ein Vielfaches größer als die Herausforderung durch die Einwanderung von Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland seit 1989. Sie ist insofern kategorial verschieden, als die damals in die USA einwandernden Juden aus einem meist geschlossen jüdischen Umfeld kamen und eine orthodoxe jüdische Sozialisation sowie das Bewusstsein vom Judentum als einer „Nation“ mitbrachten (vgl. insg. 88–90). 25 Vgl. FRIEDENBERG: „Hear o Israel“, 85.

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tig konnte sie als Mittel gesehen werden, um die vielen jüdischen Einwanderer weltanschaulich in die Gemeinden und die amerikanische Gesellschaft zu integrieren. 1937 löste die „Columbus-Platform“ die „Pittsburgh-Platform“ ab.26 Sie lässt erkennen, dass der fortschrittsoptimistische Weg des 19. Jahrhunderts auch in den USA an ein Ende gekommen war und jüdische Identität zurückgewonnen werden sollte. In zweifacher Hinsicht entdeckt die „Columbus-Platform“ das Einigende im Judentum neu: einerseits in einer bejahenden Orientierung an Israel als „Jewish homeland“27, andererseits in einer neuen Betonung jüdischer Tradition, zu der auch das Hebräische und jüdische Riten und Symbole gehören.28 Die moderne Predigt allerdings wurde auch in Folge der „Columbus-Platform“ kaum hinterfragt. Vielfach wurde sie weiterhin als wesentliches Mittel verstanden, um in den Gemeinden das zu lehren, was als das spezifisch Jüdische gesehen werden konnte.29 Dennoch aber sieht sich Solomon B. Freehof in seiner im März 1941 am Hebrew Union College in New York gehaltenen Vorlesung mit dem Titel „Modern Jewish Preaching“ genötigt, gegen den Verlust der Selbstverständlichkeit der Predigt zu argumentieren. Die „Wiederbelebung der Predigt“ („revival of the sermon“) benennt er als entscheidendes Ziel seiner Vorlesung.30 Bereits 1936 hielt Abraham Cohen in London eine Homiletikvorlesung, die 1937 unter dem Titel „Jewish Homiletics“ publiziert wurde. Beide jüdischen Homiletiken markieren einen Höhe-, gleichzeitig faktisch aber auch einen Endpunkt der Entwicklung moderner Predigt im englischsprachigen Bereich und sollen im Folgenden näher betrachtet werden.

7.2 Moderne jüdische Predigt und ihre Homiletik Abraham Cohens „Jewish Homiletics“ geht implizit den drei seit Alexander Schweizer klassischen Feldern homiletischer Diskussion entlang und behandelt nacheinander prinzipiell-homiletische Fragen (Kap. 1–2), materiale (Kap. 3–6) und formale Homiletik (Kap. 7–9). Der materiale Teil nimmt 26

Vgl. SIGAL: Das Judentum, 226. Vgl. dazu auch COHN-SHERBOK: Modern Judaism, 84–87; KAPLAN: American Reform Judaism, 18–20. Der Text in deutscher Übersetzung findet sich bei MEYER: Antwort auf die Moderne, 548–552. 27 Zitiert nach PETUCHOWSKI: Art. Reform Judaism, 26. 28 Zu nennen ist hier etwa die neue Wertschätzung des Sabbats und der jüdischen Feiertage. 29 Vgl. FRIEDENBERG: „Hear o Israel“, 128. Andererseits nennt Harold S. Silver aus dem Rückblick des Jahres 2001 als entscheidendes Problem reformorientierter jüdischer Predigten gerade das Fehlen ihres jüdischen Charakters, ihre „paper-thin Jewishness“: „There were nonscriptural Sunday morning Shakespearean and social-action lectures in place of the traditional Shabbat morning cyclical biblical portion.“ (SILVER: From the Christmas Tree to the Yarmulke, 97). 30 Vgl. FREEHOF: Modern Jewish Preaching, 21–40, Zitat: 24.

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dabei den größten Raum ein, der formale wird von Cohen als allgemeinrhetorischer, keineswegs spezifisch jüdischer Teil konzipiert.31 Insgesamt bleibt Cohens Homiletik in der Spur, die die jüdische Homiletik des 19. Jahrhunderts gebahnt hatte.32 Am deutlichsten wird dies dort, wo Cohen explizit am Form-Inhalt-Dualismus festhält: „When the subject of the sermon has been decided upon, the preacher is faced with the task of working it up and presenting it to the congregation in a form which makes it appealing.“33 Trotz der Allgemeinheit der rhetorischen Regeln und trotz des Form-Inhalt-Dualismus betont Cohen aber, dass jüdische Predigt dezidiert jüdischen Charakter haben müsse, was in aller Regel durch die Bindung an einen Text und durch die Orientierung am Paradigma der Lehre geschehen solle.34 Auch im Umgang mit dem biblischen Text lehnt sich Cohen an die Wege meta-skripturaler Hermeneutik des 19. Jahrhunderts an. Aus dem biblischen Text müsse der Prediger, so Cohen, ein Thema mit „eternal significance“35 für seine Lehre gewinnen. Die Bibel beschreibt Cohen entsprechend als „mine of homiletical material“.36 Entgegen vielen Ansätzen im 19. Jahrhundert räumt Cohen der wissenschaftlichen Exegese eine relativ geringe Bedeutung für die jüdische Predigt ein; sie wolle zeigen, was ein Vers tatsächlich einmal bedeutet habe, demgegenüber müsse die jüdische Predigt erarbeiten, was ein Vers für die Bereicherung jüdischen Denkens und Lebens gegenwärtig bedeuten könne.37 Zur Ermittlung dieser aktuellen Textaussage bestimmt Cohen zwei Wege, die er in Anlehnung an rabbinische Begrifflichkeit als halachischen und haggadischen Weg bezeichnet. Allerdings bezieht sich Cohen zur Ausführung dieser rabbinischen Begriffe nicht auf Beispiele aus dem rabbinischen Midrasch, sondern erwähnt Maimonides als Exempel für die Halacha und den kabbalistischen Sohar als Beispiel für haggadische Auslegung. Mithin rekurriert er charakteristischerweise auf

31

Vgl. COHEN: Jewish Homiletics, V. Cohen selbst markiert den Anschluss an Maybaum (1890) und sieht sein Werk als erste umfassende Darstellung jüdischer Homiletik seit 1890 (vgl. COHEN: Jewish Homiletics, V), wobei er mindestens Wohlgemuths „Beiträge zu einer jüdischen Homiletik“ übersieht. 33 COHEN: Jewish Homiletics, 136. 34 Vgl. COHEN: Jewish Homiletics, 6.11.17.20.26.36. 35 COHEN: Jewish Homiletics, 50. Vgl. hier nur den Satz aus einer Predigt Cohens zu Ex 1,1– 6,1: „Therefore, the message sent in the dim and distant past to Pharao still has its teaching for us.“ (COHEN: Sabbath Sermons, 67) In einer Predigt zu Lev 1–5 sagt er, dass die Opfergesetze auf die „Ideen, die hinter ihnen liegen“ („ideas which lie behind them“), befragt werden müssten (122). 36 COHEN: Jewish Homiletics, 64f; vgl. insg. 44–66 [The Homiletical Use of the Bible]. 37 Vgl. COHEN: Jewish Homiletics, 71. Auch die Rabbinen midraschischer Zeit seien in ihrer Auslegung „hinter die Worte“ („behind the words“) zu deren „geistigen Gehalten“ („spirits“) vorgedrungen. 32

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zwei Wege, die oben als exemplarisch für die meta-skripturale jüdische Hermeneutik des Mittelalters bestimmt wurden.38 Solomon B. Freehofs homiletische Hermeneutik entspricht im Wesentlichen der Cohens. Predigt wird als der Versuch verstanden, aus den zeitgebundenen Texten der Schrift das überzeitlich Gültige herauszuschälen und so „das Zeitgebundene mit dem Zeitlosen zu verbinden“ („to unite the timely with the timeless“39). Im Unterschied zu Cohen geht Freehof aber ausführlicher auf die rabbinische Tradition ein. Die Haggada rabbinischer Zeit wird für Freehof zum Paradigma gegenwärtiger Predigtrede, eine Tendenz, die an Zunz’ „Gottesdienstliche Vorträge“, aber auch an Maybaums Homiletik erinnert. Freilich ist es auch hier nicht rabbinische Torahermeneutik, die Freehof rezipiert. Vielmehr bestimmt er rabbinische Haggada als Weg einer Schriftauslegung, die den Hörer dazu bringen wolle, die Nähe Gottes im Leben zu sehen; dabei benutze sie Phantasie, brillante Exegese und eine gekonnte, an die Kunst erinnernde Sprache. Im Kontext der Haggada sei auch die Predigt nicht nur als Rede, sondern als „erhabene Kunstform“ („noble art-form“) zu beschreiben.40 Freehof unterscheidet zwei Predigttypen: die „Schriftpredigt“ („scriptural sermon“41) und die sich nicht explizit auf einen Text beziehende Predigt („non-scriptural sermon“42). Die Schriftpredigt sei gegenwärtig dadurch erschwert, dass die biblischen Texte in den Gemeinden fast unbekannt seien; die Bibel sei dort ein „verschlossenes Buch“ („closed book“) geworden.43 Dem müsse die Schriftpredigt entgegenarbeiten und die Bibel neu in die „Herzen“ der Hörer bringen.44 Allerdings will Freehof – worin sich ein Teil seiner typisch modernen, die Bibel kritisch-unterscheidend betrachtenden Hermeneutik zeigt – dies dadurch erreichen, dass nur noch besonders bedeutsame Texte ausgewählt und gepredigt werden.45 Für die nicht schriftgebundene Predigt fordert Freehof, dass sie religiös und jüdisch sein und sich am Paradigma der Lehre orientieren müsse.46 Als Anleitung zur Pre38 Vgl. COHEN: Jewish Homiletics, 49f, und vgl. dazu oben Kap. 4.2.1 und 4.2.2. Generell nimmt Cohen rabbinische Texte nicht als relevante Beispiele für eine gegenwärtig zu verantwortende Hermeneutik wahr, sondern rekurriert auf sie als mögliche nicht-biblische Quellen der Predigt (vgl. 67–88 [Non-Biblical Sources of Homiletics], bes. 68–74). 39 FREEHOF: Modern Jewish Preaching, 40; vgl. auch ders.: Bible Sermons for Today, VII. 40 Vgl. insgesamt FREEHOF: Modern Jewish Preaching, 21–40, Zitat: 36f. 41 Vgl. FREEHOF: Modern Jewish Preaching, 41–58.83–132. 42 Vgl. FREEHOF: Modern Jewish Preaching, 59–81.133–171. 43 Vgl. FREEHOF: Modern Jewish Preaching, 46–48, Zitat: 48; vgl. ähnlich dann auch SILVERMAN: A Requiem for the Sermon, und dazu unten Kap. 7.3.3, 207f. 44 Vgl. FREEHOF: Modern Jewish Preaching, 50. 45 FREEHOF: Modern Jewish Preaching, 54: „only the significant texts“; vgl. ähnlich PILCHIK/ SOLOFF: A Revised Torah and Haftarah Cycle. 46 Vgl. FREEHOF: Modern Jewish Preaching, 63–68.77.

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digtpraxis führt er dann 36 Skizzen für Schriftpredigten und 20 für Themenpredigten vor. Die meisten dieser Predigten (25) sind Drei-Punkte-Predigten mit Einleitung und Schluss.47 Faktisch werden auch die Schriftpredigten bei Freehof zu Themenpredigten, da er jeweils aus den Texten der Schrift die für die heutige Applikation geeignete Aussage bestimmt.48 Beide Homiletiken, die bis heute als die letzten Gesamtdarstellungen jüdischer Homiletik gelten können, halten – nun für den englischsprachigen Raum – die wesentlichen Erkenntnisse der deutschsprachigen jüdischen Homiletik des 19. Jahrhunderts fest. Die hermeneutischen Umbrüche der jüdischen Renaissance weg von der meta-skripturalen Hermeneutik des 19. Jahrhunderts rezipieren beide nicht, ebensowenig die (bescheidenen) homiletischen Neuansätze der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Sicherlich trugen Cohen und Freehof mit ihren Werken dazu bei, dass die moderne jüdische Predigt auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis in die Gegenwart Bedeutung behielt.49 Vor allem in den frühen 1950er Jahren erscheint die Predigt als etablierte und kaum problematisierte Größe im USamerikanischen Reformjudentum. Sie habe, so Israel Bettan 1953, nach den Wirren der Kriegszeiten eine besonders wichtige Aufgabe: Diese liege darin, sich auf die angefochtenen Einzelnen zu konzentrieren und die „in47

Acht Predigten weisen eine Gliederung in zwei Punkte auf, zwei in vier Punkte, eine einzige hat gar keinen „Punkt“. 48 Hermeneutisch interessant ist z.B. der Satz: „Yet it is important to go behind the familiar words for the text implies a philosophy which is basic to Jewish ethics.“ (FREEHOF: Modern Jewish Preaching, 111) Vgl. auch den Sammelband FREEHOF: Bible Sermons for Today. Darin kulminiert etwa die lange Genesis-Predigt (1–15) in dem Satz: „The one world, the unified family, and the mandate of Israel – that is the meaning of the whole Bible, the meaning made clear in the first book, in the great prologue, in the book of Genesis, the philosophy of our faith, and indeed a basic philosophy in Christendom too.“ (15) Die Predigt zu Jesaja, die den Titel „Our Hopes“ trägt (122– 134), führt die bleibende Bedeutung Jesajas in drei Punkten vor Augen. Jesaja aktiviere das Gewissen der Menschen und versichere sie ihrer Stärke und der Bedeutung ihrer Hoffnung. 49 Neben Cohens und Freehofs Homiletiken sind noch die bis heute in homiletischen Seminaren rezipierten Vorlesungen zu erwähnen, die Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre, organisiert von Eugene Mihaly, am Hebrew Union College Cincinnati in der Reihe „Aspects of Jewish Homiletics“ gehalten wurden (vgl. FELDMAN: What to Preach About; GITTELSOHN: Speak to the Children of Israel; KAHN: Aspects of Jewish Homiletics; NAROT: The Textual Sermon; PILCHIK: Sources and Themes; RUDIN: On the Nature of the Rabbi). Es handelt sich dabei um Gastvorlesungen erfahrener Rabbiner, die sehr praktisch aus ihrer eigenen Predigtwerkstatt berichten. In allen Vorlesungen wird die zentrale Rolle der Predigt für das Reformjudentum betont (vgl. z.B. KAHN: Aspects of Jewish Homiletics, 1–4; NAROT: The Textual Sermon, 1). Predigt verstehen die Referenten als herausgehobene Möglichkeit, „the Jewish interpretation of life and its problems“ (FELDMAN: What to Preach About, 9; vgl. 11–13) vor Augen zu führen. Besonders werden Predigten zu gegenwärtig herausfordernden Themen empfohlen. Wenn der biblische Text dabei überhaupt eine Rolle spielt, dann als ein „Mittel“, um das, was die Menschen bewegt, mit spezifisch jüdischem religiösem Gehalt zu verbinden (vgl. z.B. NAROT: The Textual Sermon, 5.18; FELDMAN: What to Preach About, 24).

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nere Stärke“ der Jüdinnen und Juden wieder aufzubauen.50 Mit dem Leitwort einer Predigt als „personal guidance“ verstärkt Louis Binstock ebenfalls im Jahr 1953 diese Orientierung am Einzelnen in der jüdischen Predigt, ja, er sieht genau dies als die Besonderheit der jüdischen Predigt: Weil das Judentum generell dem Alltag besonderes Gewicht beimesse, könne sich auch jüdische Predigt auf die alltäglichen Fragen beziehen und in diesen Fragen Anleitung geben.51 Diese stark auf den Einzelnen und dessen Innerlichkeit fokussierende jüdische Predigt kann in einen Dialog mit der Psychologie und Psychotherapie treten, für den sich bereits in den 1950er Jahren Robert L. Katz stark macht, der spätere Verfasser des bisher einzigen grundlegenden Werks zum Verhältnis von Seelsorge und jüdischer Tradition.52 Sowohl für den Prediger selbst als auch für die Analyse der Gemeinde und der Predigtsituation sei die Psychologie bedeutsam, betont Katz 1955.53 Drei Jahre später plädiert er dafür, die Rollen des Seelsorgers und Predigers im Rabbinat miteinander in Beziehung zu setzen und beide mit der traditionellen Rolle des Rabbiners als Lehrer zu verbinden.54 Die Akzentverschiebung der 1950er Jahre auf das Individuelle und Innerliche bedeutet keine grundlegende Herausforderung für die Predigtgestaltung oder die homiletische Tora-Hermeneutik im Reformjudentum.55 Lediglich vor der Veräußerlichung der Pre50

Vgl. BETTAN: The Role of the Preacher, 12. Demgegenüber sei die Predigt im Reformjudentum des 19. Jahrhunderts zunächst vor allem erklärend-lehrhaft bzw. apologetisch gewesen (vgl. 10f), dann auch stark sozial engagiert (vgl. 11). Zur Zeit des massiven Antisemitismus habe Predigt tröstend und selbstvergewissernd Bedeutung gehabt (vgl. 11f) – eine Bedeutung, an die es nun anzuknüpfen gelte. 51 Vgl. BINSTOCK: Preaching for Personal Guidance. 52 Vgl. KATZ: Pastoral Care and the Jewish Tradition. 53 Vgl. KATZ: Psychology and Preaching. 54 Vgl. KATZ: The Rabbi as Preacher and/or Counselor, 22. Die religiösen Erkenntnisse, Werte und Ideen seien in beiden Handlungsfeldern bedeutsam. Bei der Predigt aber gehe der Rabbiner von diesen Erkenntnissen aus und verbinde sie dann mit dem Leben, im seelsorgerlichen Gespräch verlaufe die Bewegung genau umgekehrt (vgl. 28). 55 Vgl. hierzu etwa auch PILCHIK: Sources and Themes. Pilchik geht in seiner im Januar 1959 am HUC in Cincinnati gehaltenen Vorlesung von einer Situation aus, in der die Einzelnen in der Gemeinde einen neuerlichen Hunger nach dem Wort Gottes entwickelt hätten (vgl. Vorlesung I: „The Congregation Today“, bes. 4f). Der Prediger könne diesen Hunger stillen, wenn er das alltägliche Leben der Gegenwart, die Orientierung an der Tora und seine eigene Person in den Prozess der Predigtarbeit einbringe (vgl. Vorlesung III: „Themes“, bes. 6; vgl. zur Bedeutung der eigenen Person auch die Aussage: „[…] the ultimate source of the sermon is the inner-self. The sermon is you.“ [1]). Die Konzentration auf den Prediger und seine Person führt auch bei Pilchik nicht zu einer formalen Veränderung der Predigtrede. Diese solle in aller Regel aus einer Einleitung, die zum Text hinführt, einem am besten in drei Punkten gegliederten Hauptteil und einem zusammenfassenden Schluss aufgebaut sein (vgl. Vorlesung II: „Sources“, 5). Auch Jacob B. Rudin betont in der elf Monate später (Dezember 1959) in Cincinnati gehaltenen Vorlesung zur Homiletik die Bedeutung der Person des Predigers für das Gelingen der Predigtrede. Seine Vorlesung steht bezeichnenderweise unter dem Titel „On the Nature of the Rabbi and the Nature of His Preaching“.

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digtarbeit und Predigtvorbereitung wurde gewarnt, wie dies etwa Jerome R. Malino in einem Artikel des Jahres 1954 tut, in dem er die Notwendigkeit einer lebendigen persönlichen Religiosität des Rabbiners unterstreicht und damit eine Kritik an der Ausbildung zum Rabbinat verbindet.56 Die weitreichende, grundlegende Akzeptanz der modernen jüdischen Predigt geht über die Grenzen des Reformjudentums hinaus. Dies zeigt etwa die Sammlung der „Best Jewish Sermons“, die Saul Israel Teplitz zwölfmal edierte. 1996 gab er – 25 Jahre nach dem letzten erschienenen Band – eine Auswahl der „Besten der Besten“ heraus.57 Das Buch umfasst 51 Predigten aus den Jahren 1953 bis 1972 und stammt von Rabbinern aus den unterschiedlichen Richtungen des Judentums.58 Die meisten Predigten, auch jene, die sich explizit auf einen biblischen Text beziehen, sind thematisch orientiert und haben eine primär ethische Zielrichtung, indem sie gemeindliche oder politische Zustände kritisieren oder zu einer Veränderung des Handelns oder Denkens aufrufen. Natürlich spiegelt die Auswahl Teplitz’ eigenes Predigtverständnis und darf daher in ihrer repräsentativen Bedeutung für die jüdische Predigt in den verschiedenen Strömungen nicht überschätzt werden. Teplitz sieht Predigt als das wichtigste Instrument des Rabbiners – als Tora-Lehrer – „to instruct the congregation of the truths of Judaism, and to uplift them spiritually by quickening their conscience.“59 Ihr Ziel habe sie dann erreicht, wenn sie den Hörer in Bewegung bringe, wenn sie sein Verhalten oder seine Ansichten verändere.60

Robert V. Friedenberg spricht in seiner Monographie zur jüdischen Predigt in den USA von einer ungebrochen zentralen Bedeutung der Predigt im USamerikanischen Judentum seit 1945 bis 197061 und prophezeit der Predigt eine weiterhin große Zukunft62. Diese Sicht allerdings erscheint zu einlinig U.a. sagt Rudin: „The quality of your preaching depends in large measure on the depth of your concern for ministry and on the depth of your affection as well.“ (RUDIN: On the Nature, 3f) Entscheidend sei das eigene Involviertsein des Predigers in sein Thema: „If you preach from outside your subject, you will leave your hearers outside. If you preach from within, you will take your hearers into that same inner place.“ (4) Nur die persönlich engagierte Predigt habe eine Chance, das „Herz“ der Hörer zu erreichen (vgl. 8f). Auch Rudins Predigtkonzeption bleibt dabei der modernen jüdischen Predigt treu: Im Regelfall plädiert er für die thematisch fokussierte Drei-PunktePredigt (vgl. bes. 29–33). 56 Vgl. MALINO: The Rabbi’s Personal Religion. 57 TEPLITZ: The Best of Best Jewish Sermons. 58 „[…] rabbis of all denominations“ (TEPLITZ: The Best of Best Jewish Sermons, x). Vgl. zur Geschichte und Gegenwart der Strömungen im US-amerikanischen Judentum WERTHEIMER: A People Divided. 59 TEPLITZ: The Best of Best Jewish Sermons, ix. 60 Vgl. TEPLITZ: The Best of Best Jewish Sermons, ix. Vgl. zu einem vergleichbaren Predigtverständnis auch SCHILD: Die Welt durch mein Fenster, bes. 8–10 [Geleitwort]; 11–13 [Vorwort]. Vgl. auch BERRIN: Living Words – eine Sammlung von Predigten zu den großen Feiertagen, die insgesamt eine ähnliche Ausrichtung erkennen lassen. 61 Vgl. FRIEDENBERG: „Hear o Israel“, 107–140, bes. 107: „[…] preaching was [in den Jahren 1945 bis 1970, AD] central to American Judaism“. 62 Vgl. FRIEDENBERG: „Hear o Israel“, 138.

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und blendet wesentliche Herausforderungen aus. Seit etwa den 1960er Jahren lässt sich generell von wachsender Skepsis gegenüber den Errungenschaften der klassischen Reform sprechen – vergleichbar mit den kritischen Stimmen um die Wende zum 20. Jahrhundert im deutschsprachigen Bereich.63 Etwa gleichzeitig gerät die klassische moderne Predigt mehr und mehr in die Kritik. Diese Kritik an der modernen Predigt sowie einige homiletische Antworten darauf sind Gegenstand des folgenden Abschnitts.

7.3 Die moderne jüdische Predigt in der Diskussion der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts 7.3.1 Die Herausforderung durch Abraham Joshua Heschels „Renaissance-Hermeneutik“ Abraham Joshua Heschel (1907–1972) kann als jener Denker gelten, der die hermeneutischen Anfragen der jüdischen Renaissance der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus dem deutschsprachigen Bereich nach Amerika trägt. Geboren in einer Familie mit chassidischem Hintergrund in Warschau, ausgebildet in Berlin, wo er von 1927 bis 1933 studierte und promovierte, gelangte Heschel auf seiner Flucht 1940 in die USA, wo er zuerst bis 1945 am reformjüdischen Hebrew Union College in Cincinnati und ab 1945 am konservativen Jewish Theological Seminary in New York lehrte.64 Heschels eigener Denkweg lässt sich am ehesten beschreiben als der Weg von der Phänomenologie hin zu einem theologischen Existentialismus.65 Jüdische Religion lebe, so Heschels Grundannahme, nicht in der Abstraktion denkerischer Auseinandersetzung, sondern in der Konkretion einer Existenz, die mit Gottes Gegenüber rechnet. Dies versuchte Heschel bereits in seiner Dissertation „Die Prophetie“ nachzuweisen,66 in der er dem Pathos Gottes die Sympathie des Propheten zuordnet, welcher dann das Ethos als „Verlangen Gottes“ verkündigt.67 In zwei späteren Büchern konkretisiert er das im Blick 63

Vgl. MEYER: Antwort auf die Moderne, 522–529. Vgl. KROCHMALNIK: Art. Heschel; ausführlicher DOLNA: An die Gegenwart Gottes preisgegeben, 29–76. 65 Vgl. zum Wandel in Heschels Denken auch KAPLAN/DRESNER: Abraham Joshua Heschel, 153–161.333f (Anm.) [Paradigm Shift (1929–1931)]. 66 HESCHEL: Die Prophetie. 67 Vgl. KROCHMALNIK: Art. Heschel, 346. Der Unterschied zur Rezeption des „Prophetischen“ im 19. Jahrhundert ist überdeutlich: Dort wurde das Phänomen der Prophetie inhaltlich abstrahiert. Die Propheten wurden als Künder eines (feststellbaren) Gotteswillens der Veränderung und sozialen Aktion gezeichnet, wodurch letztlich die Singularität der Gottesrelation in die ethisch fokussierte Allgemeinheit hinein aufgelöst wurde. Vgl. dazu oben Kap. 5.2, 134f, und vgl. zu Heschels Sicht der Prophetie DOLNA: An die Gegenwart Gottes preisgegeben, 279–325. 64

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auf die Propheten Gesagte existential: Unter dem Titel „Der Mensch fragt nach Gott“ („Man’s Quest for God“)68 denkt er dem Gebet und den Symbolen als den von Gott eröffneten Wegen einer Gottesrelation von Seiten des Menschen aus nach; in seinem Buch „Gott sucht den Menschen“ („God in Search of Man“)69 beleuchtet er die gleiche Beziehung in umgekehrter Richtung, d.h. von Gottes Aktivität ausgehend. Angelegt ist damit bei Heschel ein Denken, das jede Abstraktion und jeden Idealismus flieht70 und in dieser Hinsicht mit den Wegen Rosenzweigs und Bubers vergleichbar ist.71 Aus dieser religionsphilosophischen Grundlegung ergeben sich auch hermeneutische Konsequenzen. So wendet sich Heschel, besonders in seinen Reflexionen zum Symbol, scharf gegen das im Judentum des 19. Jahrhunderts beliebte Kern-Schalen-Modell. Es gehe nicht darum, im Symbol nach dem eigentlichen, geistigen Gehalt zu suchen, vielmehr müsse das Symbol gelebt werden.72 Liturgisch bedeutet dies für Heschel, die rationalen Reduktionen im Reformjudentum des 19. Jahrhunderts73 ebenso hinter sich zu lassen wie die orthodoxe Tendenz zum Fundamentalismus und sich neu auf das vorgegebene, nicht begrifflich fassbare oder deutbare Symbol einzulassen.74 Auch die Schrift erscheint den religiösen Symbolen vergleichbar. Nach Heschel gewinnt sie ihren Sinn nicht dann, wenn dieser abstrakt aus den Texten erhoben und dann gedanklich festgehalten würde. Vielmehr wird sie zu einem offenen und unausschöpflichen Buch für denjenigen, der sich immer wieder lesend in die Schrift hinein begibt, zweckfrei liest, fast spielerisch, und damit rechnet und darauf hofft, dass sich Bedeutung im Vollzug des Lesens ereignet.75 Wenn Heschel das Gebet und die Schrift in diesem Sinn als Symbole bestimmt, folgt daraus auch die Kritik an einem weithin üblichen Verständnis der Predigt als Lehre und Erwachsenenbildung. Heschel ordnet die Predigt – wie vor ihm schon Rosenzweig – ganz in das Geschehen des Gebets ein: „Predigen ist entweder ein organischer Bestandteil des Betens oder es hat überhaupt keinen Platz.“76 Auf keinen Fall dürften aus Predigten Vorträge 68

HESCHEL: Der Mensch fragt nach Gott. HESCHEL: Gott sucht den Menschen. 70 Vgl. nur DOLNA: An die Gegenwart Gottes preisgegeben, 204. 71 Was Heschel in besonderer Weise mit Rosenzweig verbindet, ist sein Ausgangspunkt bei der jüdischen Liturgie. 72 Vgl. HESCHEL: Der Mensch fragt nach Gott, 83–104. 73 In ihrer Folge hätten diese Veränderungen zur Seichtheit des Gottesdienstes und zum „geistliche[n] Absentismus“ geführt (vgl. HESCHEL: Der Mensch fragt nach Gott, 32–34, Zitat: 33). 74 Hier grenzt sich Heschel implizit auch gegen S. R. Hirschs Symbolik ab, der das Symbol zwar auch leben, seinen ideellen Gehalt aber doch suchen und sprachlich fassen möchte (vgl. dazu oben Kap. 5.3.2, 145–147). 75 Vgl. HESCHEL: Der Mensch fragt nach Gott, 94f; ders.: Gott sucht den Menschen, 20– 27.180–191. 76 HESCHEL: Gott sucht den Menschen, 56. 69

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gemacht werden, die nicht mehr von Leitartikeln der „New York Times“ zu unterscheiden seien und die Gottesdienste zu „Kursen in Erwachsenenbildung“77 degradieren würden. Wenn Predigt auf das Gebet hingeordnet wird, bedeute dies letztlich: Predigen „heißt, ein Wort in der Gegenwart Gottes zu sprechen.“78 Was Heschel über die Aufgabe des Kantors im jüdischen Gottesdienst sagt, könnte daher wohl auch den Prediger charakterisieren. Der Kantor müsse demütig sein vor den Worten des Gebetbuchs, sie immer neu „zum Leben […] erwecken“ und so „ein Licht im Wort“ anzünden.79 Eine homiletische Rezeption der Anstöße Heschels lässt sich in der USamerikanischen Diskussion nur in wenigen Spuren wahrnehmen.80 Entscheidender für homiletische Veränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde vielmehr ein Phänomen, das ich als „Predigtmüdigkeit“ bezeichne.

7.3.2 Beginnende Predigtmüdigkeit Noch in den 1950er Jahren scheint es in reformorientierten Gemeinden kaum eine Predigtmüdigkeit gegeben zu haben. So zeigt eine 1957 durchgeführte Umfrage, dass die Gemeinden mit der Praxis reformjüdischer Predigt durchaus zufrieden waren.81 Die Predigt wurde von den meisten Befragten für deutlich wichtiger gehalten als der Rest des Gebetsgottesdienstes: Für 45 % war sie das Zentrum des Gottesdienstes, nur 25 % hielten die Gebete für wichtiger, das übrige knappe Drittel sprach sich für die Notwendigkeit einer Balance zwischen beidem aus.82 Gewünscht wurden von den Befragten mehr Informationen über das Judentum in den Predigten sowie Anregungen zur Anwendung auf das alltägliche Leben83 – beides Ziele, die der klassischen reformjüdischen Predigt entsprechen. Etwa dreißig Jahre später hat sich das Blatt allerdings völlig gewendet – zumindest wenn man der Einschätzung Jacob Neusners folgt. Natürlich werde noch gepredigt, schreibt Neusner 1987, allerdings sei die Begeisterung für die Predigt verloren gegangen. „It is not that the sermon does not go forward. It is that the ambition for the sermon has been lost; it is now an interval, which people wait out, rather than the highlight – Torah-teaching – 77

HESCHEL: Gott sucht den Menschen, 56. HESCHEL: Gott sucht den Menschen, 56; vgl. dazu DOLNA: An die Gegenwart Gottes preisgegeben, 167. 79 HESCHEL: Der Beruf des Kantors, 201. 80 Vgl. unten Kap. 7.3.3, 209f (Kirschner). 81 Vgl. BLINDER: The Layman’s View. 82 Vgl. BLINDER: The Layman’s View, 18. 83 Vgl. BLINDER: The Layman’s View, 18. 78

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which people anticipate, hear with care, and discuss in length afterward.“84 Jeffrey M. Cohen pflichtet dem 1993 grundsätzlich bei und stellt fest, dass die Predigt zu einer Geschmacksfrage geworden sei. Manche schätzten sie, andere nicht.85 Im Jahr 2000 diagnostiziert Marc Saperstein im Vorwort zum Predigtband seines Vaters Harold I. Saperstein: „The sermon as a form of religious discourse is currently in disrepute within much of the contemporary Jewish community. It is thought to be undemocratic, authoritarian, placing too much upon the shoulders of the preacher and leaving the listeners too passive.“86 Früher als in den Gemeinden lässt sich Predigtmüdigkeit bei den Rabbinern diagnostizieren. Bereits 1957 spricht Jack J. Cohen von der „Schwäche der Predigt“ („weakness of the sermon“)87, die er vor allem auf drei Ursachen zurückführt: Die Gemeinde bleibe passiv und werde durch die monologe Anlage der Predigt (wie auch des gesamten reformjüdischen Gottesdienstes88) in dieser Passivität gehalten.89 Der Rabbiner suche häufig gequält nach aktuellen Themen, über die es sich zu reden lohne.90 Schließlich sei die Predigt aufgrund ihrer der Vorlesung nahekommenden formalen Gestaltung eine schwierige und wenig inspirierende Art der Rede.91 Michael A. Meyer, der generell von einer Krise im Reformjudentum in den 1960er Jahren spricht, sieht diese auch mit einem Rückgang der Bedeutung der Predigt verbunden: Vor dieser Zeit sei es so gewesen, dass

84

NEUSNER: Introduction to the Brown Classic in Judaica Edition, xviiif. „[…] a sermon is a matter of subjective taste. Some want the pulpit to teach Torah; others want it to address itself to topical issues. Some like fire or brimstone; others want calm and wellreasoned presentation of material. Of course, there are those who love a sermon; but there are others who think it achieves nothing. There are some who would replace it with a serious study circle after davening [nach dem Gebet, AD]; and there are others who would replace it altogether with a shortened morning at synagogue, to leave more time for the afternoon schloff!“ (COHEN: Blessed Are You, 234 [Hervorhebungen im Original]). 86 SAPERSTEIN: Witness from the Pulpit, 17. Im Jahr 2003 bestätigt Marc Lee Raphael die Abnahme der Bedeutung der Predigt in Reformkreisen der USA erneut. Einst sei die Predigt Kennzeichen und Aushängeschild der Reformbewegung gewesen. Zur gegenwärtigen Lage schreibt Raphael: „I have remarked on the minimal importance of the sermon in attracting worshippers to any type of Reform congregation, and the general lack of interest among worshippers in discussing the sermon following the service.“ (RAPHAEL: Sabbath Worship, 51; vgl. insg. 51–53). 87 COHEN: The Passing of the Sermon, 20. 88 Vgl. zur zeitgleichen Kritik an der mangelnden Attraktivität reformjüdischer Gottesdienste z.B. FREEHOF: Directions for Reform Judaism, bes. 11f. 89 Vgl. COHEN: The Passing of the Sermon, 20. 90 Vgl. COHEN: The Passing of the Sermon, 20. 91 Vgl. COHEN: The Passing of the Sermon, 20f. Lösungsansätze sieht Cohen in der verstärkten Beteiligung der Gemeinde an der Auswahl der Themen der Predigt, aber auch in der Erprobung von Alternativen zur monologen Predigt: Gemeinsame Arbeit am Text oder auch „adult study courses“ könnten die Predigt ersetzen (vgl. 21f, und unten Kap. 7.3.3, 208). 85

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„sorgfältigst vorbereitete Predigten […] oft eine halbe Stunde oder mehr [dauerten, AD] und […] für die Nachwelt in Tempelbulletins und lokalen Gemeindezeitungen bewahrt [wurden, AD]. Nun wurden die Predigten kürzer, und ihr Inhalt verlagerte sich von umfassenden Anliegen hin zu engeren Themen […]“92.

Eine Folge dieser Entwicklung war auch eine Veränderung des rabbinischen Leitbilds. Verstand sich der Rabbiner der Reformbewegung seit dem 19. Jahrhundert vor allem als Prediger, so sah er sich nun immer stärker als Seelsorger seiner Gemeinde.93 Für Walter Jacob hat der „Niedergang der Predigt“, den er sowohl im Lager der Reformbewegung als auch der konservativen Bewegung bereits im Jahr 1964 diagnostiziert,94 mit dem Ende der fortschrittsoptimistischen Moderne zu tun. Die jüdische Predigt entstamme einer Zeit des Optimismus, in der man meinte, die Welt verändern zu können. Eine thematisch ausgerichtete und ethisch fokussierte Predigt füge sich in eine solche Zeitsituation. Dieser Optimismus aber sei zerbrochen. Das Festhalten an der klassischen Predigt führe daher fast unweigerlich zu deren Rückzug auf die Innerlichkeit, auf Psychologie und das persönliche Leben. Eine wirkliche Lösung dieser Problematik deutet Jacob nicht an; vielmehr geht er davon aus, dass nur noch derjenige zum Predigen in der Lage sei, der glaube, dass der Einzelne Veränderungen in der Welt herbeiführen könne; die anderen müssten auf bessere Zeiten für die Predigt hoffen.95

7.3.3 Reaktionen auf die Predigtmüdigkeit Eine Folge der beginnenden Predigtmüdigkeit besteht darin, dass die Frage nach der Predigt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr im Mittelpunkt rabbinischen Interesses stand. Dennoch finden sich zeitgleich mit ersten Diagnosen einer Predigtmüdigkeit einzelne Artikel in rabbinischen Publikationsorganen96, die die Predigtleidenschaft neu erwecken wollen. In besonders dichter Folge erscheinen solche Artikel in den frühen 1960er Jahren. 92

MEYER: Antwort auf die Moderne, 523. Vgl. zum Rückgang der Bedeutung der Predigt z.B. auch GITTELSOHN: On Being a Rabbi; SILVER: The Core of Our Calling, 4f. 93 Vgl. KARP: The Conservative Rabbi, 161; MAGONET: The Empty Pulpit, 17–19. Vgl. zum rabbinischen Leitbild des Predigers auch DEEG: Pastor legens, bes. 417f. 94 Vgl. JACOB: The Decline of the Sermon. Als Indizien für diesen Niedergang benennt er u.a. die geringe Begeisterung der Rabbiner für die Predigt, die nachlassende Anzahl gedruckter Predigten, das Ausbleiben homiletischer Besinnungen (seit Freehof) und die Konzentration der Homiletik-Lehre in den Ausbildungsstätten auf Fragen der Geschichte der jüdischen Predigt (vgl. 48). 95 Vgl. JACOB: The Decline of the Sermon, 50. 96 Die folgenden Beobachtungen stützen sich vor allem auf eine Untersuchung von CCAR.J, CJud und Reconstructionist.

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So versucht Levi A. Olan dem rabbinischen Predigtfrust eine neue Begeisterung für die Predigt entgegenzusetzen, indem er die theologische und ethische Bedeutung der Predigt ins Bewusstsein ruft.97 In der Predigt gehe es darum, bei den Hörerinnen und Hörern nicht weniger auszulösen als eine „Antwort auf den Anspruch des Höchsten“ („a response to the demands of the highest“98). Sie müsse an den Willen appellieren und dürfe sich keinesfalls auf die Befriedigung intellektueller Bedürfnisse kaprizieren. ‫נעשה‬, lasst uns handeln, so müsse die Antwort der Hörer auf die Predigtrede lauten; dem Prediger müsse es gelingen, „to make something creative happen to a listener“99. Nur so werde die Predigt auch ihrem Ort gerecht: Sie finde im ‫בית‬ ‫( התפלה‬Haus des Gebets; wie die beiden folgenden hebräischen Begriffe eine der möglichen Bezeichnungen für die Synagoge) im Kontext des Gebets statt, nicht etwa als Vorlesung im ‫( בית המדרש‬Lehrhaus) und auch nicht als Unterhaltungsveranstaltung im ‫( בית הכנסת‬Haus der Versammlung).100 Beryl D. Cohon argumentiert demgegenüber eher von den Bedürfnissen der Hörer her. Die Gegenwart sei eine „große Zeit für die Predigt“ („great time for preaching […]“101). Aufgrund der Probleme der Weltlage und der Situation jüdischen Lebens einerseits102 und aufgrund der Tatsache, dass die Predigt noch immer Millionen von Menschen erreiche,103 müsse sie neu als Chance ergriffen werden, müsse der Prediger zum „Wächter“ („watchman“)104 und die Predigt zur Botin von Mut, Glauben, Freude, Trost, Weisheit und Ermahnung werden.105 Voraussetzung ist für Cohon, dass die Predigt ihre Autorität durch das Wort Gottes erhalte, wobei der predigende Rabbiner bei Cohon in einer bedeutsamen Vermittlerrolle erscheint: „Ancient texts are wells of living waters, when touched by the divining rod of an authentic rabbi.“106 Maurice N. Eisendraht möchte die Predigt vom Rabbiner ausgehend erneuern. Für diesen müsse das Studium der Tora wieder zentral werden.107 Eisendraht wehrt sich gegen den Antiintellektualismus des Rabbinats,108 gegen die zunehmende psychologische Verengung rabbinischen Denkens109 und gegen die Überbetonung priesterlicher bzw. pastoraler Rollenbilder gegenüber der prophetischen Aufgabe.110 Im Blick auf 97

Vgl. OLAN: Called to Preach. OLAN: Called to Preach, 4. 99 OLAN: Called to Preach, 4. 100 Vgl. OLAN: Called to Preach, 4. Die liturgische Verortung der Predigt erinnert deutlich an Heschel (vgl. oben Kap. 7.3.1). 101 COHON: A Great Time for Preaching, 49. 102 Cohon erwähnt die nukleare Aufrüstung, die Kriege und die moralischen und ethischen Probleme innerhalb und außerhalb der jüdischen Gemeinden (vgl. COHON: A Great Time for Preaching, 50). 103 Vgl. COHON: A Great Time for Preaching, 49. 104 COHON: A Great Time for Preaching, 50. 105 Vgl. COHON: A Great Time for Preaching, 50. 106 COHON: A Great Time for Preaching, 51. 107 Vgl. EISENDRAHT: The Authority of the Rabbi I. 108 Vgl. EISENDRAHT: The Authority of the Rabbi I, 6. 109 Vgl. EISENDRAHT: The Authority of the Rabbi I, 6. 110 Vgl. EISENDRAHT: The Authority of the Rabbi I, 7. 98

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die Predigt haben diese Entwicklungen dazu geführt, dass man gegenwärtig allerorten „happy rabbis preaching happy sermons before happy people with happy problems“ erlebe.111 Ein neues Lernen der Tora durch den Rabbiner, der selbst „eternal student“ bleiben müsse, werde auch zu einer erneuerten Predigt führen.112 Auch Alton Meyer Winters setzt zur Erneuerung der Predigt beim Rabbiner und seiner Rolle an. Aus der jüdischen Tradition entwickelt Winters drei rabbinische Rollenbilder: den Geschichten erzählenden und die Zuhörer in Geschichten verstrickenden ‫( מגיד‬maggid), den seine Meinung deutlich (und am ehesten in drei Punkten belegt!) vortragenden *‫( מטי‬mattif) und den biblische und rabbinische Texte und gegenwärtiges Leben fragend in Beziehung setzenden ‫( דרש‬darschan).113 Die gegenwärtige Chance der Predigt läge darin, alle drei Traditionen zu nutzen, niemals nur das eine sein zu wollen, sondern aus der Vielfalt heraus jeweils neu eine anregende Predigtrede erwachsen zu lassen.114 Schließlich versuchen Julius Mark115 und Joseph R. Narot116, die Predigtrede durch eine primär formale Neugestaltung im Lernen von der Kunst neu zu beleben. Mark unterscheidet den durchschnittlichen Prediger, der zu großen Teilen ein „Techniker“ sei, von dem wahrhaft großen Prediger, der als „Künstler“ bezeichnet werden müsse.117 Voraussetzung für eine Predigt als Kunst sei es, sich ausreichend Zeit für die Vorbereitung zu nehmen. Darüber hinaus aber könnten keine festen Regeln aufgestellt werden.118 Insgesamt möchte Mark mit Hilfe einer – instrumentell-rhetorisch rezipierten – Kunst zu einer effektiveren Gestaltung der Predigtrede finden. Narot geht weiter und erklärt die „artistry of the spoken word“119 zum Ziel der Predigt. In seinem Aufsatz deutet sich gegenüber Mark an, dass das Kunstparadigma in der Lage ist, die Predigt in formaler und inhaltlicher Hinsicht zu verändern: Narot erkennt, dass der Prediger, der seine Predigt als Kunstwerk verstehe, am Anfang nicht wisse, was am Ende (und d.h. nach der Predigtvorbereitung bzw. im Kontext der Predigtrede selbst) herauskomme.120 Als Beispiel für eine sicherlich nicht nur formale Neugestaltung der Predigtrede verweist er auf eine seiner Predigten am Jom Kippur, die vollständig aus Fragen bestand.121

Trotz aller rabbinischen Zwischenrufe zur Wiederbelebung der Predigt stimmt Hillel E. Silverman in einem Artikel aus dem Jahr 1972 ein „Re111

EISENDRAHT: The Authority of the Rabbi I, 7. EISENDRAHT: The Authority of the Rabbi I, 7. 113 Vgl. WINTERS: Three Types of Jewish Preachers. 114 Vgl. WINTERS: Three Types of Jewish Preachers, 59. Vgl. ähnlich auch ESSRIG: Impressions of Jewish Preaching Today. 115 Vgl. MARK: The Art of Preaching. 116 Vgl. NAROT: The Sermon As a Work of Art. 117 MARK: The Art of Preaching, 8. 118 Vgl. MARK: The Art of Preaching, 8.17. 119 NAROT: The Sermon As a Work of Art, 46. 120 Vgl. NAROT: The Sermon As a Work of Art, 44. 121 Vgl. NAROT: The Sermon As a Work of Art, 47. 112

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quiem for the Sermon“ an.122 Die Predigt als „‚church-inspired‘ evangelical sermon“123 sei tot und verdiene nun eine würdige Beerdigung.124 Drei Gründe führt Silverman für seine These an: Zum einen seien die Bibeltexte inzwischen zu unbekannt für die Gemeinden. Eine irgendwie den Text interpretierende Predigt sei daher nicht mehr sinnvoll.125 Zum zweiten sei die Predigt rhetorisch aufgrund ihrer „phoniness“ und „pomposity“ nicht mehr möglich.126 Der wichtigste Grund aber liegt für Silverman darin, dass die Gemeinden inzwischen aus gebildeten Mitgliedern bestünden, sodass eine Predigt, in der der Prediger seine Gemeinde über alle möglichen Themen jüdischen Lebens belehre, nicht mehr in die Zeit passe.127 Nötig sei vielmehr eine dialogische Gestaltung jüdischer Lehre in den Gemeinden.128 Damit verweist Silverman auf eine – im US-amerikanischen Judentum seit den 1960er Jahren – häufig vorgeschlagene Möglichkeit radikaler Veränderung der Predigt: ihre Ersetzung durch dialogisch inszenierte Lehre.129 Ein praktisches Beispiel führt etwa Terry R. Bard in einem Beitrag aus dem Jahr 1996 vor Augen.130 Er schildert ein homiletisches Projekt anlässlich der Hohen Feiertage (Rosch ha-Schana bis Jom Kippur). Anstatt eine fertige Predigt vorzulegen, stellte er der Gemeinde mit Hilfe einer Overhead-Projektion Fragen, die auf Kärtchen beantwortet werden konnten. Einige dieser Antworten wurden dann im Gottesdienst verlesen.131 Bard berichtet von manchen kritischen, aber vielen zustimmenden Äußerungen in seiner Gemeinde auf diese Methode.132 Marc Lee Raphael beschreibt solche dialogischen Predigten als einen Typ der Predigt im gegenwärtigen Reformjudentum Nordamerikas. Daneben würden in manchen Gemeinden noch klassisch-moderne Predigten gehalten. Vielfach bewege sich die Predigtrede zwischen den beiden Extremen, und Predigt sei eine – im Vergleich zur klassischen Predigt – „lockerere“ rabbinische Rede.133

122

Vgl. SILVERMAN: A Requiem. Vgl. ähnlich bereits PRICE: The Thematic Sabbath Service. SILVERMAN: A Requiem, 8. 124 Vgl. SILVERMAN: A Requiem, 7. 125 Vgl. SILVERMAN: A Requiem, 7. 126 SILVERMAN: A Requiem, 7. 127 Vgl. SILVERMAN: A Requiem, 7. Die Ansichten Silvermans forderten noch in der gleichen Ausgabe des „Reconstructionist“ Diskussionen heraus. Fünf Reaktionen wurden abgedruckt, die zwar im Detail differenzieren, alle aber darin einig sind, dass die klassisch-erbauliche Predigt an ihr Ende gekommen sei; vgl. Reconstructionist 38, 1972, H. 1, 8–19. 128 Vgl. SILVERMAN: A Requiem, 8f. 129 Vgl. auch ROSEN: Preaching Aids, 37, der 1985 davon spricht, dass viele jüngere Kollegen nicht mehr predigen würden, sondern stattdessen „study sessions on Sabbath mornings“ abhielten. Vgl. zu christlichen Experimenten mit dialogischen homiletischen Formen in den USA z.B. CRADDOCK: As One Without Authority, 18f. 130 BARD: An Interactive Approach to High Holiday Sermons. 131 Vgl. BARD: An Interactive Approach to High Holiday Sermons, 89f. 132 Vgl. zu den Reaktionen BARD: An Interactive Approach to High Holiday Sermons, 91f. 133 Vgl. RAPHAEL: Sabbath Worship in the American Reform Synagogue, 45–47. 123

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1991 meldete sich Silverman erneut homiletisch zu Wort. Gegenüber seiner früheren Äußerung aus dem Jahr 1972 möchte er der Predigt nun nicht mehr generell ein Requiem anstimmen. Dennoch sieht er sie noch immer als ein „highly irrelevant and a frustrating exercise in futility“.134 Seine Alternative lautet: ein kurzer Freitagabendgottesdienst mit einem Dvar Tora (‫דבר‬ ‫)תורה‬135 und ein längerer Samstagvormittaggottesdienst mit einer „teaching lesson for study and dialogue“136. Mit dem Stichwort „Dvar Tora“ ist auf eine vor allem in der Orthodoxie häufige Form verwiesen, die jenseits der modernen Predigt auch im reformorientierten Judentum der USA gegen Ende des 20. Jahrhunderts neue Bedeutung erlangte137 und dort auf ein wiedererwachtes Interesse am Textstudium in den Gemeinden traf.138 Es handelt sich um meist kürzere Behandlungen des Wochenabschnitts der Tora, die teilweise schriftlich an die Gemeinden verteilt, teilweise mündlich im synagogalen Kontext vorgetragen werden. Sie stellen Fragen zu den biblischen Texten, suchen nach einzelnen Antworten, stützen sich dabei auf traditionelle und moderne Auslegungen – und haben bei alledem nicht den formalen und inhaltlichen Anspruch, zu einer formvollendeten modernen Predigt zu werden.139 1995/96 nimmt der Reformrabbiner Robert Kirschner die Diskussion um die Möglichkeit der Predigt grundlegend wieder auf und fragt: „Is there still a place for the sermon?“ Trotz aller Krisenphänomene140 hält Kirschner an der Bedeutung der Predigt fest. Nötig sei allerdings eine erneuerte Hermeneutik, die die Schrift als Leben spendendes Wort erkenne, nicht aber als Zitatenlieferant zur Absicherung von Predigtaussagen missbrauche. Eine das Wort der Tora wertschätzende Hermeneutik möchte Kirschner etwa bei Erich Auerbach oder Abraham Joshua Heschel lernen.141 Predigt müsse sich 134

SILVERMAN: Homiletics Seminar, 208. Vgl. SILVERMAN: Homiletics Seminar, 209f. 136 SILVERMAN: Homiletics Seminar, 210. 137 Vgl. ARTSON: Delivering the Classical D’var Tora; KAPLAN: American Reform Judaism, 94. 138 Vgl. Rachel Mikva, die das neu erwachte Interesse am Tanach in reformorientierten Gemeinden als eine der aufregendsten Entwicklungen der vergangenen Jahre bezeichnet (zitiert in: BOROWITZ/MATES-MUCHIN: The Postmodern Mood in the Synagogue, 114). 139 Vgl. exemplarisch den Sammelband LERNER: Words of Torah. Auch die in der „Jüdischen Allgemeinen“ regelmäßig erscheinenden Auslegungen der Wochenabschnitte könnten als Divre Tora bezeichnet werden; vgl. ähnlich auch die Meditationen in LEIBOWITZ: Seven Years of Discourses. Kritisch zur zunehmenden Praxis, anstatt der Predigt auf Dvar Tora auszuweichen, äußert sich Gilbert S. Rosenthal (ROSENTHAL: Jewish Preaching Today). 140 Vgl. KIRSCHNER: Is there Still a Place, 13–16. 141 Vgl. KIRSCHNER: Is there Still a Place, 16. Eine erneuerte Tora-Hermeneutik kennzeichnet aber auch die Entwicklungen der reformjüdischen Grundsatzerklärungen in den USA seit der „Columbus-Platform“ 1937. Vgl. die „Centenary Perspective“ aus dem Jahr 1976 (und dazu BOROWITZ: Platforms and Principles), dann aber vor allem „The 1999 Pittsburgh Platform“. Die bibli135

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zwischen alter Weisheit und moderner Erfahrung bewegen, ohne das eine auf Kosten des anderen zu opfern.142 Mit der veränderten Hermeneutik geht auch eine veränderte Sicht der Gemeinde einher. Diese dürfe nicht mehr länger als zu belehrendes Gegenüber wahrgenommen werden. Sie sei vielmehr entscheidend an der Konstitution der Predigt beteiligt: Die Predigt sei, so Kirschner, dem Konsonantenbestand der hebräischen Bibel vergleichbar. Die Gemeinde fülle diesen durch ihre Rezeption mit Vokalen und mache sie so allererst lesbar.143 Schließlich müsse eine neue Form der Predigt gefunden werden, die sich vom klassischen Vortrag mit seiner Ausrichtung auf Argumentation verabschiede und neu den Reichtum poetischer Sprache lerne.144 Insgesamt deutet Kirschner sehr knapp das Programm einer durch eine deutlicher skripturale Tora-Hermeneutik erneuerten jüdischen Predigt an, die formal und inhaltlich das Paradigma der modernen Predigt hinter sich lässt. In dem chronologisch angelegten Überblick dieses Abschnitts habe ich bisher den 1975 veröffentlichten Artikel von Samuel E. Karff „Rooted in Reality. In Defense of Aggadah“ übersprungen. Dies deshalb, weil mir Karffs flammendes Plädoyer für die rabbinische Haggada und ihre gegenwärtige Bedeutung, die er auch – allerdings knapp – in Richtung einer Reformulierung der Aufgabe jüdischer Predigt beschreibt, als in besonderer Weise weiterführend erscheint. Die Haggada sei, so Karff, weit mehr als „homiletische Ausschmückung“ („homiletical ornamentation“)145, sie sei vielmehr als „Grundsprache des jüdischen Glaubens“ („primary language of the

schen Texte werden hier bewusst wieder als „heilige Texte“ („sacred texts“) bezeichnet. Als solchen solle ihnen Glaube entgegengebracht werden, ohne dabei allerdings die kritische Wissenschaft aus dem Blick zu verlieren. Auch fordere die Tora zu lebenslangem Lernen und zum Tun der Mizwot auf. Vgl. auch Dow Marmur, der im Blick auf die geplante Erklärung schreibt: „We have come to realize that worship that reduces Torah reading to a ritual and divorces preaching exposition of sacred texts detaches us from God and reduces prayer to therapy.“ (MARMUR: The Tension between Vox Dei and Vox Populi, 12) Vgl. zur Kritik an der erneuerten Tora-Hermeneutik AARON: The First Loose Plank, bes. 102–104. Zur Diskussion insgesamt vgl. KAPLAN: American Reform Judaism, 233–253; ders.: Contemporary Debates. Als Dokument einer sich erneuernden Tora-Hermeneutik kann bereits der Tora-Kommentar gelesen werden, der von W. Gunther Plaut ab 1981 im Auftrag der Union of American Hebrew Congregations herausgegeben wurde (vgl. dazu ZIMMERMANN: Rez. zu: The Torah, 78; PLAUT: Reflections on the New Commentary). Besonders bemüht sich auch Arnold M. Eisen um eine Erneuerung im Reformjudentum durch intensivere Beachtung der Tora (vgl. EISEN: Taking Hold of Torah). 142 Vgl. KIRSCHNER: Is there Still a Place, 20f. 143 Vgl. KIRSCHNER: Is there Still a Place, 25. 144 Vgl. KIRSCHNER: Is there Still a Place, 23f. 145 KARFF: Rooted in Reality, 3.

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Jewish faith“)146 zu verstehen. In einem weiten Verständnis von Haggada könnten auch Liturgie und Predigt als Haggada bezeichnet werden.147 Verstünde sich Predigtrede in diesem Sinn haggadisch, so wäre sie hermeneutisch in der Lage, das Leben des Einzelnen und das Leben der Gemeinschaft mit der Geschichte Gottes in Beziehung zu setzen.148 Darüber hinaus gelänge es ihr, Reflexion und Emotion miteinander zu verbinden.149 Schließlich bliebe sie flexibel genug, um immer neu auf die Zeit zu reagieren und in die Zeit hinein zu sprechen. Gebunden wäre sie lediglich an die Größen Gott, Tora und Israel, die – in meinen eigenen Worten – das Spielfeld haggadischer Freiheit eröffnen.150 Wichtig erscheint Karff zudem, die Haggada beständig mit der unmittelbar auf das konkrete Handeln im Leben bezogenen Halacha zu verbinden.151 Mit Karffs Hinweisen – um mehr handelt es sich in dem kurzen Aufsatz nicht – deutet sich eine hermeneutisch orientierte Relektüre der rabbinischen Tradition mit dem Ziel der Reformulierung gegenwärtiger Predigtrede an – und dies noch vor der Epoche, die ich als midraschischen Frühling bezeichne und auf die ich im Folgenden zu sprechen komme.

7.4 Midraschischer Frühling und die Frage nach homiletischen Blüten Der Midrasch wurde in den USA seit den 1980er-Jahren vor allem im Schnittbereich von Literaturwissenschaft und Judaistik vielfach rezipiert und als herausforderndes hermeneutisches Paradigma neu entdeckt.152 So erkannte Susan Handelman in ihrer Monographie aus dem Jahr 1982 im vormodernen Midrasch das Gegenstück zu einer problematischen abendländisch-griechisch-logozentrischen Hermeneutik und damit den Prototyp einer gegenwärtig bedeutsamen nach-modernen Lehre des Verstehens.153 In Zustimmung, Abgrenzung und differenzierender Aufnahme dieser grundlegenden These erschienen zahlreiche weitere Arbeiten – ein „midraschischer Frühling“ im universitären Bereich. Gleichzeitig aber wurde der Midrasch auch im Blick auf die praktische Arbeit in den Gemeinden neu rezipiert. Als leitende Formel dieser Aufnahmen könnte Elie Wiesels Satz gesehen werden: „Der Midrasch ist für die Bibel, was die Phantasie für die 146

KARFF: Rooted in Reality, 3. Vgl. KARFF: Rooted in Reality, 4. 148 Vgl. KARFF: Rooted in Reality, 4f. 149 Vgl. KARFF: Rooted in Reality, 7. 150 Vgl. KARFF: Rooted in Reality, 8f. 151 Vgl. KARFF: Rooted in Reality, 10. 152 Vgl. unten Kap. 10.1. 153 Vgl. HANDELMAN: The Slayers of Moses, vgl. dazu unten Kap. 10.1.1, 278f. 147

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Erkenntnis ist.“154 Anstatt abstrahierend, deduktiv mit der Bibel umzugehen, wurden neue Wege eines phantasievollen, konkreten, induktiven Lesens der Bibel gesucht. So erscheinen in CCAR.J seit den 1980er Jahren vermehrt Beiträge über den Midrasch155 sowie vom rabbinischen Midrasch angeregte kreative Bibelinterpretationen, sogenannte „Creative Midrashim“156. Daneben erkenne ich vor allem zwei Versuche, vom Midrasch ausgehend zu Neugestaltungen praktischer Arbeit mit biblischen Texten zu gelangen: die Ansätze im „Institute for Contemporary Midrash“ (7.4.1) und Peter Pitzeles „Bibliodramatic Midrash“ (7.4.2).

7.4.1 Der Midrasch als „Living Text“ in der Arbeit des „Institute for Contemporary Midrash“ (ICM) Ausgangspunkt für die Arbeit des Instituts157 ist das, was das Institut „midrashic process“ nennt: „[…] the midrashic process holds the potential to re-animate biblical text for this generation, to restore ownership of religious imagination to individuals, and to provide healing and meaning in an often fragmented society.“158 Auf dieser Grundlage versucht das Institut seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre durch Publikationen und Seminare, diesen „midrashic process“ einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Bis zum Jahr 2001 fanden insgesamt sechs „Summer Training Intensives“ statt, bei denen in einer dichten Woche verschiedenste „midraschische Prozesse“ erprobt werden konnten; im Jahr 2004 wurde diese Arbeit neu aufgenommen. Gleichzeitig gab man seit 1997 die Zeitschrift „Living Text. The Journal of Contemporary Midrash“ heraus. Mit dem achten Heft (2000) wurde diese Zeitschrift als eigenständige Publikation eingestellt. Eine kurze Auswertung der acht erschienenen Exemplare der Zeitschrift soll Grundlagen, Wege und Ziele einer praktischen Rezeption des Midrasch im ICM zeigen.

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WIESEL: Adam oder das Geheimnis des Anfangs, 15. Vgl. z.B. SEGAL: Form and Meaning in Midrash; MARGOLIS: Postmodern American Judaism, bes. 43f. 156 Solchen Creative Midrashim ist z.B. die ganze Sommerausgabe von CCAR.J 1999 gewidmet. Die Hermeneutik dieser Versuche bringt Norman J. Cohen bereits 1983 zur Sprache (COHEN: Heeding the Angel’s Cry). Der Einzelne müsse sich in der Nähe des Textes bewegen, den Text unmittelbar mit seiner eigenen Person konfrontieren und dem Text so erlauben, „to resonate within our souls and become a part of the fabric of our lives“ (1). Vgl. auch COHEN: Surviving the Wilderness; ders.: The Way into Torah. 157 Das Institut hat seinen Sitz in Philadelphia (PA); vgl. www.icmidrash.org. 158 Zitiert aus der Internetinformation unter www.icmidrash.org; vgl. auch PITZELE: Bibliodrama, 52 Anm. 1. 155

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(1) Midrasch als kreativer Umgang mit dem „heiligen Text“: Die Beiträge der Zeitschrift verstehen Midrasch als künstlerisch-kreative Beschäftigung mit dem Text der Bibel. Es gehe – so Naomi Mara Hyman im eröffnenden Wort des ersten Heftes – um eine kreative Erneuerung des „klassischen Umgangs mit unseren heiligen Texten“ („ancient engagement with our sacred texts“)159. Die verschiedenen Künste weisen dabei die Wege midraschischer Kreativität: „Midrash is being danced, sung, performed and painted […]“160. Nach John Shelby Spong ermögliche der künstlerisch-kreative Umgang mit dem feststehenden alten Text der Schrift einen Weg jenseits der Alternativen von Fundamentalismus und Liberalismus.161 Im Kontext von Hyman interpretiert würde Fundamentalismus eine Konzeptualisierung der Heiligkeit ohne gleichzeitigen Blick auf die je individuelle Kreativität bedeuten, Liberalismus umgekehrt die Zurückstellung der Heiligkeit der Schrift zugunsten eigener, rein subjektiver Wege der Interpretation. Auch Susan P. Fendrick sieht Heiligkeit des Textes und Kreativität der Beschäftigung mit ihm keineswegs als Alternativen, sondern eher als ein Spannungsfeld, in dem durch den Funkenschlag zwischen beiden Polen Energie frei wird. Die Erwartung an die heiligen Texte mache die kreative Suche interessant.162 Wie – um es mit einem Bild von Jill Hammer zu sagen – es eben vielversprechend sei, in Jerusalem archäologische Ausgrabungen durchzuführen – und nicht unbedingt im eigenen Vorgarten.163 (2) Die Vielfalt midraschischer Wege: Die meisten Beiträge der Zeitschrift stellen Beispiele für unterschiedliche kreative Wege im Umgang mit der Schrift vor. Ich benenne die wesentlichen Formen, die der Midrasch dabei annehmen kann, um das weite Spektrum vor Augen zu führen: Midrasch entsteht in Nacherzählungen biblischer Geschichten, die dann besonders auf die Freiräume und offenen Stellen164 sowie anregende Intertextualitäten achten165, oder in inszenierten Dialogen mit dem biblischen Text166. Vielfach erscheint der Midrasch als Lyrik,167 gelegentlich als Theater,168 bildende Kunst (Bild169, rituelle 159

HYMAN: Welcome to Living Text; vgl. auch HAMMER: Interview with Moshe Waldoks. HYMAN: Welcome to Living Text; vgl. auch GOLDBARD: Creative Risk. 161 Vgl. MOSS-COANE: Reading the Gospels, 26.35. Vgl. dazu auch KRONDORFER: Abraham, Isaac & Co., 32. 162 FENDRICK: Entering Biblical „Halakhah“, 30. 163 Vgl. HAMMER: Editor’s Message, in: Living Text 3. 164 Vgl. HAMMER: Mitosis; BREGMAN: Serach; PHILIPS: Lunch with God u.v.a. 165 Vgl. COHEN: The Blessings of Yitzhak & Yishmael; WALTON: The Birthing. 166 Vgl. z.B. SCHWARTZ: Abraham in Egypt. 167 Beispiele für solche lyrischen Texte finden sich in beinahe jedem Heft von Living Text. 168 Vgl. SELTZER: The Rape of Dinah; BAER MOZES: From White Fire to Black Ink. Baer Mozes vergleicht das Theater, in das man nicht gehe, um den Text zu lesen, sondern die Inszenierung zu erleben, mit der Synagoge, in die man nicht gehe, um peschat zu hören, sondern derasch (vgl. 38). 169 Vgl. STEIN: Creating Visual Midrash; OELBAUM: Perek Shira. 160

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Kleidung170, Skulptur171, Holzschnitt172, Masken173), als Musical174 und Lied175, Bewegung176 und Tanz177. Midrasch kann in einer Schreibwerkstatt entstehen,178 in einem Film179 oder einer Oper180 entdeckt werden oder sich als Bibliodrama entfalten181.

(3) Das Ineinander von Text und Leser als Ziel des midraschischen Weges: Die Wege der Kreativität im Umgang mit dem biblischen Text koinzidieren in dem Ziel einer Begegnung von Leser und Text in der Inszenierung des Midrasch.182 Jill Hammer führt dies in Aufnahme von Ex 3 vor Augen. Sie fordert im Vorwort der zweiten Ausgabe dazu auf, sich mit den Midraschim des Heftes auf die Reise zu begeben: „Take some water along and a good pair of hiking shoes. Or take off your shoes entirely. ‚The ground where you are standing is holy‘.“183 Zusammenfassend eröffnen die Beiträge in „Living Text“ ein breites und durchaus faszinierendes Panorama, das aufzeigt, wie Anregungen durch die Neuentdeckung des Midrasch in unterschiedlichen praktischen Gestaltungen Früchte tragen können. Gleichzeitig aber sind die acht Ausgaben des Heftes von einer durchgehenden reflexiven Unschärfe geprägt: Jenseits einer Faszination von „midraschischer“ Phantasie und Kreativität wird kaum gefragt, was die spezifische Hermeneutik des (rabbinischen) Midrasch kennzeichnet, ob es Grenzen der Auslegung gibt bzw. inwiefern die verschiedenen Beiträge zu Recht unter der Bezeichnung „Midrasch“ zusammengefasst werden.184 So scheint ein sehr weites Verständnis von Midrasch die meisten

170

Vgl. FEUER: Making Ritual Garments one’s Own. Vgl. z.B. den Weg des „visual midrash“ durch Jo Milgrom (MILGROM: Jewish Experience and the Art of Detritus). Milgrom verbindet Funde aus Genizot mit biblischen Versen. 172 Vgl. STAVROULAKIS: A Midrash on the Book of Proverbs. 173 Vgl. BENTON: Masks and Tales. 174 Vgl. CLEARFIELD: Honoring Women. 175 Vgl. HIRSCHHORN: Midrash through Song; BUDMOR: The Curse of Hagar. 176 Vgl. SHAPIRO: On Choreographies. 177 Vgl. GLECKMAN HAYMAN: From the Camel’s Mouth. Vgl. zum Midrasch als Tanz auch TUCKER/FREEMAN: Torah in Motion. 178 Vgl OSTRIKER: Midrash and Multiplicity. 179 Vgl WALTON: Prince of Egypt; HAMMER: Welcome to Living Text. 180 Vgl. HAMMER: Review: The Endless Road. Vgl. dazu oben Kap. 6.4, 186f. 181 Vgl. ALDEBERT: Bibliodrama with Christians, Jews and Muslims; FENDRICK: Entering Biblical „Halakhah“; KRONDORFER: Abraham, Issac & Co. 182 Vgl. COHEN: New Wine in Old Vessels, 13; WEISBERG: Artist’s Statement; RAND: Some Thoughts on Midrash, 2. 183 HAMMER: Editor’s Message, in: Living Text 2. 184 Vgl. hierzu allerdings den Leserbrief in Living Text 2,2: „If the creative processes we are discussing are indeed to be considered midrashic […]“ (Harry Brod [Hervorhebung AD]). Die Frage nach einer Grenze der Aufnahme des Terminus „Midrasch“ stellt auch WALTON: Disturbing Boundaries. 171

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Beiträge zu leiten, das exemplarisch David Curzon in einem Interview wie folgt auf den Punkt bringt: Midrasch bedeute „[…] retelling an old story in a manner which gives new emphasis to it and makes it contemporary.“185 Vor allem fällt auf, dass der rabbinische Midrasch in seinen konkreten Texten und Formen wenig beachtet wird. Dies bestätigt Ruth Sandberg, die davon spricht, dass es sich bei den Versuchen gegenwärtiger Midraschrezeption im ICM eher um einen „populären Midrasch“ („folk midrash“) handle. Auch dieser sei aber ein altes Phänomen, das schon in rabbinischer Zeit existierte und dort – jenseits der strengeren Formen des rabbinischen Midrasch – etwa in den Pseudepigraphen Niederschlag gefunden habe.186 Das Logo des Instituts zeigt ein aufgeschlagenes Buch, dessen Zeilen auf einer Seite aus dem Buch heraus fließen – aus dem Buch ins Leben, so ließe sich das Logo deuten. Neben der Unschärfe des Begriffs Midrasch bringt das Logo damit die zweite Problematik der Ansätze des Instituts bildlich auf den Punkt. Zahlreiche midraschische Versuche aus „Living Text“ verstricken sich nicht – wie der rabbinische Midrasch mit seiner skripturalen Hermeneutik – mit den Fragen des Lebens langsam lesend in die Texte, sondern nehmen den Text als Sprungbrett für eigene Aussagen und Gestaltungen, auch für eigene (und nicht selten sehr einlinige) applikative Anwendungen aufgrund des im Text „Gemeinten“.187 Hermeneutisch bleiben sie so hinter der durch eine Betrachtung des Midrasch möglichen Wende zurück und setzen tendenziell die Linien meta-skripturaler Hermeneutik (auf allerdings teilweise sehr kreative Weise) fort, die von der in der Auslegung zu erkennenden Textbotschaft zu deren Anwendung in die Gegenwart fortschreiten. Deutlicher in der hermeneutischen Spur des rabbinischen Midrasch bleibt Peter Pitzele, auf dessen bibliodramatische Arbeit ich im Folgenden eingehe.

7.4.2 „Bibliodramatic Midrash“ In seinem Buch mit dem Titel „Scripture Windows“ stellt Peter Pitzele seinen „Bibliodramatic Midrash“ vor.188 Das Bild der „Fenster zur Schrift“ 185

Curzon, zitiert in: HAMMER: Interview with David Curzon, 20. Vgl. SANDBERG: The Ancient Roots of Jewish Folk Midrash, bes. 6–8. 187 Vgl. hier nur DOULOS: In Spite of the Consequences, 30: „They [diese midraschischen Auslegungen, AD] […] convey the original truth in a contemporary and meaningful way.“ Vgl. ähnlich BLOCH: Taking it Personally, bes. 8. Vgl. auch die Zielbestimmung des Midrasch, die sich in dem Nachruf auf Yehudah Amichai (In Memoriam) findet: Im Midrasch gehe es darum, „to break through the words into their eternally present and relevant human content.“ 188 PITZELE: Scripture Windows. Vgl. zu Pitzele auch KAPLAN: American Reform Judaism, 58– 61, bes. 61. 186

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steht dabei für seine doppelte Intention: Einerseits gehe es darum, durch das bibliodramatisch-midraschische Fenster hindurch in die Welt der Schrift zu sehen und in die Schrift zu führen, nicht aber über sie zu reden;189 gleichzeitig aber spiegele das Glas des Fensters auch die eigene Person des Betrachters, was als Bild dafür gesehen werden könne, dass die Schrift immer im Spiegel eigener Betrachtung wahrgenommen werde.190 Vom rabbinischen Midrasch lernt Pitzele dessen offene und dialogische Struktur und entwickelt daraus seine bibliodramatische Methodik, die drei Phasen kennt: (1) Im „warm-up“ geht es zunächst um die eigene Vorbereitung des Bibliodramaleiters,191 dann aber auch darum, die Gruppe auf das Bibliodrama einzustimmen, vor allem „to break down the passive expectations of theater or the right answer/wrong answer mind-set of the classroom“192. (2) Es folgt die Phase der Durchführung des Bibliodramas („action“193). Bei dieser kommt es Pitzele darauf an, dass die Gruppe in das biblische Wort hineintritt und hineingezogen wird.194 Der Begriff „trance“ dient bei Pitzele zur Beschreibung des zu erreichenden Zustandes einer „dramatic illusion“.195 Die Gruppe verwandelt sich zu Mitspielerinnen und Mitspielern in den biblischen Geschichten. Rollen können erprobt, Erfahrungen der biblischen Figuren mit eigenen Erfahrungen verbunden werden. „The critical faculty is [während dieser Phase der „trance“, AD] not suppressed, it is willingly suspended.“196 (3) Wichtig wird schließlich – nach der Phase der „trance“ – das „reviewing“: Die Teilnehmenden treten wieder aus ihren Rollen heraus, teilen ihre Erfahrungen miteinander und reflektieren sie.197 Pitzeles Buch enthält keinen eigenen Abschnitt einer ausführlichen Reflexion dessen, was er unter midraschischer Hermeneutik versteht. Grundlegend aber unterscheidet er „Midrash“ (großgeschrieben) als die rabbinische Aktivität der Schriftauslegung und „midrash“ als das, was bis heute 189 Nie mehr solle – so Pitzele – die Schrift nach dem Bibliodrama gelesen werden wie vorher (vgl. PITZELE: Scripture Windows, 45). Der Text solle spielerisch so inszeniert werden, dass es zu einer Begegnung („encounter“; 90–105) komme, in der der Text „interpretiert“ werde (vgl. 54). 190 Vgl. PITZELE: Scripture Windows, 4. Vgl. zur Bedeutung des „Bibliodramatic Midrash“ für die eigene Selbsterkenntnis auch 54.90.99.193–197. Wichtig bleibt für Pitzele aber, dass es sich beim „Bibliodramatic Midrash“ – im Unterschied zum „participant-centered Bibliodrama“ (vgl. 225–227) – nicht um Therapie im engeren Sinn handele (vgl. 99 Anm. 15.194). 191 Pitzele nennt ihn „director“ oder „facilitator“, vgl. PITZELE: Scripture Windows, 35 u.ö.; vgl. insg. 108–119. 192 PITZELE: Scripture Windows, 36; vgl. insgesamt zum „warm up“ 34–36.121–136. 193 Vgl. PITZELE: Scripture Windows, 36f; mit den Methoden der Interaktion zwischen Teilnehmenden und Leitung beschäftigt sich das Buch ausführlich, vgl. 39–51.137–202. 194 Vgl. nur PITZELE: Scripture Windows, 9.56. 195 Vgl. PITZELE: Scripture Windows, 137–139, Zitat: 137. 196 PITZELE: Scripture Windows, 137 [Hervorhebung im Original]. 197 Vgl. PITZELE: Scripture Windows, 37–39.203–211.

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methodisch rezipierbar bleibe.198 Implizit ergibt sich bei der Lektüre des Buches ein Einblick in die Charakteristika des Midraschischen bei Pitzele, die ich in drei Aspekten zusammenfasse: (1) „Sense of Expectancy“199: Entscheidend sei die Art und Weise der Annäherung an die Schrift. Es gelte, sich nicht einem alten Dokument zuzuwenden, dessen Bedeutung mühsam erst ermittelt werden müsste, sondern an ein „Fenster mit Aussicht“ zu treten.200 Im Nachgehen, Nachspielen und Neu-Inszenieren der Texte zeige sich deren Aktualität, die plötzlich als solche aufscheinen könne.201 Diese Aktualität unterscheidet sich insofern von jeder klassischen applicatio, als sie die Wahrnehmung der eigenen Verstrickung in die Geschichte und damit in das über den einzelnen Geschichten stehende Drama Gottes mit der Welt bedeute.202 Es klingt wie eine Aufnahme von Dietrich Ritschls story-Konzept, wenn Pitzele schreibt: „The realms of the Bible and our lived lives fuse and counterpoint. Our little stories pop open inside the big story; threads of connections cross from us to the biblical narrative and from the biblical narrative back to us.“203 Voraussetzung und Folge solcher neuen Erfahrungen mit der Schrift sei ein langsames Lesen der einzelnen Worte, das auf Details achtet.204 (2) Schwarzes und weißes Feuer – Grenzen und Offenheit: Pitzele nimmt das rabbinische und kabbalistische Bild auf und nennt die Buchstaben der Bibel das schwarze Feuer, in deren Zwischenräumen das weiße Feuer lodere und neue Erfahrungen ermögliche.205 Da die Schrift nicht alles erzähle, lasse sie Lücken, die unterschiedlich und kreativ gefüllt werden könnten.206 „Bibliodrama is not a tool for indoctrination; it is a method of exploration.“207 Das schwarze Feuer gibt der spielerischen Freiheit der Auslegung dabei sozusagen das Spielfeld vor: „The written words are there to return to as boundaries, as markers.“208 (3) „Empowerment“209: Die biblischen Texte dürften nach Pitzele kindlich und naiv befragt werden.210 In dieser Hinsicht sei das bibliodramatische Spiel – im Ge198 Vgl. PITZELE: Scripture Windows, 11f. Dieses „Midraschische“ bezeichnet Pitzele auch als „spirit of midrash“ (31). 199 PITZELE: Scripture Windows, 135. 200 Vgl. PITZELE: Scripture Windows, 62.135. Vgl. auch den Rückgriff auf Abraham Joshua Heschel, der als Gewährsmann für eine erwartungsvolle Grundhaltung gegenüber der Schrift steht (26). 201 Vgl. PITZELE: Scripture Windows, 15.59.89f. 202 Vgl. PITZELE: Scripture Windows, 176. 203 Vgl. PITZELE: Scripture Windows, 187. Die Erfahrung einer solchen Verstrickung in die größere Geschichte bedeute eine Neubeheimatung (vgl. 214) in der Schrift und so die Möglichkeit der Heilung eigener Lebensgeschichte (vgl. 213–215). 204 Vgl. PITZELE: Scripture Windows, 26.30.160. 205 Vgl. oben Kap. 4.2.2, 113f; vgl. auch SCHRAMM: Schwarzes und weißes Feuer; ROJTMAN: Black Fire on White Fire; vgl. bei PITZELE: Scripture Windows, 23f. 206 Vgl. PITZELE: Scripture Windows, 15 (sowie zur Kreativität 23.26.154f). 207 PITZELE: Scripture Windows, 220. 208 PITZELE: Scripture Windows, 56; vgl. ders.: Bibliodrama, 51f. 209 PITZELE: Scripture Windows, 209. 210 Vgl. PITZELE: Scripture Windows, 26.54.

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gensatz zu einer wissenschaftlichen Exegese – voraussetzungslos und könne gesehen werden als „a method of empowerment. It puts back in the hands of the layperson the means for making meaningful, relevant interpretations of biblical materials.“211

Pitzele betrachtet sein eigenes Modell selbstkritisch und fragt vor allem nach der Macht des Bibliodrama-Leiters: „[…] the role of the director as spelled out in this manual is in many ways as dominating and determining as the role of the priest or rabbi whose place, in a sense, the director usurps.“212 Zugespitzt ließe sich m.E. sogar fragen, ob die Art der Leitung des „Bibliodramatic Midrash“ nicht unter Umständen zu dem genauen Gegenteil dessen führen könnte, was rabbinischen Midrasch kennzeichnet. Dort werden die einzelnen Stimmen der Schriftausleger in aller Regel deutlich beim Namen genannt. Sie stehen daher hinterfragbar und kritisierbar vor Augen. Anders der „director“ in Pitzeles Konzept, der aufgrund seiner Vorarbeiten unter Umständen durchaus ein Ziel des bibliodramatischen Spiels vor Augen hat, auf jeden Fall eine Richtung des Spiels vorgibt, diese aber nicht explizit artikuliert. Mit der Arbeit des „Institute for Contemporary Midrash“ und mit dem Hinweis auf die bibliodramatische Midrasch-Adaption durch Peter Pitzele sind Wege einer praktischen Rezeption des Midrasch angedeutet. Eine dezidiert homiletische Aufnahme des Midrasch, wie sie sich in Weiterführung des Ansatzes von Samuel E. Karff entwickeln ließe,213 findet sich allerdings – meiner Wahrnehmung nach – bis heute im US-amerikanischen Judentum nicht. Dabei läge der Schritt durchaus nahe, die hermeneutischen Neu- bzw. Wiederentdeckungen auch als Impulse zur Neugestaltung der vielfach herausgeforderten jüdischen Predigt zu nutzen. Dass in den Ansätzen midraschischer Praxis reichlich homiletisches Potential liegt, zeigt sich etwa bei Uta Pohl-Patalong, die Peter Pitzeles Bibliodramatischen Midrasch als Impuls für eine neue Predigtform („Bibliolog“) rezipiert.214 Auf diesem Potential aus der Neuentdeckung skripturaler Hermeneutik in nach-moderner Zeit und einer ihr entsprechenden Predigt baut der folgende zweite Teil der Erarbeitung auf und reflektiert homiletische Textlektüre im Dialog mit dem Judentum.

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PITZELE: Scripture Windows, 209. PITZELE: Scripture Windows, 243. 213 Vgl. oben Kap. 7.3.3, 210f. 214 Vgl. dazu unten Kap. 8.4, 251, und 14.2.2, 488f. Bereits Pitzele selbst experimentierte gelegentlich mit dem Bibliodramatischen Midrasch „im Rahmen eines Gottesdienstes anstelle einer Predigt“ (PITZELE: Bibliodrama, 54 Anm. 1; vgl. auch 51). 212

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II. Homiletisch lesen lernen im Kontext des Midrasch

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8. Predigt und Derascha – Homiletik und christlich-jüdischer Dialog Nachdem der erste Teil der Erarbeitung jüdische Predigt in ihrer Geschichte unter einer primär hermeneutischen Fragestellung und in Auswahl vor Augen geführt hat (Ideographie), soll der zweite Teil Erkenntnisse und Perspektiven dieses ersten Teils explizit ins Gespräch mit christlicher Homiletik bringen (Provokation und Dialog). Das vorliegende Kapitel bildet die Scharnierstelle zwischen beiden Teilen der Arbeit. Zunächst stellt sich grundlegend die Frage, inwiefern es sich bei christlicher und jüdischer Predigt überhaupt um vergleichbare Phänomene handelt (8.1). Im Folgenden gilt es, die Methodik eines christlich-jüdischen Dialogs im Bereich der Homiletik näher zu bestimmen (8.2) sowie sein Feld einzugrenzen (8.3). Eine Einordnung meines eigenen Ansatzes in die bisherige homiletische Wahrnehmung des Judentums schließt das Kapitel ab (8.4).

8.1 Homiletik im christlich-jüdischen Dialog? – Überlegungen zur Vergleichbarkeit christlicher und jüdischer „Predigt“ 8.1.1 Zur Vergleichbarkeit christlicher und jüdischer „Predigt“ – zwei Impressionen Vergleicht man Äpfel und Birnen miteinander, wenn man jüdische und christliche Homiletik, jüdische und christliche Predigt zueinander in Beziehung setzt? Wird eine lediglich formale Gemeinsamkeit – nämlich die, dass es im Judentum und Christentum Rede im Gottesdienst als Auslegung Heiliger Schrift gibt – zur Basis möglicherweise viel weiter reichender Schlussfolgerungen? Redet ein christlich-jüdischer homiletischer Dialog also tangential aneinander vorbei, weil der Begriff „Predigt“ zwar in christlichem und seit ca. 200 Jahren auch in jüdischem Kontext verwendet wird, aber in beiden Kontexten Unterschiedliches bedeutet?1 Lässt sich der Begriff „Predigt“ bestenfalls äquivok für Christentum und Judentum verwenden? 1

In bewusster Anlehnung an christliche Paradigmen nahm – wie gezeigt – das deutschsprachige Judentum vor allem zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Begriff der „Predigt“ auf. In christlichem

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Würde man den Organisatoren der US-amerikanischen Videoserie „Great Preachers“ diese Fragen vorlegen, so würden sie wohl mit einem klaren „Nein“ antworten. Die in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre entstandene Serie porträtiert in 32 Folgen bedeutende Predigerinnen und Prediger. U.a. wird mit Billy Graham der wohl populärste evangelistische Prediger der USA vorgestellt, mit Walter Brueggemann einer der international bekanntesten Alttestamentler sowie, um nur einige Namen zu nennen, die einflussreichen Homiletikerinnen und Homiletiker Jana Childers, Richard Lischer, Eugene Lowry und Barbara Brown Taylor. Unter ihnen erscheint dann sehr selbstverständlich auch Rabbi Harold Kushner, Rabbi Emeritus von Temple Emmanuel in Natick (MA) und ein durch seine populären Bücher zu religiösen Themen über die USA hinaus bekannter Schriftsteller. An keiner Stelle des Videos thematisiert der Moderator, Bill Turpie, die Tatsache eigens, dass in einer Reihe mit christlichen Predigerinnen und Predigern nun auch ein Rabbiner vorgestellt wird. Christliche und jüdische Predigt erscheinen – folgt man der Videoserie – problemlos parallelisierbar.2 Ein ähnlicher Eindruck ergibt sich bei einem Blick auf die neueren Sammelbände ausgewählter Predigten des seit 1994 jährlich von der „London Times“ organisierten Predigtwettbewerbs „Preacher of the Year Award“. Im vierten Band stammen acht der 31 Predigten von Rabbinerinnen und Rabbinern,3 im fünften sind es fünf4 und im sechsten Band sechs. Außerdem gewann mit Rabbi Shmuley Boteach im Jahr 1999 ein Rabbiner den Wettbewerb.5 Allerdings ist die Teilnahme von jüdischen Predigerinnen und Predigern beim Wettbewerb der „London Times“ ein Novum des vierten Durchgangs. In den ersten drei Jahrgängen waren jüdische Prediger ausgeschlossen, da sich das „College of Preachers“ als Mitorganisator des Wettbewerbs

Kontext wird der Begriff „praedicatio“ seit dem frühen Mittelalter für die Wortverkündigung im Gottesdienst verwendet (vgl. ZERFASS: Art. Predigt, 525). 2 Vgl. zu der Videoserie etwa die Internetinformation unter www.faithandvalues.tv/vc3.jsp [Zugriff vom 22.11.2004]. Nur hinweisen kann ich an dieser Stelle darauf, dass das jüdisch-christliche Miteinander in den USA sich bereits von Anfang an sehr viel entspannter und unkomplizierter als in Europa entwickelte. So war es keineswegs ein singuläres Phänomen, als der jüdische Rabbiner Max Lilienthal am 03.03.1867 in einer christlichen Kirche im Rahmen eines christlichen Gottesdienstes predigte (vgl. FRIEDENBERG: „Hear o Israel“, 79–84). Ein knappes Jahrhundert später wird den Homiletik-Studierenden in einer Vorlesung am HUC-JIR empfohlen: „Occassionally, exchange pulpits with your Christian colleagues.“ (FELDMAN: The American Reform Rabbi, 142; vgl. zu der Vorlesung oben Kap. 7.2, 198 Anm. 49) Eine 1959 ebenfalls am HUC-JIR gehaltene Homiletik-Vorlesung enthält einen eigenen Abschnitt „On Preaching the Non-Jewish Pulpit“ (RUDIN: On the Nature of the Rabbi, 67f). 3 Vgl. GLEDHILL: The Fourth Times Book of Best Sermons. 4 Vgl. GLEDHILL: The Fifth Times Book of Best Sermons. 5 Vgl. GLEDHILL: The Sixth Times Book of Best Sermons. Vgl. die Predigt von Boteach 217– 223.

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gegen deren Teilnahme sperrte.6 Leider erwähnt Ruth Gledhill – die für die „London Times“ zuständige Redakteurin und Organisatorin des Wettbewerbs – die genaue Argumentation des „College of Preachers“ nicht. Stattdessen betont sie die „herausragende Homiletik“ („exceptional homiletics“) der teilnehmenden Rabbinerinnen und Rabbiner, auf die zu verzichten ein Verlust für den Wettbewerb wäre.7 Auch Margaret Brearly, eine im christlich-jüdischen Dialog engagierte Literaturwissenschaftlerin, unterstreicht im Vorwort zum fünften Band, dass der Times-Wettbewerb deutlich mache, „what good sermons are preached within synagogues“8. Brearley erkennt allerdings auch Unterschiede zwischen christlicher und jüdischer Predigt. U.a. verweist sie darauf, dass Predigt im Judentum prinzipiell allen offen stehe und nicht auf ein Amt fixiert sei. Dies hänge auch mit dem theologisch geringeren Anspruch der Predigt zusammen. Predigt behaupte im Judentum niemals, direkt Gottes Wort zu sein, sondern wolle lehren, inspirieren und erbauen. Auch erwähnt Brearley den Unterhaltungswert und die intellektuelle Tiefe jüdischer Predigt. Letztere ergebe sich schon allein durch die vielfältige Anknüpfung an die Tradition (Talmud und spätere Auslegung) und sei in christlicher Predigt oft schmerzlich zu vermissen.9 Die genannten Unterschiede zwischen christlicher und jüdischer Predigt sieht Brearly keineswegs als hinderlich für die Aufnahme jüdischer Predigten in den Times-Wettbewerb, sondern im Gegenteil als „fascinating differences“10 und daher als Ansatzpunkte für ein christliches Lernen von jüdischer Predigt. Die Sammelbände des Times-Wettbewerbs zeigen – anders als die Videoreihe der „Great Preachers“ – auch die Unterschiede zwischen christlicher und jüdischer Predigt und verdeutlichen, dass diese entweder (Brearley) als anregende Bereicherung oder („College of Preachers“) als Hinweis auf eine möglicherweise grundlegende Unvergleichbarkeit verstanden werden können. Es wird bereits durch die US-amerikanische Videoserie und den britischen Predigtwettbewerb deutlich, dass das, was Ottmar Fuchs grundsätzlich für das christlich-jüdische Verhältnis in Anschlag bringt, auch für die Homiletik gilt: Es bestehe „so etwas wie eine unauflösliche Dialektik von

6 Vgl. dazu GLEDHILL: Introduction, in: The Fourth Times Book of Best Sermons, xif; dies.: Introduction, in: The Fifth Times Book of Best Sermons, xx; vgl. zum „College of Preachers“ www.collegeofpreachers.org.uk. 7 GLEDHILL: Introduction, in: The Fourth Times Book of Best Sermons, xii. 8 BREARLEY: Foreword, xiv. 9 Vgl. BREARLEY: Foreword, xv–xvii. 10 BREARLEY: Foreword, xv.

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Unvergleichbarkeit und Vergleichbarkeit“11. Diese Dialektik soll im Folgenden näher profiliert werden.

8.1.2 Stellenwert und Ziel der „Predigt“ in Judentum und Christentum Zwei grundlegende Unterschiede zwischen christlicher und jüdischer Predigt werden immer wieder betont: der geringere Stellenwert der Predigt und Homiletik im gegenwärtigen Judentum im Vergleich zum Christentum und damit zusammenhängend das unterschiedliche Ziel der Predigt. (1) Zum Stellenwert der Predigt im jüdischen Gottesdienst schreibt Peter von der Osten-Sacken: Die Predigt „[…] bestimmt […] den jüdischen Gottesdienst nicht in dem Maße wie den christlichen [primär denkt OstenSacken an den protestantischen, AD]. Dort kommt vielmehr dem Gebet der Gemeinde der erste Platz zu, und die Verkündigung, die christlich gesehen durch die Predigt (des Evangeliums) erfolgt, geschieht nach jüdischem Verständnis durch die Verlesung der Tora.“12 Wie im Durchgang durch die Geschichte jüdischer Predigt gezeigt wurde, blieb die Phase, in der die Predigt – im paradigmatischen Aufblick zum protestantischen Gottesdienst – zum Entscheidenden jüdischen Gottesdienstes erklärt wurde und die etwa durch Siegmund Maybaum repräsentiert wird13, eine Episode. Zwar behielt die Reformbewegung wie auch das konservative Judentum die Predigt im Freitagabendgottesdienst und (seltener) auch im Sabbatmorgengottesdienst bis in die Gegenwart in aller Regel bei, und es finden sich auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Aussagen und Beiträge aus dem reformorientierten Spektrum des Judentums, die die Bedeutung der Predigt entschieden hervorheben.14 Allerdings sieht man inzwischen deutlicher, dass es sich bei der Predigtbegeisterung des 19. Jahrhunderts primär um eine Konsequenz der akkulturatorischen Bemühungen des Judentums in christlicher Umgebung handelte.15 Die relativ geringe Bedeutung der Predigt im gegenwärtigen Judentum zeigt sich auch in der Tatsache, dass die Publikation der letzten umfassenden jüdischen Homiletiken (Cohen und Freehof) mehr als sechzig Jahre zurückliegt.16 11

FUCHS: Ein praktisch-theologischer Versuch, 215. OSTEN-SACKEN: Vorwort des Herausgebers, 7. 13 Vgl. MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 26, der die Predigt als „die Seele des Gottesdienstes“ bezeichnet, und dazu oben Kap. 5.4. 14 Vgl. dazu oben Kap. 7.2 und Albert Friedlander, der noch 2001 schreibt: „The sermon is still the centre of the worship in the Jewish community […]“ (FRIEDLANDER: Strange Fires, 2; vgl. ähnlich auch COHN-SHERBOK: The Holocaust and Divine Suffering, 138). 15 Vgl. exemplarisch SHULMAN: Erev Rosh Hashanah, 174; vgl. auch MAGONET: The Jewish Sermon, 92f. 16 Vgl. oben Kap. 7.2, 195–198. 12

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(2) Mit dem Stellenwert der Predigt hängt unmittelbar auch das Ziel der Predigt im jüdischen Gottesdienst zusammen, das sich von einem verbreiteten christlichen Verständnis unterscheidet. So formuliert Leo Trepp in impliziter Abgrenzung von christlichen Konzeptionen: „Die Predigt ist keine Verkündigung des Wortes Gottes, sondern ein menschlicher Versuch, dem Verständnis dieses Wortes nahezukommen und es auf die Gegenwart zu beziehen. So hat sie ihren logischen Platz im Zusammenhang mit der Verkündigung der Offenbarung, d.h. der Tora.“17

Die Lesung der Tora als Verkündigung des Wortes Gottes grenzt Trepp vom menschlichen Wort der Predigt ab. Die Aufgabe der Predigt erkennt er darin, dass sie „religiös belehrt oder, wie besonders in Amerika, die sozialen Aufgaben der Juden in der Gesellschaft, verbunden mit einer Kritik an dieser Gesellschaft, betont.“18 Implizit lässt sich hinter der Ablehnung einer Verkündigungsfunktion der Predigt nicht nur eine Abgrenzung von christlichen Predigtverständnissen wahrnehmen, sondern auch die auf die rabbinische Zeit zurückgehende Vorstellung vom Ende der Prophetie nach den letzten Propheten Haggai, Sacharja und Maleachi (vgl. bSan 11a19). Ein unmittelbarer Zugang zum Wort Gottes ist – nach dieser rabbinischen Vorstellung – nicht mehr möglich; was bleibt, ist das immer neue gemeinsame Lernen und Lehren des überlieferten Wortes (Talmud Tora) sowie das damit verbundene Suchen und Forschen im Wort (Midrasch).20 Auch Annette Böckler beschreibt die Predigt im jüdischen Gottesdienst nicht als Verkündigung, sondern ordnet sie in das Lernen der Tora ein. Predigt sei „eine kurze religiöse Rede, je nach der Persönlichkeit des Redners gelehrt, unterhaltsam, erbaulich oder witzig oder sogar ein Dialog mit der Gemeinde. Sie ist Teil des gemeinsamen Lernens der Tora.“21 An anderer Stelle schreibt Böckler: „Die Predigt greift in der Regel die Toralesung wieder auf und erklärt Probleme des Textes oder weist auf Besonderheiten oder auf die jüdische Wirkungsgeschichte oder die Aktualität des Textes

17

TREPP: Der jüdische Gottesdienst, 68. TREPP: Der jüdische Gottesdienst, 201. Vgl. grundlegend auch die Beobachtungen zur Bedeutung der Predigt im jüdischen Gottesdienst bei PREUSS: Das Alte Testament in christlicher Predigt, bes. 161f. 19 „Seit die letzten Propheten Haggai, Sacharja und Maleachi gestorben sind, wich der Heilige Geist von Israel […]“. Die Aussage im Talmud fährt fort mit der Bemerkung „[…] und dennoch bedienten sie sich der göttlichen Stimme [‫“]בת קול‬. Allerdings kann auch diese – wie die berühmte Schlangenofengeschichte (vgl. oben Kap. 3.2.2.2, 82) zeigt – als problematische göttliche Einmischung zurückgewiesen werden. Vgl. dazu auch MAGONET: The Jewish Sermon, 89. 20 Dass dies gerade nicht mit einer homiletischen Erstarrung einhergeht, wurde bereits oben gezeigt und wird unten (vgl. vor allem Kap. 11.1.1) aufgewiesen werden. Gegen ZORN: Exégèse, herméneutique et actualisation, 549f Anm. 1. 21 BÖCKLER: Jüdischer Gottesdienst, 134. 18

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hin.“22 Betonen Trepp und Böckler den Bezug der Predigt auf die Lehre und das Lernen der Tora, so formuliert der 1920 in Köln geborene und dann mehrere Jahrzehnte in Toronto wirkende Rabbiner Erwin Schild sein Predigtziel im Blick auf die erhoffte Wirkung der Predigt: Sie wolle die „Zuhörer […] beeinflussen, sie zum Judentum […] erziehen und zu jüdischen, menschlichen und ethischen Lebensentscheidungen […] bewegen.“23 Trepp, Böckler und Schild scheinen mir in ihren Bestimmungen des Ziels der Predigt typisch dafür, wie sich in gegenwärtigen homiletischen Richtungsangaben im (reformorientierten) Judentum eine Orientierung an der Tradition der Lehre und des Lernens der Tora (Talmud Tora) mit einer Anlehnung an die liberal-religiöse und ethisch-fokussierte Reformulierung jüdischer Religion in der Zeit der klassischen Reform verbindet. In theologischer (wenngleich zumindest bei Schild nicht in ethischer) Hinsicht ist es eine bescheiden zurückhaltende Zielvorgabe, die jüdische Predigt prägt, wenn man diesen exemplarischen Charakterisierungen folgt. Es gilt zu fragen: Wirkt sich an dieser Stelle ein grundlegender theologischer und vor allem hermeneutischer Unterschied zwischen Judentum und Christentum auf die Zielbestimmung der Predigt aus? Zeigt sich das andere Verständnis der Bedeutung des Buchstabens der Schrift in Christentum und Judentum auch darin, dass die Predigt christlicherseits als „praedicatio verbi Dei“ und jüdischerseits als der bescheidene „menschliche Versuch, dem Verständnis dieses Wortes nahezukommen“ (Trepp), gesehen werden kann? Diesen Fragen gehe ich im Folgenden weiter nach.

8.1.3 Tora und Christus – vom bleibenden hermeneutischen Unterschied zwischen Judentum und Christentum Jean-François Lyotard charakterisiert in seinem Aufsatz „Von einem Bindestrich“ den Unterschied zwischen Judentum und Christentum vor allem als einen hermeneutischen. Lyotard sieht jüdische Hermeneutik an den „Buchstaben“ der Schrift gebunden, wogegen christliche Hermeneutik meine, die „Stimme“ unmittelbar zu erfassen. Die „Stimme“ („Voix“ – von Lyotard immer groß geschrieben!24) habe sich nach jüdischem Verständnis zurückgezogen, nun sei die „Zeit der Miqra [angebrochen, AD], wo das Volk geladen und aufgerufen ist, […] mit lauter Stimme zu lesen und die Buchstaben des Beistandes und der Verheißung festlich zu begehen.“25 Die 22

BÖCKLER: Jüdischer Gottesdienst, 107. SCHILD: Geleitwort, in: ders.: Die Welt durch mein Fenster, 8–10, Zitat: 10. 24 Vgl. LYOTARD: Von einem Bindestrich, 27 Anm. ***. 25 Vgl. LYOTARD: Von einem Bindestrich, 28 [Hervorhebung im Original]. 23

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Stimme bleibe das „Fortwährend-Begehrte“26. Bereits Paulus hingegen habe versucht, sich vom Buchstaben zu lösen, indem er davon ausging, dass „der christliche Odem“ die Buchstaben neu beseele.27 Ein imaginierter Paulus lesender Jude könne diesen als Menschen voller „Ungeduld“ beschreiben: „Noch so einer, […], noch so ein Jude, der glaubt, den geheimen Sinn der Buchstaben […] entziffert zu haben und so spricht als sei er Gott-der-Herr. Der die fortwährend begehrte Stimme urkundlich zu erhandeln sucht, statt ihren Buchstaben urkundlich zu erhandeln.“28 Josef Wohlmuth fasst Lyotards Bestimmung des hermeneutischen Unterschieds zwischen Christentum und Judentum wie folgt zusammen: „Jüdische Sprache ist die Sprache des unabschließbaren Buchstabierens, weil das Tetragramm letztlich nicht entzifferbar ist; christliche Sprache hingegen wird als gestimmte Sprache zur objekthaften Identitätssprache, die das Geheimnis des Buchstabierens preisgegeben hat.“29 Kürzer und mit einem Bild bringt auch Martin Buber im Jahr 1930 den Unterschied zwischen Judentum und Christentum als hermeneutischen Unterschied zur Sprache. Bei einer Rede auf der Studientagung der Gesellschaften für Judenmission (!) in Stuttgart sagt Buber: „Was ist uns und euch gemeinsam? Wenn wir es völlig konkret fassen: ein Buch und eine Erwartung. Für euch ist das Buch ein Vorhof, für uns ist es das Heiligtum.“30 Buber sieht in dieser hermeneutischen Tempel-Topographie christliche Hermeneutik grundlegend auf das „Eigentliche“ hinter dem Buch bezogen, jüdische Hermeneutik auf das „Eigentliche“ im Buch. Aber, so frage ich, ist damit der Unterschied zwischen Judentum und Christentum wirklich zu Recht bestimmt als der hermeneutische Unterschied zwischen einer – wie sich schlagwortartig in Aufnahme von 2Kor 3,6 sagen ließe – grammatischen jüdischen und einer pneumatischen christlichen Hermeneutik? Oder wie sich in Anlehnung an meine Unterscheidung aus dem geschichtlich-ideographischen Teil formulieren ließe: zwischen einer skripturalen jüdischen und einer meta-skripturalen christlichen Hermeneutik? Bereits die Tatsache, dass meta-skripturale Hermeneutik auch im Judentum begegnet, spricht gegen eine solch vereinfachte Gegenüberstellung. Sicherlich aber gehen Lyotard und Buber von Wahrnehmungen christlicher Hermeneutik in Geschichte und Gegenwart aus, die ihnen zeigen, wie das Lesen der Schrift für Christen nur relativ unbedeutender „Vorhof“ gegenüber dem „Heiligtum“ der darin erkannten Botschaft zu sein scheint. Sie 26

LYOTARD: Von einem Bindestrich, 29. Vgl. LYOTARD: Von einem Bindestrich, 32. 28 LYOTARD: Von einem Bindestrich, 45 [Hervorhebung im Original]. 29 WOHLMUTH: Traktat über die Sprache, 57; vgl. insgesamt zu Lyotard 47–64. 30 BUBER: Die Brennpunkte der jüdischen Seele, 205. 27

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könnten sich dabei – um nur ein Beispiel zu nennen – auf Otto Haendler berufen, der in seinem „Grundriß der Praktischen Theologie“ schreibt: „Quelle und Nahrung für das Leben und für die Erkenntnis der Kirche, also für ihren Glauben, ist, in der Tiefenschicht gesehen, einzig und allein der lebendige Gott in seiner Wirklichkeit und sein Christus. Erst in zweiter Linie und dadurch ist Quelle der Erkenntnis des Glaubens die Bibel als Dokument der von Gott gegebenen Offenbarung und erst in dritter die Kirche selbst, mit ihrem Leben aus Gott“. Lasse man sich „von der Wirklichkeit Gottes und seines Christus zur Urkunde seiner Offenbarung […] wegziehen“, so folge „sehr bald Buchstabenglaube und Pharisäismus, und deren Gift wirkt nicht erst in den krassen Fällen.“31

Demgegenüber stellt Josef Wohlmuth christlicher Theologie die Frage: „Unterscheidet sich […] die christliche Art des Lesens wirklich so grundsätzlich von der jüdischen, wenn man bedenkt, welche Rolle die Interpretationskunst der Bibelgelehrten auch im Christlichen gespielt hat und immer noch spielt? Müssen nicht zuletzt auch die Buchstaben, die von der Inkarnation sprechen, mühsam entziffert und bis zum jüngsten Tag auf den Kommenden hin offengehalten werden?“32 Für Wohlmuth sind dies rhetorische Fragen; er erkennt, dass beide Religionen, Judentum und Christentum, der „harte[n] Mühe des Buchstabierens“33 nicht enthoben seien. Auch Oswald Bayer möchte zu einer neuen Aufmerksamkeit für „das eigene Gewicht des Schriftlichen“ anregen.34 Er schreibt: „Das Kommen des Geistes geschieht, wenn es geschieht, nie anders als durch die alten Buchstaben der Heiligen Schrift. In ihnen ist kraft der Selbstbindung und Selbstdemütigung Gottes festgeschrieben, was neu Geist und Wahrheit werden will.“35 Der Unterschied zwischen Christentum und Judentum wäre daher zu einseitig gefasst, würde man ihn primär als einen hermeneutischen verstehen und auf die Alternative einer auf den „Buchstaben“ bezogenen, grammatischen, skripturalen jüdischen und einer durch den „Geist“ die Buchstaben meta-skriptural überwindenden, pneumatischen christlichen Lesehaltung verkürzen. Dies erscheint mir auch deshalb nötig zu betonen, weil selbstverständlich auch das Judentum nicht beim „Buchstaben“ stehen bleibt, 31

HAENDLER: Grundriß der Praktischen Theologie, 33 [Hervorhebungen im Original]. Zustimmend bezieht sich Hans-Hinrich Jenssen noch 1990 auf diese Sätze (vgl. JENSSEN: Die Predigt im Jahreskreis, 256). Im Blick auf die Predigtarbeit konnte auch der – inzwischen für eine Wahrnehmung des Judentums sehr sensible – Heidelberger Praktische Theologe Christian Möller in seiner Dissertation noch davon sprechen, dass die Auslegung nicht so „am Buchstaben hängen“ bleiben solle, „daß sie in ein rabbinisches Zitieren des Textes verfällt“ (MÖLLER: Von der Predigt zum Text, 116). 32 WOHLMUTH: Traktat über die Sprache, 62f. 33 WOHLMUTH: Traktat über die Sprache, 63. 34 BAYER: Neuer Geist in alten Buchstaben, 67. 35 BAYER: Neuer Geist in alten Buchstaben, 79; vgl. auch 13f.16f.

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sondern mit der Erwartung liest und interpretiert, im Lesen und Auslegen des Buchstabens Gottes Wort als Tora neu zu hören. Diese Erwartung wurde oben (Kap. 3.2) für die rabbinische Zeit als apriorische Tora-Erwartung qualifiziert. Das Auslegen der Schrift eröffnet die Schrift als Tora und kann selbst als mündliche Tora bezeichnet und neben die schriftliche gestellt werden.36 Inszeniert wird apriorische Tora-Erwartung bis heute im Gottesdienst der Synagoge, in dem die „Ordnung der Toralesung […] den Empfang der Tora am Sinai nacherleben“ lässt.37 Die Lesung (eigentlich: „Ausrufung“, ‫ )קריאה‬eröffnet den Gottesdienst-Feiernden die von Gott her qualifizierte (und nicht historisch fixierte!) Zeit der Offenbarung des Wortes Gottes am Sinai.38 Freilich bleibt es dennoch nötig, den grundlegenden Unterschied zwischen christlichen und jüdischen Hermeneutiken – ohne antijudaistische Verzerrung, wie sie sich in Begriffen wie „Pharisäismus“ des Buchstabens (Haendler) zeigt – auf den Punkt zu bringen. Dieser Unterschied ist durch die christologische (solus Christus) und daraus folgend soteriologische (sola gratia; sola fide) Grundbestimmung christlicher Hermeneutik geprägt. Der fleischgewordene Lo,goj Jesus Christus (Joh 1,14) und sein rechtfertigendes und Zukunft eröffnendes Handeln sind Voraussetzung und Ziel einer christlichen Schriftlektüre. Sie erwartet, in der Schrift dieses christologischbestimmte Wort Gottes als promissio zu hören.39 Christologie und Hermeneutik sind daher untrennbar verbunden.40 Dieses Ineinander bringt Karl Barth in seiner Bestimmung der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes in der Einheit von verkündigtem, geschriebenem und offenbartem Wort grundlegend zur Sprache, wobei er sich u.a. auf Luther beruft.41 Die Predigt als „Verheißung künftiger Offenbarung auf Grund geschehener Offenbarung“42 gehört – wie das Sakrament – als Wort der Verkündigung in die untrennbare Wechselbeziehung der drei Gestalten des Wortes Gottes hinein. 36 Vgl. zum In- und Miteinander schriftlicher und mündlicher Tora oben Kap. 3.2.2.4 und unten Kap. 11.1.1.3. 37 BÖCKLER: Jüdischer Gottesdienst, 106; vgl. insg. 106–135 [Die Ordnung der Toralesung], bes. 107. 38 Vgl. NEUSNER: How a Rabbi Reads the Torah, 3; GOODMAN-THAU: Aufstand der Wasser, 52; WACHOWSKI: Zur Ritualisierung, bes. 110–114. 39 Der in diesem Satz entscheidende Begriff der „Erwartung“ kann sich auf Karl Barth berufen. Barth schreibt in seiner „Einführung in die evangelische Theologie“, dass die biblisch-theologische Wissenschaft „in der Erwartung […] an diese Texte heran[trete]: dass ihr dieses Zeugnis in ihnen begegnen werde“ (193 [Hervorhebung im Original]). Barth spricht auch von dem „Ereignis“, „in dem die Verkündigung zur wirklichen Verkündigung wird“ (ders.: KD I/1, 95–97, Zitat: 95 [Hervorhebung im Original]). Vgl. auch LÄMMLIN: Die Lust am Wort, 94–96.410. 40 Vgl. KÖRTNER: Theologie des Wortes Gottes, 192. Vgl. auch unten Kap. 13.2.1. 41 Vgl. BARTH: KD I/1, 89–128 [Das Wort Gottes in seiner dreifachen Gestalt]; vgl. zum Verweis auf Luther 125–128. 42 BARTH: KD I/1, 93 u.ö.

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Jüdische Lesung und Auslegung erwarten, folgt man dem rabbinischen Verständnis, analog die Torawerdung der Schrift im Wechselspiel der zweifachen, mündlichen und schriftlichen Gestalt der Tora. Die Derascha, die jüdische Predigt, ist dabei ein Teil der mündlichen Tora und spielt so ihre Rolle im Wechselspiel der beiden Torot. Damit stehen sich eine Torafokussierte jüdische und eine Christus-fokussierte christliche Hermeneutik gegenüber.43 Beide aber sind auf das immer neue Lesen der Buchstaben angewiesen.44 Das Besondere dieses bleibenden Unterschiedes zwischen Christentum und Judentum liegt darin, dass – aus christlicher Perspektive – die christologische Bindung der Hermeneutik nicht über das Judentum hinaus oder am Judentum vorbei führt, sondern mitten hinein in die Bundesgeschichte des einen Gottes mit seinem Volk Israel. Heinz-Günther Schöttler schreibt: „Christologie, perspektivisch als Weg (nicht als Ziel!) verstanden45, ist für den christlich-jüdischen Dialog nicht trennend, sondern grundlegend, d.h. nicht unterscheidend-trennend, sondern unterscheidend-verbindend.“46 Es gilt daher: Einzig und allein durch Jesus Christus ist das Christentum mit dem Judentum untrennbar verbunden; einzig und allein in Jesus Christus aber bricht auch der bleibende Gegensatz zwischen Judentum und Christentum auf und entsteht das bereichernde, herausfordernde und immer wieder auch problematische Miteinander von Christentum und Judentum, das in jüngsten liturgischen Entwürfen treffend mit dem Miteinander der beiden Zwillingsbrüder Jakob und Esau verglichen wurde.47

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Vgl. zur Notwendigkeit, den bleibenden Dissens im christlich-jüdischen Gespräch nicht zu verwischen, sondern auszuhalten etwa DENECKE: Als Christ in der Judenschule, 62–64 u.ö.; HAHN: Die Heilige Schrift in jüdischer und christlicher Sicht; OEMING: Lob der Vieldeutigkeit, bes. 130f. 44 Vgl. auch SIGNER: Searching the Scriptures, bes. 86. 45 Schöttler bezieht sich vor allem auf johanneische Aussagen von Jesus als h` o`do,j. 46 SCHÖTTLER: „Per Christum …“, 9; vgl. ders.: Christliche Predigt und Altes Testament, 577– 579; vgl. vor allem auch Joh 12,44, ein Vers, in dem die Perspektivik des Glaubens an Christus deutlich zur Sprache kommt. Der johanneische Jesus sagt: „Wer an mich glaubt, glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat.“ Vgl. dazu auch WENGST: Das Verhältnis von Christen und Juden in trinitarischer Perspektive, bes. 173–177; DENECKE: Als Christ in der Judenschule, 72. 47 Vgl. GERHARDS: Impulse des christlich-jüdischen Dialogs für die Liturgiewissenschaft, bes. 203–208, und dazu auch DEEG: Liturgik und christlich-jüdischer Dialog, 248f. Die Verbindung von Christentum und Judentum steht damit auf einer kategorial anderen Ebene als die Verbindung des Christentums mit anderen Religionen – ein Aspekt, der bis in jüngste Reflexionen hinein m.E. zu wenig beachtet wird (vgl. nur den EKD-Text „Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen“, in dem das Judentum weitgehend ununterschieden im Kontext der anderen Religionen mitverhandelt wird).

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8.1.4 Exkurs: Zur Bedeutung des Lesens in der christlichen Theologie Die „Mühe des Buchstabierens“ ist für christliche – wie für jüdische – Hermeneutik und Homiletik unhintergehbar. Ich versuche, die Bedeutung des Lesens in der christlichen Theologie zu unterstreichen, indem ich Spuren aus der christlichen Tradition andeute, die in diese Richtung weisen (und neben denen sich freilich auch andere, gegenläufige, deutlich meta-skripturale Spuren aufführen ließen). Ich beginne (1) mit einigen einschlägigen neutestamentlichen Texten, gehe dann (2) zu Grundaussagen der Schriftlehre Luthers und schließlich (3) zu Aspekten der theologischen Diskussion im 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart über. (1) Das ganze Neue Testament lässt sich verstehen als eine durch das Wirken, Leiden, Sterben und Auferstehen des Jesus von Nazareth in Gang gesetzte Relektüre der Bibel Israels, die im neuen Lesen der Schrift Jesus als den Christus identifiziert und bekennt. Einzelne Worte und Verse aus dem „Gesetz und den Propheten“ zitierend, Motive, Metaphern und Erzählungen aufnehmend verstrickt das Neue Testament seine Leserinnen und Leser in die Texte des Ersten Testaments. An einigen Stellen wird diese Perspektive explizit deutlich. Etwa dort, wo der Jesus der Bergpredigt zur Beachtung jedes „kleinste[n] Buchstaben[s]“ und „Tüpfelchen[s] vom Gesetz“ auffordert (Mt 5,17–19; hier V.18), oder dort, wo der johanneische Jesus seine jüdischen Diskussionspartner fragt: „Wenn ihr aber seinen [Moses, AD] Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben?“ (Joh 5,47) Der johanneische Jesus macht deutlich, dass der Weg durch ihn zum Vater nicht an der Schrift vorbei, sondern zunächst in die Schrift hineinführt: „Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben“ (Joh 5,46).48 Mit anderen Worten und in Aufnahme des Beginns des Johannesevangeliums ließe sich sagen: Das, was „im Anfang“ (Joh 1,1; VEn avrch/| in der Übersetzung Luthers) geschah, wird nur dem verstehbar, der gelesen hat, wie es „am Anfang“ (Gen 1,1; ‫ית‬‫אשׁ‬‫ בּר‬in der Übersetzung Luthers) war; das Wort, das unter uns „zeltete“ (Joh 1,14: evskh,nwsen), erschließt sich nur dem, der vom Zelt der Begegnung in der Wüste Sinai (skhnh. tou/ marturi,ou; ‫ד‬‫ע‬‫ל מו‬‫ה‬‫ )א‬und von dem auf dem Zion wohnenden/zeltenden Gott gelesen hat (o` kataskhnw/n evn Siwn; Joel 4,17 LXX).49 Sehr deutlich führt auch der Jesus der Q-Tradition in die Schrift hinein. Ich erwähne nur eine viel diskutierte Stelle, die Ulrich Luz den „Rätselspruch vom Jonazeichen“50 nennt (Mt 12,38–42; Lk 11,29–32; vgl. auch Mt 16,1–2a.4; Lk 11,16). Die Forderung nach einem Zeichen (shmei/on) als etwas Sichtbarem, „wodurch man eine

48

Vgl. auch Joh 20,9: „Denn sie [die beiden zum Grab eilenden Jünger am Ostermorgen, AD] verstanden die Schrift noch nicht, dass er von den Toten auferstehen müsste.“ Vgl. zum Kontext WENGST: Das Johannesevangelium, 204–214. 49 Vgl. auch WENGST: Das Johannesevangelium, 75, der mit Blick auf Joh 1,18 bemerkt: „Jesus, wie er im Evangelium dargestellt wird, ist Auslegung Gottes – des Gottes Israels; und nicht ist er ‚Offenbarer‘ eines bislang unbekannten Gottes oder bringt er ‚Kunde‘ von einem bisher mehr oder weniger verborgen gebliebenen Gott. Dass er den in Israel bekannten Gott auslegt, ist schon durch den ersten Satz des Prologs mit seiner Anspielung auf Gen 1,1 deutlich.“ 50 LUZ: Das Evangelium nach Matthäus, 2. Teilband, 272.

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Sache eindeutig identifizieren kann“51, weist Jesus zurück und deutet stattdessen auf die Jonaerzählung und das Jonazeichen (vgl. Mt 12,39). Das Zeichen, das Jesus gibt – pointiert ließe sich sagen: das Zeichen, das Jesus ist – verweist zurück in die Hebräische Bibel. Jesus selbst führt nicht über die Schrift hinaus in die Abstraktion eines Verstanden-Habens, sondern verstrickt die Fragenden in die Schrift und deren unterschiedliche Bedeutungsmöglichkeiten hinein.52 Auch für Paulus ist klar, dass christlicher Glaube kein Ende des Lesens bedeutet, sondern nur auf dem Hintergrund der Hebräischen Bibel gedeutet werden kann und daher ein neues und verändertes Lesen der Schrift meint. Dies zeigt sich exemplarisch bereits in der von Paulus in 1Kor 15,3–5 aufgenommenen Formeltradition, die zweifach durch die Wendung kata. ta.j grafa,j den Schriftbezug sowohl des Todes Jesu für die Sünden als auch seiner Auferstehung betont. Dies gilt aber selbst für 2Kor 3 – eine Stelle, die gerne als Beleg für einen christlichen Weg weg vom Buchstaben und hin zum Geist gedeutet wird.53 Es geht in 2Kor 3 nicht darum, verstehend das Lesen zu beenden und den „Geist“ zu haben, sondern im Gegenteil in einem neuen, christologisch konturierten und so von der „Decke“ befreiten Lesen durch den Geist und im Geist den Buchstaben zu entdecken (2Kor 3,14–16).54 Paulus selbst führt ein solches Lesen vor Augen, indem er in 2Kor 3,7–18 einen „christliche[n] Midrasch zu Ex 3429–35“ verfasst.55 Freilich kann im Blick auf 2Kor 3 die antithetische Überbietungshermeneutik hinterfragt werden; keinesfalls aber ist Paulus vorzuwerfen, er bewege sich grundsätzlich weg vom Lesen und hin zum Verstehen.56 Ulrich H. J. Körtner unterstreicht diesen Aspekt und schreibt: „Hören, Lesen und Verstehen bzw. Lesen, Hören und Verstehen bilden bei Paulus wie auch sonst im Neuen Testament eine Trias der Kommunikation des Evangeliums.“57 Bleibend ordnet sich Paulus der Schrift unter, was er etwa gegen die Überheblichkeit mancher Korinther betont. Anstatt sich als „Besitzer der Schrift“58 aufzuspielen, bleiben auch die an Christus Jesus Glaubenden an dem, „was geschrieben steht“: „Dies aber, liebe Brüder, habe ich im Blick auf mich selbst und Apollos gesagt um euretwillen, damit ihr an uns lernt, was das heißt: Nicht über das hinaus, was geschrieben steht! [Mh.

51

LUZ: Das Evangelium nach Matthäus, 2. Teilband, 275. Eine vergleichbare Deutung der Zeichenforderung findet sich bei ENGEMANN: Semiotik und Theologie, 22; vgl. dazu auch Luz, der im Blick auf die antijüdische Wirkungsgeschichte der Perikope vor einer zu raschen interpretierenden Einordnung des Jonazeichens warnt. Dabei grenzt er sich auch von der Deutung im Matthäus-Evangelium ab: „Während es Matthäus darum ging, das paradoxe Jonazeichen als Auferstehung zu interpretieren, muß es heute darum gehen, die Auferstehung Jesu erneut als paradoxes und unverfügbares ‚Jonazeichen‘ zu interpretieren“ (LUZ: Das Evangelium nach Matthäus, 2. Teilband, 285 [Hervorhebungen im Original]). 53 Vgl. z.B. HÖRISCH: Die Wut des Verstehens, 39–41, und oben Kap. 1.1.1, 24. 54 Vgl. OSTEN-SACKEN: Geist im Buchstaben, bes. 231f; anders argumentiert z.B. WOLFF: Der zweite Brief des Paulus an die Korinther, 75f. 55 KLAUCK: 2. Korintherbrief, 37 [Hervorhebung im Original]. 56 Vgl. auch DEEG: 20. Sonntag nach Trinitatis – ein Text, in dem ich 1Thess 4,1–8 als Leseanleitung für eine paulinische Relektüre des Heiligkeitsgesetzes interpretiere. 57 KÖRTNER: Theologie des Wortes Gottes, 298. 58 MÖLLER: Von der Predigt zum Text, 102 – mit Blick auf 1Kor 4,6; vgl. insg. 101–103. 52

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u`pe.r a] ge,graptai], damit sich keiner für den einen gegen den andern aufblase“ (1Kor 4,6).59 (2) Von diesen neutestamentlichen Aussagen ist es nur ein kleiner Schritt hin zur Schriftlehre Luthers. Dass Christinnen und Christen der „Mühe des Buchstabierens“ nicht enthoben sind, ist in der Hervorhebung der Bedeutung des äußeren Wortes (verbum externum) bei Luther grundlegend festgehalten. In Luthers Theologie verbinden sich Christologie, Soteriologie und Hermeneutik in einem unauflösbaren Miteinander von solus Christus, sola gratia, sola fide und sola scriptura. Klaas Huizing fasst das Besondere von Luthers zugleich soteriologisch und christologisch geprägter Lesetheologie wie folgt zusammen: „Im hermeneutischen Vollzug buchstäblicher Lektüre erfolgt eine Verwandlung des exegetisierenden Lesers, die ihn der Schrift konform macht. Christliche Existenz vollzieht sich nach Luther als Schriftförmigkeit qua Christusförmigkeit.“60 Die vieldiskutierte reformatorische Wende kann daher auch als eine hermeneutische Wende beschrieben werden. Die Richtung der neuen Hermeneutik tritt bereits in einem Satz aus der ersten Römerbriefvorlesung des Jahres 1515/16 deutlich vor Augen. Luther sagt dort: „Et ita nos in verbum suum, non autem verbum suum in nos mutuat“ (WA 56, 227, 4f).61 In diesem Spitzensatz kommt die Logik reformatorischen Denkens treffend zum Ausdruck, die nicht vom Menschen und seinen Eigenschaften ausgeht, sondern davon, dass der Mensch aus sich selbst heraus- und in das rechtfertigende Wort der promissio hineingeholt wird. Dabei gewinnt Luther diesen Satz, indem er sich selbst lesend in die Schrift verstrickt und Röm 3,4 sowie den in diesem Vers aufgerufenen Ps 51,6 betrachtet.62 Luther formuliert diesen Gedanken der Verwandlung in das Wort hinein, das „vehiculum gratiae dei“ ist63, auch in homiletischer Perspektive. Dies geschieht am Ende des ersten Teils seiner 1522 vollendeten „Kirchenpostille“, die am ehesten als eine

59 Vgl. zum Bezug der griechisch zitierten Passage auf „das ganze Alte Testament“ SCHRAGE: Der erste Brief an die Korinther, 335f, Zitat: 335. 60 HUIZING: Homo legens, 48. Vgl. zu Luthers Schriftlehre auch KÖRTNER: Theologie des Wortes Gottes, 75–79. Besonders in den Auseinandersetzungen mit den „Schwärmern“ wurde dieses Festhalten am verbum externum von Luther immer wieder betont. So schreibt er 1525 („Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament“): „Denn er [Gott, AD] will niemant den geyst noch glauben geben on das eusserliche wort und zeychen, so er dazu eyngesetzt hat […]“ (WA 18, 136, 17f). Vgl. bereits den berühmten Satz aus der „Assertio omnium articolorum M. Lutheri per bullam Leonis X.“ (1520), wonach die Schrift „per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres, omnium omnia probans, iudificans et illuminans“ sei (WA 7, 97, 23f). 61 Die Münchner Lutherausgabe liest: „So wandelt er uns um in sein Wort, nicht aber sein Wort in uns“ (LUTHER: Ausgewählte Werke, 97). 62 Im Kern bezieht sich Luther auf den Unterschied zwischen der aktiven Verbform (‫ק‬‫צדּ‬‫;תּ‬ „auf dass du Recht behältst […]“) in der hebräischen Fassung von Ps 51,6 und der passiven im Text des Römerbriefs (dikaiwqh/|j), der wiederum (weitestgehend) LXX entspricht. Göttliches und menschliches Handeln kommen – über das Wort miteinander verbunden – zusammen: Gott verwandelt (aktiv handelnd) in sein Wort hinein, wenn „wir“ glauben, dass sein Wort gerecht und wahr ist. 63 WA 2, 509, 14f: „[…] verbum, inquam, et solum verbum est vehiculum gratiae dei“ (Galaterkommentar, 1519).

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Sammlung homiletischer Meditationen bezeichnet werden könnte. Luther ruft seinen Lesern darin zu: „Darumb hyneyn, hyneyn, lieben Christen, und last meyn und aller lerer außlegen nur eyn gerust seyn zum rechten baw, das wyr das blosse, lautter gottis wort selbs fassen, schmecken unnd da bleyben; denn da wonet gott alleyn ynn Zion. AMEN.“64 Predigt müsste dementsprechend für Luther – pointiert gesagt – nicht eine Auslegung, sondern eine Hinein-führung in das Wort bedeuten. Dies bestätigt etwa Albrecht Beutel in seiner exemplarischen Analyse der Predigt Luthers vom 13.12.1528. Er schreibt: „Kennzeichnend für den Prediger Luther ist sein unmittelbarer und zugleich souveräner Umgang mit dem biblischen Text. Der Wortlaut der Perikope bleibt durchgängig präsent.“65 Andererseits aber – so Beutel – werde der Text nicht zu „eine[r] unantastbare[n], Verehrung fordernde[n] Ikone“, sondern werde geachtet als „eine lebendige Textwelt, in die er [Luther, AD] einkehrt, in der er lebt und aus der sich sein Predigen speist“.66 Luthers Predigten seien so als „biblisch“ zu beschreiben, was bedeutet, „daß Luther die Bibel niemals zu einer übergeschichtlichen Autorität hypostasiert, dergegenüber nur noch blinde Unterwerfung und distanzierte Verehrung möglich sein kann, sondern sie als den Erfahrungs- und Sprachraum christlichen Glaubens wahrnimmt, in den man jederzeit einkehren und in dem der Glaube das ihm gemäße Denken, Sprechen und Leben einüben kann.“67 (3) Die reformatorische Fokussierung der Theologie auf das äußere Wort in seiner christologischen und soteriologischen Valenz wurde nicht sehr lange durchgehalten. Überzeugend zeigt Klaas Huizing auf, wie bereits in der Dogmatik der altprotestantischen Orthodoxie „eine dogmatische Schriftlehre […] den hermeneutischen Prozeß“ überlagerte,68 indem nun die „behauptete Autorität der Schrift nicht als Prädikat des hermeneutischen Vorgangs“, sondern als „Merkmal der Schrift“ gefasst und in der Verbalinspirationslehre fixiert wurde.69 Die notwendige Kritik an dieser Lehrentwicklung geschah dann so, dass sich „ein Wechsel vom Objektivismus der Schrift hin zur subjektiven Evidenzerfahrung“ ereignete.70 Bei Schleiermacher lässt sich ein Höhepunkt dieser Entwicklung wahrnehmen. Bereits in seinen Reden (1799) formuliert er:

64

WA 10,1,1, 728, 18–22; vgl. auch unten Kap. 14.2.1. BEUTEL: Caput doctrinae Christianae, 20. Dies gelinge Luther, so führt Beutel weiter aus, „durch direkte Einspielungen“ des Bibeltextes (20), „durch anspielende Paraphrasen“ und „mitunter auch durch die Zitation thematisch oder kontextuell benachbarter Bibelworte“ (21). 66 BEUTEL: Caput doctrinae Christianae, 21. 67 BEUTEL: Caput doctrinae Christianae, 25; vgl. auch die Analyse der Predigt Luthers vom 22.12.1532 bei GEHRING: Schriftprinzip und Rezeptionsästhetik, 6–86; u.a. schreibt Gehring: „Für die Predigt gilt […]: Sie muß, will sie schriftgemäß sein, ‚im Bild bleiben‘ und den Hörer ‚ins Bild setzen‘, in jenes Bild von Gott in Christus, das die biblischen Schriften ihrem Rezipienten ins Herz einbilden wollen.“ (37). 68 HUIZING: Homo legens, 53. 69 HUIZING: Homo legens, 52. 70 HUIZING: Homo legens, 61. 65

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„Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum der Religion [,] ein Denkmal, daß ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist; denn wenn er noch lebte und wirkte, wie würde er einen so großen Werth auf den todten Buchstaben legen, der nur ein schwacher Abdruk von ihm sein kann? Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern welcher keiner bedarf, und wohl selbst eine machen könnte.“71 Blickt man auf die Entwicklung in der altprotestantischen Orthodoxie einerseits und bei Schleiermacher andererseits, so zeigt sich reformatorische Schriftlehre als ein Weg zwischen zwei problematischen Extremen: einem Objektivismus einerseits, der der Schrift Autorität zuschreibt und dabei den hermeneutischen Prozess und mit ihm das je individuelle Lesen und Hineingezogenwerden (passivum divinum!) in die Schrift außer Acht lässt, und einem Subjektivismus andererseits, der die Schriftautorität zugunsten der je eigenen individuellen und unmittelbaren Glaubenserfahrung unterläuft. Der Weg, der plakativ als Weg skripturaler Hermeneutik bezeichnet werden kann, verläuft dazwischen. Mit Verweis auf Karl Barth einerseits und Gerhard Ebeling andererseits deute ich im Folgenden an, wie schwierig es ist, auf diesem hermeneutischen Weg zu bleiben. (a) Karl Barths „Römerbrief“ kann als eindrucksvolle Wende hin zum Buchstaben gelesen werden. Mit „Entdeckerfreude“ habe er diesen Kommentar geschrieben, betont Barth im Vorwort zur ersten Auflage.72 Diese „Entdeckerfreude“ bezieht sich – wie Barth im Vorwort zur dritten Auflage schreibt – auf den Buchstaben des Römerbriefs: „[…] ich kann nicht einsehen, wie es einen Weg zum Geist einer (irgendeiner!) Schrift geben soll als den mittelst der hypothetischen Erwartung, daß ihr Geist gerade durch den Buchstaben zu unserem Geist reden werde.“73 Es sei unmöglich, sich auf das „pneuma Christou“ als einen „Standpunkt“ zu stellen, um von dort aus das, was pneuma ist, zu beurteilen und zu scheiden74 – wie es die Tendenz sowohl der liberalen als auch der positiven Exegese mit ihrer übersteigerten Betonung des seiner selbst mächtigen und sich selbst legitimierenden Subjekts sei.75 Die neue Wahrnehmung des Buchstabens hingegen bedeute ein „Eingehen auf die innere Spannung der vom Text mit mehr oder weniger Deutlichkeit dargebotenen Begriffe.“76 Freilich droht auch Barth, der Gefahr eines meta-skripturalen Abschlusses des hermeneutischen Prozesses zu erliegen. Auch er sucht lesend nach der Wahrheit, nach dem pneuma, nach der „Sache“ jenseits des Buchstabens, jenseits der „Ur-

71

SCHLEIERMACHER: Über die Religion, 110, 11–17. BARTH: Der Römerbrief, XIf, Zitat: XI. 73 BARTH: Der Römerbrief, XXVI–XXXI, Zitat: XXIXf [Hervorhebungen im Original]. Vgl. auch das Vorwort zur zweiten Auflage (XII–XXVI, hier: XX), wo Barth von der „innere[n] Dialektik der Sache und ihre[r] Erkenntnis im Wortlaut des Textes“ als „entscheidende[m] Faktor des Verständnisses und der Erklärung“ spricht [Hervorhebungen im Original]. 74 BARTH: Der Römerbrief, XXX. 75 Vgl. zu Barths Abgrenzung von liberaler und positiver Schriftauslegung das Vorwort zur zweiten Auflage (BARTH: Der Römerbrief, XII–XXVI, bes. XVIII). Vgl. zur Kritik Barths am kritisierenden Subjekt TROWITZSCH: „Nachkritische Schriftauslegung“, bes. 84–89. 76 BARTH: Der Römerbrief, XVIII. 72

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kunde“.77 Auch er versucht, das „Wort in den Wörtern“78 aufzudecken, und sieht dieses Wort als den unabhängig vom erkennenden Subjekt gegebenen Kern der Aussage, als deren Wahrheit.79 Diese Suche könnte zu einer dogmatisch-objektivierenden Stilllegung des hermeneutischen Prozesses im Ergreifen einer begrifflich formulierten „Wahrheit“ führen. Durch den ständigen Bezug auf den widerständigen Buchstaben der Schrift im äußeren Wort des Kanons blieb Barth in seinem „Römerbrief“ und auf seinem weiteren dogmatischen Weg davor jedoch meist bewahrt.80 In der BarthSchule und der nach dem Zweiten Weltkrieg dominanten Wort-Gottes-Theologie allerdings wird der dogmatisch-objektivierende Abschluss des hermeneutischen Prozesses als Problem greifbar. (b) Die hermeneutische Theologie, wie sie sich etwa bei Gerhard Ebeling, Ernst Fuchs oder Eberhard Jüngel in unterschiedlicher Schattierung und teilweise mit explizitem Rekurs auf die philosophischen Hermeneutiken Paul Ricoeurs oder HansGeorg Gadamers greifen lässt, denkt gegen manche Verfestigungen in Theologie und Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg an diesen Fragen weiter. Ich greife nur einen berühmten Beitrag heraus: Gerhard Ebelings 1959 erschienenen Aufsatz „Wort Gottes und Hermeneutik“, der eine grundlegende Besinnung auf das „hermeneutische Problem“ bietet.81 Ebeling markiert darin die Gefahr der Wort-Gottes-Theologie, durch die neuerliche Hinwendung zur Bibel das hermeneutische Problem geradezu zu überspringen und in einen problematischen Objektivismus oder in die „stickige Atmosphäre einer engen Kirchlichkeit“ zu geraten.82 Demgegenüber ist es für Ebeling entscheidend, das hermeneutische Problem als die Frage nach dem Wortgeschehen im Blick zu behalten, d.h. die falsche Objektivierung einer Textwahrheit aufzugeben und stattdessen den Bezug des Wortgeschehens auf dessen Mündlichkeit und auf seine Wirkung zu beachten: „Wo Wort recht geschieht, lichtet sich die Existenz.“83 77 Vgl. zu beiden Begriffen das Vorwort zur zweiten Auflage: BARTH: Der Römerbrief, XII– XXVI, hier: XIX [im Original hervorgehoben]. Das Durchdringen zur „Sache“ beschreibt Barth auch mit dem Bild vom Transparentwerden der Mauer, die zwischen den Zeiten aufgerichtet sei (vgl. XVII). 78 BARTH: Der Römerbrief, XIX. 79 Vgl. zur Verwendung des Begriffs der „Wahrheit“ auch das Vorwort zur ersten Auflage. Barth schreibt dort, dass es die „Arbeit des Verstehens“ sei, „durch das Historische hindurch zu sehen in den Geist der Bibel, der der ewige Geist“ sei (BARTH: Der Römerbrief, XIf, Zitat: XI [Hervorhebung im Original]). Die tendenziell romantisch-idealistische Ausrichtung dieses Fragens wird noch dadurch unterstrichen, dass Barth – ohne Angabe einer Quelle – aus der zweiten Strophe von Goethes Gedicht „Vermächtnis“ zitiert: „Das Wahre war schon längst gefunden,/Hat edle Geisterschaft verbunden,/Das alte Wahre – faß es an!“ (XI). 80 Vgl. BARTH: KD I/1, 107: „Gerade an der Schriftlichkeit des Kanons, an seinem Charakter als scriptura sacra, hängt seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit und also seine freie Macht gegenüber der Kirche […]“ [Hervorhebung im Original]. Vgl. auch Barths Warnung davor, über den Text verfügen zu wollen (BARTH: KD I/2, 521). 81 EBELING: Wort Gottes und Hermeneutik, 323 u.ö. 82 Vgl. EBELING: Wort Gottes und Hermeneutik, 323f, Zitat: 323. 83 EBELING: Wort Gottes und Hermeneutik, 342. Vgl. auch Ebelings erhellende Kritik am Wortverständnis der lutherischen Orthodoxie (vgl. 326–328 Anm. 15). Ebeling schreibt: „Man ist sich [in der Orthodoxie, AD] nicht mehr dessen bewußt, daß zum Wesen des Wortes dessen Mündlichkeit gehört, d.h. sein Geschehnischarakter in personaler Relation, daß also das Wort nicht isolierter Träger von Sinngehalten ist, sondern ein Geschehen, das etwas wirkt und auf etwas abzielt“ (328).

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Die Wechselwirkung von Sprache und Existenz im Wortgeschehen wird als der Reflexionsraum der Hermeneutik konturiert: „[…] Hermeneutik ist ja nicht ein Ausbrechen aus dem Sprachlichen, um Sprache zu verstehen, sondern ein tiefer Eindringen ins Sprachliche, um durch Sprache zu verstehen.“84 Für die Predigt bedeutet dies nach Ebeling, dass es darauf ankomme, „aus geschehener Verkündigung“ „geschehende Verkündigung“ zu machen, von der „Schrift zum mündlichen Wort“ oder von dem „Text wieder [zu, AD] Gottes Wort“ zu gelangen.85 Mit diesen Formulierungen zeigt sich freilich zugleich das Problem dieser neuerlichen Korrektur mancher objektivierenden Entwicklungen der Wort-Gottes-Theologie in Ebelings Hermeneutik. Sie droht den Buchstaben des Textes zugunsten des verstandenen und existential interpretierten Textes erneut in den Hintergrund zu drängen. Der Text wird zur „hermeneutischen Hilfe im Verstehen gegenwärtiger Erfahrung“ und könnte gerade dadurch des Widerstands seiner Buchstaben beraubt werden.86 Die Fragestellungen der hermeneutischen Theologie wurden nicht zu Ende diskutiert. Vielmehr ebbten die hermeneutischen Fragen zunächst ab, bevor sich dann gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine neuerliche Wende hin zum Buchstaben in unterschiedlichen „nach-kritischen“ Neuansätzen der Schrifttheologie abzeichnete. Diese konnten und mussten sich u.a. mit radikalen Infragestellungen bisheriger Hermeneutik in poststrukturalistischen bzw. dekonstruktivistischen Positionen innerhalb der Literaturwissenschaft und Philosophie auseinandersetzen. Diese forderten, vereinfacht formuliert, die Rückkehr zum Buchstaben gegenüber jedem Versuch der Erfassung des Logos als dessen Bedeutung. Sie betonten die unabschließbaren Verweiszusammenhänge der Signifikanten (am prominentesten in Derridas „Grammatologie“) und negierten jedes transzendentale Signifikat und damit auch jede abschließende Ermittlung von Sinn oder Bedeutung auf der Grundlage eines Textes.87 Nach-kritische Schriftlektüre nahm diese Kritik auf und sah sie als Hinweis auf die Notwendigkeit, erneut zum Text der Schrift zurückzukehren.88 Gleichzeitig aber wurden Grundanliegen der hermeneutischen Theologie bewahrt und somit eine radikale Dekonstruktion vermieden. Nach-kritische Hermeneutiken versuchen, so lässt sich grob sagen, neu vom Lesen der Texte auszugehen und dabei die Objektivität der Ermittlung der Schriftaussage ebenso zu vermeiden wie liberale Subjektivität im Umgang mit den Texten. Richtungsanzeigen für ein gefordertes neues Lesen wurden erkannt, indem man in bewusst nach-moderner Situation neben dem kritischen Instrumentarium der Moderne auch auf vor-moderne Paradigmen des Umgangs mit der 84

EBELING: Wort Gottes und Hermeneutik, 334 [Hervorhebung im Original]; vgl. insg. 333–

338.

85 EBELING: Wort Gottes und Hermeneutik, 345; vgl. insgesamt die homiletische Zuspitzung, in die Ebelings hermeneutische Überlegungen münden (344–348). 86 EBELING: Wort Gottes und Hermeneutik, 347 [im Original hervorgehoben]. Vgl. zu dieser Problematik in spezifisch homiletischer Perspektive auch meine Ausführungen zu Jüngels homiletischer Hermeneutik (unten Kap. 9.2.2). 87 Vgl. DERRIDA: Grammatologie, und insgesamt BOGDAL: Problematisierungen der Hermeneutik. 88 Vgl. zum Begriff TROWITZSCH: „Nachkritische Schriftauslegung“; den Terminus „nachkritische Schriftauslegung“ übernimmt Trowitzsch wiederum von Rudolf Smend (SMEND: Nachkritische Schriftauslegung).

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Schrift zurückgriff. Besonders interessant erscheint dabei m.E., dass sich in dieser Suche nach einer neuen Lektüre christliche und jüdische Ansätze vielfach treffen, worauf exemplarisch der 1993 erschienene und von Peter Ochs herausgegebene Sammelband „The Return to Scripture in Judaism and Christianity“ hinweist.89 Peter Ochs versammelt darin u.a. Beiträge von Hans Frei und George Lindbeck auf christlicher Seite sowie David Weiss Halivni, Steven Fraade und Michael Fishbane auf jüdischer Seite. Die unterschiedlichen Ansätze ordnet er weder der Postmoderne noch der Vor-Moderne zu. Kritisch gegenüber modernen Wegen suchen sie neu nach „communal, dialogic and textual contexts of knowledge“ und greifen dazu auch auf vormoderne Schriftlektüren und Schriftinterpretationen zurück.90 Bei Hans Frei bedeutet dies z.B., den sensus literalis der Schrift als den Schriftsinn innerhalb des gemeinsamen semiotischen Systems einer religiösen Gemeinschaft neu in den Mittelpunkt zu rücken und gleichzeitig die moderne Unterscheidung zwischen der Welt des Textes und der rekonstruierten Welt „hinter“ dem Text rückgängig zu machen, die zur „Verfinsterung der biblischen Erzählung“ („Eclipse of Biblical Narrative“) geführt habe.91 George Lindbeck bezeichnet seinen Ansatz als post-liberal. Er führt ausgehend von Clifford Geertz eine „dichte Beschreibung“ vor Augen, die auf die Verwendung von Texten in der Gemeinschaft der Lesenden und gleichzeitig auf die intratextuelle Bedeutungskonstitution durch biblische Sprache rekurriert und insgesamt die Priorität des Textes gegenüber jeder Theorie betont.92 Unter wesentlicher Beteiligung von Peter Ochs entstand innerhalb der „American Academy of Religion“ die „Society of Textual Reasoning“ als ein Diskussionsforum vor allem jüdischer Teilnehmer, das sich der Förderung einer Hermeneutik widmet, die die Aporien der Moderne überwinden soll, ohne dabei zu einer radikalen Postmoderne zu führen.93 Mit der „Society of Scriptural Reasoning“ und ihrem Organ, dem „Journal of Scriptural Reasoning“, etablierte sich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre ein zusätzliches Forum, das dieses Anliegen erweitert und das Christentum sowie den Islam als „abrahamitische Religionen“ einbezieht.94 Auf diese Ansätze wird wieder zurückzukommen sein.95

8.1.5 Homiletisch lesen lernen im christlich-jüdischen Dialog Als Ergebnis der bisherigen Überlegungen kann festgehalten werden: Judentum und Christentum stehen beide immer neu vor der Herausforderung durch den Buchstaben der Schrift und müssen ein erwartungsvolles Lesen

89

Vgl. OCHS: The Return; BELLIS: Jews, Christians; LINDBECK: Postmodern Hermeneutics. Vgl. OCHS: Preface, in: The Return, 1f, Zitat: 1f; vgl. ders.: An Introduction to Postcritical Scriptural Interpretation, 12–14. 91 Vgl. FREI: The „Literal Reading“ of Biblical Narrative, hier: 76. 92 Vgl. dazu vor allem LINDBECK: Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens. 93 Vgl. dazu unten Kap. 11.2.1.1, 314–316. 94 So das „Statement of Purpose“ des „Journal of Scriptural Reasoning“; vgl. die folgende Internetquelle (Zugriff vom 10.01.2004): http://etext.virginia.edu/journals/ssr/statementofpurpose.html. 95 Vgl. bes. unten Kap. 11.1.2.2, 309–312, und 11.2.1.1. 90

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lernen und praktizieren.96 In nach-kritischen, nach-modernen Zeiten bedeutet dieses Lesenlernen für beide auch, neue Wege jenseits des – durch den metaskriptural verstehenden Zugriff auf die Texte eingeübten – „Analphabetismus“ der Moderne, der in liberaler oder fundamentalistischer Spielart auftreten kann, zu suchen. Manfred Oeming spricht davon, dass Juden wie Christen gegenwärtig „in einem Boot“ säßen, was die hermeneutische Aufgabe im Umgang mit den jeweiligen Heiligen Schriften angehe.97 Beide müssten – wie Oeming in Aufnahme von Jer 23,29 schreibt – versuchen, aus dem „Felsen“ der Schrift heilige Funken zu schlagen. Und beide stünden dabei vor allem vor dem Problem, „wie aus dem [durch die wissenschaftlich-kritische Methodik, AD] profanierten Felsen überhaupt noch ein heiliger Funke ins Leben überspringen kann.“98 Dieser „heilige Funke“ freilich wird im Rahmen einer Christus-zentrierten christlichen und einer Tora-zentrierten jüdischen Hermeneutik unterschiedlich erwartet und gedeutet werden. Dennoch aber scheint es mir möglich und verheißungsvoll, dass sich Christen und Juden gegenseitig auf – um im Bild Oemings zu bleiben – vielversprechende Bauanleitungen für den Hammer und Techniken des Hämmerns hinweisen, die dann in den jeweiligen Gemeinschaften analog rezipiert werden können. Auch für die Predigt scheint das Lesen entscheidend; Hermeneutik und Homiletik sind untrennbar miteinander verbunden. Das wurde bei dem knappen Durchgang durch die jüdische Predigt in ihrer Geschichte vor allem an den Umbrüchen zum jüdischen Mittelalter und zum 19. Jahrhundert sowie an der erneuten Epochenschwelle der jüdischen Renaissance deutlich. Und dies gilt selbstverständlich auch für die christliche Predigt. Ulrich H. J. Körtner schreibt: „Mag auch der Glaube im christlichen Sinne primär aus dem Hören kommen [vgl. Röm 10,17, AD], so kommt doch die Predigt aus dem Lesen.“99 Um Impulse für ein homiletisches Lesen geht es im zweiten Teil dieser Arbeit. Sicherlich lässt sich auf verschiedenen We96

Dass dabei die Schriftgrundlage materialiter über weite Strecken (annähernd) identisch ist, vertieft die christlich-jüdische Beziehung, führt aber gleichzeitig in den Streit der unterschiedlichen Auslegungen hinein; vgl. nur die jüdische Erklärung zum christlich-jüdischen Dialog „Dabru Emet“ (vgl. KAMPLING: Dabru Emet; HEINZ: Wie Juden das heutige Christentum sehen, 6). Vgl. dazu auch den dialogisch angelegten Band GREELEY/NEUSNER: Common Ground. Im Vorwort schreiben der christliche und der jüdische Dialogpartner: „Since we read the same words, we share a common bond. Since we do not agree on what these words mean and how they should shape the world today, we also have something to talk about – and can teach one another things that, on our own, we might never have grasped“ (GREELEY/NEUSNER: Introduction: Reading Scripture Together, xvii). 97 OEMING: Lob der Vieldeutigkeit, 143; vgl. insg. 141–145. 98 OEMING: Lob der Vieldeutigkeit, 142. 99 KÖRTNER: Theologie des Wortes Gottes, 298.

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gen homiletisch lesen lernen – durch die Relektüre christlicher Tradition etwa, durch humanwissenschaftliche Schärfungen der hermeneutischen Brille für die Gesellschaft und den/die Menschen in ihr, durch die Rezeption philosophischer und literaturwissenschaftlicher Ansätze, durch empirische Rezeptionsforschung etc. Der Weg, den ich einschlage und der im Folgenden näher methodisch profiliert (8.2) und inhaltlich eingegrenzt (8.3) werden soll, geht von der Wahrnehmung jüdischen Lesens aus und setzt dieses analog zur christlich-homiletischen Diskussion in Beziehung.

8.2 Homiletik im christlich-jüdischen Dialog – Intertextualität als methodisches Paradigma Eine provokative und dialogische Wahrnehmung jüdischer Predigt und Hermeneutik ist darauf angewiesen, strukturelle Analogien zu erkennen und gleichzeitig Differenzen zu achten. Als methodischer Reflexionsrahmen erscheint mir die Intertextualität geeignet, um dieses jüdisch-christliche Miteinander zu beschreiben.100 Zunächst freilich meint Intertextualität die Wechselbeziehung konkreter Texte. Weitet man aber den Textbegriff in soziokultureller Hinsicht, wie es der Grundlegung der Intertextualitätstheorie durch Julia Kristeva entspricht,101 so bietet sich das Modell der TextText-Wechselwirkung als ein möglicher Interpretationsrahmen auch für das jüdisch-christliche Verhältnis (nicht nur in homiletischer Perspektive) an.102 In der Intertextualitätsforschung lassen sich zwei Hauptströme unterscheiden:103 (1) Zum einen wird Intertextualität deskriptiv verwendet und als methodisches Instrumentarium genutzt. Es geht darum, wahrnehmbare Beziehungen zwischen Texten und ihren „Prätexten“104 zu erkennen und zu analysieren. Dieses Verfahren kommt der klassischen Quellenkritik, Zitat- oder Einflussforschung nahe; allerdings spielt der synchrone Zugang eine weitaus gewichtigere Rolle. Gleichzeitig ist die Autorenintention nicht mehr das Kriterium für die Entdeckung von Text-Text-Beziehungen.105 (2) Zum anderen ist Intertextualität – und das schon von ihrem Ansatz bei 100

Vgl. hierzu und zum Folgenden grundlegend GROHMANN: Aneignung der Schrift, bes. 131– 166; dies: Intertextualität. Auch SCHWIER: Die Spannung aushalten, und FUCHS: Ein praktischtheologischer Versuch, bes. 239–246, betonen die Notwendigkeit, die christlich-jüdische Spannung in der praktisch-theologischen Reflexion zu bewahren. 101 Vgl. PFISTER: Konzepte der Intertextualität, 1–11; ACZEL: Art. Intertextualitätstheorien, 241. 102 Der folgende Petit-gedruckte Absatz lehnt sich an den Text meines Aufsatzes „Gottesdienst in Israels Gegenwart“ an (vgl. DEEG: Gottesdienst in Israels Gegenwart, 36–40, bes. 37). Vgl. zur Entwicklung der Intertextualitätsdiskussion auch GOJNY: Biblische Spuren, 22–28. 103 Vgl. ACZEL: Art. Intertextualitätstheorien, 241; PFISTER: Konzepte der Intertextualität, 11–25. 104 Der Begriff des „Prä-textes“ suggeriert ein zeitliches Prä, das hier aber nicht im Vordergrund steht. 105 Vgl. ACZEL: Art. Intertextualitätstheorien, 241, und Roland Barthes’ Reden vom „Tod des Autors“ (242).

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Kristeva her – eine kritische Theorie. Für Kristeva meint „Text“ längst nicht nur die sprachlich vorliegende Kombination von Worten und Sätzen. Ihr Konzept der Translinguistik geht von der Globalität des Textraumes aus: Die Welt ist „Text“.106 In diesem globalen Textraum kommen unterschiedliche Texte miteinander ins Spiel, werden unterdrückt oder verstärkt, herausgefordert oder hinterfragt. Die Frage nach dem Wechselspiel der Texte wird dann zu einer Frage nach der Gesellschaft und ihren Strukturen, nach den herrschenden Einflüssen und Mächten. Intertextualität beschränkt sich dementsprechend nicht darauf, Literaturkritik zu sein; sie wird zur Kulturkritik.

Besonders hilfreich erscheint mir der Intertextualitätsbegriff – wie ich in einer liturgischen Reflexion dargelegt habe107 –, weil er auf die Wahrnehmung distinkter und nur so zur Interaktion fähiger Texte bezogen ist. Für den christlich-jüdischen Dialog bedeutet dies: Werden die Texte des Christlichen und des Jüdischen lediglich antithetisch betrachtet und daher beziehungslos auseinander gerückt, so ist die Wechselwirkung zwischen beiden nicht mehr denkbar. Ich spreche an dieser Stelle von antithetischer Reduktion. Der christlich-jüdische Dialog hat seit seinem Beginn „nach Auschwitz“ mit der Bekämpfung des Antijudaismus in christlicher Theologie vor allem daran gearbeitet, diese antithetische Reduktion zu überwinden und die beiden Texte neu ins Gespräch zu bringen. Freilich droht dabei das Pendel zu weit, nämlich bis zur synthetischen Reduktion, umzuschlagen. Auch wenn Christliches und Jüdisches allzu harmonisierend aufeinander bezogen werden, erscheinen Dialog und Wechselwirkung undenkbar. Besonders problematisch ist das Phänomen einer meist gut gemeinten (!) christlichen Enteignung des Judentums, die dann droht, wenn christliche Theologie das Jüdische undifferenziert in die christliche Theologie integriert und so als das eigentlich Christliche erscheinen lässt. Die jüdische Tradition und Gegenwart begegnet dann nicht mehr als herausforderndes Gegenüber, sondern wird verstehbar, beherrschbar und somit letztlich christlich funktionalisiert. Dass Jüdinnen und Juden die Problematik der Enteignung nicht erst in der Gegenwart deutlich wahrnehmen, illustriere ich durch zwei kurze Verweise auf jeweils einen Beitrag aus dem späten 19. und einen aus dem frühen 20. Jahrhundert: (1) Der jüdische Midraschexperte Julius Theodor schreibt im Jahr 1880 eine Rezension zur Midraschübersetzung des christlichen Judentumkenners August Wünsche. Er verfasst sie voller „Bewunderung“ und „Besorgniß“.108 Die „eigentümliche Besorgniß“ begründet Theodor mit folgender Frage: „Wird die Agada, wenn das Wünsche’sche Werk vollendet sein wird, noch zum auszeichnenden Besitze des jüdischen

106

Vgl. SCHAHADAT: Intertextualität, 368. Vgl. DEEG: Gottesdienst in Israels Gegenwart. 108 THEODOR: Rez. zu: Bibliotheca Rabbinica, 181. 107

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Volkes, der jüdischen Theologie gehören?“109 Oder geschieht – so ergänze ich Theodors Frage – aufgrund des Wunsches der Aneignung letztlich eine Enteignung dieses Stücks jüdischer Tradition – eine Enteignung, die vielleicht meinen könnte, auf das gegenwärtige Judentum als authentischen Sprecher und Hermeneuten seiner Tradition verzichten zu können? (2) Etwa eine Generation nach Theodor (1917) kritisiert Franz Rosenzweig christliche Bibelwissenschaftler, die sich methodisch des Tanach bemächtigt hätten. Nun stünde zu befürchten, dass sie sich auch die jüdische Tradition der mündlichen Tora methodisch unterwerfen würden. Rosenzweig schreibt: „Gelehrte, denen bei allem Scharf- und Feinsinn doch die Eigentümlichkeiten jüdischen religiösen Denkens nie ins Gefühl übergehen können, werden […] an Halacha und Haggada, Philosophie und Kabbala ihre Methoden anwenden und uns ähnliche Wunder der sondernden Kritik bescheren“, wie dies bei der Bibelexegese bereits der Fall sei.110

Zwei weitere Probleme sind mit der synthetisch reduzierenden Enteignung eng verbunden: Eklektizismus und Romantizismus im Umgang mit dem Judentum. • Eklektizismus: Es besteht die Gefahr, aus der jüdischen Tradition und dem gegenwärtigen Judentum selektiv nur das zu rezipieren, was das eigene Nachdenken bestätigt. Dies würde letztlich bedeuten, dass eigene Ideen durch den Verweis auf Jüdisches lediglich untermauert und verstärkt würden. Anstöße durch die fremde jüdische Tradition und Gegenwart würden dann nicht mehr sichtbar.111 Auf diese Problematik habe ich oben am Beispiel der poimenischen Arbeit von Stefan Fritsch bereits hingewiesen.112 Homiletisch sehe ich gegenwärtig eine besondere Gefahr darin, in der jüdischen Hermeneutik und Homiletik vor allem Offenheit, Phantasie bzw. Kreativität wahrzunehmen und die Pole der Bindung und Normierung aus dem Blick zu verlieren.113 Die Gefahr des Eklektizismus bedeutet methodisch für diese Erarbeitung, dass es entscheidend sein wird, nicht ausschließlich von Fragen oder von einem System der christlichen Homiletik auszugehen, sondern die Themen und Stichworte des homiletischen Dialogs auch vom jüdischen Gesprächspartner vorgeben zu lassen. • Romantizismus: Nicht selten geschieht es in der gegenwärtigen Wahrnehmung des Judentums, dass Jüdisches romantisiert wird. Angesichts des Scheiterns der Moderne oder der Diffusität der Postmoderne sucht man 109

THEODOR: Rez. zu: Bibliotheca Rabbinica, 181. ROSENZWEIG: Zeit ists, 474. 111 Vgl. dazu auch SUNDERMEIER: Den Fremden verstehen, 10, der davor warnt, den Fremden nur als „Spiegel meiner selbst“ zu sehen und so als „Umweg zur Selbstfindung zu mißbrauchen“. 112 Vgl. oben Kap. 1.2.2, 38f. 113 Vgl. auch DURAND: Usage chrétien de la tradition orale juive. 110

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im Judentum eine vor-moderne Gestalt von Religion, in der religiösspirituelle Authentizität in den Bezugsfeldern der Familie oder Gemeinde noch intakt wahrgenommen werden könne. Frank Stern hat dieses Problem vor Augen, wenn er einen neuen, vor allem in Deutschland auftretenden Philosemitismus kritisiert, der „Romantisierungen und Idealisierungen“114 im Blick auf das Judentum fördere und einer „Sehnsucht nach einem Judentum vor der Akkulturation, möglichst mit Stirnlöckchen, Käppchen, intensivem religiösem Leben, eigener Sprache, Literatur und Musik“ entspringe115. Die Gefahr des Romantizismus liegt nicht darin, dass Elemente jüdischer Tradition als Gesprächspartner für heutige Fragestellungen dienen. Vielmehr ist sie dort zu verorten, wo das Jüdische naiv und romantisch auf eine vor-moderne Gestalt fixiert und die plurale jüdische Gegenwart, die wie die christliche Tradition die Umbrüche der Moderne kennt, ausgeklammert wird.116 Die bloße Vermeidung antithetischer und synthetischer Reduktion ist nur die Voraussetzung, nicht der Kern dessen, was Intertextualität leistet. Ihr besonderer Reiz liegt darin, dass sie davon ausgeht, dass sich Bedeutung und Sinn nur dann ereignen, wenn die betrachteten Texte interagieren. In einem intertextuellen Rahmen steht daher zu erwarten, dass sich Christliches und Jüdisches gerade aufgrund ihrer produktiven Differenz117 auch in homiletischer Hinsicht herausfordern und bereichern. Aus christlicher Perspektive formuliert bedeutet dies, dass christliche Homiletik und homiletische Hermeneutik damit rechnen können, durch die Wahrnehmung analoger jüdischer Phänomene Anregungen zu erhalten.118 Die Kreativitätspsychologie hat darauf verwiesen, wie durch „Synektik“ (von su,n + e;cw) bzw. „Bisoziation“, d.h. durch die Überlagerung von Verschiedenem und bisher nicht miteinander Verbundenem, Neues entdeckt werden kann.119 Generell entstehen neue homiletische Entdeckungen seit vielen Jahren dadurch, dass solche Bisoziationen herbeigeführt werden. Die 114

STERN: Dann bin ich um den Schlaf gebracht, 203. STERN: Dann bin ich um den Schlaf gebracht, 205 [Hervorhebung im Original]. 116 Vgl. an dieser Stelle auch das bekannte Wort Walter Benjamins: „In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.“ (BENJAMIN: Über den Begriff der Geschichte, 695). 117 Vgl. zur Bedeutung der Differenz GRILL: Verwurzelung und Differenz, bes. 475; ZENGER: Theologische Auslegung des Alten/Ersten Testaments, 22f. 118 Peter von der Osten-Sacken spricht in seiner wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Studie „Katechismus und Siddur“ davon, dass das Ziel des Dialogs darin bestehe, „das Fremde in Analogie zum Eigenen [zu, AD] begreifen“ (OSTEN-SACKEN: Katechismus und Siddur, 16). Zu ergänzen wäre dann noch: … und so das Eigene durch die Wahrnehmung des Fremden herausfordern und in Frage stellen zu lassen. 119 Vgl. ARENS/RICHARDT/SCHULTE: Kreativität und Predigtarbeit, 18–21 [Die Bisoziation]; vgl. auch LANDAU: Psychologie der Kreativität, 100f. 115

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Homiletik kommt auf ihre Gedanken, indem sie Bezüge zwischen dem homiletischen und anderen Diskursen herstellt. Die Anstöße lassen sich oft dem Titel der jeweiligen Homiletiken entnehmen, die sich dann rhetorisch (Otto), semiotisch (Engemann) oder dramaturgisch (Nicol) nennen. Auch die Poimenik (Möller und bereits Piper), die Rezeptionsästhetik (Martin) oder die Didaktik (Meyer-Blanck) führten zu Neubrüchen im homiletischen Denken.120 Eine vergleichbare homiletische Bisoziation soll im Folgenden versucht werden, indem ein Anstoß durch die jüdische Predigt, Homiletik und Hermeneutik gesucht wird. Freilich muss dazu das Feld des Dialogs deutlicher begrenzt werden.

8.3 Homiletische Textlektüre im Kontext des Midrasch – Vorausblick auf die Durchführung im zweiten Teil der Erarbeitung Es kann nicht „die“ jüdische Predigt, „die“ Derascha oder „die“ jüdische Homiletik betrachtet und mit christlicher Homiletik ins Gespräch gebracht werden (die es im Singular ebenfalls nicht gibt). Beschränkung ist nötig. Ich folge dazu der Spur, die Axel Denecke gelegt hat, und wähle den Midrasch als primären Bezugspunkt des folgenden homiletischen Dialogs. Dies geschieht aus drei Gründen: • Zum einen ist Midrasch aktuelles Leitwort in vielfältigen hermeneutischen Diskursen.121 Besonders herausfordernd erscheint dabei m.E., dass sich in der Diskussion um den Midrasch nach-kritische hermeneutische Entwürfe mit vor-moderner Schriftauslegung berühren und sich die Frage stellt, wie gegenwärtige Hermeneutik von der skripturalen rabbinischen Hermeneutik lernen kann. • Zweitens kann der Midrasch als Quelle und ständiger Bezugspunkt jüdischer Predigt und Derascha von rabbinischer Zeit bis in die Gegenwart in Anlehnung und Widerspruch betrachtet werden. Exemplarisch zeigt dies das homiletisch herausfordernde 19. Jahrhundert, in dem bereits Leopold Zunz eine jüdische Predigt in bewusstem Gegensatz zur Derascha und doch gleichzeitig im Anschluss an den Midrasch suchte und noch Siegmund Maybaum 1890 die Predigt als „von Haus aus einen Zweig des Midrasch“ beschrieb.122 120 Generell erscheint mir die Frage nach einer homiletischen Epistemologie vergleichbar den dogmatischen Prolegomena (die Frage danach also, wie die Homiletik auf ihre Gedanken kommt) bisher wenig reflektiert (vgl. als eine Ausnahme SCHRÖER: Von der Genetiv-Theologie zur Adverb-Homiletik). 121 Vgl. bereits oben Kap. 7.4 und ausführlicher unten Kap. 10.1. 122 Vgl. MAYBAUM: Jüdische Homiletik, 3, und ausführlicher oben Kap. 5.4, 154–156.

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• Schließlich macht es der Kontext des Midrasch in emphatischer Weise möglich, den hermeneutischen und den homiletischen Diskurs miteinander zu verknüpfen und wechselseitig in Beziehung zu halten. Bereits die Begriffe „Derascha“ und „Midrasch“ sind unmittelbar miteinander verbunden. Gary G. Porton beschreibt den Midrasch als „eine Literaturgattung, mündlich oder schriftlich, die in direkter Beziehung zu einem festgelegten kanonischen Text steht, der vom Midraschist und seiner Hörerschaft als autoritatives und offenbartes Wort von Gott betrachtet wird, und in der dieser kanonische Text explizit zitiert oder klar auf ihn hingewiesen wird.“123 Durch lediglich kleine Veränderungen wäre es möglich, diese Midrasch-Definition Portons in eine Predigtdefinition umzuschreiben.124 Es steht daher m.E. zu erwarten, dass die vielfach neu diskutierte Frage nach dem Text in der Predigt vom Midrasch her anregende Perspektiven erfährt und sich gangbare Wege eines neuen homiletisch relevanten Lesens der Bibel gewinnen lassen. Sehr vereinfacht gesagt, könnte der Midrasch mit seiner unendlichen und unbegrenzten Lektüre („Lecture infinie“125) Anleitungen für eine Lust am Lesen bieten, die – Rudolf Bohren folgend – Predigende dringend zu erlernen hätten. Bohren schreibt im Nachwort zur vierten Auflage seiner „Predigtlehre“ (1979): „Was die Prediger heute brauchen, sind primär nicht homiletische Verfahren, sondern vielmehr ein neues Vertrauen ins Wort, ins Wort der Heiligen Schrift und in das, was sie selber von der Schrift her zu sagen haben. […] Die Lust am Text schafft auch die Lust am Predigen.“126 Wenn christliche Homiletik solchermaßen im Kontext des Midrasch wahrgenommen werden soll, so geht es dabei um eine Exploration, eine Erkundung, nicht aber um das Abarbeiten eines vorher feststehenden Systems. In diesem Sinne ist das Vorgehen in den folgenden Kapiteln als induktiv zu beschreiben. Ich nehme Leitworte des Midrasch auf und gehe diesen entlang. Mit dem Entdeckten verbinden sich dann Wahrnehmungen in der christlich-homiletischen Diskussion. Zusammengebracht wird beides durch das – im Sinne Wolfgang Welschs – „schwache Subjekt“ des Autors dieser Erarbeitung, der nicht behaupten kann, totalisierend das Ganze in den Blick zu nehmen, sondern hofft, Übergänge zwischen verschiedenen Diskursen 123

PORTON: Midrasch, 134; vgl. auch ders.: Defining Midrash. Dies gilt etwa auch für die Midrasch-Definition Günter Stembergers: „Midrasch ist nicht wissenschaftlicher Kommentar zur Bibel; es ist auch nicht ein Spielen mit dem Text, sosehr das Sprachspiel darin seinen Platz hat […]. Im wesentlichen ist Midrasch gläubiger Umgang mit dem Text, in dem man Gott hört, mit ihm ins Gespräch kommt. Im sorgfältigen Hinhören auf den Text […] ergründet man die Tiefen der Offenbarung, erlebt Gott als stets gegenwärtig, ist sich seiner Verheißungen gewiß.“ (STEMBERGER: Midrasch, 10). 125 So der Titel der Monographie zum Midrasch von David Banon [1987]. 126 BOHREN: Predigtlehre, 560. 124

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aufzeigen zu können.127 Viel wäre erreicht, wenn es gelänge, die Gefahren des Eklektizismus, des Romantizismus und der Enteignung zu vermeiden und nicht etwa durch den Rekurs auf die jüdische Tradition die eigenen, längst bekannten homiletischen Thesen nur neu bestätigt zu finden. Das bedeutet aber zugleich die Relativität der hier vorgelegten Beobachtungen. Was sich insgesamt auf den folgenden Seiten ergeben wird, sind Impulse zur Reformulierung christlicher Homiletik sowie zur Neugestaltung christlicher Predigtpraxis im Kontext des Midrasch und seiner skripturalen Hermeneutik. Der Begriff „Midrasch“ kann in dreifacher Hinsicht verwendet werden. Es handelt sich dabei (1) um die Art und Weise rabbinischer Schriftauslegung (die rabbinische Hermeneutik), (2) um das konkrete Ergebnis dieser Auslegung, wie es in verschiedenen Formen rabbinischer Literatur (etwa: Gleichnis, Peticha, Chatima …) im Midrasch vorliegt, und (3) um die Textsammlungen, die solche Auslegungen zusammenführen und die sich z.B. nach unterschiedlichen genera dicendi in haggadische und halachische Midraschim unterteilen lassen.128 Diese Differenzierung liefert das Gerüst für die Abfolge der Kapitel des dialogischen Teils der Erarbeitung, wie es die folgende Skizze vor Augen führt. Ich gehe – nach einem Forschungsüberblick zur gegenwärtigen Diskussion des Midrasch (Kap. 10) – einerseits grundlegend auf die Hermeneutik des Midrasch ein (Kap. 11), greife dann mit dem rabbinischen Gleichnis eine – in der Terminologie Arnold Goldbergs – „Grundform“ sowie mit der Peticha (und Chatima) eine „Form höherer Ordnung“ heraus (Kap. 12/14).129 Den beiden genera dicendi rabbinischer Rede widme ich mich in einem eigenen Kapitel (Kap. 13).

127

Vgl. WELSCH: Unsere postmoderne Moderne, 316. Vgl. u.a. MAYER: Art. Midrasch, 734; NEUSNER: Art. Rabbinic Judaism, Formative Canon of: [3] The Aggadic Documents, 1174; ders.: Midrash in Context, xiv; ders.: Torah through the Ages, 66; ders.: What is Midrash, 8f; PORTON: Midrasch, 124; SARASON: Art. Midrash, 155f; STERN: Art. Midrash, 613. 129 Vgl. GOLDBERG: Entwurf einer formanalytischen Methode, Zitate: 58.61, und vgl. dazu unten Kap. 10.1.2, 283f. 128

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SKIZZE: Die drei Bedeutungsebenen des Begriffs „Midrasch“ und die Anlage des zweiten Teils der Arbeit (1) MIDRASCH als AKTIVITÄT DER AUSLEGUNG

Kapitel 11 Midrasch – Perspektiven zu Hermeneutik, Methodik und Pragmatik homiletischer Textlektüre

(2) MIDRASCH als ERGEBNIS DER AUSLEGUNG (2.1) Grundformen (2.1.1) Maase (2.1.2) Gleichnis Kapitel 12 Maschal und Nimschal – Predigt als „Übersetzung“ (2.1.3) Dialog (2.1.4) … (2.2) Formen höherer Ordnung (2.2.1) Peticha (2.2.2) Chatima

Kapitel 14 Peticha und Chatima – Predigt als Eröffnung und Einführung

(2.2.3) Dialektische Auslegung (Sugia) (2.2.4) … (3) MIDRASCH als TEXTSAMMLUNG (3.1) Differenzierung nach dem Redegenus (3.1.1) Haggadische Midraschim (3.1.2) Halachische Midraschim

Kapitel 13 Haggada und Halacha – Perspektiven „haggalachischer“ Predigtrede

(3.2) Differenzierung nach dem vorherrschenden Anordnungsprinzip (3.2.1) Textkontinuierlicher (exegetischer) Midrasch (3.2.2) Homiletischer Midrasch

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8.4 Homiletische Wahrnehmungen des Judentums – eine Einordnung in die Forschung In der Homiletik wurde und wird immer wieder erwähnt, dass die Predigt zu den jüdischen Wurzeln christlichen Gottesdienstes gehört. So betont etwa Frieder Schulz – im Rückgriff auf Theodor Klauser –, dass der „Kern des Wortgottesdienst[es]“, d.h. „die doppelte Lesung, der dazwischenliegende Psalmengesang und die anschließende Predigt“, auf den Gottesdienst der Synagoge zurückzuführen sei.130 Die Predigt wird im Fortgang der liturgischen Überlegungen von Schulz allerdings nicht weiter betrachtet. Auch in den meisten homiletischen Darstellungen wird die „Verwurzelung“131 christlicher Predigt im Judentum, wenn sie überhaupt bedacht wird, nur kurz erwähnt.132 Dies gilt etwa auch für die jüngste homiletische Gesamtdarstellung durch Wilfried Engemann. Unter der – eine sehr weitreichende Reflexion ankündigenden – Überschrift „Christliche Verkündigung im Horizont jüdischer Predigt“ erwähnt Engemann den „gemeinsame[n] Wurzelgrund christlicher und jüdischer Synagogenpredigt“133 und spezifiziert diese Aussage lediglich noch durch den erhellenden Blick auf die hellenistischjüdische Predigt und ihre Bedeutung für die Entwicklung der christlichen Predigt.134 Sicherlich hängt die Kürze dieser Erwähnungen auch damit zusammen, dass es sich – wie oben gezeigt (Kap. 3) – aufgrund des vorliegenden Quellenmaterials als äußerst schwierig erweist, historisch Gesichertes über die jüdische Predigt in der Zeit der Entwicklung des Urchristentums zu sagen. Dennoch zeigt sich ein Wahrnehmungsdefizit, wenn jüdische Predigt – bis in neueste homiletische Publikationen hinein – nur als Wurzelgrund christli130

SCHULZ: Die jüdischen Wurzeln des christlichen Gottesdienstes, 15. Vgl. zu der Problematik des Begriffs der „Verwurzelung“ DEEG: Liturgik und christlichjüdischer Dialog, 248f. 132 Kurze Erwähnungen finden sich etwa in den folgenden Lexikonartikeln: BEUTEL: Art. Predigt, 1585; MERKT: Art. Predigt, 527. Eigene Artikel zur jüdischen Predigt bieten RGG4 sowie TRE, vgl. EGO: Art. Predigt; HERRMANN: Art. Predigt. – Demgegenüber verweist z.B. Dietrich Rössler auf den Beginn christlicher Predigt im Urchristentum, erwähnt dabei aber die jüdische Predigt nicht (RÖSSLER: Grundriß der Praktischen Theologie, 346–351, bes. 350 [Zur Vorgeschichte der evangelischen Predigt]). Bei Hans Martin Müller erscheint ein kurzer Verweis auf die „Synagoge“ – allerdings nicht zur Bestimmung des Ursprungs christlicher Predigt, sondern zur Markierung des Umfelds, in dem sich die Verkündigung des Evangeliums situieren musste (vgl. MÜLLER: Homiletik, 10). 133 Vgl. ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 88f, Zitat: 88 [im Original hervorgehoben]. 134 Problematisch erscheint dabei, dass Engemanns Darstellung tendenziell kontrastiv gerät. Er schreibt: „Denn nun [in der christlichen Predigt im Gegenüber zur Synagogenpredigt der Diaspora, AD] wurde nicht in eleganter Rede über die Angelegenheiten des Rechts, des Kultus oder des Alltags gesprochen, sondern die Zuhörenden wurden unversehens selbst zum Zielpunkt der Rede, zu ‚Angegangenen‘ des Geschehens.“ (ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 89). 131

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cher Predigt betrachtet wird und die weitergehende jüdische Predigt-Geschichte sowie die gegenwärtige jüdische Kanzelrede keine Erwähnung finden. Als Ausnahme ist hier – wie bereits oben (Kap. 1.2.2) erwähnt – auf das Buch zur christlichen Predigt des Alten Testaments von Horst-Dietrich Preuß aus dem Jahr 1984 zu verweisen, der in einem ausführlichen Kapitel ihm verfügbare Literatur zur jüdischen Predigt (bis in die jüngste Gegenwart hinein) zusammenträgt.135 Ebenso nimmt Heinz-Günther Schöttler in seiner Arbeit zur selben Thematik Bezug auf jüdische Predigten und jüdische Homiletik.136 Es steht zu hoffen, dass durch die Studie von Andrea Bieler zur Homiletik und Liturgik im 19. Jahrhundert137 das Interesse christlicher Homiletik an der Wahrnehmung jüdischer Predigtgeschichte in ihrem Verhältnis zur christlichen neu geweckt wird. Das Bewusstsein dafür, dass es sich lohnen kann, jüdische Predigt und Homiletik in den Blick zu nehmen, scheint in den vergangenen Jahren insgesamt zu wachsen. So enthält der 1990 erschienene dritte und letzte Band der Reihe „Predigen in Israels Gegenwart“ einen Beitrag des Rabbiners Nathan Peter Levinson, der sich mit der Frage beschäftigt: „Wie predigt ein Jude?“138 Und im Rahmen des Gerhard von Rad-Symposiums (Heidelberg, 2001) referierte der Londoner Rabbiner und Professor Jonathan Magonet in der praktisch-theologischen Arbeitsgruppe, die sich mit der Predigt des Alten Testaments beschäftigte. Unter der Überschrift „The Jewish Sermon“ beleuchtet Magonet – zahlreiche rabbinische Texte zitierend – die Entwicklung der jüdischen Predigt bis zum Umbruch der Moderne und untersucht besonders die Peticha und ihre Struktur.139 In einem zweiten Teil stellt er – allerdings wenig strukturiert – wesentliche Veränderungen der jüdischen Predigt und Homiletik in der Moderne vor.140 Am interessantesten für die hier vorliegende Untersuchung erscheinen freilich die wenigen christlich-homiletischen Beiträge, die aufgrund der Wahrnehmung jüdischer Predigt bzw. jüdischer Schriftauslegung Impulse für die Gestaltung christlicher Predigt geben. Axel Deneckes Buch „Als Christ in der Judenschule“ wurde oben bereits erwähnt.141 Denecke erkennt 135

Vgl. PREUSS: Das Alte Testament in christlicher Predigt, 140–164. Zur Bedeutung der Aufnahme jüdischer Schriftauslegung in der christlichen Predigt vgl. SCHÖTTLER: Christliche Predigt und Altes Testament, 369–373; zur Rezeption jüdischer Predigt (hier zu Gen 32,23–33) vgl. 374–376. 137 Vgl. BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel, und dazu oben Kap. 1.2.2, 39f. 138 Vgl. BAUMANN: Predigen, Bd. 3, 14–20. Levinson zeichnet dabei in einem knappen Überblick die Entwicklung jüdischer Predigt nach (vgl. 19f) und bestimmt (sehr pauschal) vier Charakteristika jüdischer Predigt: ihre narrative Struktur und Volkstümlichkeit, die Auflösung linearer Zeitstruktur in der Predigt, ihre Textnähe und schließlich ihre exegetische Kühnheit (vgl. 15–17). 139 Vgl. MAGONET: The Jewish Sermon, 87–91 [Rabbinic and Mediaeval Models]. 140 Vgl. MAGONET: The Jewish Sermon, 91–96 [The Impact of Modernity]. 141 Vgl. oben Kap. 1.2.2, 41f. 136

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in der jüdischen Schriftauslegung, konkreter: im Wechselspiel von Halacha und Haggada, ein reizvolles und herausforderndes Ineinander von Bindung und Freiheit, das er analog auf die Hermeneutik und Gestaltung christlicher Predigtrede überträgt: Aufgrund der unaufgebbaren christologischen Bindung erwachse, so Deneckes Übertragung, der Predigt die formal-inhaltliche Freiheit ihrer Gestaltung.142 In seinem späteren Aufsatz „Die Texte sind offen“ (1998) führt Denecke dieses In- und Miteinander von Bindung und Freiheit im Blick auf das Verhältnis von Exegese und Predigt weiter: Er betont die Notwendigkeit, „textgebundene Exegese […] und textfortschreibende Eisegese“ in der Predigtarbeit zu verbinden.143 Dabei stützt er sich u.a. auf bQid 49a: „Wer einen Text wörtlich übersetzt, ist ein Lügner.“144 Diesen rabbinischen Satz wandelt Denecke im Laufe seines Beitrags um in den Satz: „[…] wer einen Bibeltext nur wörtlich predigt, der ist ein Lügner.“145 Eine vergleichbare Pointe hat auch der kurze Verweis auf die jüdische Predigt, genauer: auf die Derascha, im Kontext von Elisabeth Grözingers Überlegungen zur „Kreativität in der Predigtarbeit“. Als Grundprinzip der Derascha beschreibt Grözinger die Verknüpfung unterschiedlicher, weit entfernter biblischer Texte. Darin erkennt sie die Möglichkeit einer Kreativität, die aus den begrenzten Zeichen des Kanons unendliche Möglichkeiten der Kommunikation entwickelt.146 Der Hamburger Neutestamentler Tim Schramm geht in seiner Wahrnehmung rabbinischer Schriftauslegung vor allem von dem in der Kabbala emphatisch aufgenommenen Bild des schwarzen und weißen Feuers aus. Schramm bezieht dieses Bild auf die geschriebenen Worte der Schrift (schwarzes Feuer) und den „Raum zwischen den Worten“ (weißes Feuer).147 Anhand von fünf Beispielen zeigt er, wie rabbinisches weißes

142

Vgl. zu einer ausführlicheren Darstellung und Diskussion unten Kap. 13.3.1. DENECKE: Die Texte sind offen, 23. 144 Vgl. DENECKE: Die Texte sind offen, 21 u.ö. Es handelt sich um einen auf R. Jehuda zurückgeführten und auf die Diskussion um die Verwendung der Targumim (aramäischen Toraübersetzungen) bezogenen Satz. Im hebräischen Original lautet dieser: ‫המתרג פסוק כצורתו הרי זה בדאי‬. 145 DENECKE: Die Texte sind offen, 23; vgl. ähnlich auch KRIENER: Sola scriptura. 146 Vgl. GRÖZINGER: Kreativität in der Predigtarbeit, 23. Leider bleiben die Andeutungen Grözingers sehr kurz und beziehen sich nicht auf die Wahrnehmung rabbinischer Texte, sondern verweisen nur auf das interessante, aber sehr knappe Werk „Jüdische Riten und Symbole“ von S. Ph. deVries. 147 Vgl. SCHRAMM: Schwarzes und weißes Feuer, bes. 231–234, Zitat: 232. Schramm weiß darum, dass das Bild vom schwarzen und weißen Feuer in der jüdischen Tradition keineswegs eindeutig verwendet wurde. Immer bezieht es sich auf das Miteinander von mündlicher und schriftlicher Tora; allerdings läuft die älteste greifbare kabbalistische Rezeption des Bildes gerade umgekehrt als die hier von Schramm vertretene: Die schriftliche Tora wird mit dem weißen Feuer verknüpft, das überhaupt erst durch das schwarze Feuer der mündlichen Tora sichtbar werde (vgl. 143

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Feuer Spielräume eröffnet und „Spiel-Ideen“ vermittelt, die u.a. zur Ausgestaltung im Bibliodrama einladen.148 Dabei verweist Schramm auch auf Peter Pitzele und sein vom Midrasch lernendes Bibliodrama.149 Auf Peter Pitzele und seinen „Bibliodramatic Midrash“ geht auch Uta Pohl-Patalong zurück und entwickelt daraus den „Bibliolog“, in dem ich die bislang weitreichendste Anregung zur Neugestaltung christlicher Predigtrede aufgrund der Wahrnehmung des Judentums erkenne.150 Pohl-Patalong möchte bewusst nicht von „bibliodramatischem Midrasch“ sprechen, um der Gefahr zu entgehen, mit dem Begriff „Midrasch“ lediglich einen wohlklingenden und (im Blick auf die jüdische Tradition) Neues legitimierenden Titel zu verwenden. Der „Bibliolog“ rezipiert vor allem die Dialogizität des Midrasch; gleichzeitig überträgt er das Bibliodrama Pitzeles auf die gottesdienstliche Situation. Im Rahmen „normaler“ Gottesdienste werden die Gottesdienst-Feiernden aufgefordert, in einzelne Figuren eines biblischen Textes zu schlüpfen und sich aus diesen Rollen heraus zu äußern. Diese Äußerungen können von anderen Anwesenden durch ihre eigenen Wahrnehmungen in der jeweiligen Rolle ergänzt werden. Die „Bibliolog“-Leitung kommentiert die verschiedenen Aussagen nicht und versucht höchstens noch eine Zusammenschau unterschiedlicher Bemerkungen am Ende des „Bibliologs“.151 Den kurzen Überblick über bisherige Ansätze eines formal-inhaltlichen Lernens vom Judentum für die christliche Homiletik zusammenfassend zeigt sich: Die Beiträge bewegen sich grundlegend im Bereich homiletischer Hermeneutik und fragen primär nach neuen Möglichkeiten homiletischer Schriftauslegung oder nach der Erneuerung des Verhältnisses von Predigt und Exegese. Inhaltlich ist es immer wieder das In- und Miteinander von Bindung an den Buchstaben der Schrift und Freiheit der Auslegung, das die christliche Homiletik vom Judentum lernen möchte. Im Kern erweist sich dabei der rabbinische (und kabbalistische) Midrasch als besonders ergiebige Quelle für homiletische Impulse. Problematisch erscheint, dass dieser (was allerdings auch auf die Kürze der bisherigen Beiträge zurückzuführen ist!) sehr flächig und undifferenziert wahrgenommen wird. Gleichzeitig macht die inhaltliche Konvergenz der verschiedenen homiletischen Midrasch-Rezeptionen auf die Gefahr eines Dialogs aufmerksam, der die 233; vgl. dazu SCHOLEM: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 69–72, und vgl. oben Kap. 4.2.2, 113f). 148 Die Beispiele finden sich bei SCHRAMM: Schwarzes und weißes Feuer, 234–239, Zitat: 234. 149 Vgl. SCHRAMM: Schwarzes und weißes Feuer, 232. 150 Vgl. POHL-PATALONG: Predigt als Bibliolog; dies.: Bibliolog [2001]; dies.: Bibliolog [2003]; dies.: Bibliolog [2005]. 151 Ausführlicher komme ich unten (vgl. Kap. 14.2.2, 488f) auf den Bibliolog zurück.

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Tendenz zu freier, spielerischer Schriftauslegung in der gegenwärtigen Homiletik voraussetzt und für diese eine Bestätigung im Midrasch sucht (Eklektizismus). Im Folgenden versuche ich, diesen Problemen der Rezeption dadurch zu begegnen, dass ich von unterschiedlichen Formen des Midrasch sowie von rabbinischen Primärtexten ausgehe und die Geschichte der Midraschrezeption und -forschung bis in die Gegenwart mit in den Blick nehme. Zunächst aber erscheint es mir nötig, die oben eröffnete Frage nach dem Text in der Predigt (Kap. 1.1) im Sinne einer weiterführenden Problembeschreibung zu vertiefen (Kap. 9).

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9. Textbändigung, Textverlust und Textbefreiung – zum homiletischen Umgang mit dem Text

Das vorliegende Kapitel skizziert zur Vorbereitung der anschließenden Wahrnehmungen „im Kontext des Midrasch“ grundlegende Probleme eines homiletischen Umgangs mit dem Text auf dem Weg zur Predigt und in der Predigt selbst. Bereits Schleiermacher erkannte in seiner Vorlesung zur Praktischen Theologie zwei Fehlentwicklungen des Umgangs mit dem Text in der Predigt: „Dies sind zwei Extreme die zu vermeiden sind, das eigentliche Verfahren liegt in der Mitte. Der Text darf nicht verschwinden, weil er die äußere Gewährleistung für die Kirchlichkeit der Rede liefert […]. Ebenso ist das andere Extrem ein solches das wir nicht statuiren dürfen. Wenn die religiöse Rede keine obiective Einheit hat, sondern wenn man dem Zusammenhange des Textes nachgeht: so kann das ganze sehr gut sein in seinen einzelnen Bestandtheilen, hat aber die Kunstmäßigkeit die es haben soll nicht mehr.“1

Sicher betont Schleiermacher mit diesen „zwei Extreme[n]“ des Textverlustes und des Verlustes der Einheit der Predigt durch zu starke Bindung an den Text bleibend Gültiges; gleichzeitig aber scheint weitere Präzisierung nötig. In den vergangenen Jahren hat vor allem Wilfried Engemann die Diskussion um den Text in der Predigt vorangetrieben. Auf seinen Beitrag gehe ich daher in diesem Kapitel zunächst ein. Engemann beschreibt und kritisiert eindrucksvoll das Phänomen homiletischer „Textbändigung“, tendiert demgegenüber aber – so meine These – dazu, den Text auf dem Weg zur Predigt zu verlieren (9.1). Auf diesem Hintergrund blicke ich auf Karl Barth, Eberhard Jüngel, Rudolf Bohren und Martin Nicol, die gegen Textbändigung und Textverlust je unterschiedlich Wege der „Textbefreiung“ suchen (9.2). Ein Exkurs nimmt schließlich George Steiner und Jochen Hörisch in den Blick. Beide Literaturwissenschaftler gehen der Frage nach, wie Texte aus der bändigenden Umklammerung verstehend-bemächtigender Interpretation befreit werden können, und geben radikal entgegengesetzte, in ihrem Miteinander aber m.E. weiterführende Antworten (9.3).

1

SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 233.

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9.1 Textbändigung und Textverlust in der Predigt Wilfried Engemann spricht 1990 von „gebändigte[n] Text[en]“ und meint damit Texte, die die Freiheit verloren haben, das zu sagen, was sie sagen könnten, und nun sagen müssen, was sie sagen sollen. Dies sei ein allgemeines Schicksal von Texten, gelte aber besonders für den Umgang mit Bibeltexten in der Predigt.2 In seiner Antrittsvorlesung in Münster (1995) verschärft Engemann die Metaphorik und spricht von „Texttötung“ in der Predigt.3 Darunter versteht er die Elimination des Textes als eines kritischen, herausfordernden, individuellen, neue Einsichten eröffnenden, lebendigen Textes4 durch seine homiletische Nutzbarmachung im Sinne des Predigers. Engemann kann auch von einer „Sinnverramschung“ bzw. Verschrottung des Textes sprechen, der – zu „nichts sagenden Begriffen“ reduziert – zum Beleg verschiedenster abstrakter Einsichten werden kann, zum „gehorsamen Papierschiffchen im Redestrom des Predigers“.5 Nur knapp zeigt Engemann in seiner Antrittsvorlesung, anhand welcher Symptome sich der „Texttod“ in der Predigtsprache diagnostizieren lässt.6 Ausführlicher geschieht dies in Engemanns sieben Jahre später erschienener „Einführung in die Homiletik“, in der er u.a. auf den „Textfetischismus“ in der Predigt verweist.7 Das Zitat des Bibeltextes werde „stereotyp in die Predigt eingestreut“, ohne dabei auf theologische bzw. exegetische Stimmigkeit und die kommunikative Situation der Predigt zu achten.8 „Textfetischismus“ bezeichne folglich den „paradoxe[n] Effekt […], Gottes Wort mit Gottes Wort aus der Predigt zu vertreiben […]“.9

Die hermeneutische Ursache für die Texttötung in der Predigt erkennt Engemann darin, dass Predigerinnen und Prediger – historisch-kritisch geschult – meinten, die intentio auctoris des Textes ermitteln zu können. In der Predigt würde dann ein „auctor ex machina“10 aus dem Hut gezaubert, und Predigerinnen und Prediger würden sich anmaßen, sagen zu können, 2

ENGEMANN: Wider den redundanten Exzeß, bes. 785–789. Vgl. ENGEMANN: „Unser Text sagt …“. Von einem Töten des Textes spricht bereits FUCHS: Hermeneutik, 131f. Auch jenseits der Begrifflichkeit wurde der „Texttod“ der Sache nach vielfach erkannt; vgl. z.B. KAMPHAUS: Von der Exegese zur Predigt, 340. 4 Vgl. zu diesen Funktionsaspekten eines lebendigen Textes ENGEMANN: „Unser Text sagt …“, 453f. 5 Alle Zitate ENGEMANN: „unser Text sagt …“, 454; der Begriff der „Sinnverramschung“ erscheint im Original hervorgehoben. 6 Vgl. ENGEMANN: „unser Text sagt …“, 450–453. 7 ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 13–15 [Text- und Begriffsfetischismus]. 8 Vgl. ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 13–15, Zitat: 13. 9 ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 14 [Hervorhebung im Original]; vgl. auch 24f („mißverstandene Textpredigt“). Schon Schleiermacher bemerkte in seinen Vorlesungen zur Praktischen Theologie, dass eine religiöse Rede nicht „durch eine große Masse von Schriftcitaten“ „recht christlich“ werde (SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 281). 10 ENGEMANN: „Unser Text sagt …“, 453 [Hervorhebung im Original]. 3

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was der Text bedeute, was Paulus meine, worum es Jesaja eigentlich gehe. Historisch-kritisches Wissen werde fälschlich mit dem Verstehen des Textes gleichgesetzt. Ermöglicht werde diese – in der Philosophiegeschichte an den späten Schleiermacher und an Dilthey erinnernde – Hermeneutik durch die völlig unzureichende Vorstellung einer jenseits des eigenen Interpretationsinteresses existierenden Textaussage.11 Ob es immer das historisch-kritische Bewusstsein des Predigers als Exegeten ist, das zur homiletischen „Textverschrottung“ führt, scheint mir fraglich. Gleichgültig verbrauchende Entwertung des Textes in der Predigt könnte weitere Ursachen haben: etwa eine homiletische Unbekümmertheit, geboren aus einer kritikresistenten Dualisierung von explicatio und applicatio bzw. Inhalt und Form, die dazu führt, Predigttexte zum „Sprungbrett“ annähernd beliebiger eigener Gedanken zu machen;12 eine nicht überwundene Abstraktionshermeneutik, die Texte auf ihre verallgemeinerungsfähigen Aussagen hin auslegt; eine immer komplexer werdende Exegese, die Studierenden im Studium ihre völlige Unzulänglichkeit vor Augen führt und vor fortgesetzter intensiver exegetischer Arbeit im Pfarramt zurückschrecken lässt; aufgrund alles dessen eine verlorene „Lust am Text“13 und nicht zuletzt der chronische Zeitmangel im Pfarramt, der das notwendige langsame und „wiederholte Lesen und Betrachten des Textes“14 nicht mehr zulässt.15

Gegenüber einer texttötenden Hermeneutik, die den Text paradoxerweise gerade durch den vielfachen Rekurs auf ihn „kalt stellen“ kann, beschreibt Engemann – im Rückgriff u.a. auf Roland Barthes, Wolfgang Iser, Klaus Weimar und Umberto Eco – eine Kooperation zwischen Leser und Text und zwischen intentio lectoris und intentio operis als hermeneutisch gangbaren Weg.16 Dieser Weg werde durch das genaue und wiederholte Lesen des Textes eröffnet und lebe von den Leer- und Unbestimmtheitsstellen im Text.17 Es wäre nach dieser m.E. treffenden Analyse nun zu erwarten, dass Engemann Perspektiven für eine Predigtrede entwickelt, die Hörerinnen und Hörer in ein solches Lesen des nicht länger gebändigten, sondern befreiten Textes einführen und verwickeln könnte. Stattdessen aber reserviert Engemann die engagierte Wechselrede zwischen Text und Leser für den Prediger; die Hörer hingegen werden mit dem „Resultat dessen [konfrontiert, AD], was der Text vorsah“, und mit den „Entscheidungen, die er mir [dem

11

Vgl. ENGEMANN: „Unser Text sagt …“, 456–464. Vgl. zur Metapher des „Sprungbretts“ BARTH: Homiletik, 75. 13 Vgl. BARTHES: Die Lust am Text. 14 ENGEMANN: „Unser Text sagt …“, 473 – mit Bezug auf Roland Barthes. 15 Vgl. dazu auch DEEG: Pastor legens. 16 Vgl. ENGEMANN: Semiotische Homiletik; ders.: Texte über Texte, bes. 238–245. 17 Vgl. ENGEMANN: „Unser Text sagt …“, 464–476. 12

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Prediger, AD] zumutete, um verstanden zu werden.“18 Predigt sei zu sehen als der „neue Text“, der durch die Interpretationsleistung des Predigers entstehe und dazu führe, dass „jener [erste, biblische, AD] Text zu schweigen“ habe.19 Engemann schreibt: „Ich plädiere für eine Predigt, die zwar aus einer aufmerksamen, intensiven und methodisch reflektierten Begegnung mit dem Text hervorgeht, die aber den Text dann – im Predigtvollzug – nicht mehr traktieren muß.“20 Führt die berechtigte Warnung vor der Textbändigung also zum Textverlust auf dem Weg zur Predigt? Auch wenn Engemann sein Verdikt gegen den Text in der Predigt dahingehend einschränkt, dass dieser als interpretierter noch einbezogen werden könne,21 scheint mir die Problematik des Textverlustes die Position Engemanns zu bestimmen.22 Engemann beschreibt „die Kettenglieder einer wandernden Interpretationshoheit“23 von der „empirische[n] Wirklichkeit“ über den Verfasser zum Bibeltext, von diesem über den Prediger zur Predigt und von dieser über den Hörer zum „Auredit“ als demjenigen Text, der durch die Auswahl- und Verknüpfungsleistung des Hörers in der Predigtrezeption entstehe.24 In diesem linearen Modell folgen jeweils Autor- und Textinstanz aufeinander – in einem letztlich unabschließbaren Prozess fortgesetzter Weiter-, damit aber faktisch Neu-Schreibung des Textes. In seiner „Einführung in die Homiletik“ spricht Engemann daher auch davon, dass der biblische Text nur ein Zwischenzustand sei,25 der – einer Tür vergleichbar – den „Zugang zu Erfahrungen und Überzeugungen“ freigebe, „die die Geschichte unseres Glaubens bestimmt haben“26. Folglich habe der Text nur in der „Vorbereitungsphase der Predigt“ entscheidende Bedeutung, dann trete „die Predigt gewissermaßen zusammen mit dem Text an die Stelle des Textes.“27 Natürlich sieht Engemann richtig, dass es sich bei der Predigt um etwas qualitativ Neues gegenüber dem Text handelt, um ein Neuschreiben des Textes in der Gegenwart. Problematisch aber bleibt m.E., dass dieses Neuschreiben den Text nicht mehr explizit braucht und damit den Hörerinnen 18

ENGEMANN: „Unser Text sagt …“, 475. ENGEMANN: „Unser Text sagt …“, 475. 20 ENGEMANN: „Unser Text sagt …“, 476. 21 Vgl. ENGEMANN: „Unser Text sagt …“, 476 Anm. 99; vgl. auch ders.: Einführung in die Homiletik, 263. 22 Vgl. zum homiletischen Textverlust bei Engemann auch RASCHZOK: „Methode der Predigt“, 115 sowie 115 Anm. 28. 23 ENGEMANN: „Unser Text sagt …“, 479 [Hervorhebung im Original]. 24 ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 172; vgl. zum Begriff des „Auredits“ 172 Anm. 106 sowie ders.: Semiotische Homiletik, 91–94; ders.: Wider den redundanten Exzeß, 788f. 25 Vgl. ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 14 („zwischenzeitliche[r] Schriftzustand“). 26 ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 20; vgl. ähnlich auch 238. 27 ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, Zitate: 262.263 [Hervorhebungen im Original]. 19

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und Hörern die Möglichkeit nimmt, in ein eigenes Hören und „Lesen“ des biblischen Textes (und nicht nur des Textes des Predigers/der Predigerin!) hineingezogen zu werden.28 Das Verschwinden des Textes auf dem Weg zur Predigt verbindet sich in Engemanns Lehrbuch mit m.E. problematischen Bestimmungen der Rolle der Exegese im Predigtprozess. Hier kann Engemann den Begriff des „Skopus“ wieder aufnehmen und als Ziel exegetischer Arbeit den Versuch benennen, „die [Singular!, AD] Aussage des Textes ‚auf den Punkt zu bringen‘“29 bzw. seine „(konkrete) Intention [Singular!, AD] sichtbar werden zu lassen“30, d.h. das, was der Text „damals bedeutet haben könnte“31. Auch der alte Form-Inhalt-Dualismus scheint an manchen Stellen in Engemanns Argumentation wieder auf. So sei zu fragen, „was diese Rede [des biblischen Textes, AD] damals bedeutet hat und auf welche Weise dieser Gehalt in neuer Gestalt zur Sprache kommen kann“32. Die Probleme der Skopus-Reduktion und des Form-Inhalt-Dualismus sind m.E. typische Folgen eines homiletischen Weges, der von der Auseinandersetzung mit dem Text durch den Prediger hin zu einer Predigtrede auf der Grundlage dieses Textes führt – nicht aber hin zu einer Predigtrede im Wechselspiel mit dem zu eigener Wirksamkeit befreiten biblischen Text. Dies zeigt sich noch deutlicher als bei Engemann in den Homiletiken Emanuel Hirschs und des späten Wolfgang Trillhaas. (1) Emanuel Hirsch versteht Predigt in seiner 1964 erschienenen „Predigerfibel“ grundlegend als Übersetzung: „Die Predigt kann vorläufig beschrieben werden als ein menschlicher Versuch, das Evangelium aus seiner vergangenen geschichtlichen Gestalt hinein in das gegenwärtige Denken und Leben zu dolmetschen, so daß es zu neuer unmittelbarer Wirkung erweckt wird, dem Herzen der Hörer die verborgenen letzten Gründe ihres Daseins durchleuchtet und ihnen damit Gott gegenwärtig macht.“33 Das biblische Wort erscheint in dieser Bestimmung lediglich als „vergangene geschichtliche Gestalt“, aus der heraus die Übersetzungsbemühung erfolgen müsse; an anderer Stelle spricht Hirsch von der „uralt[en]“ und „menschliche[n]

28 Nur konsequent erscheint es mir daher, dass in Engemanns Funktionsbestimmung der Predigt, die deutlich an Ernst Lange erinnert, der biblische Text nicht mehr erwähnt wird. Primäres Ziel der Predigt sei es, „mit Menschen unter den Bedingungen des Reiches Gottes über ihr Leben in dieser Welt zu reden und in diesem Sinne selbst ein besonderer Akt der Seelsorge zu sein.“ (ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 63f). 29 ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 466 [Hervorhebung im Original]; vgl. auch ders.: Die Problematisierung der Predigtaufgabe, 197f. 30 ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 21. 31 ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 253 [Hervorhebung im Original]. 32 ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 254 [Hervorhebung im Original]; vgl. auch 282, wo Engemann als Kennzeichen biblischer Predigt (im Unterschied zur Textpredigt) ausführt, dass diese „ihren Text historisch werden“ lasse und so „den Gehalt des Textes in neuer Gestalt zur Sprache“ bringe [Hervorhebung im Original]. 33 HIRSCH: Predigerfibel, 3.

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Rede“, die in der Bibel überliefert sei.34 Der Ort der Auseinandersetzung mit diesem alten biblischen Wort ist bei Hirsch die einsam vom Prediger vollzogene Meditation des Textes.35 In dieser Meditation entscheide sich, „ob und was sie [die Texte der Bibel, AD] uns wohl noch [!, AD] lehren können über das Verhältnis des Menschenherzen zu Gott“36. Predigtmeditation bedeute, dass sich der Prediger selbst dem biblischen Text aussetzt, um über eine Vergegenwärtigung des Textes durch wissenschaftliche Arbeit37 und die Ermittlung seines „Tiefenschichtssinn[s]“38 weiter vorzudringen bis hin zur – mystisch beschriebenen – „Einkehr in den ewigen Augenblick, in welchem Gott und Herz sich begegnen“39. Aus dieser Erfahrung des Predigers in seiner eigenen „Innerlichkeit der Subjektivität“40 – wie Hirsch im Rückgriff auf Kierkegaard formuliert –, werde es ihm möglich, die Hörerinnen und Hörer mit dem „lebendigen Sinn und Geist der christlichen Offenbarung“41 befreit aus deren „alten geschichtlichen Hüllen“42 zu konfrontieren. Der Prediger werde so zur „Brücke“ zwischen dem Text und den Hörern.43 Er erkenne den „wesentlichen Sinngehalt“44 des Textes und gebe diesen Sinn als „das Ewige“45 und „Göttliche“46 des Textes, als die „Wahrheit rechten Glaubens“47 in der Predigtrede weiter. (2) Wolfgang Trillhaas zeigt in seiner Homiletik eine Entwicklung, die ihn von der Anlehnung an die dialektische Theologie in den 1930er Jahren bis hin zu einer am ehesten als „liberal“ zu charakterisierenden Predigtlehre in den 1970ern führt.48 Diese Entwicklung lässt sich besonders an der sich wandelnden Bedeutung des biblischen Wortes für die Predigt wahrnehmen. 1935 hatte Trillhaas die Predigt in der ersten Fassung seiner „Evangelische[n] Predigtlehre“ – entsprechend seiner Anleihen aus der dialektischen Theologie sowie seines Luthertums Erlanger Prägung – noch unmittelbar „als Wort Gottes“ bestimmt.49 Dies änderte sich in der dritten Auflage der Predigtlehre (1948), wo Trillhaas an dieser Stelle nur noch von „Gottes Wort als Grund und Inhalt der Predigt“ spricht.50 Es liegt auf dieser Linie, wenn er in einem 34

Vgl. HIRSCH: Predigerfibel, 65. Vgl. HIRSCH: Predigerfibel, 104–140 [Viertes Stück: Die Hauptregeln der Predigtmeditation]. 36 HIRSCH: Predigerfibel, 94 [Hervorhebung AD]. 37 Vgl. HIRSCH: Predigerfibel, 105–107. 38 Vgl. HIRSCH: Predigerfibel, 104.109. 39 HIRSCH: Predigerfibel, 110f. 40 HIRSCH: Predigerfibel, 31. 41 HIRSCH: Predigerfibel, 42. 42 HIRSCH: Predigerfibel, 65. 43 Vgl. HIRSCH: Predigerfibel, 66. 44 HIRSCH: Predigerfibel, 136. 45 HIRSCH: Predigerfibel, 66.68. 46 HIRSCH: Predigerfibel, 68. 47 HIRSCH: Predigerfibel, 98f. 48 Vgl. BOBERT-STÜTZEL: Homiletische Wandlungen bei Wolfgang Trillhaas. 49 TRILLHAAS: Evangelische Predigtlehre (1935), 33; vgl. insg. 33–40. 50 TRILLHAAS: Evangelische Predigtlehre (1948), 32; vgl. insg. 32–40. Vgl. auch KÜCHERER: Wolfgang Trillhaas (1903–1994), 169. 35

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kleinen Beitrag aus dem Jahr 1964 den Predigttext lediglich als eine „Predigthilfe“ bezeichnet, die zur Spezifität der Predigtrede verhelfe.51 In seiner „Einführung in die Predigtlehre“ (1974) verschiebt sich die Bestimmung der Bedeutung des Textes auf dem Weg zur Predigt nochmals. Hier heißt es im Zusammenhang der Ausführungen zur „homiletischen Meditation“: „Angesichts eines Textes bedeutet für den Prediger die Meditation, daß der Text aufhört, ihn nur als Text zu beschäftigen. Die Meditation durchstößt den bloßen Text, d.h. seine Worte und deren historische und kritische Probleme und sucht die Sache selbst zu ergreifen, von der wir annehmen möchten, daß sie auch die Sache der heutigen Leser und Hörer sei und um derentwillen von einer im Text gesuchten Wahrheit die Rede ist. Für diese Meditation ist der Text wie ein Sprachgitter vor die Wahrheit geschaltet, die Meditation soll hindurchgreifen und diese Wahrheit so erfassen, daß der Meditierende kraft seiner Meditation diese Wahrheit in eigenen und neuen Sätzen auszusagen vermag. Meditation bedeutet angesichts eines vor uns liegenden Textes schweigende Versenkung in das, was er uns sagt; der Text und seine Worte werden für die Botschaft durchlässig, ja er verschwindet förmlich und nur noch die Wahrheit, deren Bote er sein soll, bleibt übrig. Das eigentliche Wort steht nicht mehr im Buch, sondern es geht durch uns hindurch.“52 In der homiletischen Meditation habe der Prediger das „Sprachgitter“ des Textes hinter sich zu lassen und zu der (!) Wahrheit bzw. Sache zu greifen. Der Text hat damit seine Schuldigkeit getan und kann an dieser Stelle gehen.53

Hirsch und der späte Trillhaas einerseits, Engemann andererseits unterscheiden sich in ihrer Hermeneutik deutlich: Ist es bei Engemann die vielperspektivische Offenheit eines genau gelesenen, widerständigen und in seinen Leerstellen anregenden Textes, die zum neuen Text der Predigt führt, so ist es bei Hirsch und Trillhaas die Annahme einer im Text verborgenen Wahrheit, die der Prediger entdecken (bei Hirsch müsste man wohl formulieren: erfahren und erleiden) könne. Dennoch wird bei allen dreien den Predigthörerinnen und -hörern letztlich die Möglichkeit genommen, selbst durch das Hören des biblischen Wortes im Kontext der Predigt-„Inszenierung“ Erfahrungen mit diesem Wort zu machen. Predigt ist nicht als Hörund Lesehilfe für den biblischen Text konzipiert, die Hörerinnen und Hörer hineinnähme in die Lust am „befreiten“ Text. Das homiletische Dreieck aus Text, Hörer und Prediger, das die Predigtvorbereitung bestimmt, reduziert 51

TRILLHAAS: Predigt – Prediger – Gemeinde, 13. TRILLHAAS: Einführung in die Predigtlehre, 35. 53 Auch Gert Otto findet in seiner „Rhetorische[n] Predigtlehre“ (1999) eine Metapher für den Umgang mit dem Text in der Predigt, in der sich eine Art Textelimination auf dem Weg zur Predigt artikuliert: „In der Predigt wird ein biblisches Textstück eingeschmolzen, umgeschmolzen in Wort, Vorstellung, Problematik, Situation gegenwärtigen Lebens und gegenwärtiger Adressaten. Wenn das Bild vom ‚Einschmelzen‘ stimmt, dann folgt daraus, dass biblische Texte und Formulierungen in der Predigt auch unkenntlich werden können.“ (174). 52

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sich auf dem Weg zur Predigt faktisch zu einer Linie vom Prediger zum Hörer. Anders gewendet: Dem Text wird seine Rolle als aktiver Mitspieler im Prozess der Predigt ab einem bestimmten Punkt der Predigtvorbereitung genommen. Gleichzeitig geraten Predigerinnen und Prediger in eine problematische und tendenziell überfordernde Rolle, die mit Karl Barth als die einer „Zwischenhandelsfunktion“ bezeichnet werden könnte54, die Engemann als „ultimative Zeugenschaft“ charakterisiert55 und die in der Geschichte der Praktischen Theologie an Schleiermacher erinnert.56 Es stellt sich auf diesem Hintergrund die Frage, wie der Text eine aktive, herausfordernde, kritische Rolle sowohl in der Predigtvorbereitung als auch in der Predigt selbst spielen kann – jenseits von Textbändigung und Textverlust.57 Ich blicke zur weiteren Klärung dieser Frage im Folgenden auf die homiletischen Reflexionen von Karl Barth, Eberhard Jüngel, Rudolf Bohren und Martin Nicol.

9.2 Wider Textbändigung und Textverlust: Wege zur Textbefreiung 9.2.1 Karl Barth: Textbefreiung in der „reinen Auslegungspredigt“58 Hätte Karl Barth die homiletischen Positionen von Hirsch und Trillhaas bereits im Wintersemester 1932/33 gekannt, als er in Bonn sein Homiletisches Seminar begann, so hätte er diese beiden Ansätze einreihen können in seine Kritik vorauslaufender Predigtkonzepte und Predigtdefinitionen, mit denen er das Seminar eröffnete.59 Besonders Carl Immanuel Nitzsch wirft Barth 54 So Karl Barth in seiner Kritik an der Hollazschen Predigtdefinition; vgl. BARTH: Homiletik, 8f, Zitat: 8. 55 Vgl. ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 248: „Der Prediger hat unter Wahrnehmung seiner personalen, kommunikativen und konfessorischen Kompetenz in ultimativer Zeugenschaft das Wort Gottes als lebendiges Zeugnis zur Sprache zu bringen.“ [Hervorhebung im Original]. 56 Schleiermacher sah die „Einheit der religiösen Rede“ wesentlich durch die Vermittlungsleistung des Predigers garantiert (vgl. SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 222–251 [Von der Einheit der religiösen Rede]). Predigt als Dialog zwischen dem biblischen Text und der Gemeinde wird durch die Schaltstelle des Predigers ermöglicht, der die Schrift befrage und verstehe (vgl. 235.248) und der gleichzeitig seine Gemeinde und deren Fragen kenne (vgl. 241.243). 57 Ähnlich fragt Gerd Theißen: „Wie kommen wir zu Predigten, in denen die Freiheit des Geistes und nicht die tötende Macht des Buchstabens zum Zuge kommt? [gegen die Textbändigung, AD] Aber in der die Freiheit des Geistes auch nicht den Buchstaben tötet, indem sich die Predigt vom Text löst? [gegen den Textverlust, AD]“ (THEISSEN: Über homiletische Killerparolen, 182). 58 Vgl. zum Begriff der „reinen Auslegungspredigt“ BARTH/THURNEYSEN: Die große Barmherzigkeit, 3, und dazu MÖLLER: Von der Predigt zum Text, 85–117. 59 Vgl. BARTH: Homiletik, 8–30. Hier und im Folgenden beziehe ich mich immer wieder auf die Nachschrift aus dem Bonner Homiletischen Seminar des akademischen Jahres 1932/1933. Es handelt sich dabei faktisch um die einzige „‚Entfaltung‘ der Homiletik“, die jenseits der zahlreichen prinzipiell-homiletischen Aussagen in Aufsätzen und Monographien (vor allem auch in der

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vor, dass die Schrifttexte bei ihm das Wort Gottes nur noch vermittelten.60 Wenn der Prediger aber die Möglichkeit habe, „das Wort Gottes in der Schrift zu finden“, so werde er „dem Schriftzeugen selbst auf gleicher Ebene“ konzipiert, er werde „ihm kongenial“.61 Sicherlich hätte Barth aber auch den Textverlust bei Engemann kritisch betrachtet. Denn für Barth geht es um die „Biblizität“ der Predigt.62 Predigt sei zu verstehen als „Erklärung“63, „Auslegung der Heiligen Schrift“64, „Schriftauslegung“ „nach Form und Inhalt“65, Nachsagen66, „Wiederholenwollen des Schriftwortes“67 bzw. als das „Hineinkommen in die Bewegung des Wortes“68. Aufgabe der Predigt sei es, „Raum zu schaffen für das Wort Gottes“69 und „die Gemeinde […] an den Text“ heranzuführen70. Voraussetzung dafür ist bei Barth der „Respekt“ gegenüber der Schrift, der sich nicht nur etymologisch von „respicere“, dem Betrachten, ableite, sondern sich im immer neuen aufmerksamen Lesen erweise. Predigt gleiche so „dem unwillkürlichen DieLippen-Bewegen eines Menschen, der etwas mit größter Mühe, Aufmerksamkeit und Überraschung liest, mehr buchstabierend als lesend im gewöhnlichen Sinne, ganz Auge, ganz in Anspruch genommen, im Bewußtsein: nicht ich habe den Text geschrieben.“71 Blickt man auf die Predigtpraxis Karl Barths, so zeigt sich eine Entwicklung, die ihn mehr und mehr zur Zentralstellung des biblischen Wortes, wie sie sich im Homiletischen Seminar 1932/33 artikuliert, führt.72 Besonders eindrucksvoll wird diese EntKD) vorliegt (vgl. DENECKE: Gottes Wort als Menschenwort, 307f, Zitat: 308; vgl. auch 308 Anm. 188). Vgl. grundlegend zu Barths Homiletik und Predigtpraxis DENECKE: Gottes Wort als Menschenwort; FÜRST: Karl Barths Predigtlehre; GENEST: Humane Theologie; ders.: Karl Barth als Homilet; ders.: Karl Barth und die Predigt; HERMELINK: Predigt und Predigtlehre bei Karl Barth; LEIMGRUBER: Karl Barths Predigtverständnis; SCHILDMANN: Wandlungen im Predigtverständnis. 60 Vgl. BARTH: Homiletik, 19f. 61 BARTH: Homiletik, 20. 62 Vgl. BARTH: Homiletik, 58–64. 63 So in der berühmten Doppeldefinition der Predigt, vgl. BARTH: Homiletik, 30. 64 BARTH: Homiletik, 34; vgl. auch 59. 65 BARTH: Homiletik, 71. 66 Vgl. BARTH: Homiletik, 34. 67 BARTH: Homiletik, 59. 68 BARTH: Homiletik, 62. 69 BARTH: Homiletik, 102. 70 BARTH: Homiletik, 103. 71 BARTH: Homiletik, 60 [Hervorhebung im Original]. Später stellt Barth die geforderte Haltung gegenüber der Bibel nochmals mit eindrucksvollen Bildern vor Augen: „Man darf den Text nicht meistern wollen. Dem wirklichen Exegeten wird die Bibel immer geheimnisvoller; er sieht überall Tiefen, Distanzen; er stößt immer mehr auf das Geheimnis, dem gegenüber die Theologie Arbeit am Meer mit Kaffeelöffeln ist. Der rechte Exeget kann dem Text gegenüber nur die Haltung eines erstaunten Kindes in einem wunderbaren Garten haben und nicht sein wie ein Advokat Gottes, der dessen sämtliche Akten eingesehen hat.“ (107). 72 Vgl. dazu auch MÖLLER: Von der Predigt zum Text, 19–35, wo die Anfänge dialektischer Theologie als „Weg von der Predigt zum Text“ beschrieben werden; vgl. auch MARQUARDT: Wen-

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wicklung sichtbar an Barths berühmter Safenwiler Predigt vom 6. Februar 1916 („Der Pfarrer, der es den Leuten recht macht“) und der – anlässlich ihres Wiederabdrucks entstandenen – Retraktation dazu.73 Barth predigte zu Ez 13,1–16 – ein in der Lutherbibel mit „Gegen die falschen Propheten“ überschriebener Abschnitt. Faktisch griff er von diesem Text aber nur das Stichwort „falsche Propheten“ sowie einige Metaphern (etwa: die mit Kalk übertünchte Wand, V.10f74) auf. Primär ging es Barth um eine Bestimmung seiner Rolle als an das Wort Gottes gebundener Pfarrer in Identifikation mit dem „wahren Propheten“, ja sogar mit Christus selbst75, und im Gegenüber zur Gemeinde und ihrer (vermeintlichen) Erwartung, im Pfarrer einen „falschen Propheten“ zu haben, einen, der ihr bequem nach dem Mund redet.76 Im Rückblick formuliert Barth ein vernichtendes Urteil über seine Predigt: Sie „ist nicht, wie es unbedingt sein sollte, eine Auslegung, sondern trotz der Anlehnung an einen biblischen Text und gerade diesem Text aufs Höchste zuwider eine eigenmächtige Aussprache dessen, wessen passender oder unpassender Weise mein eigenes Herz damals voll war. […] Sie tut gerade das, was sie bekämpft: sie stellt nämlich die menschliche Situation zwischen Pfarrer und Gemeinde nicht unter das Wort Gottes, sondern sie bedient sich des Wortes Gottes, um diese menschliche Situation zu bewegen.“77

Predigt als „Nachsagen“ des biblischen Wortes bedeutet für Barth: „Wir haben die dem Text eigentümliche Gedankenbewegung einfach mitzumachen, darin zu bleiben und nicht nach einem ‚herausragenden‘ Skopus zu fragen.“78 Jeder selbst gesuchte und gefundene Predigtskopus nämlich würde der Eigenbewegung des Wortes im Wege stehen. Das schlichte Nachsagen hingegen sei als bescheidener menschlicher „Versuch, dem Worte Gottes […] zu dienen“79 bzw. als Hinweis und „Ankündigung dessen, was sie [die Hörerinnen und Hörer, AD] von Gott selbst zu hören hadungen im Verständnis Israels, bes. 618. Vor allem im Kontext der politischen Ereignisse in Deutschland erhält der fundierende Rekurs der gesamten Theologie auf die Bibel Brisanz, vgl. etwa Barths Brief vom 27. Januar 1934 und dazu PROLINGHEUER: Der Fall Karl Barth 1934–1935, 14. 73 Vgl. BARTH: Predigten 1916, 44–62; die Retraktation findet sich 61–63 Anm. 6 [Text der Retraktation 62]. Vgl. zu dieser Predigt auch DENECKE: Gottes Wort als Menschenwort, 117–120, und DREHSEN: Die Predigt, die es ihrem Verfasser nicht recht machen sollte. 74 Vgl. BARTH: Predigten 1916, 48.59. 75 Vgl. BARTH: Predigten 1916, 55. 76 Vgl. BARTH: Predigten 1916, 46.50 u.ö. 77 BARTH: Predigten 1916, 61–63 Anm. 6, Zitat: 62. Die Bindung an den biblischen Text, der vorgibt, was zu sagen ist, zeigt sich in ihren materialen Konsequenzen wahrscheinlich am deutlichsten, wenn man auf die Veränderung der Israeltheologie Barths blickt. Friedrich-Wilhelm Marquardt charakterisiert diese als „Dechiffrierung Israels“ und bringt sie mit Barths Predigt vom zweiten Advent 1933 in Verbindung (vgl. BARTH: Predigten 1921–1935, 296–305; vgl. dazu BUSCH: Karl Barth und die Juden 1933/34, 169–171; ders.: Unter dem Bogen des einen Bundes, 165–174; GOLDMANN: „Die große ökumenische Frage …“, 23–31; MARQUARDT: Die Entdeckung des Judentums für die christliche Theologie, 82–97). 78 BARTH: Homiletik, 35; vgl. insg. 34f. 79 BARTH: Homiletik, 30 [im Original hervorgehoben].

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ben“80, zu verstehen. Voraussetzung dafür ist, dass Barth die Predigt zunächst als menschliche Arbeit am menschlichen Wort der Schrift denkt. Das menschliche Wort der Bibel und das menschliche Wort der Predigt stehen in der Erwartung, von Gott her zu seinem Wort zu werden.81 In dieser Beschreibung der Predigt zeigt sich, dass Barth in den 1930er Jahren die streng theo-logische Dialektik von Gottes- und Menschenwort82 hinter sich gelassen hat, und stattdessen die christologische Denkfigur der auf- und absteigenden Bewegung des Wortes zwischen ganz und gar menschlichem und ganz und gar göttlichem Wort bedeutsam wird. Wie Barths Christologie eschatologisch konturiert bleibt, so gilt dies entsprechend auch für die Homiletik: Predigt bewege sich zwischen „Weihnachten“ und dem „Tag Christi“ und sei so in ihrem hinweisenden, ankündigenden Charakter „Hoffnungspredigt“.83 Barths Kampf gegen den homiletischen Textverlust bedeutet daher gerade nicht, den Text festzuhalten, weil man ihn in seiner Aussage zu haben glaubt. Genau dies würde ihn aus theologischen Gründen verloren geben. Vielmehr weist der Text den Prediger ein in die Bewegung der Hoffnung auf das Wort Gottes und den Tag Christi hin. Bei einem kritischen Blick auf Barths homiletische Konzeption, wie sie sich im Homiletischen Seminar 1932/33 zeigt, scheinen mir zwei Fragen grundlegend. (1) Die erste Frage deute ich hier nur kurz an; sie fand vor allem in der Barth-Kritik seit den 1960er Jahren vielfache Beachtung und soll unten nochmals aufgegriffen werden:84 Der erneute Textgewinn in der Predigt führt tendenziell zum Verlust der Hörerinnen und Hörer als aktiv am Predigtprozess Beteiligten. Selbstverständlich werden auch die Hörerinnen und Hörer in Barths Äußerungen zur Homiletik aus den Jahren 1932/33 erwähnt; ihnen gilt die Predigt, sie soll sie angehen „als Ankündigung dessen, was sie von Gott selbst zu hören haben“85. Allerdings werden die Hörenden kaum eigenständig reflektiert; im Gegenteil warnt Barth davor mit dem Hinweis, die Predigt dürfe unter keinen Umständen als „Dienst am Kun80

BARTH: Homiletik, 30 [im Original hervorgehoben]. Vgl. BARTH: Homiletik, 62; auch bei dem Bibeltext handele es sich nicht um „die Offenbarung selbst, sondern um das Zeugnis von Gottes Offenbarung“ (84); den Vorgang, in dem aus dem menschlichen Wort Gottes Wort wird, bezeichnet Barth als „Ereignis“ (vgl. 62 und vgl. oben Kap. 8.1.3, 229 Anm. 39). 82 Vgl. Barths Vorträge und Aufsätze „Not und Verheißung der christlichen Verkündigung“ (1922), „Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie“ (1922), „Menschenwort und Gotteswort in der christlichen Predigt“ (1924) und dazu DENECKE: Gottes Wort als Menschenwort, 137–149. 83 Vgl. BARTH: Homiletik, 40 [Hervorhebung im Original]; vgl. auch 55–58 [Die Vorläufigkeit der Predigt]. Die sakramentale Identitätslogik, die sich in der „Confessio Helvetica Posterior“ findet („Praedicatio verbi Dei est verbum Dei“) wandelt sich so in eine eschatologische Logik der Erwartung (vgl. dazu auch Rudolf Bohrens Deutung der Formel der „Confessio“: BOHREN: Predigtlehre, 50f). 84 Vgl. unten Kap. 12.1. 85 BARTH: Homiletik, 30 – im Kontext des zweiten Teils der Doppeldefinition der Predigt. 81

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den“ verstanden werden.86 Faktisch lösen sich die Hörer in den Horizont des Predigers hinein auf, der – salopp gesagt – die Hörer „in sich“ hat,87 was ihm aufgrund seines Lebens inmitten der Gemeinde und aufgrund seines „innere[n] Verwachsensein[s] mit seiner Gemeinde“ möglich zu sein scheint.88 Kommt es bei Engemann tendenziell zu einer Linearisierung der Predigtkommunikation, die das homiletische Dreieck auf die Linie vom Prediger zu den Hörern als den beiden aktiven Partnern im Predigtgeschehen (nicht in der Predigtvorbereitung!) verkürzt, so reduziert Barth 1932/33 das Dreieck auf die Linie zwischen dem Prediger und seinem Text als den beiden primären Dialogpartnern. (2) Im Kontext der Überlegungen dieses Kapitels zur Bedeutung des Textes für die Predigt lässt sich zudem fragen: Ist in Barths Plädoyer gegen den Textverlust in der Predigt die Gefahr der Textbändigung tatsächlich überwunden? Die Gefahr also, einmal erkannte Aussagen durch den Rekurs auf beliebige Bibelworte bekräftigen zu wollen und so dem Text der Bibel seine aktive und herausfordernd-kritische Rolle zu nehmen? Diese Frage stellt sich umso mehr, als Barth davon ausgeht, dass der Prediger im Kern eines zu sagen habe. Dieses „eine ist Gottes Wort, ist Jesus Christus“89 und stehe „hinter dem Text“ der Bibel als „die dem Menschen absolut unbekannte Wahrheit“90, die durch die Predigt bekannt werden müsse. Der Schritt wäre nicht allzu groß, anstatt die Bewegung der je einzelnen individuellen Texte der Schrift nachzuvollziehen, immer wieder in geringfügig veränderten Variationen über jene Wahrheit Jesu Christi zu predigen und Predigt als eine „Rezitation von Heilsfakten“ zu verstehen91, die dann unweigerlich ihren „kerygmatischen Tod“ erleiden müsste92. Allerdings erscheinen einerseits Barths Konzeption des Predigers unter dem Wort und andererseits seine Betonung der Individualität der je einzelnen Texte m.E. als ausreichende Hemmschwelle, die diesen Schritt zum abstrahierenden Texttod in einer Predigt über das Kerygma zumindest in der homiletischen Theorie (wenngleich sicher nicht in allen Predigten Barths) zu verhindern vermag. So bedenkt Barth den Prediger in seiner – wie sich als Oxymoron sagen ließe – bescheidenen Würde, die darin besteht, dass sein menschliches Wort gefordert ist, er sich aber niemals anmaßen kann, das Wort Got86

BARTH: Homiletik, 68; vgl. auch 38.77. Vgl. BARTH: Homiletik, 67f [Die Gemeindemäßigkeit der Predigt; vgl. dazu auch Barths Vortrag mit ebendiesem Titel, gehalten am 09.01.1935]. Diese Argumentationsfigur erinnert unmittelbar an Schleiermacher (vgl. oben Kap. 9.1, 260 Anm. 56). 88 BARTH: Homiletik, 92. 89 BARTH: Homiletik, 101; vgl. auch 60. 90 BARTH: Homiletik, 85. 91 Vgl. zum Begriff GRÜNBERG: Homiletik und Rhetorik, 136. 92 BASTIAN: Verfremdung und Verkündigung, 11. 87

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tes zu „haben“.93 Als Lesender und Hörender des Wortes der Bibel, der „ganz schlicht er selbst“ ist und bleibt94 und „sein eigenes, selbständiges Wort“ sagt95, wird er zum „Zeugen“96, „Wegweiser“ und „Zeigefinger“97. Andererseits entzieht sich das biblische Wort – wie oben gezeigt – jeder Bestimmbarkeit, jeder Skopus-Reduktion, jeder inhaltlichen Fixierung: „Die Schrift ist einem ganzen Wald oder einem Ozean gleich, wo jeder Baum, jeder Tropfen etwas Besonderes sein will.“98 Angesichts der Homiletik der Wort-Gottes-Theologie in der Nachkriegszeit hingegen wird man die Frage nach einer kerygmatischen Textbändigung nochmals neu stellen müssen. Rudolf Bohren bemerkte dazu aus dem Rückblick des Jahres 1979: „Als man später [in der Nachkriegszeit, AD] den Impetus der Väter verlor, wurde die Forderung nach der Textpredigt formalisiert und es kam zu einer exegetisch vermeintlich richtigen, die Gemeinde aber kaum sammelnden und erbauenden Predigt.“99 Martin Doerne stellte bereits 20 Jahre vorher in einem RGG-Artikel (!) zur evangelischen Predigtpraxis der Gegenwart fest: „Dicht beisammen wohnt hier der Wille zu sachbestimmter, von prophetischen Leit- und Wunschbildern mitgeprägter Verkündigung und der Hang zu fanatischer Intellektualisierung des vermeinten Kerygmas. Irrlehre und natürliche Theologie scheinen aus dem Felde geschlagen. Dafür weht durch die Predigten auf deutschen Kanzeln nicht selten ein Hauch gespenstischer Monotonie.“100 Formalisierte Textpredigt und gespenstische Monotonie der Predigtrede entsprechen der Textbändigung durch eine Predigt, die den Text als Beleg der stimmigen Dogmatik oder des richtigen Verständnisses des Kerygmas funktionalisiert.

9.2.2 Eberhard Jüngel: Die Dynamik doppelter Übersetzung als Textbefreiung In der homiletischen Diskussion der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde gegen barthianisches Epigonentum einerseits vehement Kritik geübt,101 andererseits aber auch – Barths Grundanliegen aufnehmend – eine 93

Vgl. BARTH: Homiletik, 64–66 [Die Originalität der Predigt]. Hier denkt Barth deutlich positiver von der Individualität des Predigers, als Wort-Gottes-Theologen in seiner Nachfolge dazu in der Lage waren, vgl. z.B. URNER: Gottes Wort und unsere Predigt, bes. 84–95 [Der Prediger]. 94 BARTH: Homiletik, 65. 95 BARTH: Homiletik, 31. 96 BARTH: Homiletik, 65 [im Original hervorgehoben]. 97 BARTH: Homiletik, 31. 98 BARTH: Homiletik, 86. 99 BOHREN: Predigtlehre, 559 [aus dem Nachwort zur vierten Auflage]. 100 DOERNE: Art. Homiletik, 440. 101 Vgl. die bei DENECKE: Gottes Wort als Menschenwort, 289–295, treffend resümierte Kritik.

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neue Dynamisierung des Umgangs mit dem biblischen Text in der Predigt gesucht. Zu nennen wären hier z.B. die Ansätze, die durch eine Rezeption existentialer Interpretation neuen exegetischen Schwung in die erstarrende Predigtrede bringen wollten.102 Im Ergebnis mit diesen Ansätzen durchaus vergleichbar versuchte Eberhard Jüngel, den Leerlauf der Kanzelrede in der dominierenden Wort-Gottes-Theologie durch eine dogmatische und hermeneutische Neubesinnung zu überwinden.103 Zentral wird bei Jüngel der Begriff der „Situation“.104 Einerseits sei von der Situation des Textes auszugehen, die sich als die historische Situation seiner Entstehung bestimmen ließe, andererseits von der Situation des Predigers und der Hörerinnen und Hörer, die als gegenwärtige Situation bezeichnet werden könnte – zwei getrennte Situationen geschieden durch den tiefen Graben der Historie. So verstanden bliebe der Situationsbegriff allerdings theologisch unterbestimmt. Die Texte (Jüngel geht zunächst ausschließlich von Texten des Neuen Testaments aus) seien vielmehr Bekenntnisse von Glaubenden, in denen sie „Jesus Christus in seiner Zugehörigkeit zu Gott“105, damit aber ihre Situation als neue, eschatologische Situation bekennen.106 Diese eschatologische Situation als die „von Gott geschaffene Situation“107 sei auch für die Glaubenden der Gegenwart, für Prediger und Hörer, entscheidend. Mit dieser theologischen Bestimmung eines die Historie transzendierenden Situationsbegriffs gelingt Jüngel die Konzeption eines dynamischen Predigtgeschehens als doppelte Übersetzung: Einerseits müssten die Texte übersetzt werden – und zwar so, dass die neue Situation in ihnen erkannt wird; andererseits die Hörerinnen und Hörer, sodass diese in Bewegung gesetzt werden auf die neue Wirklichkeit Gottes in Jesus Christus hin und d.h. „in dieselbe neue Situation“ hinein, „der sich der Text verdankt und die er bezeugt.“108 Durch „textgemäße Predigt“ werde diese neue Situation „durch das Zur-Sprache-Kommen Gottes geschaffen“.109 Freilich ist es dann nicht einfach der „Text an sich“ (den es so ohnehin nie gibt!), sondern der übersetzte und interpretierte Text, der solche Wirkung entfaltet.110 Für Jüngel wird die historische Kritik entscheidend, um solche Übersetzung zu leisten. 102

Vgl. z.B. MEZGER: Die Verbindlichkeit des Textes in der Predigt. Vgl. JÜNGEL: Was hat die Predigt mit dem Text zu tun, 126. 104 Jüngels Aufsatz ist in drei Hauptteile gegliedert: „Die Situation der Verkündigung“ (JÜNGEL: Was hat die Predigt mit dem Text zu tun, 127–130), „Die Situation des Textes“ (130– 136) und „Die Verkündigung der Situation“ (136–139). 105 JÜNGEL: Was hat die Predigt mit dem Text zu tun, 132 [Hervorhebungen im Original]. 106 JÜNGEL: Was hat die Predigt mit dem Text zu tun, 135. 107 JÜNGEL: Was hat die Predigt mit dem Text zu tun, 138. 108 JÜNGEL: Was hat die Predigt mit dem Text zu tun, 136 [Hervorhebung im Original]. 109 JÜNGEL: Was hat die Predigt mit dem Text zu tun, 138. 110 „Verkündigt werden soll ja nicht der Text, sondern das, was im Text als Zu-Verkündigendes zur Sprache kommt.“ (JÜNGEL: Was hat die Predigt mit dem Text zu tun, 130). 103

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Er schreibt: Die historische Kritik „hilft die Klarheit erkennen, in der die Texte der Schrift die neue Situation in ihrer jeweiligen geschichtlichen Situation zur Sprache brachten. Wird diese Klarheit der Schrift als Wahrheit der Texte erkannt, so ergibt sich für den Ausleger die Nötigung, die neue Situation auch in seiner (des Auslegers) eigenen Situation verbindlich zur Sprache zu bringen.“111 Jüngels christologische Hermeneutik (und daraus abgeleitete prinzipielle Homiletik) scheint konsistent. Über den Begriff der Situation verbindet sie die Texte der Bibel mit den Menschen der Gegenwart. Gleichzeitig wehrt sich Jüngel gegen homiletischen Textverlust und betont: „Vom Text zur Predigt kommt man also nur, wenn man am Text bleibt.“112 Aber was genau heißt das, „am Text zu bleiben“? Inwiefern ist, so muss m.E. gefragt werden, der Text in der Predigt noch nötig, wenn seine „Wahrheit“ einmal erkannt ist? Und welche herausfordernde Bedeutung kommt ihm in der Predigtvorbereitung wirklich zu, wenn es in allen Texten letztlich um die eine „eschatologische Situation“ geht? Können die Texte mehr sein als Steigbügelhalter zur Neuformulierung der bekannten Botschaft? Können sie noch eine herausfordernde Widerständigkeit behalten, von der Barth in seinem Kampf gegen den Textverlust überzeugt war? Führt also auch Jüngels Versuch einer Dynamisierung des Textes letztlich zu einem dogmatischen Textverlust, weil nicht die Texte, sondern deren transhistorisch-situative christliche „Wahrheit“ die Verkündigung bestimmen?113 Und kann das Vorwort zur 1989 erschienenen Predigtsammlung „Unterbrechungen“ daher auch als eine hermeneutische Korrektur gegen den Textverlust in der Predigt gelesen werden? Jüngel versucht, so schreibt er in diesem Vorwort, in seinen Predigten der „gähnenden Langeweile“ der Kanzelrede jene „Langeweile, in der wir Zeit gewinnen, uns zu vergessen und unserer selbst ledig zu werden“, entgegenzusetzen. Dies solle geschehen durch Predigten, die „mit den Nöten und Hoffnungen unserer Gegenwart in die auszulegenden Texte einkehren und so lange wie möglich bei ihnen verweilen.“114

111 JÜNGEL: Was hat die Predigt mit dem Text zu tun, 136; Jüngel bezieht sich hier explizit auf die berühmte Formulierung von Ernst Fuchs: „Die historisch-kritische Methode der Auslegung neutestamentlicher Texte hat ihren Dienst dann getan, wenn sich aus dem Text die Nötigung zur Predigt ergibt.“ (FUCHS: Die der Theologie durch die historisch-kritische Methode auferlegte Besinnung, 226 [im Original hervorgehoben]) Ständiger Subtext in Jüngels Ausführung ist der oben (Kap. 1.1.1, 28) erwähnte Aufsatz Rudolf Bohrens „Die Krise der Predigt als Frage an die Exegese“, auf den Jüngel sich kritisch bezieht; vgl. JÜNGEL: Was hat die Predigt mit dem Text zu tun, 129. 112 JÜNGEL: Was hat die Predigt mit dem Text zu tun, 138 [im Original hervorgehoben]. 113 Aufschlussreich und signifikant für das beschriebene Problem erscheint mir, dass Jüngel das Alte Testament – bis auf einen marginalen Hinweis (JÜNGEL: Was hat die Predigt mit dem Text zu tun, 128) – aus seinen Überlegungen ausklammert. 114 Alle Zitate aus JÜNGEL: Unterbrechungen. Predigten IV, 9 [Hervorhebung AD].

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9.2.3 Rudolf Bohren: Pneumatologische und ästhetische Textbefreiung Der Ausgangspunkt von Rudolf Bohrens „Predigtlehre“ (1971) erscheint durchaus vergleichbar mit dem von Jüngels homiletisch-hermeneutischem Aufsatz. Es geht Bohren darum, das „Schweigen von Gott“ zu durchbrechen.115 Dabei spielt die Frage nach dem Text der Predigt und dem Text in der Predigt auch für ihn eine entscheidende Rolle. Dies betont er vor allem im Nachwort zur vierten Auflage der „Predigtlehre“ 1979: „Die Lust am Text schafft auch Lust am Predigen.“116 Und daher gelte: „Der Prediger muß neu lernen, die Bibel zu lesen.“117 Auch wenn Bohren acht Jahre nach der Erstauflage seiner Homiletik die Notwendigkeit erkennt, den biblischen Text und die Lust am Lesen intensiver zu betonen, so kann doch schon seine erste Auflage verstanden werden als der Versuch einer Revitalisierung des mannigfach gebändigten biblischen Textes. Was Engemann als „Texttod“ bezeichnet, nennt Bohren Vergötzung der Schrift, „Biblizismus“, „Fundamentalismus“118 bzw. „Bibliolatrie“119 und erkennt zwei Realisierungen: eine konservativ-traditionelle und eine modernistische. Ist die erste „überzeugt von der Irrtumslosigkeit der Schrift in allen ihren Aussagen“, so bedeutet letztere die Überzeugung „von der Infallibilität seiner [des Predigers, AD] exegetischen Methodik“, deren Ergebnisse sich dann an die Stelle des bewegten und bewegenden Wortes der Schrift setzten.120 Beide Wege der Bibliolatrie würden den Text letztlich verlieren. Dagegen skizziert Bohren eine Homiletik, in der der Prediger den Text nicht hinter sich lässt, sondern im Gegenteil der Text dem Prediger wie den Hörerinnen und Hörern bis in den Predigtvollzug hinein (!) voraus bleibt. Etwas versteckt findet sich die m.E. bedeutsame Richtungsangabe: Der Prediger bleibe „unterwegs zu seinem Text“.121 Homiletische Meditation kann daher bei Bohren – anders als bei Trillhaas 1974 – nicht einen Durchgang durch das „Sprachgitter“ des Textes hin zur Botschaft meinen, sondern bedeutet vielmehr ein verheißungsvolles Hängenbleiben im Wort.122 Bohren umkreist die Bedeu115

BOHREN: Predigtlehre, 7 u.ö. BOHREN: Predigtlehre, 554–562, Zitat: 560. 117 BOHREN: Predigtlehre, 558 [Hervorhebung im Original]. 118 BOHREN: Predigtlehre, 111. 119 BOHREN: Predigtlehre, 113. 120 BOHREN: Predigtlehre, 111. 121 BOHREN: Predigtlehre, 384 [Hervorhebung AD]; vgl. auch Bohrens Aufnahme von Ps 1,1f: „Der Weg des Glücklichen ist ein Weg ins Wort“ (349 [Hervorhebung im Original]; vgl. ähnlich 351.364); vgl. demgegenüber exemplarisch die umgekehrte Richtungsbestimmung Manfred Mezgers: „[…] der Text soll zu uns herab, nicht wir zu ihm hinauf“ (MEZGER: Die Verbindlichkeit des Textes, 90 [Hervorhebung im Original]). 122 Vgl. BOHREN: Predigtlehre, 21, wo Bohren den Prediger in der durchaus verheißungsvollen „Gefangenschaft des Wortes“ beschreibt. 116

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tung dieser Bestimmung in seiner „Predigtlehre“ immer wieder aufs Neue, sodass eine Zusammenfassung seiner Aussagen eine erhebliche Reduktion bedeutet. Dennoch sind es vor allem zwei Perspektiven, die seinen Zugang zum Text prägen und die ich als (1) pneumatologisch und (2) ästhetisch etikettiere. (1) Lesen in theonomer Reziprozität123: Bohren bestimmt die Schrift in theologischer Hinsicht doppelt. In ihrer Leserichtung auf Gott hin sei sie „Ur-Kunde des [göttlichen, AD] Namens“124, in umgekehrter Leserichtung auf den Menschen hin „Dokument des schenkenden Geistes“125. Im Blick auf die Predigt habe die Schrift daher die Aufgabe, „kritischer Maßstab“126 und gleichzeitig „Gnadenmittel“127 zu sein. „Die geistgewirkte Schrift wird zum vermittelnden Werkzeug des Geistes. Ihre Herkunft weist auf ihre Zukunft.“128 Lesen geschehe daher in „theonomer Reziprozität“,129 d.h. als ganz und gar menschliches Unterfangen in der gleichzeitigen Erwartung der Kooperation des Geistes. Dabei seien Wort und Geist nicht einfach (ontologisch) als Einheit in der Schrift zu denken, vielmehr könne deren „Einheit“ nur als „Ereignis“ bestimmt werden.130 Wie lässt sich dann aber die homiletische Aufgabe beschreiben? Was kann der Prediger in und mit seiner Predigt tun? An dieser Stelle wird die Ästhetik zur Partnerin der pneumatologischen Skriptologie Bohrens und die „Kunst des Lesens“ zur primären Aufgabe des Predigers.131 (2) „Kunst des Lesens“132: Bohren kann das Predigen – schon zu Beginn seiner „Predigtlehre“ – als „heiliges Spiel mit Worten“ bestimmen.133 Es handelt sich dabei um ein Spiel, das als „Kunst des Lesens“ von den Künsten lerne und durch die Spielregeln der Exegese lebendig bleibe. Vor allem in der konkreten Poesie – etwa eines Eugen Gomringer – entdeckt Bohren Analogien zu diesem Spiel.134 Gegen jede Vereinnahmung des Wortes in der Sprache werde seine Fremdheit in der konkreten Poe123 Vgl. BOHREN: Predigtlehre, 112; vgl. zur pneumatologischen Konzeption von Bohrens Predigtlehre im Vergleich mit Barths homiletischem Ansatz DENECKE: Gottes Wort als Menschenwort, 295–304. 124 BOHREN: Predigtlehre, 109–111, Zitat: 109. 125 BOHREN: Predigtlehre, 111–114, Zitat: 111. 126 BOHREN: Predigtlehre, 111. 127 BOHREN: Predigtlehre, 112. 128 BOHREN: Predigtlehre, 112. 129 BOHREN: Predigtlehre, 112. 130 BOHREN: Predigtlehre, 130; vgl. dazu den Rückgriff auf Bultmanns biblisches Verständnis des Wortes (‫ )דבר‬im Gegensatz zu einem griechischen Wortverständnis (lo,goj; vgl. BULTMANN: Der Begriff des Wortes Gottes im NT). 131 Hatte Bohren bereits 1962 eine die Pneumatologie bedenkende Methodik für die Predigtvorbereitung gefordert (vgl. BOHREN: Die Krise der Predigt als Frage an die Exegese, bes. 110–115), so erkenne ich in der ästhetischen Profilierung das entscheidend Neue der annähernd zehn Jahre später entstandenen „Predigtlehre“. 132 BOHREN: Predigtlehre, 376 [Hervorhebung AD]. 133 BOHREN: Predigtlehre, 18 [Hervorhebung im Original]; vgl. auch 354: „Die Lust am Wort vollzieht sich als Spiel mit dem Wort.“ [Hervorhebung im Original]. 134 Vgl. BOHREN: Predigtlehre, 98; vgl. auch 368–372 [Moderne Kunst und Meditation].

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sie wieder wahrgenommen; genau dies sei auch für den Umgang mit dem biblischen Wort entscheidend: „Die Fremdartigkeit biblischer Sprache, die Sperrigkeit der Texte ist stehen zu lassen. So bleibt mir ein Biblizismus gleicherweise verwehrt wie der Verzicht auf biblische Sprache.“135 Im Achten auf das Wort, im genauen Lesen komme es zur Erweiterung der Sprache,136 sodass die eigene Sprache nicht die Sprache der Bibel „mit dem Zeitgeist übertüncht“, sondern vielmehr „unsere Sprache in die Bibel“ verwandelt.137 In diesem Rahmen erhält auch die Exegese ihre Bedeutung: Sie helfe, die Fremdheit der biblischen Sprache gegenüber jeder vorschnellen Vereinnahmung in den Mittelpunkt zu rücken und liefere so „Spielregeln für das heilige Spiel“138.

Damit führt Bohren in seiner „Predigtlehre“ eine „Kunst des Lesens“ als Spiel mit dem Wort, eine ästhetische Textlektüre in pneumatologischer Perspektive vor Augen, die m.E. eine überzeugende Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit eines Umgangs mit dem Text in der Predigt zwischen Textbändigung und Textverlust bietet und die zu weiterer Profilierung und Konkretisierung herausfordert.

9.2.4 Martin Nicol: Intertextuelle Textbefreiung Eine solche Weiterführung und Neuakzentuierung des Ansatzes Bohrens erkenne ich in Martin Nicols Homiletik, die sich von der hermeneutischen Reflexion eine homiletische Dynamisierung erwartet.139 In einem seiner neueren Aufsätze, mehr als 30 Jahre nach Bohrens „Predigtlehre“, formuliert Martin Nicol sein „homiletisches Plädoyer für eine hermeneutische Schubumkehr“.140 Das Bild der Schubumkehr aus der Luftfahrt verwendet Nicol, um die Notwendigkeit zu illustrieren, gegen jede hermeneutische „Wut des Verstehens“141 wieder neu auf dem Boden der biblischen Texte zu landen.142 Nicols Plädoyer nimmt zentrale Gedanken auf, die sich bereits bei Bohren finden. So werden die Begriffe des „Ereignisses“ und des „Fremden“ auch für Nicols skriptologische Grundlegung entscheidend und

135

BOHREN: Predigtlehre, 253f; hier im Kontext der biblischen Aussagen zum Gericht. Vgl. BOHREN: Predigtlehre, 131–135. 137 BOHREN: Predigtlehre, 134. 138 BOHREN: Predigtlehre, 150; vgl. insg. 149–151 und 40–42.114. Bohren revoziert damit auch seine sehr kritischen Aussagen gegenüber der Exegese aus dem Jahr 1962 (vgl. BOHREN: Die Krise der Predigt als Frage an die Exegese). 139 Vgl. bereits die Zentralstellung, die die Dramaturgische Schrifterkundung in Nicols „Dramaturgische[r] Homiletik“ einnimmt (vgl. NICOL: Einander ins Bild setzen, 75–101). 140 So der Untertitel des Aufsatzes (vgl. NICOL: Fremde Botschaft Bibel). 141 Vgl. zum Begriff oben Kap. 1.1.1, 24. 142 Vgl. NICOL: Fremde Botschaft Bibel, 264f. 136

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durch den Terminus des Geheimnisses erweitert.143 Deutlicher als noch Rudolf Bohren betont Nicol eine ästhetische Hermeneutik in ihrem unauflöslichen Ineinander von Wahrnehmung und Gestaltung, von Lesen und Inszenieren des biblischen Textes.144 Im Kontext der hier interessierenden Frage nach Textbändigung und Textverlust in der Predigt erscheint mir die entscheidende Weichenstellung in Nicols Aufsatz aber die intertextuelle Perspektive zu sein, die sein hermeneutisches Plädoyer durchgängig bestimmt. Die Fremdheit biblischer Texte könne nie als eine absolute Fremdheit bestimmt werden; vielmehr handele es sich um eine „intertextuelle Fremdheit“, die dort entstehe, „wo die biblischen Texte mit anderen Texten und Kontexten ins Wechselspiel treten.“145 Predigen bedeute dann, diese Fremdheit zu inszenieren, d.h. „den biblischen Text so zur Sprache zu bringen, dass er den Hörenden im Wechselspiel mit anderen Texten und Kontexten nahe kommt und fremd bleibt.“146 Gegen alle linearen Modelle, die den Text auf dem Weg zur Predigt früher oder später verlieren, legt Nicol eine homiletische Hermeneutik vor, in der der biblische Text in Predigt und Predigtvorbereitung zu vielfältigen intertextuellen Wechselspielen befreit wird. Auf dieser Grundlage wird im Folgenden weiter aufzubauen sein.147

9.3 Exkurs: Literaturwissenschaftliche Textbefreiung Die Literaturwissenschaftler George Steiner und Jochen Hörisch scheinen mir im Zusammenhang dieser Überlegungen interessant. Beide wehren sich gegen eine Textbemächtigung durch einen den Text bändigend-verstehenden Interpreten. Bei Steiner führt dies zur Forderung unbedingten Respekts gegenüber dem Text. Hörisch zeigt demgegenüber Wege eines durchaus respektlosen, kritischen und unabschließbaren Befragens des Textes. Michael Bogdal sieht in Steiner und Hörisch zwei Antipoden in einem weiten Feld gegenwärtiger Literaturwissenschaft: George Steiner steht dabei für eine „sakrale Poetik“, Jochen Hörisch erscheint neben anderen als Vertreter einer „profane[n] Texttheorie“.148 George Steiner erträumte 1989 eine „gegen-platonische Republik […], aus der die Rezensenten und Kritiker verbannt wurden“149, eine Republik, in der das Primäre, das Kunstwerk, der Text wieder eine Chance hätten und nicht unter dem Ballast sekun-

143

Vgl. zum Begriff des „Ereignisses“ NICOL: Fremde Botschaft Bibel, 277f; vgl. zu den Begriffen „Fremdheit“ und „Geheimnis“ bes. 273–275. 144 Vgl. NICOL: Fremde Botschaft Bibel, bes. 273. 145 NICOL: Fremde Botschaft Bibel, 276. 146 NICOL: Fremde Botschaft Bibel, 276. 147 Vgl. besonders unten Kap. 11. 148 Vgl. BOGDAL: Kann Interpretieren Sünde sein? Literaturwissenschaft zwischen sakraler Poetik und profaner Texttheorie. 149 STEINER: Von realer Gegenwart, 16.

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där-deutenden Zugriffs zu versinken drohten. Jedes sekundäre Reden über Kunst wäre in dieser Republik verboten,150 um die „dumpfe Wucht einer Flutwelle“151 an sekundären Texten, „Meta-Texte[n]“152, parasitären Texten153 zu verhindern. Nur so scheint es für Steiner möglich, das Kunstwerk davor zu bewahren, im Sumpf einer hypertrophen Kommentierung, eines um sich greifenden Verstandenhabens und SinnReduzierens unterzugehen.154 Bereits ein Jahr vor Steiner schrieb Jochen Hörisch seinen polemischen Essay gegen eine Hermeneutik, die ausgestattet mit einer imperialen „Wut des Verstehens“155 den Texten ihre Sprache nehme, sie auf Aussagen reduziere und sie so einebne in das Gleichmaß des ohnehin Bekannten. Jede solche Interpretation würde den Geist gegen die Pluralität der Buchstaben ausspielen156 und die Texte homogenisieren157. Kommen sich Steiner und Hörisch in der Problembeschreibung nahe, so erscheinen die Wege der Lösung grundlegend verschieden. Jochen Hörisch möchte die „fröhliche Sinnespluralität“158 der Texte wieder entdecken und Spuren suchen, anstatt Sinn begrifflich zu fassen.159 Es gehe um eine Diskursanalyse, die „differenzbetont“ und nicht „vermittlungsselig“ analysiere und dabei vom Verhalten Liebender lerne: Wenn sich Liebende „in jeder Weise“ vereinigten und durchdrängen, dann hätten sie sich, wenn sie dumm sind, bald nichts mehr zu sagen. Wenn sie aber klug sind, dann handelten sie nach der Regel „Was sich liebt, das neckt sich“ und stellten „Mißverständnisse lustvoll her“.160 Die Richtung eines solch differenzbetonten Lesens erkennt Hörisch auch im jüdisch-talmudischen Umgang mit dem Text der Tora. Die Differenz sei dort durch die grundlegende Grenze zwischen Göttlichem und Menschlichem bestimmt und exemplarisch in Gen 40,8 formuliert: „Auslegen gehört Gott zu“.161 Die Rabbinen wollten eigentlich nicht deuten, sie wüssten, dass sie Gott nicht

150

Vgl. STEINER: Von realer Gegenwart, 11–74 [Eine sekundäre Stadt]; vgl. bes. 15f. STEINER: Von realer Gegenwart, 41. 152 STEINER: Von realer Gegenwart, 17. 153 Vgl. STEINER: Von realer Gegenwart, 18.70 u.ö. 154 Bereits ein Vierteljahrhundert vor Steiner schrieb Susan Sontag ihren Aufsatz mit dem entschiedenen Titel „Against Interpretation“. Auch sie sieht die Kunst hinter einem Nebel von Interpretationen verschwinden, die allesamt nur ein Ziel hätten: interpretierend die Bedeutung des Kunstwerks intellektuell zu erfassen, um es zu zähmen und in den Griff zu bekommen (vgl. SONTAG: Gegen Interpretation, bes. 15). 155 Vgl. HÖRISCH: Die Wut des Verstehens. 156 Zur Unterscheidung von „Geist und Buchstaben“ verweist Hörisch auf Paulus (2Kor 3); vgl. HÖRISCH: Die Wut des Verstehens, 39–41. 157 Vgl. bes. HÖRISCH: Die Wut des Verstehens, 61–70 [Schleiermachers Hermeneutik oder: Warum die Größten alle dasselbe sagen]. 158 HÖRISCH: Die Wut des Verstehens, 36. 159 Vgl. zum Begriff der „Spurensuche“ HÖRISCH: Die Wut des Verstehens, 71–81, bes. 78 [Ein erweiterter Autor: Der Spurenleser]. 160 HÖRISCH: Die Wut des Verstehens, 105; vgl. insg. 103–109 [Die leicht (v)erträgliche Unzeitgemäßheit der Hermeneutik]. 161 Vgl. HÖRISCH: Die Wut des Verstehens, 30; vgl. insg. 29–35 [Auslegen gehört Gott zu]. 151

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verstehen könnten, und seien doch – wie alle Leser – beständig zur Interpretation genötigt.162 George Steiner sieht in poststrukturalistisch-dekonstruktivistischen Ansätzen, wie sie sich etwa bei Hörisch greifen lassen, nur eine neuerliche Bemächtigung des Sekundären gegenüber dem Primären.163 Dagegen will er entschieden die Freiheit und – in gewisser Hinsicht – Unantastbarkeit des Kunstwerks bewahren, das nicht einen durch Interpretation zu gewinnenden, auf Sprache reduzierbaren Sinn bedeute, aber auch nicht einfach im Meer der unendlichen sekundären Fortschreibungen untergehen dürfe. Vielmehr wirke das Kunstwerk in der Begegnung mit dem Rezipienten und sei auf Antwort und damit auf die Verantwortung des Betrachters angewiesen. Zwei Wege eines legitimen Umgangs mit dem Kunstwerk sieht Steiner: einerseits die neuerliche Inszenierung, andererseits die philologische Kommentierung. Steiner schreibt: „Die wahre Hermeneutik des Dramas liegt in seiner Bühnenaufführung.“164 Mit diesem Satz verweist er metonym auf einen inszenierend-antwortenden Umgang mit der Kunst. Neben der Inszenierung hält Steiner den philologischen Kommentar von Kunstwerken für möglich, den er in eine Phänomenologie der Höflichkeit (cortesia) einzeichnet. Cortesia sei der angemessene Umgang mit dem Anderen und Fremden165; sie lasse sich verstehen als das „Wagnis der Bewillkommnung“166. Steiner setzt diese Haltung in Beziehung zur Übersetzung: „Übersetzen umfaßt komplexe Exerzitien der Begrüßung, der Zurückhaltung, des Austausches zwischen Kulturen, zwischen Sprachen und Sagensweisen. Ein Meisterübersetzer läßt sich als vollkommener Gastgeber definieren.“167 Philologisch könne diese Haltung genannt werden, da sie in lexikalischer Perspektive ein genaues Hinhören bedeute, eine Bemühung um die Worte,168 in syntaktisch-grammatischer Perspektive das Streben nach „eine[r] genuine[n] Grammatikalität des Verstehens“, die mehr sei als die bloße Übernahme vermeintlich bleibend gültiger Regeln,169 und in semantischer Perspektive die unabschließbare (!) Suche nach Bedeutung170. Sowohl die Inszenierung als auch die philologische Kommentierung führen nach Steiner hin zu einer Begegnung mit dem Kunstwerk; die ausufernde Welt des Sekundären versuche demgegenüber einen wirksamen Schutzwall gegen die Selbstwirksamkeit des Kunstwerks aufzurichten.171 Botho Strauß bezeichnet Steiners Rekurs auf das Primäre in seinem Nachwort zur

162

Vgl. HÖRISCH: Die Wut des Verstehens, 29. Vgl. STEINER: Von realer Gegenwart, 156–179. Poststrukturalismus und Dekonstruktion bedeuteten die „Auflehnung von Theorie […] gegen die Autonomie des Dichterischen“ (156). 164 STEINER: Von realer Gegenwart, 19. 165 Vgl. STEINER: Von realer Gegenwart, 196–198. 166 STEINER: Von realer Gegenwart, 207. 167 STEINER: Von realer Gegenwart, 194f; in diesem Zusammenhang verweist Steiner auch auf Lévinas und Buber. 168 Vgl. STEINER: Von realer Gegenwart, 208f. 169 Vgl. STEINER: Von realer Gegenwart, 209–214. 170 Vgl. STEINER: Von realer Gegenwart, 215–218. Besonders an diesem Punkt kann Steiner auch positiv an Ansätze der Dekonstruktion und des Poststrukturalismus mit ihrer Betonung der Unabgeschlossenheit und Polyphonie der Interpretation anknüpfen. 171 Das „Sekundäre“ bedeute einen Schutz vor der „realen Gegenwart“; man suche die Domestizierung des Mysteriums, vgl. STEINER: Von realer Gegenwart, 59. 163

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deutschen Übersetzung als „sakrale Poetik“172 und bezieht sich dabei auf den Titel des Essays „Von realer Gegenwart“, im englischen Original „Real Presences“, der das sakramentale Verständnis der Kunst durch Steiner präzise zum Ausdruck bringt.173 In der Tat rechnet Steiner mit dem Aufleuchten von „Sinn“ in der Kunst, der für ihn nur möglich ist, wenn sich in, mit und unter dem Kunstwerk reale Gegenwart, Transzendenz174, Bedeutung175 ereigne und es so – in einem Zustand des „Überwältigtwerden[s]“176 – als „Quelle des Seins“177 erkannt werde. Genau dies würden poststrukturalistische und dekonstruktivistische Ansätze negieren und stattdessen eine „Gegentheologie der Abwesenheit“178 entwerfen. Steiner scheut sich daher nicht, eine „Re-Mythologisierung“179 zur Wiedergewinnung der Kategorie des „Bedeutungshaften“180 zu fordern und dem Interpreten Grenzen zu setzen. Bogdal spricht nicht ganz zu Unrecht von einem kulturellen Antimodernismus-Eid, der Literaturkritikern und -wissenschaftlern durch Steiner abverlangt werde.181 Im Kontext seiner Frage nach der Interpretation, ihren Grenzen und Möglichkeiten, kommt auch Steiner auf den jüdischen Umgang mit Texten zu sprechen. Anders als Hörisch betont Steiner aber nicht die durch die Differenz zwischen göttlichem Wort und menschlichem Auslegen gesetzte Unabschließbarkeit der Deutung. Vielmehr unterstreicht er den „Respekt vor dem geoffenbarten Wort“ im jüdischen Umgang mit dem Text.182 Der Kommentar verleihe dem Text „eine greifbare Gegenwärtigkeit“, die sich in eine Handlung in der Gegenwart umsetzen lasse.183 Ständig neue und unabgeschlossene Interpretation, „unglaublich geübtes Gedächtnis und philologische Virtuosität vollführen einen Tanz des Geistes vor der halb geschlossenen, aber strahlenden Bundeslade der Schrift“184. Der Text bleibt in seiner herausfordernden Fremdheit Ausgangspunkt des Kommentars; er wird wie die Bundeslade tanzend umkreist. Jüdischen Kommentar versteht Steiner als scheue, zurückhaltende Interpretation, die sich nicht parasitär des Textes bemächtige, sondern mit dem „Mysterium“ in der Sprache und durch die Sprache rechne (eine halb geöffnete Bundeslade!).185 Im Unterschied zur parasitär-texttötenden und auch poststrukturalistischdekonstruktivistischen Interpretation wisse das Judentum darum, dass es eine Grenze des Sagbaren gebe.186

172

STRAUß: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, 308. Vgl. STRAUß: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, bes. 307–309. 174 Vgl. STEINER: Von realer Gegenwart, 14 u.ö. 175 Vgl. STEINER: Von realer Gegenwart, 177 u.ö. 176 STEINER: Von realer Gegenwart, 250 u.ö. 177 STEINER: Von realer Gegenwart, 200. 178 STEINER: Von realer Gegenwart, 164; vgl. insg. 156–179. 179 STEINER: Von realer Gegenwart, 288. 180 STEINER: Von realer Gegenwart, 293. 181 Vgl. BOGDAL: Kann Interpretieren Sünde sein, 137f. 182 STEINER: Von realer Gegenwart, 62. 183 STEINER: Von realer Gegenwart, 63. 184 STEINER: Von realer Gegenwart, 62. 185 Vgl. zum Begriff des „Mysterium[s]“: STEINER: Von realer Gegenwart, 31. 186 STEINER: Von realer Gegenwart, 151; vgl. auch STRAUß: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, 311. 173

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Mit Steiner und Hörisch scheinen mir die beiden Pole eines Spannungsfeldes des Umgangs mit dem Text markiert, der diesen nicht interpretierend bändigt oder verliert. Zwischen cortesia und fröhlich-unbekümmerter Respektlosigkeit ist durch die beiden Ansätze ein Raum weit eröffnet. Die beiden Pole scheinen mir nötig, damit der Umgang mit dem Text diesen nicht in sakrale Unantastbarkeit verlagert, das Gewebe des Textes aber auch nicht in postmoderner Achtlosigkeit in beliebig viele und letztlich bedeutungslose Einzelfäden zerlegt. Dass beide, Steiner und Hörisch, auf das Judentum rekurrieren, motiviert zusätzlich, nun nach jüdischer Hermeneutik, genauer: nach der Hermeneutik des Midrasch, weiterzufragen. Sollte sich in ihr eine Möglichkeit des Umgangs mit dem Text zwischen den beiden von Steiner und Hörisch eröffneten Polen aufweisen? Die Frage ist rhetorisch; ich meine, sie bejahen zu können. Vorweg ist aber zu klären, inwiefern der Midrasch als jüdisch-rabbinischer Umgang mit dem Text in homiletischer Perspektive rezipiert werden kann (Kap. 10).

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10. Der Kontext des Midrasch

Um im Kontext des Midrasch homiletisch lesen zu lernen, ist es unerlässlich, näher zu bestimmen, was unter „Midrasch“ verstanden und wie mit ihm angemessen umgegangen werden kann. Ich suche eine Antwort darauf, indem ich die Forschungsdiskussion zum Midrasch im Überblick darstelle (10.1) und daraus einige Folgerungen ableite (10.2).

10.1 Was ist rabbinischer Midrasch? – Drei Perspektiven der Forschung Was ist rabbinischer Midrasch? Mit Daniel Boyarin könnte Midrasch pragmatisch und kurz wie folgt definiert werden: Midrasch ist die Art der Bibelinterpretation, die sich in den Büchern findet, die den Namen Midrasch tragen.1 Die Wendung „rabbinischer Midrasch“ wäre nach dieser Definition eine Tautologie.2 Vor allem seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber verwendet man den Begriff Midrasch auch, um analoge Phänomene in Literatur und Theologie zu charakterisieren. Die Forschungsdiskussion zum Midrasch breitete sich seither rasch und beinahe unübersehbar aus. Im Folgenden versuche ich, einige Schneisen in die Vielfalt der Midrasch-Deutungen zu schlagen, einen kurzen Überblick über die Forschung zu geben und so einen Ausgangspunkt für die eigene Weiterarbeit zu gewinnen.3 Ich unterscheide zwischen zwei unterschiedlichen Intentionen gegenwärtiger Midraschforschung und nehme eher applikativ ausgerichtete Ansätze wahr, die nach der Relevanz „des“ Midrasch in gegenwärtigen Diskursen fragen (10.1.1), sowie eher explikativ ausgerichtete Arbeiten, die den Versuch unternehmen, das Phänomen Midrasch in rabbinischer Zeit genauer zu be-

1

Vgl. BOYARIN: Intertextuality, viii. Vgl. TEUGELS: Gap Filling and Linkage, 585; dies.: Two Centuries of Midrash Study, 126–128. 3 Knappe Forschungsüberblicke bieten HIRSHMAN: Torah for the Entire World, 11–24; SARASON: Interpreting Rabbinic Biblical Interpretation; STEMBERGER: Midrasch, 205–227; TEUGELS: Two Centuries of Midrash Study. Zur Bibliographie verweise ich auf MAYER: Art. Midrasch, 743f; HARTMAN/BUDICK: Midrash and Literature, 369–395, sowie vor allem auf die Auswahlbibliographie des HUC-JIR: www.huc.edu/midrash [Zugriff vom 12.02.2006]. 2

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leuchten (10.1.2).4 Besonders interessant erscheinen dann aber jene bewusst vermittelnden Modelle, die applikatives und explikatives Interesse miteinander verbinden (10.1.3).

10.1.1 Primär applikative Midrasch-Lektüren Der entscheidende Anstoß zu einer neuen Wahrnehmung des Midrasch kam aus dem interdisziplinären Zusammenspiel von Judaistik und (poststrukturalistischer) Literaturwissenschaft im Kontext der amerikanischen Universität5 und findet mit dem Erscheinen der Zeitschrift „Prooftexts“ (gegründet 1980) einen ersten deutlichen Markierungspunkt. Dem folgte im Jahr 1982 eine Monographie, die bis heute als grundlegend für die Verbindung von Midrasch mit literaturwissenschaftlich-hermeneutischen Fragen gelten kann: Susan Handelmans „The Slayers of Moses. The Emergence of Rabbinic Interpretation in Modern Literary Theory“. Die Literaturwissenschaftlerin Handelman bringt darin rabbinische Hermeneutik mit ausgewählten Hermeneutiken vor allem jüdischer Provenienz aus dem 20. Jahrhundert ins Gespräch. Die Kernthese findet sich bereits im Titel des Buches: Die ausgewählten Theoretiker des 20. Jahrhunderts (Freud, Lacan, Derrida und Bloom) könnten als vatermordende Erben der prä-modernen rabbinischen Hermeneutik gesehen werden, auf die sie sich implizit und vielleicht unbewusst ständig bezögen („The Slayers of Moses“, „die Mose-Mörder“).6 Eine grundlegende hermeneutische Dichotomie, die Handelman bereits im methodisch orientierenden Vorwort entwirft, prägt die gesamte Darstellung: die Dichotomie von biblisch-jüdischem und griechisch-christlichem Denken.7 Der gesamte „historisch“ darstellende erste Teil des Buches variiert diese Dichotomie in immer neuen Anläufen.8 Sie erscheint als Unterschied zwischen abgeschlossener und abschließender Interpretation auf griechisch-christlicher und unendlicher Offenheit der Bedeutung auf jüdischer Seite,9 zwischen o;noma und ‫דבר‬,10 zwischen Geist und Buchstabe,11 zwischen hermeneutischer Vereinheitlichung und ständiger hermeneutischer 4 Diese Unterscheidung entspricht grob der Differenzierung Marianne Grohmanns, die eine „historisch-kritische Midrasch-Forschung“ (GROHMANN: Aneignung der Schrift, 107–112) von „poststrukturalistische[n] Midrasch-Lektüren“ (112–125) unterscheidet. 5 Vgl. STERN: Midrash and Theory, 1–13.95–97 (Anm.) [The Midrash-Theory Connection]. 6 Im Hintergrund stehen Freuds Überlegungen zum Vatermord als radikalem Neuanfang bei gleichzeitiger Anknüpfung an die vorausgehende Tradition, wie er sie vor allem in seinem letzten Buch „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ entfaltete. 7 Vgl. HANDELMAN: The Slayers of Moses, xiii–xviii [Methodological Preface]. 8 Vgl. HANDELMAN: The Slayers of Moses, 3–120.231–239 (Anm.). 9 Vgl. HANDELMAN: The Slayers of Moses, 66–76, bes. 66; vgl. auch xiv. 10 Vgl. HANDELMAN: The Slayers of Moses, 3f. 11 Vgl. HANDELMAN: The Slayers of Moses, 15f.

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Differenzierung,12 zwischen Abstraktion und Konkretion,13 zwischen Metapher und Metonymie,14 zwischen einem anti-sprachlichen und einem durchweg sprachlichen Ansatz,15 zwischen einem „entweder-oder-Denken“ und einem Denken des „sowohlals-auch“.16 Selbstverständlich verortet sich Handelman selbst mit ihren Gesprächspartnern aus dem 20. Jahrhundert auf der Seite des biblisch-jüdischen und rabbinischen Denkens. Verwunderlich erscheint dann freilich, dass Handelman das „entweder-oder-Denken“, das sie so deutlich in griechisch-christlicher Hermeneutik kritisiert, in der Gegenüberstellung beider Hermeneutiken selbst anwendet und ausbaut.17 Natürlich kann nicht bestritten werden, dass Handelmans überdeutliche und selbst dichotome Charakterisierung den Finger kritisch auf manch problematische Entwicklung der griechisch-christlich-abendländischen Hermeneutik legt. Im Blick auf die Wahrnehmung des Midrasch stellt sich allerdings die Frage, ob dieser noch eine Chance hat, sich jenseits des das ganze Buch überlagernden Schematismus als Partner im Dialog zu erweisen und nicht als zum Schweigen gebrachter Stichwortgeber und Lieferant zitierfähiger Belegstellen. Sicherlich ist es – wie Handelman in der Antwort auf Kritik an ihrem Buch zu Recht bemerkt – generell unmöglich, ein objektives Erkennen des „Rabbinischen“ jenseits des subjektiven Engagements des Interpreten oder der Interpretin zu postulieren.18 Es müsste aber doch möglich sein, die eigene Position durch die Wahrnehmung des Anderen der rabbinischen Tradition zu hinterfragen und so der Nostrifizierung des „Rabbinischen“ zu wehren. Handelmans Darstellung dessen, was sie als „das Rabbinische“ („the Rabbinics“19) bezeichnet, bleibt demgegenüber letztlich zirkulär: Sie entdeckt im Midrasch das, was sie aufgrund ihrer hermeneutischen Position ohnehin schon weiß. Es nimmt dann nicht Wunder, dass sie vielfältige strukturelle Nähen und gemeinsame Gedankenmuster zwischen dem Midrasch und ihren hermeneutischen Gewährsmännern aus dem 20. Jahrhundert aufweisen kann.20

Die Darstellung des Ansatzes von Susan Handelman erfolgte ausführlicher, da dieser als typisch für zahlreiche Wahrnehmungen des Midrasch aus literaturwissenschaftlich-hermeneutischer Perspektive gelten kann.21 Zusam12

Vgl. HANDELMAN: The Slayers of Moses, 33. Vgl. HANDELMAN: The Slayers of Moses, 31.75. 14 Vgl. HANDELMAN: The Slayers of Moses, 76–82; vgl. dazu unten Kap. 12.2.2, 379f. 15 Vgl. HANDELMAN: The Slayers of Moses, 96 u.ö. 16 Vgl. HANDELMAN: The Slayers of Moses, 13. 17 Vgl. ähnlich die Kritik von STERN: Moses-cide, 195 18 Vgl. HANDELMAN: Fragments of the Rock, bes. 80–83. 19 HANDELMAN: The Slayers of Moses, 127 u.ö. 20 HANDELMAN: The Slayers of Moses, xvf (Freud, Lacan, Derrida und Bloom). 21 Zu vergleichen wäre hier etwa auch José Faurs Buch „Golden Doves with Silver Dots“ (1986). Auch Faur sucht nach Verbindungslinien zwischen gegenwärtiger literaturwissenschaftlicher Theorie und dem Midrasch. Genauer ist es bei Faur die rabbinische Tradition insgesamt, weit über die rabbinische Zeit hinaus bis in die Gegenwart, die zum Gegenstand der Betrachtung wird. Wie Handelman konstruiert auch Faur eine grundlegende Opposition zwischen griechischem und jüdischem Denken. Ersteres bedeute die Konzeption einer Welt jenseits der Sprache, letzteres hingegen sehe die Welt in der Sprache, ja sogar als Sprache (vgl. FAUR: Golden Doves with Silver 13

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menfassend ergeben sich m.E. zwei Probleme aus dieser Midrasch-Rezeption: (1) Das erste Problem nenne ich im Anschluss an Steven D. Fraade die Essentialisierung des Midrasch22, die Tendenz also, den Midrasch in seiner Hermeneutik auf abstrakte Linien (nämlich solche, die der eigenen hermeneutischen Theorie entgegenkommen) zu reduzieren, ohne dabei differenzierend von einzelnen Texten und Formen des Midrasch auszugehen.23 (2) Verbunden ist diese Problematik mit einer, wie sich überspitzt sagen ließe, anti-historischen Naivität, die im Verzicht auf die Bemühung besteht, die Texte des Midrasch in ihrer Zeit, ihrer spezifischen sozio-kulturellen Situation und ihrer literarischen Umgebung zu verorten und (auch) auf diesem Hintergrund zu verstehen.24 Insgesamt ergibt sich aufgrund beider Probleme die paradoxe Gefahr eines „Midrasch-Verlustes“ trotz des intensiven Versuchs, neu auf ihn zu rekurrieren. Demgegenüber müsste es darum gehen, auf der Grundlage von midraschischen Texten hermeneutische Konturen zu ermitteln und diese ins Gespräch mit gegenwärtigen hermeneutischen Theoriebildungen zu bringen. So wäre es möglich, aufgrund (post-)moderner Fragestellungen neue Perspektiven im Midrasch wahrzunehmen und umgekehrt eigenes Denken durch die Tradition des Midrasch in herausfordernd neuem Licht zu sehen. Deutlicher als Handelman versucht dies der 1986 erschienene und von Geoffrey H. Hartman und Sanford Budick herausgegebene Sammelband „Midrash and Literature“, der die Ergebnisse eines interdisziplinären Forschungsprojektes an der Hebräischen Universität in Jerusalem in den Jahren 1983 bis 1985 dokumentiert. Die Herausgeber betonen im Vorwort, dass im Wechselspiel von Midrasch und Literatur Ähnlichkeit („resemblance“25) entdeckt werden könne, ohne hermeneutische Identität zwischen rabbinischer Zeit und Gegenwart postulieren zu müssen. Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Midrasch und poststrukturalistischer Literaturwissenschaft könnten so erkannt werden: Gemeinsamkeiten, wie etwa die Öffnung der Interpretation durch die Wahrnehmung des Raumes, der sich zwischen dem Interpreten und dem Text ergibt, oder die Methodik eines ernsthaften, intertextuellen Spiels im Umgang mit dem Text; Differenzen, wie die grundlegende Überzeugung der Rabbinen von der Heiligkeit des biblischen Bezugstextes, die kaum eine Analogie in gegenwärtiger LiteraturbetrachDots, 23–27). Faurs Buch ist chiastisch angelegt: Die beiden ersten Kapitel führen von gegenwärtiger Theoriediskussion zur rabbinischen Tradition, die letzten beiden Kapitel beschreiten den umgekehrten Weg. Immer wieder versucht Faur – tendenziell apologetisch – zu zeigen, dass sich wesentliche Erkenntnisse moderner Literaturwissenschaft bereits im Midrasch finden (vgl. xxix u.ö.). Vgl. zur Kritik an Faur EILBERG-SCHWARTZ: When the Reader Is in the Write. 22 Vgl. FRAADE: Interpreting Midrash 2, 293. 23 Vgl. auch STERN: Moses-cide, 204; ders.: Literary Criticism or Literary Homilies, bes. 97. 24 Vgl. ähnlich STERN: Moses-cide, 202f. 25 HARTMAN/BUDICK: Introduction, x.

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tung findet.26 Entsprechend versammelt der Band sowohl Beiträge, die induktiv von einer genauen Lektüre midraschischer Texte ausgehend Charakteristika des rabbinischen (haggadischen!) Midrasch vor Augen führen,27 als auch Beiträge, die literaturwissenschaftlich ansetzen und den Midrasch eher in einem sehr weiten (tendenziell „essentialisierenden“) Verständnis in den Blick nehmen28. Das Miteinander dieser verschiedenen Herangehensweisen in einem Band bewahrt den Midrasch insgesamt vor essentialisierender Vereinnahmung, zeigt aber gleichzeitig Perspektiven des Dialogs zwischen Midrasch und Literatur(wissenschaft) auf, die zur Grundlage dessen werden, was ich als vermittelnde Modelle bezeichne und unten (10.1.3) näher ausführe. Zunächst aber sollen primär explikative Midrasch-Lektüren vorgestellt werden.

10.1.2 Primär explikative Midrasch-Lektüren Leopold Zunz’ Werk „Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden“ (1832) markierte neben seiner kleineren Schrift „Etwas über die rabbinische Literatur“ (1818) wirkmächtig den Ausgangspunkt historisch-kritischer und philologischer Beschäftigung mit rabbinischer Literatur. Es ging bei Zunz und in der Folge darum, die Texte zu sammeln und zu edieren, zu datieren und aus ihren historischen Kontexten heraus zu verstehen. Das Interesse an rabbinischer Hermeneutik war dabei schwach ausgeprägt, und auch die Formen des Midrasch wurden erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts intensiver gewürdigt (Theodor; Bacher29). In der Weiterführung „klassischer“ – und d.h. primär explikativer, auf historisches Einordnen und Verstehen ausgerichteter – Ansätze im Umgang mit dem Midrasch lassen sich in den letzten Jahren vor allem drei Tendenzen wahrnehmen: die Fortführung und Weiterentwicklung der historisch-philologischen Arbeit, die kanonischhistorische Richtung Jacob Neusners sowie die formanalytische Methode Arnold Goldbergs.

26 Vgl. HARTMAN/BUDICK: Introduction, xi; als eine Ausnahme wäre etwa an George Steiner zu denken (vgl. oben Kap. 9.3). 27 Vgl. besonders HEINEMANN: The Nature of Aggadah; KUGEL: Two Introductions to Midrash; STERN: Midrash and the Language of Exegesis; dies gegen die Kritik an dem Band durch FRAADE: Interpreting Midrash 2, 292. 28 Vgl. exemplarisch den Beitrag von Harold Fisch (FISCH: The Hermeneutic Quest in Robinson Crusoe), der Robinson Crusoe als Midrasch zur Jona-Geschichte liest und dabei davon ausgeht, dass jeder Roman so etwas wie ein Midrasch sei, weil er Neues sage und doch den Leser durch seine Erzählstruktur und seine Inhalte immer an das erinnere, was bereits gesagt sei. 29 Vgl. THEODOR: Zur Composition der aggadischen Homilien; BACHER: Die Proömien.

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(1) Die Fortführung und Weiterentwicklung der historisch-philologischen Arbeit kann etwa an dem zweibändigen, in Jerusalem entstandenen Werk Jonah Fraenkels ‫( דרכי האגדה והמדרש‬Darche ha-Aggada we-ha-Midrasch, 1996) studiert werden. Fraenkel arbeitet in den Spuren seines Lehrers Isaak Heinemann, auf dessen Werk ‫( דרכי האגדה‬Darche ha-Aggada) Fraenkel schon mit seinem Titel anspielt. Im Gegensatz zu seinem Lehrer bestimmt Fraenkel aber nicht mehr die Synagoge, sondern primär das Lehrhaus als Sitz im Leben der Haggada. Wichtiger erscheint, dass er methodisch insofern über Heinemann hinausgeht, als er den Formen des Midrasch einen eigenen Hauptteil widmet.30 Wesentlich für Fraenkels Arbeit ist gleichzeitig ihr induktiver Charakter. Ausführlich stellt er midraschische Texte vor und zeichnet anhand dieser die Methodik des Midrasch nach.31 Obwohl sein Werk in den 1990er Jahren entstand, geht er auf die neueren applikativen Ansätze zum Midrasch und zur Haggada, die hermeneutisch mit literaturwissenschaftlichen Ansätzen in Dialog treten, nicht ein.32 (2) Die kanonisch-historische Richtung wurde begründet und in ausufernd vielen, das Leitthema jeweils nur geringfügig variierenden Monographien ausgearbeitet von Jacob Neusner.33 Neusner möchte eine Midraschforschung etablieren, die weder der Gefahr der Fragmentierung noch der Gefahr der Globalisierung erliegt. Fragmentierung würde bedeuten, die Midraschwerke nur als Kompilationen zahlreicher rabbinischer Einzeldicta zu verstehen; Globalisierung hieße, den Midrasch insgesamt als Phänomen in den Blick nehmen zu wollen und dabei die spezifischen Texte zu verlieren. Stattdessen richtet er seinen Blick auf die mittlere Ebene der vorliegenden Midraschwerke, d.h. auf die Kompositionen.34 Diese versucht er, aus ihrem soziokulturellen und historischen Hintergrund sowie redaktionsgeschichtlich aus ihrer Stellung im mit der Mischna beginnenden Kanon rabbinischer Literatur heraus zu verstehen. Sicherlich beleuchtet Neusner damit eine notwendige Perspektive. Problematisch erscheint allerdings Neusners Verabsolutierung seines Zugangs, die u.a. dadurch entsteht, dass er meint, einen „neutralen“ Ansatz ohne Vorverständnis oder leitende Interessen zu bieten.35 Gleichzeitig reduziert er die Komplexität der Wahr30

Vgl. zur Erläuterung und Begründung dieser methodischen Verschiebung FRAENKEL: Darche ha-Aggada, 557–560. 31 Dies erkennt Fraenkel als die große Chance einer hebräischsprachigen Midraschwissenschaft, vgl. FRAENKEL: Darche ha-Aggada, 561. 32 Fraenkels Forschungsüberblick endet – nach einer ausführlichen Darstellung Isaak Heinemanns – mit Saul Liebermans „Hellenism in Jewish Palestine“ (1950); vgl. FRAENKEL: Darche haAggada, 533–561.712–725 (Anm.). – Ebenfalls primär der historisch-philologischen Richtung zuzuordnen scheinen mir die Arbeiten von David Weiss Halivni. Wie Fraenkel geht auch er von einem „close reading of rabbinic texts“ aus (WEISS HALIVNI: Peshat and Derash, vi). Im Unterschied zu Fraenkel liegt sein wesentliches Interesse dann allerdings darin, historische Zusammenhänge und Entwicklungen aufzuzeigen (vgl. OCHS: Talmudic scholarship, und dazu WEISS HALIVNI: Response). 33 Peter J. Tomson verweist auf die mehr als 800 (!) Monographien Neusners und bezeichnet diesen (nicht höflich, aber durchaus berechtigt) als „den amerikanischen Polygraphen“ (vgl. TOMSON: Rez. zu: Neusner: The Theology of the Halakhah, 1281). 34 Vgl. grundlegend NEUSNER: Midrash as Literature. 35 Vgl. NEUSNER: Hermeneutics and the Judaism Beyond the Text, bes. 40.

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nehmung des Midrasch immer wieder auf binäre Oppositionen. U.a. betont er, dass es entweder um die Betrachtung der Midraschwerke als Kompilation oder als Komposition gehe. Sein Ansatz lässt nur noch den Blick auf die Komposition zu, weswegen nicht mehr die einzelnen rabbinischen Dicta in den Blick zu nehmen seien, sondern nur noch die Ebene des Werkes. Gleichzeitig hält er daran fest, dass in den Midraschim entweder ein Thema dargelegt oder Exegese betrieben werde; die herausfordernde Interaktion von thematisch-propositionalem Diskurs und Exegese – wie sie die midraschischen Kompositionsformen durchgehend prägt – kommt nicht mehr in den Blick.36 Nicht zuletzt erscheint an Neusners Sicht problematisch, dass seine Analyse auf der Ebene der Redaktion nicht selten zu thematischen Abstraktionen führt, die die konkreten Texte aus dem Blick verlieren.37 (3) Arnold Goldberg entwickelte eine „formanalytische Methode für die Exegese der rabbinischen Traditionsliteratur“.38 Im Gegensatz zu Neusner erscheinen bei Goldberg die einzelnen „Texteinheiten“, nicht etwa die Sammelwerke, als „die eigentlichen Kommunikate“ in der rabbinischen Literatur.39 Dabei unterscheidet Goldberg „Grundformen“, also „jede Form […], die als kleinste literarische Einheit nicht weiter reduziert werden kann“40, und „Formen höherer Ordnung“, die sich aus der bewussten Zusammenstellung einzelner Grundformen ergeben (etwa die Peticha)41. Für diese Formen sucht Goldberg nach einer „descriptive[n] Terminologie“42 sowie nach Wegen der Beschreibung ihrer Funktion. Zu unterscheiden ist der Ansatz von einer klassischen Form- bzw. Gattungsgeschichte insofern, als nicht der Sitz im Leben, sondern vielmehr der „Sitz in der Literatur oder in der Sprache“ zum Ausgangspunkt wird.43 Im Blick auf die rabbinische Literatur lehrt Goldberg die genaue Wahrnehmung der kleinen und kleinsten Einheiten. So kommt auch der Midrasch zunächst als „Midrashsatz“ in den Blick, d.h. als eine Form, in der ein Lemma über eine hermeneutische Operation mit einem Diktum verbunden wird.44 Die Problematik des Ansatzes Goldbergs und seiner Realisierung in der Goldberg-Schule liegt m.E. darin,

36 Vgl. nur exemplarisch folgenden Satz Neusners: „The framers of Leviticus Rabbah treat topics, not particular verses“ (NEUSNER: The Scriptures of the Oral Torah, 210). 37 Vgl. zur Kritik an Neusners Ansatz z.B. FRAADE: Interpreting Midrash 1, bes. 185–191; LENHARD: Die rabbinische Homilie, 75–89; STERN: Parables in Midrash, 152f u.v.a. 38 Vgl. GOLDBERG: Entwurf einer formanalytischen Methode [zuerst 1977]. 39 GOLDBERG: Der verschriftete Sprechakt, 9. Selbstverständlich nimmt Goldberg aber in seinen Forschungen auch die Sammelwerke wahr; vgl. nur GOLDBERG: Distributive und kompositive Formen. 40 GOLDBERG: Entwurf einer formanalytischen Methode, 58. 41 Vgl. GOLDBERG: Entwurf einer formanalytischen Methode, 61. 42 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit etwa GOLDBERG: Zitat und Citem; ders.: Questem, u.ö. 43 GOLDBERG: Entwurf einer formanalytischen Methode, 50. Ähnlich wie Goldberg konzentrieren sich auch Addison G. Wright sowie Renée Bloch bei ihren Überlegungen zum Midrasch auf die literarische Gattung, nicht auf einen Sitz im Leben (vgl. WRIGHT: The Literary Genre, bes. 67; BLOCH: Midrash; ders.: Methodological Note). Demgegenüber hält z.B. Roger LeDéaut die Frage nach dem Sitz im Leben für unerlässlich (vgl. LEDÉAUT: Apropos a Definition, bes. 273.281f). 44 „Definition: Midrashsätze sind (abgeschlossene) Texteinheiten, die ein Lemma der Offenbarungsschrift auslegen mit der Tiefenstruktur des Satzes ‚L‘ bedeutet ‚D‘ (bei Verwendung der Operation ‚D‘).“ (GOLDBERG: Midrashsatz, 113; vgl. ders.: Die funktionale Form Midrasch).

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dass angesichts der Gewichtung der Form der Inhalt aus dem Blick zu geraten droht – und mit ihm seine sozio-kulturellen und historischen Voraussetzungen.

Wurden die beiden Probleme der applikativen Midraschdeutungen als Essentialisierung einerseits und anti-historische Naivität andererseits bestimmt, so bleiben auch die primär explikativen Wege der Midraschforschung nicht unproblematisch: (1) Zum einen droht bei jeder historischphilologisch detaillierten Lektüre eine Diversifizierung, die das Phänomen „Midrasch“ aus dem Blick verliert – und etwa nur noch von einzelnen Midraschwerken (Neusner) bzw. von einzelnen Formen des Midrasch (Goldberg) reden kann. Trotz aller feststellbarer Differenzen aber ist beim rabbinischen Midrasch auch von einem wechselseitig aufeinander bezogenen Netz von Texten auszugehen, die aufgrund vergleichbarer theologischer Voraussetzungen (die sich erst in der Wende zum jüdischen Mittelalter verändern), sozio-kultureller Rahmenbedingungen und Zielsetzungen entstanden sind. Einen „Midrasch-Verlust“ kann es also auch in bewusst explikativ orientierter Forschung geben. (2) Das zweite hier zu benennende Problem lässt sich überspitzt als hermeneutische Naivität bezeichnen, die besonders bei Neusner klar zu Tage tritt und die sich als Ausblendung dessen, was Bultmann „Vorverständnis“ genannt hätte, zeigt. Die Illusion objektiver und interessenloser Wissenschaft, die den Midrasch liest, wie er eben gemeint sei und selbst verstanden werden wolle, abstrahiert von dem je subjektiven Engagement des Wissenschaftlers, das seine Lesung immer mitbestimmt.45

10.1.3 Vermittelnde Modelle Aufgrund einer Rezension David Sterns zu Susan Handelmans Buch „The Slayers of Moses“ entspann sich eine literarische Kontroverse zwischen beiden. Im Kontext dieser Auseinandersetzung schlägt David Stern eine Symbiose zwischen neueren literaturwissenschaftlichen und älteren, vor allem historisch-philologisch ausgerichteten Methoden des Midrasch-Studiums vor.46 Sein Buch „Midrash and Theory“ (1996) kann als eine Bestandsaufnahme der neuen Wege der Midraschforschung im Kontext literaturwissenschaftlicher Theorie und als exemplarische Durchführung dieses symbiotischen Weges gelesen werden. Immer gehe es darum, so Stern im Vorwort, 45 Vgl. ähnlich HANDELMAN: Fragments of the Rock. Vor allem Weiss Halivni ist von dieser Kritik auf jeden Fall auszunehmen, da er sein eigenes Vorverständnis intensiv reflektiert und in die Forschungen einbezieht (vgl. z.B. WEISS HALIVNI: Peshat and Derash, 18–20.89–99). 46 Vgl. STERN: Literary Criticism or Literary Homilies, 98; vgl. zur Stern/Handelman-Kontroverse STERN: Moses-cide; HANDELMAN: Fragments of the Rock.

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einen Weg des Ausgleichs zu finden, „that is both responsible and responsive, true to the literary integrity of classical Jewish literature and yet open to our desire for this literature to mean something to us.“47 Das grundlegende Problem eines rein applikativen Zugangs zum Midrasch beschreibt Stern so, dass durch den dicken Mantel der literaturwissenschaftlichen Theorie der Text des Midrasch begraben zu werden drohe.48 Methodisch müssten daher die Texte immer den Ausgangspunkt bilden, nicht eine Abstraktion, die über die Texte des Midrasch gelegt werde.49 Diesen Weg führt Stern dann auch in allen seinen Arbeiten vor Augen – etwa dort, wo er in seinem Buch „Midrash and Theory“ ausführlich auf einzelne Formen des Midrasch eingeht50 oder die Erkenntnisse seines Buches „Parables in Midrash“ (1991) auf die genaue Lektüre der 24 Gleichnisse aus EkhaR gründet.51 Die Folgen, die sich aus dieser Methodik der Wechselseitigkeit ergeben, erscheinen für die Betrachtung des Midrasch und seiner Hermeneutik wichtig. Ich deute sie nur an zwei Beispielen an: (1) Hatten literaturwissenschaftlich orientierte Rezeptionen des Midrasch häufig dessen voraussetzungsloses Spiel mit dem Text betont, so legt Stern Wert auf den theologischen und sozio-kulturellen Kontext, in dem midraschische Auslegung ihren Ort findet. Die theologische Voraussetzung bezeichnet Stern immer wieder als grundlegende „Ideologie“ des Midrasch (oben habe ich sie als apriorische Tora-Erwartung der Rabbinen näher bestimmt).52 Gleichzeitig ist die midraschische Auslegung eingebettet in die Diskussionsgemeinschaft der Rabbinen einerseits, in das Judentum rabbinischer Zeit andererseits.53 Stern betont zu Recht, dass der Midrasch weder die Autonomie des Textes noch die Autonomie der Textrezipienten kenne. Vielmehr sei von dem theonom gebundenen Text und von dem an die Auslegungsgemeinschaft gebundenen Leser auszugehen. In einem ernsthaften Spiel nehme dieser Leser neue Bedeutungen wahr und begebe sich so auf den Weg in den Text.54 (2) Auf diesem Hintergrund wird für Stern auch der – in literaturwissenschaftlichen Midraschtheorien oft bemühte – Begriff der „indeterminacy“ (Unbestimmtheit; Un47

STERN: Midrash and Theory, 2; vgl. insg. 1–13.95–97 (Anm.) [Introduction. The MidrashTheory Connection]. 48 „[…] burying the text under a heavy coat of literary theory“ – STERN: Vajikra Rabbah, 26. 49 Vgl. STERN: Moses-cide, 204: „Before the Rabbis can instruct us, it may be necessary to study them lishmah, as they would say, for their own sake.“ [Hervorhebung im Original]. 50 Vgl. vor allem die beiden mittleren Kapitel des Buches STERN: Midrash and Theory, 39– 54.103–106 (Anm.) [Forms of Midrash I: Parables of Interpretation], und 55–71.107–109 (Anm.) [Forms of Midrash II: Homily and the Language of Exegesis]. Beide Kapitel gehen in Grundzügen zurück auf STERN: Midrash and the Language of Exegesis. 51 Vgl. STERN: Parables in Midrash, 2f. 52 Vgl. STERN: Art. Midrash, 616.619; vgl. auch ders.: Parables in Midrash, 102 u.ö., und vgl. oben Kap. 3.2, bes. 72–74. 53 Vgl. z.B. STERN: Parables in Midrash, 179f; vgl. auch GREEN: Romancing the Tome, bes. 164. 54 Vgl. STERN: Moses-cide, 203.

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gewissheit; Offenheit) des Midrasch fraglich.55 Midrasch könne nicht einfach als Gegenmodell gegen griechisch-abendländischen Logozentrismus verstanden werden, wie dies etwa Susan Handelman versuche. Dennoch aber zeigt Stern, dass die Idee der Pluralität der Auslegung gegen jede Festlegung auf den einen Sinn ein wesentliches Kennzeichen des Midrasch ausmache. Die Rabbinen sähen nach der Zerstörung des Tempels in der Tora einen Weg zur Gestaltung der Beziehung von Gott und Mensch. Daher sei die nicht endende Beschäftigung mit der Tora von grundlegender Bedeutung, nicht aber das Finden der Auslegung, die dann tendenziell den Text auch hinter sich lassen könnte. Weil die Wege in den Text in dieser Hinsicht nicht völlig unbestimmt, sondern theologisch klar konturiert erscheinen, zieht Stern den Begriff der „polysemy“ gegenüber dem Begriff der „indeterminacy“ vor.56

Als vermittelnde Modelle könnten m.E. auch die Ansätze von Steven D. Fraade und Daniel Boyarin bezeichnet werden. Fraade führt ein kulturhistorisch profiliertes „close reading“ rabbinischer Texte vor Augen;57 Boyarin macht die Reflexionsebene der „Intertextualität“ stark und zeigt, dass der Midrasch als Ergebnis der Interaktion eines rabbinischen Lesers mit einem herausfordernden Text gesehen werden kann, der für ihn göttlichen Ursprungs und daher normativ war.58 Sowohl der Text der Schrift als auch der „Text“ apriorischer Tora-Erwartung werden als generierende Momente der intertextuellen Dynamik des Midrasch verstanden. Insgesamt beleuchtet Boyarin das Phänomen der Intertextualität in seinem Buch „Intertextuality and the Reading of Midrash“ auf drei Ebenen: der Ebene des biblischen Textes, der Ebene des Midrasch sowie der Ebene der Interaktion des Lesers mit dem Text. Auf der Ebene der Schrift zeigt sich, dass diese selbst durch ihre Unbestimmtheitsstellen („gaps“) zur Interpretation herausfordere. Im Unterschied zur modernen historisch-kritischen Schule versuchten die Rabbinen keine Zerlegung des Textes der Schrift in einzelne Quellen und Schichten zur Erklärung der „gaps“, sondern füllten die Lücken durch andere Stellen der Schrift aus („gap filling“).59 Es entstünden so auf der Ebene des Midrasch intertextuelle Lesungen in verschiedenen Formen, die Boyarin anhand konkreter Textbeispiele aus MekhY vor Augen führt (paradigmatisch; 55

Vgl. zu einem neueren Versuch, midraschische Hermeneutik als Quelle einer „Hermeneutics of Indeterminacy“ zu bestimmen DOUGLAS-KLOTZ: Midrash and Postmodern Inquiry. 56 Vgl. STERN: Midrash and Theory, 15–38.98–103 (Anm.) [Midrash and Hermeneutics. Polysemy vs. Indeterminacy]; ähnlich auch FRAADE: Interpreting Midrash 2, 293f; vgl. auch oben Kap. 3.2.2.2. 57 Vgl. FRAADE: From Tradition to Commentary. In diesem Buch geht er von einem rabbinischen Text (SifDev) aus, den er historisch und hermeneutisch in den Blick nimmt und so einen „double-dialogue“ zwischen der Welt des Textes und der Welt des Lesers gestaltet (14 [im Original hervorgehoben]). Vgl. dazu auch unten Kap 11.3.1. 58 Vgl. BOYARIN: Intertextuality, 5; vgl. insgesamt zur methodischen Grundlegung 1–21.131– 134 (Anm.) [Toward a New Theory of Midrash], und dazu JAFFEE: The Hermeneutical Model. 59 Vgl. BOYARIN: Intertextuality, 39–56.139–142 (Anm.) [Textual Heterogenity in the Torah and the Dialectic of the Mekilta: The Midrash vs. Source Criticism as Reading Strategies].

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syntagmatisch;60 als Maschal;61 als „dual sign“62 …). Schließlich ergeben sich daraus auf der Ebene der Interaktion des Lesers mit dem Text Leseerfahrungen im Wechselspiel von eigenem Lebens-„Text“ und dem Text der Schrift, die Boyarin als Wiederherstellung einer „original experience of revelation“63 bezeichnet.

10.2 Folgerungen Was folgt aus diesem kurzen, ordnenden Überblick über die gegenwärtige Midrasch-Forschung? Marianne Grohmann stellt fest: „Es ist ein Problem jeder Theorie des Midrasch – und insbesondere aus christlicher Perspektive –, daß sich die Vielgestaltigkeit von Midrasch-Texten prinzipiell jedem analytischen Diskurs widersetzt.“64 Grohmann beschreibt dann die Vorzüge sowohl historisch-kritischer Arbeiten am Midrasch, die „bei kritischen Ansätzen in der rabbinischen Literatur selbst ansetzen und der Vielfalt von Einzeltexten besser gerecht werden“ können, als auch die Vorzüge einer eher literaturwissenschaftlichen Methodik, der es gelinge, „die hermeneutischen Strukturen des Midrasch besser zum Ausdruck“ zu bringen.65 Leitendes Ziel der folgenden Ausführungen muss eine Begegnung, ein Dialog zwischen gegenwärtigen Fragestellungen und Wahrnehmungen im rabbinischen Midrasch sein, wie er in den vermittelnden Modellen eines David Stern oder Daniel Boyarin angedeutet wird. Epistemologisch bedeutet dies die Notwendigkeit, immer wieder auf midraschische Texte selbst zurückzugehen und dabei auf keinen Fall nur deren Inhalte wahrzunehmen, sondern auch die (mit Goldberg) „Grundformen“ und „Formen höherer Ordnung“ in den Midraschim. Auf der Basis der Texte kann dann weiter nach hermeneutischen Grundlagen des Midrasch und nach ihrer Analogiefähigkeit zu gegenwärtigen Diskursen gefragt werden. In den folgenden Kapiteln dieser Arbeit werden daher Peticha und Chatima (Kap. 14) sowie das rabbinische Gleichnis (Maschal und Nimschal; Kap. 12) näher beleuchtet. Aber auch die Überlegungen zu Hermeneutik, Methodik und Prag60

Paradigmatisches Zitieren meint (im Anschluss an Michael Riffaterre) eine Verbindung von Schriftstellen, die insgesamt eine Aussage umkreisen und intertextuell profilieren. Syntagmatisch ist ein Zitieren dann, wenn verschiedene Verse in eine narrative Struktur eingetragen werden, sodass dadurch eine neue Struktur entsteht (vgl. BOYARIN: Intertextuality, 26–33). 61 Vgl. BOYARIN: Intertextuality, 80–92.149f (Anm.) [Interpreting in Ordinary Language: The Mashal as Intertext]. 62 Vgl. BOYARIN: Intertextuality, 57–79.142–148 (Anm.) [Dual Signs, Ambiguity, and the Dialectic of Intertextual Readings]. Unter „dual sign“ versteht Boyarin eine Aussage, die in zwei Richtungen verstanden werden kann und von den Rabbinen nicht meta-kommunikativ als solche mitgeteilt, sondern als Spannung im Midrasch selbst entfaltet wird. 63 BOYARIN: Intertextuality, 110 [Hervorhebung im Original]. 64 GROHMANN: Aneignung der Schrift, 125. 65 GROHMANN: Aneignung der Schrift, 125.

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matik des Midrasch (Kap. 11) sowie zu Haggada und Halacha (Kap. 13) werden sich immer wieder auf einzelne Texte stützen. Methodisch erscheint mir besonders der Ansatz Boyarins bei der Intertextualität des Midrasch weiterführend. Dieser verbindet sich mit der ausgehend von Nicol eröffneten intertextuellen Perspektive auf die homiletische Hermeneutik, wodurch sich ein tertium andeutet, das die Diskurse um den Midrasch und die Predigt zu verbinden in der Lage ist und in den folgenden Überlegungen zu einer Predigt als Kon-Textualisierung entfaltet werden soll.

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11. Midrasch – Perspektiven zu Hermeneutik, Methodik und Pragmatik homiletischer Textlektüre

Ich blicke in diesem Kapitel zunächst nicht auf einzelne Formen oder Redegattungen innerhalb der Midraschim, sondern gehe allgemeiner von der Hermeneutik, Methodik und Pragmatik einer midraschischen Textlektüre aus und setze diese mit homiletischer Textlektüre in Beziehung. Hermeneutik: In einem ersten Schritt charakterisiere ich midraschische Hermeneutik als eine Hermeneutik der „Kon-Textualisierung“, die den gegebenen Text der schriftlichen Tora mit eigenen Texten in ein Wechselspiel bringt. Auch (Text-)Predigt kann als Kon-Textualisierung des biblischen Textes verstanden werden. Auf diesem Hintergrund scheint es mir möglich, das Problem von Textbändigung und Textverlust in der Predigt (vgl. oben Kap. 9) neu in den Blick zu nehmen (11.1). Methodik: Mit der Formel „slow and responsive reading“ bestimme ich midraschische Textlektüre in methodischer Hinsicht. Es handelt sich um ein Lesen, das dem Text langsam folgt und den Bewegungen des Textes antwortet. Auf dieser Grundlage werden Umrisse eines christlich-homiletischen slow and responsive reading konturiert. Eine Analogie aus dem Bereich der bildenden Kunst (Giorgio Morandi) und eine Lektüre zweier lyrischer Texte (Exner; Lavant) dienen der weiteren Profilierung des Erarbeiteten (11.2). Pragmatik: Das Ziel einer midraschischen Textlektüre kann mit dem rabbinischen Begriff „Talmud Tora“ (Tora-Lernen und Tora-Lehre) ausgedrückt werden. Der Begriff soll auf seine Verwendung in rabbinischer Zeit und seine Wiederaufnahme im 20. Jahrhundert befragt und anschließend auf eine Predigtpraxis, deren Ziel als Lesen-Lernen bestimmt wird, bezogen werden (11.3).

11.1 Predigt als Kon-Textualisierung: Zur Hermeneutik einer homiletischen Textlektüre im Kontext des Midrasch 11.1.1 Kon-Textualisierung im rabbinischen Midrasch Gary G. Porton definiert Midrasch als eine „Literaturgattung“, „die in direkter Beziehung zu einem festgelegten kanonischen Text steht“ und diesen 289 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

Text kommentierend erweitert.1 Aus der skripturalen Hermeneutik folgt ein kon-textualisierender Umgang mit dem Text des Tanach im rabbinischen Midrasch. Welche Voraussetzungen diese Kon-Textualisierung hat und zu welchen hermeneutischen Grundlegungen sie führt, zeige ich im Folgenden auf.

11.1.1.1 Die Konzeptualisierung des Textes als graphisches Zeichen göttlichen Ursprungs Wenn rabbinischer Midrasch als Kon-Textualisierung bestimmt werden soll, ist zunächst näher zu klären, wie die rabbinischen Ausleger den Text konzeptualisierten. Arnold Goldberg betont, dass die Rabbinen diesen als ein „Schriftstück“ göttlichen Ursprungs betrachteten, das einst von Mose aufgeschrieben und seither genauso weitergegeben wurde.2 Da es sich bei diesem „Schriftstück“ um einen unpunktierten Text handelt, liege zunächst nicht mehr als „eine Reihe graphischer Zeichen“ vor.3 Edmond Jabès, der französische Dichter, formuliert: „In Wirklichkeit gibt es [im Hebräischen, AD] kein Wort. Es gibt nur Konsonanten, die darauf warten, Wort zu werden.“4 Der Konsonantentext bildet den Ausgangspunkt jedes Lesens. Die Differenzen, die sich durch unterschiedliche Punktierung des einen Konsonantentextes ergeben, erscheinen für die rabbinischen Ausleger gewichtig. Ich verweise nur exemplarisch auf die Lesung von Jes 40,1. :%‫יכ‬‫ה‬‫ל‬‫ר א‬‫אמ‬‫י י‬‫מּ‬‫מוּ ע‬‫ח‬‫מוּ נ‬‫ח‬‫ – נ‬aufgrund der masoretischen Punktation ist zu lesen: „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott“. Anstatt ‫י‬‫מּ‬‫„( ע‬mein Volk“) könnte vom Konsonantenbestand her auch ‫י‬‫מּ‬‫ ע‬gelesen werden („mit mir“), womit sich die Übersetzung „Tröstet, tröstet mit mir, spricht euer Gott“ ergäbe. Nach Überzeugung der rabbinischen Ausleger muss nicht gefragt werden, welche Lesung als die eigentlich richtige gelten könne. Gott selbst als verantwortlicher Autor der Schrift müsse gewollt haben, dass man so oder so liest; die zweite Art der Lesung erweitere daher die erste. Im Miteinander beider ergibt sich der Satz: „Tröstet, tröstet mit mir mein Volk, spricht euer Gott“. Diese Erweiterung der Lesung bedeutet weit mehr als ein bloßes Spiel mit der Vokalisierung eines Wortes. Vielmehr verändert sich durch die zweifache Lesung die Aussage des Verses: Gott erscheint nicht als derjenige, der

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PORTON: Midrasch, 134 [Hervorhebung AD]; vgl. ähnlich BLOCH: Midrash, 31f. Vgl. GOLDBERG: Die Schrift der rabbinischen Schriftausleger, 233f, Zitat: 234; vgl. auch STEMBERGER: Hebräisch als ideale Sprache. 3 GOLDBERG: Die Schrift der rabbinischen Schriftausleger, 238; vgl. auch SARASON: Interpreting Rabbinic Biblical Interpretation, 137; EILBERG-SCHWARTZ: Who’s Kidding Whom, bes. 778. 4 JABÈS: Eine vorrangige Lektüre. Gespräch mit Marcel COHEN, in: ders.: Die Schrift der Wüste, 47–55, Zitat: 48. 2

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lediglich (distanziert) zum Trost aufruft, sondern als der, der aktiv teilhat am Trost des Volkes und sich in eine Gemeinschaft der Tröstenden begibt.5

Die Rabbinen betrachten nicht nur den Konsonantentext in seinen Vokalisierungsmöglichkeiten genau; sie nehmen sich auch die Freiheit, den Text zu fragmentieren und die einzelnen Buchstaben zu befragen und zu interpretieren. Howard Eilberg-Schwartz spricht anschaulich von einer rabbinischen Molekulartheorie der Worte. Die einzelnen Konsonantenzeichen seien mit Atomen zu vergleichen, die in der Schrift zu Worten – den Molekülen vergleichbar – kombiniert werden. Daher auch mache für die Rabbinen die Frage nach Neukombinationen Sinn – etwa dort, wo erkannt wird, dass die Wendung ‫א‬‫ר‬‫בּ‬‫( בּה‬als sie geschaffen wurden) in Gen 2,4a die gleichen Konsonanten enthält wie die Wendung ‫( באברה‬mit/durch Abraham). Diese Überlegung könnte als sinnlose Spielerei mit dem Buchstabenmaterial der Tora angesehen werden. Für die Rabbinen aber verbindet sich damit eine gewichtige theologische Erkenntnis: Sie folgern, dass die ganze Welt allein um Abrahams willen geschaffen wurde, und verbinden so bereits durch die Auslegung von Gen 2,4a die universale Schöpfungserzählung mit der auf die Geschichte Israels zulaufenden Vätererzählung.6 Besonders deutlich zeigt sich die Wertschätzung der Sprache in ihren einzelnen „Atomen“ auch zu Beginn des Midrasch Tanchuma in der Auslegung von Gen 1,1. „Es ist in ihr [der Tora, AD] geschrieben: ‚Und ihr sollt nicht entheiligen [‫]תחללו‬ meinen heiligen Namen‘ [Lev 22,32], wenn man aus dem ‫ ח‬ein ‫ ה‬macht, verwüstet man die Welt [aus entheiligen würde loben (‫)תהללו‬, AD]. ‚Alles, was Odem hat, lobe [‫ ]תהלל‬den HERRN‘ [Ps 150,6]. Wenn man aus dem ‫ ה‬ein ‫ ח‬macht, verwüstet man die Welt [aus loben würde entheiligen, AD]. Und entsprechend: ‚Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR ist einer‘ [Dtn 6,4]. Wenn man aus dem ‫ ד‬ein ‫ר‬ macht, verwüstet man die Welt [aus ‚der HERR ist einer/‫ ‘אחד‬würde ‚der HERR ist ein anderer/‫‘אחר‬, AD], denn es ist gesagt: ‚Bete nicht einen anderen Gott an [Ex 34,14; ‫ר‬‫ח‬‫ל א‬‫]א‬.‘“7

Die rabbinischen Ausleger gehen von den graphischen Zeichen des Konsonantentextes aus und lesen daher die Schrift nicht nur als Mitteilung über eine durch sie erkennbare empirische Wirklichkeit oder historische Vergangenheit. Es geht nicht um eine Aussage hinter der Schrift (dies wäre der meta-skripturale Ansatz), nicht darum, was zur Zeit der Väter, des Auszugs aus Ägypten, der Wüstenwanderung oder der Könige einst geschah, sondern 5 Vgl. GOLDBERG: Die Schrift der rabbinischen Schriftausleger, 159–161 (mit Bezug auf PesR 28.30). 6 Vgl. EILBERG-SCHWARTZ: Who’s Kidding Whom, bes. 769–776; vgl. zu dem zitierten Beispiel 773. 7 Tan Bereschit 1.

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um die Schrift als sprachliche Welt, in die sich der Interpret mit seiner Deutung einfindet (skripturale Hermeneutik)8 und die „als immer mit dem Ausleger synchron“ und gleichzeitig als „in sich selbst synchron“ verstanden wird.9 Eine intertextuelle Lesart der Schrift, die jedes Zeichen mit jedem anderen Zeichen verbinden und „die Schrift […] aus der Schrift“ deuten kann, ist die unmittelbare Folge.10 Da die Schrift zugleich als der Kommunikant gesehen wird, in dem Gottes Wort und Weisung für die jeweilige Generation gefunden werden kann (apriorische Tora-Erwartung), ist die Verschiedenheit der Interpretationen, die „Polysemie der Schrift […] vorgesehen“11. Die Schrift mit ihrer exakt bestimmten und begrenzten Quantität graphischer Zeichen ist im Blick auf die Auslegung unausschöpflich.12 Nur ein Beispiel für eine rabbinische intertextuelle Lektüre, die von einer genauen Lesung der graphischen Zeichen der Schrift ausgeht, sei angeführt. Im hebräischen Text des akrostichischen Psalms 145 ist der ‫נ‬-Vers zwischen V.13 und V.14 ausgefallen. Textkritisch lässt er sich aber u.a. aus der LXX rekonstruieren13 – eine Methode, die den Rabbinen freilich nicht zugänglich war. R. Jochanan verweist daher auf Am 5,2, einen mit ‫ נ‬beginnenden Vers, in dem sich eine der härtesten Aussagen des gesamten Tanach zum Schicksal Israels findet: „Gefallen ist, nicht steht mehr auf die Jungfrau Israel […; ‫ל‬‫א‬‫שׂר‬‫ת י‬‫ בּתוּל‬%‫י* קוּ‬‫ס‬‫אתו‬‫ה ל‬‫פל‬‫“]נ‬. Aus dem Erschrecken über diesen Vers – so R. Jochanan – sei der entsprechende ‫נ‬-Vers in Ps 145 entfallen. Gleichzeitig bietet – so R. Nachman bar Jizchaq – der auf den fehlenden ‫נ‬-Vers folgende ‫ס‬-Vers eine unmittelbare Aufnahme des Wortes „fallen“ (‫)נפל‬ aus dem Amostext: „Der HERR hält alle, die da fallen […]“ (Ps 145,14). Im Dialog zwischen Ps 145 und Am 5 entdeckt die midraschische Auslegung so eine Perspektive der Hoffnung für das „gefallene“ Volk.14

Wenn die rabbinischen Ausleger den Konsonantentext verschieden punktieren, im Sinne einer Molekulartheorie der hebräischen Worte neu zusammensetzen und intertextuell mit weiteren Texten der Schrift verbinden, so lässt sich natürlich fragen, wo die Grenze eines solchen Umgangs mit der Schrift gesucht werden muss. Kann je nach Belieben des Auslegers alles aus der Schrift herausgelesen werden? Bereits in rabbinischer Zeit wurde diese Frage diskutiert. So sieht etwa Rabbi Jischmael in den Auslegungen seines rabbinischen Kollegen Eliezer ben Hyrkan eine Grenze überschritten und 8 Vgl. GOLDBERG: Die Schrift der rabbinischen Schriftausleger, 230f. Vgl. zur Unterscheidung skripturaler und meta-skripturaler Hermeneutik oben Kap. 4.3; Kap. 5.5. 9 GOLDBERG: Die Schrift der rabbinischen Schriftausleger, 232. 10 GOLDBERG: Die Schrift der rabbinischen Schriftausleger, 232; vgl. auch GELHARD: Spuren des Sagens, 37–60; NEUSNER: Intertextuality in Judaism. 11 GOLDBERG: Die Schrift der rabbinischen Schriftausleger, 240. 12 Vgl. GOLDBERG: Die Schrift der rabbinischen Schriftausleger, 240; vgl. dazu auch DAN: Art. Sprache, bes. 761f; FISHBANE: The Garments of Torah, 38; ders.: Inner Biblical Exegesis. 13 Vgl. KRAUS: Psalmen, 2. Teilband, 947. 14 Vgl. bBer 4b; eine Interpretation dazu findet sich bei KUGEL: Two Introductions, 77f.

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kritisiert seine Auslegung mit den Worten: „Siehe, du sagst zum Schrifttext: Sei still, bis ich dich auslege.“15 Auch R. Akiva wird in der rabbinischen Literatur teilweise für eine Auslegung kritisiert, die den biblischen Text allzu minutiös zerlege, auf einzelne Details befrage und dabei den Zusammenhang aus dem Blick verliere. Jischmael und Akiva – sowie ihre Schulen – wurden daher von späteren Interpreten nicht selten als hermeneutische Opponenten gesehen. Besonders Abraham J. Heschel zeichnete in seinem zweibändigen Werk „Theology of Ancient Judaism“ ( ‫ )תורה מ השמי‬ein Bild der rabbinischen Schriftauslegung, das vom Gegensatz zwischen der Schule Rabbi Jischmaels einerseits und Rabbi Akivas andererseits geprägt ist. Rabbi Akiva steht dabei für die Auffassung, dass die Schrift als göttliches Wort zu sehen sei, in dem jede Nuance, jedes graphische Zeichen Bedeutung habe und interpretiert werden könne. Auch für Rabbi Jischmael ist die Schrift Wort Gottes; allerdings geht er davon aus, dass die „Sprache der Tora gemäß der Sprache der Menschen“ geschrieben wurde und entsprechend zu deuten sei. Doppelungen, problematische Schreibweisen etc. dürften daher nicht überinterpretiert werden, sondern seien als übliche Erscheinungen menschlicher Sprache zu verstehen.16 In seiner Relektüre der Quellen aus tannaitisch-amoräischer Zeit differenziert Jay M. Harris diese Fundamentalunterscheidung Heschels. Im babylonischen Talmud lasse sich kein hermeneutisches System der Unterscheidung zwischen den Schulen Akivas und Jischmaels feststellen; anders im palästinischen Talmud, der in seinen redaktionellen Stücken eine Klassifikation der Auslegung anhand der Unterscheidung beider Schulen versuche.17 Für die rabbinische Zeit erscheint die verallgemeinernde Annahme der Existenz zweier oppositioneller hermeneutischer Lager daher sicher übertrieben. Es kann aber festgehalten werden, dass es bereits in rabbinischer Zeit Stimmen gab, die die Molekulartheorie der Schrift kritisch hinterfragten. Die mittelalterliche rabbinische Reflexion verwendet die Begriffe ‫פשט‬ und ‫דרש‬, um das hier umrissene hermeneutische Problem zu lösen. Peschat steht für den „einfachen“ Wortsinn, derasch für die darüber hinausgehende, den Text in einzelne Bestandteile auflösende bzw. weitere Kontexte einbeziehende Auslegung.18 In rabbinischer Zeit findet sich diese Gegenüberstellung noch nicht. Dennoch begegnet eine der Zentralstellen für die spätere Differenzierung in bShab 63a: „Kein Schriftvers kommt aus seinem Wort-

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Sifra Tazria 13,2; hier zitiert nach STEMBERGER: Die Schriftauslegung der Rabbinen, 102. Vgl. HESCHEL: Theology of Ancient Judaism, Bd. 1, bes. XXXVII–LIX und 3–23. 17 Vgl. HARRIS: How do we know this, 25–49.274–280 (Anm.) [Midrash Halakhah and the Bavli]; 51–72.280–288 (Anm.) [Midrash and the Yerushalmi]. 18 Vgl. STEMBERGER: Midrasch, 24. 16

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laute“ (‫)אי מקרא יוצא מידי פשוטו‬.19 Der Kontext der Aussage macht deutlich, dass es bei der Betonung des einfachen Sinnes bzw. „Wortlaute[s]“ (‫ )פשוט‬in rabbinischer Zeit darum geht, die Semantik der biblischen Aussage in ihrem Kontext gegenüber den unter Umständen weit darüber hinausgehenden neuen Deutungen der Schrift nicht aus dem Blick zu verlieren.20

11.1.1.2 Die Topographie des Textes zwischen Exil und Sinai Die Schrift als graphisches Zeichen göttlichen Ursprungs wird von den rabbinischen Auslegern metaphorisch gesprochen zwischen Sinai und Exil lokalisiert, zwischen der Erfahrung der Unmittelbarkeit göttlichen Redens und der Erfahrung seiner Abwesenheit. Mit dem Ende der Prophetie erscheint nach rabbinischem Verständnis ein unvermitteltes Reden Gottes nicht mehr vorstellbar.21 Stattdessen muss Gottes Wort nun in dem (sich bis in rabbinische Zeit hinein ausdifferenzierenden) Schriftenkanon gesucht werden. In diesem finden die rabbinischen Ausleger einerseits Gottes Wort so direkt, dass die Lektüre an den Sinai versetzt (1). Andererseits ist den Rabbinen auch der Abstand zwischen den kanonischen Texten und dem göttlichen Reden bewusst (2). (1) Bereits im Dtn lässt sich eine Konzeption beobachten, die das liturgische Heute der das Wort hörenden gottesdienstlichen Gemeinschaft mit dem Heute des Redens Gottes zu seinem Volk am Sinai verbindet (vgl. Dtn 5,2f; vgl. auch den Wechsel vom Perfekt [‫ה‬‫ו‬‫ ]צ‬in Dtn 6,1 zum Partizip [-fl‫ו‬‫]מצ‬ 19 Zitiert nach GOLDSCHMIDT: Talmud Bavli, Bd. 1, 621; vgl. WEISS HALIVNI: Peshat and Derash, 25. 20 Der zitierte Satz aus bShab 63a findet sich eingebettet in ein Streitgespräch zwischen R. Kahana und Mar, dem Sohn Rabinas, in dem es um die Auslegung von Ps 45,4 geht: „Gürte dein Schwert an die Lenden, o Held, deine Hoheit und Pracht schmücke deine Hüften“ (KRAUS: Psalmen, 1. Teilband, 330; vgl. zur Übersetzung 331 Anm. e). R. Kahana deutet diesen Vers ausschließlich allegorisch und bezieht das „Schwert“ auf die Worte der Tora. Er folgt dabei einem gängigen rabbinischen Verständnis von Ps 45, das diesen auf die Toralesung deutet, und bezieht damit zugleich in der halachischen Frage danach, ob es erlaubt sei, Waffen zum Schmuck zu tragen, negativ Stellung. Strittig ist in der rabbinischen Diskussion, ob der Vers auch ganz konkret auf das Tragen von Waffen als Schmuckgegenstand bezogen werden kann. Dafür tritt Mar ein und betont, dass durch die allegorische Auslegung der „einfache Sinn“ nicht aufgehoben werde: „Kein Schriftvers kommt aus seinem Wortlaute.“ Vgl. zum Verständnis des Begriffs peschat in rabbinischer Zeit auch STEMBERGER: Die Schriftauslegung der Rabbinen, 82; WEISS HALIVNI: Peshat and Derash, bes. vii.10; ders.: Plain Sense and Applied Meaning. 21 Vgl. zum Ende der Prophetie SAFRAI: Oral Tora, 66; DORFF: Hammer on the Rock, 517f; vgl. auch oben Kap. 8.1.2, 225 Anm. 19. Dabei nimmt das rabbinische Judentum sicher nur eine Bewegung auf, die mit dem Prozess der Kanonisierung der Heiligen Schrift schon lange vor der Entstehung der rabbinischen Bewegung angelegt war (vgl. dazu z.B. FISHBANE: From Scribalism to Rabbinism).

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in Dtn 6,6).22 Rabbinischer Midrasch kann an solche Aussagen anknüpfen und das Lesen und Lernen der Tora mit der Sinai-Erfahrung eines unmittelbaren Redens Gottes verbinden. So betont der Midrasch in der Auslegung zu Dtn 11,22, dass das Lernen der Tora als gleichbedeutend mit einem Aufstieg auf den Berg Sinai gesehen werden könne. Es heißt in SifDev § 49: „Hange den Gelehrten [den Tora-Lehrern, AD23] an und ihren Schülern, und ich [gemeint: Gott, AD] rechne es dir an, wie wenn du in die Höhe hinauf gestiegen wärest und empfangen hättest.“24 Die Voraussetzung dafür, dass das Studium der Tora dem Hören des Gotteswortes am Sinai entspricht, erkennt der Midrasch an anderer Stelle darin, dass jedes Wort Gottes am Sinai von Gottes Hand wie ein Blitz ausgegangen sei, das Lager der Israeliten umrundet habe und dann in den Stein eingeschrieben worden sei.25 Michael Fishbane hält diese Überzeugung von der Identität von Gottes Wort und dem Buchstaben der Tora für grundlegend und schreibt: „The written law is thus an extension of divine speech – and not merely its inscriptional trace. This identification of God’s utterance and Torah is the hermeneutical core of Judaism. Midrash works out the details.“26 Auch der Midrasch zum Hohenlied verbindet das Feuer des Bergs der Offenbarung mit der Lesung und Deutung der Tora. Von Ben Azai wird erzählt, er habe Deraschot gehalten (‫)היה יושב ודורש‬, bei denen ihn Feuer umgab. Auf Nachfrage erklärte er dazu, er reihe Worte des Tanach aneinander und komme von der Tora auf die Propheten und von den Propheten auf die Schriften, und die Worte freuten sich wie damals, als sie vom Sinai gegeben wurden (‫ כנתינת‬%‫ שמחי‬%‫והיו הדברי‬ ‫)מסני‬.27 Die intertextuelle Verbindung der drei Teile des Kanons erscheint als Grundlage des Sinai-Ereignisses in der Auslegung der Schrift.28 Ausgangspunkt dieser Deutung ist das Wort %‫י‬‫רוּז‬‫( ח‬Perlenschnüre) aus Hhld 1,10, das der Midrasch auf die intertextuelle Verknüpfung (‫ חרז‬q.= aufreihen) von Tora, Nebiim und Ketubim deutet und mit dem Lesen und Lernen verbindet: Es geschehe, wenn die Lesenden die Worte der Tora aneinanderreihen und mit den Worten der Propheten und Schriften verbinden, „dass das Feuer um sie herum lodert […]“29.

(2) Doch rabbinischer Midrasch kennt keineswegs nur die Sinai-Dimension des Lesens. Auch Lesen, das um die Gottesferne weiß, Lesen im Exil ist ihm vertraut. Die ersten Tafeln, „beschrieben von dem Finger Gottes“ (Ex 31,18; vgl. Ex 32,16), zerbrach Mose, als er das Goldene Kalb sah (vgl. Ex 22

Besonders deutlich findet sich dieses Denken dann auch in Ps 95,7–11 (vgl. KRAUS: Psalmen, 2. Teilband, 662). 23 Vgl. BIETENHARD: Der tannaitische Midrasch Sifre Deuteronomium, 183 Anm. 10. 24 BIETENHARD: Der tannaitische Midrasch Sifre Deuteronomium, 183f. 25 Vgl. SifDev § 343, IX. 26 FISHBANE: „Orally Write […]“, 532; vgl. ders.: The Exegetical Imagination, 9–21.187–189 (Anm.) [Midrash and the Nature of Scripture]. 27 ShirR zu 1,10; vgl. dazu FISHBANE: „Orally Write […]“, 542, und vgl. insgesamt zum Sinai in rabbinischer Auslegung KAMINSKY: Paradise Regained. 28 Vgl. BOYARIN: Intertextuality, 109f; ders.: The Eye in the Torah, 22f. 29 ShirR zu 1,10. Vgl. auch FISHBANE: „Orally Write […]“, 535.

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32,19). Für die rabbinischen Schriftausleger, die mit dieser Eigenmächtigkeit Moses im Umgang mit den göttlichen Tafeln ihre Probleme hatten, war es Gott selbst, der sein Wort zurückzog, als sich sein Volk durch die Anbetung des Goldenen Kalbes von ihm distanzierte. So erläutert R. Esra im Namen des R. Jehuda, des Sohnes des R. Simon: „Die Tafeln hatten ein Gewicht von vierzig Sea und die Schrift hielt sie hoch. Als die Schrift [beim Anblick des Goldenen Kalbes, AD] davonflog, waren sie den Händen Moses zu schwer; sie fielen hinunter und zerbrachen.“30 Die zweiten Tafeln wurden dann von Mose, dem Mittler, nicht mehr von Gott selbst geschrieben (vgl. Ex 34,1).31 Eine Direktheit des Redens Gottes – wie es sich am Sinai ereignete – erscheint erst eschatologisch wieder denkbar.32 Bis dahin aber bleibt das Wort der Tora von dem direkten Reden Gottes unterschieden und folglich menschlichem Verstehen eine Grenze gesetzt.33 Die Rabbinen erkennen in dieser exilischen Situation die Notwendigkeit, gleichzeitig aber auch die Freiheit zur Interpretation: Gott redet nicht mehr unmittelbar, sondern hat sein vieldeutiges Wort den Menschen zur Auslegung (zum Midrasch) gegeben.34 Mit der Betonung der Freiheit der Auslegung durch den Rückzug Gottes in sein Wort endet auch der große Pentateuchkommentar Raschis, was spätere Ausleger oft verwunderte. Raschi kommentiert den letzten Vers des Pentateuch (Dtn 34,12: ‫ל‬‫א‬‫שׂר‬‫לי‬‫י כּ‬‫ינ‬‫ה לע‬‫שׂ‬‫ר ע‬‫שׁ‬‫ל א‬‫דו‬‫גּ‬‫א ה‬‫ר‬‫מּו‬‫ל ה‬‫ה וּלכ‬‫ק‬‫ז‬‫ח‬‫ד ה‬‫יּ‬‫ל ה‬‫ )וּלכ‬wie folgt: „Und für die ganze starke Hand, dass er [Mose, AD] die Lehre auf den Tafeln mit seinen Händen aufnahm. Und für die ganze grosse Erscheinung, die Wunder und mächtigen Taten in der grossen und furchtbaren Wüste. Vor den Augen von ganz Israel, dass ihm sein Herz den Mut gab, die Tafeln vor ihren Augen zu zerbrechen, wie es heisst (9,17), und ich zerbrach sie vor euren Augen; und der Heilige, gelobt sei Er, stimmte seiner Meinung zu, so heisst es (Exod. 34,1), die du zerbrochen, Dank sei dir, dass du sie zerbrochen hast […]“35. Grundlage der exegetischen Verbindung von Dtn 34,12 mit dem Zerbrechen der Tafeln ist die Wendung „vor den Augen von ganz Israel“ (‫ל‬‫א‬‫שׂר‬‫לי‬‫י כּ‬‫ינ‬‫ )לע‬aus Dtn 34,12, die an die Worte „vor euren Augen“ 30

STEMBERGER: Narrative Theologie, 157. Vgl. dazu STEMBERGER: Narrative Theologie, 157f; FISHBANE: „Orally write […]“, 545f. 32 Vgl. ShirR zu 1,2. 33 Vgl. hierzu nur bMen 29b – die berühmte Erzählung von Mose auf dem Berg Sinai und im Lehrhaus R. Akivas –, deren beide Teile in ein göttliches Schweigegebot münden („Schweig – so habe ich’s beschlossen!“) und so die Grenze des Verstehens markieren (vgl. dazu oben Kap. 3.2.2.1, 77f, und zur Struktur dieser Erzählung LENHARDT/OSTEN-SACKEN: Rabbi Akiva, 322f). 34 Vgl. dazu bBM 59a.b – die Erzählung vom Streit über die Verunreinigungsfähigkeit des sogenannten „Schlangenofens“, die unter Verweis auf Dtn 30,12 (‫וא‬‫ ה‬‫י‬‫מ‬‫שּׁ‬‫א ב‬‫ )ל‬in die entschiedene Betonung der Freiheit der Auslegung gegenüber jedem Rekurs auf die Einmischung einer Himmelsstimme mündet (vgl. dazu oben Kap. 3.2.2.2, 82, und BOYARIN: Intertextuality, 33– 37). 35 Raschis Pentateuch-Kommentar: 608 [Hervorhebungen im Original] – mit Verweis auf SifDev § 357 zu Dtn 34,12 sowie bShab 87a. 31

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(%‫יכ‬‫ינ‬‫ )לע‬erinnert, die sich in Dtn 9,17 finden und dort auf das Zerbrechen der Tafeln bezogen sind. Der ungarische Chassid Rabbi Chajim Elazar Shapira von Munkatcz schreibt ausgehend von Raschis Interpretation, dass das Zerbrechen der Tafeln deshalb so bedeutsam gewesen sei, da es ohne dieses keine Tora-Auslegung gebraucht hätte. Alles wäre als direktes Gotteswort zu lesen und verstehen gewesen. Auch verweist er darauf, dass gematrisch die Worte ‫תּ‬‫ר‬‫בּ‬‫שּׁ‬‫„( שׁ‬die du zerbrochen hast“) und %‫י‬‫ה‬‫ל‬‫א א‬‫ר‬‫ית בּ‬‫אשׁ‬‫( בּר‬Gen 1,1) den gleichen Zahlenwert aufweisen (nämlich 1202). Durch das Zerbrechen der Tafeln sei – der Schöpfung gleich – ein Anfang gesetzt worden. Israel wurde gewürdigt, durch die Auslegung der Tora am Entstehen der Tora beteiligt zu sein.36

Beide Aspekte der Topographie des Textes, Exil und Sinai, erscheinen keineswegs als paradoxes Entweder-Oder, sondern als wechselseitige Voraussetzung. Die Exilssituation der Schrift fordert die Interpretation heraus und wird zur nicht endenden Quelle neuen Suchens und Fragens in der Schrift, zur Voraussetzung midraschischer Aktivität. Würde dieses ständige Umwenden der Schrift (vgl. mAv 5,22) aber nicht auch zur Sinai-Erfahrung führen, so verlöre das Suchen seine generierende Energie. Die Anhänglichkeit an den Text im Exil rechnet damit, dass sich dieser Text immer wieder als Tora erweist. Diese Tora-Erfahrung führt zu neuer Tora-Erwartung – ein nicht endender Kreislauf des Midrasch.37

36

Vgl. MAGID: The Brokenness (and Sacrality) of Human Voice, 2. Das Stichwort Anhänglichkeit an den Text im Exil lässt es geboten erscheinen, an dieser Stelle kurz an Elie Wiesel zu erinnern (geb. 1912 in Sighet; vgl. zur Biographie das zweibändige Werk WIESEL: Alle Flüsse fließen ins Meer; ders.: … und das Meer wird nicht voll). Nach dem Zerbruch seines kindlichen und traditionellen Gottesglaubens in Auschwitz, den Wiesel in seinem Werk „La nuit“ (Die Nacht, vgl. bes. 56.92–94) eindringlich beschreibt, hält er dennoch – paradoxerweise – an Gott und an der jüdischen Tradition fest – fragend, zweifelnd und klagend. Es ist eine Anhänglichkeit an den Text des Tanach und die Texte der jüdischen Tradition, die an den nächtlichen Jakobskampf am Jabbok erinnert und an den trotzigen Satz Jakobs: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“ (Gen 32,27b). Emil L. Fackenheim spricht bei Elie Wiesels Werk von einem „mad Midrash“ (FACKENHEIM: Midrashic Existence, 110), von einer „midraschischen Existenz“, die trotzig festhalte, die angesichts der Tatsache, dass es zu spät sei für das Kommen des Messias, von Hoffnung spreche und so das Ziel im Auge behalte, „to restore the world“ (112 [Hervorhebung im Original]; Fackenheim liest Wiesel hier auch im Kontext seiner eigenen Theologie nach Auschwitz, vgl. ders.: To Mend the World). – Die kurzen Andeutungen zu Wiesels „mad Midrash“ würden ein Nachdenken über einen Midrasch „nach Auschwitz“, einen Midrasch angesichts des Exils der Sprache (vgl. KERTÉSZ: Die exilierte Sprache) lohnen, das an dieser Stelle allerdings nicht weitergeführt werden kann (vgl. dazu z.B. SHERWIN: Wiesel’s Midrash; KNIGHT: Confessing Christ, sowie zu Knight unten Kap. 14.3, 514–516). 37

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11.1.1.3 Midrasch als Kon-Textualisierung – schriftliche und mündliche Tora Die Spannung zwischen Exil und Sinai bedeutet, dass der Text der Tora nicht einfach „Heilige Schrift“ ist, sondern dazu erst in der Auslegung wird. Jacob Neusner schreibt: „[…] midrash turns Scripture (the written part of revelation) into Torah.“38 Dies verhindert eine bloße Verehrung des Textes als göttliches Wort auf der einen Seite, eine distanzlose Bemächtigung des Textes durch den Interpreten andererseits. Mit Aharon R. E. Agus kann davon gesprochen werden, dass der Tora als heiliger Text nicht etwa eine fetischistische, sondern eine kommunikatorische Heiligkeit eignet;39 es geht nicht um göttliche Präsenz in einer verehrungswürdigen Schrift; vielmehr ergibt sich die auch der Schrift gegenüber dargebrachte Verehrung einzig aus der Erfahrung der Leben erschließenden und eröffnenden Kommunikation mit dem heiligen Text, aus der Kon-Textualisierung. In diesem Sinne gilt für rabbinische Schriftauslegung: „Tora locuta – causa initiata“.40 In der Auslegung des Textes, besser: in der kon-textualisierenden Partizipation am Text und seinen Worten, entsteht die Tora als heiliger Text.41 In bQid 49b findet sich eine Aussage, die als rabbinische Kurzformel für diese Torawerdung der Schrift durch den Midrasch bezeichnet werden könnte: ‫מאי תורה‬ ‫„ – מדרש תורה‬Was ist Tora? Der Midrasch der Tora.“42 Diese Erfahrung unmittelbaren Zusammenhangs von Tora und Midrasch der Tora wurde seit rabbinischer Zeit mit der Doppelformel von schriftlicher und mündlicher Tora zum Ausdruck gebracht.43 Schriftliche Tora bezeichnet dabei die im Tanach (besonders im Pentateuch) niedergelegte Offenbarung Gottes. Mit mündlicher Tora ist demgegenüber der „Komplex an Traditionen [gemeint, AD], durch welche die Bibel erst voll anwendbar und der jeweiligen Situation entsprechende göttliche Lebensregel sein kann“44. Im interpretierenden Lesen der schriftlichen Tora entsteht die 38

NEUSNER: Is not my Word like Fire, 12 [Hervorhebung im Original]. Vgl. AGUS: Heilige Texte, bes. 43–46. 40 STÖHR: Letztes Jahr in Jerusalem, 238. 41 Gerald L. Bruns betont: „[…] participating in Torah rather than operating on it at an analytic distance“ mache das Wesen des Umgangs mit dem Text durch die Rabbinen aus (BRUNS: The Hermeneutics of Midrash, 200f). 42 Lazarus Goldschmidt übersetzt: „Unter Tora ist die Auslegung der Tora zu verstehen“ (GOLDSCHMIDT: Talmud Bavli, Bd. 6, 674). 43 Vgl. zur historischen Entwicklung SCHÄFER: Das „Dogma“ von der mündlichen Tora; WEISS HALIVNI: From Midrash to Mishnah. Vgl. insgesamt auch SCHOLEM: Offenbarung und Tradition, 94–96, und oben Kap. 3.2.2.4, 86f. 44 STEMBERGER: Einleitung, 41, vgl. insg. 41–54 [Mündliche und schriftliche Tradition]; vgl. auch COHEN: The Way into Torah, 57–62; FISHBANE: Art. Hermeneutics, bes. 355. Die komplexe Frage nach dem Bezug der Terminologie mündliche und schriftliche Tora auf die Art und Weise der Überlieferung beleuchtet u.a. JAFFEE: Writing and Rabbinic Oral Tradition; ders.: A Rabbinic 39

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mündliche. Die Voraussetzung dieses Lesens lässt sich im Kontext apriorischer Tora-Erwartung wie folgt beschreiben: Einerseits fußt dieses Lesen auf der Erwartung gegenüber der Tora, dass „alles in ihr“ enthalten sei (mAv 5,22). Andererseits aber weiß der rabbinisch Lesende, dass er in der vollkommenen schriftlichen Tora immer nur unvollendet, bruchstückhaft erkennen wird. Diese eschatologische Unabgeschlossenheit bringt u.a. GenR 17,5 zum Ausdruck: „Rabbi Chanina bar Jizchaq sagt: Drei unvollendete Dinge [‫ ]נובלות‬gibt es: Die unvollendete (unreife) Form [‫]נובלת‬45 des Todes ist der Schlaf, die unvollendete (unreife) Form der Prophetie ist der Traum, die unvollendete (unreife) Form der kommenden Welt ist der Schabbat. Rabbi Avin fügt noch zwei weitere hinzu: Die unvollendete (unreife) Form des oberen Lichts [des Lichts des Himmels, AD] ist die Sonnenkugel, die unvollendete (unreife) Form der oberen Weisheit ist die Tora.“

Vollendung und Unabgeschlossenheit verbinden sich in der schriftlichen Tora, Vollendung auf Seiten des göttlichen Schreibers, Unabgeschlossenheit auf Seiten des menschlichen Rezipienten, der sich der „oberen Weisheit“ bestenfalls annähern kann. Daraus ergibt sich die bleibende Notwendigkeit, in der schriftlichen Tora zu suchen und zu forschen unterwegs zur mündlichen Tora, die auf Erden nicht abgeschlossen werden kann. Sie fließt – wie es eine bekannte Illustration im Tel Aviver „Nahum Goldmann Museum of the Jewish Diaspora“ (‫ )בית התפצות‬zeigt – wie ein mächtiger werdender Strom immer weiter, ausgehend vom Berg Sinai in eine Zukunft, die Gott selbst vorbehalten bleibt. Unterwegs bleibt immer wieder Neues (vgl. den rabbinischen Begriff des ‫ )חדוש‬zu erwarten46 – allein deshalb, weil die jeweiligen Leser zu ihrer Zeit mit anderen Augen und neuen Fragen auf die Texte zugehen. Im unabschließbaren Wechselspiel mündlicher und schriftlicher Tora zeigt sich so auch das rabbinische Crossover zwischen der Welt der rabbinischen Ausleger und dem gelesenen Text der Schrift. Midrasch als Weg in die Schrift (James Kugel) ist zugleich auch als ein Weg zwischen Schrift und Leben zu bestimmen.47 Ontology of the Written and Spoken Word. Grundlegend erarbeitet Jaffee dabei die These, dass die Bezeichnung sich nicht auf die Medien der Überlieferung, sondern auf die Art und Weise ihrer öffentlichen Weitergabe beziehe: Die schriftliche Tora sei gelesen worden, die mündliche wiederholt und so gelehrt und gelernt. 45 Das Wort ‫ נובלת‬bedeutet eigentlich unreife Frucht, im übertragenen Sinn steht es für „an inferior variety“ (JASTROW: A Dictionary, 883). Problematisch erscheint die Übersetzung Wünsches mit „Analogie“ (WÜNSCHE: Der Midrasch Bereschit Rabba, 75). 46 Vgl. bHag 3a: „[…] es ist ja nicht möglich, dass es im Lehrhaus keinen Chiddusch gibt“; vgl. zum Imperativ der Wandlung in der jüdischen Tradition etwa auch FAUR: Golden Doves with Silver Dots, 146f.201 (Anm.) [Transmission and Change]. –Vgl. zum Chiddusch auch oben Kap. 4.2.3, 117f, und unten Kap. 11.3.1. 47 KUGEL: Two Introductions, 90, beschreibt Midrasch als Einladung an den Leser, einzutreten in die begehbare Welt der Schrift („[…] it invites the reader to cross over into the enterable world

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Entscheidend scheint mir festzuhalten: Rabbinische Auslegung im Midrasch bleibt – etwa im Unterschied zum Phänomen der „rewritten Bible“ – immer explizit kommentierend auf den Text bezogen.48 In der Terminologie Saussures gilt: Die „langue“ der schriftlichen und die „parole“ der mündlichen Tora gibt es nur im Wechselspiel.49 Und im Rückblick auf das oben Erarbeitete ließe sich sagen: Ein Textverlust in der Auslegung, ein Abheben der Auslegung vom Boden der Texte, wie Martin Nicol es als Problem christlicher (homiletischer) Hermeneutik beschreibt, erscheint im Midrasch ausgeschlossen.50 Mit George Steiner lässt sich im rabbinischen Midrasch ein Weg wahrnehmen, der das Primäre nicht verdrängt; gegen Steiner und mit Hörisch ist dies allerdings ein Weg des notwendig wachsenden Sekundären, der nicht in der Illusion lebt, das Primäre durch dessen Sakralisierung gewinnen zu können.51 Gleichzeitig beschreibt die Doppelformel mündliche und schriftliche Tora einen Umgang mit der Schrift jenseits der Textbändigung. Auslegung kann nicht einfach eine schlichte Wiederholung „der“ Schriftaussage bedeuten. Bereits das Lesen verändert den (unpunktierten!) Text der Tora. Midrasch bedeutet daher immer Chiddusch. Die literaturwissenschaftlich orientierte hermeneutische Rezeption der vergangenen Jahre sah – wie gezeigt – im Midrasch ein Gegenmodell zum „Logozentrismus“ (Derrida) abendländischer Interpretation. So stellte etwa Susan Handelman eine griechisch-christlich-abendländische Hermeneutik des Geistes gegen eine jüdische Hermeneutik des Buchstabens. M.E. macht die Doppelformel schriftliche und mündliche Tora deutlich, dass hier differenziert werden muss. Rabbinische Schriftauslegung bezieht sich in der Tat ständig auf den Buchstaben der Bibel und vollzieht die griechisch-philosophische Trennung von Geist und Buchstabe, Bedeutung und Sprache nicht.52 of Scripture“). BOYARIN: Intertextuality, 129, kritisiert an dieser Bestimmung die Einseitigkeit der Richtung und spricht zu Recht von einem „crossing over“. Gleichzeitig wäre m.E. in Kugels Aussage der Terminus der „Welt der Schrift“ zu hinterfragen; zunächst geht es im Midrasch – wie gezeigt – um den Text der Schrift. 48 Zu unterscheiden wäre hiervon freilich die rabbinische Diskussion in den Talmudim, die sich zunächst auf andere rabbinische Aussagen zurückbezieht. Jay M. Harris zeigt aber, dass auch hier die Frage „How de we know this?“ und damit der midraschische Rückbezug auf den Tanach immer wieder eine entscheidende Rolle spielt (vgl. HARRIS: How do we know this, bes. 1–24.265–274 [Anm.]). Vgl. auch WEISS HALIVNI: Midrash, Mishnah, and Gemara. 49 Vgl. FISHBANE: The Exegetical Imagination, 11.18. 50 Vgl. NICOL: Fremde Botschaft Bibel, und dazu oben Kap. 9.2.4. 51 Vgl. zu Steiner und Hörisch oben Kap. 9.3. 52 José Faur beschreibt griechisch-philosophisches Sprachdenken wie folgt: „The division of knowledge established by the ‚philosophy/rhetoric‘ opposition and the subsequent victory of the former over the latter posited a new conception of meaning and language. Meaning is determined by (universal) categories of thought, independent of any (particular) language. Language is merely the means by which meaning is conveyed; ideally, language ought to be absolutely innocent and unobtrusive.“ (FAUR: Golden Doves with Silver Dots, xxvif).

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Allerdings gilt in rabbinischer Schriftauslegung keineswegs der bloße Buchstabe. Bereits die Lesung verändert den Buchstaben – und erst recht die Art und Weise rabbinischen Umgangs mit dem Text auf dem Weg zur mündlichen Tora. Es geht daher im Midrasch nicht um den Buchstaben anstelle des Geistes, sondern um eine Auslegung im Kontext skripturaler Hermeneutik. José Faur charakterisiert eine solche Hermeneutik als Wechselbeziehung von Text und Bedeutung und schreibt: „[…] meaning, signification, etc., are inseparable from text. […] meaning is a function of text“53. Auslegung wird – kürzer formuliert – zur beständigen Kon-Textualisierung.

11.1.2 Predigt als Kon-Textualisierung Wäre – so frage ich – Predigt als Kon-Textualisierung ein mögliches Leitwort (christlich-)homiletischer Hermeneutik?54 Ich meine, diese Frage bejahen zu können und stelle im Folgenden dar, wie diese Formel die oben (Kap. 9) eröffnete Perspektive einer homiletischen Textbefreiung jenseits von Textbändigung und Textverlust weiter konturieren (11.1.2.1) und auch das teilweise schwierig gewordene Miteinander von Exegese und Homiletik befruchten könnte (11.1.2.2). 11.1.2.1 Kon-Textualisierung wider Textbändigung und Textverlust Textbändigung und Textverlust ergeben sich als Probleme dort, wo Hermeneutik meta-skriptural konzipiert wird, d.h. wo Texte der Schrift in ihrem („eigentlichen“) Sinn verstanden und dann nur noch als Beleg für die so ermittelte Aussage zitiert (Textbändigung) oder gänzlich weggelassen werden (Textverlust). Drei Varianten dieser Meta-Skripturalität scheinen mir in der Predigtpraxis verbreitet:55 • Die dogmatische Variante könnte sich etwa auf Luthers Formel „Nihil nisi Christus praedicandus“56 stützen und das Christusereignis, die befreiende Botschaft des Evangeliums, als eigentliche Aussage aller Texte der Schrift behaupten. Auch ein Rekurs auf die „Mitte der Schrift“57 im 53

FAUR: Golden Doves with Silver Dots, xxvii. Mein Begriff einer Predigt als Kon-Textualisierung berührt sich mit STRÜBIND: Was hat die Predigt mit dem Bibeltext zu tun, 95.114–116, der davon spricht, dass die Predigt zum „Kon-Text“ des Bibelwortes werden müsse, nicht etwa zum „Gegentext“ oder zu einem gänzlich neuen Text. 55 Vgl. zum Folgenden auch oben Kap. 1.1.1, 26f. 56 WA 16, 113, 7f. 57 Vgl. zu einer Diskussion dieses Begriffs in alttestamentlicher Perspektive BÜTTNER: Das Alte Testament. 54

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Evangelium, in der frohen Botschaft evangelischer Freiheit o.ä. wäre denkbar. So sehr solche Bestimmungen als hermeneutische Fundamentalaussagen auf einer theologischen Reflexionsebene berechtigt und notwendig sind, werden sie in homiletischer Hinsicht dann problematisch, wenn die Predigtrede die grundlegend bekannte dogmatische Aussage nur geringfügig variierend wiederholt, ohne auf die Besonderheit des jeweiligen Textes und die kommunikative Situation Rücksicht zu nehmen.58 • Die zweite Variante könnte als exegetische bezeichnet werden. Durch die exegetische Arbeit am Text sieht man die Möglichkeit, diesen sachgemäß zu verstehen und die Bedeutung des Textes zu erkennen. Ist diese Bedeutung einmal erkannt, kann der Text selbst in den Hintergrund treten und seine Botschaft applizierend mit der Gegenwart ins Gespräch gebracht werden.59 • Die dritte Variante nenne ich die assoziative; vielleicht ist sie die häufigste in der gegenwärtigen Kanzelrede. Ohne expliziten dogmatischen oder exegetischen Anspruch werden eines oder mehrere Stichworte des biblischen Textes („Gerechtigkeit“; „Reich Gottes“ …) aufgenommen und in applikativer Perspektive und ohne Rücksicht auf die eigentümliche Bewegung dieses biblischen Textes entfaltet. Gerd Theißen beschreibt dies 1997 als „das heimliche Predigtmodell unserer Zeit […]: Man problematisiert am Anfang ein wenig den Text. Der stammt ja aus einem sehr alten Buch; und heute sind die Verhältnisse ganz anders. Dann läßt man sich vom Text ein Stichwort geben, um in die Gegenwart zu springen. Der Text wird nicht sehr ernst genommen.“60 Alle drei Ausprägungen teilen das Problem eines Form-Inhalt-Dualismus, das bereits oben als grundlegendes Problem meta-skripturaler Hermeneutik bestimmt wurde.61 Sie gehen davon aus, jenseits der konkreten Sprachform des Textes, jenseits seiner Textualität, zu einer Textaussage kommen zu können.62 Freilich wäre es falsch, das berechtigte Anliegen eines solchen meta-skripturalen Ansatzes zu übersehen. Im Kern versuchen die drei ge58

Vgl. dazu auch unten Kap. 12.1.1, 360–362. Eine ähnliche Problembeschreibung findet sich bei CRADDOCK: Overhearing, 56–61. 60 THEISSEN: Über homiletische Killerparolen, 187. Als Hintergrund dieses Modells kann – mit Ulrich Wilckens – die wechselseitige Entfernung von Exegese und Predigt seit den 1960er Jahren bestimmt werden. In dem Maße, in dem sich die Exegese von einer theologischen Ausrichtung ihrer Disziplin löste, bedienten sich Pfarrerinnen und Pfarrer immer weniger der Exegese für ihre praktische Arbeit (vgl. WILCKENS: Schriftauslegung, 14–16). 61 Vgl. oben Kap. 5.5, 156–158; vgl. zu diesem Problem in homiletischer Perspektive NICOL: Einander ins Bild setzen, 25f. 62 Vgl. zu dem textlinguistischen Begriff der „Textualität“ WISCHMEYER: Hermeneutik, 175– 184. 59

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nannten Spielarten, die Predigt als Menschen der Gegenwart angehende Verkündigung zu gestalten und nicht lediglich einen biblischen Text zu wiederholen. Gerhard Ebeling etwa erkennt die Aufgabe der Predigt darin, „den Text wieder Gottes Wort werden zu lassen“, ihn „als Wort zu interpretieren“, keineswegs aber darin, ihn lediglich als geschehene Verkündigung zu wiederholen.63 So sehr dieses Anliegen berechtigt ist, droht doch die Predigt zur Wiederholung des längst Bekannten zu werden, wenn nicht die herausfordernde Fremdheit des biblischen Textes auf dem Weg der Predigtvorbereitung und während der Predigt selbst Neues entdecken lässt – analog zum ‫ חדוש‬im rabbinischen Midrasch. Darüber hinaus erscheint mir das Problem einer Überforderung von Predigerinnen und Predigern nicht gering einzuschätzen. Predigt als Verkündigung, „praedicatio verbi Dei“ als „verbum Dei“ – Formeln wie diese setzen einen hohen Anspruch. So fordert z.B. der späte Karl Barth: „Die Predigt reflektiert nicht, räsonniert nicht, disputiert nicht, doziert nicht. Sie verkündigt, ruft, ladet ein, gebietet.“64 Die Rolle des Predigers/der Predigerin wird bei einer solchen Bestimmung von Predigt tendenziell prophetisch, wie sich teilweise bei Karl Barth65, besonders aber in den neueren Schriften von Manfred Josuttis studieren lässt: „Wer auf der Kanzel das Wort ergreift, soll vom Geist Gottes ergriffen werden, um das Wort Gottes in diesem Augenblick zur Sprache zu bringen.“66 M.E. wird sich das Selbstbewusstsein der Predigenden angesichts solchen Anspruchs irgendwo zwischen superbia und desperatio bewegen. Auch in neueren ästhetisch orientierten homiletischen Reflexionen wird der Anspruch an die Predigenden selten ermäßigt. Im Gegenteil bemüht sich Homiletik nach der ästhetischen Wende darum, die Predigt nicht länger als (durchaus machbaren) Vortrag über Wahrheiten des Glaubens oder Aussagen der Schrift zu konzipieren, sondern bewusst als „Ereignis“ zu bestimmen. So formuliert Martin Nicol, es gehe in der Predigt nicht darum, „über die Dinge [zu, AD] reden, sondern [zu, AD] machen, dass die Dinge selbst geschehen (to make things happen)“67, oder exemplarisch: „nicht über das Trösten zu reden, sondern zu trösten“68. Aufgrund der Wahrnehmungen im rabbinischen Midrasch ließe sich – einen Satz Leo Baecks variierend – entlastend formulieren: Auf die Pro63

EBELING: Wort Gottes und Hermeneutik, 345 [Hervorhebung im Original]. BARTH: KD IV/3, 996. 65 Vgl. BARTH: Die Gemeindemäßigkeit der Predigt, 198, wo Barth den Prediger „auf den Berg des Wortes Gottes“ stellt und von dort aus – und das heißt dann: „senkrecht von oben“ (199 [Hervorhebung im Original]) – mit der Gemeinde kommunizieren lässt. 66 JOSUTTIS: Die Einführung in das Leben, 114. 67 NICOL: Einander ins Bild setzen, 32. 68 NICOL: Einander ins Bild setzen, 55 [Hervorhebung im Original]. Vgl. ähnlich bereits EBELING: Dogmatik, 218. 64

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pheten folgen die Leser.69 Der Text als Mitspieler nicht nur auf dem Weg zur Predigt, sondern auch in der Predigtrede selbst befreit von der Verantwortung, als Predigerin oder Prediger mehr tun zu müssen, als kon-textualisierend den Text zu lesen und ihn so zu „erweitern“. Es ginge dann nicht darum, Eigentliches auf der Grundlage des Textes zu sagen (und den Text dadurch zu verbrauchen und zu verlieren70), sondern darum, den Text ins Spiel zu bringen, ihn zu „zerdehnen“71 – aufgrund der Erwartung der Predigerinnen und Prediger sowie der Gemeinde an diesen Text. Es ginge bei einer skripturalen Predigt als Kon-Textualisierung um das, was Jürgen Ebach im Lernen von rabbinischer Schriftauslegung als „eine Bibelauslegung und -hermeneutik“ bezeichnet, „die den Sinn der Texte nicht hinter ihnen sucht, sondern in ihnen, in ihren Worten und Buchstaben“72. Es ginge um eine Anhänglichkeit an den Text, die diesen nicht loslässt, sondern lesend an ihm bleibt und vielleicht mit ihm ringt, wie Jakob mit seinem Gegenüber in der Nacht am Jabbok: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“ (Gen 32,27b). Oder kurz gesagt: Es ginge bei der Predigt um eine Relektüre mit der Gemeinde statt um eine Weitergabe ermittelter Textaussagen an die Gemeinde.73 Johannes Anderegg führte 1998 zwischen der Sprache des Alltags und der Sprache der Poesie den Begriff eines „tentativen Reden[s]“ ein, der eine homiletische Sprache der kon-textualisierenden Predigt m.E. präzise benennen kann. Anderegg schreibt, es gehe um ein Reden, „das keineswegs aus dem Anspruch entsteht, zu sagen, was ein poetischer Text meint; ein Reden, das um eine andere, eben um die poetische Sprache kreist, das sie aber nicht ersetzen, sondern erkunden will und das also in erster Linie ein Fragen ist. Wenn ich einem Freund oder einer Freundin erklären will, weshalb mich Verse von Kohelet bewegen, rede ich nicht so, daß sich die Lektüre Kohelets erübrigt. Ich versuche so zu reden, daß sich unser beider Aufmerksamkeit auf den Text richtet […]. Ich versuche anzudeuten, in welche Richtung mich der Text bewegt […]. Es ist ein vorsichtiges und ein vorläufiges Reden, das uns in der Erwartung zum Text zurückkehren läßt, er mache bisher nicht Wahrgenommenes wahrnehmbar. Nichts von dem, was so beredet wird, läßt sich schwarz auf weiß, als Resultat, nach Hause nehmen. Es

69 Vgl. BAECK: Griechische und jüdische Predigt, 152: „[…] auf die Seher und Sehergenossen folgen die Prediger“ – so Baeck im Blick auf den Umgang mit dem biblischen Text in einer Zeit nach dem Ende der Prophetie. Vgl. auch LUX: „Die ungepredigte Bibel“, 543: „So tut der Prediger gut daran, zuweilen den Mantel der Propheten mit dem Mantel der Weisen zu tauschen.“ Vgl. auch ders.: „… und auf die Seher […]“. 70 Vgl. auch GRÖZINGER: Toleranz und Leidenschaft, 120. 71 Vgl. BOHREN: Predigtlehre, 140f. 72 EBACH: Gott im Wort, VII. 73 Eine Beschreibung der Predigt als Relektüre haben Patrick J. Willson und Beverly Roberts Gaventa unternommen (WILLSON/GAVENTA: Preaching as the Re-reading of Scripture).

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ist ein Reden der Annäherung, das sich nachzeichnend und nachtastend, immer wieder selbst in Frage stellt: ein tentatives Reden.“74

Anderegg betont die „Erwartung“ an den Text als Voraussetzung solchen „tentative[n] Reden[s]“. Im Blick auf das rabbinische Judentum habe ich den Begriff einer apriorischen Tora-Erwartung eingeführt und damit das bezeichnet, was den immer neuen hermeneutischen Prozess in Gang hält. Auch Predigt als Kon-Textualisierung wird ohne eine vergleichbare Erwartung nicht auskommen, die sich analog als apriorische Wort Gottes- bzw. Kanon-Erwartung bezeichnen ließe. Apriorische Kanon-Erwartung rechnet damit, dass sich ausgerechnet diese als Bibel Alten und Neuen Testaments gesammelten Texte immer neu als Wort der Verkündigung für die Gegenwart erweisen. Eine solche Kanon-Erwartung freilich scheint es weder in der modernen noch in der postmodernen Situation leicht zu haben. Vielmehr prägt der Begriff der „Dekanonisierung“ die Diskussion und mit ihm die grundlegende Hinterfragung jedweder Kanonskonstrukte.75 Sicherlich bedeuten moderne und postmoderne Dekanonisierung für die Homiletik auch eine Chance; die Chance nämlich, neu auf die Texte in ihrer Widerständigkeit geworfen zu werden. Dekanonisierung verwehrt die einfache Wiederholung einer kirchlichen oder persönlichen Gewohnheitstheologie unter gleichzeitiger Absicherung dieser Theologie durch einzelne, ihres kritisch-herausfordernden Potentials beraubte Bibelzitate (Textbändigung). Gleichzeitig aber führt Dekanonisierung für die Homiletik zu dem Problem, die Erwartung an den und den „Respekt“ vor dem Text (im Sinne eines Barthschen „respicere“76) zu verlieren. Der biblische Text stünde dann in der Gefahr, als irgendein Text unter anderen gesehen und zum toten Gegenüber zu werden. Wird er nur noch als menschliches, historisches Wort konzipiert, so führt dies im Kontext einer „modernen“ Hermeneutik dazu, dass die Frage danach prekär wird, was jener alte Text, der einst in eine spezifische Situation redete, mit der Gegenwart zu tun haben solle. In „postmoderner“ Hermeneutik hingegen droht der Text im Meer der unzähligen anderen 74

ANDEREGG: Über die Sprache im Alltag, 377; vgl. zur Aufnahme in homiletischer Perspektive GRÖZINGER: Toleranz und Leidenschaft, 228–230. Grözinger kritisiert, dass der Text bei Anderegg zu stark das Reden bestimme und dominiere. Auf die Predigt bezogen gehe es – nach Grözinger – vielmehr um eine sprachlich direkte Verbindung von Gottesgeschichte und Menschengeschichte. Weder die Sprache der Behauptung noch die Sprache der Indifferenz, sondern die Sprache der „Anmutung“ (230) sei dafür hilfreich. Das Problem bei Grözingers Kritik scheint mir nun aber präzise darin zu liegen, dass er mit seinen Überlegungen zur Sprache der „Anmutung“ die Frage nach deren Bezug zum biblischen Text nicht reflektiert. Die Sprache der „Anmutung“ liegt daher auf einer grundlegend anderen Ebene als Andereggs „tentatives Reden“, das ein Reden in Annäherung an einen vorgegebenen Text beschreibt und eben deshalb für eine Predigt als KonTextualisierung treffend scheint. 75 Vgl. oben Kap. 1.1.1, 28f. 76 Vgl. BARTH: Homiletik, 59f, und oben Kap. 9.2.1, 261.

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Texte zu versinken, und postmoderne Dekanonisierung erwiese sich als „traurige Theorie“, da sie im unendlichen Spiel der Signifikanten nur semantisches Rauschen vernehmen und nicht mehr mit dem Wort Gottes rechnen kann.77 Christian Möller hat das, was ich als Kanon-Erwartung bezeichne, in Anlehnung an Luther mit dem Begriff der Sakramentalität des Wortes umschrieben.78 Wie das Sakrament nicht machbar ist, sondern – mit Friedrich Mildenberger – als Zeit verstanden werden kann, in die Gott einlässt,79 so machen auch Predigerinnen und Prediger aus dem Text der Schrift nicht das Wort Gottes. Vielmehr eröffnen sie mit dem biblischen Wort und ihrer eigenen Sprache einen Raum, in dem Gottes Wort – „ubi et quando visum est Deo“ (CA V) – gehört werden wird. Predigt hätte dann – Martin Nicols Aussage kritisch aufnehmend – nicht die Aufgabe, über den Trost zu reden, und auch nicht die Aufgabe zu trösten, sondern durch Kon-Textualisierung einen Sprachraum des Trostes zu eröffnen.80 Bleibt man in der Analogie des Sakraments, so gilt weiter: Nur das gefeierte, nicht das theoretisch besprochene oder verstandene Sakrament wirkt. Das bedeutet homiletisch gewendet: Der Kanon wird durch die Predigt zum Kanon. Es gibt nicht den bedeutungsvollen Text auf der einen Seite und den Menschen auf der anderen Seite, dem diese Bedeutung nur noch mitgeteilt werden müsste.81 Der Kanon ist nicht (nur) die homiletische Vorgabe; er wird Kanon in der Predigt und bleibt zugleich der Predigt voraus. Auch in rabbinischem Kontext wäre die Annahme falsch, als gäbe es eine schriftliche Tora, die durch die mündliche Tora weitergeschrieben werde. Es gibt vielmehr einen Text, der im Wechselspiel von Text und Auslegung, von mündlicher und schriftlicher Tora allererst zur Tora werden kann. Es zeigt sich insgesamt: Homiletische Hermeneutik kann zwischen Kanon-Erwartung und Dekanonisierungsrealismus verortet werden. Damit kommt sie der Topographie midraschischer Hermeneutik zwischen Exil und 77

Vor allem poststrukturalistische Ansätze beschreibt Klaus-Michael Bogdal als in hermeneutischer Hinsicht „‚traurige‘ Theorien“ (BOGDAL: Kann Interpretieren Sünde sein, 141). 78 Vgl. MÖLLER: seelsorglich predigen, 10.23–29. 79 Vgl. MILDENBERGER: Kleine Predigtlehre, 17–27 [Die Zeit der Predigt]. 80 Die Metapher des Raumes wird für die homiletische Hermeneutik häufig gebraucht. Dabei lassen sich Verwendungen unterscheiden, die den Text als Raum verstehen (vgl. BARTH: Homiletik, 102; GEHRING: Schriftprinzip und Rezeptionsästhetik, 225–243; GREVEL: Der Raum des Verstehens; MÖLLER: seelsorglich predigen, 51.141), und solche, die von dem Predigtgeschehen insgesamt als Deutungsraum ausgehen (besonders WITTEKIND: Predigt als Deutungsraum; vgl. auch MÜLLER-ROSENAU: Im Zwischenraum; RAGUSE: Der Raum des Textes). Freilich ist eine strikte Trennung der beiden Richtungen nicht möglich, da auch der Text nie einfach Raum ist, sondern im Weg seiner Begehung zum Raum wird. Vgl. dazu allgemeiner BIZER: Art. Schrift, 434. 81 Vgl. auch GRÄB: Die Bibel und die Predigt, der von einem „wechselseitigen Erschließungsvorgang“ (327) zwischen den gegenwärtigen Lesern und dem Zeugnis der Bibel, zwischen „Selbstauslegung und Textauslegung“ (328) spricht.

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Sinai nahe. Der Umgang mit dem Text der Bibel steht zwischen den beiden problematischen Extremen unheiliger Bemächtigung und heiliger Distanz, wobei heilige Distanz für einen Umgang mit dem Text steht, der ihn in absoluter Unterschiedenheit von der Welt halten würde (fetischistische Heiligkeit), unheilige Bemächtigung für eine erwartungslose, nivellierend-dekanonisierende Einordnung in die übrigen Texte dieser Welt. In diesem Zwischen erscheint mir sowohl der leidenschaftliche Diskurs mit dem Text auf Augenhöhe als auch das erwartungsvolle Zutrauen zum Text möglich. Um beides wird es in einer Predigt als Kon-Textualisierung jenseits von Textbändigung und Textverlust gehen.

11.1.2.2 Kon-Textualisierung als Aufgabe von Exegese und Homiletik Es war – wie oben gezeigt – Rudolf Bohren, der zu Beginn der 1960er Jahre „die Krise der Predigt als Frage an die Exegese“ verstand.82 Er griff dabei vor allem die neutestamentliche Exegese an, die er im Zweischritt von historisch exakter Exegese und anschließender existentialer Interpretation arbeiten sah. Im ersten Schritt werde der Text „historisch-kritisch beerdigt“, dann erwarte man im zweiten Schritt das „Mirakel“ seiner existentialen Auferweckung.83 Die praktische Konsequenz sei, dass der Pfarrer im Amt „meist ganz auf die wissenschaftliche Arbeit bei der Predigtvorbereitung“ verzichte – „nicht eben zum Nutzen der Predigt“84. Bohrens Aufsatz mündet in die Forderung nach einer dezidiert theologischen Exegese jenseits des „Zwiespalt[s] zwischen historischer und theologischer Exegese“85; einer theologischen Exegese, die den Text „im Ganzen der Schrift“ sieht86 und die „Exegese als Gebet“ in Erwartung des Geistes und in Hinordnung auf die Gemeinde versteht87. Der „befristete Kirchenaustritt“ des Exegeten gehe – so Bohren – gerade an einem sachgemäßen Verstehen der Texte vorbei, da er suggeriere, man könne die Texte ungeachtet der „Gegenwart und Zukunft Christi“ lesen.88 Die Aussagen Bohrens legen ihren Finger m.E. zu Recht auf das Problem einer Trennung von Exegese und homiletischer Schriftauslegung mit der Folge einer problematischen Linearisierung in einem Nacheinander von

82

Vgl. BOHREN: Die Krise der Predigt, und dazu oben Kap. 1.1.1, 28. BOHREN: Die Krise der Predigt, 93. 84 BOHREN: Die Krise der Predigt, 90. 85 BOHREN: Die Krise der Predigt, 94. 86 BOHREN: Die Krise der Predigt, 95. 87 Vgl. BOHREN: Die Krise der Predigt, 110–115, Zitat: 113. 88 BOHREN: Die Krise der Predigt, 113. 83

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erstens exakter Exegese und zweitens homiletischer Meditation.89 Obwohl die Problembeschreibung überzeugt, kann doch Bohrens Lösung, die faktisch der Rückkehr zu einer hermeneutica sacra und einer Einordnung der Exegese in die Kategorie kirchlich-gemeindlicher bzw. geistlich-spiritueller Lektüre der Schrift entspricht, m.E. nicht einfach rezipiert werden. Ein zweifaches Problem wäre die Folge: Zum einen verlöre die Exegese ihre interdisziplinäre Anschlussfähigkeit (etwa an die Literaturwissenschaft oder die historischen Wissenschaften).90 Zum anderen verlöre kirchlicher Umgang mit der Schrift die herausfordernde Kritik, die durch eine freie, von kirchlich-kanonischer Schriftrezeption und gemeindlichem Applikationsinteresse unabhängige Exegese möglich ist (wie etwa auch durch andere dezidiert außerkirchliche Schriftrezeptionen, z.B. in der modernen Literatur91). Bohrens Modell kann als ein Dominanzmodell unter umgekehrten Vorzeichen gelesen werden. Die inkriminierte Dominanz der Exegese kehrt sich in eine Dominanz der homiletischen Schriftauslegung über die Exegese um. Im Postscript seines Aufsatzes deutet sich bei Bohren dann aber – jenseits der Einordnung der Exegese in die hermeneutica sacra kirchlicher Schriftauslegung – eine andere Lösung des exegetisch-homiletischen Problems an, die als dialogische bzw. intertextuelle bezeichnet werden könnte. Bohren fordert hier von der Exegese, sich mit der vergangenen und zukünftigen Predigt auseinanderzusetzen und sich als „Predigtkritik“ zu verstehen, wie er umgekehrt die Predigt als „Kritik der Exegese“ beschreibt.92 Ziel ist die Wiedergewinnung eines lebendigen Dialogs zwischen Exegese und Predigt, der sich von der linearen Illusion verabschiedet, wonach nur die Predigt auf die Ergebnisse der Exegese zu hören und diese applikativ zu verarbeiten habe. Die Suche nach einem solchen Dialog, der Exegese und Homiletik verbindet, erscheint bis heute als eine unerledigte Aufgabe und findet u.a. Ausdruck in Gerd Theißens „Plädoyer für ein neues Verhältnis von Exegese und Homiletik“ (2000).93 Für Theißen ist klar, dass die Exegese die Aufgabe, der Predigt ihre Inhalte aufgrund einer Ermittlung der Aussage der 89

Einen solchen klassischen Zweischritt führt etwa Otto Weber zwei Jahre vor Bohrens Aufsatz vor Augen: Webers lineares Modell sieht den „Skopus“ als Ergebnis der exegetischen Arbeit, an die sich dann die homiletische Meditation anschließen solle. An deren Ende wiederum stehe das „Thema“ der Predigtrede (vgl. WEBER: Vom Text zur Predigt, 132f; vgl. ähnlich auch KAMPHAUS: Von der Exegese zur Predigt; MARXSEN: Der Beitrag der wissenschaftlichen Exegese; SCHÜTZ: Vom Text zur Predigt). 90 Vergleichbar äußerst sich bereits RÖSSLER: Das Problem der Homiletik, 28. 91 Vgl. exemplarisch GOJNY: Biblische Spuren, 431–492, bes. 484–492, die dafür den Begriff einer „andere[n] art der Auslegung“ findet [Hervorhebung im Original]. 92 Vgl. BOHREN: Die Krise der Predigt, 115–117, Zitate: 115. 93 THEISSEN: Plaidoyer [Franz.; erweiterte Fassung von THEISSEN: Exegese und Homiletik].

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Texte vorzugeben, nicht mehr einnehmen will und kann. „Exegetischer Pluralismus“ („Le pluralisme exégétique“), eine Vielzahl von Zugängen und Entdeckungen zum Text, sei seit einigen Jahren an die Stelle einer monosemisierenden exegetischen Bedeutungssuche getreten.94 Genau dies profiliert Theißen als Chance für die Predigt, die sich durch die verschiedenen Zugänge zu vielfältigen eigenen Gestaltungen der Texte leiten lassen könne. Gleichzeitig versuche die Exegese aufzuweisen, dass diese Vielfalt nicht Beliebigkeit bedeute. Exegese suche auch danach, eine „Grammatik des biblischen Glaubens“ („Grammaire de la foi biblique“)95 zu bestimmen, die der Predigt insofern helfen könne, als sie diese vom Buchstaben des Textes befreie und eine Predigt aus der Bibel heraus, nicht nur über einzelne Texte der Bibel denkbar mache. Eine solche „Grammatik“ ermögliche – so Theißen bereits 1997 – „Variationen des Bibeltextes“ bis hin zur Predigt gegen einzelne Texte auf der Basis dieser Grammatik.96 Predigten könnten so als „intertextuelle Texte“ gesehen werden, „bezogen auf Prätexte, die in ihnen aufgenommen, reproduziert, variiert und kommentiert werden. Wir predigen im Geiste der Bibel, wenn wir die Bibel in unseren Predigten in mannigfaltiger Weise intertextuell präsent sein lassen.“97 Die Chance des „Grammatik“-Begriffs bei Theißen sehe ich darin, dass dieser einen Weg im Wechselspiel von Bindung an den Text und Freiheit zu eigener Gestaltung weist.98 Die Problematik könnte allerdings einerseits darin liegen, die Predigt erneut einseitig an die exegetische Leine zu nehmen, indem Exegese diktiert, wie genau die Grundgrammatik auszusehen habe – ohne auf das Wechselspiel von Predigt und Exegese angewiesen zu sein. Andererseits sehe ich die Gefahr, dass durch Theißens Grammatik ein homiletischer Textverlust exegetisch begründet und so der eigentlich intendierte Vorrang des Textes hintertrieben werden könnte – dann nämlich, wenn sich die ermittelte Grammatik selbst an die Stelle des Textes setzen und in der Predigt entfaltet werden würde.99 Exegetisch begründet würde die Predigt erneut vom „Boden der Texte“ abheben, wovor Martin Nicol in seinem homiletisch-hermeneutischen Hilferuf an die Exegese ausdrücklich warnt.100 Es scheint mir hilfreich, an dieser Stelle der Diskussion auf den rabbinischen Midrasch zu blicken. Dieser stellt sich als ein Sprachraum dar, der 94

Vgl. THEISSEN: Plaidoyer, 535–541, Zitat: 535. Vgl. THEISSEN: Plaidoyer, 541–547, Zitat: 541. 96 Vgl. THEISSEN: Über homiletische Killerparolen, 187–192, Zitat: 190. 97 THEISSEN: Über homiletische Killerparolen, 191. 98 Vgl. auch OEMING: Lob der Vieldeutigkeit, 144f; ähnlich EBACH: Die Bibel beginnt mit „b“. 99 Vgl. ähnlich meine Kritik an Max Kadushins Modell der Beschreibung von Haggada und Halacha, unten Kap. 13.1.3.2, 417f. 100 Vgl. NICOL: Fremde Botschaft Bibel, Zitat: 264. 95

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durch den biblischen Text eröffnet wird und in dem sich unterschiedliche Stimmen kommentierend um diesen Text lagern. Diese verschiedenen Stimmen der rabbinischen Ausleger, die sich teilweise stärker auf den peschat stützen (die Schule Rabbi Jischmaels), teilweise stärker auf den derasch (die Schule Rabbi Akivas), befinden sich miteinander im Dialog. Jede einzelne Aussage muss mit Widerspruch durch eine andere rechnen. Dem Nebeneinander der einzelnen Stimmen wird Kohärenz verliehen durch den Text, auf den sie sich allesamt beziehen.101 Keine der Stimmen behauptet, das „Wort Gottes“ ermittelt zu haben; jede aber engagiert sich in der Erwartung, dass der Text neu zur Tora werde. M.E. wäre auch das Miteinander von homiletischer Schriftauslegung und Exegese in ein solches, sich wechselseitig herausforderndes Modell einzutragen. Dies versucht auf jüdischer Seite z.B. Peter Ochs, der eine kritische und konstruktive Rolle der akademischen Exegese im Bezug auf die gemeindliche Schriftauslegung und im Rückgriff auf die Unterscheidung von peschat und derasch anvisiert.102 Peschat verbindet Ochs dabei mit dem akademischen Befragen des Textes, derasch mit der Auslegung in gemeindlichem Kontext. Letztere sei als die primäre Lektüre des Textes zu bestimmen. Der Rekurs auf den peschat habe demgegenüber eine kritische Funktion für die deraschische Auslegung in gemeindlichem Kontext und werde besonders dort bedeutungsvoll, wo der derasch sich problematisch verfestige bzw. seine Gegenwartsbedeutung verliere. In dieser Situation befrage die Wissenschaft den Text neu. Ziel dieser wissenschaftlichen Befragung sei es, „to open up levels of plain-sense study that enable local teachers to discover new ways of re-teaching Torah in response to their community’s specific needs.“103 Der Dialog zwischen Wissenschaft und Gemeinde wird von Ochs folglich als Dialog zwischen peschat und derasch verstanden, in dem das eigentliche Ziel der derasch sei, der durch die wissenschaftliche Frage nach dem peschat immer neu belebt werde.104 Übertragen auf die Frage nach Exegese und Homiletik würde dies der Exegese (mit ihrem wissenschaftlichen Ort) die Rolle zuweisen, die Lebendig101

Vgl. FRAADE: From Tradition to Commentary, 64f; STERN: Parables in Midrash, 179f. Vgl. OCHS: Behind the Mechitsa. 103 OCHS: Behind the Mechitsa, 30–34, Zitat: 32. 104 Freilich erkennt Ochs in Geschichte und Gegenwart der jüdischen Schriftauslegung eine andere, problematisch-verabsolutierende Tendenz des Umgangs mit dem peschat. Er wurde teilweise nicht als Mittel gesehen, um die Freiheit deraschischer Auslegung neu zu befruchten, sondern als die Bedeutung des Textes hypostasiert. Dies lasse sich gegenwärtig etwa in Jeschiwa-Kreisen wahrnehmen, wo die „Tora Moses vom Sinai“ als einzig möglicher peschat des Textes verstanden werde, oder umgekehrt in liberal-aufgeklärten Kreisen, die mit Verweis auf den peschat die historische Bedeutung des Textes als einzig grundlegende zu behaupten suchen (vgl. OCHS: Behind the Mechitsa, 31). Vgl. auch das peschat-Verständnis im Mittelalter und im 19. Jahrhundert und dazu oben Kap. 4.1, 107f; 5.2, 135; 5.4, 155. 102

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keit immer neuer Auslegung des Textes im gemeindlichen Kontext der Predigt gegenüber jeder Erstarrung in kirchlich-tradierte oder individuell-assoziative Gewohnheitsauslegung zu fördern.105 Exegese mit ihrem kritischverstörenden Potential hätte so die Funktion, kreative Energie für die unabschließbare Aufgabe kirchlicher Interpretation der Schrift zu liefern und – mit Joh 21,25 gesagt – das Weiterschreiben an den vielen Büchern, die die Welt nicht fassen wird, zu ermöglichen.106 Dazu ist ein Interesse der Exegese an der Predigt grundlegende Voraussetzung. Dies betonte bereits Rudolf Bohren: „Würden die Exegeten aufhören, sich nur mit ihresgleichen zu beschäftigen und zu unterhalten, würden sie aus ihrer Autarkie herauskommen und jeweils im Vollzug der Exegese zu Predigten über den betreffenden Text Stellung nehmen, wäre dies ein Gewinn für die Homiletik und gleichermaßen für die Exegese […]“107. Freilich müsste auch die Exegese damit rechnen, in einem solchen Dialog ständig herausgefordert und hinterfragt zu werden – in ihrer Methodik und ihren Ergebnissen. Sie müsste Abstand nehmen von der Meinung, sie allein könne ein sachgemäßes Verstehen der Texte leisten, und wäre genötigt, sich auf den Diskurs um immer neues Verstehen einzulassen. 105 Ähnlich erkennt auch Jürgen Ziemer eine „Verzögerungsfunktion“ exegetischer Methoden: „Sie bewahren davor, den Text vorschnell ins Allzubekannte hineinzuholen oder ihn dem vertrauten Frömmigkeitsideal anzupassen. Sie leiten an, den Text zunächst zu besehen, anstatt ihn zu vereinnahmen, ihn zu wenden, anstatt ihn zu verwenden.“ (ZIEMER: Der Text, 230). Die hier vorgestellte kritische Funktion der Exegese erinnert an Gerhard Ebelings zuerst 1950 veröffentlichten Aufsatz „Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche“. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Text würde sich lohnen, kann hier aber nicht geleistet werden. Ich deute nur einige Aspekte an: Ebeling betont, dass der Protestantismus im 19. Jahrhundert „durch die prinzipielle Entscheidung für die historisch-kritische Methode in veränderter Situation dem römischen Katholizismus gegenüber die reformatorische Entscheidung des 16. Jahrhunderts festgehalten und bekräftigt“ habe (EBELING: Die Bedeutung, 41). Er begründet diese These, indem er die historische Kritik als die „Zerschlagung aller vermeintlich die Glaubensentscheidung entbehrlich machender historischer Sicherungen“ (45) versteht. Daher lasse sie neu nach einer „Vergegenwärtigung im Sinne echt geschichtlicher, personaler Begegnung“ fragen (45). In dieser Hinsicht ist Ebeling sicherlich zuzustimmen. Allerdings ist seine Verabsolutierung der einen Methode der historischen Kritik als zeitbedingte Reaktion gegen eine die Lebendigkeit der Bibel durch dogmatische Zementierung der Schriftaussage verlierende WortGottes-Theologie zu lesen. Aus dieser kontroversen Situation erklärt sich auch die Kritiklosigkeit Ebelings der historischen Kritik gegenüber. Als einzige Methode überbewertet kann sie gerade an der Lebendigkeit der Schrift und dem sola fide der Reformation vorbeigehen, indem sie nach dem Historischen als dem gesicherten Fundament fragt und den angesichts der Schrift verunsicherten Prediger nach dem sicheren Hafen historisch-kritisch feststehender Erkenntnisse Ausschau halten lässt (vgl. zu einer Kritik an Ebeling, die vor allem auf die kontroverstheologische Problematik seines Ansatzes abhebt, auch WILCKENS: Schriftauslegung, 46–50). 106 Einen anregenden Weg in diese Richtung zeigt Heinz-Günther Schöttler mit seinen Bemerkungen zu einer offenen Predigt auf der Grundlage der „kanonstheologischen Beobachtung“, dass die Bibel in ihren Texten selbst auf Fortsetzung angelegt sei (vgl. Dtn 34,4b; Apg 1,9b; Mk 14,28b und dazu SCHÖTTLER: „Offen predigen!“). 107 BOHREN: Die Krise der Predigt, 116.

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Exegese und Predigt würden – ungeachtet ihrer unterschiedlichen primären Bezugsfelder in Wissenschaft bzw. Gemeinde – in solcher wechselseitig-dialogischer Bezogenheit aufeinander einen Beitrag zur Kon-Textualisierung des Textes leisten, die als ihrer beider Aufgabe bestimmt werden könnte.

11.2 Predigt als slow and responsive Reading: Zur Methodik einer homiletischen Textlektüre im Kontext des Midrasch Ziel des folgenden Abschnitts ist es, das mit dem Begriff einer Predigt als Kon-Textualisierung hermeneutisch Angedeutete in methodischer Hinsicht weiter zu profilieren. Ein Interesse für die Methodik midraschischer Schriftauslegung war im Zusammenhang der Wiederentdeckung des Midrasch in der Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert kaum vorhanden. Als zu groß wurde die Spannung zwischen der vormodernen, „unwissenschaftlichen“ Schriftauslegung der Rabbinen und dem, was man inzwischen als gangbare Wege der Schriftauslegung erkannt hatte, empfunden. Daran änderte sich auch im frühen 20. Jahrhundert wenig,108 sodass eine methodische Rezeption des Midrasch jenen Ansätzen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorbehalten blieb, die den Midrasch in hermeneutischer Perspektive neu wahrnehmen und nach Wegen seiner Applikation in der gegenwärtigen hermeneutischen Diskussion suchen. Im Kontext einer neuen Betonung der Textualität in literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive konnte „Midrasch“ als Methode eines neuen Lesens gesehen werden, das ich im Folgenden zusammenfassend als langsames und antwortendes Lesen bezeichne und in einen Dialog mit homiletischer Textlektüre bringe, die bereits Rudolf Bohren als „Kunst des Lesens“ bestimmt hatte.109

11.2.1 Slow and responsive reading – langsames und antwortendes Lesen Edward K. Kaplan prägte für seine Methode einer Lektüre der Texte von Abraham Joshua Heschel die Begriffe eines „careful, responsive“ und eines „slow, patient reading“.110 Heschels Texte – so Kaplans Überzeugung – seien ungeeignet für ein rasch Sinn entnehmendes Lesen. Sie stünden der Poesie näher denn der Wissenschaft und beanspruchten den Leser dement108

Vgl. allerdings die Neuansätze der Jüdischen Renaissance oben Kap. 6.2 und 6.3. BOHREN: Predigtlehre, 376. 110 KAPLAN: Holiness in Words, 21.22; vgl. auch ders.: Form and Content, 34. 109

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sprechend in seiner Zeit und Geduld (slow reading) sowie in seiner Bereitschaft, den Texten selbst zu antworten (responsive reading). Beides erscheint mir auch für die Methodik der Schriftlektüre im rabbinischen Midrasch grundlegend: Zeit und Geduld für die Wahrnehmung der Texte des Tanach einerseits, die Bereitschaft, den Texten zu antworten und so mit ihnen in Dialog zu treten andererseits. Der midraschisch Lesende wird einzelne Worte und Sätze – um ein Bild von Franz Rosenzweig aufzugreifen – eher wie Pfirsiche, nicht wie Kirschen genießen, „also nicht das nächste schon“ anfangen, „wenn er noch das vorige kaum herunter hätte, sondern jedes hübsch einzeln mit Bedacht und mit der Vorstellung: so bald gibt’s nun vielleicht keins wieder.“111 In bGit 43a heißt es: „‚Und dieser Stolperstein […] ist unter deiner Hand‘ (Jes 3,6). Kein Mensch kann die Worte der Tora verstehen, bevor er darüber gestolpert ist“112. Sicher ist für dieses rabbinische Stolpern ein genaues Hinsehen nötig, nahe am „Boden“ der Texte. Ein eilig über die Texte hinwegfliegendes Auge entgeht dem Problem des Stolperns, nimmt sich damit aber zugleich dessen Chance.113 Wollte man im Kontext des Midrasch lesen, so wäre eine lektorale „Entdeckung der Langsamkeit“114 unumgänglich, die Wiedergewinnung einer „Zeitlupenbewegung“ des Lesens, die Walter Benjamin für entscheidend hielt.115 Auch Roland Barthes versuchte in seinen Werken zu einer „Lust am Text“ hinzuführen, aus der ein langsames Lesen folgt. „[…] kommentieren“, so schreibt er einmal, bedeute den Text Stück für Stück wahrzunehmen und dann, „anstatt ihn zu versammeln, sternenförmig aufzulösen“.116 Nicht zuletzt ist etwa auch Jochen Hörisch davon überzeugt, dass nur durch das langsame, aufwendige und „auf jeden Buchstaben gleichschwebend aufmerksame Lesen“117 Neues im Text entdeckt werde. Die Andeutungen in den Zitaten von Rosenzweig bis Hörisch machen deutlich, dass selbstverständlich nicht nur im rabbinischen Midrasch ein slow and responsive reading gesucht wird, sondern überall dort, wo man nicht ein schnelles und Inhalt entnehmendes Lesen zur Norm erhebt.118 111 ROSENZWEIG: Vorwort zu Jehuda Halevi, 17. Rosenzweigs Bild ist in seinem ursprünglichen Zusammenhang auf die Gedichte Jehuda Halevis bezogen. 112 Zitiert nach STEMBERGER: Die Schriftauslegung der Rabbinen, 82. 113 Steven Kepnes beschreibt die Ästhetik der Tora als die Ästhetik einer rauen Küste, deren spezifische Schönheit darin bestehe, dass sie gerade wegen ihrer rauen Oberfläche Raum biete zur Interpretation, vgl. KEPNES: Dialog Practices, 61f. 114 Vgl. NADOLNY: Die Entdeckung der Langsamkeit. 115 Vgl. ALTER: Unentbehrliche Engel, 85f, Zitat: 86. Den Begriff einer „mikrologische[n] Aufmerksamkeit“ in Anlehnung an Walter Benjamin bringt Alex Stock für seine „Textentfaltungen“ zu Lk 15,11–32 in Anschlag (vgl. STOCK: Textentfaltungen, 13). 116 BARTHES: S/Z, 17; vgl. auch ders.: Die Lust am Text, bes. 19f. 117 HÖRISCH: Die Wut des Verstehens, 69. 118 Vgl. zu dieser letztgenannten Art des Lesens nur z.B. ZIELKE: Schneller lesen; BUZAN: Speed Reading.

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Worin liegt dann aber das Spezifische eines midraschischen slow and responsive reading? Ich erkenne es (1) in seiner Dialogizität, (2) seiner Intertextualität und (3) seiner Kreativität, führe diese Punkte im Folgenden aus und deute an, inwiefern auf dem Weg zur Predigt und in der Predigt selbst in vergleichbarer Weise dialogisch, intertextuell und kreativ gelesen werden könnte.

11.2.1.1 Die Dialogizität eines slow and responsive reading Midraschim sind Sammelwerke, in denen Schriftworte und darauf bezogene rabbinische Citeme119 gesammelt vorliegen. Sie geben den rabbinischen Dialog mit der Schrift und der Rabbinen untereinander um die Schrift wieder. Gerald L. Bruns macht diese Dialogizität zur Grundlage seiner Hermeneutik des Midrasch und schreibt: „The Torah emerges as what it is, it comes into its own, only in the dialogues it generates; and only by entering into the dialogue can one enter the Torah.“120 Es gelte daher als Imperativ midraschischen Lesens: „[…] get into the spirit of dialogue“121. Um eine Wiederentdeckung eines solchen „dialogischen Geistes“ bemüht sich gegenwärtig vor allem jene Bewegung, die im März 2000 offiziell als „Society of Textual Reasoning“ am Jewish Theological Seminary in New York etabliert wurde.122 Ausgangspunkt der Arbeit der Gesellschaft ist die Wahrnehmung, dass es zu einem Abbruch von dialogischem Austausch auf verschiedenen Ebenen gekommen sei: innerhalb der Judaistik zwischen den in modernen Bahnen arbeitenden und den sich eher postmodern orientierenden Judaisten, innerhalb des akademischen Diskurses zwischen den Historikern bzw. Philologen auf der einen Seite und den Philosophen auf der anderen Seite, innerhalb des Judentums zwischen wissenschaftlicher Judaistik und jüdischer Philosophie einerseits und den Gemeinden andererseits und nicht zuletzt innerhalb der jüdischen Gemeinden mit ihren unterschiedlichen Richtungen. „Textual Reasoning“ sieht den Weg der Lektüre von Texten – primär, aber keineswegs ausschließlich Texten der jüdischen Tradition, der schriftlichen und mündlichen Tora – als einen Weg, der angesichts der Friktionen der 119

Vgl. zum Begriff GOLDBERG: Zitat und Citem. BRUNS: The Hermeneutics of Midrash, 202. 121 BRUNS: The Hermeneutics of Midrash, 201. 122 Die Bewegung formierte sich 1991 im Kontext der „American Academy of Religion“ und trug zunächst den Namen „The Postmodern Jewish Philosophy Bitnetwork“. 1996 benannte sie sich in „Textual Reasoning“ (TR) um; vgl. dazu OCHS: Introduction, in: Textual Reasonings, 2–14. Seit dem Jahr 2000 gibt es auch „TR-deutsch“ als deutschsprachigen Ableger der amerikanischen Diskussion; vgl. www.bu.edu/mzank/tr-deutsch [Zugriff vom 12.02.2006]. 120

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Gegenwart neu zum Dialog miteinander führen kann.123 Anhand eines Aufsatzes von Robert Gibbs versuche ich, die durch „Textual Reasoning“ gesuchte Dialogizität näher zu profilieren.124 Gibbs’ Hermeneutik ist durch die Ethik von Emmanuel Lévinas geprägt. Er geht daher nicht von dem einzelnen lesenden Subjekt aus, das einen Text solipsistisch interpretieren würde. Vielmehr verortet Gibbs Textlektüre in einer umfassenderen „Ethik des Lesens“ („ethics of reading“125). Der „Andere“ fordere „mich“ in „meiner“ Lektüre heraus – schon allein dadurch, dass er „mir“ mit der Frage entgegentrete, warum man diesen Text lesen und (in ethischer Hinsicht!) nicht viel eher etwas anderes tun solle. Bereits durch diese fundamentale und simple Anfrage werde klar, dass jeder Text, den „ich“ gegenwärtig lese, auf den Anderen hin gelesen werden müsse.126 Lesen wandert aus der selbstgenügsamen Einsamkeit der Studierstube aus. Gleichzeitig verwandelt sich der Text von einer Quelle der Information (oder gar: Quelle der Wahrheit!) für den Einzelnen zum „Drehbuch einer (Theater-)Probe“ („script for a rehearsal“127), da er probeweise gemeinsam mit dem mich herausfordernden Gegenüber gelesen und auf seine Bedeutung befragt werden müsse. Diese allgemeinen Überlegungen konkretisiert Gibbs, indem er einen kurzen rabbinischen Text (aus bQid 40b) vorstellt und kommentiert:128 „Rabbi Tarfon und die Ältesten waren einst versammelt im Obergeschoss des Hauses Nitzas in Lod. Da wurde vor ihnen die Frage gestellt: Ist das Studium (‫ )תלמוד‬größer oder die Tat? Rabbi Tarfon antwortete und sprach: Die Tat ist größer. Rabbi Akiva antwortete und sprach: Das Studium ist größer. Sie alle antworteten und sprachen: Das Studium ist größer, denn das Studium führt zur Tat.“

Der kurze narrative Text ist dialogisch strukturiert; eine Frage und drei Antworten werden überliefert. Bereits durch diese Struktur, so Gibbs in seinem Kommentar, ziehe der Abschnitt seine Leser in die Frage und die drei Antwortmöglichkeiten hinein. Er fordere geradezu dazu heraus, als Drehbuch gelesen und nachgespielt zu werden, wobei die verschiedenen im Talmud genannten Argumente erneut auf den Tisch kommen, mit neuen Argumenten angereichert und wechselseitig ausgetragen werden müssten.129 Die

123

Vgl. OCHS: Introduction, in: Textual Reasonings, bes. 6; ähnlich auch ders.: The Society of Scriptural Reasoning. The Rules of Scriptural Reasoning, bes. 4f. 124 Vgl. GIBBS: Why Textual Reasoning; vgl. ähnlich auch GIBBS/OCHS: Gold and silver. 125 Vgl. GIBBS: Why Textual Reasoning, 3f, Zitat: 4; vgl. grundlegend GIBBS: Why Ethics. 126 Vgl. GIBBS: Why Textual Reasoning, 4. 127 GIBBS: Why Textual Reasoning, 5. 128 Die folgende Übersetzung stammt von mir [AD]. 129 Vgl. GIBBS: Why Textual Reasoning, 10f. Insofern kann es bei der Praxis von TR auch nicht um die bloße Repristination der Inhalte rabbinischer Werke gehen. Entscheidend wird vielmehr die

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Frage nach dem historischen und literarischen Ort des talmudischen Textes blendet Gibbs dabei nicht aus; im Gegenteil versucht er zu zeigen, dass sie die Neu-Inszenierung nur bereichern könne. So sei es hilfreich zu wissen, dass der Text aufgrund der Namen der beteiligten Rabbinen in die Situation der Niederschlagung des Bar Kochba-Aufstandes (132–135 n.Chr.) gehöre – in eine Zeit also, als sowohl das Studium als auch die öffentliche Praxis der Mizwot verboten waren, man sich nur heimlich im „Obergeschoss“ eines Privathauses treffen konnte und die gestellte Frage weit mehr als nur akademisch interessant wurde.130 Die historische Nachfrage unterstreicht die politische Brisanz der überlieferten Diskussion und erweitert so die Möglichkeiten gegenwärtiger Inszenierung des Textes; keineswegs dient sie dazu, den Dialog durch den reduktiven Verweis auf das historisch eigentlich Gemeinte abzubrechen. Die Dialogizität, die Robert Gibbs – als exemplarischer Vertreter der Gruppe der „Textual Reasoners“ – in rabbinischen Texten wahrnimmt und für eigene dialogische Praxis fruchtbar macht, erscheint mir auch für eine Predigtrede als Kon-Textualisierung interessant. Drei Aspekte dazu deute ich im Folgenden an: (1) Die Metapher des Textes als „Drehbuch einer (Theater-)Probe“ kann sich mit dem seit Henning Luthers Aufsatz „Predigt als inszenierter Text“ (1983) homiletisch vielfach reflektierten Paradigma der „Inszenierung“ verbinden. Henning Luther sieht die Predigt einerseits als „Dialog des Predigers mit der vielstimmigen christlichen Tradition im Monolog“, andererseits geschehe sie „aus der direkten, einredenden Hinwendung zur Gemeinde (Publikum).“ Luther folgert: „Auch und gerade für die Predigt gilt daher der Aphorismus des Novalis: ‚Die Rede ist ein monologes Drama.‘“131 Wenn Predigt nicht primär als Auslegung eines Textes verstanden würde, sondern als „Inszenierung eines Textes“, so habe der Prediger die Aufgabe, „den Text in Szenen unserer Situation, unserer Gegenwart zu versetzen, damit er da neu wirken und leben“ und – ich ergänze – neu zum Dialog anregen könne.132 Weiterführend und entlastend für die homiletische Inszenierung scheint mir, dass Gibbs nicht den Begriff der „performance“ (Aufführung), sondern das Wort „rehearsal“ (=[Theater-]Probe) wählt. Es geht in der dialogischen Praxis des Midrasch (und in Folge der „Textual Reasoners“) nicht um die abschließende (per-fekte) Inszenierung des biblischen Textes, son-

Aufnahme und Weiterführung der dort begonnenen Diskurse. Vgl. auch ZANK: Some Thoughts on Hermeneutics and Textual Reasoning; RASHKOVER: The Ground of Textual Reasoning. 130 Vgl. GIBBS: Why Textual Reasoning, 6–8. 131 Alle Zitate aus: LUTHER: Predigt als inszenierter Text, 95 [Hervorhebung im Original]. 132 LUTHER: Predigt als inszenierter Text, 97 [Hervorhebung im Original].

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dern um eine probeweise Kon-Textualisierung. Genau darum könnte es auch im sonntäglichen Alltag der Predigtrede gehen. (2) Diese Kon-Textualisierung gelingt, wenn sie so herausfordernd gestaltet ist, dass die Hörer zu Mitspielern werden, und die Kon-Textualisierung nicht Monolog bleibt. Für Henning Luther erschien das Paradigma des Theaters für die Predigt auch deshalb anregend, weil er die „dramatische Grundhaltung“ als „eine dialogische“ verstand.133 Mit Luther gilt: Auch als „monologes Drama“ (Novalis) ist die Predigt Dialog mit den Stimmen der Tradition und gleichzeitig mit den Hörerinnen und Hörern. Entscheidend wird es dann freilich, auch in der monologen Kanzelrede so zu reden, dass sie das Potential hat, die Hörerinnen und Hörer in den Dialog um das biblische Wort hineinzuziehen, mit Rudolf Bohren formuliert: „den Text in Kommunikation [zu, AD] bringen.“134 Nötig scheint es mir dazu – metaphorisch gesprochen –, die „Lautstärke“ der Stimme des Predigers oder der Predigerin zu dosieren. Sie darf weder zu laut noch zu leise sein. Nicht zu laut, damit sie die Fragen und Meinungen der Hörerinnen und Hörer nicht leichtfertig (etwa mit Verweis darauf, wie ein Text „eigentlich“ gemeint sei) übertönt. Aber umgekehrt nicht zu leise, damit sie als ein entschiedener Beitrag zur Kon-Textualisierung des Textes wahrgenommen werden kann. Rabbinische Auslegung lebt davon – wie sich an dem von Gibbs zitierten Beispiel einer Diskussion im Obergeschoss des Hauses Nitzas gut zeigen lässt –, dass die einzelnen Interpreten ihre Stimme kritisch und klar in den Dialog einbringen – und gleichzeitig bescheiden genug sind, mit dem Widerspruch durch die Stimme der anderen zu rechnen. In der midraschischen Grundform des Citems (Goldberg) folgt auf die Einleitungsformel „R. X. sagt“ eine Aussage, die darauf wartet durch das nächste Citem kritisiert und hinterfragt zu werden.135 Die Aussage gilt – aber sie gilt nur als Teil des Dialogs, des Nebeneinanders verschiedener Meinungen.136 Homiletisch gewendet bleibt daher festzuhalten: Gegen eine prophetische superbia des Predigers aber auch gegen eine falsche Bescheidenheit ist eine „Regulierung der Kanzellautstärke“ anzustreben, die den Dialog ermöglicht.137 (3) Schließlich könnte Predigtrede m.E. auch dadurch von der Dialogizität des Midrasch lernen, dass sie sich noch mehr als bisher als ein Teil jenes 133

LUTHER: Predigt als inszenierter Text, 94. BOHREN: Predigtlehre, 141. 135 Die Bedeutung der Frage für die rabbinische Dialogizität hat besonders der französischsprachige Autor Edmond Jabès immer wieder unterstrichen (1912–1991; vgl. zur Biographie und Bibliographie CAHEN: Edmond Jabès, 305–341 [Biographie]; 345–356 [Bibliographie], und vgl. insgesamt auch KLUBACK: Edmond Jabès). Vgl. nur exemplarisch das Diktum, das Jabès einem von ihm erfundenen Reb Léma in den Mund legt: „Auf jede Frage antwortet der Jude mit einer Frage“ (JABÈS: Vom Buch zum Buch, 56 [im Original hervorgehoben]). 136 Vgl. auch FRAADE: Interpreting Midrash 2, 294f. 137 Vgl. auch unten Kap. 11.3.3.2, 354–356. 134

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Dialogs verstünde, der um den biblischen Text schon längst stattfindet. Es gibt keine – durch die reformatorische sola scriptura-Formel tendenziell suggerierte – Unmittelbarkeit zum Text.138 Die Stimmen der anderen gehören dazu; die eigene Kon-Textualisierung findet sich wieder in einem weiten Netz der Kommunikation, das von frühester altkirchlicher Zeit bis in die Gegenwart reicht und nicht nur intra muros ecclesiae stattfindet.139 Die Predigt am Sonn- oder Feiertag ist ein Ausschnitt aus diesem langen Dialog mit dem biblischen Text, rabbinisch würde man sagen: aus dem weiten Meer mündlicher Tora – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dieser intertextuelle Aspekt eines slow and responsive reading ist Gegenstand des folgenden Abschnitts.

11.2.1.2 Die Intertextualität eines slow and responsive reading Intertextuell zu lesen bedeutet, Verknüpfungen zwischen Texten zu entdecken und mit einer Bedeutungskonstitution durch diese Verknüpfungen zu rechnen. Erst in der „Konfiguration mit anderen Worten“ – so Jürgen Ebach in einem Beitrag zur rabbinischen Schriftauslegung – mache das Wort der Schrift Sinn.140 Wie oben am Beispiel des akrostichischen Psalms 145 und seines fehlenden ‫–נ‬Verses gezeigt,141 werden Unregelmäßigkeiten zu Widerhaken, an denen sich intertextuelle Lektüre festmacht. Daniel Boyarin spricht von „gaps“ (Lücken; Unbestimmtheitsstellen) des biblischen Textes – und versteht diese sehr weit als jedes Element im biblischen Text, das beim Lesen innehalten lässt und zum Kommentar herausfordert.142 Dieser Kommentar wird u.a. dadurch gesucht, dass ein weiterer Text ins Spiel kommt. Nach Boyarin zeigt dies den grundlegenden Unterschied zwischen intertextueller und allegorischer Lesung. Allegorie verbinde den Text mit einer (verborgenen) Bedeutung, die jenseits des Textes ermittelt werde, Intertextualität hingegen verknüpfe Texte miteinander.143 Damit geht bei 138

Vgl. WILCKENS: Schriftauslegung, 21. Vgl. GOJNY/DEEG/NICOL: Vernetzte Texte, bes. 303–310. 140 EBACH: Aggadische Dogmatik, 229f, Zitat: 230. 141 Vgl. oben Kap. 11.1.1.1, 292. 142 Vgl. BOYARIN: Intertextuality, 39–56.139–142 (Anm.) [Textual Heterogenity in the Torah and the Dialectic of the Mekilta: The Midrash vs. Source Criticism as Reading Strategies], bes. 41– 49; vgl. dazu auch TEUGELS: Gap Filling and Linkage, 588f; KUGEL: Two Introductions, 92f. 143 Vgl. BOYARIN: Intertextuality, 20.116. Besonders deutlich zeigt Daniel Boyarin diesen Unterschied von Allegorie und Intertextualität am Beispiel der Interpretation des Hohenlieds im rabbinischen Judentum und in zeitgleicher christlicher Auslegung auf (vgl. 105–116.154–156 (Anm.) [The Song of Songs, Lock or Key: The Holy Song as Mashal]; ders.: The Eye in the Torah, 14–21; ders.: „This We Know […]“). – Terminologisch anders verfährt Günter Mayer, der von „Allegorie“ spricht, wenn die Rabbinen einen biblischen Text „Zug um Zug“ mit einem anderen biblischen Zusammenhang verbinden (MAYER: Art. Midrasch, 738). Auch Günter Stemberger 139

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einer intertextuellen Lektüre der mikroskopische Blick auf Details im Text mit der makroskopischen Perspektive, die das Ganze des Kanons im Blick behält, einher.144 Daniel Boyarin verwendet Intertextualität als Analyseinstrument für den rabbinischen Midrasch. Stéphane Mosès führt vor Augen, wie eine von rabbinischer Auslegung im Midrasch lernende Intertextualität zur konstruktiven Basis gegenwärtiger Bibelinterpretation werden kann. Im Vorwort seines Buches „Eros und Gesetz“ beschreibt er seine Hermeneutik als „wörtliche Lektüre des Alten Testaments“, bei der die einzelnen Worte, die Grammatik, Syntax, „Klanggestalt“ und „das weitläufige Netz von Entsprechungen“ in Form von „Echos, Parallelismen, Gegensätze[n]“ bedeutsam werden.145 Drei Kennzeichen der intertextuellen Lektüren dieses Bandes hebe ich hervor: (1) Die Lektüren verbinden biblische Texte aufgrund ihrer sprachlichen bzw. narrativen Zusammenhänge; (2) sie knüpfen über die Bibel hinaus ein weites Netz, in dem rabbinische, mittelalterliche und gegenwärtige Auslegung sowie weitere Kontexte ihren Ort finden; (3) es entsteht so eine Lektüre, die offen bleibt, aber keineswegs beliebig wird. Alle drei Kennzeichen scheinen mir auch homiletisch relevant, weswegen ich sie exemplarisch an Mosès’ Lesung der Aqedat Jizchaq (Gen 22,1–19) vor Augen führe:146 (1) Mosès verortet die Erzählung zunächst in ihrem narrativen Kontext, dem „Gang der Erzählung über den Patriarchen Abraham“, beginnend mit Gen 12,1–3.147 Eine besondere Rolle spielt dabei die Wurzel ‫( צחק‬lachen), die sich im Namen Isaaks (‫ )יצחק‬wiederfindet und u.a. in Gen 17,17; 18,12; 21,6; 21,9f begegnet.148 Über die Frage danach, inwiefern Gott selbst das Opfer Isaaks geboten haben könne, verbindet Mosès Gen 22 mit Lev 10,1f, der Erzählung vom Tod der Aaron-Söhne Nadab und Abihu, die wegen eines „fremde[n] Feuer[s]“ sterben, „das er [der HERR, AD] ihnen nicht geboten hatte“ (Lev 10,1; vgl. auch 16,1f).149 Auch erkennt Mosès – wie bereits spricht von rabbinischer Allegorie, grenzt diese allerdings von einer Allegorie, wie sie sich etwa bei Philo finde, ab: „Die Allegorie [der Rabbinen, AD] bleibt voll im Rahmen der Bibel und ihrer Welt. Sie allein ist der gültige Kontext der Auslegung“ (STEMBERGER: Die Schriftauslegung der Rabbinen, 108). Wollte man nach einem in der Tradition christlicher Schriftauslegung geprägten Begriff suchen, so wäre es m.E. gegenüber dem Begriff der Allegorie am ehesten möglich, bei der rabbinischen Verbindung von Texten von einer offen-intertextuellen Typologie zu sprechen. 144 Freilich muss einschränkend darauf hingewiesen werden, dass die rabbinische intertextuelle Lektüre keineswegs alle Bücher des Tanach in gleicher Weise berücksichtigt; vielmehr bildet sich um das Zentrum des Pentateuch ein Netz, das etwa das deuteronomistische Geschichtswerk weitgehend umgeht und stattdessen verstärkt die Psalmen sowie die fünf Megillot (Festlesungen: Rut, Hhld, Klgl, Pred und Ester), also die im Gottesdienst gelesenen Texte, einbezieht. 145 MOSÈS: Eros und Gesetz, 7. 146 Vgl. MOSÈS: Eros und Gesetz, 23–55 [Warum Isaak nicht geopfert wurde]. 147 Vgl. MOSÈS: Eros und Gesetz, bes. 23–31, Zitat: 23. 148 Vgl. MOSÈS: Eros und Gesetz, 27–29; vgl. auch 70f. 149 Vgl. MOSÈS: Eros und Gesetz, 31.

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die rabbinische Auslegung – eine Verbindung von Gen 22 mit der Hiob-Erzählung. In Gen 22,1 lassen sich die drei hebräischen Worte ‫ה‬‫לּ‬‫א‬‫ ה‬%‫י‬‫ר‬‫ב‬‫דּ‬‫ר ה‬‫ח‬‫ א‬aufgrund der Doppelbedeutung von ‫ דבר‬zweifach übersetzen: einerseits mit „nach diesen Ereignissen“ – so die gängige Übersetzung –, andererseits mit „nach diesen Worten“. Es lässt sich bei dieser zweiten Übersetzung fragen, welche Worte gesprochen wurden. In die so in Gen 22,1 entstehende narrative Lücke trägt bereits die rabbinische Auslegung einen Dialog zwischen Gott und dem Satan in Analogie zum Hiobprolog ein (vgl. Hiob 1,6–12).150 Durch Mosès’ Kontextualisierung treten Aaron und Hiob, die beide ihre Söhne verloren, neben Abraham und bringen jeweils ihre eigenen Kontexte und Fragestellungen mit – bei Nadab und Abihu etwa die ethische Frage nach der Überschreitung menschlicher Grenzen Gott gegenüber,151 in der Hiobgeschichte die Theodizeeproblematik.152 Suche nach Intertextualitäten – bei Mosès und in der rabbinischen Tradition – darf nicht mit einer Konkordanz-Methode verwechselt werden, die alle möglichen semiotisch vergleichbaren Texte nebeneinanderstellt. Vielmehr werden solche Texte miteinander verbunden, die aufgrund formaler und inhaltlicher Entsprechungen wechselseitig neues Licht aufeinander werfen.153 (2) Das biblische Netz innerhalb und außerhalb der Abrahamsgeschichte verbindet sich in Mosès’ Lektüre mit den weiteren Fäden der rabbinischen Auslegung im Talmud (bSan 89b; bTaan 4a) bis hin zu Raschi, Maimonides und dem Sohar. Doch Mosès bleibt keineswegs bei diesen Spuren stehen, sondern nimmt u.a. auch Goethes Faustprolog sowie dessen Aussagen zu Gen 22 aus „Dichtung und Wahrheit“,154 Kierkegaards „Furcht und Zittern“ in der Deutung Jacques Derridas,155 Lévinas Gegenposition zu Kierkegaard,156 Girards mimetische und Huizingas Spieltheorie sowie Guardinis Liturgik157 mit in den Diskurs auf. Schon die Fülle der Namen zeigt, dass Mosès auf wenigen Seiten ein Feld weiter Assoziationen eröffnet. Vielfach bleibt es lediglich bei Andeutungen; immer ist es so, dass sich unterschiedliche Lesarten nicht aufheben, sondern die Komplexität des um den biblischen Text geknüpften Netzes erweitern.158 (3) Mosès schreibt keine abgeschlossene Exegese und legt ausgehend von Gen 22 keine systematische Opfertheorie oder Theodizeelehre vor. Seine Aussagen haben 150

Vgl. MOSÈS: Eros und Gesetz, 32, und vgl. dazu bSan 89b und dazu unten Kap. 11.2.1.3, 322. Vgl. zur Verknüpfung von Gen 22 mit der Hiobgeschichte auch EBACH: Gott im Wort, 25. 151 Vgl. MOSÈS: Eros und Gesetz, 31. 152 Vgl. MOSÈS: Eros und Gesetz, 33. 153 Vgl. auch LÉVINAS: Vom Sakralen zum Heiligen, 35: „Die Talmudisten [sic!] haben, wenn sie ein Zitat suchten, nicht die Konkordanz geöffnet, um darin die Verweise auf alle Bibelstellen nachzuschlagen […]. Sie verfügen über eine bewundernswerte Kenntnis der Texte und ihrer Nuancen.“ 154 Vgl. MOSÈS: Eros und Gesetz, 32.36. 155 Vgl. MOSÈS: Eros und Gesetz, 43–46. 156 Vgl. MOSÈS: Eros und Gesetz, 45. 157 Vgl. MOSÈS: Eros und Gesetz, 37–40 (Girard); 50f (Huizinga und Guardini). 158 Vgl. exemplarisch MOSÈS: Eros und Gesetz, 28, wo Mosès das nicht-alternative Nebeneinander zweier Auslegungen betont. Das Weben eines weiten intertextuellen Netzes aus biblischer sowie rabbinischer Tradition und philosophischer Diskussion lässt sich besonders auch in den Talmudlektüren von Emmanuel Lévinas studieren (vgl. z.B. LÉVINAS: Stunde der Nationen; ders.: Jenseits des Buchstabens; ders.: Vom Sakralen zum Heiligen).

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offene Ränder, sein Netz bleibt erweiterbar und fordert dazu heraus, als Leser weitere Fäden hineinzuspinnen und en passant angedeutete Fragen weiter zu denken. Und dennoch ergibt sich im Miteinander der einzelnen Fäden in Mosès’ Lektüre ein Gesamtbild, das der biblischen Erzählung eine eigene Prägung verleiht und sie als Geschichte des „Vertrauen[s] auf die Zukunft“ und so als Hoffnungsgeschichte liest.159 Sogar vom „Thema“ oder von der „Pointe“ kann Mosès sprechen – allerdings charakteristischerweise nicht (!) am Ende seines Essays, sondern in der Mitte: „Das Thema dieser Geschichte, die Pointe, auf die sie zuläuft, ist nicht der Tod Isaaks, sondern seine Rettung.“160

Nur kurz deute ich an, wie die drei bei Mosès ermittelten Kennzeichen einer intertextuellen Lektüre auf ein intertextuelles slow and responsive reading in der Predigtvorbereitung und Predigt übertragen werden könnten: (1) Eine genaue Lektüre wird über die „Steine“ des Textes stolpern und dessen Leerstellen erkennen. Dies kann zum Ausgangspunkt werden, weitere Texte der Bibel mit dem Predigttext in Beziehung zu setzen. Der unmittelbare narrative Kontext, vergleichbare narrative oder thematische Strukturen oder wörtliche Übereinstimmungen – all dies kann zur Basis einer innerbiblischen Kontextualisierung werden, die nicht Belegstellen für eine Aussage sucht, sondern durch die Verknüpfung zweier Texte an einem dritten Text webt, der Neues entdecken lässt. Predigtvorbereitung und auch die Predigt selbst werden sich so von Wort zu Wort bewegen, nicht vom Wort zum Sinn.161 (2) Wie Stéphane Mosès’ Lektüren wird sich gegenwärtige Predigtarbeit und Predigt nicht lediglich mit innerbiblischer Kontextualisierung begnügen können. Auch die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte der Texte gilt es, mit dem Text zu verweben.162 (3) Die Folge eines solchen intertextuellen slow reading wird darin bestehen, den Hörerinnen und Hörern in der Predigt ein Netz zu präsentieren, das zu eigener Verstrickung herausfordert und dennoch nicht beliebig ist. Kontextualisierende Predigt wird kein System vorstellen, keine Totalität präsentieren, sondern eine konturierte und positionelle Fragmentarität vor Augen führen.

159

MOSÈS: Eros und Gesetz, 54. MOSÈS: Eros und Gesetz, 44f [im Original hervorgehoben]. 161 Vgl. zu näheren Ausführungen zur Praxis einer solchen Lesung unten Kap. 14.2.3. 162 Vgl. auch LINK: Tradition. – Eine neu zu konzipierende Predigthilfe, die sich auf dem Weg eines intertextuell profilierten slow and responsive reading als nützlich erweisen würde, könnte m.E. am ehesten aussehen wie eine Folioseite des Talmud in seiner üblichen Druckausgabe: In der Mitte, dort, wo sich im Talmuddruck der Text aus Mischna und Gemara findet, stünde der biblische Text, außen herum angeordnet die verschiedenen theologischen und nicht-theologischen KonTexte aus Vergangenheit und Gegenwart. 160

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11.2.1.3 Die Kreativität eines slow and responsive reading Wenn der Aspekt der Kreativität midraschischen Lesens in den Blick kommt, zeigt sich besonders deutlich, dass langsames Lesen immer auch antwortendes Lesen ist. Der Leser ist „potentieller Schriftsteller, ein im Buch verwurzelter ‚Rabbiner‘“ – so hat Edmond Jabès diesen Zusammenhang einmal treffend zum Ausdruck gebracht.163 Für die rabbinischen Leser geht es nicht nur darum, Neues in den Worten und durch die Verknüpfung mit anderen Worten zu entdecken, sondern auch Neues aus den Worten zu machen. Isaak Heinemann sprach im Blick auf die Methode des (haggadischen) Midrasch von kreativer Historiographie und kreativer Philologie.164 Kreative Historiographie kann dort gefunden werden, wo die Rabbinen auf eine Leerstelle in einem narrativen Zusammenhang stoßen und diese auszufüllen suchen. Im obigen Beispiel von Gen 22 z.B. so, dass die „Worte“ ( ‫י‬‫ר‬‫ב‬‫דּ‬‫ )ה‬von Gen 22,1 in intertextueller Aufnahme der Hiob-Erzählung als Worte eines Dialogs Gottes mit dem Satan gestaltet werden: „‚Und es begab sich nach diesen Worten, da versuchte Gott den Abraham‘. Nach welchen? Es sagte Rabbi Jochanan im Namen von Rabbi Jose ben Zimra: Nach den Worten des Satans, denn es steht geschrieben: ‚und der Knabe wuchs heran und wurde entwöhnt. [Und Abraham machte ein großes Mahl am Tage, da Isaak entwöhnt wurde; Gen 21,8]‘ Da sprach der Satan vor dem Heiligen, gepriesen sei Er: Herr der Welt, du hast ihm mit hundert Jahren eine Leibesfrucht geschenkt; von seinem ganzen Festmahl aber hatte er nicht einmal eine Turteltaube und eine junge Taube, um sie dir zu opfern! [Ein Opfer wird in Gen 21 nicht erwähnt, AD] Gott erwiderte ihm: Dies alles tat er ja nur wegen seines Sohnes, und wenn ich ihm befehlen würde, mir seinen Sohn zu opfern, sofort würde er ihn opfern. Hierauf: ‚da versuchte Gott Abraham. Und er sprach: Nimm doch deinen Sohn.‘“ (bSan 89b)

Lieve Teugels unterstreicht zu Recht, dass sich die kreative Historiographie der Rabbinen wesentlich von einem freien, imaginativen „story-telling“ unterscheidet, mit dem sie in moderner Rezeption teilweise verwechselt werde. Für die Rabbinen war der Textbezug und damit der Ausgangspunkt bei exegetischen Beobachtungen am Text (im zitierten Beispiel zu Gen 21,8 und 22,1) wesentlich.165

163

JABÈS: Vom Buch zum Buch, 30. Vgl. HEINEMANN: Darche ha-Aggada; die beiden Hauptteile seines Buches gehen der „kreativen Historiographie“ (‫ )היסטוריוגרפיה יוצרת‬und der „kreativen Philologie“ (‫פילולוגיה‬ ‫ )יוצרת‬nach; vgl. dazu auch BOYARIN: Intertextuality, 1–11; FRAENKEL: Darche ha-Aggada, 558– 560; STEMBERGER: Midrasch, 24f; STERN: Parables in Midrash, 43. 165 TEUGELS: Gap Filling and Linkage, 586f; vgl. ähnlich EBACH: Gott im Wort, VIII.86; vgl. auch die Problematik mancher Ansätze gegenwärtiger Midraschrezeption und dazu oben Kap. 7.4.1, 214f. 164

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Kreative Philologie bleibt im Gegensatz zur kreativen Historiographie bei der Lektüre nicht beim narrativen Zusammenhang, sondern beim einzelnen Wort hängen, zerlegt es in Anwendung einer rabbinischen Molekulartheorie der Sprache (Eilberg-Schwartz)166 in seine Bestandteile oder wagt sogar eine neue und andere Lesung eines Wortes durch Vertauschung oder Ersetzung eines oder mehrer Buchstaben, wodurch das Wort mit einem klangähnlichen weiteren Wort verbunden wird. „Doing things with (divine) words“ – so nimmt Richard S. Sarason die Grundformel performativer Sprachtheorie John L. Austins (1975) auf und charakterisiert damit den rabbinischen Umgang mit den Worten der Schrift.167 Nach Edward L. Greenstein zeigt rabbinische Lektüre mit ihrer kreativen Lesung einzelner Worte, dass „small phonological distinctions can make all the differences in the wor(l)d“168. So heißt es z.B. in dem Loblied Moses nach dem Exodus: „Wer ist wie du, HERR, unter den Göttern?“ (‫ה‬‫הו‬fl‫ י‬%‫ל‬‫א‬‫ה בּ‬‫כ‬‫מ‬‫יכ‬‫)מ‬. In bGit 56b (und parallelen Stellen) ist dazu eine Auslegung von Rabbi Jischmael überliefert, der den Halbvers durch die Einfügung eines einzigen ‫ מ‬geringfügig anders liest: ‫ה‬‫הו‬fl‫ י‬%‫מ‬‫לּ‬‫א‬‫ה בּ‬‫כ‬‫מ‬‫יכ‬‫„( מ‬Wer ist wie du, HERR, unter den Stummen?“). Rabbi Jischmael beschreibt auf der Grundlage dieser leicht veränderten Lesung Gott als einen, der die Ruinen des zerstörten Tempels betrachtet und stumm bleibt. Aus dem Vers eines Lobliedes wird durch die kreative Veränderung eines einzigen Buchstabens des Konsonantentextes ein Vers scharfer Anklage gegenüber einem schweigenden Gott.169

Häufig bedient sich die rabbinische Hermeneutik für solche Operationen kreativer Wortverbindung der hermeneutischen Wendung ‫אל תקרא … אלא‬ („lies nicht …, sondern“), die besonders in den haggadischen Midraschim belegt ist.170 Eines der berühmtesten Beispiele findet sich in mAv 6,2, einer Auslegung zu Ex 32,16, die auf Rabbi Jehoschua ben Levi zurückgeführt wird: „‚Die Tafeln waren ein Werk Gottes und die Schrift war eine Schrift Gottes, eingegraben in die Tafeln‘ (Ex 32,16). Lies hier nicht charut ‚eingegraben‘, sondern cherut ‚Freiheit‘, denn es gibt keinen freien Menschen außer demjenigen, der sich mit der Tora beschäftigt.“171 Eine

166

Vgl. EILBERG-SCHWARTZ: Who’s Kidding Whom, 772, und dazu oben Kap. 11.1.1.1, 291f. Vgl. SARASON: Interpreting Rabbinic Biblical Interpretation, 141. 168 GREENSTEIN: Deconstruction, 26; vgl. auch das Zitat aus Tan Bereschit 1 oben Kap. 11.1.1.1, 291. 169 Edmond Jabès, der von rabbinischer Hermeneutik beeindruckte französische Schriftsteller, versucht in seinen Werken immer wieder einen ähnlich spielerisch-kreativen Umgang mit der (französischen) Sprache. So entdeckt er etwa in dem Wort „marbre“ (Marmor) „arbre“ (Baum) und bringt beide in Verbindung. Oder er nimmt in der Umkehrung von „l’un“ (der Eine) „nul“ (keiner) wahr – vgl. JABÈS: Die Schrift der Wüste, 33. 170 Vgl. dazu grundlegend FISHBANE: Extra-Biblical Exegesis, bes. 19–23. 171 Zitiert nach BÖCKLER: ‫פרקי אבות‬, 175f. 167

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Neuvokalisierung reicht aus, um das Thema der „Freiheit“ mit dem Thema der Tora in Verbindung zu bringen.

Entscheidend für die ‫אל תקרא‬-Lektüre ist, dass das eigentliche biblische Wort nicht ersetzt, sondern die Lesung durch die zweite Lesart erweitert wird. Es handelt sich um eine Kreativität, die nicht ihre eigene mehr oder weniger geniale Erkenntnis an die Stelle des Textes stellt, sondern im spielerischen Umgang mit dem Text auf neue Möglichkeiten seiner Lektüre verweist.172 Im Zusammenhang der Frage nach einer Predigt als Kon-Textualisierung erscheint genau dieser Bezug auf den Text für eine homiletische Rezeption des Kreativitätsbegriffs entscheidend.173 Bei Rudolf Bohren lässt sich erkennen, wie eine solchermaßen textgebundene homiletische Kreativität in pneumatologischer Perspektive Kontur gewinnt. Bohren schreibt: „Die geistgewirkte Schrift wird zum vermittelnden Werkzeug des Geistes. Ihre Herkunft weist auf ihre Zukunft. Sie wurde durch den Geist. Jetzt wirken die kreativen Impulse des Geistes durch die Schrift. So wird die Schrift dem Prediger zur Quelle der Inspiration und zum Kritiker.“174 Kreativität wird theologisch in Wort und Geist verankert, womit Bohren gleichzeitig die Auslieferung der Hörerinnen und Hörer an die – jedes Spielfeld des Textes verlassende – Willkür ungezügelter Predigerphantasie verhindert. Im Hauptteil seiner Predigtlehre konjugiert Bohren diese homiletische Kreativität in Bindung an den Text im Blick auf die „Zeitformen des Wortes“175 durch: Der Geist vergegenwärtige die Schrift, hole sie erinnernd aus ihrer Vergangenheit und mache sie so „schöpferisch“.176 Gleichzeitig wecke die gegenwärtige Schrift die Phantasie, die sich auf den Weg mache „zur neuen Erde“ und eine „apokalyptische Predigt“ fordere.177 Im Kontext theonomer Reziprozität gilt für Bohren insgesamt: „Neuschöpfung und Kreativität sind wohl zu unterscheiden, nicht aber zu trennen.“178 Trotz der zentralen Bedeutung der Kreativität für Bohrens „Predigtlehre“, bleibt sie m.E. im Blick auf die möglichen „Spielformen“ im Um172 Vgl. PERELMUTER: Once a Pun a Preacher, der der Bedeutung des Wortspiels für die jüdische Auslegung und vor allem Predigt von biblischer Zeit bis ins 16. Jahrhundert nachgeht. 173 Eine solche Rezeption erfolgte vor allem, als um das Jahr 1970 die Kreativitätspsychologie für die Homiletik entdeckt wurde; vgl. dazu JOSUTTIS: Über den Predigteinfall; ARENS/RICHARDT/ SCHULTE: Kreativität und Predigtarbeit, und dazu DAEWEL: Der Weg zur Predigt, 501–503. Vgl. zu einer Neubestimmung homiletischer Kreativität im Ausgang von Walter Benjamin auch DOBER: Flanerie, Sammlung, Spiel. 174 BOHREN: Predigtlehre, 112; vgl. auch 128–144 [Wort und Geist]. 175 BOHREN: Predigtlehre, 159–342 [Dritter Teil: Die Zeitformen des Wortes. Erinnerung – Verheißung – Gegenwart]. 176 BOHREN: Predigtlehre, 159. 177 BOHREN: Predigtlehre, 266; vgl. insg. 266–279 [Apokalyptische Predigt]. 178 BOHREN: Predigtlehre, 340. Vgl. auch JOSUTTIS: Verkündigung als kommunikatives und kreatorisches Geschehen.

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gang mit dem Text einigermaßen abstrakt.179 Vom rabbinischen Midrasch könnten an dieser Stelle anregend die beiden Wege einer kreativen Praxis (kreative Historiographie und kreative Philologie) aufgenommen und als methodischer Hinweis für ein „heiliges Spiel“ des Predigers mit den Leerstellen des Textes sowie mit seinen Worten und ihren unterschiedlichen Lesarten (‫ )אל תקרא … אלא‬verstanden und weiter ausgebaut werden.180

11.2.1.4 Exkurs: Homiletisches slow and responsive reading – Karl Barth als Beispiel Es wäre reizvoll, an Beispielen näher auszuführen, was ein langsames und antwortendes Lesen konkret für die homiletische Textlektüre und die Predigtgestaltung austragen könnte. Dies kann hier nicht ausführlich geschehen. Ich verweise nur exemplarisch auf einen – im Blick auf seine homiletische und hermeneutische Theorie schon mehrfach zitierten – Klassiker der Predigtgeschichte des 20. Jahrhunderts, auf Karl Barth und sein homiletisches slow and responsive reading. Dem Wort Gottes gilt Karl Barths Aufmerksamkeit – von den Anfängen seiner Theologie im „Römerbrief“ bis hin zu den letzten Teilen der „Kirchlichen Dogmatik“.181 Entsprechend führt Barth auch in seinem Homiletischen Seminar aus, dass für die Predigt entscheidend die „Lektüre des Textes“ sei, „die Kenntnisnahme Wort für Wort dessen, was dasteht“182. Es gelte, „nur das eine zu tun: die Augen öffnen und den Schatz schauen, der vor uns [in der Bibel, AD] ausgebreitet ist, dann aber sammeln und schöpfen von dem unermeßlichen Reichtum und weitergeben an die Gemeinde.“183 Als Barth 1935 zum ersten Mal nach 14 Jahren Abwesenheit wieder in Safenwil predigt, verbindet er in seiner Predigt die Ehrfurcht gegenüber dem Gotteswort explizit mit einer Predigtmethodik, die diesem Wort genau nachgehen möchte. Er sagt: „Er [der Prophetenspruch, AD] ist nicht leer, er ist kein bloßes Wort […]. Er hat die Kraft, uns zu belehren und zu bekehren, uns zu richten und zu trösten. Wir dürfen und sollen ihn uns zu Herzen nehmen als ein Gotteswort.“ Predigtmethodisch folgert

179

Vgl. vor allem BOHREN: Predigtlehre, 353–368. Den Begriff des „heilige[n] Spiel[s]“ prägt Bohren in Anlehnung an das Sprachspiel des 119. Psalms bereits im ersten Paragraphen seiner „Predigtlehre“ (vgl. BOHREN: Predigtlehre, 18 [Hervorhebung im Original]). 181 Vgl. dazu z.B. sein berühmt gewordenes letztes Wort an die Studierenden in Deutschland kurz vor seiner erzwungenen Rückkehr in die Schweiz 1935: „Was jetzt in Deutschland not tut, das ist nicht Agitation und Prophetie: das ist das schlichte Sich-halten an sein Wort.“ „Nehmen Sie jetzt also meinen letzten Rat: Exegese, Exegese, und noch einmal Exegese! […] halten Sie sich an das Wort, an die Schrift, die uns gegeben ist […]“ (BARTH: Predigten 1921–1935, 425.428 [Hervorhebungen im Original]; vgl. dazu auch SMEND: Karl Barth als Ausleger, 14, und oben Kap. 8.1.4, 235f). 182 BARTH: Homiletik, 78 [Hervorhebung im Original]. 183 BARTH: Homiletik, 74. 180

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Barth: „Das ist’s, was wir jetzt tun wollen, indem wir ihn Wort für Wort auslegen und in Erwägung ziehen.“184 „Wort für Wort auslegen“ – dabei kann Barth an eigene Predigterfahrungen bereits aus früher Safenwiler Zeit anknüpfen: Vom 11. Januar 1914 bis zum 15. Februar hielt er dort sechs Predigten zu einem einzigen Bibelwort: Röm 1,16. In seiner vierten Predigt bemerkt er dazu: „Wir können uns ja ruhig Zeit lassen, und es tut uns allen gut, bei dem Anlaß einmal einen Begriff davon zu bekommen, wieviel reichen Inhalt ein einziges Bibelwort, über das wir so leicht hinweglesen, umschließen kann.“185 Im Bonner Homiletischen Seminar hatte er seine Studenten dann allerdings vor zu kurzen Predigttexten gewarnt: Junge Prediger sollen „keine zu kurzen Texte wählen, weil da die Gefahr der Überhebung größer ist als bei längerem Zusammenhang.“186 Der erfahrene Prediger der späteren Jahre, vor allem der Prediger in der Basler Strafanstalt, kehrt dann allerdings erneut zur Praxis sehr kurzer Predigttexte zurück. Eine lektorale Verlangsamung durch die Aufmerksamkeit eines Sich-Haltens an das Wort führt zu Predigten, die einzelnen Worten und Satzteilen nachgehen und diese je für sich betrachten.187 So beginnt er seine erste Predigt in der Basler Strafanstalt mit den Worten: „Ich will versuchen euch das, was wir eben gehört haben, kurz zu erklären. Ihr werdet sehen, daß jedes Wort wichtig ist.“188 Geradezu beispielhaft ist dann die Predigt am Silvesterabend 1960, in der Barth Ps 31,16a („Meine Zeit steht in deinen Händen“) auslegt und dabei nach einer Vorbemerkung der Reihe nach den Worten „Meine Zeit“, „steht“ und „in deinen Händen“ nachgeht.189 Freilich bemerkt Axel Denecke zu Recht, dass die extreme Verkürzung der Predigttexte in den späten Predigten Barths in Verbindung mit seiner Tendenz, die Texte „erklären“ zu wollen, dazu führt, dass sich die Barthschen Textpredigten tendenziell in Themenpredigten verwandeln.190 Dennoch bleibt Barth in seinen Predigten ein aufmerksamer und langsamer Leser des biblischen Wortes, der durchaus „rabbinisch“ in Details des Predigttextes Bedeutsames entdeckt. So in seiner Predigt zu Joh 16,33 („In der Welt habt ihr Angst. Aber seid getrost! Ich habe die Welt überwunden.“) am 24.12.1963. Das „Aber“ des Textes wird zum Ausgangspunkt eines Streifzugs durch die Bibel, der Altes und Neues Testament, Individuelles und Universales, Tod und Leben miteinander verbindet: „Da haben wir es wieder: das gewaltige, das herrliche Aber!, das uns auch an so vielen anderen Stellen der Bibel begegnet. […] etwa: ‚Bei den Menschen ist es unmöglich‘ [Mt. 19,26]. Oder: ‚Es sollen Berge weichen und Hügel hinfallen‘ [Jes. 54,10]. Oder: ‚Himmel und Erde werden vergehen‘ [Mt. 24,35]. Oder: ‚Der

184

BARTH: Predigten 1935–1952, 14. BARTH: Predigten 1914, 49. 186 BARTH: Homiletik, 75 [Hervorhebung im Original]. 187 Vgl. BOHREN: Bemerkungen zu Karl Barths Predigtweise, 141; LEIMGRUBER: Karl Barths Predigtverständnis, 183. 188 BARTH: Predigten 1954–1967, 3. 189 Vgl. BARTH: Predigten 1954–1967, 179–186. 190 Vgl. DENECKE: Gottes Wort als Menschenwort, 210, und dazu unten Kap. 14.2.2, 491–493. 185

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Herr züchtigt mich‘ [Ps. 118,18]. Dann aber wird dem ein Zweites gegenübergestellt, das jenes Erste zwar nicht leugnet und darum nicht einfach durchstreicht und auslöscht, dafür auf einmal als klein erscheinen läßt und gänzlich in den Schatten stellt, etwa so: ‚Aber bei Gott sind alle Dinge möglich!‘ [Mt 19,26]. Oder: ‚Aber meine Gnade soll nicht von dir weichen!‘ [Jes 54,10]. Oder: ‚Aber meine Worte werden nicht vergehen!‘ [Mt. 24,35]. Oder: ‚Aber er gibt mich dem Tod nicht preis!‘ [Ps. 118,18]. So nun auch hier: ‚In der Welt habt ihr Angst. Aber seid getrost!‘“191 Die Beispiele für ein langsames und antwortendes Lesen in Barths Predigtpraxis ließen sich fast beliebig vermehren und könnten zum Ausgangspunkt einer ästhetischhermeneutischen Relektüre des Predigtwerkes Barths werden. Auf lediglich ein weiteres Beispiel mache ich aufmerksam: Daniel Boyarin hätte den Numeruswechsel in Ex 34,9 als typische Leerstelle („gap“) charakterisiert: „Habe ich, HERR, Gnade vor deinen Augen gefunden, so gehe der HERR in unserer Mitte […]“. Barth nimmt diese Spannung auf und folgert daraus in einer seiner Andachten des Jahres 1931: „Ich bin Gottes Kind? Das ist eine Lüge. Wir sind Gottes Kinder.“192

11.2.2 Vierfacher Schriftsinn als systematische Leseanleitung? Die Praxis eines slow and responsive reading wurde als dialogische, intertextuelle und kreative Lektüre charakterisiert. Lässt sie sich auf grundlegende Leseregeln zusammenfassen und entsprechend systematisieren? Bereits in rabbinischer Zeit versuchte man, Auslegungsregeln (hebr.: Middot) zusammenzustellen. Es entwickelten sich die – sicher nicht von Hillel selbst stammenden – sieben Regeln Hillels, die dreizehn Regeln Jischmaels sowie die 32 Regeln des R. Eliezer. Zunehmende Bedeutung erlangten sie, als karäische Kritik die rabbinische Auslegung angriff. Zu dieser Zeit wurden die dreizehn Regeln Jischmaels auch als Teil des täglichen Morgengebets in das Gebetbuch aufgenommen.193 Die folgende Übersicht führt die sieben Regeln Hillels mit kurzen Erläuterungen vor Augen:

191

BARTH: Predigten 1954–1967, 248 [Hervorhebungen im Original]. BARTH: Predigten 1921–1935, 616f, Zitat: 617 [Hervorhebung im Original]; vgl. dazu BÄCHLI: Das Alte Testament in der Passions- und Osterzeit 1931, 58. 193 Vgl. insgesamt STEMBERGER: Die Schriftauslegung der Rabbinen, 83–104. 192

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DIE SIEBEN MIDDOT HILLELS (nach tSan 7,11194) 1

‫קל וחומר‬

Schluss a minori ad maius

2

‫גזירה שוה‬

Analogieschluss aus dem Miteinander zweier Bibelstellen, der nach bShab 64a strengen Bedingungen unterliegt und nach bKer 5a nur zurückhaltend angewandt werden soll

3

‫בניי אב וכתוב אחד‬

Schluss von einer Bibelstelle aus auf andere, die mit der Bibelstelle in einem inhaltlichen oder/und sprachlichen Zusammenhang stehen

4

‫בניי אב ושני כתובי‬

Wie (3) nur auf der Basis von zwei Bibelstellen

5

‫כלל ופרט ופרט וכלל‬

Näherbestimmung des Allgemeinen durch das Besondere und umgekehrt

6

‫ אחר‬%‫כיוצא בו ממקו‬

Diesem „Ähnliches an einer anderen Stelle“ – eine Art erweiterter Analogieschluss

7

‫דבר הלמד מעניינו‬

Schluss aus dem biblischen Zusammenhang

Die dreizehn Regeln Jischmaels entwickeln die fünfte Regel zu acht Regeln weiter und bilden eine neue, dreizehnte Regel: „Zwei Schriftverse widersprechen einander, bis der dritte Vers kommt und zwischen ihnen entscheidet.“195 Deutlich später entstanden die 32 Middot des Rabbi Eliezer, die in ihrem Grundbestand wesentlich mit den früheren Sammlungen übereinstimmen, u.a. aber Gematrie (29) und Notarikon (30) als Auslegungsregeln erwähnen.196 Bereits die sieben Regeln Hillels und dann auch alle späteren Erweiterungen weisen auf die Intertextualität rabbinischer Schriftauslegung hin: Schriftstellen werden in ihrer Analogie und damit wechselseitigen Deutungskapazität wahrgenommen (vgl. Hillel 2 und 6), von einer oder mehreren Bibelstelle(n) ausgehend wird auf andere geschlossen (vgl. Hillel 3 und 4), und der unmittelbar vorausgehende und nachfolgende Textzusammenhang wird berücksichtigt (vgl. Hillel 7). Gleichzeitig verdeutlicht die Regelformulierung, dass es Versuche gab, die potentiell unbegrenzte Weite intertextueller Schriftdeutung zu begrenzen. Allerdings führten die Middot zu keiner Zeit zu einer normativen Vereinheitlichung der Schriftauslegung. Immer gab es Interpretationen jenseits der Middot – und auch die Middot wandelten und veränderten sich mit der Zeit.197 194

Vgl. STEMBERGER: Einleitung, 27–30; vgl. dazu bereits GRÄTZ: Jüdisch-geschichtliche Stu-

dien.

195

STEMBERGER: Einleitung, 31; vgl. insg. 30–32. Vgl. STEMBERGER: Einleitung, 32–40. 197 Vgl. nur STERN: Parables in Midrash, 42f. 196

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Daher verwundert es nicht, dass jenseits dieser Middot auch andere Systematisierungen der Schriftauslegung gesucht wurden. Besonders bekannt und prägend wurde dabei der in der Kabbala formulierte vierfache Schriftsinn, der sich mit dem Akronym PaRDeS verbindet. Dieses wurde – wie oben erwähnt – mehrheitlich wie folgt aufgelöst: p = peschat [‫]פשט‬, r = remez [‫]רמז‬, d = derasch [‫ ]דרש‬und s = sod [‫]סוד‬.198 Die Betonung eines mehrfachen Sinnes der Schrift in der Kabbala war auch eine Reaktion auf einen philosophischen Rationalismus der Schriftauslegung, der im Hochmittelalter zunahm und Schriftdeutung mehr und mehr auf den (nun gegenüber der rabbinischen Zeit neu verstandenen) peschat eingrenzte.199 Gegen diese peschat-Verengung betonte man das Miteinander von buchstäblichem Sinn (peschat), Andeutungen und Verschlüsselungen im Schrifttext (remez; Notarikon, Gematrie, philosophische Allegorie …), ethischem und haggadischem Sinn (derasch) sowie mystischer Auslegung (sod). Selbstverständlich hatte der sod für die Auslegung der Kabbala besondere Bedeutung, sodass nicht nur von einem Miteinander von vier Ebenen der Schriftdeutung, sondern auch von einem Nacheinander von vier Stufen gesprochen werden kann: Die Schriftdeutung findet ihr Ziel im sod einer unio mystica. Wie die Middot in rabbinischer Zeit wurde allerdings auch Pardes im Hochmittelalter nicht „systematisch angewandt“.200 Das mittelalterliche Akronym regt bis heute aber immer wieder zur hermeneutischen Reflexion an.201 So rezipiert Michael Fishbane Pardes 1975 vor allem als Hinweis darauf, wie ein moderner, wissenschaftlich geprägter Zugang zum biblischen Text durch eine Rückbesinnung auf Möglichkeiten religiöser Textlektüre erweitert werden kann. Es gehe darum, „to reframe modern text study through the schemata of sacred learning“ 202. Die vier Bestandteile von Pardes bestimmt Fishbane dabei wie folgt: (1) Peschat steht für eine unmittelbare Textwahrnehmung, die die einzelnen Worte des Textes und den Textzusammenhang liest, dabei vorgefertigte Urteile über den Text und seine Bedeutung hinterfragt und den Text so als selbständigen Dialogpartner in der Auslegung zu gewinnen sucht.203 (2) Remez versteht Fishbane als „allegorische“ Auslegung in dem Sinne, dass der Text nun mit text-unabhängigen Bezügen (historische Informationen, philologische 198 Vgl. STEMBERGER: Die Schriftauslegung der Rabbinen, 128–130. Das Wort ‫ פרדס‬meint ursprünglich „Lustgarten“ und erscheint im Tanach nur in Hhld 4,13; vgl. dazu auch oben Kap. 4.2.2, 115f. 199 Vgl. STEMBERGER: Die Schriftauslegung der Rabbinen, 110–123; vgl. auch oben Kap. 4.1. 200 STEMBERGER: Die Schriftauslegung der Rabbinen, 129. 201 Vgl. z.B. auch die Aufnahme in Siegmund Maybaums Homiletik (oben Kap. 5.4, 155f). 202 FISHBANE: The Teacher, 114. 203 Vgl. FISHBANE: The Teacher, 114–116.

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Beobachtungen, philosophische Ansichten …) verbunden und auf diese Weise gedeutet wird.204 (3) Bei der Frage nach dem derasch betont Fishbane die Notwendigkeit einer erneuten Wahrnehmung des Textes selbst, seiner formalen und syntaktischen Gestaltung, seiner Komposition, Redaktion und Motivstruktur. Die erweiterte Textwahrnehmung (Fishbane spricht von „aesthetic sensitivity“205) führt – wie im mittelalterlichen Verständnis des derasch – zu einer pragmatisch-zielgerichteten Lektüre, die nach der moralisch-ethischen sowie religiösen Dimension des Textes fragt und daher auch die Individualität und Persönlichkeit des Auslegers berücksichtigt.206 (4) Schließlich bedeutet sod für Fishbane den Hinweis auf die Grenze aller menschlichen Fähigkeit zur Auslegung und damit die Erwartung eines immer neuen und anderen Redens Gottes durch den Text selbst.207

Insgesamt führt Fishbane vier Aspekte der Schriftlesung vor Augen, die zugleich auch als eine Schrittfolge der Auslegung gedeutet werden können: Auf eine erste, unvoreingenommen-intuitive Wahrnehmung des Textes folgt eine Kontextualisierung mit externen Deutungsmustern und Fragestellungen, dann eine vertiefte ästhetische Wahrnehmung der inneren Struktur des Textes. Schließlich führt die Schriftauslegung nicht zu dem Ergebnis, sondern zu einer Vielfalt der Interpretationen und damit zum Widerstand gegen die Dogmatisierung einer Bedeutung. Fishbanes Lesung unterscheidet sich besonders in der Bestimmung des sod von der kabbalistisch-mystischen Pardes-Hermeneutik. Diese war durch die Tendenz gekennzeichnet, im Durchgang durch die drei vorauslaufenden Ebenen der Interpretation zur eigentlichen Wahrnehmung der Schrift (und damit Gottes selbst) in der unio mystica zu gelangen. Bei Fishbane hingegen wird sod zu einem generativen Prinzip, das in den Kreislauf eines erneuten Lesens des Textes, seiner Kontextualisierung und verfeinerten ästhetischen Wahrnehmung mündet. Insgesamt kann der nicht-exklusive und textuale Charakter der Hermeneutik Fishbanes als entscheidendes Kennzeichen seiner Relektüre von Pardes bestimmt werden: Der Text bringt unterschiedliche Lesarten hervor, die wissenschaftliches und persönliches, philologisches und religiöses, kritisches und konstruktives Engagement miteinander verbinden. Lässt sich Pardes auch christlich rezipieren? Mit einiger Wahrscheinlichkeit kann gesagt werden: Eine solche Rezeption gibt es schon. Oder vorsichtiger: Mit der mittelalterlichen Hermeneutik eines „vierfachen Schriftsinns“ liegt ein Verfahren vor, für das sich historische Wechselwirkungen zwischen jüdischer und christlicher Hermeneutik durchaus wahrscheinlich

204

Vgl. FISHBANE: The Teacher, 116–118. FISHBANE: The Teacher, 118. 206 Vgl. FISHBANE: The Teacher, 118–120. 207 Vgl. FISHBANE: The Teacher, 120. 205

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machen lassen.208 Der christliche vierfache Schriftsinn verbindet in seiner geläufigsten Ausprägung aus dem Ende des 13. Jahrhunderts den literalen Sinn mit einer allegorischen Deutung auf Inhalte des Glaubens, einer moralischen/tropologischen Deutung auf das menschliche Handeln und geistliche Leben sowie einer anagogischen, die auf die eschatologische Dimension hinweist.209 Auch Luther war in seiner Schriftauslegung zunächst vom vierfachen Schriftsinn ausgegangen, hatte aber etwa ab der Galatervorlesung davon zunehmend Abstand genommen und alle Schriftauslegung auf den sensus literalis bzw. historicus konzentriert, der für ihn mit dem christologischen Sinn identisch war.210 Ziel Luthers war es, die Wirksamkeit der Schrift (als Wirksamkeit Gottes in Jesus Christus) gegen jede menschliche oder kirchliche Schriftbeherrschung zu betonen. Was als Reduktion auf den einen christologischen sensus literalis erscheint, diente daher faktisch der Befreiung der Schrift gegen deren interpretatorische Festlegung in (vierfacher) kirchlicher Auslegung. Gegenwärtig scheint der vierfache Schriftsinn allerdings wieder populär zu werden. Zahlreiche Schriftausleger greifen auf ihn zurück, um vor allem den Aspekt der Vielschichtigkeit der Textbedeutung durch die Relektüre eines traditionellen Modells zu plausibilisieren.211 So versucht z.B. Ulrich Wilckens, durch „eine Wiedergewinnung und kritische Neugestaltung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn“ vor allem die Verbindung von Schriftlektüre und praxis pietatis und damit von wissenschaftlicher Exegese und kirchlichem Umgang mit der Schrift neu wahrzunehmen.212 Den sensus literalis versteht er dabei als historisch-kritisch bestimmbaren Sinn der Schrift. Dieser könne die Grundlage aller weiteren (geistlichen, moralischen und eschatologischen) Schriftdeutung bieten. Präziser: Der exegetisch genaue Blick auf die Texte des Neuen Testaments (mit diesen beschäftigt sich Wilckens vor allem) führe geradezu hin zu der 208

Auf Parallelen weist etwa STEMBERGER: Die Schriftauslegung der Rabbinen, 129, hin. Gershom Scholem geht von einer jüdischen Übernahme des christlichen vierfachen Schriftsinns aus (vgl. SCHOLEM: Der Sinn der Tora, 74–85). 209 Vgl. z.B. MÜHLENBERG: Art. Schriftauslegung, 479f [Lit.]; DOHMEN: Vom vielfachen Schriftsinn, 16–27. 210 Vgl. MÜLLER, H. M.: Homiletik, 55–58. Hinweise auf weitere Literatur finden sich 55 Anm. 64. 211 Vgl. (mit kritischen Anfragen) KÖRTNER: Der inspirierte Leser, 62–87 [Schrift und Geist. Über Legitimität und Grenzen allegorischer Schriftauslegung] und 88–113 [Lector in Biblia. Schriftauslegung zwischen Rezeptionsästhetik und vierfachem Schriftsinn]; DOHMEN: Vom vielfachen Schriftsinn, dem es insgesamt darum geht „vom vierfachen zum vielfachen Schriftsinn“ (67 [im Original hervorgehoben]) in einem relationalen Miteinander verschiedener Methoden der Auslegung zu gelangen. Eine positive homiletische Rezeption deutet z.B. auch Dietrich Stollberg an (ders.: Fromm, kritisch, kreativ, 546). 212 Vgl. WILCKENS: Schriftauslegung, 63–66, Zitat: 63; vgl. bereits 53.

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Erkenntnis, dass diese Texte aus einer „Grunderfahrung“213 heraus geschrieben worden seien, die mit der „endzeitliche[n] Wirklichkeit des Geistes“214 rechne. Diese Erfahrung sei bis heute entscheidend; ein angemessenes „Verstehen“ der Texte bedeute daher „Einverständnis“ mit ihnen und konkretisiere sich in einer entsprechenden „praxis pietatis“.215 Ein recht verstandener sensus literalis führe daher unmittelbar zu den weiteren Sinnen der Schrift – und damit auch von der Exegese zur kirchlich-gemeindlichen Lektüre. Dieser Richtungsangabe ist sicherlich zuzustimmen; problematisch aber erscheint mir in diesem Modell die Dominanz des sensus literalis bei dessen gleichzeitiger historisch-kritischer Verengung, aufgrund derer er als „die philologisch-historische Suche nach dem ursprünglichen Sinn“ des Textes beschrieben wird.216 An diesem Punkt weist z.B. Erich Zengers Aufnahme des vierfachen Schriftsinns in eine andere Richtung. Zenger geht von der Frage aus, was christliche Schriftauslegung von jüdischer lernen könne, und erkennt als entscheidendes Lernpotential die Wahrnehmung der Pluralität der Schriftdeutungen. Er schreibt: „Wir brauchen die vielen Stimmen, um uns dem Gott-Geheimnis in immer neuen Versuchen und Lebenskontexten zu nahen.“217 Die Bibel müsse selbst als „polyphone Komposition“ wahrgenommen und entsprechend interpretiert werden; dafür könne der vierfache Schriftsinn Hinweise geben.218 Zusammenfassend kann festgehalten werden: Die Erinnerung an die Lehre vom vierfachen Schriftsinn ist in der Lage, Wesentliches gegen jede Separation der Schriftdeutung von den Kontexten der Rezeption und gegen jede Reduktion auf die eine Schriftaussage beizutragen. Darüber hinaus aber machen die Relektüren des vierfachen Schriftsinns sowohl in jüdischem (Fishbane) als auch in christlichem Kontext (z.B. Wilckens) m.E. auch deutlich, dass weder Pardes noch der christliche vierfache Schriftsinn eine methodisch-systematische Leseanleitung bieten. Vierfacher Schriftsinn weist hin auf einen hermeneutischen Rahmen, der vom biblischen Text in seiner Mittelpunktstellung ausgeht und gleichzeitig die peschat-Reduktion des Verstehens vermeidet. In diesem Rahmen verortet sich auch ein langsames und antwortendes Lesen, das – wie auch Fishbanes Rezeption des sod

213

WILCKENS: Schriftauslegung, 61 [im Original hervorgehoben]. WILCKENS: Schriftauslegung, 56f. 215 WILCKENS: Schriftauslegung, 65; vgl. ähnlich auch Eberhard Jüngel (oben Kap. 9.2.2). 216 WILCKENS: Schriftauslegung, 64 [Hervorhebung AD]. 217 ZENGER: Was christliche Exegese von der jüdischen Schriftauslegung lernen kann, 171 [Hervorhebungen im Original]. 218 ZENGER: Was christliche Exegese von der jüdischen Schriftauslegung lernen kann, 172. 214

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unterstreicht – von der beständigen Relektüre lebt und gerade deshalb eine formalisierte Methodologie ausschließt.219 Anstatt eine solche Methodologie zu bieten, führe ich in Exkursen zwei Analogien zum slow and responsive reading aus dem Bereich der Kunst vor Augen und schließe mit ihnen meine Überlegungen zur Methodik homiletischer Textlektüre ab. 11.2.3 Exkurs: Giorgio Morandi – Slow and responsive reading in der bildenden Kunst220 Giorgio Morandi (1890–1964) lebte und arbeitete als Künstler und Professor für die Technik der Radierung in Bologna. Ein Gang durch das „Museo Morandi“ in Bologna221 führt den Betrachter immer wieder vor Stillleben, die Vasen, Flaschen oder Dosen zeigen – wie etwa sein unten abgebildetes Werk „Natura morta“ aus dem Jahr 1948, auf dem sieben Gefäße zu sehen sind, fünf im Hintergrund, zwei im Vordergrund. Eine gerade Linie begrenzt die Fläche. Mit großen Lettern hat der Künstler sein Bild signiert.

Giorgio Morandi, Natura morta, 1948 (© Museo Morandi, Bologna)

Etwa sechs Jahre früher, 1942, entstand ein Bild, das ebenfalls nur den Titel „Natura morta“ trägt. Die Flasche, die 1948 im Vordergrund steht, bestimmt 219 Vgl. dazu auch TROWITZSCH: „Nachkritische Schriftauslegung“, bes. 84–89. – Susan A. Handelman beschreibt diese methodische Herausforderung für die Schriftauslegung unter Rückgriff auf ein biblisch-talmudisches Bild aus bSan 34a. In diesem Text wird Jer 23,29 („Ist mein Wort nicht wie ein Feuer und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?“) wie folgt ausgelegt: „[…] wie der Stein durch den Hammer in viele Splitter zerteilt wird, ebenso zerfällt ein Schriftvers in viele Deutungen“. Im Talmud heißt es wörtlich: (‫מה פטיש זה מתחלק לכמה ניצוצות א‬ ‫מקרא אחד יוצא לכמה טעמי‬. Handelman bezieht sich auf die reflexive hitpael-Form ‫מתחלק‬, die hier anstatt der eigentlich zu erwartenden piel-Form ‫ מחלק‬zu finden ist. Wie die Tosafisten interpretiert sie diese reflexive Form dahingehend, dass auch der Hammer zerstört und zerlegt werde – nicht nur der Fels. Das heißt übertragen: nicht nur das Bibelwort zerfällt in unterschiedliche Bedeutungen, sondern auch der methodische Hammer bleibt beim exegetischen Hämmern nicht unberührt (vgl. HANDELMAN: Fragments of the Rock, 89f). 220 Ein homiletisches Lernen von der bildenden Kunst, wie es in diesem Exkurs angedeutet wird, findet sich bisher eher selten; vgl. aber z.B. RASCHZOK: „Methode der Predigt“, bes. 116– 125. 221 Zu einem virtuellen Museumsrundgang lädt das Internetportal www.museomorandi.it ein.

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1942 fast alleine das Bild. Ein Becher lehnt gekippt an ihrer Seite. Im Hintergrund eine diesmal leicht gekrümmte Linie. Ganz klein erscheint rechts unten der Name des Künstlers.

Giorgio Morandi, Natura morta, ca. 1942 (© Museo Morandi, Bologna)

Diese beiden und viele anderen, vergleichbaren Bilder entstanden in dem beengten Atelier Morandis. Nicht mehr als ein Bett, eine Staffelei, ein Tisch befanden sich darin – und: Vasen, Flaschen, Dosen. Sie standen überall, auf dem Tisch, unter dem Tisch, auf den wenigen Regalen. Seine Lieblingsgefäße stellte er immer neu zusammen. Stundenlang betrachtete er sie, ohne den Pinsel zu rühren. Manchmal tagelang. Er nahm sich Zeit, positionierte sie neu, betrachtete sie aus unterschiedlichen Perspektiven und bei verschiedensten Lichtverhältnissen.222 Sein Freund Giuseppe Raimondi erinnert sich, wie Morandi einmal seine Vasen, Dosen und Flaschen betrachtend sagte: „[…] ‚ja, es sind meine ganz gewöhnlichen Dinge. Du kennst sie. Es sind immer dieselben. Warum sollte ich sie austauschen?‘“223 Eine Zeit lang malte er die immer gleichen Gefäße. Variationen desselben Themas entstanden. Morandis slow reading der Gefäße über Stunden, Tage, Jahre hinweg zeigte ihm Neues und führte ihn (responsive reading) zu immer neuer Gestaltung. Die Gegenstände erscheinen auf den Stillleben verändert – mal schlanker, mal bauchiger, mal düsterer, mal heller. Die Umgebung spielt mit. Manche Vasen wenden sich voneinander ab, andere blicken sich geradezu an. Gefäße kommen in Bewegung. Mal ist „Morandi“ in großen Lettern deutlich dabei, mal kaum wahrzunehmen. Im „Atelier eines Predigtkünstlers“ geht es nicht um Vasen, Dosen oder Flaschen, sondern um Worte, Bilder und Geschichten der Bibel. Eigentlich sind sie längst bekannt, bibelkundlich eingeordnet, zur Genüge exegesiert. Bei Morandi führte die ständige und immer neue Betrachtung dazu, dass das Bekannte so erscheint, als sähe er es zum allerersten Mal; und mit Morandi könnte das Ziel eines homiletischen slow and responsive reading wie folgt bestimmt werden: Es ginge darum, so lange zu betrachten, bis sich aus der

222 223

Vgl. FLORESHEIM: Besuch bei Morandi, bes. 30f. RAIMONDI: Jahre mit Giorgio Morandi, 17.

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Betrachtung die „Nötigung zur Predigt“ (Fuchs)224 ergibt – die Nötigung, mit eigenen Mitteln, eigener Sprache, eigenem Akzent den Text neu zu kontextualisieren. Das je Persönliche bestimmt die Predigt mal deutlicher, mal zurückhaltender – wie die unterschiedlich großen Signaturen des Künstlers die Bilder Morandis mehr oder weniger prägen. Andere Texte kommen mit ins Spiel – und verändern den Predigttext. Die Hintergründe variieren. Und am Ende entsteht eine Predigt, die nie das Ganze zeigt, sondern den Text in bestimmte Kon-Texte setzt;225 eine Predigt, die nicht zum Ende kommt mit ihrem Text, sondern – kaum gehalten – schon wieder unterwegs ist zur nächsten Predigt, zur nächsten Kon-Textualisierung – wie Morandi zum nächsten Stillleben. 11.2.4 Exkurs: Slow and responsive reading wider die homiletische Eloquenz – zwei lyrische Spuren Ein langsames Lesen, das sich von Wort zu Wort bewegt, könnte auch zu einem Reden führen, das den Worten Raum lässt und der dahineilenden Eloquenz großer Worte Einhalt gebietet; zu einem Reden, das an Mose erinnern kann, den Stotterer und Mann „schwerer Zunge“ (vgl. Ex 4,10). Richard Exner, der 1929 geborene Literaturwissenschaftler und Schriftsteller, verweist mit dem Titel „Schwere Zunge“ und dem Motto seines Gedichtes auf Mose und die Geschichte seiner Berufung: Schwere Zunge Wer hat dem Menschen den Mund geschaffen? 2. Mose 4,11 1 Der Götze Eloquenz: das bloße Wort ausgeschüttetes Abwasser ausgespieene Brocken unrein

bis auf die Nacht und das Große Schweigen 2 Vor Gott ist der Stotterer, dem es einfällt, aus dem es aber nicht herauskann, angesehener. ER hört und läßt Seinen Hauch wehen in die atemlosen Würgepausen. ER vollendet das hingestotterte Gebet. […]226

224 FUCHS: Die der Theologie durch die historisch-kritische Methode auferlegte Besinnung, 226 [im Original hervorgehoben]. 225 Ähnlich schreibt Laura Mattiolio Rossi über Giorgio Morandi: Er wolle nie das Ganze zeigen, sondern nur einen Ausschnitt, ein Stück subjektiver, momentaner Wirklichkeit (vgl. ROSSI: Giorgio Morandi, 13). 226 EXNER: Die Zunge als Lohn, 46.

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Eine Eloquenz der vielen „aus-/geschüttete[n]“, „aus-/gespieene[n]“ Worte mündet in Exners Gedicht in das „Schweigen“; wortreich zwar, doch unrein und leer. Dagegen stellt Exner den Stotterer. Pausen der Rede eröffnen Räume, in denen ER das Wort ergreifen kann, verschaffen IHM Ankerpunkte für SEINE Ein-Fälle, durch die er Fragmente der Rede aufnimmt und neu verknüpft. Exners Gedicht erinnert nicht nur an Mose, auch die Erinnerung an Paulus wird evoziert: „Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen.“ (Röm 8,26) Was macht die Worte so leer, wie wird aus ihnen „aus-/geschüttetes Ab/wasser“? Christine Lavant (1915–1973) schreibt in den fünfziger Jahren ein Gedicht, in dem sie große Worte der Bibel und der christlichen Tradition aufnimmt: Glaube, Liebe, Hoffnung. Ihr Gedicht ist ein Gebet; wie in einem Psalm ruft sie aus der Tiefe, aus der Ohnmacht zu Gott. Dreifach so groß wie sonst an Erdentagen schaut deine Sonne aus der Allmacht her und dreimal kleiner, als er gestern war, kniet heut mein Mut aus seiner Ohnmacht auf.

Gib mir ein Drittel nur von einem Korn! Ich will auch das noch mit den armen Seelen und allen Traurigen auf Erden teilen, gib mir die Liebe, Herr, mein täglich Brot.

Er will nicht streiten, glost nur vor sich hin. Dreifaltigkeit und Glaube, Hoffnung, Liebe sind hohe Vögel, die vom Gnadenbaum die leeren Hülsen über mich verstreuen.

Dreimal so stark wie diese deine Sonne wird dann mein Mut mit aller Schwermut streiten und wird die Taube der Dreifaltigkeit durch das Gewässer dieser Ohnmacht tragen. Christine Lavant (1956)227

Christine Lavants dichte Worte eröffnen weite Möglichkeiten der Rezeption. Auf dem Hintergrund von Exners Kritik an entleerender Eloquenz, die Worte in „Ab-/wasser“ verwandelt, lässt sich Lavants Gedicht als Bitte um das Wort vernehmen, das „Korn“ gibt und nicht schnell-redend zu „leeren Hülsen“ verbraucht wird, „[…] leeren Hülsen“, wie sie die „hohe[n] Vögel“ „vom Gnadenbaum“ herabstreuen. Ausgerechnet „Dreifaltigkeit“ und „Glaube, Hoffnung, Liebe“, die wichtigste christlich-theologische Lehraussage und die bedeutendste biblische Trias, fliegen in dem Gedicht in einiger Höhe über die Köpfe hinweg. Dann nämlich, so interpretiere ich Lavant, wenn es sich nur noch um Worte begrifflicher Abstraktion handelt, die aus dem Ereignis der Gottesgegenwart die „Dreifaltigkeit“ ableiten, und dort, wo von „Glaube, Hoffnung, Liebe“ die Rede ist, nur noch eine paulinische 227

LAVANT: Die Bettlerschale, 80.

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Trias vernehmen. „Leere Hülsen“ „vom Gnadenbaum“; nicht einmal mehr ein „Korn“, das vom Tisch des Herrn fällt. Christine Lavant wagt – dieser Leserichtung des Gedichts folgend – den Widerstand gegen das Verstreuen abstrakter Begrifflichkeit. Ihr Widerstand kennt noch die Sehnsucht danach, dass ein einzelnes Wort wirkt und tägliches Brot wird: „[…] gib mir die Liebe, Herr, mein täglich Brot.“ Lavants Widerstand erinnert an den der kanaanäischen Frau (Mt 15,21–28): Sie nimmt die Worte des Herrn ernst – und lehnt sich mit seinem Wort gegen sein Wort auf: „Ja, Herr, aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.“ (V.27) Auch durch Lavants Rebellion kommen Worte neu in Bewegung: Liebe wird zum Brot – und ist nicht länger abstrakte Chiffre einer begrifflichen Trias; und auch die Dreifaltigkeit gewinnt an Leben: „die Taube der Dreifaltigkeit“ trägt durch das „Gewässer dieser Ohnmacht“. Gegen abstrakte Begrifflichkeit entdeckt Lavant die Worte neu. Einer Kirche, die lediglich wie „hohe Vögel“ „leere Hülsen“ verstreut, spricht sie das Recht ab, so schnell-lesend und schnell-redend mit Worten umzugehen. Im Gebet, in der Anrede an Gott aus Ohnmacht und Schwermut heraus, kämpft sie um das Leben in den Worten und das Leben der Worte. Was bleibt zu tun – gegen ein homiletisches fast reading und begriffliches Schnell-Reden? Richard Exners oben zitiertes Gedicht endet wie folgt: 3 Bei Gott vielleicht versickerten Tränen und Samen nicht so rasch, wenn wir statt der Zunge die Hände erhöben und auf Zeichen setzten. Vielleicht flösse das Licht fließender, wenn wir stockender sprächen.228

Stockender sprechen erscheint bei Exner als Heilmittel gegen die dahineilenden Worte. Homiletisch könnte dies ein Hängenbleiben am langsam gelesenen Wort der Schrift bedeuten, ein homiletisches Stottern, das im In-

228

EXNER: Die Zunge als Lohn, 47.

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nehalten eine neue Sprache gewinnt und so hinweist auf „Not und Verheißung der Sprachlosigkeit in Theologie und Kirche“229 und Predigt.

11.3 Predigt als Lesen-Lernen: Zur Pragmatik einer homiletischen Textlektüre im Kontext des Midrasch Nachdem Hermeneutik und Methodik einer Textlektüre im Midrasch vorgestellt und in ein Gespräch mit homiletischer Textlektüre gebracht wurden, soll abschließend nach der Pragmatik dieser Lektüre gefragt werden. Den Begriff der Pragmatik verstehe ich dabei gemäß seiner linguistischen und semiotischen Verwendung. Linguistisch bezieht sich Pragmatik – basierend auf der Zeichentheorie von Pierce und Morris – auf die Kommunikationssituation, in der Zeichen gebraucht werden, auf Sender und Empfänger und deren durch die Zeichenverwendung gestiftete Relation. Semiotisch sind Zweck und Wirkung einer Aussage im Blick.230 Es geht im Folgenden also darum, nach dem kommunikativen Kontext einer midraschischen Textlektüre sowie nach ihrer Funktion für die den Text rezipierende Gemeinschaft zu fragen. Dies soll zunächst im Blick auf den Terminus „Talmud Tora“ (‫ )תלמוד תורה‬im rabbinischen Judentum geschehen (11.3.1). Mit Rosenzweigs Konzept eines „neuen Lernens“ sowie Susan Handelmans Anregungen zu einer midraschischen Pädagogik („Midrash as Pedagogy“231) stelle ich dann zwei Rezeptionen dieses Lernens im 20. Jahrhundert vor (11.3.2). Der Dialog mit christlicher Homiletik schließt sich an und bestimmt Predigt als Lesen-Lernen (11.3.3).

11.3.1 Talmud Tora: Lehren und Lernen als Ziel midraschischer Aktivität Der Begriff ‫( תלמוד תורה‬Lehren und Lernen der Tora) war in rabbinischer Zeit überaus positiv konnotiert. Bereits in der Mischna heißt es: „Dies sind die Dinge, die kein [festgelegtes, AD] Höchstmaß haben: Der Eckenlass [‫ ;פאה‬vgl. Lev 19,9f, AD] und die Erstlingsopfer und die Wallfahrt zum Tempel und das Tun von Wohltaten und das Lernen und Lehren der Tora [‫]תלמוד תורה‬. Dies sind die Dinge, deren Früchte ein Mensch in diesem Leben genießt und deren Lohn ihm in der kommenden Welt bleibt: Ehre gegenüber Vater und Mutter und das Tun 229

KÖRTNER: Der inspirierte Leser, 18–43 [Alles hat seine Zeit. Not und Verheißung der Sprachlosigkeit in Theologie und Kirche; Hervorhebung AD]. 230 Vgl. grundlegend PELZ: Linguistik, 241–277.297–302 (Anm.). 231 HANDELMAN: The „Torah“ of Criticism, 228–231, Zitat: 228.

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von Wohltaten und das Friedenmachen zwischen dem einen und dem anderen; das Lernen und Lehren der Tora [‫ ]תלמוד תורה‬aber wiegt sie alle auf.“ (mPea 1,1; vgl. auch bQid 40a)

In bMeg 16b liest man rabbinische Aussagen, die Talmud Tora höher gewichten als die Rettung von Leben, als den Bau des Tempels oder als die Ehre gegenüber Vater und Mutter; in bMen 110a sagt Rava: „Wer immer sich mit dem Lernen und Lehren der Tora befasst, der braucht gar kein Brandopfer, kein Sündopfer, kein Speiseopfer und kein Schuldopfer“232; und in bQid 40b findet sich die oben (11.2.1) zitierte Erzählung zur Frage, ob das Lernen oder die Tat größer sei, die in der Mehrheitsmeinung gipfelt, wonach das Lernen zur Tat führe und daher bedeutsamer sei. Die Liste rabbinischer Belegstellen zur Bedeutung von Talmud Tora ließe sich noch erheblich verlängern. Worum geht es genauer, wenn von Talmud Tora die Rede ist? Richard S. Sarason beschreibt Talmud Tora als den performativen Aspekt des rabbinischen Midrasch, als „the collective rabbinic ritual of Torah study“233. Eine Verortung in drei grundlegende Spannungsfelder scheint mir hilfreich, um das, was Talmud Tora als „rabbinisches Ritual“ bedeutet, näher zu konturieren. (1) Talmud Tora zwischen Tradition und Erneuerung: Talmud Tora beschreibt ein Lernen und Lehren, das in einem ständigen Kreislauf erfolgt, in dem das Studium der bisherigen Lehre zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser Lehre und damit zu ihrer Erweiterung führt. Die erweiterte Lehre wird dann erneut zur Grundlage des Studiums. Übernahme der Lehre und Neugestaltung verbinden sich unabschließbar.234 Im Vollzug dieser Erweiterung der Lehre rechnen die Rabbinen immer neu mit einem Chiddusch (‫)חדוש‬, mit einer, wie Sarason formuliert, „novel and arresting interpretation“235. Als pure Selbstverständlichkeit beschreibt R. Jehoschua (ben Chananja) diese Erwartung: „Es ist nicht möglich für ein Lehrhaus, dass es dort keinen Chiddusch gibt“ (bHag 3a236). In der rabbinischen Literatur verbindet sich die Erwartung des Chiddusch allerdings mit der grundlegenden Überzeugung, wonach es bei allem Lehren und Lernen nichts wirklich

232 Vgl. dazu DEEG: Opfer als ‚Nahung‘, 131–133. Der rabbinische Text ist nach der Übersetzung Stefan Schreiners zitiert (131). 233 SARASON: Interpreting Rabbinic Biblical Interpretation, 136. 234 Vgl. SARASON: Interpreting Rabbinic Biblical Interpretation, 140. Vgl. ähnlich auch FRAADE: The Turn to Commentary; ders.: From Tradition to Commentary, 18f und 69–121.229– 259 (Anm.) [The Early Rabbinic Sage and His Torah in the Text of the Sifre]). 235 SARASON: Interpreting Rabbinic Biblical Interpretation, 141. 236 ‫אי אפשר לבית המדרש בלא חידוש‬. Vgl. oben Kap. 3.2.2.2, 79f, und Kap. 4.2.3, 118.

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Neues gebe. Alles, was ein treuer Schüler in der Zukunft vor seinem Lehrer sagen werde, sei, so betont R. Jehoschua ben Levi, schon zu Mose auf dem Berg Sinai gesagt worden (WaR 22,1). Jürgen Ebach kommentiert diese widersprüchlichen rabbinischen Aussagen: „Ein Widerspruch? Gewiss, aber das heißt nicht, dass eine der beiden Maximen falsch wäre. Die generationsimperialistische Verachtung der Tradition ist ebenso eine Gefahr wie es starre Traditionshörigkeit sein kann.“237 Talmud Tora bewegt sich folglich zwischen Chiddusch und Weitergabe des Bekannten, zwischen Tradition und ständiger Erneuerung.238 (2) Talmud Tora zwischen Pluralität und Bestimmtheit: Talmud Tora führt zu einem Lehren und Lernen, an dem zahlreiche Lehrer nebeneinander und miteinander beteiligt sind. Diese Lehrer greifen ständig auf die Texte der Tora und ihre bisherige Auslegung zurück und fügen ihre eigenen Interpretationen hinzu. Die häufig zitierten Spitzensätze, wonach die Tora „siebzig Gesichter“ habe (BemR 13,15f) und ständig umgewendet werden müsse, da alles in ihr enthalten sei (mAv 5,22), erklären sich aus der gemeinschaftlichen Praxis des Toralernens und -lehrens.239 In der insgesamt überlieferten Lehre erscheint die Auslegung daher durch die Vielzahl der Einzelaussagen offen und vielgestaltig; gleichzeitig aber entsteht diese Pluralität durch die deutlichen und pointierten Aussagen der einzelnen Rabbinen – wie sich etwa auch in der oben dargestellten Diskussion „im Obergeschoss des Hauses Nitzas in Lod“ (bQid 40b) zeigt.240 (3) Talmud Tora zwischen darstellendem und wirksamem Handeln: Sarason beschreibt Talmud Tora als ein Lehren und Lernen, dessen Zweck nicht (nur) in seinen Ergebnissen, sondern auch in seinem Vollzug gesehen werden kann. „A consequence of this performative aspect of midrash is that the midrashic activity has become an end in itself, valued as much – if not more so – as an activity as for the specific outcome it yields.“241 Talmud Tora steht für die Rabbinen damit auf der Stufe eines Handelns, das mit Schleiermacher als darstellendes Handeln bezeichnet werden könnte. Es ist „darstellende Mittheilung und mittheilende Darstellung des gemeinsamen“ rabbinischen „Sinnes“242. Besonders deutlich wird die Bedeutung symbolisierender Darstellung dort, wo Talmud Tora in rabbinischen Aussagen an die Stelle des nach 70 n.Chr. nicht mehr möglichen Tempelopfers tritt.243 Ande237

EBACH: Aggadische Dogmatik, 235. Vgl. auch VELTRI: Gegenwart der Tradition, XIII, der im Blick auf die Tradition und ihre ständige Erneuerung im Judentum von einem „perpetuum hermeneuticum“ spricht. 239 Vgl. SARASON: Interpreting Rabbinic Biblical Interpretation, 140. 240 Vgl. oben Kap. 11.2.1.1, 315. 241 SARASON: Interpreting Rabbinic Biblical Interpretation, 141. 242 Die Zitate stammen aus SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 145. 243 Vgl. DEEG: Opfer als ‚Nahung‘, 131–133; COHEN: Blessed Are You, 28. 238

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rerseits aber darf dieser darstellende Charakter nicht verabsolutiert werden. Torastudium bedeutet – vor allem in seinem halachischen Aspekt – auch wirksames Handeln. Die Halacha widmet sich akribisch der Frage nach der Gestaltung des Lebens im Einklang mit der Tora und untersucht dazu konkrete Fälle des Lebens.244 Bereits Rabban Gamliel, der Sohn von Rabbi Jehuda ha-Nasi, warnt davor, Talmud Tora und die Aktivität in der Welt zu isolieren: „Es ist gut, das Studium der Tora mit einem weltlichen Beruf zu verbinden, denn das Bemühen um beides verdrängt Verkehrtes […]“ (mAv 2,2).245

11.3.2 Talmud Tora: Zwei Wiederaufnahmen im 20. Jahrhundert Talmud Tora als gemeinschaftliche Praxis kann als Basis und Motor der rabbinischen Bewegung der ersten nachchristlichen Jahrhunderte verstanden werden. Welche Bedeutung gewinnt Talmud Tora im gegenwärtigen Judentum? Ich gehe im Folgenden von Beobachtungen Jacob Neusners aus, der kritisch nach Möglichkeiten einer Rezeption von Talmud Tora in der Gegenwart fragt. Auf dieser Grundlage lassen sich die Besonderheiten der Wiederaufnahme einer Methodik rabbinischen Lernens durch Franz Rosenzweig und Susan Handelman profilieren. Neusner legte 1984 einen Aufsatz mit dem Titel „Lernen and Learning“246 vor – ein Titel, der bereits die grundlegende These Neusners enthält: Es gebe im gegenwärtigen Judentum eine Form traditionellen „Lernens“, das mit wirklichem Lernen („Learning“) nichts zu tun habe. Neusner bezieht den Begriff des Lernens, das er auch als „ritual learning“247 bezeichnet, auf den Umgang mit rabbinischen Texten in den orthodoxen Jeschiwot. Dort bestehe Lernen vor allem aus der Wiederholung des rabbinischen Materials – mit der Folge, dass Studenten auch nach vielen Jahren des Lernens nicht wirklich etwas gelernt hätten: „When I ask them [die Jeschiwa-Studenten, AD] what they learned, they name the tractate [das Talmudtrakat, AD]. When I ask them the main point of the tractate […], they are dumbfounded.“248 Ein solches bloßes Repetieren einer verehrungswürdigen Tradition habe, so Neusner, mit Talmud Tora nicht viel gemein. Talmud Tora nämlich beziehe sich niemals nur auf Wiederholung, sondern entscheidend auf verstehende Aneignung.249 Neusner folgert daher: Nicht in den ortho244

Vgl. dazu unten Kap. 13.1.1.2. Übersetzung nach BÖCKLER: ‫פרקי אבות‬, 48 [Hervorhebung AD]. 246 NEUSNER: Lernen and Learning. 247 NEUSNER: Lernen and Learning, 23. 248 NEUSNER: Lernen and Learning, 22. 249 Vgl. NEUSNER: Lernen and Learning, 25. 245

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dox-rabbinischen Jeschiwot, sondern im säkular-akademischen Kontext mit seiner kritischen Methodik sowie seiner Freiheit der Forschung und Meinung sei Talmud Tora gegenwärtig zu finden.250 Denn es gelte: „[…] the right route to the heart of the Torah leads outward from the Torah“251; Lernen führe ins Leben, weswegen die Aussagen der Tradition in den Kontext gegenwärtigen Lebens gebracht werden müssten. M.E. kritisiert Neusner zu Recht Aspekte gegenwärtiger orthodoxer Jeschiwa-Praxis, die – mit der oben angeführten Unterscheidung von Aharon R. E. Agus – in ihrem Lernen eher eine fetischistische denn eine kommunikative Heiligkeit der Texte der Tradition voraussetzen.252 Gleichzeitig aber entwickelt Neusner eine Dichotomie, die fragwürdig bleibt. Gibt es nur entweder den traditionellen Weg in die Tora durch die Wiederholung der Aussagen der Vergangenheit oder den modernen Weg aus der Tora in den Kontext gegenwärtigen Lebens? Zeigt nicht die rabbinische Praxis von Talmud Tora, wie beides lesend und lernend miteinander verknüpft werden kann: die Wiederholung der Tradition und deren Neuerung, darstellendes und wirksames Handeln? Bereits Franz Rosenzweig wandte sich bei seinen Bemühungen um eine Erneuerung jüdischen Lernens in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gegen die beiden einseitigen Wege eines Umgangs mit jüdischer Tradition, die er im Liberalismus einerseits, in der Orthodoxie andererseits ausmachte. Beiden sei – so Rosenzweig in seinem berühmten Vortrag zur Eröffnung des „Freien Jüdischen Lehrhauses“ in Frankfurt/Main am 17.10.1920 – das nicht gelungen, was Lernen eigentlich ausmachen müsse, nämlich „sich das Leben in Zusammenhang mit dem Buch zu halten“253. Der Weg des Liberalismus versuche, so Rosenzweig in militärischer Metaphorik, das Leben „mit dem leichtbeweglichen Fliegergeschwader der Ideen“ in den Griff zu bekommen und mit dem Judentum zu verbinden, wobei es zur Abstraktion der Begriffe, damit aber zur „Oberflächenbehandlung“ des Lebens und der Welt gekommen sei.254 Die Orthodoxie hingegen unternehme den Versuch, „mit den Nahkampfwaffen des Gesetzes das Leben zu bezwingen“255. Allerdings fielen dabei die Welt und das jüdische Leben letztlich in zwei verschiedene Bereiche auseinander. Die Folge der gescheiterten liberalen und orthodoxen Wege wurde Rosenzweig in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg deutlich: Heute stünden alle Jüdinnen und Juden draußen, außerhalb der jüdischen Tradition. Die Richtung eines neuen Lernens, für das Rosen250

Vgl. NEUSNER: Lernen and Learning, 24. NEUSNER: Lernen and Learning, 26 [Hervorhebung im Original]. 252 Vgl. AGUS: Heilige Texte, bes. 43–46. 253 ROSENZWEIG: Neues Lernen, 507. Vgl. dazu auch GILLMAN: Morenu Franz Rosenzweig; GOLDSCHMIDT: Vom Lehrhaus. 254 ROSENZWEIG: Neues Lernen, 506. 255 ROSENZWEIG: Neues Lernen, 506. 251

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zweig mit seinem Frankfurter Lehrhaus eintritt, lasse sich daher bestimmen als Richtung „zurück in die Tora“256, „von der Peripherie ins Zentrum […], vom Außen ins Innen“257. Dieser Weg Rosenzweigs „zurück in die Tora“ muss m.E. gegen zwei mögliche Missverständnisse abgegrenzt werden: das idealistische Missverständnis einerseits, das romantische oder historistische Missverständnis andererseits. (1) Rosenzweig versteht das „Zentrum“, das von der „Peripherie“ aus gesucht werden soll, nicht als ein intellektuell und sprachlich greifbares idealistisches Konzept, nicht als etwas, „was wir hell und deutlich und aussprechbar besitzen“.258 Zu suchen wären daher, so ließe sich formulieren, Wege, die gegangen, nicht Sätze, die formuliert werden könnten. Nicht nur Inhalte, sondern auch Formen des Lernens müssten wiedergewonnen werden.259 Nur unterwegs im Lernen, nicht in der Suche nach einem vermittelnden Begriff, werde sich dann zeigen, wie begrifflich unauflösbare Gegensätze – wie der von Tora und Propheten, Halacha und Haggada, Welt und Mensch – „untrennbar ineinanderverwoben“ seien.260 (2) Bei dem Weg „zurück in die Tora“ geht es nicht um ein idealistisches Konzept, aber ebenfalls nicht um einen – romantisch oder historistisch – zu begehenden Weg in eine erträumte oder rekonstruierte Vergangenheit. Dagegen grenzt sich Rosenzweig bereits in seinen Überlegungen zur Erneuerung eines jüdischen Religionsunterrichts 1917 ab: Mit der Konzentration auf die jüdische Tradition sei „das Ziel aller Zukunft“ im Blick – keineswegs die Verklärung einer Vergangenheit oder bloße historische Rekonstruktion.261 1920 – in seiner Lehrhauseröffnungsrede – verwendet Rosenzweig den Begriff der „Erinnerung“. Diese habe mit der Reminiszenz einer Vorgeschichte nichts zu tun; sie sei vielmehr „Einkehr aus dem Äußeren ins Innere“ und so „Heimkehr“.262

256

ROSENZWEIG: Neues Lernen, 507. ROSENZWEIG: Neues Lernen, 508. 258 ROSENZWEIG: Neues Lernen, 508. Vgl. dazu auch MAYBAUM: Franz Rosenzweig, 157. 259 Vgl. grundlegend auch Rosenzweigs Ansatz eines „Sprachdenkens“, das Denken aufgrund seiner Sprachlichkeit an die jeweilige Zeit gebunden sieht und sich vom Projekt eines zeitunabhängigen Denkens verabschiedet (vgl. GOODMAN-THAU: Aufstand der Wasser, 37f). 260 ROSENZWEIG: Neues Lernen, 509; vgl. insg. 509f. – Bereits 1917 – in seinem drängenden und programmatischen Aufruf zur Erneuerung des jüdischen Religionsunterrichts mit dem Titel „Zeit ists“ – hatte Rosenzweig die „Lebendigkeit“ einer Lehre gefordert, die nichts mit der „Vollständigkeit“ eines materialen Bildungskatalogs gemein habe, sondern bei der es darauf ankomme, sich in die Tradition hineinzuspinnen (vgl. ROSENZWEIG: Zeit ists, bes. 464, und oben Kap. 6.2, 169f). 261 Vgl. ROSENZWEIG: Zeit ists, 463. 262 ROSENZWEIG: Neues Lernen, 510. 257

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Ingrid Schoberth schreibt zum jüdischen Lehrhaus in Frankfurt: „Das Lehrhaus wurde zum Ort, an dem das Lernen erprobt wird.“263 Anders ließe sich sagen: Es wurde zum Ort, an dem eine Wiederaufnahme von Talmud Tora versucht wurde, die sich zwischen Liberalismus und Orthodoxie bewegt und Form und Inhalt, Buch und Leben, Tradition und Gegenwart miteinander verbindet. Versuchte Rosenzweig, durch ein neues Lernen eine vom Weg „zurück in die Tora“ geprägte jüdische Gemeinschaft in lesend miteinander verbundener Verschiedenheit zu formen, so greift Susan Handelman auf Talmud Tora zurück, um die Bedeutung des Lernens in post-modernen Zeiten neu ins Bewusstsein zu rufen. Handelman sucht nach einer Pädagogik, die nicht von Inhalten her auf Möglichkeiten der Vermittlung dieser Inhalte blickt, sondern das Lehren und Lernen zum epistemologischen Ausgangspunkt erhebt.264 Der rabbinische Midrasch wird dafür paradigmatisch, da er selbst insgesamt als Pädagogik gelesen werden könne („Midrash as Pedagogy“265). Dies begründet Handelman mit dem homiletischen Sitz im Leben der midraschischen Texte: „I would […] venture to say that hermeneutics and homiletics cannot be separated and that they are brought together under the category of the pedagogical.“266 Entscheidend für diese Pädagogik sei zunächst, dass die Texte der rabbinischen Literatur zur inszenierenden Partizipation der Lesenden aufrufen. Diese Inszenierung gehe über die bloße Teilnahme am Dialog der rabbinischen Texte hinaus und ziehe das ganze Leben der lesend Lernenden mit hinein. Dieser Aspekt, der deutlich an die Halacha in der rabbinischen Literatur erinnert, wird von Handelman allerdings nur sehr allgemein angedeutet, indem sie von dem Ziel spricht, „to perform it [den gelesenen Text, AD] in the stages of our own lives“267. Interessanter erscheint mir, wie ambivalent Handelman die Rolle des Lehrers in dieser midraschischen Pädagogik profiliert. Einerseits erscheint er als unerlässlich, da die Tora nicht als ein Inhalt übergeben oder als Stoff gelernt werden könne, sondern auf die Art und Weise ihrer Weitergabe angewiesen sei. Die Tora sei nicht einfach ein Wissen, sondern bringe immer neues Wissen hervor – so formuliert Handelman in Anlehnung an José Faur.268 So wichtig der Lehrer damit erscheint, so entscheidend sei es jedoch zugleich, dass dieser sich selbst zurücknehme, um dem Schüler Raum für die eigene „Inszenierung“, die zum Lehren und Lernen unabdingbar gehört, zu gewäh263

SCHOBERTH: Glauben-lernen, 126. Vgl. HANDELMAN: The „Torah“ of Criticism, 222–227. 265 HANDELMAN: The „Torah“ of Criticism, 228–231. 266 HANDELMAN: The „Torah“ of Criticism, 229. 267 HANDELMAN: The „Torah“ of Criticism, 231. 268 Vgl. HANDELMAN: The „Torah“ of Criticism, 231f. 264

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ren. Handelman greift an dieser Stelle auf das kabbalistische Konzept des „Zimzum“ zurück, das dort für den Rückzug Gottes steht, durch den er der Welt und den Menschen Raum zur Entfaltung gewährt. Ähnlich müsse auch der Lehrer durch seinen Rückzug den Schülern Raum schaffen für ihre eigene Gestaltung der Lehre im Leben.269 Von diesen kurzen Überlegungen zur Relevanz eines Lehrens und Lernens, das Wege „zurück in die Tora“ (Rosenzweig) als kreative Wege der Lernenden, angestoßen durch engagierte und doch bescheidene Lehrende (Handelman) sucht, blicke ich nun auf die homiletische Textlektüre und bestimme die Predigt in pragmatischer Dimension als Lesen-Lernen.

11.3.3 Predigt als Lesen-Lernen Die christlich-homiletische Ausgangslage zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheint mir mit der von Rosenzweig konstatierten Situation in der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts in mancher Hinsicht vergleichbar. Ein (fortgesetzter) Traditionsabbruch wird vielerorts festgestellt, teilweise larmoyant beklagt, teilweise akzeptiert und in ein neues und weites Deutungsraster des Religiösen eingezeichnet. Der Charme von Rosenzweigs Rückgriff auf Talmud Tora liegt m.E. darin, im Abbruch von Traditionen die Chance eines neuen Lernens, eines vielgestaltigen Weges „zurück in die Tora“ zu sehen, der Leben und Buch neu in Zusammenhang bringt. In dieser Situation scheint mir daher eine Lehrpredigt gefragt, die zum gemeinsamen Lernen der Schrift führt.270 Ich formuliere die These: Kon-textualisierende Predigt ist Lehrpredigt, insofern sie das Ziel hat, zu zeigen, was es lesend in einem biblischen Text zu entdecken geben könnte, und die Hörerinnen und Hörer selbst lesen zu lassen. Diese These geht von zwei Voraussetzungen aus, die die Konturierung des Begriffs der Lehre betreffen und die ich im Folgenden zunächst expliziere (11.3.3.1), bevor ich homiletische Folgerungen benenne (11.3.3.2).

269

Vgl. HANDELMAN: The „Torah“ of Criticism, 233f. Analog beschreibt Annette Böckler die Predigt im jüdischen Gottesdienst als „Teil des gemeinsamen Lernens der Tora“ (BÖCKLER: Jüdischer Gottesdienst, 134). – Bereits Luther forderte eine solche – auf das Wort der Schrift bezogene – Lehrpredigt in seiner Kirchenpostille 1522: „Merck, das eynß predigerß ampt tzwey werck hatt, leren und vormanen […]“ (WA 10,1,1, 54, 12f; „vormanen“ steht hier im Sinne von „erinnern“). Eine Rehabilitation der vielfach problematisierten Kategorie der Lehre für die christliche Predigt versuchte auch Rudolf Bohren im Nachwort zur sechsten Auflage seiner Predigtlehre (1992; vgl. BOHREN: Predigtlehre, 564–567, hier: 565). 270

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11.3.3.1 Voraussetzungen: Lehre als dimensionaler Begriff und dynamisch-wechselseitige Praxis (1) Eine erste Voraussetzung meiner These liegt darin, dass der Begriff der Lehre nicht sektoral, sondern dimensional verstanden wird. Ein sektorales Verständnis würde bedeuten, dass Lehrpredigt als material-homiletischer Teilbereich konzipiert würde und z.B. Textpredigt und Lehrpredigt so voneinander unterschieden würden, dass sich die Textpredigt mit einem biblischen Text, die Lehrpredigt mit einem Thema christlicher Lehre (so klassisch die Katechismuspredigt) bzw. mit einer aktuellen Fragestellung beschäftigt.271 Ein dimensionales Verständnis von Lehre in homiletischer Perspektive lässt sich demgegenüber z.B. bei Michael Meyer-Blanck greifen. In seinem Aufsatz zu „didaktische[n] Aspekten der Predigt“ wendet er sich – Einsichten der neueren Schul- und Gemeindepädagogik aufnehmend – gegen „einen zu engen Lernbegriff“ und schreibt: „Auch die Predigt hat wie jeder Lebensvorgang mit Lernen zu tun.“ Lernen bedeute „die Lebendigkeit eines Menschen unter dem Gesichtspunkt der Veränderung“272. Insofern könne jede Predigtkommunikation als Lehre und Lernen beschrieben werden. Das Lernziel einer Predigt läge nach Meyer-Blanck darin, „dass die Zuhörenden sich selbst neu im Licht des Glaubens sehen lernen, indem sie Neues an einem biblischen Text sehen lernen“273. Veränderung der Selbstwahrnehmung durch Textwahrnehmung – dieser Lernprozess ist für MeyerBlanck in jedem Predigtgeschehen angelegt und erscheint mir grundlegend für eine Bestimmung der Predigt als Lehrpredigt in einem dimensionalen Verständnis von Lehre. (2) „Predigt als Lernprozess“ – diese dimensionale Grundlegung einer Lehrpredigt wurde bereits zu Beginn der 1970er Jahre in die homiletische

271 Vgl. Hans Martin Müller, der in seiner materialen Homiletik drei Gruppen von Predigten unterscheidet: „Biblische Predigt mit erzählenden Texten“ (MÜLLER: Homiletik, 218–222), „Biblische Predigt mit lehrenden Texten“ (227–232) und „Kirchliche Lehre als Predigtgegenstand“ (232–237). Ein sektorales Verständnis von Lehre deutet sich auch bei John C. Westerhoff an (WESTERHOFF: Art. Teaching and Preaching). Westerhoff greift auf die neutestamentliche Unterscheidung von Kerygma (Verkündigung) und Didache (Lehre) zurück und geht davon aus, dass sich die Predigt als Kerygma an die Außenstehenden und die Predigt als Didache an die bereits Getauften richtet (auch die Paraklese kommt als dritte Dimension der Predigt bei Westerhoff vor und wird als „liturgical preaching“ [468] bestimmt). 272 MEYER-BLANCK: Reden, hören, neu sehen lernen, 133. Vgl. auch ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 204: „Predigt hat immer auch mit Lehre zu tun“, und ähnlich HUGHES/KYSAR: Preaching Doctrine, bes. 25–27. In einer grundlegenden dogmatischen Reflexion verbindet z.B. auch Hermann Diem Verkündigung und Lehre (DIEM: Theologie als kirchliche Wissenschaft, 145– 157). 273 MEYER-BLANCK: Reden, hören, neu sehen lernen, 136 [im Original hervorgehoben]. Vgl. bereits ders.: Predigt als ‚Neues Sehen‘, 313.

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Diskussion gebracht.274 Die Wahrnehmung der Funktion der Predigt als Lehre hatte in jener Zeit allerdings eine instrumentell-lineare Schlagseite, d.h. die Predigt wurde als wirkungsvolles Instrument zur Gestaltung zielgerichteter Lernprozesse gesehen, deren Resultat, so Heribert Arens, in einer „Einstellungsveränderung“ der Hörerinnen und Hörer liege.275 Dementsprechend wurde Predigt als Vermittlungsgeschehen konzipiert. So formulierten Peter Düsterfeld und Hans Bernhard Kaufmann 1975: „Wer lehren (predigen) will, muß die Sache, die vermittelt werden soll, verstanden haben. Gleichzeitig muß er Wege kennen, die anderen dies Verstehen auch ermöglichen.“276 Das damals vielfach rezipierte lernpsychologische Aufbaumodell der Predigt unterstreicht dieses lineare Muster: Über eine Motivation der Hörerinnen und Hörer, eine Problemabgrenzung und über Versuch und Irrtum im Spiel mit unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten gelangt man dem Modell folgend zum Lösungsangebot und zur abschließenden Lösungsverstärkung.277 In einem solchermaßen linearen Denkrahmen konnte man nach der „Steigerung“ der „Effektivität“ der Predigt278 und nach den „Bedingungen einer wirkungsvollen verbalen Beeinflussung“ der Hörerinnen und Hörer279 fragen. Freilich wusste man zur Zeit der homiletischen Rezeption didaktischer Erkenntnisse um das Jahr 1970 auch, dass es bei der Predigt nur um eine „Lernhilfe“ gehen kann, die dem Hörer „zur subjektiven Erfahrung und Verantwortung seines Glaubens verhelfen“ solle.280 Keinesfalls wollte man lediglich feststehende Begrifflichkeiten oder eine überkommene Lehre an die Hörerinnen und Hörer möglichst effektiv weitergeben. Als eigentliches Bewährungsfeld der Lehre galt die Gestaltung des Lebens im Alltag. Eine solche Konzeption der Lehre allerdings führte zu einer Ethisierung des Gottesdienstes und der Predigt – eine Entwicklung, die bereits Ernst Lange auf dem Düsseldorfer Kirchentag 1973 kritisch in den Blick nahm.281 Michael Meyer-Blanck sieht bei jenen Modellen der 1970er Jahre die „Freiheit der Hörenden“ sowie die „Freiheit des Textes“ zu 274 Vgl. ARENS: Die Predigt als Lernprozeß, und vgl. dazu KRETZSCHMAR/WINKLER: Die Gemeinde, 195–197. 275 Vgl. zum Begriff der „Einstellungsveränderung“ ARENS: Die Predigt als Lernprozeß, 95– 105. 276 DÜSTERFELD: Didaktik der Predigt, 25 [Hervorhebung AD]. 277 Vgl. ARENS: Die Predigt als Lernprozeß, 123–138; vgl. auch DÜSTERFELD: Didaktik der Predigt, 43f. 278 SCHNEIDER: Unter welchen Voraussetzungen, 247. 279 SCHNEIDER: Unter welchen Voraussetzungen, 246. 280 DÜSTERFELD: Didaktik der Predigt, 10. 281 Vgl. LANGE: Was nützt uns der Gottesdienst, 83–95; vgl. dazu MARQUARD: Homiletik und theologische Ästhetik, 216f; MÖLLER: Lehre vom Gemeindeaufbau, Bd. 2, 303–332 [Die liturgische Dimension der Gemeinde im Lichte von Gottes Dienst im Wort]. Vgl. auch STEFFENSKY: Feier des Lebens; ders.: Wo der Glaube wohnen kann.

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wenig berücksichtigt.282 Beide Freiheiten drohen in eine vom Prediger dominierte didaktische Linearität eingefügt zu werden. Als zweite Voraussetzung meiner obigen These zur Neuaufnahme der Lehrpredigt muss daher gegenüber einem instrumentell-linearen ein dynamisch-wechselseitiges Modell des Lehrens in Anschlag gebracht werden.283 Das Ziel besteht darin, das Buch und das Leben in Zusammenhang zu bringen (Rosenzweig), den Text zu kon-textualisieren – und so den Hörerinnen und Hörern Räume für ein intertextuelles, dialogisches und kreatives Lesen zu eröffnen.284

11.3.3.2 Folgerungen aus einer Bestimmung der Predigt als Lesen-Lernen Wird das Ziel kon-textualisierender Predigt als Lesen-Lernen bestimmt, so ergeben sich daraus u.a. Folgerungen in theologischer, ethischer, hermeneutischer, oikodomischer, pastoraltheologischer und kultureller Perspektive, die ich im Folgenden jeweils kurz ausführe: (1) Theologisch: Eine Predigt, die in Analogie zu Talmud Tora rabbinischer Zeit dem Lesen-Lernen und Lesen-Lehren dient, kann in ihrem theologischen Anspruch bescheiden bleiben. Erneut greife ich auf Michael Meyer-Blanck zurück, diesmal auf seine 2001 im Anschluss an Wolfgang Welsch vorgelegten Gedanken zur „Predigt als transversale[r] Rede“.285 Transversal sei die Predigtrede, da sie mit dem „Wechsel des Bezugssystems“ zwischen unserer Welt und der anderen Welt Gottes rechne bzw. in unserer Welt die andere Welt Gottes sehen lasse.286 Gegen jede übersteigerte Dramatisierung der Predigtaufgabe gelte aber, dass sie selbst „nicht der Übergang in das Reich Gottes“ sei. Sie ermögliche vielmehr „die kleinen Übergänge in die andere Welt“.287 Nicht die „gültige Passage in das Reich Gottes“ sei in der Predigt zu erreichen; sie lasse sich „theologisch als spielerischer Gang im Vorgebirge beschreiben“.288 In Aufnahme der oben

282

Vgl. MEYER-BLANCK: Reden, hören, neu sehen lernen, 134–136, Zitate: 135f. Vgl. auch SCHRÖER: Glauben, Lehren und Verstehen, bes. 136. 284 Nur andeuten kann ich hier, dass sich im Kontext des Reformjudentums der USA in den letzten Jahren zahlreiche Ansätze finden, ein neues Lernen wiederzugewinnen, die sich in ein lohnendes Gespräch mit christlichen Versuchen bringen ließen. Ich verweise nur exemplarisch auf GOLDSTEIN: The Study of Torah as Religious Experience. 285 MEYER-BLANCK: Übergang und Wiederkehr. 286 MEYER-BLANCK: Übergang und Wiederkehr, 272f, Zitat: 272. 287 MEYER-BLANCK: Übergang und Wiederkehr, 274. 288 MEYER-BLANCK: Übergang und Wiederkehr, 274. Bereits Ernst Lange hatte gefordert, „die Predigtaufgabe zu entmythologisieren und zu entdramatisieren. Der Prediger ist nicht verant283

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ermittelten hermeneutischen Kennzeichen midraschischer Textlektüre ließe sich sagen: Predigt übt ein exilisches Lesen ein, das den Sinaigipfel nicht selbst erstürmen kann, das ihn aber in ihrer Erwartung auch nicht aus dem Blick verlieren darf. Talmud Tora bedeutet, ständig neue Wege des Lesens der Schrift zu beschreiten – mühsame und spielerisch-leichte. Es bedeutet, hineinzunehmen in die Kunst sprachlichen Denkens289, lesend Kon-Texte des Schriftwortes zu entdecken und so dessen Schönheit und Fremdheit wahrzunehmen. (2) Ethisch: Eine Predigt, die Lesen lehrt und lernt, hat ein ethisches Ziel. Dieses liegt allerdings nicht primär – wie noch häufig in Predigtkonzepten der 1970er Jahre – in einer bestimmbaren Einstellungs- und Verhaltensänderung in gesellschaftlicher oder individueller Perspektive. Das Heruntertransformieren biblischer Texte in die „kleine Münze“ unmittelbarer Handlungsorientierung führte tendenziell zu deren instrumenteller Entleerung sowie zur Entmündigung der Hörerinnen und Hörer.290 Stattdessen weist Talmud Tora zunächst den Weg in eine Lebensform des Lesens, deren Pragmatik zwischen darstellendem und wirksamem Handeln liegt. Lesen hat auch einen Zweck in sich. Es geht um ein ästhetisch und theologisch profiliertes „Genießen“, das Hans-Ulrich Gehring in Aufnahme von Luthers sakramentalem Wortverständnis sowie von Hans Robert Jauß’ Rezeptionsästhetik mit dem Begriff des „Wortgenusses“ beschreibt.291 Im Rückgriff auf eine Predigt Luthers zum Gleichnis vom großen Gastmahl aus Lk 14,16–24 schreibt Gehring: „Das Gastmahl Gottes erschließt sich […] als die in Christi Gabe eröffnete Gelegenheit zu sinnenfrohem Wortgenuß und üppigfestlicher Fröhlichkeit, die im ausgeteilten Wort beides genießt: Sinnlichkeit und Sinn!“292 Das Verhältnis von Wort und Rezeption zeichnet Gehring in eine Art fröhlich-gastwirtschaftlichen Wechsel ein: Der Rezipient ist Gastgeber des bei ihm einkehrenden Wortes und Gast des bewirtenden Wortes zugleich: „Der Rezipierende bittet zwar den fremden Gast der Schrift, in seinen eigenen Horizont einzutreten, erfährt sich aber dort, wo ein wahrhaftes Hören sich einstellt, selbst als Beschenkter, als heilsam heimgesucht und überreich bewirtet.“293

wortlich dafür, daß Wort Gottes geschieht und daß das Wort Gottes sich Glauben schafft.“ (LANGE: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, 33). 289 Arnold Goldberg spricht im Blick auf den Midrasch von einer „Kunst des Denkens“, das sich als „eminent sprachliches Denken“ erweise, ein „Denken, das sich immer wieder und wieder am Wort der Schrift“ bewege (GOLDBERG: Das Schriftauslegende Gleichnis im Midrasch, 192). 290 Vgl. dazu auch unten Kap. 13.4.4.1, 464f. 291 Vgl. GEHRING: Schriftprinzip und Rezeptionsästhetik, 160–224 [3. Kapitel: Wortgenuß]. 292 GEHRING: Schriftprinzip und Rezeptionsästhetik, 165. 293 GEHRING: Schriftprinzip und Rezeptionsästhetik, 167.

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Der Wortgenuss bei der Lektüre des Textes ist Folge und neuer Ausgangspunkt einer „Lust am Text“ (Barthes), die zum Lesen und Hören führt. Predigt als Lesen-Lernen weist immer neu in diesen Kreislauf und gewinnt so ihre Leben formende, ethische Kontur. Der Systematische Theologe Klaas Huizing hat die Bedeutung des Lesens für die christliche Lebensgestaltung deutlich herausgearbeitet. Er spricht von einer Präfiguration in den Texten der Schrift. Indem sich der Leser in diese Texte verstricke, werde er zu einer „Postfiguration“ geführt.294 Christliches Leben wird von Huizing unmittelbar mit einem Lesen verbunden, das die Welt nicht außen vorlässt, sondern auch im Blick auf das geforderte Handeln gerade erst erschließt. Huizing schreibt (Platos Bild verwandelnd): „Christen sind Höhlenmenschen. […] Der wahren Welt und dem wahren Menschsein wird man nur ansichtig, wenn man in die Höhlung des Textes kriecht.“295 (3) Hermeneutisch: Eine Predigt, die das Lesen lehrt und lernt, bleibt auch hermeneutisch bescheiden. Sie kann gelassen jeder „Wut des Verstehens“ (Schleiermacher; Hörisch) entsagen und doch pointiert und herausfordernd den Text kon-textualisieren, um damit Hörerinnen und Hörern Räume für eigene Leseentdeckungen zu eröffnen. Spätestens an dieser Stelle der Ausführung scheint es mir nötig, ein Wort zum Gebrauch des Begriffs des Lesens in obiger Definition und diesen Sätzen anzufügen. Braucht eine Predigt, deren Ziel das Lesen-Lernen ist, eine Predigtgestaltung, die der Gemeinde das Predigtwort schriftlich vorlegt, sodass die Hörerinnen und Hörer während der Predigt mitlesen und zu Hause nachlesen können?296 Im Ausnahmefall mag dies eine Möglichkeit sein. Sicherlich bestünde der Vorteil eines verteilten Textes darin, dass Hörerinnen und Hörer den Text als Bezugspunkt der in der Predigtrede vorgetragenen Kon-Textualisierungen und als Quelle gemeinsamen „Wortgenusses“ vor Augen hätten. Dennoch sprechen m.E. zwei gewichtige Argumente gegen das Textblatt im Gottesdienst: Zum einen droht es, den Kirchenraum in ein Klassenzimmer zu verwandeln und den liturgischen Charakter des Gottesdienstes als Feier durch die mit dem Verteilen eines Blattes potentiell mögliche Assoziation des Schulischen und rein Kognitiven zu stören. Andererseits erscheint ein Verteilen des Predigtwortes deshalb problematisch, weil das Medium des ausgeteilten Textes und das Medium

294

HUIZING: Homo legens, 157. HUIZING: Der erlesene Mensch, 155. 296 Meiner Wahrnehmung nach wird die Frage nach dem Sinn oder den Problemen eines zur Predigt schriftlich ausgeteilten Predigttextes in der homiletischen Diskussion kaum reflektiert. Eine Ausnahme macht Klaus-Peter Jörns (JÖRNS: Schritte der Predigtvorbereitung, 276f). Jörns überlegt, „ob es nicht ratsam sein könnte“, eine eigene „Übersetzung – eventuell in graphisch aufgearbeiteter Form, die die innere Struktur des Textes (vorsichtig) unterstreicht – zur Predigt auszuteilen“. Auf jeden Fall empfiehlt Jörns dies, wenn die Predigt als gemeinsames „Glaubensgespräch“ gestaltet wird (vgl. 277; vgl. zum „Glaubensgespräch“ 280f). 295

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der redenden Person miteinander konkurrieren und sich unter Umständen wechselseitig blockieren. Freilich stellt sich dann die Frage: Wie können Hörerinnen und Hörer lesen, wenn ihnen kein Text vorliegt? Zu erinnern wäre hier an das Lehren und Lernen im rabbinischen Talmud Tora. Zwar ist wenig über die Gestaltung der Lehre mündlicher Tora bekannt, doch spricht vieles dafür, dass die Lehre wiederholt vorgetragen, auf diese Weise auswendig gelernt, entsprechend weitergegeben und in der Diskussion erweitert wurde. Der mündlich vorgetragene Text genügte, um ihn zu lernen, neu zu lesen und zu besprechen.297 Interessant scheint mir in diesem Zusammenhang Wilfried Engemanns Wortneuschöpfung des Begriffs „Auredit“ für die von den Hörern rezipierte Predigt (als Wortbildung analog zum Manuskript). Engemann verwendet diesen Begriff, um damit „den faktischen Textcharakter“ des „eigenen Verstehens [der Hörerinnen und Hörer, AD] als (Kommunikations-)Ziel der Predigt ausdrücklich zu markieren“298. Im Hören entstehe durch die Auswahl- und Verknüpfungsleistung der Hörerinnen und Hörer ein eigener „Text“. Damit das biblische Predigtwort ein Bestandteil des „Auredits“ werden kann – so folgere ich ausgehend von Engemann –, wird es darauf ankommen, es so in der Predigtrede zu gestalten, dass es als interessantes, herausforderndes Wort wahrgenommen werden kann. Ein einmaliges Verlesen zu Beginn der Predigt genügt sicherlich nicht. Durch wiederholte Lesungen des ganzen Textes oder einzelner Verse oder Versteile wäre es möglich, das biblische Wort in der Predigtrede präsent zu halten – als Text, auf den sich die Predigtrede als Kon-Textualisierung durchweg bezieht, zu dem sie hinführt und von dem sie herkommt – vergleichbar dem Thema eines Musikstücks, das durch unterschiedliche Variationen hindurch hörbar bleibt.

Die in der Predigt vorgetragenen Les-Arten des Predigers hätten dann ihr Ziel verfehlt, wenn sie so abschließend wären, dass sie ein neues und anderes Lesen des Textes unmöglich machen würden, weil Hörerinnen und Hörer den verstandenen und damit erledigten Text zur Seite legen. Mit Engemann wäre hier von „obturierter“ Predigtrede zu sprechen.299 Als gelungen wäre die Predigtrede demgegenüber zu bezeichnen, wenn sie einen Weg zurück in die Schrift vor Augen und Ohren führt und dabei um ihre Ergänzungsbedürftigkeit durch die Kon-Texte der anderen weiß. Homiletische Hermeneutik würde so notwendig dialogisch – ein Aspekt, den vor allem die „Textual Reasoners“ in der rabbinischen Schriftauslegung entdecken und der unmittelbar zur oikodomischen Folge einer Predigt als LesenLernen überleitet.

297

Vgl. SAFRAI: Oral Tora, bes. 39–100. ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 172; vgl. ders.: Semiotische Homiletik, 91–94; ders.: Vom Nutzen eines semiotischen Ritardando, 166f. 299 Vgl. ENGEMANN: Semiotische Homiletik, 105–149 [Die Struktur der obturierten Predigt. Ein Beitrag zur Predigtanalyse]. 298

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(4) Oikodomisch: Eine Predigt, die Lesen lernt und lehrt, macht damit ernst, dass dort, wo sowohl sola scriptura als auch das Priestertum aller Gläubigen als Grundsteine die Architektur reformatorischen Kirchbaus prägen, die Gemeinschaft der Gläubigen als Gemeinschaft mündiger Leserinnen und Leser bestimmt werden muss.300 Darauf hat etwa der Exeget Ulrich Luz in seinem 1997 erschienenen Aufsatz „Was heißt ‚Sola Scriptura‘ heute? Ein Hilferuf für das protestantische Schriftprinzip“ hingewiesen. Das Schriftprinzip könne und dürfe gegenwärtig nicht mehr so rezipiert werden, dass es als Bindung an die eine, reine Lehre auf der Grundlage der Schrift verstanden werde.301 Dagegen spräche die Wahrnehmung der Vielfalt der Bibel in ihren einzelnen Texten ebenso wie die Erkenntnis der Pluralität ihrer Wirkungsgeschichte und die Einsicht in die Bedeutung des je individuellen Lesers für die Sinnkonstitution.302 Dennoch möchte Luz an einem verändert interpretierten Schriftprinzip festhalten, das die „Vielfalt als Moment des Evangeliums“303 begreift und mit einer „innere[n] Klarheit der Schrift“304 verbindet. Entscheidend ist dabei für Luz, dass die vielfältige Schrift als Einladung zur Kommunikation begriffen wird, die Kirche als „Kommunikationsgemeinschaft auf einem Weg“305 begründet und so eine „Gemeinschaft von mündigen Leser/innen“306 schafft. Freilich wird eine solche Kommunikationsgemeinschaft dann nicht konstituiert werden, wenn sich Predigtrede als Lehre in einem linear-instrumentellen Sinn versteht. Darauf weist etwa der Frankfurter Neutestamentler Stefan Alkier (im Kontext der Frage nach der Bibel im Unterricht) hin: „Die Lektürehaltung der ersehnten Eindeutigkeit führt zu den Unterrichts‚gesprächen‘, die die Schülerinnen und Schüler bzw. die Studierenden nicht mehr in den Text schauen lässt und sie als eigene Leser ernst nimmt, sondern sie zum Erraten der Interpretation des Lehrers bzw. der Dozentin degradiert.“307 Gegen solche „Eindeutigkeit“ ginge es – mit Albrecht Grözinger – darum, Predigt als gastliche Rede zu verstehen, die einen Raum für die 300

Auch katholischerseits sieht Heinz-Günther Schöttler Schriftauslegung als „eine jedem Christen zugetraute Kompetenz“ (SCHÖTTLER: Art. Schriftauslegung, 261 [Hervorhebung im Original]; vgl. insg. 260f). 301 Vgl. LUZ: Was heißt „Sola Scriptura“ heute, 32f. 302 Vgl. LUZ: Was heißt „Sola Scriptura“ heute, 29–31. 303 LUZ: Was heißt „Sola Scriptura“ heute, 33. 304 Vgl. LUZ: Was heißt „Sola Scriptura“ heute, 33f, Zitat: 33. 305 LUZ: Was heißt „Sola Scriptura“ heute, 34. 306 LUZ: Was heißt „Sola Scriptura“ heute, 34. Vgl. auch HIRSCHLER: biblisch predigen, 31–35. 307 ALKIER: Fremdes Verstehen, 55 [Hervorhebung im Original]. Vgl. auch Rudolf Bohren, der homiletisch vor einer „Psychologisierung und Pädagogisierung“ der Predigt warnt – „beides möglicherweise Symptome dafür, daß der Prediger die Hörer nicht für voll nimmt. Alles muß ihnen erklärt werden.“ (BOHREN: Predigtlehre, 184).

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Hörerinnen und Hörer, aber auch für den ankommenden Gott, eröffnet308 und in den Dialog führt: „Predigt ist die Einladung zu einem interpretativen Dialog. Diesen interpretativen Dialog möchte die Predigt mit ihren Codes, mit ihrer Sprache und ihren Symbolen anregen, ohne dabei über den Verlauf dieses Dialogs zwingend verfügen zu wollen und zu können.“309 Die Predigthörerinnen und -hörer als mündige Leser ernst zu nehmen, bedeutet folglich, in einen Kreislauf einzutreten, der einerseits mündige Leserinnen und Leser voraussetzt und den Hörern ein eigenes Lesen zutraut, andererseits in der Gestaltung der Predigtrede genau jene mündige Lesegemeinde schafft und neu hervorbringt.310 Wie jede Lebensform bedarf auch die grundlegende kirchliche Lebensform des Lesens ihrer Einübung. Die Predigtrede ist dafür nicht der ausschließliche, aber m.E. ein zentraler Ort. Auch die Art und Weise des Umgangs mit der Schrift in ihr entscheidet darüber, inwiefern sola scriptura und allgemeines Priestertum sich tatsächlich als Grundsteine protestantischer Oikodome erweisen können und sich eine „Kirche als Lerngemeinschaft“ (Albrecht Schönherr)311 als Lesegemeinschaft erweist.312 Diese oikodomische Perspektive lässt weiterfragen nach der Rolle der Predigerinnen und Prediger.

308

Vgl. GRÖZINGER: Toleranz und Leidenschaft, 20–24. GRÖZINGER: Toleranz und Leidenschaft, 26. Vgl. zum Begriff des Dialogischen und des Gesprächs auch BOHREN: Predigtlehre, 517–522; WINKLER: Predigt und Lehre in der Kirche, 356: „Da das Hören ein aktiver Vorgang ist […], beweist der Hörer seine Mündigkeit darin, daß er der Predigt entnimmt, was ihn angeht und weiterführt. Am meisten wird die Predigt dazu dienen, wenn sie dem Hörer hilft, selber die Bibel zu lesen und auf sein Leben anzuwenden.“ 310 Vgl. auch unten Kap. 14.2.2, 497f. 311 Vgl. SCHÖNHERR: Die Kirche als Lerngemeinschaft. 312 Eine vergleichbare oikodomische Zuspitzung der Frage nach dem Umgang mit der Bibel hat Christian Möller bereits 1988 vorgetragen (vgl. MÖLLER: Gottesdienst als Gemeindeaufbau, bes. 97–108 [Biblische Existenz heute!]). „Biblische Existenz“ bestehe nicht darin, die Bibel konsumorientiert auf ihre jeweilige Aktualität zu befragen, sondern erweise sich als „unaktuelle[s] Einleben und Eindringen in die Heilige Schrift“ (97), das zu einem „Lebensakt“ im Sinne eines beständigen „Murmeln[s] über der Weisung der Schrift“ führe (101; vgl. Ps 1). In seiner „Lehre vom Gemeindeaufbau“ (1990) zeigt Möller, wie Kirche davon lebt, gemeinsam lesend in der Lehre zu bleiben (vgl. MÖLLER: Lehre vom Gemeindeaufbau, Bd. 2, 310f). So sehr diese Bestimmung zu unterstreichen ist, bleibt m.E. doch zu fragen, ob Möllers „steile“ Predigttheologie seinen Überlegungen zur Konstitution der Kirche als Lern- und Lesegemeinschaft nicht im Wege steht. Möller betont, dass es bei der Predigt um die „Vollmacht des Wortes“ gehe, „das Gott durch Menschenmund verkündigt haben will, […] und zwar durch den Menschen, der nicht seine Privatmeinung bekannt gibt, sondern im Namen Gottes sprechen soll […]“ (MÖLLER: Gottesdienst als Gemeindeaufbau, 119). Kann bei einem solchen Reden, so frage ich, von der Gemeinde mehr erwartet werden, als ein Hören, Ein- und Zustimmen, das im „Amen“ der Gemeinde die Rede des Predigers bestätigt und nicht vor allem das gehörte und vielperspektivisch neu entdeckte Wort der Schrift? Die theologische Bescheidenheit eines erwartungsvollen gemeinsamen Wanderns im „Vorgebirge“, wie Michael Meyer-Blanck sie andeutet, scheint mir demgegenüber geeigneter, ein o`milei/n (Lk 24,15) als Unterredung auf dem Weg anzuregen. 309

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(5) Pastoraltheologisch: Wenn Predigen Lesen-Lernen in Analogie zu Talmud Tora bedeutet, dann sind Predigerinnen und Prediger selbst als Lernende, aber auch als Lehrer und Lehrerinnen zu beschreiben – doch in welchem Sinne? Ingrid Schoberth deutet in ihrer „Grundlegung einer katechetischen Theologie“ an, wie ein Verständnis des Lehrers vom Judentum, genauer von der Tradition des Lehrhauses (in rabbinischer Zeit und in seiner Neukonzeption in Frankfurt/Main), lernen könnte: „Das gemeinschaftliche Lernen, in dem Lehrer und Schüler gemeinsam auf dem Weg sind, ist wohl das kennzeichnendste Moment des Lehrhauses […]“313. Dabei bezieht sich Schoberth auf Aussagen aus mAv 6,6, wo zu den achtundvierzig „Dingen“, durch die die Tora erworben wird, auch Folgendes gehört: Derjenige erwirbt die Tora, „der lernt, um zu lehren“ (‫)הלומד עלמנת ללמד‬, und „der seinen Lehrer weise macht“ (‫)המחכי את רבו‬. Damit ist ein Verhältnis der Wechselseitigkeit zwischen Lehrenden und Lernenden angedeutet, das m.E. allerdings nicht idealisiert werden darf, da andernfalls sowohl die Ausbildung des Lehrers und das Machtverhältnis gegenüber den Schülern romantisch übertüncht als auch die Rollenverteilung in der Begegnung von Lehrer und Schüler ausgeblendet würden. Wie die Rabbinen als Tora-Lesende und -Lehrende, so haben auch Pfarrerinnen und Pfarrer durch ihre Ausbildung einen Vorsprung an Leseerfahrung. Gleichzeitig sind sie als Predigerinnen und Prediger in einer Rolle, die ihnen die Möglichkeit zu monologer Rede einräumt. Es wäre daher einseitig, vom Prediger einfach als Mit-Lernendem zu sprechen. Hilfreicher erscheint mir das Bild, das Meir Ben-Horin 1975 in die nordamerikanischreformjüdische Diskussion einbrachte: Er spricht vom „search leader“ zur Charakterisierung des Predigers in der Reformsynagoge.314 Dabei ist BenHorins Ausgangsfrage die nach der „Autorität“ des Predigers. Diese lasse sich nicht einfach als die Autorität desjenigen festschreiben, der weiß, was er zu sagen oder zu lehren habe. Vielmehr beziehe sich seine „Autorität“ auf die Texte der jüdischen Tradition. Es gelte: „The post-authoritative age […] requires that the rabbis and teachers of Judaism wield no authority other than that of the search leader, the director of search and re-search.“315 Von Ben-Horins Bestimmung her lässt sich Susan Handelmans Bild des Zimzum, des Rückzugs des Lehrers zur Eröffnung der Freiheit der Schüler,316 spezifischer konturieren: Entscheidend wäre ein Zimzum des Lehrers, der durch seine Kon-Textualisierung den Schülern Raum innerhalb der Texte für eigene Entdeckungen eröffnet. 313

SCHOBERTH: Glauben-lernen, 117. BEN-HORIN: The Post-Synagogue Synagogue II, 58. 315 BEN-HORIN: The Post-Synagogue Synagogue II, 58. Vgl. zur Diskussion um das Rabbinat im nordamerikanischen Judentum auch DEEG: Pastor legens, bes. 418–422. 316 Vgl. oben Kap. 11.3.2, 344f. 314

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In Anlehnung an diese Überlegungen könnten Predigerinnen und Prediger als lesende Spurensucher bezeichnet werden, die sich mit ihren je eigenen Kontexten in den Predigttext hineinlesen, an ihren Entdeckungen im Text und im Blick auf die Verbindung von Text und Leben teilhaben lassen und so zu eigenem Spurensuchen der Hörerinnen und Hörer anleiten. Der Begriff der Spur erinnert in seinem Ineinander von Präsenz und Entzogenheit an Derrida und seinen Hinweis auf die Unabgeschlossenheit jedes Signifikationsprozesses.317 Er steht – mit Joachim Track – für ein „Verstehen“, in dem „in Rekonfiguartion und Konfiguration Eigenes und Fremdes zusammenkommen und so der Text in neuer Weise […] zu sprechen beginnt“318. Der Begriff des Spurensuchers erinnert zugleich an Ernst Lange, der Pfarrerinnen und Pfarrer als die „Sachkundigen der Überlieferung“319 bezeichnete und sie gleichzeitig davor warnte, „das Wort als Monopol“ zu verwalten;320 stattdessen hätten sie sich an der theologischen „Suche“ nach Ursprung und Sprachmöglichkeiten des Glaubens zu beteiligen.321 Trotz ihrer biblischen Sachkenntnis dürften Pfarrer nicht so tun, als könnten sie an den „Laien“ als „Sachverständigen heutiger Wirklichkeit“322 vorbei aus dem gehüteten Schatz kirchlich-dogmatischer, theologischer oder historischer Erkenntnisse austeilen. Ernst Lange grenzt den Pfarrer, der zwischen Weltwirklichkeit und Tradition nach einem „Versprechen“ beider sucht, von einem pfarrherrlichen Schatzhüter der Tradition ab. In der gegenwärtigen pastoraltheologischen Diskussion müsste der Spurensucher darüber hinaus gegen den Mystagogen als „Sprachrohr des Geistes“, den Manfred Josuttis konzipiert, profiliert werden.323 Nach Josuttis habe der Mystagoge in der Predigtvorbereitung dafür zu sorgen, selbst leer zu werden für das Wort, und dann schrifterfüllt andere in den Bereich des Heiligen zu führen.324 Ein lesender Spurensucher darf und muss hier bescheidener auftreten.325 Er ist eher „mit-suchender Kollege“326, selbst Lesender im Gegenüber zum Wort 317

Vgl. zu dieser Prägung des Begriffs der „Spur“ HAWTHORN: Grundbegriffe moderner Literaturtheorie, 336–338, bes. 337. 318 TRACK: Erschließungen, 83. 319 LANGE: Chancen des Alltags, 115. 320 LANGE: Chancen des Alltags, 113. 321 Vgl. LANGE: Chancen des Alltags, 115f u.ö. 322 Vgl. zu dieser Charakterisierung der „Laien“ LANGE: Chancen des Alltags, 64 u.ö. 323 JOSUTTIS: Die Einführung in das Leben, 106f. 324 Vgl. JOSUTTIS: Die Einführung in das Leben, 106–109. 325 Vgl. auch Engemann, der im Kontext seiner Frage nach der Bedeutung der Person des Predigers zu einem „bescheidene[n] Predigen“ auffordert (ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 175–237, Zitat: 235 [Hervorhebung im Original]). 326 So die Charakterisierung in HUGHES/KYSAR: Preaching Doctrine, 18. Im Rahmen einer ebenfalls dimensionalen Neukonzeption einer Predigt als Lehrpredigt beschreiben die beiden Autoren hier die Rolle des Predigers als „colleague in search with the congregation“.

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Gottes, denn schrifterfülltes Medium, das sich an die Stelle des Wortes Gottes zu setzen droht.327 Mit einer schönen Formulierung Abraham Joshua Heschels ginge es ihm darum, „ein Licht im Wort anzuzünden“328, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Seine Aufgabe wäre es, wie Philippus anzuleiten (o`dhge,w) zum eigenen Verstehen, nicht aber die Aufgabe des Verstehens abzunehmen (vgl. Apg 8,30f). Eine solche Selbstbeschränkung im Blick auf das, was Predigerinnen und Prediger zu leisten haben und leisten können, heißt nicht zuletzt auch, um die eigene Bedeutung zu wissen, sich aber gleichzeitig nicht allzu ernst zu nehmen. Ein befreiender pastoraler Humor wird möglich, der sich bewusst ist, dass die Wirklichkeit der Predigt mit der eigenen Person nie ganz eingeholt werden kann.329 Vielleicht könnte es mit einer bescheideneren Hermeneutik gelingen, dass auch Predigten – im besten und keineswegs oberflächlichen Sinne – humorvoller würden.330 (6) Kulturell: Eine letzte Folge der Zielbestimmung der Predigt als LesenLernen sei nur kurz angedeutet: En passant findet im religiös-gottesdienstlichen Lesen des biblischen Wortes auch ein kulturelles Gedächtnis- und Lesetraining statt. Voraussetzung dafür ist, dass die Bibel auch als kultureller Text wahrgenommen wird, der durch seine vielfältigen Aufnahmen im Bereich der Kunst und der Philosophie die Kultur der Gegenwart facettenreich prägt.331 Eine Predigt, die das Lesen dieses Wortes lehrt, wird aufmerksam machen auf andere Kon-Textualisierungen des Wortes. Sie wird so dazu befähigen, den herausfordernden intertextuellen Dialog mit einer

327 Freilich ist sich Josuttis – zumindest in seiner Liturgik – dieser Problematik bewusst. Er schreibt dort: „Natürlich geht es auf der Kanzel nicht um die Selbstdarstellung eines erleuchteten Menschen.“ (JOSUTTIS: Der Weg in das Leben, 244; vgl. insg. 242–245) Stattdessen stellt Josuttis das biblische Wort in den Mittelpunkt dessen, was die Gemeinde in der Predigt zu hören habe. Die mystagogische Führer-Metaphorik seiner fünf Jahre später erschienenen Pastoraltheologie scheint mir diesen entscheidenden Aspekt aber tendenziell zu verunklaren. 328 Heschel charakterisiert so die Aufgabe des Kantors als Vorbeter im jüdischen Gottesdienst; vgl. oben Kap. 7.3.1, 203. 329 Es wäre m.E. zu fragen und eine eigene Untersuchung wert, inwiefern Hermeneutik und Humor korrelieren. Jochen Hörisch deutet dies in seinem Essay über die „Wut des Verstehens“ an und spricht – allerdings sehr pauschal – davon, dass ein Zusammenhang zwischen dem „Ende des Humors“ und einer christlich-platonischen Hermeneutik gesehen werden könne, die die Vielfalt des Verstehens auf die Einlinigkeit einer Aussage reduziere (vgl. HÖRISCH: Die Wut des Verstehens, 36). 330 Vgl. hierzu BOHREN: Predigtlehre, 242–250 [Exkurs über den Humor]. Bohren beleuchtet den Humor in hermeneutischer und eschatologischer Dimension – und bezeichnet den Prediger als „Humorist höherer Ordnung“ (250). Vgl. zur Abgrenzung des hier gemeinten von einem oberflächlichen Humor auch HERLYN: Hauptsache locker. 331 Vgl. dazu ASSMANN: Das kulturelle Gedächtnis, 94f, der heilige, kanonische und kulturelle Texte unterscheidet. Vgl. auch GOJNY: Biblische Spuren, 362–364.

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„anderen art der Auslegung“ (Gojny)332 in den Künsten zu führen und immer wieder selbst diesen Dialog gestalten. Nicht zuletzt wendet sie sich nicht mit Imperativen oder Ermahnungen, sondern mit einer überzeugenden Art des Lesens gegen die Zurückdrängung des Lesens (nicht nur, aber auch der Bibel) in der Gegenwart. Albrecht Grözingers Bild des Pfarramtes als „Amt der Erinnerung“ in postmoderner Gesellschaft, das dieser in Analogie zum Rabbinat im Judentum versteht, ließe sich mit der kulturellen Funktion einer Predigt als Lesen-Lernen verknüpfen.333 Sein Ziel wäre es, „durch innovatorische Vergegenwärtigung der postmodernen Gesellschaft den gefährdeten biblisch-christlichen Traditionsbestand zu erhalten.“334

11.4 Zusammenfassung Das Kapitel gestaltete einen ersten und grundlegenden Dialog zwischen jüdischer Schriftauslegung im Midrasch und christlich-homiletischer Textlektüre. In den drei Dialogfeldern (Hermeneutik, Methodik und Pragmatik) ergeben sich folgende Thesen: • Hermeneutik: Predigt lässt sich als Kon-Textualisierung verstehen, die den biblischen Text weder bändigt noch verliert. Analog zum grundlegenden Wechselspiel schriftlicher und mündlicher Tora in der Hermeneutik des Midrasch wird deutlich, wie der biblische Text durch den kontextualisierenden Umgang mit ihm das Potential hat, zum anredenden Wort zu werden. • Methodik: Der Midrasch liest biblische Texte langsam und antwortend (slow and responsive reading). Es geht dabei um eine dialogische, intertextuelle und kreative Lektüre, die mit homiletischem Lesen in Beziehung gesetzt werden kann. • Pragmatik: Midraschische Aktivität hat ihr Ziel in der Lehre und im Lernen der Tora (Talmud Tora). Die Notwendigkeit einer solchen Lehre wurde im Judentum des 20. Jahrhunderts verschiedentlich neu erkannt. In einem dimensionalen Verständnis von Lehre kann Lesen-Lernen auch als Ziel christlicher Predigt verstanden werden. Nach dem eher flächigen Blick auf den Midrasch in diesem Kapitel, bleibt es nun die Aufgabe der folgenden Kapitel, ausgehend von konkreten 332

Vgl. GOJNY: Biblische Spuren, 484–492 [Hervorhebung im Original]. GRÖZINGER: Die Kirche – ist sie noch zu retten, 134–141. 334 GRÖZINGER: Die Kirche – ist sie noch zu retten, 137; vgl. insgesamt auch DEEG: Pastor legens. 333

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Sprachformen des Midrasch zu einer vertieften Wahrnehmung zu gelangen und weitere Perspektiven einer homiletischen Textlektüre im Kontext des Midrasch zu entdecken. Dies soll zunächst durch eine Betrachtung des rabbinischen Gleichnisses geschehen.

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12. Maschal und Nimschal – Predigt als „Übersetzung“

Predigtrede, die sich auf einen biblischen Text bezieht und diesen kontextualisiert, steht auch vor der Aufgabe, den Text mit „den gegenwärtigen Zeit- und Lebensfragen“ – ich spreche im Folgenden vereinfacht von Lebenswirklichkeit – in Beziehung zu setzen.1 Dieses Kapitel geht der hermeneutischen und predigtpraktischen Frage nach der Bestimmung und Gestaltung dieser Beziehung nach. Dazu erstelle ich zunächst eine systematisierende Kartographie der homiletischen Diskussion dieser Frage (12.1). Im folgenden Abschnitt nehme ich rabbinische Gleichnisse wahr. Diese erscheinen in diesem Kontext interessant, da sie in aller Regel aus zwei Teilen bestehen: einer Maschal genannten „Bildhälfte“ und einer Nimschal genannten „Sachhälfte“. Der Maschal bringt „Lebensweltliches“ zur Sprache, der Nimschal stellt Verknüpfungen zu einem oder mehreren Bibelworten her. Insgesamt lassen sich rabbinische Gleichnisse daher als sprachliche Gestaltungen einer Verbindung von Lebenswirklichkeit und Bibelwort beschreiben (12.2). Die homiletische Diskussion aufnehmend und diese mit der Wahrnehmung des rabbinischen Gleichnisses verknüpfend frage ich abschließend nach Perspektiven für eine homiletische Topographie der Begegnung von Bibelwort und Lebenswirklichkeit (12.3).

12.1 Die homiletische Frage nach der Verbindung von Text und Lebenswirklichkeit 12.1.1 Homiletische Modelle zur Verbindung von Text und Lebenswirklichkeit – Versuch einer Kartographie Die Frage nach der Verbindung von Text und Lebenswirklichkeit ist eine Grundfrage der Homiletik. Der Versuch einer Kartographie der homiletischen Diskussion zu dieser Frage bedeutet daher eine erhebliche Reduktion von Komplexität. Dennoch soll er hier unternommen werden, um grundlegende Modelle und deren Probleme zu erfassen. Dabei scheint mir die 1

RÖSSLER: Grundriß, 391; vgl. auch DAIBER: Predigt als religiöse Rede, 340–342. Horst Hirschlers Buch „biblisch predigen“ kann insgesamt als der Versuch gelesen werden, die Predigtaufgabe als Aufgabe der Erschließung biblischer Texte auf dem Hintergrund gegenwärtiger Erfahrungen zu konzipieren.

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Unterscheidung von Differenz- und Identitätsmodellen hilfreich: Differenzmodelle gehen vom Abstand zwischen den Worten der Schrift bzw. dem Wort Gottes einerseits und der gegenwärtigen Situation bzw. der menschlichen Wirklichkeit andererseits aus. Identitätsmodelle nehmen ihren Ausgang demgegenüber bei dem unmittelbaren und unauflöslichen Zusammenhang von Schrift und menschlicher Wirklichkeit. In der homiletischen Diskussion des 20. Jahrhunderts erkenne ich primär zwei Differenzmodelle (ein theologisches und ein historisches) sowie zwei Identitätsmodelle (ein theologisches und ein hermeneutisches). (1) Das theologische Differenzmodell zeigt sich besonders deutlich in der (frühen) dialektischen Theologie, etwa in Eduard Thurneysens berühmtem Aufsatz „Die Aufgabe der Predigt“ (1921). Thurneysen spricht von der „Kluft zwischen Himmel und Erde, zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Gott und Mensch“2 – einer „Kluft“, die durch keine theologische oder homiletische Methodik überwunden werden könne.3 Predigt müsse im Bewusstsein dieser Kluft auf jede Überbrückung verzichten; d.h. etwa darauf, den Menschen in seiner Situation anzusprechen, um ihn religiös in eine „erhöhte Stimmung“ zu versetzen bzw. ihn über die Rätsel seines Daseins hinwegzutrösten.4 Aufgabe der Predigt sei es, „den Tod des Menschen und alles Menschlichen […; zu] verkündigen“, damit Gott selbst das Wort der Auferstehung ergreifen könne.5 Eine Predigt, die stattdessen auf „das sogenannte Bedürfnis des Hörers“6 eingehe – wie dies die Homiletik der modernen Predigt entschieden forderte – verfehle grundlegend ihre Aufgabe. Die Predigt sei „nicht der Ort, wo um das Verständnis des Menschen, sondern wo um das Verständnis Gottes gerungen“ werde.7 Thurneysens Position wird verständlich, wenn sie auf dem Hintergrund ihrer Zeit betrachtet wird. Thurneysen schreibt: „Wir haben aus dem Göttlichen eine bloße Begleitmelodie für das Menschliche werden lassen. Und diese das Leben begleitende Melodie ertönt nun Sonntag für Sonntag in vielfacher Abwechslung der jeweiligen Lage des Menschen in Zeit und Welt entsprechend von den Kanzeln. Während des Krieges hielten wir Kriegspredigten, und nun, da sogenannter Friede herrscht, suchen wir den Frieden religiös zu verstehen und zu begleiten.“8

2

THURNEYSEN: Die Aufgabe der Predigt, 95. Vgl. THURNEYSEN: Die Aufgabe der Predigt, 95f. 4 Vgl. THURNEYSEN: Die Aufgabe der Predigt, 97–99, Zitat: 98 [im Original hervorgehoben]. 5 THURNEYSEN: Die Aufgabe der Predigt, 97. 6 THURNEYSEN: Die Aufgabe der Predigt, 102 [Hervorhebungen im Original]. 7 THURNEYSEN: Die Aufgabe der Predigt, 102. 8 THURNEYSEN: Die Aufgabe der Predigt, 105. 3

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Gegen die Banalität einer die ohnehin bekannte Lebenswirklichkeit nur duplizierenden bzw. religiös chiffrierenden Predigt sucht Thurneysen nach einer Predigt, die neuerlich zur „Gottesverkündigung“ werden kann.9 Problematisch allerdings erscheint mir bei dieser auf der Differenz gründenden prinzipiellen Homiletik eine doppelte Abstraktion als deren Folge: Menschliches Leben in seiner Vielschichtigkeit und seinen Ambivalenzen nimmt Thurneysen kaum wahr. Vielmehr erscheint die (!) menschliche Situation – theologisch korrekt, aber abstrakt – als die Situation des gottfernen Menschen, der in seiner sündigen Todverfallenheit auf Gottes schöpferische Anrede angewiesen ist.10 Ebenso abstrakt kommt das biblische Wort in den Blick: In der Bibel erkennt Thurneysen als das „eine [!], große Thema, das dort abgewandelt“ werde, den „merkwürdige[n] Weg vom Tode zum Leben“.11 Es gelte daher: „Keine Abwechslung in der Predigt! Es muß jeden Sonntag alles und darum jeden Sonntag das Gleiche gesagt werden“12, nämlich: „Kreuz und Auferstehung“13. (2) Ein theologisches Identitätsmodell lässt sich exemplarisch bei Gustaf Wingren greifen. Seine Homiletik (1949/1955) gründet auf der These, dass der Hörer mit seiner Wirklichkeit im biblischen Wort wahrzunehmen sei.14 Viele Einzelaussagen Wingrens erinnern an Eduard Thurneysen; seine spezifisch lutherische Wort-Gottes-Theologie aber unterscheidet sich fundamental in ihrem hermeneutischen Ausgangspunkt: Betont der reformierte Theologe Thurneysen die Grundunterscheidung von Gotteswort und Menschenwort, so erkennt der Lutheraner Wingren im Wort das Miteinander von Göttlichem und Menschlichem – ein Miteinander, das durch den Verweis auf die communicatio idiomatum christologisch begründet wird.15 Das Wort geht „in das Menschenleben hinein“ – wie Christus –, um „sich kämpfend gegen die Gewaltherrschaft des Teufels“ zu richten.16 Der „Kampf zwischen Schöpfung und Sünde, zwischen Gott und dem Teufel“17, um den es in der Schrift gehe, sei aktuell, da „wir in unserem Leben heute gegen denselben Feind zu kämpfen haben“18. Eben deshalb finde sich die – die 9

THURNEYSEN: Die Aufgabe der Predigt, 102 [Hervorhebung im Original]. Vgl. ähnlich die Bestimmung der menschlichen Situation bei BARTH: Menschenwort und Gotteswort, bes. 106. 11 THURNEYSEN: Die Aufgabe der Predigt, 106 [Hervorhebung AD]. 12 THURNEYSEN: Die Aufgabe der Predigt, 104 [Hervorhebungen im Original]. 13 THURNEYSEN: Die Aufgabe der Predigt, 105. 14 Vgl. WINGREN: Die Predigt, 33f; vgl. zu Wingren auch LÄMMLIN: Die Lust am Wort, 84–88. 15 Vgl. WINGREN: Die Predigt, 39–41.75f.261–279; vgl. auch DENECKE: Lutherische Homiletik, der von der Inkarnation her das Proprium einer lutherischen Predigtlehre zu gewinnen sucht. 16 WINGREN: Die Predigt, 45. 17 WINGREN: Die Predigt, 108. 18 WINGREN: Die Predigt, 58 [Hervorhebung im Original]. 10

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jeweilige historische Zeit übergreifende – menschliche Situation unmittelbar im biblischen Wort wieder; „[…] die hörenden Menschen kommen nicht sekundär dazu in dem Augenblick, in dem die Predigt gehalten wird […]“19. Thurneysen geht theo-logisch von der Differenz von Gottes- und Menschenwort aus, Wingren christologisch von der Identität. Das Problem einer doppelten Abstraktion zeigt sich allerdings auch bei Wingren: Die Botschaft der Bibel wird abstrahiert auf die Grundbotschaft, dass Christus „der Sieger ist in dem Kampf, den sämtliche Schriften auf die eine oder andere Art und Weise beschreiben“20; die „Situation des Zuhörers, die Situation jedes Zuhörers“ wird als grundlegend vom „Streit zwischen Gott und dem Satan“21 bestimmt betrachtet. Die Predigt habe ihr Ziel erreicht, wenn sie der „Wiederaufrichtung des Menschenlebens“ diene.22 Letztlich habe die Predigt daher immer wieder dasselbe zu sagen: „Es ist die Aufgabe der Predigt, so von Gott und der satanischen Macht zu reden, daß jeder Zuhörer für sich in seinem Leben den Punkt entdecken kann, wo der Kampf vor sich geht und wo er gefangen und gebunden ist.“23 Freilich versteht Wingren dies nicht als Abstraktion, sondern als die größtmögliche Konkretion im Leben des Einzelnen. (3) Zur Veranschaulichung des historischen Differenzmodells greife ich auf Ernst Lange zurück, obgleich sich in seinem homiletischen Ansatz auch gegenläufige Akzente zeigen. Grundlegend wendet sich Langes Homiletik gegenüber der abstrakten Wahrnehmung menschlicher Situation in Folge einer auf das Wort Gottes konzentrierten Theologie neu der Herausforderung der Predigt durch die konkrete Situation zu.24 Ernst Langes homiletische Thesen, wie sie sich programmatisch in seinem Vortrag und Aufsatz „Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit“ (1967) zeigen, sind Reaktion auf die Dominanz prinzipiell-homiletischer und damit systematisch-theologischer Fragen im Blick auf die Predigtaufgabe unter gleichzeitiger Ausklammerung spezifisch praktisch-theologischer Überlegungen. Prinzipielle Homiletik solle – nach Lange – die predigtpraktischen Fragen nicht ausschließen, sondern allererst ermöglichen.25 Der Anspruch, wonach Predigt praedicatio verbi divini sei, könne von dem einzelnen Prediger nicht einge19

WINGREN: Die Predigt, 33. WINGREN: Die Predigt, 63. 21 WINGREN: Die Predigt, 92 [Hervorhebung im Original]. 22 Vgl. WINGREN: Die Predigt, 210–243 [Das wiederaufgerichtete Menschenleben]. 23 WINGREN: Die Predigt, 66. 24 Vgl. zum Folgenden auch HERMELINK: Die homiletische Situation, 156–222; GRÄB: „Ich rede mit dem Hörer über sein Leben“; LÄMMLIN: Die Lust am Wort, 49–66. 25 Vgl. LANGE: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, 19f. 20

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holt werden. An dieser Stelle werde dem Prediger daher in weiten Kreisen gegenwärtiger Homiletik Entlastung durch den Verweis auf den biblischen Text angeboten: Diesen Text, in dem der Hörer schon immer „stecke“, gelte es gemäß dieser Konzeptionen lediglich zu wiederholen und dann mit der „Autobasileia des Bibeltextes“ zu rechnen.26 Die „gläserne Wand“ zwischen Prediger und Hörer könne so aber – nach Lange – gerade nicht durchbrochen werden, die Botschaft bleibe irrelevant.27 Denn diese Botschaft – so pointiert Langes These – lebe davon, dass sie sich in einem Verstehenszirkel von Text und Situation erschließe. Den Text nimmt Lange dabei in seiner historischen Differenz wahr; er sei „Bezeugung der Relevanz des Verheißungsgeschehens für einen bestimmten Augenblick“28: „Gefragt ist der Prediger in seiner homiletischen Situation keineswegs nach der Relevanz seiner Perikope. Als historischer Text ist sie Zeugnis des Relevantwerdens der christlichen Überlieferung in einer ganz bestimmten, vergangenen Situation und als solche völlig irrelevant für das Hic et Nunc. Gefragt ist der Prediger in seiner Situation nach der Relevanz des Verheißungsgeschehens, das in der christlichen Überlieferung und vor allem in ihrer ursprünglichen, normativen Gestalt, den biblischen Texten, bezeugt ist und das in einer ganz bestimmten Weise unter dem Verdacht der Irrelevanz steht.“29

Der Prediger müsse daher – in seiner eigenen praktischen Arbeit am Text – zwischen dem Text und dem hinter ihm stehenden „Verheißungsgeschehen“ differenzieren, das allein Bedeutung habe. Der Prediger sei „ja nicht Zeuge des Textes, sondern Zeuge des Verheißungsgeschehens, er hat nicht das alte Wort des Textes nachzusagen, sondern das neue Wort zu wagen, das jetzt und hier notwendig ist.“30 Dieses geforderte „neue Wort“ sei Resultat der Übersetzungsbemühung des Predigers,31 die Lange mehrfach mit dem neu geprägten Begriff des „Ver-Sprechens“ charakterisiert: Der Prediger habe „Tradition und Situation, Geschichte und Gegenwart, Botschaft und Bezeugung“ miteinander zu ver-sprechen.32 Nötig sei dazu vor allem eine – in der 26

KRUSCHE/LANGE/RÖSSLER: Statt eines Vorworts, 9; vgl. ähnlich auch LANGE: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, 14. Auch von einem „fundamentalistische[n] Kult des heiligen Buches“ kann Lange sprechen (16). 27 Vgl. LANGE: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, 18 (dort auch die Metapher der „gläserne[n] Wand“). 28 LANGE: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, 30 [Hervorhebung AD]. 29 LANGE: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, 38. 30 LANGE: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, 39; vgl. GRÄB: „Ich rede mit dem Hörer über sein Leben“, 504–507. 31 Vgl. zum Begriff der „Übersetzung“ LANGE: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, 29. 32 LANGE: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, 44; vgl. auch 25f. Bei dieser Beschreibung der homiletischen Aufgabe wird deutlich, dass Langes Ansatz einseitig verstanden wäre, würde er ausschließlich aus dem Blickwinkel der historischen Differenz betrachtet. Auch eine theologische

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Homiletik der Wort-Gottes-Theologie vernachlässigte – Wahrnehmung der konkreten Situation des Hörers, sowohl der „Lage vor Ort“ als auch der „homiletische[n] Großwetterlage“.33 Auch wenn Ernst Lange von einem Zweitakt von Text und Situation als Motor des homiletischen Verstehenszirkels ausgeht,34 verschiebt sich das Gewicht doch tendenziell auf die Seite der Situation – ein Phänomen, das nicht überrascht, da das neue homiletische Modell gerade in dieser Hinsicht seine Spezifität gewinnt.35 Besonders deutlich zeigt sich dies, wenn Lange die Kasualansprache als Paradigma auch der Sonntagspredigt bestimmt: Der Text habe dort zwar profilierende und verfremdende Funktion,36 aber „was eigentlich mitzuteilen ist, ist nicht die Eigenaussage des Textes, sondern diese durch die Situation herausgeforderte Predigttradition. Der Text wird dabei nicht eigentlich zünftig ausgelegt, sondern im Interesse der Verständigung verbraucht.“37 Die Situation erscheint folglich in Langes Überlegungen immer als konkrete Situation.38 Demgegenüber spricht Lange vom zweiten Pol, dem Pol des Textes, eher in der Abstraktion: Es gehe nicht um den konkreten Text, sondern um die „Überlieferung“ in ihrer Relevanz für die gegenwärtige Situation39 bzw. um das hinter dem Text liegende „Verheißungsgeschehen“, das zwar im Blick auf den vorliegenden, konkreten Text ermittelt, nun aber neu zur Sprache gebracht werden müsse.40 Differenz zwischen der Überlieferung und der Situation ist bei Lange im Blick. Besonders zeigt sich dies daran, dass Lange die homiletische Situation als „Situation der Anfechtung“ charakterisiert (vgl. 23f, Zitat: 24). Die Hörer setzten aufgrund ihrer Erfahrungen der christlichen Überlieferung Widerstand entgegen; „Verheißung und Wirklichkeit“ müssten daher miteinander ver-sprochen werden (25). Mindestens an diesem Punkt zeigt sich die Kontinuität zwischen Lange und der Wort-Gottes-Theologie (vgl. dazu auch HERMELINK: Die homiletische Situation, 16f.171). 33 LANGE: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, 34; vgl. zur „Erschließung der Situation“ insg. 33–36. 34 Vgl. LANGE: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, 30f. 35 Vgl. GRÄB: „Ich rede mit dem Hörer über sein Leben“, 512. 36 Später fügt Lange diesen beiden Funktionen noch die „kontrollierende Funktion“ des biblischen Textes hinzu, der als gemeinsame Basis zwischen Hörern und Prediger Instanz der Kontrolle des Gesagten sein könne (vgl. LANGE: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, 38f, Zitat: 39). 37 LANGE: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, 39. Vgl. dazu MEYER-BLANCK: Reden, hören, neu sehen lernen, 134f. 38 Vgl. LANGE: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, 36: „Auf jeden Fall ist es nötig, daß ‚der Zeitgenosse‘, der Hörer, der moderne Mensch, der in der hermeneutischen Diskussion herumgeistert und den ich persönlich für ein in abstrakter Manier ausgeführtes Selbstbildnis des homo academicus halte, für die Predigtarbeit abgelöst wird von den Hörern, den bestimmten Zeitgenossen […]“ [Hervorhebungen im Original]. 39 Vgl. die grundlegende Definition des Predigtaktes bei Lange: Predigt sei „Verständigung mit dem Hörer über die gegenwärtige Relevanz der christlichen Überlieferung“ (LANGE: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, 20 [Hervorhebung im Original]). 40 Vgl. LANGE: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, 37–39, Zitate: 38. – Zugespitzt findet sich die Abstraktion des Textes im Zuge einer Konzentration auf die homiletische Situation bei Hans-Dieter Bastian. Er warnt davor, den Text als Subjekt der Predigt zu sehen. Der Prediger selbst

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Gegenüber den differenzierteren Aussagen Langes in seinem Aufsatz bringt das dem Band „Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit“ vorangestellte Gedicht von Sidney Carter die Konzentration auf die konkrete Situation bei gleichzeitiger Abstraktion der Bibel auf das Christusgeschehen eher überpointiert zum Ausdruck, fasst aber die Tendenz des historischen Differenzmodells gut zusammen: „Your holy hearsay/is not evidence:/give me the good news/in the present tense.// What happened/nineteen hundred years ago,/may not have happened:/how am I to know.// The living truth/is what I long to see./I cannot live upon/what used to be.// So shut the Bible up/and show me how/the Christ you talk about/is living now.“41

(4) Schließlich scheint mir Friedrich Mildenbergers „Kleine Predigtlehre“ (1984) typisch für das, was ich hermeneutisches Identitätsmodell nenne. Mildenberger plädiert gegenüber Lange dafür, prinzipiell-homiletische Fragen erneut in den Mittelpunkt zu rücken.42 Dabei erkennt Mildenberger – wie vor ihm etwa auch Wingren –, dass es in der Predigtvorbereitung unmöglich sei, die Textaussage und die Situation zunächst je für sich zu bestimmen und dann zu verbinden (so das klassische explicatio-applicatioModell). Vielmehr müsse hermeneutisch davon ausgegangen werden, dass die Gemeinde schon immer im Wort und das Wort in der Gemeinde sei.43 Im Unterschied zu Wingren ist es nun aber nicht eine theologisch abstrahierte Verbindung aufgrund der gemeinsamen menschlichen Grundsituation vor Gott, sondern ein hermeneutischer Weg ständig neuer Entdeckung dieses Ineinanders von Wort und Gemeinde, der die Homiletik Mildenbergers charakterisiert und der an Gadamers Metapher der „Horizontverschmelzung“ erinnert.44 Mildenbergers Predigtlehre grenzt sich daher explizit gegen alle synthetischen Modelle sowie den Begriff der „Vermittlung“ ab. Stattdessen versteht er die Predigt in Analogie zum Sakrament und seiner spezifischen „Zeit“:45 sei das Subjekt; er habe „der ‚redundanten‘, selbstverständlichen Tradition eine neue, wirkungsvolle ‚Information‘ zu entnehmen“ (HERMELINK: Die homiletische Situation, 231; vgl. insg. 224–235; das Zitat bezieht sich auf BASTIAN: Verfremdung und Verkündigung, 9). 41 LANGE/KRUSCHE/RÖSSLER: Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, 6. 42 So bemerkt Mildenberger auf Langes Homiletik bezogen: „Sollte es stimmen, daß die Predigttheorie der dialektischen Theologie doketische Züge hatte, so gerät man hier ganz gewiß umgekehrt ins ebionitische Extrem.“ (MILDENBERGER: Kleine Predigtlehre, 15); vgl. zu Mildenbergers Ansatz auch GREVEL: Die Predigt und ihr Text, 35–37. 43 Es gehe in der Predigtarbeit „darum, zu entdecken, wie im Evangelium Text und Gemeinde immer schon beieinander sind, weil unsere Zeit in Gottes Zeit hineingenommen ist“ (MILDENBERGER: Kleine Predigtlehre, 26; vgl. auch 97.156f). 44 Vgl. GADAMER: Hermeneutik I, 311f u.ö. 45 Vgl. MILDENBERGER: Kleine Predigtlehre, 17–45 (Die Predigt als Zeitansage [entspricht der prinzipiellen Homiletik, AD]; vgl. dazu auch LÄMMLIN: Die Lust am Wort, 100–108).

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Diese Zeit sei nicht dadurch bestimmt, dass kirchliches Angebot und entsprechende Nachfrage (synthetisch) zusammenkämen, sondern dadurch, dass Gott in die Zeit des Sakraments hineinziehe, wodurch dem hineingezogenen Menschen „das Heilsgeschehen“ entgegentrete.46 Das synthetische Modell hingegen sei zum Scheitern verurteilt;47 es gleiche der Arbeit eines Sisyphos: „Ehe das Evangelium dorthin [zum Hörer, AD] gebracht ist, rollt es dem Prediger weg wie der Marmorblock dem Sisyphos. Im Unterschied zu diesem aber zieht dann der Prediger, dennoch beim Hörer angelangt, eine hübsche Glasmurmel aus der Tasche und erwartet, daß der ‚Ah!‘ sagt.“48 Eine theologische und hermeneutische Unterbestimmung der Predigt wirke sich in synthetischen Modellen auch predigtpraktisch aus: Der Prediger schiebe die – letztlich nicht gelingende – „Vermittlung“ von Bibelwort (bzw. biblischer Aussage) und konkreter Lebenswirklichkeit den Hörerinnen und Hörern zu. Mildenberger unterscheidet dabei eine soteriologische und eine ethische Engführung der Predigt: Soteriologische Engführung meint, dass der Predigthörer die andere und neue Welt des Glaubens im Gegenüber zu seiner Lebenswirklichkeit als Akt der Entscheidung zu Glauben, Vertrauen etc. selbst realisieren müsse. Ethische Engführung sucht diese Realisierung im Aufruf zum Handeln, durch das die Missstände in der Welt behoben werden müssten.49 Predigt habe demgegenüber die Aufgabe, auf die grundlegende Verbindung von biblischem Wort und menschlicher Situation hinzuweisen: Gottes Wort sei „schon immer bei den Menschen. Die Predigt hat das durch ihren Text aufzudecken.“50 Die homiletische Schriftauslegung führe zur Entdeckung der „Gleichzeitigkeit von Text und Ausleger bzw. Gemeinde, für die der Text ausgelegt werden soll“51; in der Predigt gehe es dann darum, zu sagen, „wohin ich gehöre, in dieser Geschichte Gottes gehöre“52. Predigt sei „Platzanweisung“, die den Hörenden ihren Platz zuweist in der Gottesgeschichte. Dazu freilich müsse der Prediger wissen, „was jetzt an der Zeit ist“.53 Gegenüber der Problematik der Abstraktion in den bisher vorgestellten Modellen ergibt sich bei Mildenberger das Problem einer (letztlich autoritären) Identifikation. Der Prediger bestimmt den Ort der Gemeinde im Text

46

MILDENBERGER: Kleine Predigtlehre, 20; vgl. insg. 17–20. Vgl. MILDENBERGER: Kleine Predigtlehre, 21. 48 MILDENBERGER: Kleine Predigtlehre, 21. 49 Vgl. MILDENBERGER: Kleine Predigtlehre, 34f. 50 MILDENBERGER: Kleine Predigtlehre, 97. 51 MILDENBERGER: Kleine Predigtlehre, 31f. 52 MILDENBERGER: Kleine Predigtlehre, 33. 53 MILDENBERGER: Kleine Predigtlehre, 34. 47

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und weist den Hörerinnen und Hörern ihre Plätze eindeutig zu.54 Die Autorität des erkennenden und identifizierenden Predigers setzt sich damit tendenziell an die Stelle der Autorität des biblischen Wortes, und das Potential des biblischen Textes verengt sich auf die eine Identifikation, die aufgrund der Erkenntnis des Predigers jetzt an der Zeit sei.

12.1.2 Die Metapher des Dritten Raumes – zur Topographie der Begegnung von Text und Lebenswirklichkeit Die vier vorgestellten Modelle zur Verbindung von Text und Lebenswirklichkeit in der Predigt ergeben sich als Folge unterschiedlicher theologischer Schwerpunktsetzungen zwischen Theo-logie (Thurneysen) und Christologie (Wingren), zwischen historisch-kritisch (Lange) und systematisch-theologisch akzentuierter (Mildenberger) Hermeneutik. Bei jedem der Modelle wurden Problemaspekte erkennbar: Auf je unterschiedliche Art und Weise nehmen Thurneysen, Wingren und Lange das biblische Wort in typisch meta-skripturaler, abstrahierender Weise in den Blick, um die darin erkannte Grundaussage mit der Lebenswirklichkeit in Beziehung zu setzen. Bei Thurneysen und Wingren verbindet sich dies mit einer theologisch stimmigen, aber ebenfalls abstrahierenden Wahrnehmung menschlichen Lebens. Dagegen möchte Lange die Situation differenziert in den Blick nehmen, um sie dann mit dem „Verheißungsgeschehen“ zu ver-sprechen. Mildenberger kritisiert daran und an weiteren vorauslaufenden Modellen den Versuch, Text und Lebenswirklichkeit je für sich erfassen und beide dann synthetisierend verbinden zu wollen.55 Mildenberger will die Synthese vermeiden, mutet und traut dem Prediger allerdings stattdessen zu, Gemeinde und Text in der Predigtrede identifizierend zu verbinden, ohne dabei die Aktivität der Hörerinnen und Hörer und die potentielle Vielschichtigkeit unterschiedlicher Identifikationen in den Blick zu nehmen. Trotz dieser Kritik an der Linearität der Identifikation in Mildenbergers Ansatz scheint mir seine Betonung der Problematik jeder synthetisierenden Hermeneutik unhintergehbar. Synthetisierende Hermeneutik versucht – und das ist ihr theologisches Problem – eine letztlich dualisierende Beschreibung der Lebenswirklichkeit jenseits der Gotteswirklichkeit, um beide dann 54 Vgl. MILDENBERGER: Kleine Predigtlehre, 36: „Es geht hier um die Gleichzeitigkeit […]: Die Gemeinde, für die der Text ausgelegt wird, hat ihren Ort in der Gottesgeschichte. […] Hier gilt es den Zusammenhang zu entdecken und dann zu sagen, mit Hilfe des Textes zu sagen, wie wir dran sind.“ Vgl. allgemeiner zur homiletischen Problematik der Eindimensionalität und Nivellierung von Differenz durch zu rasche Identifikation WEYEL: Ostern, 56–59. 55 Ob Mildenberger damit die Dynamik des hermeneutischen Zirkels Langes ausreichend würdigt, müsste freilich ausführlicher betrachtet werden.

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sekundär aufeinander zu beziehen. Ihr hermeneutisches Problem liegt einerseits darin, dass eine Schriftaussage abstrahierend – und d.h. ohne Bezug zur Lebenswirklichkeit der Leser bzw. Hörer sowie zur konkreten formalinhaltlichen Gestalt des Textes – ermittelt werden soll, und andererseits darin, dass man vermeint, die „Wirklichkeit“ bzw. die „Situation“ jenseits ihrer sprachlichen Konstitution und damit Interpretation erfassen zu können. Rolf Schieder erkennt, dass Predigten auf solch problematischer theologischer und hermeneutischer Grundlage den Text „zum bloßen Beispiel“ machten und folglich die – an sich bereits bekannte – Lebenswirklichkeit verdoppelten.56 Stattdessen müsse Predigt – so Schieder – „den Eigensinn der Bibel zur Geltung bringen“. In den Texten der Bibel sei von jener Wirklichkeit Gottes erzählt, die die Welt, wie sie geläufig wahrgenommen werde, unterbreche, überwinde und so verändere.57 Predigt kann daher nicht als der Ort bestimmt werden, an dem zwei bekannte Puzzle-Stücke (Text und Situation) zusammengefügt werden. Stattdessen scheint mir die Metapher des „Dritten Raumes“ für eine Topographie der Predigtrede zwischen Lebenswirklichkeit und Text hilfreich, die der Literatur- und Kulturwissenschaftler Homi K. Bhabha im Zusammenhang der Begegnung von Kulturen im postkolonialen Diskurs geprägt hat. Bhabha kritisiert grundlegend jeden Essentialismus, der davon ausgeht, eine Kultur im Gegenüber zu anderen, fremden Kulturen bestimmen und von dieser Position ausgehend Wechselwirkungen der Kulturen in den Blick nehmen zu können. Konzepte, die dies vermeinen, bezeichnet er als Konzepte der „Diversität“. Diese argumentierten mit binären Oppositionen und repräsentierten daher „eine radikale Rhetorik der Trennung von Kulturen“, die jeweils als „Totalität“ verstanden und jenseits der faktischen „Intertextualität ihrer historischen Orte“ auf ihre eigene „Identität“ im Gegenüber zu anderen setzen würden.58 Solchen Diversitätskonzepten stellt er sein Konzept der „Differenz“ gegenüber, das auf die Hybridität, die Vermischung, als Ort der Begegnung der Kulturen verweist: „Kulturen sind niemals in sich einheitlich, und sie sind auch nie einfach dualistisch in ihrer Beziehung des Selbst zum Anderen.“59 Im Rahmen seines Differenz-Konzeptes bestimmt Bhabha den Ort der Begegnung der Kulturen mit dem Begriff des „Dritte[n] Raum[es]“. Es handelt sich um den Zwischenraum, den Ort an der Grenze, den Ort der Hybridität als Raum der „Übersetzung“ und „Verhandlung“.60 Bhabha denkt das Geschehen an diesem Ort zeitlich und 56

SCHIEDER: Der „Wirklichkeitsbezug“ der Predigt, 335; Schieder argumentiert auf der Grundlage einer – an Foucault angelehnten – diskurstheoretischen Untersuchung von Predigten und spricht daher im originalen Zusammenhang von einer „Verdoppelung einer Diskurswirklichkeit, die ihrerseits den Text zum bloßen Beispiel macht.“ 57 Vgl. SCHIEDER: Der „Wirklichkeitsbezug“ der Predigt, 335–337, Zitat: 336. 58 BHABHA: Das theoretische Engagement, 52; vgl. zur problematischen Festlegung des „Anderen“ auch 47f. 59 BHABHA: Das theoretische Engagement, 54. 60 Vgl. BHABHA: Das theoretische Engagement, 38f.56f.

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prozesshaft. Es geht um die Dynamik einer Beziehung, die er im Rückgriff auf die Semiotik und den Vorgang der Interpretation beschreibt: „Der interpretatorische Pakt besteht nie einfach in dem Akt der Kommunikation zwischen dem in der Aussage festgelegten Ich und Du. Um Bedeutung zu produzieren, ist es erforderlich, daß diese beiden Orte in eine Bewegung versetzt werden, bei der sie einen Dritten Raum durchlaufen.“61 Folge der Wahrnehmung dieses „Dritten Raumes“ ist nach Bhabha die Möglichkeit der Veränderung jenseits der Fixierung der Polarität: „[…] indem wir diesen Dritten Raum erkunden, können wir der Politik der Polarität entkommen und zu den anderen unserer selbst werden.“62

Predigtrede als Begegnung von Text und Lebenswirklichkeit und mit dem Ziel der Veränderung müsste – Bhabhas Formulierung aufnehmend – einen „Dritten Raum“ durchlaufen. Was aber bedeutet dies für die Hermeneutik und Gestaltung der Predigtrede? Ich blicke zur weiteren Klärung dieser Frage auf die rabbinischen Gleichnisse, in denen biblischer Text und Lebenswirklichkeit in einer geprägten Form miteinander verbunden werden (und für die unter Umständen auch ein homiletischer Sitz im Leben angenommen werden kann).63

12.2 Die doppelte Verfremdung im Dritten Raum rabbinischer Gleichnisse 12.2.1 Die rabbinischen Gleichnisse als Dritter Raum zwischen Bibelwort und Lebenswirklichkeit Exemplarisch gehe ich von einem rabbinischen Gleichnis aus, das in seiner Figurenkonstellation sowie in seiner Struktur typisch ist.64 Clemens Thoma und Simon Lauer geben ihm die Überschrift „Gleichnis von der erneuerten Speisegarnitur“65. Es entstammt dem – in seinem Grundbestand wohl auf das fünfte Jahrhundert zu datierenden – homiletischen Midrasch Pesiqta de Rab Kahana (PesK 12,19):66 61

BHABHA: Das theoretische Engagement, 55. BHABHA: Das theoretische Engagement, 58. 63 Vgl. dazu oben Kap. 3.3.3. 64 Vgl. grundlegend zur Charakterisierung der literarischen Form des rabbinischen Gleichnisses FRAENKEL: Darche ha-Aggada, 323–393.645–658 (Anm.); GOLDBERG: Das Schriftauslegende Gleichnis. 65 THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 199–201; vgl. DSCHULNIGG: Rabbinische Gleichnisse [1988], 251–265. 66 Vgl. zu PesK – einem Homilienmidrasch zu den Festen und ausgezeichneten Sabbaten – STEMBERGER: Einleitung, 287–291. Die folgende Übersetzung lehnt sich an THOMA/LAUER: Die 62

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„[Maschal] Gleich einem König, der einen Sohn hatte. Als der Sohn erwachsen wurde, wollte ihn der König verheiraten, hatte aber keine neue Speisegarnitur. Da sagte der König: So ist es nicht ehrenvoll für meinen Sohn! Wenn wir warten, bis wir eine neue Speisegarnitur verfertigt haben, verzögere ich die Freude meines Sohnes! Was tat der König? Er ließ Kunstschmiede kommen, und sie polierten die Kupfergeräte. Er ließ Tischler kommen, und sie machten Gitterwerk an den Holzgeräten.67 So konnte der König seinen Sohn verheiraten, wobei eine alte Speisegarnitur verwendet wurde, die neu aussah. [Nimschal] So der Heilige, gelobt sei Er: Als die Israeliten aus Ägypten auszogen, wollte er ihnen die Tora geben. Es waren aber unter ihnen Blinde, Lahme, Taube. Da sagte der Heilige, gelobt sei Er: Die Tora ist ein vollkommenes Ganzes; es heißt nämlich: ‚Die Tora JHWHs ist vollkommen‘ (Ps 19,8). Soll ich sie dieser Generation geben, in der Behinderte sind? Aber wenn wir warten, bis ihre Kinder erwachsen sind, verzögere ich die Freude der Tora. Was tat der Heilige, gelobt sei Er? Er heilte sie, und danach gab er ihnen die Tora. Und woher wissen wir, dass er sie geheilt hat? Wer blind war, wurde sehend; es heißt nämlich: ‚Das ganze Volk sah die Stimmen‘ (Ex 20,18). Und wer taub war, wurde hörend; es heißt nämlich: ‚Alles, was JHWH gesprochen hat, wollen wir tun und hören‘ (Ex 24,7). Und wer lahm war, konnte stehen; es heißt nämlich: ‚Sie stellten sich hin am Fuß des Berges‘ (Ex 19,17). Daraus ergibt sich: Ich mache Neues an euch und mache euch zu einem Vorbild für die kommende Welt.“

Zum rabbinischen Gleichnis gehören im Regelfall zwei Teile: Maschal und Nimschal.68 Im Maschal wird eine „Spielfläche“ eröffnet, in der als Akteure ein König, sein Sohn sowie Handwerker vorkommen.69 Die dramatische Ausgangssituation entsteht durch den Wunsch des Königs, seinen erwachsenen Sohn zu verheiraten, ohne aber gleichzeitig über die repräsentative Tischgarnitur zu verfügen. Der König löst diese Problematik dadurch, dass er (Kunst-)Handwerker zur Erneuerung der Tischgarnitur kommen lässt. Die Hochzeit kann stattfinden. Dieser im Maschal nur sehr knapp erzählte Plot wäre für sich kaum lesens- bzw. hörenswert; er gewinnt seinen Reiz Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 199f, an, geht aber nochmals auf die kritische Ausgabe von Bernard Mandelbaum zurück (MANDELBAUM: Pesikta de Rav Kahana, 217f). 67 Die Wendung ‫ מסרגי בכלי הע‬ist nicht einfach zu übersetzen; Thoma und Lauer deuten folgende Interpretation an: „Es könnte darum gehen, dass für dieses Geschirr hölzerne Fächer oder Schränke gemacht werden, nicht aus Platten, sondern aus kreuzweise und mit Zwischenräumen angelegten Latten […]“ (THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 200). Eine andere und einfachere Deutung wäre die, die Wendung auf die Verschönerung bzw. Neugestaltung des hölzernen Bestecks zu beziehen. 68 Vgl. STERN: Parables in Midrash, 8f; vgl. auch die Kurzdefinition von THOMA/ERNST: Die Gleichnisse der Rabbinen. Dritter Teil, 13. Stern verweist darauf, dass die Bezeichnung Nimschal für den zweiten Teil der rabbinischen Gleichnisse erst im Mittelalter aufkam (vgl. STERN: Parables in Midrash, 13; vgl. zur Entwicklung rabbinischer Gleichnisse 206–211 und NEUSNER: Rabbinic Narrative, Bd. 4, 114–223). 69 Vgl. zur Metapher der „Spielfläche“ auch Neusner: Rabbinic Narrative, Bd. 4, 156.222.

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durch den nachfolgenden Nimschal. In ihm werden die „Akteure“ der Oberflächenstruktur auf die „Aktanten“ der Tiefenstruktur bezogen.70 Die Verbindung des Königs mit Gott ist dabei eindeutig und typisch für die bei weitem größte Gruppe rabbinischer Gleichnisse (JHWH-Königs-Gleichnisse). Clemens Thoma und Simon Lauer suggerieren nun auch eine Eindeutigkeit im Blick auf die weiteren Akteure und verbinden den Sohn mit Israel. Das Erwachsenwerden des Sohnes bedeute dann „geeignet sein zum Empfang der Tora“, das Fehlen einer neuen Speisegarnitur stehe dafür, „dass Israel wegen der ägyptischen Sklaverei noch nicht voll zum Empfang der Tora in der Lage“71 sei, die Handwerker schließlich heilten Israels Kranke72. Im Blick auf den Nimschal allerdings erscheint es m.E. zunächst logischer, die Tora mit dem Sohn des Königs in Verbindung zu bringen, die Tischgarnitur mit Israel. Dabei ist dann allerdings offen, inwiefern von einem Erwachsenwerden bzw. Reifen der Tora gesprochen werden kann und mit wem der Sohn (die Tora!) verheiratet werden soll;73 gleichzeitig käme für Israel das fremde, aber durchaus reizvolle Bild einer Tischgarnitur in den Blick, die schon immer beim König war, nun aber – im Blick auf die bevorstehende Hochzeit – erneuert werden muss. Auch wenn m.E. viel für die letztgenannte Verknüpfung spricht, kann doch auch die erstgenannte nicht ausgeschlossen werden. Zwischen Maschal und Nimschal tut sich – bereits durch die unterschiedlichen Möglichkeiten der Verbindung der Akteure mit den Aktanten – ein Raum verschiedener Deutungen auf.74 Gleichzeitig gestaltet der Nimschal die Spannung zwischen der Vollkommenheit der Tora (Ps 19,8) und der Unvollkommenheit Israels. Letztere allerdings wird vor dem Empfang der Tora geheilt, Israel wird erneuert. Dieses „protologische“ Geschehen erhält zugleich eine eschatologische Pointe, wie der letzte Satz des Nimschal vor Augen führt: „Ich mache Neues an euch und mache euch zu einem Vorbild für die kommende Welt.“ Die Gabe der Tora bedeutet auch die Verheißung eschatologischer Erneuerung, die das, was gegenwärtig „Sehen“, „Hören“ und „Stehen“ bedeutet, grundlegend verändert. Dazu verweist der Nimschal auf semantisch ungewöhnliche Verse aus der Erzählung vom Bundesschluss am Sinai: „Sehen“ umfasst auch die Stimmen (Ex 20,18), zum „Hören“ gehört zunächst das 70

Die Begriffe „Akteur“ und „Aktant“ stammen von Algirdas Julien Greimas; vgl. dazu THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 27; HAWTHORN: Grundbegriffe, 8f. 71 THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 201. 72 Vgl. THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 201. 73 In dem in PesK vorausgehenden Gleichnis geht es um die Hochzeit der Tora (als Tochter Gottes) mit Israel (vgl. THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 196–198). 74 Vgl. STERN: Parables in Midrash, 74–82, der Inkongruenzen zwischen Maschal- und Nimschal-Ebene als „gaps“ bezeichnet und darunter strategisch eingesetzte Unbestimmtheitsstellen versteht (vgl. bes. 74).

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Tun (Ex 24,7), und „Stehen“ wird auf den Aufenthalt am Berg als Ort der Offenbarung bezogen (Ex 19,17). Weitet man von dem einen zitierten Gleichnis ausgehend den Blick auf die 82 von Clemens Thoma und Simon Lauer in PesK analysierten Gleichnisse, so zeigt sich, dass die große Mehrheit (etwa sechs Siebtel) der Meschalim als „einfache, profane, fiktionale, nicht autonome Erzählung[en]“75 bezeichnet werden kann, die durch eine Konfliktsituation und einen Plot gekennzeichnet sind. Das verbleibende Siebtel der Meschalim zeichnet demgegenüber ein Standbild, etwa das Bild einer Höhle am Meer, die ganz vom Meer überspült werden und ausgefüllt sein kann, ohne dass das Meer umgekehrt aber an unermesslicher Weite verliert. Dieses Bild im Maschal-Teil verbindet sich durch den Nimschal mit der „Einwohnung“ des unermesslichen Gottes in der Stiftshütte zur Zeit der Wüstenwanderung.76 Die für den dramaturgischen Plot notwendige Spannung gewinnen die ca. 70 narrativen Meschalim der PesK entweder aus einem biblischen Lemma, Vers oder Verszusammenhang, aus der Intertextualität von mindestens zwei biblischen Lemmata, Versen oder Verszusammenhängen oder aus der antithetischen Spannung zwischen Lebenswirklichkeit und in der Tora beschriebener Gotteswirklichkeit. Legt man diese Unterscheidung zugrunde, verteilen sich die Gleichnisse der PesK auf die drei genannten Kategorien grob im Verhältnis 5:3:1, wobei Überschneidungen durchaus vorkommen.

Das oben zitierte „Gleichnis von der erneuerten Speisegarnitur“ hatte seinen liturgischen Ort am Wochenfest (Schavuot),77 das in rabbinischer Zeit mehr und mehr als Fest der Gabe der Tora verstanden wurde. Das Gleichnis ermöglichte der feiernden Gemeinde, die Offenbarung der Tora im Deuterahmen eines Hochzeitsfestes neu wahrzunehmen.78 Bekanntes aus der Lebenswelt kommt typisiert zur Sprache.79 Die emotionale Gespanntheit einer Hochzeitsvorbereitung und der Wunsch, für ein gelingendes Fest vor75

THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 16 [Hervorhebung AD]. Vgl. PesK 1,2 (THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 91f). Als weitere Standbilder sind m.E. die Gleichnisse „von den verfeindeten Legionen“ (PesK 1,3; 93–95), „vom Loch im Sandhaufen“ (PesK 2,9; 117f), „von den Zwillingen“ (PesK 5,6; 139f), „von den beiden Lichtern“ (PesK 5,14; 151–153), „von der Garde der Königin“ (PesK 12,8; 187f), „vom Gefolge des Königs“ (PesK 12,22; 202–204), „von der Statue“ (PesK 12,25; 205–207), „von den Trauerbräuchen“ (PesK 15,3; 224–227; vgl. unten Kap. 12.2.2, 377), „von den Fenstern“ (PesK 21,5; 257–259), „von den brennenden Räumen“ (PesK 25,3; 292f) und „vom Eisen im Feuer“ (PesK Anh. III A; 324f) zu bestimmen. Auch Clemens Thoma und Simon Lauer erkennen diese Differenz und sprechen von „Geschehnis-Gleichnisse[n]“ im Unterschied zu „Dramatik-Gleichnisse[n]“ (36 [Hervorhebungen im Original]). 77 Vgl. THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 201. 78 Der Konnex zwischen Schavuot und Hochzeitsfest wurde in der jüdischen Tradition auch später bedeutend. So findet sich im Schavuot-Ritus der lurianischen Kabbala ein Heiratsvertrag, der die Hochzeit zwischen Gott als Bräutigam und Israel als Braut zum Inhalt hat (vgl. THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 198). 79 Vgl. zur typisierten Darstellung in rabbinischen Gleichnissen auch NEUSNER: Rabbinic Narrative, Bd. 4, 110. 76

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bereitet zu sein, verbinden sich mit dem Geschehen am Sinai. Und es wird deutlich, wie Gott selbst die notwendige Festvorbereitung als Erneuerung vollbringt. Gleichzeitig führt das Gleichnis dazu, dass die Gabe der Tora nicht als Geschehen der Vergangenheit erscheint, sondern als Fest gegenwärtiger Erneuerung der Gemeinde. Das Sinaiereignis mit seiner Veränderung Israels kann zukünftig erwartet und bereits gegenwärtig gefeiert werden. Das Geschehen, das sich zwischen Maschal, Nimschal und der anzunehmenden Situation einer hörenden Gemeinde am Schavuot-Fest ereignet, lässt sich nicht auf einen Punkt bringen. Der Maschal dient keineswegs nur der Illustration einer aus der Tora gewonnenen Aussage, sondern eröffnet einen Dritten Raum zwischen Tora und Lebenswirklichkeit. Eine Nebenbemerkung: Der Dritte Raum der Meschalim verfügt im rabbinischen Schrifttum über ein weithin bekanntes Figurenarsenal (König [=Gott]; Königssohn oder –tochter; Untertanen des Königs …) und immer wiederkehrende Konstellationen zwischen diesen Figuren.80 Durchaus interessant ist es, diese Figurentypologie auch auf dem realpolitischen Hintergrund der Entstehung der Gleichnisse zu bedenken. Diesem Aspekt ging vor etwas mehr als 100 Jahren Ignaz Ziegler nach. Es sei „originell und kühn“ gewesen, so Ziegler, dass die Rabbinen ausgerechnet Königsgleichnisse gestalteten81 und dabei „nicht Phantasiegebilde, sondern reale Wirklichkeit“ darstellten82. Zieglers umfangreiche Arbeit dient dem Nachweis, dass sich in den Meschalim „griechisch-römisches Leben“83 zeige und sich diese daher als historische Quellen gebrauchen ließen. Auch wenn der historische Quellenwert gegenüber Zieglers Analyse m.E. kritischer einzuschätzen ist, erscheint mir die grundlegende Feststellung beachtenswert, dass die Meschalim in den Königsgleichnissen immer auch einen politischen Kontext anklingen lassen. Die Rabbinen nehmen sich die Freiheit, mit König und Königshof auf der Figurenbühne der Meschalim zu „spielen“ und dokumentieren so eine theologisch begründete Überlegenheit entgegen aller realen politischen Machtverhältnisse. Das sicher nicht selten als übermächtig erfahrene Römische Reich lässt sich auf die Tora hin zuordnen und in der Schriftauslegung gebrauchen. – In dieser Hinsicht können Königsgleichnisse auch als politische Demonstration gelesen werden.84

Das Gleichnis aus PesK 12,19 macht vor allem deutlich, dass das Miteinander von Maschal und Nimschal für die Hermeneutik rabbinischer Gleich80 Vgl. STERN: Parables in Midrash, 21–24. Rabinowitz bestimmt drei Grundtypen der rabbinischen Gleichnisse: die Königsgleichnisse (die Mehrzahl aller Meschalim), daneben auch Tier- und Naturgleichnisse (vgl. RABINOWITZ: Art. Parable, 74–76). Innerhalb der Königsgleichnisse unterscheidet er folgende typische Figurenkonstellationen: (1) der König als Herrscher, die Menschheit als Untertanen, (2) der König als Vater, Israel als Sohn, (3) der König als Ehemann und Israel als seine Frau, (4) der König und Israel als seine Untertanen (vgl. 74f). 81 ZIEGLER: Die Königsgleichnisse des Midrasch, xxii. 82 ZIEGLER: Die Königsgleichnisse des Midrasch, xxiii [im Original hervorgehoben]. 83 ZIEGLER: Die Königsgleichnisse des Midrasch, xxxii. 84 Vgl. dazu auch STERN: Parables in Midrash, 19–21.93–97.

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nisse entscheidend ist.85 Es kommt durch die beiden Teile zur Begegnung von Schrift und Lebenswirklichkeit; im Miteinander entsteht ein Dritter Raum. Weder wird dabei die Schrift auf eine Aussage fixiert und dann mit der Lebenswirklichkeit verbunden noch Lebenswirklichkeit abstrahierend auf den Punkt gebracht. David Stern sieht genau darin die Möglichkeit, dass Leser und Hörer die für sie relevante Botschaft selbst entdecken.86 Anscheinend waren Gleichnisse in rabbinischer Zeit nicht unumstritten, wie die folgende – interessanterweise wieder durch einen Maschal begründete – Aussage zeigt: „Die Rabbinen sagen: Der [wörtlich: dieser, AD] Maschal sei nicht gering in deinen Augen, denn durch den Maschal kann der Mensch die Worte der Tora verstehen [‫ יכול לעמד בדברי תורה‬%‫]שע"י המשל ]…[ אד‬. Wie ein König, der ein Goldstück oder eine kostbare Perle aus seinem Hause verlor. Fand er sie nicht mittels eines Dochtes, der einen Isar wert ist, wieder? So erscheine dieses Gleichnis in deinen Augen nicht gering, denn durch das Gleichnis versteht ein Mensch die Worte der Tora.“87

Im Umkreis dieser Aussage finden sich – ausgehend von Hhld 1,1 sowie der Tradition, die Salomo als Dichter von Liedern und Gleichnissen darstellt,88 – weitere selbstreferentielle Gleichnisse zur Bedeutung des Gleichnisses. Das Gleichnis89 wird dabei u.a. verglichen mit einem Wollknäuel, das dem Eindringenden den Rückweg aus einem verwirrend großen Palast bahnt 85

Vgl. BOYARIN: Intertextuality, 80–92.149f (Anm.) [Interpreting in Ordinary Language: The Mashal as Intertext]; NEUSNER: Rabbinic Narrative, Bd. 4, 111–114; THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Zweiter Teil, 25f. David Stern sieht in dem Miteinander von Maschal und Nimschal einen Zwischenbereich konstituiert, in dem sich Gott zwischen den erzählten Details zeige: „[…] in the shifting sands that lie between the narrative and the nimshal, where story does not exemplify truth but simply alludes to it“ (STERN: Parables in Midrash, 15; vgl. auch 16– 19.40f.69). 86 Vgl. STERN: Parables in Midrash, 51f. Auch Goldberg unterstreicht die Unmöglichkeit, ein rabbinisches Gleichnis vereinfacht auf ein „tertium comparationis“ zurückzuführen; die „Ähnlichkeit“ (GOLDBERG: Das Schriftauslegende Gleichnis, 161 [Hervorhebung im Original]) ermögliche ein vielfaches wechselseitiges Rezipieren, das Goldberg als „rekursives Rezipieren“ bezeichnet (165). Freilich gelingt dieses Wechselspiel nicht in allen rabbinischen Gleichnissen. Gelegentlich begegnen Gleichnisse, die lediglich das in der Schrift Gesagte auf der Figurenbühne der Meschalim eins zu eins abbilden (wollte man diese begrifflich von den anderen abgrenzen, so ließe sich hier m.E. von mimetischen Meschalim im Gegensatz zu der Mehrzahl der poietischen Meschalim sprechen). Vgl. etwa PesK 5,11 – ein Gleichnis, das Est 2,16 (die Heirat Esters mit König Ahasveros) nur nochmals mit der Figur eines Königs wiederholt (vgl. THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 146). 87 ShirR 1,8. Die Selbstreferentialität, mit der die Bedeutung der Gleichnisse durch ein weiteres Gleichnis begründet wird, erinnert an Kafkas berühmte Erzählung „Von den Gleichnissen“ (der Titel wurde später von Max Brod hinzugefügt); vgl. KAFKA: Die Erzählungen, 328. 88 Vgl. Pred 12,9; 1Kön 5,12. 89 Wörtlich ist von ‫ דוגמא‬die Rede, was nach STERN: Parables in Midrash, 300 Anm. 1, hier aber als Maschal verstanden werden kann.

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(eine Aufnahme des Ariadne-Faden-Motivs), einem Henkel an einem Pokal mit heißem Wasser und einem Eimer, der in einen tiefen Brunnen mit frischem Wasser hinabgelassen werden kann.90 Ohne die Meschalim – so die Grundaussage aller dieser Meschalim – bliebe die Tora unzugänglich und unbrauchbar. Mit ihnen aber – so kann mit Bhabhas Begrifflichkeit formuliert werden – wird im Wechselspiel von Maschal und Nimschal ein Dritter Raum der Begegnung von Lebenswirklichkeit und Schrift eröffnet. Der Frage danach, wie sich dieses Wechselspiel von Maschal und Nimschal in rabbinischen Gleichnissen gestaltet, gehe ich im folgenden Abschnitt weiter nach.91

90 Vgl. ShirR 1,8; vgl. die deutsche Übersetzung bei WÜNSCHE: Der Midrasch Schir ha-Schirim, 5f. Vgl. dazu auch BOYARIN: The Bartered Word, 147–159, bes. 147–150; GOLDBERG: Das Schriftauslegende Gleichnis, 142f; NEUSNER: Rabbinic Narrative, Bd. 4, 184f; RABINOWITZ: Art. Parable, 73; STERN: Parables in Midrash, 63–65. 91 Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die komplexe Frage nach dem Verhältnis von rabbinischen und neutestamentlichen Gleichnissen ausführlich zu behandeln. Wollte man die Gleichnisse Jesu in die rabbinische Begrifflichkeit einordnen, so könnte davon gesprochen werden, dass es sich bei ihnen um Meschalim handelt, deren Nimschal nicht das explizite Wort der Tora, sondern das in Jesu Wirken angebrochene Reich Gottes bzw. Jesus Christus als „Tora in Person“ selbst ist (vgl. zur Wechselbeziehung von Tora und Christus auch oben Kap. 8.1.3). In dieser Hinsicht könnten die rabbinischen Gleichnisse als exegetisch, die neutestamentlichen als christologisch bezeichnet werden (vgl. ähnlich WEDER: Metapher und Gleichnis, 389.406–408; vgl. auch BOYARIN: Intertextuality, 80–82; DSCHULNIGG: Rabbinische Gleichnisse [1988], 12–14.578–593; ders.: Rabbinische Gleichnisse [1991], 191–196, bes. 195; GOLDBERG: Das Schriftauslegende Gleichnis, 194f; LUKSCH: Predigt als metaphorische Gott-Rede, 54–62; STERN: Parables in Midrash, 188–206). Die Gleichnisse und Parabeln vom Senfkorn und Sauerteig, vom Schatz im Acker und der kostbaren Perle, vom Fischnetz, Sämann oder Unkraut unter dem Weizen (um nur die Beispiele aus Mt 13 zu erwähnen) erhalten nur in Verbindung mit der Einführung „Das Himmelreich gleicht […]“ (Mt 13,24.31.33.44f.47) ihre herausfordernde metaphorische Bedeutung (vgl. WEDER: Die Gleichnisse Jesu als Metaphern), ihre Fähigkeit einen Dritten Raum zu eröffnen. Sie wären ansonsten – wie die bloßen rabbinischen Meschalim ohne ihren jeweiligen Nimschal – relativ banale Erzählungen. – In der Forschung des 20. Jahrhunderts hatte vor allem David Flusser („Die rabbinischen Gleichnisse“) eine weitgehende Nähe zwischen den neutestamentlichen und den rabbinischen Gleichnissen behauptet, klammerte dazu allerdings die Pointe der Gleichnisse Jesu im anbrechenden Gottesreich weitgehend aus (vgl. zur Kritik an Flusser auch GOLDBERG: Das Schriftauslegende Gleichnis, 136.195). Umgekehrt hatte Paul Fiebig in seinem Buch zu den „Altjüdische[n] Gleichnisse[n]“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1904) vor allem die Differenzen zwischen den rabbinischen Gleichnissen und den Gleichnissen Jesu betont. Zwischen Flussers Identitäts- und Fiebigs Differenzmodell müssten die strukturelle Nähe sowie der grundlegende Unterschied zwischen den Gleichnissen Jesu und den rabbinischen Gleichnissen bestimmt werden. Gleichzeitig wäre es nötig, unterschiedliche Phasen der Entwicklung des rabbinischen Gleichnisses noch genauer wahrzunehmen.

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12.2.2 Doppelte Verfremdung im Wechselspiel von Maschal und Nimschal in rabbinischen Gleichnissen Im untersuchten Gleichnis aus PesK 12,19 werden die Vorbereitungen zu einer Hochzeitsfeier analog mit den Vorbereitungen zur Gabe der Tora am Sinai verbunden. Hochzeit und Sinai beleuchten und erhellen sich wechselseitig. Solche analogen Verbindungen kennzeichnen die meisten der in PesK (und darüber hinaus im rabbinischen Schrifttum) überlieferten Gleichnisse.92 Das Erwachsenwerden eines Kindes, Gehorsam und Ungehorsam, Liebe und Fürsorge innerhalb einer Familienbeziehung, Verlobung, Heirat, Verstoßung der Ehefrau, eheliche (Un-)Treue, die Abwesenheit des Ehemannes, die Bewirtung von Gästen, Kauf und Verkauf, Urteil bzw. Freispruch vor Gericht und andere Erfahrungen des Lebens werden auf der Figurenbühne des Maschal inszeniert und im Nimschal explizit mit der Tora in Beziehung gesetzt.93 Auf diese Weise geschieht mehr als die bloße Illustration biblischer Aussagen; vielmehr werden Lebenserfahrungen dadurch verfremdet, dass durch die Worte der Tora Glaubenserfahrungen in ihnen sichtbar werden – und umgekehrt. Kurz verweise ich auf ein weiteres Beispiel, das auch deshalb interessant ist, weil es sich nicht um ein JHWHKönigs-Gleichnis handelt. Ich zitiere das erste der „Drillingsgleichnisse vom lohnenden Warten“ (PesK 21,3): „Gleich einem, der unterwegs war, als die Sonne unterging. Da kam jemand und zündete ihm die Lampe an, aber sie erlosch. Da kam ein anderer und zündete ihm die Lampe an, aber sie erlosch. Da sagte er: Von nun an warte ich nur noch auf das Licht des Morgens. So die Israeliten: Sie sagten vor dem Heiligen, gelobt sei Er: Herr der Welten, wir machten dir in den Tagen Moses einen Leuchter, aber er erlosch, in den Tagen Salomos zehn Leuchter, aber sie erloschen. Von nun an warten wir nur noch auf dein Licht! ‚In deinem Licht werden wir Licht schauen‘ (Ps 36,10).“94

Die Erfahrung der Vergänglichkeit des irdischen Lichtes führt im Maschal nicht dazu, selbst neue Lichter anzuzünden, sondern auf das Morgenlicht der Sonne zu warten. Auf der Ebene des Nimschal erweist sich die Geschichte von Mose bis zu Salomo trotz ihrer Erfolge als Geschichte menschlicher und so vergänglicher Aufrichtung von Befreiung und damit als offen für das eschatologische Geschehen von Gott her. Der Dritte Raum der Begegnung im Wechselspiel vom Sonnenlicht des Morgens und dem Licht Gottes, von menschlicher Alltagserfahrung und biblisch erzählter Ge92

Vgl. GOLDBERG: Das Schriftauslegende Gleichnis, 158f. Vgl. zu dem unterschiedlichen Bildmaterial THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 36–38. 94 Zitiert nach THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 252; vgl. MANDELBAUM: Pesikta de Rav Kahana, 320. 93

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schichte scheint mir auch in diesem Gleichnis vielfältig eröffnet. Hörer oder Leser konnten das Gleichnis – gebraucht man die im Einzelnen nicht unproblematische lutherische Doppelformel95 – als „Gesetz“ hören (die eindringliche Warnung davor, eigenmächtig Licht in diese Welt bringen zu wollen) oder als „Evangelium“ (der Trost der Hoffnung darauf, dass Gott selbst sein Licht in der Dunkelheit der Welt leuchten lassen wird) oder in mannigfachen Schattierungen zwischen beiden Extremen. Rabbinische Gleichnisse decken Analogien zwischen Lebenserfahrung und Aussagen der Tora auf. Dabei führen manche Gleichnisse bis an die Grenze der Identifikation von Welterfahrung und Gotteswirklichkeit. Als Beispiel sei das erste Gleichnis der – von Thoma und Lauer so genannten – „Gleichnisreihe von Trauerbräuchen“ (PesK 15,3) zitiert: „Der Heilige, gelobt sei Er, sagte zu den Dienstengeln: Ein König aus Fleisch und Blut in Trauer – was tut er? Sie sagten zu ihm: Er hängt einen Sack an seine Türe. Er sagte zu ihnen: Auch ich tue so: ‚Ich kleide den Himmel in Schwarz, und einen Sack mache ich zu seiner Decke‘ (Jes 50,3).“96

Auch die weiteren sechs Gleichnisse dieser Reihe zeigen – jeweils anhand konkreter jüdischer Trauerbräuche und entsprechender biblischer Verse – wie Gottes Trauer der Trauer Israels entspricht.97 Thoma und Lauer schreiben dazu: „Gott tut dasselbe wie der König. Damit will betont werden, dass der Anthropopatismus Gottes eine Wirklichkeit ist, keine blosse Verlegenheitsumschreibung. Die Gleichnisreihe wird so zu einer auch rhetorisch eindrucksvollen, geradezu plastischen Botschaft, Gott sei mit den Juden (vielleicht auch allgemein mit den Menschen) mitleidend.“98 Solche konvergierenden Gleichnisse sind eher selten; das zitierte Beispiel aus PesK 15,3 ist schon formal dadurch auffallend, dass die Maschal- und die NimschalEbene unmittelbar ineinander laufen: Gott ist der übergreifende Akteur in einer „himmlischen“ Szene, durch die Maschal und Nimschal verbunden sind. Häufiger begegnet der zweite Pol im weiten Feld analoger Beziehung von Maschal und Nimschal: die kontrastierende Verbindung, die der Lebenswirklichkeit, wie sie im Maschal beschrieben wird, die Gotteswirklichkeit als das Andere gegenüberstellt. Ein Beispiel für ein kontrastierendes

95

Vgl. dazu unten Kap. 13.2. Zitiert nach THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 224; vgl. MANDELBAUM: Pesikta de Rav Kahana, 250. 97 Vgl. zur Gestaltung der Trauer des Königs auch PesK 15,4 („Drillingsgleichnisse vom trauernden König“; THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 228–232) und PesK 16,9 („Drillingsgleichnisse vom trostbedürftigen König“; 233–236). 98 THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 227. 96

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Gleichnis – Thoma und Lauer sprechen hier von „via negativa-Gleichnis[sen]“99 – aus PesK sei angeführt: „Gewöhnlich ist es so: Ein König von Fleisch und Blut kommt in eine Stadt. Die Stadtbewohner jubeln ihm zu. Ihr Jubel ist ihm angenehm. Er sagt zu ihnen: Morgen errichte ich euch öffentliche und private Bäder; morgen erstelle ich euch eine Wasserleitung! Er ging schlafen und stand nicht mehr auf. Wo ist er? Wo sind seine Worte? Aber der Heilige, gelobt sei Er, ist nicht so. Vielmehr: ‚JHWH, Gott, ist Wahrheit‘ (Jer 10,10 [‫ אמת‬%‫)]יהוה אלהי‬.“100

Der Maschal schildert die Unzuverlässigkeit selbst der Worte eines Königs – beispielhaft für die Unzuverlässigkeit jedes Redens von vergänglichen Menschen („von Fleisch und Blut“), das die Zuhörer in den Maschal eintragen können. Demgegenüber verweist der Nimschal durch ein knappes Zitat auf die „Wahrheit“ und folglich Beständigkeit Gottes und seines Redens. Maschal und Nimschal gestalten die Spannung zwischen Ewigkeit und Verlässlichkeit einerseits, Vergänglichkeit und Unzuverlässigkeit andererseits. Gleichzeitig ist vorstellbar, dass das Hören bzw. Lesen des Gleichnisses weiterführt als nur zu der tendenziell resignativen Feststellung: Ja, so ist das Leben – und so anders ist Gott. Es kann sich die neue Perspektive eines Lebens einstellen, das sich nicht auf vermeintliche menschliche Verlässlichkeit, sondern auf Gottes „Wahrheit“ gründet. In größerer Nähe oder weiterer Ferne zeigen rabbinische Gleichnisse, wie Schrift und Lebenswirklichkeit zusammengehören, und entfalten so sprachlich, was apriorische Tora-Erwartung (Kap. 3.2) hermeneutisch voraussetzt. Dabei bleiben die Gleichnisse bescheiden. Sie entwerfen keine „MetaStory“, in der sie die biblische Geschichte und die Lebenswirklichkeit in einem Gesamtzusammenhang zu verknüpfen suchen, sondern inszenieren punktuelle Begegnungen.101 In diesen Begegnungen liegt – wie die Beispiele zeigen – die Möglichkeit doppelter Verfremdung begründet. Lebenswirklichkeit wird nicht einfach (mimetisch) abgebildet, sondern vom Nimschal her (poietisch) verändert; umgekehrt wird das Wort der Schrift in den lebensweltlichen Plot der Meschalim hineingezogen. Lebenswirklichkeit und Schrift gehen dabei nicht ineinander auf: Das Leben wird nicht idealisierend mit einer Aussage der Schrift verbunden, und umgekehrt wird auch die Schrift nicht banalisierend auf die Lebenswirklichkeit hinunter trans99 Vgl. THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 39f, Zitat: 39 [Hervorhebung im Original]. THOMA/ERNST: Die Gleichnisse der Rabbinen. Vierter Teil, 13 (vgl. auch 76.97.114.118f.123) sprechen von „antithetischen“ im Unterschied zu „thetischen“ Gleichnissen. 100 Zitiert nach THOMA/LAUER: Die Gleichnisse der Rabbinen. Erster Teil, 131 (PesK 4,2; vgl. MANDELBAUM: Pesikta de Rav Kahana, 55). 101 Vgl. ähnlich STERN: Parables in Midrash, 69.

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formiert. Vielmehr gestalten rabbinische Gleichnisse im Miteinander von Maschal und Nimschal explizite Wechselspiele. David Stern verwendet den Begriff der „Metonymie“, um dieses Geschehen in den rabbinischen Gleichnissen zu beschreiben: Es werden Worte durch andere ersetzt (etwa Gott durch König; Tora durch Königstochter; Israel durch Königssohn …) und in einen neuen Zusammenhang gebracht, wodurch sich eine Verschiebung und folglich Verfremdung ergibt. Wichtig ist es für Stern vor allem, die Offenheit dieses metonymen Prozesses zu betonen. Christliche Theologie suche – so Stern – hingegen nicht nach solchen Metonymien, sondern frage nach der (!) Metapher, die Schrift und Leben in einem Wort verbinde und so der Nötigung zu immer neuer Interpretation entkomme.102 Stern knüpft mit diesen Überlegungen an einen umfangreichen Diskurs im 20. Jahrhundert an, der sich vor allem auf Roman Jakobsons Unterscheidung von Metapher und Metonymie (1953) gründet.103 Nach Jakobson bedeutet Metapher die Substitution eines Begriffs durch einen anderen aufgrund einer Relation der Ähnlichkeit (Similiarität). Metonymie hingegen meine die Verkettung von Begriffen aufgrund ihrer Angrenzung aneinander (Kontiguität). Die Metapher bewege sich auf dem Feld der Semantik, wogegen die Metonymie auf dem Gebiet der Syntax verortet werden könne.104 Sicherlich erkennt Stern zu Recht eine problematische Tendenz mancher (nicht der!) christlichen Hermeneutik. Dies allerdings auf die Unterscheidung von Metapher und Metonymie zu beziehen, erscheint m.E. problematisch. So hat Hans Weder eine überzeugende Rezeption des Begriffs der Metapher im Blick auf die Gleichnisse Jesu vorgelegt. Er sieht in den JesusGleichnissen Redeformen, die „die fremde Wahrheit des Gottesreiches in dieser Welt Fuß fassen [lassen, AD], ohne ihre Fremdheit anzutasten“105. Aufgrund der doppelten Referenz der Metapher gelte dann auch umgekehrt, dass die Gottesherrschaft „kosmomorphe Gestalt“106 erhalte. Religiöse Metaphern brächten „die Welt und Gott in einen Zusammenhang“107. Weder 102

Vgl. STERN: Parables in Midrash, 12; vgl. ähnlich CURKPATRICK: Between Mashal and Parable. 103 Vgl. JAKOBSON: Zwei Seiten der Sprache. 104 Vgl. zu einer kurzen Darstellung des Aufsatzes von Jakobson auch RICOEUR: Die lebendige Metapher, 169–178 (vgl. bes. die tabellarische Übersicht 175 Anm. 6). Eine unmittelbare Aufnahme und Anwendung fand die Unterscheidung von Metapher und Metonymie etwa im Werk von Jacques Lacan (1901–1981); vgl. HANDELMAN: The Slayers of Moses, 153–162.243f (Anm.), und grundlegend PAGEL: Jacques Lacan zur Einführung. Auch für Susan Handelmans eigenen Ansatz wird die Unterscheidung von Metapher und Metonymie hermeneutisch entscheidend, vgl. HANDELMAN: The Slayers of Moses, 76–82. 105 WEDER: Metapher und Gleichnis, 405. 106 WEDER: Metapher und Gleichnis, 406 [im Original hervorgehoben]. 107 Vgl. WEDER: Metapher und Gleichnis, 386.

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beschreibt damit im Deuterahmen der Metapher eine unabschließbare Wechselbeziehung, die Stern im Deuterahmen der Metonymie für die rabbinischen Gleichnisse reklamiert.108 U.a. stützt sich Weder auf Paul Ricoeur, der grundlegend gezeigt hat, dass jede Metapher in ihrem syntagmatischen und folglich prädikativen Charakter gesehen werden müsse.109 Damit aber sei für jede Metapher die semantische Spannung grundlegend, die sich immer als eine Spannung zwischen „ist“ und „ist nicht“ ausdrücken lasse.110 Wenn Ricoeur somit die vereinfachende Unterscheidung zwischen Metapher und Metonymie nach Jakobson zurückweist, so hält er eine andere Unterscheidung zwischen Metapher und Metonymie dennoch für sinnvoll: Ricoeur versteht die Metonymie semiotisch („das ausgesprochene Substitutionsphänomen im Bereich der Zeichen“), wogegen die Metapher als „semantischer Prozeß“ in den Blick gerät („vielleicht das ausgesprochene genetische Phänomen auf der Ebene der Redeinstanz“).111 Gegen die polemische Gegenüberstellung Sterns lässt sich von diesen Überlegungen Ricoeurs ausgehend m.E. der Zusammenhang von Metapher und Metonymie auch im rabbinischen Gleichnis präzise bestimmen: Die mehrfache metonyme Verschiebung auf semiotischer Ebene (z.B. Gott – König; Israel – Braut …) führt auf semantischer Ebene zu einer metaphorischen Prädikation, die Welt und Gott, Lebenswirklichkeit und Tora in einer – vielfältige Wechselwirkungen und Verfremdungen eröffnenden – Beziehung verbindet. Anders ausgedrückt: Der Dritte Raum im rabbinischen Gleichnis lässt sich insgesamt als Raum metaphorischer Rede von Gott bestimmen, der sich durch einzelne metonyme Verschiebungen eröffnet. Was diese Überlegungen für die christlich-homiletische Diskussion zur Frage nach der Beziehung von Text und Lebenswirklichkeit austragen können, verdeutliche ich im folgenden Abschnitt.

12.3 Homiletische Perspektiven: Predigt als „Übersetzung“ Sicherlich können die homiletischen Schlussfolgerungen aus diesen Überlegungen zum rabbinischen Gleichnis nicht einfach darin bestehen, zur Nachgestaltung einer vergleichbaren Form in der christlichen Predigt aufzu108

Freilich meint Weder, die Gleichnisse Jesu in dieser Hinsicht von den rabbinischen Gleichnissen abheben zu müssen. Er beschreibt letztere – in m.E. problematischer Verkürzung – als lediglich „illustrativ“. Sie illustrierten „die durch die Schrift vorgegebene Sache“ (WEDER: Metapher und Gleichnis, 407 [Hervorhebung im Original]; vgl. insg. 406–408). 109 Vgl. RICOEUR: Die lebendige Metapher, 133.177.190 u.ö; vgl. dazu auch LUKSCH: Predigt als metaphorische Gott-Rede, 32–53. 110 Vgl. zur Spannung der Metapher RICOEUR: Die lebendige Metapher, bes. 182–192.241.251; vgl. insgesamt den Abschnitt „Metapher und Referenz“ (209–251). 111 Alle Zitate RICOEUR: Die lebendige Metapher, 190 [Hervorhebungen im Original].

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rufen (wenngleich ein homiletisches Experimentieren mit einer analogen Form m.E. durchaus vorstellbar wäre). Für die Bestimmung der Topographie christlicher Predigtrede zwischen Lebenswirklichkeit und biblischem Text aber erscheinen mir die rabbinischen Gleichnisse hilfreich. Der hermeneutische Ort einer Predigt als Kon-Textualisierung wäre als der Dritte Raum zu bestimmen, d.h. als Ort der Begegnung von Bibelwort und Lebenswirklichkeit bzw. mit Bhabha als Ort der Verhandlung oder Übersetzung. Der Begriff der „Übersetzung“ fand auch in der christlichen Homiletik vielfach Verwendung – etwa bei Emanuel Hirsch, der die grundlegende Aufgabe der Predigt als Übersetzung bestimmt. Predigt sei „ein menschlicher Versuch, das Evangelium aus seiner vergangenen geschichtlichen Gestalt hinein in das gegenwärtige Denken und Leben zu dolmetschen […]“.112 Diese Prägung des Begriffs der Übersetzung allerdings entspricht inhaltlich jenem oben charakterisierten und problematisierten synthetischen Vermittlungsbegriff. Hirsch geht von der Möglichkeit aus, das Evangelium als „die Wirklichkeit […] hinter den biblisch noch so korrekten Worten“113, als „das Ewige“ im Text114 erfassen und in das (!) vermeintlich ebenfalls bestimmbare „gegenwärtige Denken und Leben“ hinein übersetzen zu können. Diese Bestimmungen Hirschs sind typisch für eine meta-skripturale Hermeneutik. Gleichzeitig atmen sie deutlich idealistischen Geist (der sich bei Hirsch mit einem an Kierkegaard angelehnten Existentialismus verbindet).115 Es war bereits Johann Georg Hamann, der gegen Kant auf die prinzipielle Problematik dieser idealistischen Hermeneutik, auf die Problematik einer transzendentalen Vernunftkritik jenseits der Sprache und des Konflikts der Sprachen verwies.116 Nach Hamann ist es unmöglich, den „reinen“ Gedanken aus der Sprache zu erfassen. „Vielmehr bleibt“ – so Oswald Bayer in seiner Hamann-Interpretation – „nur die harte Arbeit des Übersetzens. Sie ist das Signum der Sprache nach dem Fall.“117 Für Hamann ist solche Arbeit der Übersetzung unabschließbar und durch den beständigen 112 HIRSCH: Predigerfibel, 3; vgl. auch 65 u.ö; vgl. zu Hirsch auch LÄMMLIN: Die Lust am Wort, 67–83. Vergleichbar versteht auch Ernst Fuchs die Predigt als „Übersetzung“. Es gelte, dasjenige „Wort“ im „Text“ zu hören und weiterzugeben, das „Sprachereignis“ war und neu werden kann (FUCHS: Übersetzung und Verkündigung, passim, bes. 410.416; vgl. zum Begriff des „Sprachereignis[ses]“ 407). Vgl. zu Langes Prägung des Begriffs oben Kap. 12.1.1, 362–365. 113 HIRSCH: Predigerfibel, 13. 114 HIRSCH: Predigerfibel, 66. 115 Ein vergleichbar idealistisches homiletisches Übersetzungsverständnis lässt sich auch bei modernen jüdischen Predigern finden; vgl. nur P. F. Frankl, der in einer seiner Predigten sagte: „Wir sind [als Prediger, AD] nur ‫מתורגמני‬, Dolmetsche und Ausleger der erhabenen Ideen.“ (FRANKL: Fest- und Gelegenheitspredigten, 167). 116 Als Kernsatz Hamanns hebt Oswald Bayer folgende Aussage hervor: „Vernunft ist Sprache logoj […]“ (zitiert nach BAYER: Vernunft ist Sprache, 2); vgl. zum „Konflikt der Sprachen“ 5–9. 117 BAYER: Vernunft ist Sprache, 5.

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Widerstand der Sprache(n) in unaufhörlicher Bewegung.118 Ein solches nach-idealistisches, dynamisches Übersetzungsverständnis war z.B. auch für Franz Rosenzweig leitend. Seine Überlegungen zur Übersetzung, die ich im Folgenden kurz darstelle (12.3.1)119, legen eine homiletische Rezeption m.E. unmittelbar nahe. Diese soll im Anschluss und unter neuerlicher Bezugnahme auf die Hermeneutik der rabbinischen Gleichnisse angedeutet werden (12.3.2).

12.3.1 Der Dritte Raum der „Übersetzung“ bei Franz Rosenzweig Seit Dezember 1922 widmete sich Rosenzweig der Übersetzung der Hymnen und Gedichte des mittelalterlichen jüdischen Dichters Jehuda Halevi (1075–1141).120 In seinem Nachwort zu diesen Übersetzungen121 verortet Rosenzweig Übersetzung zwischen der eigenen Sprache und der Sprache des originalen Dokuments – im Kontext bisheriger Überlegungen ließe sich sagen: im Dritten Raum. Übersetzung bedeutet für Rosenzweig daher nicht die Transformation der einen Sprache in die andere hinein. Seine Übersetzungen – so Rosenzweig – „wollen den Leser keinen Augenblick vergessen machen, daß er nicht Gedichte von mir, sondern von Jehuda Halevi liest, und daß Jehuda Halevi kein deutscher Dichter und kein Zeitgenosse ist.“122 Die Sprache Jehuda Halevis dürfe nicht in die Sprache der Gegenwart hineingezogen werden.123 Vor allem wehrt sich Rosenzweig gegen ein nachdichtendes Verständlichmachen: „Sie [die Nachdichter, AD] wollen dem unglücklichen Original gar zu gern ein wenig unter die Arme greifen. […] Sein [des Nachdichters, AD] Ehrgeiz ist, den Monumenten der Vergangenheit und der Fremde das ‚Gewand unsrer Zeit‘ anzuziehn. Ob der 118

Vgl. BAYER: Vernunft ist Sprache, 15. Vgl. auch oben Kap. 6.2, 171f. 120 Rosenzweig war zu dieser Zeit seit etwa einem Jahr erkrankt, konnte das Haus kaum noch verlassen und spürte das Nachlassen seiner eigenen Sprachfähigkeit. Ausgerechnet jetzt entschloss er sich, nicht sein eigenes Wort zu sagen, sondern die Halevi-Gedichte zu übersetzen (vgl. ASKANI: Das Problem der Übersetzung, 5f). 1924 (Konstanz) erschien eine erste Ausgabe mit 60 Hymnen und Gedichten; in der zweiten Auflage (Berlin 1927; fertiggestellt bereits 1925) waren weitere 35 Übersetzungen aufgenommen. 121 Vgl. dazu oben Kap. 6.2, 171 Anm. 59. 122 ROSENZWEIG: Vorwort zu Jehuda Halevi, 1. 123 Dieser Impuls wird auch zur wesentlichen Grundlage der Bibelübersetzung durch Buber und Rosenzweig (vgl. ROSENZWEIG: Die Schrift und Luther, bes. 205). Bereits Schleiermacher unterschied 1813 zwei Möglichkeiten der Übersetzung: „Entweder der Uebersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.“ Letztlich plädiert Schleiermacher für den erstgenannten Weg (SCHLEIERMACHER: Ueber die verschiedenen Methoden, 47; vgl. dazu ASKANI: Das Problem der Übersetzung, 114–120). 119

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Apoll von Belvedere aber wirklich durch Cutaway und Stehkragen wesentlich gewinnen würde?“124 Dennoch aber bedeute die Übersetzung natürlich Annäherung an die eigene Sprache. Der Übersetzer mache sich „zum Sprachrohr der fremden Stimme, die er über den Abgrund des Raums oder der Zeit vernehmlich macht“125. Durch diese fremde Stimme werde die eigene Sprache jedoch nicht unverändert bleiben; es gehe in der Übersetzung nicht darum, „das Fremde einzudeutschen, sondern das Deutsche umzufremden“126. Die Sprache werde durch die fremde Stimme „nachher anders aussehen als vorher“127. Die Voraussetzung solcher Übersetzungsarbeit liegt für Rosenzweig darin, dass in „jeder Sprache jede andere der Möglichkeit nach enthalten“ sei, weil es so etwas wie „Eine Sprache“ gebe.128 Diese eine Sprache bleibt bei Rosenzweig allerdings unerreichbar im Hintergrund jeder Übersetzungsbemühung. Er betont, dass die „Eintracht der Sprachen […] nur in jeder einzelnen, nicht in dem leeren Raum ‚zwischen‘ ihnen erwachsen“ könne.129 Gerade die auch durch die Übersetzung nicht überbrückte Distanz wird für Rosenzweig zur Voraussetzung der Verbindung zwischen den Sprachen: „Nur die respektierte Distanz macht das Überspringen des Grabens möglich; wer ihn zu Anfang auffüllt, lähmt die Sprungkräfte des andern.“130 Die Möglichkeit der Überwindung des Grabens kann Rosenzweig – im Blick auf seinen eigenen Umgang mit den Texten Jehuda Halevis – auch in die Metapher des Fallens der Scheidewand kleiden und als Ereignis eines Augenblicks beschreiben: „Es kommt im Übersetzen immer irgendwann ein Augenblick, wo die Scheidewand zwischen Gedicht und Übersetzung, und

124

ROSENZWEIG: Vorwort zu Jehuda Halevi, 2. Den Begriff des „Nachdichten[s]“ verwendet z.B. Reiner Kunze (2003) zur Beschreibung seiner Übersetzungspraxis. Sein Ziel sei es, so zu übersetzen, dass das Gedicht in der Zielsprache „wie ein Original wirkt“ (KUNZE: Dasselbe, das ein anderes ist, 315). Rosenzweig legt demgegenüber entscheidenden Wert auf die bleibende und herausfordernde Fremdheit, die sich in der Übersetzung dokumentieren müsse. 125 ROSENZWEIG: Vorwort zu Jehuda Halevi, 3. 126 ROSENZWEIG: Vorwort zu Jehuda Halevi, 2. 127 ROSENZWEIG: Vorwort zu Jehuda Halevi, 3. 128 ROSENZWEIG: Vorwort zu Jehuda Halevi, 3. 129 ROSENZWEIG: Vorwort zu Jehuda Halevi, 4. Intensiver als Rosenzweig rekurriert Walter Benjamin in seinen etwa zeitgleich (1923) erstmals erschienenen Überlegungen zur „Aufgabe des Übersetzers“ auf „die reine Sprache“ (BENJAMIN: Die Aufgabe des Übersetzers, 161) als „Versöhnungs- und Erfüllungsbereich der Sprachen“ (162). Der Übersetzer sei erfüllt von dem „Motiv einer Integration der vielen Sprachen zur einen wahren“ (165), wenngleich er sie durch seine Übersetzung natürlich nicht erreichen könne. Jeder Übersetzung hafte so die „große Sehnsucht nach Sprachergänzung“ (166) an. Vgl. auch BENJAMIN: Über Sprache. 130 ROSENZWEIG: Vorwort zu Jehuda Halevi, 5.

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sei es nur für einen Augenblick, fällt. Um dieses Augenblicks willen übersetzt man, wenn man es auch selber nicht weiß […]“131. 12.3.2 Predigt als „Übersetzung“ Rosenzweigs Bestimmung des Begriffs der „Übersetzung“ fasse ich in drei Aspekten zusammen, die sich sowohl mit der Hermeneutik der rabbinischen Gleichnisse als auch mit der homiletischen Diskussion in Verbindung bringen lassen: (1) Ihre Voraussetzung liegt darin, den zu übersetzenden Text als offenen Text zu verstehen, (2) ihr Weg besteht darin, übersetzend einen Dritten Raum zu eröffnen, und (3) ihr Ziel findet sich in jenen Augenblicken, in denen die „Scheidewand“ fällt. (1) Voraussetzung: Der zu übersetzende Text als offener Text: Franz Rosenzweigs Übersetzungsbemühung der Gedichte Halevis ist von der Erwartung getragen, dass der Text Halevis über den „Abgrund des Raums oder der Zeit“ für die Gegenwart sprechen und bedeutsam sein kann. Auch die rabbinischen Gleichnisse werden – im Kontext apriorischer Tora-Erwartung – von der Überzeugung geleitet, dass die Tora nicht altes Wort ist, sondern lebendiger Ort der Begegnung von Gott und seinem Volk Israel. Diese erwartungsvolle Grundhaltung führt in den rabbinischen Gleichnissen dazu, dass sie nicht ein Ergebnis meta-skriptural fixieren, sondern in einen Prozess der Deutungen führen. Axel Denecke möchte in seinem Aufsatz „Die Texte sind offen“ (1998; vgl. Kap. 8.4) diese grundlegende Tora-Erwartung rabbinischen Judentums im Blick auf die christliche Homiletik rezipieren. Dabei zitiert er bQid 49a: „Wer einen Text wörtlich übersetzt, ist ein Lügner.“132 Es gelte, das unterschiedliche Entdeckungen eröffnende Potential der biblischen Worte in der Predigtvorbereitung wahrzunehmen und in der Predigtrede zu gestalten, keineswegs aber die vermeintliche Aussage des Textes zu bestimmen und dann in der Predigt wiederzugeben.133 Denecke weiterführend ließe sich formulieren: Nicht vom Wort zum Sinn geht der Weg der Übersetzung, vielmehr kann sie – mit Karl Barth – als „wunderliche Arbeit von Wort zu Wort“ verstanden werden.134 (2) Weg: Eröffnung eines Dritten Raumes: Rosenzweigs Übersetzungsarbeit lässt sich als Suche nach einem Dritten Raum verstehen, der als eine Art 131

ROSENZWEIG: Vorwort zu Jehuda Halevi, 15. DENECKE: Die Texte sind offen, 21. 133 Vgl. zur Metapher des „offenen Textes“ auch THEISSEN: Zeichensprache des Glaubens, 50–57. 134 BARTH/THURNEYSEN: Briefwechsel, 236. 132

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Zwischen-Raum dort entsteht, wo der Text Halevis nicht in die gegenwärtige Sprache hineingezogen, dennoch aber in eigener Sprache nachgestaltet wird. In rabbinischen Gleichnissen eröffnet sich dieser Raum im Wechselspiel von Maschal und Nimschal, von Erzählungen mit Aktanten aus dieser Welt (ein „König von Fleisch und Blut“) und deren expliziter Verknüpfung mit Versen aus der Tora. Lässt sich auch in christlicher Predigt so reden wie in den rabbinischen Meschalim – bezogen auf die bekannte Lebenswirklichkeit und doch zugleich offen für das Neue im biblischen Text? Drei Aspekte scheinen mir zur Erreichung dieses Ziels entscheidend, die alle auch in der homiletischen Diskussion der vergangenen Jahre erkannt wurden. (a) Zunächst ginge es darum, die Beispiel-Homiletik zu überwinden und stattdessen in Bildern zu reden. Die Unterscheidung von „Beispiel“ und „Bild“ geht auf Michael Nüchtern (1981) zurück, der die beiden Begriffe zur Bezeichnung grundlegend verschiedener Modi des Erzählens in der Predigt verwendet.135 Mit dem Beispiel ist eine Art des Erzählens im Blick, die Lebenswirklichkeit als Veranschaulichung einer Glaubensaussage bzw. eines Bibeltextes anführt (Illustration).136 Erzählungen dieser Art zeigen letztlich, dass der biblische Text bereits Bekanntes zum Ausdruck bringt und entwickeln so keinerlei Potential, die Wahrnehmung der Lebenswirklichkeit produktiv herauszufordern. Dieser Art des Erzählens stellt Nüchtern das Bild gegenüber, das nicht bloß Bekanntes und begrifflich Formulierbares illustriert, sondern zu einer neuen Wahrnehmung herausfordert.137 Eine als Bild gestaltete Erzählung bezeichnet Peter Bukowski – in Aufnahme von Nüchtern – als „Großform metaphorischer Rede“138. Bukowski schreibt dazu: „Die Welt des Sichtbaren wird hier transparent für das Unsichtbare.“139 Nüchtern und Bukowski erinnern an die Gleichnisse Jesu, in denen ein solches Erzählen wahrnehmbar sei. (b) Entscheidend für diesen Weg vom Beispiel zum Bild scheint mir zweitens der Weg von einer direkten zu einer indirekten Predigtsprache zu sein. Diese Unterscheidung betont vor allem Fred Craddock. Auch für ihn werden die Gleichnisse Jesu zum homiletischen Paradigma – nicht nur für die narrative Predigt. Craddock bezieht sich vor allem auf die Unaufdringlichkeit des Gleichniserzählers Jesus. Jesus habe ein Zuhören ermöglicht, ohne den Hörern eine vermeintlich eindeutige Botschaft applizierend auf den Kopf zuzusagen.140 In Anlehnung an Kierkegaard nennt Craddock eine 135

Vgl. NÜCHTERN: Bild und Beispiel; vgl. zum „Beispiel“ 136–139; vgl. zum „Bild“ 139–142. Vgl. dazu auch BUKOWSKI: Predigt wahrnehmen, 116–120. 137 Vgl. NÜCHTERN: Bild und Beispiel, 139–142, und dazu auch BUKOWSKI: Predigt wahrnehmen, 120–124. 138 BUKOWSKI: Predigt wahrnehmen, 121. 139 BUKOWSKI: Predigt wahrnehmen, 121. 140 Vgl. CRADDOCK: Overhearing the Gospel, 96f. 136

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solche Art des Redens indirekt141 und fordert, dass auch die gegenwärtige Predigtrede indirekt gestaltet werden müsse. Sie müsse es ermöglichen, dass die Hörer sie belauschen, eher zufällig mit anhören („Overhearing the Gospel“142) und so ihren eigenen Weg zwischen „Distanz und Teilnahme“ („distance and participation“143) finden. (c) Schließlich ginge es mit Wilfried Engemann darum, den Weg von der „obturierten“ (verstopften)144 zu einer bewusst ambiguitären Predigtsprache zu finden. Engemann betont – aufgrund semiotischer Reflexionen – die „Ergänzungsbedürftigkeit“ jeder Predigt durch die Hörerinnen und Hörer.145 Ohnehin werde jede Predigt durch die Hörer neu geschrieben und daher unterschiedlich gehört – Engemann spricht hier von der faktischen Ambiguität der Predigtrede.146 Darüber hinaus aber sei es möglich, die Predigt auch bewusst „in Richtung ihrer Ergänzungsfähigkeit“ zu gestalten.147 Wenn sich Predigtrede nicht obturierend verschließe, sondern Ambiguität nutze, biete sich die Chance „eine[r] Enthüllung signifikanter Strukturen, die den Wahrnehmenden überraschen, die sich querlegen zu seinen bisherigen Erkenntnismustern und unerwarteterweise eine neue Erschließungssituation schaffen, in der er etwas entdeckt, was vorher nicht auszudenken war.“148 „Rätselhaftigkeit“ und „Hinweischarakter“, „Wahrnehmungsstörung“ und „Wahrnehmungshilfe“ gehören in dieser Predigtkonzeption dialektisch zusammen.149 Rabbinische Meschalim können als ambiguitäre, indirekte und bildliche Sprachgestaltungen verstanden werden. Vom rabbinischen Gleichnis herkommend und in Ergänzung zu dem von Nüchtern, Bukowski, Craddock und Engemann Gesagten, scheint es mir für die Eröffnung eines Dritten Raumes allerdings entscheidend, zusätzlich den Nimschal, die explizite 141 Für Craddock wird ein Satz Kierkegaards zum Leitwort seiner Homiletik: „[…] die Kenntnis fehlt nicht in einem christlichen Lande, es fehlt etwas anderes, und dieses andere kann der eine Mensch dem anderen nicht direkt mitteilen.“ (KIERKEGAARD: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, 328; vgl. CRADDOCK: Overhearing the Gospel, 3.30.67 u.ö.; vgl. zur Unterscheidung direkter und indirekter Rede auch DUTZMANN: Gleichniserzählungen, 212). 142 So der Titel der Homiletik (CRADDOCK: Overhearing the Gospel; vgl. ähnlich bereits ders.: As One Without Authority, 109). 143 CRADDOCK: Overhearing the Gospel, 49.98; vgl. insg. 87–102 [To a Proposal: The Experience of the Listener]. 144 Vgl. ENGEMANN: Semiotische Homiletik, 105–149 [Die Struktur der obturierten Predigt. Ein Beitrag zur Predigtanalyse]. 145 ENGEMANN: Predigen und Zeichen setzen, 9 [im Original hervorgehoben]. 146 Vgl. ENGEMANN: Semiotische Homiletik, 153–156. 147 ENGEMANN: Predigen und Zeichen setzen, 9 [Hervorhebung im Original]. 148 ENGEMANN: Semiotische Homiletik, 193 [im Original hervorgehoben]. 149 Vgl. zu den zitierten Begriffen ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 317. Vgl. zur predigtpraktischen Konkretion dieses Ansatzes ders.: Wider die Verdummung des Salzes; ders.: Ernten, wo man nicht gesät hat; und vgl. dazu BIERITZ: Unwahrscheinliche Predigten.

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Kon-Textualisierung zum biblischen Wort im Blick zu behalten. Erst im Miteinander einer ambiguitären, indirekten und bildlichen Rede vom Leben und eines explizit ins Spiel gebrachten biblischen Textes wird das Wechselspiel denkbar, dem sich der Dritte Raum verdankt und das jede einlinige Synthetisierung von Text und Lebenswirklichkeit hinter sich lässt. Für die Predigtrede bedeutet dies, biblische Texte keinesfalls auf „die Sinngehalte des Christentums“ als ihren „Kern“ zu reduzieren und so „von ihrer alten Metaphorik zu befreien“ – wie dies Frank Thomas Brinkmann vorschlägt.150 Statt den alten Texten „Cutaway und Stehkragen“ zu verpassen, um sie so der Gegenwart vermeintlich zu akkommodieren, ginge es darum, sie durch die ganze Predigtrede hindurch im Spiel zu halten, sie nicht zu ersetzen, sondern zu übersetzen, damit Hörerinnen und Hörer sie – mit einer Formulierung von Susanne Wolf-Withöft – als „Texträume […] zum Wohnen und Spielen“ entdecken.151 Predigt könnte in solchem Wechselspiel zum Ariadnefaden in die Welt der in den biblischen Texten gestalteten Gotteswirklichkeit werden,152 dadurch die Entdeckung von Neuem inmitten der bekannten Lebenswirklichkeit ermöglichen und insgesamt metaphorische Rede von Gott sein. (3) Ziel: Augenblicke des Fallens der Scheidewand: Im Wechselspiel von Text und Lebenswirklichkeit kann es zu – wie sich mit Rosenzweig sagen ließe – „Augenblick[en]“ der Rezeption kommen, in denen die „Scheidewand zwischen“ Text und Lebenswirklichkeit, „und sei es nur für einen Augenblick, fällt. Um dieses Augenblicks willen“ predigt „man, wenn man es auch selber nicht weiß“.153 Solche Augenblicke aber werden nur möglich, wenn einerseits die Mühe der Übersetzung unternommen wird, andererseits aber dabei vermieden wird, den fremden Text in die eigene Sprache hineinzuziehen und so seine Fremdheit zu eliminieren.154 Predigtrede im Wechselspiel mit dem fremden Text kann dazu führen, dass Hörerinnen und Hörer „draußen bleiben können, im Wort“155, gleichzeitig aber auch zurückkehren können in einen durch die Erfahrungen im Wort veränderten Alltag. „Transversal“ nennt Michael Meyer-Blanck eine solche Predigtrede, die den 150

BRINKMANN: „Gott ist ein Kissen“, 39. WOLF-WITHÖFT: Predigen lernen, 156. Vergleichbar spricht Michael Meyer-Blanck von einer „Mitnahmepredigt, die in die fremde Welt der biblischen Zeugen führt, uns mit ihnen auf Zeit leben lässt und uns wieder zurückführt in den Alltag“ (MEYER-BLANCK: Übergang und Wiederkehr, 277). 152 Vgl. die oben zitierten Gleichnisse aus dem Beginn von ShirR Kap. 12.2.1, 374f. 153 Die Zitatfragmente entstammen ROSENZWEIG: Vorwort zu Jehuda Halevi, 15; vgl. oben Kap. 12.3.1, 383f. 154 Vgl. dazu auch NICOL: Fremde Botschaft Bibel, und oben Kap. 9.2.4. 155 MILDENBERGER: Kleine Predigtlehre, 128 [hier im Blick auf das Erzählen von Geschichten in der Predigt formuliert]. 151

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Übergang in die neue Welt Gottes ermöglicht, indem sie „diese Welt als eine andere“ zeigt.156 Sie wäre, so die These dieses Kapitels, in Analogie zu den rabbinischen Gleichnissen zu lernen.

12.4 Zusammenfassung Eine grundlegende Frage jeder Textpredigt – und damit auch einer Predigt als Kon-Textualisierung – ist die in hermeneutischer und predigtpraktischer Ausrichtung zu stellende Frage nach dem Miteinander von biblischem Text und Lebenswirklichkeit. Eine grobe Kartographie der homiletischen Landschaft zeigte Differenz- bzw. Identitätsmodelle, als deren Probleme sich (häufig) eine Abstraktion biblischer Aussagen oder menschlicher Situation bzw. (seltener) eine allzu unmittelbare Identifikation von biblischem Text und menschlicher Situation ergeben. Grundlegend wurde deutlich, dass der synthetische Ansatz der Verbindung von Text und Lebenswirklichkeit in theologischer und hermeneutischer Hinsicht problematisch ist. Stattdessen wurde mit Homi K. Bhabha die Metapher einer Begegnung im Dritten Raum eingeführt. Auch rabbinische Gleichnisse lassen sich auf dem Hintergrund dieser Fragestellung lesen. Sie gestalten aus der Bewegung des biblischen Wortes narrative Miniaturen (Meschalim). Die direkte Verknüpfung mit dem biblischen Text im Nimschal eröffnet einen Dritten Raum intertextueller Wechselspiele, in die auch die im Maschal aufgerufene Lebenswirklichkeit dynamisch hineingerät und sich so verändert. Vergleichbar beschreibt Franz Rosenzweig das Geschehen der Übersetzung, das sich als anschlussfähig sowohl an die Hermeneutik der rabbinischen Gleichnisse als auch an die homiletische Diskussion erweist. Die Struktur rabbinischer Gleichnisse deutet – analog auf (christliche) Predigt übertragen – auf einen Modus der Predigtsprache als Übersetzung hin, die in den Dritten Raum der Begegnung von biblischem Wort und menschlicher Situation führt. Es legt sich eine bildliche, indirekte und bewusst ambiguitäre Predigtsprache nahe, die die Beispielhomiletik, die Homiletik direkter Applikation sowie die obturierende Predigtsprache überwindet und gleichzeitig explizit mit dem biblischen Wort in herausfordernde Wechselspiele gerät. Eine solche Predigtsprache kann „ihre Hörer dazu pro-vozieren, die eigene Lebenswirklichkeit sub specie [ergänze auch: verbi, AD] Dei neu zu begreifen.“157 156

Vgl. MEYER-BLANCK: Übergang und Wiederkehr, passim, Zitat: 273. DUTZMANN: Gleichniserzählungen, 195 [im originalen Zusammenhang bezogen auf die Predigt neutestamentlicher Gleichnisse]. 157

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13. Haggada und Halacha – Perspektiven „haggalachischer“ Predigtrede

In der rabbinischen Überlieferung begegnen die genera dicendi der Haggada und Halacha, wobei der Begriff Halacha all jene Texte bezeichnet, in denen es um die Klärung praktischer Fragen zur Gestaltung des Lebens im Einklang mit der Tora geht. Mit Haggada sind dann ex negativo alle übrigen Texte gemeint.1 Gleichzeitig beschreiben die Begriffe Haggada und Halacha auch eine Methodik des Umgangs mit der Tora, d.h. den hermeneutischen Weg, auf dem die Rabbinen zur Haggada bzw. Halacha gelangen. An diese methodisch-hermeneutische Bedeutung der Begriffe knüpft Axel Denecke an und entdeckt ein Lernpotential für christliche Predigt und christliche homiletische Schriftauslegung auf der Basis des Miteinanders von Haggada und Halacha. Denecke schreibt: „Schriftauslegung gelingt vor Gott dann, wenn ich zugleich und in eins halachisch und aggadisch denke, rede und handle, beides nicht nur halb, sondern voll und ganz, also hundertprozentig.“2 Auf der Grundlage der Überlegungen Deneckes frage ich in diesem Kapitel danach, inwiefern christliche homiletische Textlektüre von dem rabbinischen Wechselschritt von Haggada und Halacha lernen kann. Dazu stelle ich zunächst Haggada und Halacha sowie das Miteinander der beiden anhand konkreter Textbeispiele sowie anhand eines Einblicks in die jüdische Diskussion zur Thematik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar (13.1). Die rabbinische Unterscheidung von Haggada und Halacha erinnert an das In- und Miteinander von Gesetz und Evangelium in protestantischer Theologie.3 Ich betrachte daher in einem nächsten Schritt die Doppelformel Gesetz und Evangelium und ihre homiletische Relevanz (13.2). Inwiefern sich Berührungen und Differenzen zwischen beiden Fragestellungen ergeben, untersucht der folgende Abschnitt (13.3). In homiletischer Perspektive erkenne ich als Folge der vergleichenden Betrachtung die Chance, Haggada und Halacha analog als Redegattungen (genera dicendi) auch einer christlichen Predigt als Kon-Textualisierung zu betrachten und gleichzeitig 1 Haggada und Halacha sind grammatikalisch als Verbalnomina zu bestimmen, einmal abgeleitet von ‫ הל‬q. (gehen), einmal von ‫ נגד‬hi. (sagen, erzählen); vgl. zu einer grundlegenden Übersicht und weiterer Literatur BIETENHARD: Art. Haggada; HARTMAN: Art. Halakha; JACOBS: Art. Halacha; SAFRAI: Halakha. 2 DENECKE: Als Christ in der Judenschule, 102; vgl. auch 141. 3 Vgl. dazu z.B. MAYER: Einleitung, 28, der allerdings von „Gebot und Evangelium“ spricht.

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das Miteinander von Ethik und Ästhetik als Grundlage homiletischer Hermeneutik zu reflektieren (13.4).

13.1 Haggada und Halacha als grundlegender Wechselschritt rabbinischer Schriftauslegung 13.1.1 Haggada und Halacha Abraham Joshua Heschel eröffnet seine zweibändige „Theology of Ancient Judaism“ ( ‫ )תורה מ השמי‬mit dem Satz: „Auf zwei Worten/Dingen steht die Tora: auf der Halacha und auf der Haggada“4 – ein Satz, der auf das vielzitierte Wort aus den Sprüchen der Väter anspielt: „Auf drei Säulen steht die Welt: auf der Tora, auf dem Opferdienst und auf dem Tun guter Taten“ (mAv 1,2). Das Nebeneinander und Miteinander von Haggada und Halacha erkennt Heschel als die grundlegende hermeneutische Regel für den Umgang mit der Tora. Im Folgenden betrachte ich Haggada und Halacha zunächst je für sich und zeige deren jeweilige Hermeneutik andeutungsweise auf. Dabei arbeite ich induktiv und gehe jeweils von einem Beispieltext aus.

13.1.1.1 Haggada Aus dem weiten „Meer“ jüdischer Haggada wähle ich recht willkürlich ein kurzes Beispiel aus dem Midrasch Rabba zum Buch Genesis.5 Der Text bezieht sich auf die Erzählung von der Himmelsleiter Jakobs (Gen 28,10–19), konkret auf den geringfügigen und nur durch genaue Lektüre erkennbaren Widerspruch zwischen V.11 und V.18. In V.11 wird berichtet, dass Jakob von „den Steinen des Ortes“ nahm ( ‫קו‬‫מּ‬‫י ה‬‫בנ‬‫א‬‫ח מ‬‫קּ‬‫יּ‬‫)ו‬, wogegen es in V.18 heißt, dass er „den Stein“, den er zu seinen Häupten gelegt hatte (‫ח‬‫קּ‬‫יּ‬‫ו‬ ‫יו‬‫ת‬‫שׁ‬‫א‬‫ מר‬‫רשׂ‬‫שׁ‬‫ א‬‫ב‬‫א‬‫תה‬‫)א‬, am Morgen aufstellte. Aus den Steinen wird über Nacht ein Stein – so lesen zumindest die Rabbinen grammatikalisch genau, was sich in jener besonderen Nacht ereignete. Und sie suchen nach Deutungen für dieses Phänomen. Folgende drei Deutungen finden sich im Midrasch BerR:

4

”.‫ על ההלכה ועל האגדה‬:‫( „על שני דברי התורה עומדת‬HESCHEL: Theology of Ancient Judaism, Bd. 1, I). 5 Vgl. zu den Einleitungsfragen zu BerR – einem Midrasch, der in weiten Teilen wohl aus der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts stammt, – STEMBERGER: Einleitung, 272–279.

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„Und er nahm von den Steinen des Ortes. R. Jehuda sagt6: Zwölf Steine nahm er [Jakob, AD] und sagte: Der Heilige, gepriesen sei Er, hatte entschieden, dass er zwölf Stämme stellen sollte. Abraham hat sie nicht gestellt, Isaak hat sie nicht gestellt, wenn sich nun diese zwölf Steine einer mit dem anderen vereinigen, so werde ich erkennen, dass ich zwölf Stämme stellen werde. Als sich nun die Steine vereinigten einer mit dem anderen, erkannte er, dass er die zwölf Stämme stellen werde. R. Nechemja sagt: Drei Steine nahm er. Er sagte: Mit Abraham hat der Heilige, gepriesen sei Er, seinen Namen vereinigt.7 Mit Isaak hat der Heilige, gepriesen sei Er, seinen Namen vereinigt.8 Und ich, wenn sich nun diese drei Steine zusammenfügen einer zum anderen, so werde ich erkennen, dass der Heilige, gepriesen sei Er, seinen Namen auch mit meinem vereint. Als sich nun die drei Steine zusammenfügten, verstand er, dass der Heilige, gepriesen sei Er, seinen Namen vereinen werde mit dem seinen [dem Jakobs].9 Die Rabbinen sagen: Es müssen wenigstens zwei Steine gewesen sein. Von Abraham gingen Ismael und die Kinder der Ketura hervor, und von Isaak ging Esau hervor; wenn sich nun diese beiden Steine miteinander verbinden, so werde ich erkennen, dass von mir nichts Unwürdiges (‫ )פסולת‬hervorgehen wird.“10

Anhand des Beispiels führe ich ohne Anspruch auf Vollständigkeit drei methodische Kennzeichen der Haggada auf. Die Ausführungen können knapp bleiben, da sie oben bereits Erwähntes zusammenfassend wiederholen.11 Grundlegend leitet mich die Metapher des Spiels, handelt es sich doch bei der Haggada um Sprachspiele zwischen dem biblischen Text und der Sprache der rabbinischen Ausleger:12 (1) Genauigkeit im Lesen des Textes als Spielfeld der Haggada: Ohne die Akribie des Sich-Klammerns an das „äußere Wort“ der Tora wäre die haggadische Auslegung unmöglich. Die im Text erkannte Spannung (hier: zwischen dem Plural in V.11 und dem Singular in V.18) eröffnet das Feld, auf dem sich die Entdeckungen der Interpreten ereignen. Diese Entdeckungen wiederum beziehen sich teilweise auf eine genaue Lektüre des Kontextes; 6

Hier und bei den folgenden Redeeinleitungen steht jeweils ‫ אמר‬bzw. ‫( אמרי‬aram. Pluralform von ‫)אמר‬. Möglich wäre sowohl eine präsentische als auch eine imperfekte Übersetzung: „sagt“ bzw. „sagte“. 7 Vgl. Gen 26,24: „[…] Ich bin der Gott deines Vaters Abraham […]“. 8 Vgl. Gen 28,13: „[…] Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott […]“. 9 Vgl. Gen 33,20: „[…] ‚Gott ist der Gott Israels‘.“ 10 BerR 68. Die Übersetzung stammt von mir [AD] und fußt auf der Ausgabe von Theodor/Albeck (nach Bar Ilan’s Judaic Library). 11 Vgl. oben Kap. 3.2 und Kap. 11.1.1. 12 Der Begriff des „Sprachspiels“ geht auf Ludwig Wittgenstein zurück; vgl. dazu EIBACHDANZEGLOCKE: Theologie als Grammatik, 23–27; JUNKE: Art. Spiel, 671; SCHARFENBERG: Seelsorge als Gespräch, 31f.

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dies gilt insbesondere für die Deutung von R. Nechemja, der (implizit) auf drei weitere Genesisstellen verweist. (2) Unabgeschlossenheit der Deutung als Spielregel der Haggada: Unterschiedliche Antworten auf die exegetische Frage erscheinen im Midrasch nebeneinander. Auch wenn die Auslegung der Rabbinen als die Mehrheitsmeinung gelten kann, werden die anderen Auslegungen ebenfalls referiert. Das Ziel haggadischer Auslegung kann es daher nicht sein, die eine richtige Auslegung zu finden. Im Gegenteil: Der Text würde seine Anziehungskraft verlieren, wäre die eine Aussage durch die Deutung zu ermitteln. Widersprüchliche Interpretationen können nebeneinander stehen bleiben,13 und es gilt, erwartungsvoll auf das zu hören, was andere im Wort der Tora entdecken. Der Text ist nie am Ende, die Tora liegt voraus.14 Für den einzelnen Ausleger bedeutet diese Unabgeschlossenheit der Auslegung, dass er nur ein bescheidener Teil der Wirkungsgeschichte der Tora ist. Es geht bei seinen Auslegungsversuchen nicht um die Lösung der exegetischen Problematik, geschweige denn um das Verstehen des Bibeltextes. Dennoch aber trägt jede Einzelaussage als mündliche Tora dazu bei, die schriftliche Tora weiterzuschreiben und erhält so ihre Bedeutung im Auslegungsprozess. Daher auch wird der Name des je einzelnen Auslegers im Midrasch explizit genannt. Auf der Ebene des Midrasch verbindet sich das größtmögliche persönliche Engagement des Einzelnen mit der Bescheidenheit unter dem Text und in der Gemeinschaft der anderen (vergangenen und kommenden) Ausleger.15 (3) Entdeckung der Weltwirklichkeit Gottes im Text als Erfahrung im Spiel: Der Text wird in der Auslegung zum Teil der größeren Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel und der Welt. Der Ausleger spricht sich hinein in das „greatest drama ever staged“16 und entdeckt – im zitierten Beispiel –, wie die Erzählung von Gen 28 in den Kontext der Vätergeschichte gehört, ebenso aber in die auf die Zukunft hin offene Geschichte, in der die „heute“ lebenden Nachkommen Jakobs ihren Ort erhalten: „nichts Unwürdiges wird aus Jakob/Israel hervorgehen“. Diese Aktualisierung geschieht nicht als explizite applicatio des „alten“ Textes, sondern kann implizit mitgehört werden. 13

Vgl. DENECKE: Als Christ in der Judenschule, 116–119; EBACH: Aggadische Dogmatik, bes. 239.246. 14 Vgl. z.B. DENECKE: Die Texte sind offen, und oben Kap. 11.1.1. 15 Vgl. auch Stemberger, der zur expliziten Namensnennung der Rabbinen bemerkt: „Darin äußert sich jedoch nicht ein gesteigertes Selbstbewußtsein des jeweiligen Autors eines Satzes, sondern gerade im Gegenteil das Wissen der Tradenten, in eine bestimmte Tradition eingebunden zu sein.“ (STEMBERGER: Einleitung, 64) Vgl. dazu auch BERKOVITS: Not in Heaven, 50–53 (mit Verweis auf bEr 13b; vgl. dazu oben Kap. 3.2.2.2, 81). 16 So der Titel eines Essays zum christlichen Dogma von Dorothy Sayers.

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13.1.1.2 Halacha Auch für die Halacha soll zunächst ein – auch hier recht zufällig gewähltes – Beispiel in den Blick genommen werden. Es stammt aus bBM 43b–44a und hat seinen biblischen Bezugspunkt im Eigentumsrecht des Bundesbuches, konkret in Ex 22,6–8.17 Dort heißt es nach der Übersetzung von Buber/Rosenzweig: „Wenn jemand seinem Genossen Geld oder Güter zu hüten gibt und es wird aus dem Haus des Manns gestohlen: wird der Stehler gefunden, bezahlt er zwiefach, [7] wird aber der Stehler nicht gefunden, soll der Eigner des Hauses dem Gottgericht nahn, ob er seine Hand nicht legte an die Habe seines Genossen. [8] Über alle Sache einer Veruntreuung, über Ochs, über Esel, über Lamm, über Gewand, über allerart Verlust, von dem einer sagt: das ist es! an das Gottgericht komme die Sache der zwei, wen die Gottrichter Frevels überweisen, bezahle zwiefach seinem Genossen.“18

Die Mischna beschäftigt sich zunächst mit der Überlegung, ob bereits die Absicht zur Tat relevant sei oder erst die tatsächlich ausgeführte Tat. Sie geht dann über zur Frage nach der Aneignung eines fremden Besitzes. Mischna: „[1] Wenn einer beabsichtigt, sich an einem Pfand zu vergreifen – die Schule Schammais sagt: er ist haftbar [‫ ;]חייב‬die Schule Hillels sagt: er ist erst dann haftbar, wenn er sich daran vergriffen hat, denn es steht geschrieben: ‚ob er seine Hand nicht legte an die Habe seines Genossen‘ [Ex 22,7*: ‫דו‬‫ח י‬‫ל‬‫א שׁ‬‫ל‬%‫א‬ ‫הוּ‬‫ע‬‫ת ר‬‫אכ‬‫מל‬‫]בּ‬. [2] Wenn er das Fass geneigt und daraus ein Viertel entnommen hat und es zerbrochen ist, so soll er nur das Viertel ersetzen; wenn er es aber hochgehoben und daraus ein Viertel entnommen hat und es zerbrochen ist, so soll er das Ganze ersetzen.“

Im ersten Teil der Mischna ([1]) betont die Schule Hillels im Gegensatz zur Schule Schammais, dass ein tatsächliches „Handanlegen“ und nicht lediglich die Absicht notwendig für die Haftbarkeit des Betreffenden sei. Sie stützt sich dabei auf Ex 22,7*, wo das „Ausstrecken der Hand“ explizit erwähnt wird.19 Der zweite in der Mischna erwähnte Fall ([2]) hängt nicht kausal mit dem ersten zusammen. Es geht aber immer noch um den Umgang mit einem Pfand, d.h. mit dem Eigentum anderer durch den momentanen Besitzer. Die Verantwortlichkeit für das Pfand beginne, so die Mischna, erst mit dem (widerrechtlichen) Eigentumserwerb; dieser geschehe noch nicht 17 Vgl. dazu ROTHENBUSCH: Die kasuistische Rechtssammlung im „Bundesbuch“, bes. 355– 386 [zu Ex 22,6–14]. 18 BUBER/ROSENZWEIG: Die Schrift, Bd. 1, 211. 19 Eine Nebenbemerkung: Auch wenn sich in der Jesus-Tradition zahlreiche Aussagen finden, in denen Jesus mit der Schule Hillels übereinstimmt, dürfte Jesus in der angesprochenen Frage nach der ethischen Bedeutung der Absicht der Meinung der Schule Schammais angehangen haben, wie etwa Mt 5,27f (Vom Ehebrechen) zeigt.

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durch das bloße Neigen des Fasses, wohl aber durch das Hochheben. Aus der Diskussion der Gemara gebe ich im Folgenden nur die Überlegungen zum ersten Teil der Mischna wieder: Gemara: „[zu 1] Woher dies? Die Rabbinen lehrten: ‚Über alle Sache einer Veruntreuung‘ [‫ע‬‫שׁ‬‫רפּ‬‫ב‬‫לדּ‬‫לכּ‬‫ ;ע‬Ex 22,8*]; die Schule Schammais sagt: Dies lehrt, dass er haftbar ist wegen der Absicht wie wegen der Tat. Die Schule Hillels sagt: Er ist nicht haftbar, bis dass er seine Hand ausgestreckt hat, denn es steht geschrieben: ‚ob er seine Hand nicht legte an die Habe seines Genossen‘ [Ex 22,7*]. Die Schule Schammais sagte zu der Schule Hillels: Ist denn nicht bereits gesagt: ‚Über alle Sache einer Veruntreuung‘ [Ex 22,8*; Hervorhebung AD]? Die Schule Hillels antwortete der Schule Schammais: Ist denn nicht bereits gesagt: ‚ob er seine Hand nicht legte an die Habe seines Genossen‘ [Ex 22,7*]? Wenn es so ist, was sagt die Tora, wenn es heißt: ‚über alle Sache einer Veruntreuung‘ [Ex 22,8*]? Man könnte meinen, nur wenn er es selbst getan hat. Woher aber [soll eine Regelung aus der Tora abgeleitet werden, AD], wenn er damit seinen Diener oder seinen Boten beauftragt hat? – Die Tora sagt: ‚über alle Sache einer Veruntreuung‘ [Ex 22,8*].“

Die Diskussion der Gemara fragt nach der begründenden Rückbindung der Aussagen der Schulen Hillels und Schammais an den Wortlaut der Tora. Dazu wird eine von den Rabbinen tradierte Baraita, d.h. eine nicht in die Mischna aufgenommene rabbinische Aussage aus tannaitischer Zeit, zitiert. Die Schule Schammais greift darin auf die ersten Worte von Ex 22,8 zurück: ‫ע‬‫שׁ‬‫רפּ‬‫ב‬‫לדּ‬‫לכּ‬‫„( ע‬über alle Sache einer Veruntreuung“). Diese vier Worte versteht sie so, dass mit dem ‫„( כל‬alle“) sowohl die Tat als auch die Absicht umgriffen seien. Für die Schule Hillels hingegen ist erst die konkrete Tat, das Ausstrecken der Hand, ethisch relevant. Damit wiederholen die ersten Sätze der Baraita die bereits aus der Mischna bekannten Ansichten der Schulen Schammais und Hillels. Allerdings erkennt die Schule Schammais ein logisches Problem in der Argumentation der Schule Hillels: Das, was die Schule Hillels aus Ex 22,7* herausliest, wäre in Ex 22,8* auf jeden Fall auch gemeint. Im Miteinander der zitierten Aussagen würde sich entweder die von Ex 22,7* oder die von Ex 22,8* als unnötig erweisen. Da sich in der Tora aber aufgrund rabbinischer Überzeugung kein leeres, unnützes, nicht weiterführendes Wort findet, muss es einen weiteren Sinn geben. Den sieht die Schule Schammais darin, dass Ex 22,8* über Ex 22,7* hinaus auf die Verantwortung bereits für den Gedanken hinweist. Im Miteinander von Ex 22,7* (Ausstrecken der Hand) und Ex 22,8* (bloßer Gedanke an das Vergehen) ergibt sich so eine stringente Aussage. Wenn die Schule Hillels folglich bei ihrer Aussage bleiben möchte, ist diese nun herausgefordert, die Relevanz des Nacheinanders von Ex 22,7* und Ex 22,8* anderweitig aufzuweisen. Die Schule Hillels kommt dabei zu folgender Lösung: Es gehe im einen Fall (Ex 22,7*) um das eigene Handeln, der erweiternde Vers Ex 22,8* umgreife dann auch jene Vergehen, die nicht 394 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

selbst, sondern im Auftrag ausgeführt wurden. Die angeführte Baraita endet an dieser Stelle, ohne zu einer Entscheidung darüber zu gelangen, welche der beiden Interpretationen als zutreffend angesehen werden könne. Wie oben zur Haggada soll auch die Methodik und Hermeneutik der Halacha in drei Aspekten erläutert werden:20 (1) Genauigkeit im Lesen der „Texte des Lebens“ und der Texte der Tora als Spielfeld der Halacha: Halacha lebt, wie das zitierte Beispiel zeigt, vom Miteinander zweier genauer Lektüren: der Lektüre der „Texte des Lebens“ und der Lektüre der Texte der Tora.21 Diese zweifache Lektüre führt zur Kasuistik: Es geht um die Betrachtung dessen, was im Leben der Fall ist, und um das Ausloten von Spielräumen des Handelns in diesen Fällen. Diese Spielräume werden im Wechselspiel mit dem Wort der Tora sowie in Auseinandersetzung mit der vorauslaufenden Lehre entdeckt.22 Die apriorische Tora-Erwartung des rabbinischen Judentums, die davon ausgeht, dass „alles“ in der Tora enthalten ist (mAv 5,22), führt dazu, dass die Tora auch für jeden irgend denkbaren Fall des Lebens konsultiert werden kann und muss. Wechselseitig erschließt die Tora den Fall des Lebens und der Lebensfall die Tora – etwa dann, wenn es, wie in oben zitierter Mischna, um das Eigentumsrecht der Tora und die konkreten Fragen des Umgangs mit einem „Viertel Wein“ geht. Dabei ist es keineswegs nur so, dass die Tora den allgemeinen Rahmen setzt, von dem ausgehend dann die Handlungsmöglichkeiten des Lebens deduziert werden. Die in der zitierten Gemara aufgeworfene Frage führt von einem Wort der Tora weiter zu der sehr viel grundlegenderen Reflexion über die Bedeutung der Gesinnung in ihrer Relation zur ausgeführten Tat.23 Weder in der Linearität der Deduktion (von der Tora ins Leben) noch der umgekehrten Linearität der Induktion (von den Fällen des Lebens zur Tora) läuft der Weg der Halacha. Er bewegt sich zwischen den Alternativen. 20

Jacob Neusner versucht in einem seiner neueren Bücher nicht Methodik und Hermeneutik, sondern „The Theology of the Halakhah“ zu entwickeln. Sein Versuch, Halacha als ein theologisches System (vgl. NEUSNER: The Theology of the Halakhah, XX) zu verstehen, führt dabei allerdings zu teilweise willkürlichen, von den Texten her kaum zu begründenden Setzungen. 21 In der Mischna finden sich drei Gruppen von Halachot: „1) solche, die aus der Bibel abgeleitet sind; 2) von der Bibel unabhängige Halakhot; 3) unabhängig von der Bibel entstandene Halakhot, die nachträglich mit der Bibel verbunden worden sind“ (STEMBERGER: Einleitung, 133). Wesentliche Triebfeder der Kommentierung der Mischna in der Gemara war die Frage nach der Verbindung der Halachot der Mischna mit der Tora – wie sich am obigen Beispiel zeigt. 22 Im christlichen Kontext wird der Begriff der Kasuistik meist pejorativ konnotiert (vgl. exemplarisch MARTIN: „Wir wollen hier auf Erden schon …“, 76). Einen Versuch zur Wiedergewinnung der Kasuistik auf der Suche nach einer konkreten Ethik im evangelischen Kontext unternahm DENECKE: Wahrhaftigkeit. Eine evangelische Kasuistik). 23 Vgl. zu Entwicklungen hin zur „Conceptualization“ (Verallgemeinerung ausgehend von konkreten Fallbeobachtungen) in der rabbinischen Halacha MOSCOVITZ: Talmudic Reasoning.

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(2) Suche nach Entscheidung als Spielregel der Halacha: Angetrieben wird halachische Diskussion von der Suche nach einer Entscheidung. Dies unterscheidet die Halacha grundlegend von der Haggada.24 Idealiter steht am Ende der Überlegungen zwischen Lebensfall und Schriftwort z.B. ein ‫„=( חייב‬er ist haftbar“). Die halachische Suche nach Entscheidung scheint mir durch drei Besonderheiten charakterisiert: (a) Sie ist angewiesen auf die Gemeinschaft der Suchenden und Fragenden, vor allem auf den immer neuen Widerspruch. Im zitierten Beispiel sind es die Schulen Hillels und Schammais, die sich gegenseitig herausfordern und so die halachische Diskussion vorantreiben. Bereits Hillel und Schammai selbst können als Prototypen der durch die Polarität unterschiedlicher Meinungen am Leben gehaltenen rabbinischen Streitkultur gesehen werden. Elie Wiesel schreibt: „Gott allein hat immer recht; nur Er allein kennt die ganze Geschichte; wir sehen lediglich Fragmente. Die Wahrheit des Menschen kann nur Stückwerk bleiben und ist begrenzt. Zusammen haben Schammai und Hillel recht; aber jeder für sich hat es nicht.“25 Ähnlich wie Hillel und Schammai lassen sich zahlreiche andere Paare von Rabbinen nennen, die sich durch Rede und Gegenrede gegenseitig herausforderten – z.B. Rabbi Jochanan und Resch Laqisch. Als Resch Laqisch – unter dramatischen Umständen – verstorben war, versuchte, so erzählt der Talmud, R. Elasar ben Pedat den trauernden Rabbi Jochanan zu trösten. Er setzte sich vor ihm nieder und immer, wenn Rabbi Jochanan eine Lehre vortrug, antwortete R. Elasar: „Es gibt eine Lehre als Stütze für dich.“ Da erregte sich Rabbi Jochanan: „Du willst dem Sohne Laqisch gleichen? Wenn ich etwas vortrug, brachte er vierundzwanzig Einwände vor, und ich antwortete gegen ihn vierundzwanzig Mal, und so wurde die Lehre erweitert. Aber du sagst, es gebe eine Lehre als Stütze für mich; weiß ich denn nicht selber, dass ich recht habe? Hierauf ging er fort, zerriss seine Gewänder, weinte und rief: Wo bist du, Sohn Laqisch, wo bist du, Sohn Laqisch! Er schrie solange, bis sein Verstand von ihm wich. Da flehten die Rabbinen um Erbarmen, und er starb.“ (bBM 84a) Die Lehre kann – dies zeigt die Erzählung eindrucksvoll – nur durch den ständig herausfordernden Widerspruch erweitert werden. Wenn dem so ist, ergibt sich daraus aber selbstverständlich auch, dass manche Frage offen bleiben muss – wie in obiger Diskussion die Frage nach der ethischen Relevanz der bloßen Absicht.26 Zur theologischen Voraussetzung des unaufhörlichen Diskurses ist an die Erzählung vom „Schlangenofenstreit“ zu erinnern (bBM 59b).27 „Sie [die Tora, AD] ist nicht im Himmel“ (‫ הוא‬%‫ ;לא בשמי‬Dtn 30,12, hier auf die Mizwa bezogen, vgl. V.11) – mit dem Verweis auf diese Bibelstelle wehrt sich Rabbi Jehoschua gegen die unmittelbare Einmischung der Himmelsstimme in den rabbinischen Streit. Nur dort, wo die Freiheit der Diskussion insofern gewahrt ist, als keiner der Teilnehmer an der 24

Vgl. z.B. HEINEMANN: The Nature of Aggadah, 53. WIESEL: Die Weisheit des Talmud, 36; vgl. insg. 13–37. 26 In halachischen Diskussionen, die auf eine praktische und dringend der Entscheidung bedürftige Frage bezogen sind, wird in aller Regel auf die Mehrheitsmeinung der Rabbinen rekurriert (vgl. BERKOVITS: Not in Heaven, 7; SAGI: „Both are the Words […]“, 130–134). 27 Vgl. dazu oben Kap. 3.2.2.2, 82f. 25

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Diskussion die Unmittelbarkeit der Stimme Gottes vom Himmel zu besitzen meint, bleibt die halachische Diskussion möglich.28 (b) Die Lektüre halachischer Diskussionen versetzt den Lesenden bildlich gesprochen in ein zeitenübergreifendes Lehrhaus, in dem unterschiedliche Rabbinen miteinander im Gespräch sind. Halacha kann in dieser Hinsicht als narrativ bezeichnet werden. Dies betont etwa David Stern, wenn er vom Setting der talmudischen Akademie spricht, das durch die Lektüre halachischer Texte eröffnet werde – eine Akademie „with its cacophonous voices, heated arguments, and lively exchanges, the spirited table talk and intellectual chatter of the rabbis. The whole talmudic discourse is virtually an imaginative narrative of halakhah, of the development of law.“29 (c) Das Besondere an dem zeitenübergreifenden Lehrhaus ist, dass seine Türen auch in der Gegenwart nicht geschlossen sind. Der halachische Diskurs ist auf Fortsetzung angewiesen. Besonders Eliezer Berkovits hebt diesen Aspekt hervor: Es gehe darum, die Halacha herausgefordert durch die jeweils neuen Fragen des Lebens immer wieder weiterführend zu diskutieren. Jeder Karaismus der mündlichen Tora, jeder Versuch ihres Abschlusses und ihrer Fixierung, sei demgegenüber zu problematisieren.30

(3) Eröffnung von Wegen im Spielraum des Handelns als Ziel der Halacha: Das Ziel halachischer Diskussion liegt darin, Wege möglichen Handelns im Nach-Gehen (-‫ )הל‬der Gebote der Tora zu entdecken. Berkovits schreibt: „Halakha is the bridge over which the Torah moves from the written word into the living deed.“31 Der Schriftsteller Chajim Nachman Bialik hat eindrucksvoll darauf aufmerksam gemacht, dass auch die Entdeckung dieser Spielräume des Handelns narrativ geschieht: „Vom Anfang bis zum Ende besteht sie [die Halacha, AD] fast ganz aus bunten Bildern, kleinen und großen, des konkreten jüdischen Lebens im Verlauf eines Jahrtausends und mehr. […] Die Halacha […] zeigt uns sinnfällig in kurzen, aber prägnanten Bildern das Leben des Volkes selber, die Wirklichkeit seines Lebens.“32 „Liest ein Jude etwa in der Ordnung Seraim [Saaten, AD], kommt da nicht manchmal plötzlich ein Geist von Leben über ihn, ein Duft von Erde und von Grünem […]“33. „Nur ein ganz klein wenig, ein geringes Maß von Inspiration, und die Halacha verwandelt sich unter seiner Hand zum Epos.“34

Gegenüber der Narrativität der Halacha in der Darstellung der Diskussionen der talmudischen Akademie ließe sich hier von einer weiteren, sekundären 28

Vgl. BERKOVITS: Not in Heaven, 47f.75.79. STERN: Introduction, in: Rabbinic Fantasies, 10 [Hervorhebung AD]. 30 Vgl. BERKOVITS: Not in Heaven, bes. 88–94; COHEN: Halacha; vgl. zur karäischen Bewegung oben Kap. 4.1, 107. 31 BERKOVITS: Not in Heaven, 1; vgl. auch ALEXANDER: Lernen aus jüdischer Sicht, 368. 32 BIALIK: Halacha und Aggada, 99. 33 BIALIK: Halacha und Aggada, 100. 34 BIALIK: Halacha und Aggada, 101. 29

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Narrativität halachischer Diskurse sprechen: Halacha erzählt den möglichen Fall des Lebens,35 bringt ihn ins Spiel mit Texten der Bibel und weiteren Lebensfällen und befragt mögliche Handlungsalternativen im Rahmen des von der Tora Gebotenen.36 Die sechs Ordnungen der Mischna (‫ששה סדרי‬ ‫ )משנה‬spielen die verschiedenen Bereiche des Lebens durch: „Samen“, „Festzeiten“, „Frauen“, „Beschädigungen“, „Heiliges“, „Reinheiten“.37 Joseph B. Soloveitchik betont, dass es dabei in der Halacha nicht nur um die Entscheidung der ethischen Frage, sondern auch um die sprachliche Konstitution einer „idealen Welt“ gehe. In seinem Werk „Halakhic Man“ schreibt er – in der für ihn typischen neukantianischen Sprache: „The essence of the Halakhah, which was received from God, consists in creating an ideal world and cognizing the relationship between that ideal world and our concrete environment in all its visible manifestations and underlying structures.“38 Diese ideale Welt der halachischen Diskussion sei die Lebenswelt, in der der „halachische Mensch“ bereits jetzt zu Hause sein könne, auch wenn sie der vorfindlichen Welt (noch) nicht entspreche.39 Das Handeln des „halachischen Menschen“ freilich werde immer darauf ausgerichtet sein, das irdische Leben von der idealen Welt her zu gestalten und so zum Mitschöpfer der Welt Gottes zu werden.40

13.1.2 Das Miteinander von Haggada und Halacha Haggada und Halacha lassen sich unterscheiden; dennoch gehören beide in rabbinischer Hermeneutik und in der mündlichen Tora untrennbar zusammen. Sie sind gemeinsam als Wege des Umgangs mit der schriftlichen Tora 35 Auf herausgehobene Weise geschieht dies in der Ma‘ase (‫ )מעשה‬genannten Gattung rabbinischer Erzählungen, in der eine konkrete Begebenheit („Tatfall“) erzählt und befragt wird (vgl. GOLDBERG: Form und Funktion des Ma‘ase, Zitat: 22; vgl. auch NEUSNER: Rabbinic Narrative, Bd. 4, 7–107; STERN: Parables in Midrash, 240–246). 36 Eliezer Berkovits spricht von der Halacha als der „Weisheit des Durchführbaren“ („Wisdom of the Feasible“, vgl. BERKOVITS: Not in Heaven, 8–19, Zitat: 8). 37 Vgl. detaillierter zum Inhalt der einzelnen Ordnungen STEMBERGER: Einleitung, 115–123; GOLDBERG: The Mishna. 38 SOLOVEITCHIK: Halakhic Man, 19f; vgl. auch ders.: The Halakhic Mind, bes. 83–102.129– 132 (Anm.). 39 Vgl. SOLOVEITCHIK: Halakhic Man, 24–29. „Erlösung“ („redemption“) bedeute die „adaption of empirical reality to the ideal patterns of Halakhah“ (37f). 40 Vgl. SOLOVEITCHIK: Halakhic Man, 101 („man as creator“); 107f: „The perfection of creation, according to the view of halakhic man, is expressed in the actualization of the ideal of Halakhah in the real world.“ Vgl. auch die Formel: „the realization of the Halakhah=contraction= holiness=creation“ (109). Soloveitchiks Ansätze werden seit einigen Jahren intensiv neu rezipiert, vgl. dazu nur BERGER: U-Vikashtem; HARTMAN: The Halakhic Hero; NADLER: Soloveitchik’s Halakhic Man; RUTISHAUSER: Josef Dov Soloveitchik; SINGER: Joseph Soloveitchik; SPERO: Rabbi Joseph Dov Soloveitchik.

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zu verstehen. Marc-Alain Ouaknin schreibt, dass Haggada und Halacha ein Sprechen bedeuten, „das seine Geburt im Text hat und den Text weiter bewohnt: ein unaufhörliches Kommen und Gehen zwischen dem Text und diesem ‚Ander-Text‘, den er gebiert.“41 Diese Zusammengehörigkeit zeige ich zunächst auf, bevor ich mit den Begriffen „Panhalachismus“ und „Panhaggadismus“ auf die Probleme verweise, die dann entstehen, wenn allein die Halacha ohne die Haggada bzw. umgekehrt die Haggada ohne die Halacha betrachtet und praktiziert werden.

13.1.2.1 Die notwendige Zusammengehörigkeit von Haggada und Halacha Schon im Pentateuch verbinden sich die Erzählung der Geschichte Gottes mit seinem Volk und die Lehre des Gesetzes. Besonders unmittelbar erscheint diese Verbindung etwa in Dtn 6,20f, zwei Versen, die zum Kontext einer mit Dtn 6,4 einsetzenden „Mahnrede“42 gehören: „Wenn dich nun dein Sohn morgen fragen wird: Was sind das für Vermahnungen, Gebote und Rechte, die euch der HERR, unser Gott, geboten hat?, [21] so sollst du deinem Sohn sagen: Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten, und der HERR führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand“. Die Frage nach den Geboten führt zur Erzählung der Befreiungsgeschichte des Volkes. Diese Grundstruktur der Verbindung von Narration und Gesetz – in späterer Begrifflichkeit ließe sich sagen: von Haggadischem und Halachischem – prägt den Pentateuch insgesamt.43 Auch der (babylonische) Talmud ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihm innerhalb der schwerpunktmäßig halachischen Diskussionen immer wieder haggadische Elemente (Erzählungen, Darstellungen, Reden44) erscheinen. Im Blick auf den babylonischen Talmud trifft daher die Aussage von Axel Denecke zu, der schreibt: „[…] Halacha und Aggada […] gehen untrennbar ineinander über. Man vermag [zu ergänzen wäre hier: manchmal, AD] nicht mehr zu unterscheiden, wo die Halacha endet und die Aggada beginnt – und umgedreht.“45 Das Miteinander von Haggada und Halacha in der rabbinischen Literatur übt bis in die Gegenwart eine Faszination aus, die z.B. der US-amerikanische Schriftsteller Mark Jay Mirsky betont. Für Mirsky bedeutet dieses Mit41

OUAKNIN: Das verbrannte Buch, 67. RAD: Das fünfte Buch Mose, 45. 43 Vgl. auch JACOB: The Second Book of the Bible, 291f. 44 Vgl. zu den Formen der Haggada STEMBERGER: Einleitung, 61f. 45 DENECKE: Als Christ in der Judenschule, 135f (mit Verweis auf bBM 59a). Vgl. ähnlich auch NEUSNER: Art. Theology of Judaism; SHINAN: The World of the Aggadah, 117; vgl. zum Miteinander von Haggada und Halacha auch FRAENKEL: Darche ha-Aggada, 481–499.694–697 (Anm.). 42

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einander die Möglichkeit, „Geschichten zu leben“ und nicht nur zu hören, und gleichzeitig „nicht Gesetze zu befolgen, sondern Geschichten“: „To live in the law is not merely to obey laws but to obey stories, to live stories, to give a share in these stories to all who will hear them and to wander in the grip of the stories to a messianic future.“46 Nicht ohne Humor bringt auch eine rabbinische Erzählung die Notwendigkeit zur Sprache, nicht entweder Haggada oder Halacha zu treiben, sondern beidem Raum zu geben: „R. Ami und R. Asi saßen vor R. Jizchaq, dem Schmied. Einer sagte zu ihm: Trage Halacha vor, und einer sagte zu ihm: Trage Haggada vor. Wollte er eine Haggada beginnen, so ließ es der eine nicht zu, wollte er eine Halacha beginnen, so ließ es der andere nicht zu. Da sprach er zu ihnen: Ich will euch ein Gleichnis sagen. Womit ist das zu vergleichen? Mit einem Mann, der zwei Frauen hat, eine junge und eine alte. Die junge Frau rupft ihm die weißen Haare aus, und die alte rupft ihm die schwarzen Haare aus, sodass er schließlich kahl in der einen und kahl in der anderen Hinsicht wurde. Hierauf sprach er: Ich will euch etwas sagen, was euch beiden gefallen wird […].“47

Die kurze Erzählung aus dem Talmud weist zugleich darauf hin, dass das Miteinander von Haggada und Halacha in rabbinischer Zeit keineswegs unproblematisch war. So erfreute sich die Haggada gegenüber der Halacha beim Volk nicht selten größerer Beliebtheit, wie etwa bSot 40a zeigt: „R. Abahu und R. Chija b. Abba kamen in eine Ortschaft. R. Abahu trug Haggada und R. Chija Halacha vor [‫רבי אבהו דרש באגדתא רבי חייא בר אבא דרש‬ ‫]בשמעתא‬. Alle Welt ließ R. Chija b. Abba unbeachtet und ging zu R. Abahu, worüber jener sich grämte. Da sprach er zu ihm: Ich will dir ein Gleichnis sagen. Womit ist dies zu vergleichen? Mit zwei Menschen, von denen einer Edelsteine und einer allerlei Nähgeräte verkauft. Zu wem laufen sie hin? Doch wohl zu dem, der allerlei Nähgeräte verkauft. Jeden Tag pflegte R. Chija b. Abba Rabbi Abahu bis zu seinem Gasthaus zu begleiten wegen seines Ansehens bei der Regierung, an jenem Tag aber begleitete R. Abahu R. Chija b. Abba bis zu seinem Gasthaus, dennoch aber beruhigte ihn dies nicht.“48

Der Beliebtheit der Haggada beim Volk stand die Bevorzugung der Halacha in rabbinischen Kreisen gegenüber. In seinem Aufsatz „Der alte Widerspruch gegen die Haggada“ verweist Leo Baeck darauf, dass die Haggada spätestens seit dem 2. Jahrhundert n.Chr. angefeindet worden sei. U.a. zitiert Baeck R. Seira: „Sie [die Haggada, AD] läßt sich hin- und herdrehen

46

MIRSKY: In a Turn of the Scroll, 356; vgl. auch insg. 349–351.355f. bBQ 60b; die Übersetzung stammt von mir [AD], lehnt sich aber an GOLDSCHMIDT: Talmud Bavli, Bd. 7, 209, an. 48 Zitiert in eigener Übersetzung, die sich an GOLDSCHMIDT: Talmud Bavli, Bd. 6, 137, anlehnt. 47

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und wenden, aber lernen läßt sich aus ihr nichts.“49 Angesichts dieser unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen verwundert es nicht, dass sich Stimmen in der rabbinischen Tradition finden, die vor einer alleinigen Fixierung auf die Halacha warnen. So heißt es in Sifre Deuteronomium im Rückgriff auf Dtn 8,3: „Dass du nicht sagst: Ich habe Halachot gelernt, das genügt mir. Die Schrift sagt: ‚Haltet die Gebote, die ich euch gebiete‘ (Deut 27,1). Das ganze Gesetz lerne – Midrasch, Halachot und Haggadot. Und so heisst es: ‚Dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt‘ (Deut 8,3). Das ist der Midrasch. ‚Sondern von allem, was das Wort J’s schafft, lebt der Mensch‘ (ebda.). Das sind die Halachot und die Haggadot.“50 Abraham Joshua Heschel brachte das Phänomen der Zurückdrängung der Haggada durch die Halacha auf den Begriff des „Panhalachismus“.51 Analog ließe sich das umgekehrte Phänomen als „Panhaggadismus“ bezeichnen.52 Die beiden Begriffe scheinen mir als Heuristik hilfreich. Auf ihrem Hintergrund betrachte ich zunächst die „Theologie“ Samson Raphael Hirschs. Die hermeneutische Problematik des Panhalachismus lässt sich in seiner neo-orthodoxen Neukonstitution des Judentums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts exemplarisch wahrnehmen.

13.1.2.2 Das Problem des Panhalachismus Samson Raphael Hirsch versuchte – wie oben gezeigt – die Halacha gegen deren Abwertung in der jüdischen Reform des 19. Jahrhunderts neu ins Zentrum jüdischen Lebens zu rücken.53 Dabei bildet die Tora, die Hirsch als überzeitlich gültiges, offenbartes Wort Gottes versteht, die unaufgebbare Basis seines gesamten Denkens. In diesem Punkt stimmt Hirsch mit der apriorischen Tora-Erwartung rabbinischer Zeit überein. Im Unterschied zur rabbinischen Konzeption aber ist für Hirsch die Tora gänzlich als Gesetz zu verstehen.54 Daher auch müsse sich das Judentum vollständig auf das Gesetz 49 BAECK: Der alte Widerspruch gegen die Haggada, 183; vgl. zur Bedeutung, die die rabbinische Tradition der Halacha beimaß, auch bBer 8a: „Das ist es, was Rabbi Chia b. Ami im Namen von Ula gesagt hat: Seit dem Tag, an dem das Heiligtum zerstört wurde, hat der Heilige, gepriesen sei Er, in seiner Welt nichts weiter als die vier Ellen der Halacha [‫ארבע אמות של הלכה‬ ‫]בלבד‬.“ 50 BIETENHARD: Der tannaitische Midrasch Sifre Deuteronomium, 180 [die Schreibweise der Worte Halacha und Haggada ist verändert, AD]. Vgl. zu dieser Stelle auch HESCHEL: Gott sucht den Menschen, 250. 51 Vgl. HESCHEL: Gott sucht den Menschen, 248.253f. 52 Den Begriff „pan-aggadists“ gebraucht GILLMAN: Jewish Expression. 53 Vgl. dazu oben Kap. 5.3.2, 145–147; vgl. zur Zurückdrängung der Halacha in der jüdischen Reform auch WOLF: Reform’s Original Sin, 90. 54 Vgl. HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 2, 121: Das „Wort des lebendigen Gottes“ erscheine „durchweg als Gesetz, als Tat, als Leben.“ [Hervorhebungen im Original] Vgl. ähnlich auch

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gründen; ja, Hirsch kann schreiben: „[…] das Judentum ist Gesetz“55. In deutlicher Polemik gegenüber dem Reformjudentum und auch gegenüber dem Christentum behauptet Hirsch: „La loi und nicht la foi, Gesetz und nicht der Glaube ist das Stichwort des Judentums, Gehorchen, nicht Glauben und Hoffen und Beten macht den Juden zum Juden.“56 Die Aufgabe der mündlichen Tora sei es, so Hirsch, den „Inhalt“ der schriftlichen Tora „in alle Fugen des irdischen Daseins“57 zu tragen. Mündliche Tora wird folglich primär als Halacha verstanden, wie auch das folgende Zitat aus dem ersten Jahrgang der von Hirsch herausgegebenen Zeitschrift „Jeschurun“ (1854) zeigt: „Und schriftlich und mündlich die Mitteilung dieses ‚Feuer-Gesetzes‘58. Schriftlich: die Lichtkerne aller durch den Gottesgedanken zu gestaltenden Beziehungen des menschlichen Daseins und Lebens: ‫ ;תורה‬das A B C der Gottesoffenbarungen in Natur und Geschichte: %‫ ;נביאי‬durch dieses Gottesfeuer in Geist und Gemüt zu ihm emporringender Sterblichen gereifte Blüten: %‫כתובי‬. Mündlich: die Entfaltung jener Gotteskeime zum vollendeten zweig- und fruchtreichen Baume des weitschichtigen, wirklichen Lebens: ‫ ;הלכה‬die Zurückführung dieser Früchte auf ihre Keime, die Entfaltung der Keime zu den Früchten: ‫ ;מדרש‬die zusammengeordneten Lehrsätze aus dieser Entwickelung: ‫ ;משנה‬die diesen Lehrsätzen zu Grunde liegenden Motive: ‫ ;גמרא‬Lebensanschauungen und Weisheitslehren der an den Brüsten dieser Gotteslehre großgenährten Geister: ‫אגדות‬.“59

Die Halacha erscheint in diesem Zitat als die eigentliche „Entfaltung“ der in der schriftlichen Tora angelegten Keime – ermöglicht durch den Midrasch, der die Verbindung von schriftlicher Tora und geltender Halacha garantiere. Mischna (als Zusammenfassung) und Gemara (als Klärung der Motivation) ordnen sich der Halacha unter. Die Haggada hingegen spielt keinerlei eigenständige Rolle; ja, sie erscheint nicht einmal im Singular, sondern lediglich im Plural als Summe „der Lebensanschauungen und Weisheits-

ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 4, 67, wo Hirsch die Tora als „Gottesgesetz“ für die „lebendige Gegenwart“ des Judentums bezeichnet. 55 HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 2, 143; im gleichen Zusammenhang nennt Hirsch das Judentum auch „ein Leben gestaltendes Gesetz“. Diese Gestaltung des ganzen Lebens durch das Gesetz konjugiert Hirsch in einer Betrachtung zum Monat „Siwan. Zum Fest der Gesetzgebung“ (HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 5, 109–118) durch; das Gesetz sei „Milch unserer Kindheit“ (109f), „Feuer unserer Jugend“ (110–112), „Licht unseres Mannesalters“ (112–114), „Wein für unser Alter“ (114–117) und „Wasser, die Quelle unserer Reinigung und Wiedergeburt“ (117f [alle Hervorhebungen im Original]). Seine eigene Richtung im Judentum bezeichnet Hirsch selbst als „gesetzestreue[s] Judentum“ (HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 1, 262). 56 HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 1, 422 [Hervorhebungen im Original]. 57 HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 1, 101. 58 Mit „Feuer-Gesetz“ meint Hirsch hier die Tora; es handelt sich um seine Übertragung von ‫ אשדת‬aus dem textkritisch schwierigen Vers Dtn 33,2b: ‫מו‬‫ת ל‬‫שׁדּ‬‫ א‬‫ינו‬‫ימ‬‫מ‬. 59 HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 1, 236 [Hervorhebungen im Original].

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lehren“ einiger Großer der Vergangenheit. Jedes Miteinander von Haggada und Halacha ist bei Hirsch aufgelöst; an seine Stelle tritt eine linear-konsekutive Beziehung von schriftlicher Tora (als Keim) und Halacha (als Frucht). Gleichzeitig setzt Hirsch die Halacha mit dem überlieferten halachischen Material gleich.60 Die Halacha als überlieferter Korpus wird für ihn zum unangreifbaren, unhinterfragbaren Wort Gottes, womit sie ihren ständigen kritisch-hermeneutischen Rückbezug auf die schriftliche Tora und damit ihre situative Offenheit und kommunikative Diskursivität, die Halacha im Kontext mündlicher Tora zu rabbinischer Zeit kennzeichnete, verliert.61 Hirschs Denken ist folglich von einer mehrfachen Identifikation (Äquivokation) geprägt, die auf die Formel gebracht werden kann: „Wort Gottes = Gesetz = Halacha“. Diese Grundformel des Panhalachismus zeigt, dass Panhalachismus in seiner Konsequenz einen Halacha-Fundamentalismus bedeutet. Dieser verändert auch die Halacha, indem er den Korpus der Halacha zum göttlich geoffenbarten Fixpunkt erklärt und dabei die Halacha als Methode immer neuen diskursiven Befragens der Schrift und der Tradition aus dem Blick verliert. Wenn Judentum bei Hirsch mit dem „Gesetz“ identifiziert wird, versteht es sich von selbst, dass er als das Grundproblem jüdischen Lebens der Gegenwart den Abfall vom Gesetz erkennt, der sich daran zeige, dass weite Teile des Judentums die Halacha nicht mehr beachteten, und der für Hirsch (im Einklang mit obiger Gleichung) gleichbedeutend mit einem Abfall vom Wort Gottes erscheint.62 Die Wissenschaft des Judentums mit ihrem historisch relativierenden und unterscheidenden Zugang zur Tora und zur jüdischen Tradition ist für Hirsch daher nichts anderes als die „willkommene wissenschaftliche Legalisierung ihres längst in der Praxis […] vollzogenen Bruchs mit dem jüdischen Gesetz“63. Ausführlich beschäftigt sich Hirsch konsequenterweise damit, das Gesetz für den denkenden Menschen seiner 60

Jeder unterscheidend-kritische Zugang zur Tradition, wie er in der Wissenschaft des Judentums praktiziert wurde, scheidet daher für Hirsch aus; vgl. ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 2, 149f. 61 Ein vergleichbares Problem erkennt Yeshayahu Leibowitz im gegenwärtigen orthodoxen Judentum, dem er eine Vermischung von Mizwa (für ihn das feststehende biblische Gebot) und Halacha (als die situativ wandelbare Konkretion) vorwirft; vgl. dazu HARTMAN: Yeshayahu Leibowitz, 201f. 62 Vgl. dazu vor allem Hirschs Betrachtung mit dem Titel „Aw. Die sieben Entwicklungs-Stadien des Abfalls vom Gesetze (Nach Sifra zu ‫“)בחקתי‬, in: HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 2, 139– 152, und Hirschs Aufsatz mit dem Titel „Die jüdischen Ceremonialgesetze“ (HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 1, 160–167), in dem Hirsch den Abfall schon dort beginnen sieht, wo man den Versuch macht, innerhalb des Gesetzes „Ceremonial“- und „Moralgesetze“ zu unterscheiden. Für Hirsch kann dies nur als gleichbedeutend mit einer Scheidung „zwischen Gotteswort und Gotteswort“ gesehen werden (166). 63 HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 1, 431.

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Zeit attraktiv zu machen. Dies versucht er in einem allegorischen Prozess: Ausgangspunkt ist die Bezeichnung der Halachot als „Symbole“, deren „Idee“ sich durch theologisches Nachdenken ermitteln lasse.64 Möglich wird dieses Verfahren, weil Hirsch davon ausgeht, dass „Gott dem Menschen in der von ihm angeordneten symbolischen Handlung“ seine Gedanken „zur innersten Aneignung darreicht“65. In semiotischer Begrifflichkeit ließe sich Hirschs Symbolismus wie folgt beschreiben:66 Das Gotteswort der Tora besteht aus meta-sprachlichen Signifikanten („Tathandlungen“67), deren Signifikate sich methodisch bestimmen lassen und identisch sind mit den Gedanken Gottes. Hermeneutisch problematisch erscheint mir dieser Hirschsche Symbolismus in zweifacher Hinsicht: (1) Hirschs Semiose läuft einlinig. Es gelte, die Idee der Symbole zu bestimmen, deren Identität mit den „Gedanken Gottes“ dann festzustehen scheint.68 Das Symbol wird als bloße Repräsentation dessen verstanden, was im Bereich der Idee schon vorhanden sei und darauf auch wieder zurückgeführt werden könne. Von der (beinahe!) unbegrenzten Vielfalt der Haggada im Wechselspiel mit der Halacha in rabbinischer Zeit hebt sich diese Linearität deutlich ab. (2) Damit hängt das zweite Problem unmittelbar zusammen: Die „Idee“ hinter dem Symbol lässt sich bei Hirsch vom Symbol ablösen und intellektuell greifen. Einmal erkannt verliert damit das Symbol faktisch seine Bedeutung; auf das Tun der Halacha, des Gebotenen, könnte eigentlich verzichtet werden. Diese Problematik allerdings erkennt bereits Hirsch selbst, weswegen er darauf insistiert, dass das Symbol Körperlichkeit, Gemeinschaftsbezug und Stetigkeit garantiere und deshalb auch dann notwendig bleibe, wenn die Idee einmal erkannt sei.69

64

Vgl. die allgemeinen Bestimmungen von „Idee“ und „Symbol“ in Hirschs „Jüdischer Symbolik“ (HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 3, 212–446): „Idee“ meint das, was „durch die gegebenen sinnlichen Zeichen ausgedrückt sein soll“ (213). „Symbole sind Zeichen aus dem Kreise sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände und Erscheinungen zur Vergegenwärtigung bestimmter Ideen und Gedankengänge“ (219); vgl. dazu auch BREUER: 1873: Samson Raphael Hirsch, bes. 205.210. 65 HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 1, 87. 66 Hirsch selbst spricht im Blick auf die Tora von einer „Zeichenschrift […], in welcher Gott seine welterlösenden und weltbauenden Wahrheiten für uns Menschen niederlegt“ (HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 1, 88). Ausgehend von der Metapher der „Zeichenschrift“ legt sich eine Anwendung semiotischer Begrifflichkeit nahe. 67 Vgl. zum Begriff der „Tathandlung“ HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 3, 412f. 68 Vgl. zu diesem Singular HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 3, 218: es gehe darum, „den einen bestimmenden Gedanken aufzufinden“ [Hervorhebungen AD]. Vgl. auch 221: Es müsse „die eine die richtige und wahre [Deutung ermittelt werden, AD], das heißt, diejenige […], die derjenige damit beabsichtigte, der diesen Gegenstand oder diese Handlung zum Ausdruck eines bestimmten Gedankens gewählt“ habe [Hervorhebungen AD]. 69 Vgl. HIRSCH: Gesammelte Schriften. Bd. 3, 216–218.228.

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Hirsch möchte sich auf die Halacha konzentrieren und drängt die Haggada zurück. Letztlich aber schreibt er sich in seinem Symbolismus diejenige Haggada selbst, die nötig wird, um das „Gesetz“ attraktiv zu machen und seine Befolgung zu motivieren. Dabei aber hat diese sekundäre Haggada mit der Dynamik der Pluralität der Haggada zu rabbinischer Zeit in ihrem ständigen Bezug auf die Tora nichts mehr zu tun. Hirschs Panhalachismus führt zu einer sekundären Re-Haggadisierung jenseits der Dynamik des auf die Tora bezogenen hermeneutischen Wechselschritts von Haggada und Halacha.

13.1.2.3 Das Problem des Panhaggadismus Samson Raphael Hirsch kann exemplarisch für panhalachische Tendenzen stehen. Die umgekehrte Problematik des Panhaggadismus illustriere ich kurz durch zwei Beispiele. (1) Die jüdische Reform des 19. Jahrhunderts: Für die klassische jüdische Reform könnte in Umkehrung der Aussage Hirschs das Motto formuliert werden: Nicht la loi, sondern la foi! Gegenüber der Veräußerlichung bloßen Halacha-Gehorsams sollte nun der Glaube als innerliches Phänomen, d.h. die Erbauung des Einzelnen, zentral in den Blick geraten. War jüdische Gemeinschaft in präemanzipatorischen Zeiten wesentlich durch den gemeinsamen Bezug auf die Halacha verbunden,70 so musste in der Reform gefragt werden, wie sich jüdische Identität und Gemeinschaft nun konstituieren sollten. Die Antwort auf diese Frage wurde nicht selten so gegeben, dass ein Kern bzw. Wesen des Judentums bestimmt und inhaltlich mit einer absolut gültigen Sittenlehre gefüllt wurde. Als Beispiel kann auf Samuel Holdheim (1806–1860) verwiesen werden. Für ihn wird – so Andreas Gotzmann – „die historische Erforschung der jüdischen Tradition zum alleinigen, sich selbst legitimierenden Maßstab“71, ein Maßstab, der an die Stelle der geoffenbarten Tora tritt. Sekundär ermittelt Holdheim dann aber jenseits der Relativität der Ergebnisse historischer Forschung die überzeitliche und daher absolut gültige „Autorität einer Sittenlehre, die aus der schriftlichen Tradition extrahiert werden müsse“, wodurch sein System „sakrosankt“ werde und die eigentlich aufgrund des liberalen und emanzipatorischen Ansatzes intendierte Freiheit und Flexibilität verliere.72 In der 70

Vgl. GOTZMANN: Jüdisches Recht, 3. GOTZMANN: Jüdisches Recht, 249. 72 Vgl. GOTZMANN: Jüdisches Recht, 250. Vgl. exemplarisch auch die Predigten Holdheims (HOLDHEIM: Predigten über die jüdische Religion). 71

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Bestimmung der Sittenlehre als Kern und Maßstab kommt es, so ließe sich formulieren, zur Schaffung einer „sekundären Halacha“, die nun allerdings nicht mehr dynamisch im immer neuen Befragen der Schrift und der vorauslaufenden Tradition entdeckt, sondern aus Schrift und Tradition metaskriptural ermittelt und dann gesetzt wird. (2) Martin Buber: Buber blickt zu Beginn des 20. Jahrhunderts kritisch auf die Entwicklung des europäischen Judentums zurück. Wie die jüdische Reform im frühen 19. Jahrhundert erkennt auch er die Starre der Orthodoxie in der Zeit bis zum 18. Jahrhundert als ein Problem. Als nicht minder problematisch allerdings nimmt er auch die falsche Lösung des Weges des Reformjudentums wahr, das einseitig versuchte, durch Aufnahme von praktischen Modellen aus dem Christentum und durch philosophisch-aufklärerische Theorien, nicht aber durch den Rekurs auf das Eigene, das Judentum neu zu konstituieren. Beide Wege seien als Phänomene der Erstarrung und Veräußerlichung zu bestimmen.73 Bei beiden fehle das, was für ihn zum wahren Leben des Judentums unabdingbar hinzugehört: diejenige Innerlichkeit, die durch das Herausgefordertsein des je einzelnen Menschen durch die Anrede Gottes bestimmt sei und nur in der Ich-Du-Relation existiere.74 Bereits in der Zeit des Frühjudentums erkennt Buber Phänomene der Erstarrung – etwa den Opferkult oder die Kanonisierung der Schrift. Es habe aber schon damals Gegenbewegungen gegeben: Neben dem Christentum und der Gemeinschaft der Essener nennt Buber die Haggada. Diese Gegenbewegungen wiesen „der Veräußerlichung gegenüber, die der Schrift angetan worden war, auf ihre Innerlichkeit hin“75. Der Neuentdeckung dieser Haggada als Innerlichkeit gilt Bubers Interesse. Demgegenüber spielt die Halacha in Bubers existentialistischem und tendenziell mystischem Konzept keine und in seiner eigenen Lebensgestaltung faktisch kaum eine Rolle.76 Robert Weltsch charakterisiert Bubers Halachavergessenheit treffend, wenn er schreibt: „Buber […] betrachtet das Ritualgesetz, das in den 73 Vgl. BUBER: Jüdische Religiosität, bes. 65.71–73; vgl. ähnlich auch ders.: Der Geist des Orients und das Judentum; ders.: Renaissance und Bewegung, bes. 265.268. 74 Vgl. BUBER: Jüdische Religiosität, 65–67, wo Buber Religion als die unmittelbare Beziehung zwischen Gott und Mensch auf der Basis der Entscheidung des Menschen versteht. Vgl. dann auch ders.: Ich und Du; ders.: Der Glaube des Judentums, 184–186, und oben Kap. 6.2, 172. 75 BUBER: Jüdische Religiosität, 73. 76 In einer Rede des Jahres 1929, in der Buber vom Glauben des Judentums sprechen will, grenzt er sein Thema explizit von den Aspekten des Kultus, des Rituals und der sittlich-religiösen Norm ab (vgl. BUBER: Der Glaube des Judentums, 183). In der ein Jahr später gehaltenen Rede mit dem Titel „Die Brennpunkte der jüdischen Seele“ bezeichnet er seine Haltung zum Gesetz zwar nicht als „Anomismus“, aber sehr bewusst auch nicht als „Nomismus“ (vgl. BUBER: Die Brennpunkte der jüdischen Seele, 196). Das Gesetz präge die „Lehre des Judentums“ als eine „sinaitische“; wolle man aber die „Seele des Judentums“ bestimmen, dann müsse diese „vorsinaitisch“ (d.h. unter Ausklammerung der Sinai-Tora) verstanden werden.

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vielen Jahrhunderten der jüdischen Volksexistenz in der Diaspora dem jüdischen Leben sein Gepräge gab, als Menschenwerk, das nicht wesentlich ist für den Gläubigen, der in jeder Stunde und in jeder Situation die Antwort zu suchen und selbst auf die göttliche Stimme zu lauschen hat.“77 Gegen diejenigen, die das Judentum durch einen Rekurs auf das Gesetz erneuern wollen und von Buber „Gesetzesdogmatiker“ genannt werden,78 argumentiert er mit der Unabgeschlossenheit der Offenbarung: „Euch ist Gott einer, der einmal offenbarte und nicht wieder; zu uns aber redet er aus dem brennenden Dornbusch der Gegenwart und aus den Urim und Thumim [Ex 28,30 u.ö., AD] unsres innersten Herzens.“79 Gegenüber der bloßen „Form“, mit der man meine, den „Gehalt“ zu haben, müsse der Gehalt immer wieder neu gesucht und aus ihm die neue Form geschaffen werden.80 Nun stellt sich aber angesichts der Innerlichkeit dieses Konzepts eine zweifache Frage: Erstens die Frage, wie das Judentum jenseits der Individualität der vielen Einzelnen in ihren jeweiligen Ich-Du-Beziehungen zu Gott in die Gemeinschaft eines Wir finden soll; und zweitens die Frage, wie der Punktualismus der je spezifischen Situation überwunden und Kontinuität jüdischen Lebens konzipiert werden soll. Beides, die Konstitution von Gemeinschaft und die Ermöglichung von Kontinuität, sind Funktionen der Halacha im rabbinischen Judentum. Eine Übernahme dieser durch die Halacha geprägten Lebensform scheidet für Buber aber aus, weswegen er – im Blick auf die Zukunft – die Notwendigkeit einer kulturzionistischen Erneuerung betont.81 Nach Buber könne es dem Zionismus gelingen, die Grundproblematik jüdischer Emanzipation zu lösen, die Problematik nämlich, „daß wir als Einzelne, nicht als Volk emanzipiert worden sind. Daher geschah es, daß die nun gelösten Einzelnen in die Unverbundenheit getreten“ seien, wodurch auch das „Band der Zeiten“ als die Verbindung mit der Geschichte zerrissen worden sei.82 Bubers Zionismus kann als „sekundäre Halachisierung“ im Kontext eines panhaggadischen Ansatzes bezeichnet werden. Die Funktion der Halacha soll jenseits der tradierten Halacha übernommen werden. Zu beobachten ist dann freilich, dass sich beide – Bubers neue Haggada und seine neue Halacha – von der Lebendigkeit der Bindung an die Tora und von der ständigen 77 WELTSCH: Einleitung, XXVII; vgl. auch MENDES-FLOHR: Law and Sacrament, 348f.351f; LUZ: Buber’s Hermeneutics, 88f. 78 BUBER: Der Heilige Weg, 109. 79 BUBER: Der Heilige Weg, 110. 80 Vgl. BUBER: Der Heilige Weg, 111. Vgl. auch Bubers Verweis darauf, dass „Gottes Urtafeln […] zerbrochen“ seien (BUBER: Cheruth, 136); daher müsse es nun um eine jeweils neue Erschließung des Gotteswillens gehen. 81 Vgl. zu einer frühen Darstellung der kulturzionistischen Position Bubers vor allem BUBER: Drei Reden über das Judentum [1909–1911 in Prag gehalten]. 82 BUBER: Aufgaben jüdischer Volkserziehung, 590.

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diskursiven Bezogenheit auf die bisherige Halacha- und Haggadadiskussion lösen – eine Tendenz, die ebenso auch im Panhalachismus Hirschs deutlich wurde.

13.1.2.4 Die grundlegende Problematik der Trennung von Haggada und Halacha Zusammenfassend zeigt sich angesichts dieser kurzen Untersuchung zu Panhalachismus und Panhaggadismus: (1) Wenn sich Judentum entweder auf die Haggada oder auf die Halacha allein konzentriert, so meldet sich der vernachlässigte Aspekt in sekundärer Form zurück. Die Panhaggada schafft sich ihre sekundäre Halacha, wie sich die Panhalacha ihre sekundäre Haggada kreiert. (2) Gleichzeitig wird deutlich: Wo entweder Halacha oder Haggada in den Mittelpunkt treten, verlieren beide ihren ursprünglichen hermeneutischen Kontext und sind nicht mehr – wie in rabbinischer Zeit – Beschreibungen dynamischer Interaktion mit der Schrift. Wollte man ein Kunstwort einführen, so könnte davon gesprochen werden, dass ein lebendiger Umgang mit Schrift und Tradition in rabbinischer Zeit „haggalachisch“, d.h. im Wechselspiel von Haggada und Halacha, geschah. Die folgende Skizze fasst diese Ergebnisse zusammen:

Haggada

Halacha

Rehalachi-

Panhaggadismus

Panhalachismus

sierung

Rehaggadisierung

Wie aber kann ein Miteinander von Haggada und Halacha wiedergewonnen werden? Drei Ansätze aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich dieser Fragestellung widmen, nehme ich im Folgenden in den Blick.

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13.1.3 Die Wahrnehmung des Miteinanders von Haggada und Halacha. Drei Ansätze aus dem 20. Jahrhundert Chajim Nachman Bialik (1873–1934), Max Kadushin (1895–1980) und Abraham Joshua Heschel (1907–1972) rekurrierten jeweils unterschiedlich auf das Miteinander von Haggada und Halacha: • Bialik widmete sich als Schriftsteller und Kulturzionist der Schaffung einer neuen hebräischen Literatur. Der Rückgriff auf die jüdische Nationalliteratur der Vergangenheit bedeutete für ihn auch, Haggada und Halacha als konstitutive Elemente dieser Literatur neu in den Blick zu nehmen. • Der amerikanische Rabbiner Max Kadushin stand zunächst dem rekonstruktionistischen Judentum Kaplans nahe, suchte dann aber mehr und mehr Anschluss am Conservative Judaism. Sein Weg zwischen den Judentümern markiert auch den Ausgangspunkt seiner Leitfrage nach möglicher Einheit im Judentum. Eine solche Einheit trotz vielfältiger individueller Wege erkennt Kadushin im Rückblick auf das Judentum der rabbinischen Zeit. Haggada und Halacha kommen dabei als Methodik für den Umgang mit Schrift und Tradition in den Blick. • Heschel schließlich geht in seiner Religionsphilosophie von der Beschreibung des religiösen Lebens aus. Haggada und Halacha werden in dieser Perspektive als prägend für die Lebensform des Einzelnen sowie der Gemeinschaft wahrgenommen. Haggada und Halacha kommen im Miteinander der drei Ansätze als Literatur, Methodik und Lebensform in den Blick – drei Aspekte, die m.E. in engem Zusammenhang gesehen werden müssen, wenn von Haggada und Halacha die Rede ist.

13.1.3.1 Chajim Nachman Bialik (1873–1934): Haggada und Halacha als Literatur Der Ausgangspunkt für Chajim Nachman Bialiks literarisches, literaturtheoretisches und kulturelles Schaffen kann in seiner Analyse der Wirkung der jüdischen Reform auf die jüdische Gemeinschaft gesehen werden: „[…] nach hundertfünfzig Jahren sorglosen, ruhigen und behaglichen Lebens voll weiterer Bildung, eines Lebens mit Rechten freier Bürger, mit Wissenschaft des Judentums, mit Tempel, Reformen und Reformen zu den Reformen, mit Kanzelrednern, Verfassern von neuen Gebetbüchern, mit einer Orthodoxie, mit Rabbinerfabriken und Literaturvereinen – nach all dieser Fülle des 409 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

Reichtums und der Größe liegt das westliche Judentum wie eine Leiche vor uns.“83 Das jüdische Volk sei im Zuge der Reform verloren gegangen; die Reform habe aus dem jüdischen Volk eine Religion und aus den Jüdinnen und Juden verstreute Einzelne gemacht. Nötig sei daher heute eine nationale Wiedergeburt, die allerdings nicht einfach den Anschluss an die Voremanzipationszeit bedeuten könne.84 Vielmehr versucht Bialik eine kulturzionistische Erneuerung zur umfassenden Wiedergewinnung des jüdischen Volks. Für den Schriftsteller Bialik bedeutet dies vor allem die Suche nach einer Sprache, die aus den vereinzelten Jüdinnen und Juden wieder eine Gemeinschaft formen kann. Eine solche Sprache müsse nach Bialik nicht neu erfunden werden, sondern liege in „Spuren“85 bereits vor – formal in der hebräischen Sprache und material in der jüdischen Nationalliteratur. Eindrucksvoll unterstreicht dies Bialiks Gedicht „Und wenn du kennen willst den Quell“: „Und wenn du kennen willst den Quell, Aus welchem deine Brüder schöpften In Unheilstagen Seelenkraft: […]

Dein Aug’ erblickt Schatzfülle unsrer Seele. Und hat nicht völlig Seinen heil’gen Geist Der Herr von dir genommen, ließ dir noch Und willst du die verborgne Stätte kenVon Seinen Tröstungen im Herzen – nen, Und noch ein Funke wahrer Hoffnung Drin deines Volkes starker Geist beßrer Zeit In voller Reinheit sich bewahrt […] Erhellt dir hin und wieder dunklen Pfad – Dann hör’ und wisse! ach, mein armer Gequälter Bruder! weh! und weißt du’s Bruder, nicht, Daß dies nur noch ein kleiner FunkenSo kehr ins alte Bet-ha-Midrasch ein […] rest, Der durch ein Wunder nur verblieb vom Dann aber kündet dir dein Herz, großen Feuer, Daß über unsrer Lebensstätte Schwelle Das ständig deinen Vätern Licht war am trat dein Fuß, Altar […]“86

83 BIALIK: Essays, 234 [aus einem Brief an die Herausgeber des „Dwir“ vom 29. Ijar 5683 (=15.05.1923), insg. 226–238]. 84 Bialik sieht sowohl den Weg der Konzentration auf einen hebräischen Humanismus in der Reformbewegung als auch den an der Tora-Exegese ausgerichteten Weg des Vorreformjudentums als gescheitert an (vgl. MIRON: Hayim Nahman Bialik’s Poetry, xlv). 85 Vgl. zum Begriff der „Spuren“ vor allem das Gedicht „Segen des Volkes“ in: BIALIK: Ausgewählte Gedichte, 57f. 86 BIALIK: Ausgewählte Gedichte, 26–28.

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In den vier zuletzt zitierten Versen des Gedichts spielt Bialik auf die Legende vom Altarfeuer an, das bei der Zerstörung des Ersten Tempels versteckt worden und dann nach Fertigstellung des Baus des Zweiten Tempels wieder aufgetaucht sei (2Makk 1,1–2,18). Das verlorene Altarfeuer wird zum Bild für die Sehnsucht nach der Anknüpfung an die „brennende“ jüdische Tradition.87 Diese Anknüpfung kann nach Bialik allerdings nicht einfach in den Lehrhäusern gegenwärtigen orthodoxen Judentums gefunden werden, auch wenn dort die ungebrochene Kontinuität zur Tradition behauptet werde. Dies unterstreicht etwa das lange Gedicht „Der Mathmid“, in dem es u.a. heißt: „Weh mir, mein armes, unseliges Volk!/Wie dürr und wie gottverflucht ist der Acker,/Wo solche Saat in Dürre verkommt!“88 Bialik sucht nach einem neuen Zugang zur literarischen Tradition, der an den Rückgriff auf die „Volksliteratur“ in der Epoche der Romantik erinnert89 und die Schaffung einer neuen hebräischen Literatur ermöglichen soll.90 Dabei sieht Bialik im Miteinander von Haggada und Halacha die treibende Kraft, die die Literatur der Tradition in unabschließbarer Bewegung gehalten habe und deren Beachtung daher auch für die gegenwärtige literarische Neukonstitution des Volkes von entscheidender Bedeutung sei. Die Rezeption von Haggada und Halacha ermögliche die Schaffung einer neuen „nationale[n] Lyrik“, einer „wahrhaft neue[n] Dichtung“ in der Gegenwart.91 Gegenüber der bloßen Konzentration auf die Haggada im gegenwärtigen „Willkürjudentum“92 sei es entscheidend, ein Schrifttum in Analogie zu Haggada und Halacha zu entwickeln, „das Leben gestaltet und Leben aufbaut“93. Mit zahlreichen Bildern führt er das notwendige, einander wechselseitig bedingende Miteinander vor Augen. „Die Halacha ist die Kristallisation, das letzte und notwendige Ergebnis der Aggada, die Aggada die wieder flüssig gewordene Halacha. […] Der Traum strebt und wird zur Deutung, der Wille zur Tat, der Gedanke zum Wort, die Blume zur Frucht und die Aggada zur Halacha. Auch in der Frucht aber verbirgt sich schon der Kern, aus dem dereinst eine neue Frucht hervorgeht. […] Lebendige

87

Vgl. dazu JACOBSON: Modern Midrash, 45–62.194–196 (Anm.), der auch auf die in ihrer Pointe vergleichbare Erzählung „Die Flammenrolle“ verweist (vgl. BIALIK: Ausgewählte Gedichte, 156–179). 88 BIALIK: Ausgewählte Gedichte, 29–44, Zitat: 44. 89 Vgl. z.B. STEPHAN: Romantik als Lebens- und Schreibform. 90 So ist auch Bialiks eigene praktische Tätigkeit einerseits durch die Sammlung von Werken der Tradition gekennzeichnet (vgl. BIALIK/RAVNITZKY: The Book of Legends), andererseits durch eigene literarische Tätigkeit. 91 BIALIK: Halacha und Aggada, 103. 92 BIALIK: Halacha und Aggada, 106. 93 BIALIK: Halacha und Aggada, 106.

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und kraftvolle Halacha ist vergangene und zukünftige Aggada und umgekehrt. Anfang und Ende beider sind ineinander verflochten.“94 Vom 19. Jahrhundert und damit von der Zurückdrängung der Halacha durch die Reformbewegung herkommend, verteidigt Bialik in seiner Schrift vor allem die Bedeutung der Halacha, die sich für ihn zweifach erschließt: (1) Zum einen eröffne die Halacha das Feld der praktischen Lebenskunst: „Ihre Kunst ist die größte in der Welt: die Kunst des Lebens und der Wege des Lebens, ihr Material: der lebendige Mensch mit allen Leidenschaften seines Herzens, ihre Mittel: die individuelle, soziale und nationale Erziehung, und ihre Frucht: eine Kette stetigen Lebens und schicklicher Taten, […] eine gestaltete Lebenshaltung.“95 Diese „Lebenskunst“ habe die eine, entscheidende Aufgabe der Bildung des „Ebenbild[es] Gottes im Menschen“96. Sie sei daher bezogen – wie Bialik am Beispiel des Sabbats zeigt – auf die „eine erhabene Idee“, die nach Konkretion dränge.97 Diese „Idee“ kann Bialik mit der Haggada gleichsetzen. Wie vor ihm bereits Samson Raphael Hirsch versucht auch Bialik, die Halachot als „Symbole“ zu verstehen, deren Sinn als geistiger Gehalt bestimmt werden könne.98 Halacha und Haggada verhalten sich dann zueinander wie Symbol und Idee. (2) Zum anderen aber ermöglichten Haggada und Halacha als Literatur die Anknüpfung an das Volksleben in rabbinischer Zeit. Mit ihren dichten Beschreibungen damaligen Lebens eröffneten sie „die lebendige Beziehung des Menschen zu den Lebensformen vor ihm“99, zur „Seele des Volkes“100. Bei dieser Halacha-Rezeption Bialiks kommt es nicht auf die Übernahme dieser oder jener konkreten Halacha an, sondern darauf, das „Wesen der Halacha […] als eine sinnliche und geschlossene Gestaltung konkreten Lebens“ zu erkennen.101 Bialik klinkt sich nicht ein in den halachisch-haggadischen Diskurs der Vergangenheit, um diesen konstruktiv für die Gegenwart weiterzuführen. Vielmehr betont er, dass nach neuer Haggada und Halacha gesucht werden müsse.102 Daraus ergibt sich aber die Problematik, dass Bia94

BIALIK: Halacha und Aggada, 83. BIALIK: Halacha und Aggada, 84 [Hervorhebung im Original]. 96 BIALIK: Halacha und Aggada, 85. 97 BIALIK: Halacha und Aggada, 87 [Hervorhebung im Original]. 98 Vgl. BIALIK: Halacha und Aggada, 88–90. Es gehe darum, „sie [die Halacha, AD] ein wenig aus ihrer Verschalung zu lösen, sie zum Rang eines Symbols zu erheben“ (90). Vgl. auch 92: Es zeige sich, „in welchem Maß eine kleine und dürre Halacha sich manchmal bis zum Rang eines Symbols zu erheben vermag, wenn ihr spröder Stoff in den Schmelzofen des lebendigen Gefühls fällt und dort wieder zur Aggada umgeschmolzen wird.“ 99 BIALIK: Halacha und Aggada, 102; vgl. dazu auch oben Kap. 13.1.1.2, 397f. 100 BIALIK: Halacha und Aggada, 102. Die Zitate Bialiks beziehen sich auf die Halacha, gelten aber auch für die Lektüre der Haggada; vgl. hierzu vor allem BIALIK: Zum Einsammeln der Aggada, bes. 73. 101 BIALIK: Halacha und Aggada, 103 [Hervorhebung im Original]. 102 Vgl. BIALIK: Halacha und Aggada, 103. 95

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lik letztlich bei dem gleichen „Willkürjudentum“ landet, das er eigentlich heftig kritisiert: dann nämlich, wenn auch bei ihm in der Halacha nicht mehr als der (abstrakte) Ruf zur Tat stehen bleibt, der Ruf, die in der Haggada erkannte Idee in Handlungen umzusetzen.103 Bei einer kritischen Würdigung des kulturzionistischen und sprachästhetischen Ansatzes von Bialik gilt es festzuhalten, dass dieser neu auf die Untrennbarkeit des Miteinanders von Haggada und Halacha im Blick auf das jüdische (Volks-)Leben aufmerksam macht. Gleichzeitig eröffnet er mit seiner Wahrnehmung der Haggada und der Halacha als Literatur einen vor allem für die Halacha bedenkenswerten Zugang. Auch die Halacha kann – wie oben gezeigt – in doppelter Hinsicht als narrativer Sprachraum gesehen werden: Sie eröffnet dem Leser den Raum der Akademien der ersten Jahrhunderte und den Lebensraum des Volkes. Praktische „Lebenskunst“ wird sich so immer auch als eine narrative Aufgabe erweisen müssen.104 Allerdings verliert Bialik, wie gezeigt, den hermeneutischen Kontext von Haggada und Halacha, deren Bezogenheit als mündliche Tora auf die schriftliche, aus dem Blick. Als Literatur rezipiert Bialik Halacha und Haggada, nicht aber als Methode des Umgangs mit der Schrift. Die Folge erscheint paradox: Der Versuch Bialiks einer erneuten Anknüpfung an die Tradition steht letztlich in der Gefahr, zu einer Vertiefung des Grabens zur Tradition zu führen, da er die schriftliche Tora und damit die Tora-hermeneutischen Fragestellungen ausklammert.105 An die Stelle der Tora tritt das Volk bei Bialik ins Zentrum, zu dessen literarischer Neu-Konstitution er – im Anschluss an die Tradition – beitragen möchte.106

103

So schreibt Bialik gegen Ende seines Aufsatzes: „Wir dürsten nach leibhaften Taten. Gewöhnt uns im Leben ans Tun mehr als an Reden, im Schrifttum an die Halacha mehr als an die Aggada.“ (BIALIK: Halacha und Aggada, 107 [Hervorhebung im Original]) Trotz der Betonung der Halacha könnte Bialiks Ansatz daher letztlich als panhaggadisch bezeichnet werden. 104 Vgl. oben Kap. 13.1.1.2, 397f, und unten Kap. 13.4.3. 105 Als die entscheidende Figur, die die – von Bialik durchweg positiv gewertete – Ablösung von der Tora im Blick auf die hebräische Literatur vollbracht habe, erkennt Bialik Mendele Mocher Sefarim (1835–1917): „[…] während andere die Welt verschwommen durch das Netz von Bibelversen sahen, sahen seine Augen eine klare Welt ohne trennenden Vorhang. Ja noch mehr: er erfaßte zuerst das innere Geheimnis, die völlige Einheit des Lebens der Nation in ihrer Verbannung“ (BIALIK: Mendele und die drei Bände, 140). 106 Dazu bemüht er sich u.a. auch um die Sammlung eines „Hebräischen Buches“, da es bisher kein „hebräisches Buch“ gebe, d.h. kein Werk, zu dem man greifen könne, um die „höchste Idee“, die „zentrale Grundidee“ des die hebräische Literatur Verbindenden zu erkennen (BIALIK: Das Hebräische Buch, 39) – angesichts der Tatsache, dass mit der Tora ein solches Hebräisches Buch längst vorliegt, ein merkwürdiger, im Kontext des Dargestellten aber durchaus verständlicher Gedanke.

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13.1.3.2 Max Kadushin (1895–1980): Haggada und Halacha als Methodik Wiedergewinnung einer Einheit im Judentum ist auch für Max Kadushin zentrales Thema seiner Arbeit. Allerdings ist die Ausgangsfrage des in Minsk geborenen und bereits im Alter von drei Jahren in die USA emigrierten Rabbiners Kadushin107 nicht die nach der Möglichkeit der Schaffung einer nationalen Einheit des jüdischen Volks, sondern zunächst die philosophisch-apologetische Frage nach der Einheit in der verwirrenden Vielfalt der Aussagen des rabbinischen Schrifttums. Weder mit der schlichten Akzeptanz dieses Durcheinanders unterschiedlicher, verwirrender, sich teilweise widersprechender Aussagen möchte sich Kadushin zufrieden geben (man könnte diesen Weg als den postmodernen Weg bezeichnen) noch damit, die Einheit rabbinischer „Theologie“ in der logisch-philosophischen Abstraktion zu suchen (der klassisch moderne Weg).108 Entgegen der Kritik von Jacob Neusner scheint mir diese Grundfrage Kadushins insofern berechtigt, als sowohl im Talmud als auch in den Midraschim ein verschiedene Generationen von Rabbinen umgreifender gemeinsamer Gesprächsraum erkennbar ist.109 Rabbinen aus unterschiedlichen Zeiten treten in den Dialog miteinander und zeigen damit, dass sie die „grammatischen“ Voraussetzungen gemeinsamen Sprechens teilen.110 Kadushins religionsphilosophische Versuche lassen sich m.E. am besten deuten, wenn sie als die Suche nach dieser „Grammatik“ verstanden werden.111

107

Vgl. zur Biographie STEINBERG: Max Kadushin. Vgl. bereits Kadushins erste Monographie zur Theologie des Midrasch Seder Eliahu (vgl. zu diesem Midrasch STEMBERGER: Einleitung, 332f), in der er sich gegen die falschen Alternativen eines logischen Systems bzw. eines völlig amorphen Konzepts wehrt (KADUSHIN: The Theology of Seder Eliahu, 20 und 21–32). Vgl. dann auch ders.: Organic Thinking, vf. – Freilich ging es Kadushin (obwohl er sich das selbst kaum eingestand) nicht nur um die historische Frage nach den Kommunikationsbedingungen in der tannaitisch-amoräischen Zeit; vielmehr war es sein Interesse, gegen den klassisch-modernen und gegen den sich andeutenden postmodernen Weg eine nichtlineare und dennoch strukturierte Einheit rabbinischer Theologie für das Judentum seiner Zeit aufzuzeigen (vgl. OCHS: Max Kadushin as Rabbinic Pragmatist, 187). 109 Vgl. NEUSNER: Foreword. The Inquiry of Max Kadushin, bes. xii.xiv; mehr Verständnis für die Fragestellung Kadushins zeigt z.B. GREENBERG: Coherence and Chance, 19–23. 110 Der Begriff „Grammatik“ wird hier in einem weiten Sinn verstanden als die Gesamtheit der (meist) impliziten Grundregeln als Voraussetzung der Kommunikation in einer gemeinsamen Sprache sowie der Hervorbringung neuer Äußerungen in dieser Sprache – in Analogie zu den Spielregeln eines Spiels. Vgl. BEHSE: Art. Grammatik, bes. 859f. 111 Den Begriff der „Grammatik“ führt Kadushin selbst ein: „Our theory of organic thinking bears the same relation to the concrete complex of rabbinic theology as grammar does to language, and, like grammar, can best be grasped through the actual analysis of a good sample of the literature.“ (KADUSHIN: Organic Thinking, 14f) Vgl. auch ders.: A Conceptual Approach to the Mekilta, 15. 108

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Die Grundgrammatik rabbinischen Redens findet Kadushin im Kontext seines organisch-systemischen Denkens in einem sogenannten „organic“ bzw. „organismic complex“112, der durch vier rabbinische „value concepts“ oder „significance concepts“ zusammengehalten werde, die in vielfältiger Weise miteinander verbunden und vernetzt seien: (1) Gottes liebende Zuwendung (middat ha-rachamim; ‫)מדת הרחמי‬, (2) Gottes absolute Gerechtigkeit (middat ha-din; ‫)מדת הדי‬, (3) Tora und (4) Israel.113 Das aus diesen vier Grundkonzepten in vielfältigen Verästelungen („sub-concepts“) gewobene Netz ist nach Kadushin durch grundlegende Unbestimmtheit („indeterminacy“) gekennzeichnet. Bleibt man in der Metaphorik der Grammatik, bildet es nicht mehr als die theoretischen Grundregeln/Grundprinzipien (die Grundgrammatik) der Sprache ab, die – zur konkreten Sprachwerdung (Kadushin spricht vom „valuational event“114) – einer weiteren praktisch orientierten, applikativen Grammatik bedürfen. In diese Rolle treten nun Haggada und Halacha – und erhalten so unverzichtbare Bedeutung im Modell Kadushins. Haggada und Halacha bieten die Methode zur Realisierung des Potentials der „value concepts“ in den Konkretionen des sprachlichen (Haggada; „speech“) und nicht-sprachlichen (Halacha; „law and action“) Handelns.115 Wie beide Modi des Handelns zusammengehören, so ist für Kadushin auch das Miteinander von Haggada und Halacha als Weg zu diesem Handeln entscheidend. „Haggadah and Halakah are so closely related because both are concretizations of the value-concepts – Haggadah in speech, Halakah in law and action.“116 Die konkrete Gestaltung dieses Miteinanders sowie die Notwendigkeit ständiger Bezogenheit der beiden applikativen Aspekte Haggada und Halacha aufeinander zeigt folgende tabellarische Übersicht:117 112 Bei dieser Terminologie handelt es sich nicht um eine Erfindung Kadushins, sondern um die Anwendung eines zur Zeit von Kadushins wissenschaftlichem Arbeiten intensiv geführten Diskurses, vgl. dazu etwa die Werke von Alfred North Whitehead (vgl. zu Whitehead vor allem KADUSHIN: Organic Thinking, 248–251) sowie William E. Ritter und E. Bailey (vgl. KADUSHIN: The Theology of Seder Eliahu, 27 Anm. 36, sowie 29–32, und ders.: The Rabbinic Mind, 24 Anm. 18). Vgl. dazu auch HOLTZ: Rabbinic Thought, 33–44. 113 Vgl. bereits KADUSHIN: The Theology of Seder Eliahu, 22; vgl. auch ders.: Organic Thinking, 6–11; ders.: The Rabbinic Mind, 14–34. 114 Vgl. KADUSHIN: The Rabbinic Mind, 190 u.ö. 115 Kadushin, dessen Arbeiten generell durch die Einführung einer sehr selbständigen und eigenwilligen Begrifflichkeit gekennzeichnet sind, spricht im Blick auf diese Konkretion im Handeln vom „normal mysticism“. Im alltäglichen Reden und Tun (nicht in der besonderen Erfahrung des herausgehobenen Augenblicks!) erweise sich die „Mystik“ des rabbinischen Judentums als die Erfahrung der Gottesnähe (vgl. KADUSHIN: The Rabbinic Mind, 194–272). Mit JAFFEE: Halakhic Personhood, 109–112, läge es m.E. näher, hier von ‫( קדושה‬Heiligung) zu sprechen. 116 KADUSHIN: The Rabbinic Mind, 11. 117 Eine kurze Übersicht über das in der Tabelle Gesagte findet sich in KADUSHIN: Worship and Ethics, 8–10, sowie in ders.: A Conceptual Approach to the Mekilta, 25–28; vgl. auch GREEN-

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Einübung der value concepts im Blick auf …118

Kohärenz der Einzelaussagen119

Haggada Sprache als valuational event (durch die Haggada nichtdeterminierend angeregt [stimuliert]) Unabhängigkeit (Parataxe120);

Folge für den einzelnen Rabbi: sehr unterschiedliche Aussagen zu einer Stelle möglich; Folge für eine rabbinische Texteinheit: unterschiedliche Haggadot nebeneinander sind möglich

Bedeutung der schriftlichen Tora121 Lebensführung des Einzelnen122

Stimulus; entscheidend ist die Freiheit der Assoziation und Imagination (selbstbewusste) Freiheit; Denken des Einzelnen als Individuum; Gestaltung des Eigenen

Halacha Lebenspraxis als valuational event (durch die Halacha determinierend angeregt [stimuliert]) Nexus (der im Lauf der Entwicklung von der Mischna zum Talmud immer deutlicher wird); Folge für den Rabbi: nur eine Auslegung zu einer Stelle möglich bzw. Notwendigkeit der Festlegung der Aussage; Folge für eine rabbinische Texteinheit: das Nebeneinander unterschiedlicher Aussagen verlangt Nachfragen und Klärungen auszulegende Norm; entscheidend ist die Logik (ihrer selbst bewusste) Habitualität; Lebensführung des Einzelnen im Kontext der Gemeinschaft; Zumutung des Fremden der Gebote

Kadushins Modell bietet – trotz mancher methodischer Fraglichkeit und epistemischer Ungenauigkeit123 – einen eindrucksvollen Versuch, eine BERG: Coherence and Change, 37–42; HOLTZ: Rabbinic Thought, 89–103, sowie die Einzelanmerkungen in der Tabelle. 118 Vgl. KADUSHIN: The Rabbinic Mind, 11. 119 Vgl. vor allem KADUSHIN: The Rabbinic Mind, 59–96; vgl. kritisch dazu GREENBERG: Coherence and Change, 38f. 120 Vgl. zum Begriff der Parataxe SARASON: Kadushin’s Study of Midrash, 56–58. 121 Vgl. hierzu vor allem KADUSHIN: The Rabbinic Mind, 97–193. 122 Besonders dieser Aspekt ist für Kadushin entscheidend, da er durch das Miteinander von Haggada und Halacha die Möglichkeit bietet, die Freiheit des Einzelnen und die Lebensform einer Gemeinschaft in den Blick zu nehmen. 123 Kritisch werden gegenüber Kadushin u.a. folgende drei Einwände immer wieder vorgebracht: (1) Der Versuch, die Theologie des rabbinischen Judentums bestimmen zu wollen, erscheint angesichts der Vielgestaltigkeit unterschiedlicher rabbinischer Texte generell problematisch (vgl. vor allem NEUSNER: Foreword. The Inquiry of Max Kadushin; AVERY-PECK: Max Kadushin as Exegete, 91f). (2) Bei Kadushin zeigt sich diese Gefahr besonders darin, dass bei ihm die Tendenz besteht, sein einmal erkanntes System der „value concepts“ immer neu über die rabbinischen Texte zu legen und aufgrund dieser Perspektive zur immer neuen Bestätigung des Konzepts zu gelangen, anstatt sich kritisch von jeweils anderen Texten herausfordern zu lassen (vgl. SARASON: Kadushin’s Study of Midrash, 63–72). Auffallend ist es durchaus, dass sich Kadushins

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Grammatik jüdischen bzw. genauer: rabbinischen Denkens zu konstruieren, in der Haggada und Halacha zur entscheidenden Methodik der Realisierung der „value-concepts“ werden. Angesichts der Problematik der völligen Individualisierung des Schriftverständnisses in post-modernem Kontext bleibt die Frage Kadushins nach dem, was eine religiöse Gemeinschaft zusammenhält und wie sie zu Auslegungen ihrer normativen Tradition sowie zu „Grenzen der Interpretation“ kommt, weiterhin bedeutsam.124 Kadushins Antwort macht den überzeugenden Versuch, das gegenwärtige Handeln als Folge der Anwendung einer material („value concepts“) und methodisch (Halacha und Haggada) bestimmbaren Grammatik dieser normativen Tradition zu sehen. Die Lebendigkeit und Dynamik funktioniert nach Kadushin dabei nur, wenn ein stabiles „value concept“ im Hintergrund steht. Ansonsten müsse auch der Versuch, eine gegenwärtige Haggada zu entwickeln, scheitern. Grenzen der Interpretation ergeben sich nach Kadushin einerseits dort, wo der Bezug auf die „value concepts“ verloren geht, andererseits dort, wo der dynamische Zweischritt von Haggada und Halacha, der körperliches und geistiges Leben verbinde, zerbricht. Narrativität und Preskriptivität gehören im haggadisch-halachischen Wechselschritt zusammen. Im Kontext der hier interessierenden Fragestellung nach Haggada und Halacha zeigt Kadushin vor allem, wie das Miteinander von Haggada und Halacha als Methodik rezipiert werden kann, mit deren Hilfe es gelingt, Leben aus der Schrift zu formen. Neben der Rezeption des Wechselschritts als Literatur, wie er sich bei Bialik zeigte, bedeutet dieser Blick auf die Methodik den zweiten unverzichtbaren Bezugspunkt der Unterscheidung von Haggada und Halacha. Kritisch muss dann freilich gefragt werden, ob Kadushins Konzept nicht auf dem Weg ist, sich selbst von der Grammatik zur normativen Tradition zu entwickeln. Anders gesagt: Die materiale Bestimmung der vier „value concepts“ sowie die Ausdifferenzierung durch die zahlreichen „sub-concepts“ bedeutet die Gefahr, die Tora als den eigentlichen Bezugspunkt zu verlieren. Haggada und Halacha wären dann nicht als Realisierung der Tora, Konzept – seit seinem Buch „The Theology of Seder Eliahu“ (1932) – im Lauf seiner wissenschaftlichen Tätigkeit niemals grundlegend verändert, bestenfalls verfeinert hat. (3) Schließlich fällt es Kadushin angesichts der Geschlossenheit seines Konzepts schwer, Spannungen und Widersprüche im rabbinischen Denken noch in den Blick zu nehmen (vgl. SARASON: Kadushin’s Study of Midrash, 47). 124 Vgl. COMSTOCK: Christian Value Concepts, 115. Gegen Hans-Georg Gadamer und Hans Frei sei es für den Zusammenhalt der Gemeinschaft entscheidend, auch die „political coherence of communities“ (140), anders gesagt: die Halacha, im Blick zu behalten. „For the rabbis, the freedom of imaginative interpretation of Torah, or aggadah, is made possible only within the context of obedience to rules for communal existence, or halakhah.“ (116 [Hervorhebungen im Original]) Vgl. dazu auch LINDBECK: Martin Luther and the Rabbinic Mind, der in dieser Hinsicht eine Gemeinsamkeit zwischen Kadushin und Martin Luther erkennt.

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sondern als Realisierung der sich zur eigenen Philosophie emanzipierenden „value concepts“ verstanden, was insofern eine Steigerung des Hirschschen und des Bialikschen Symbolismus bedeuten würde, als bei Kadushin lediglich vier (!) die Gotteswirklichkeit in der Weltwirklichkeit strukturierende Größen in den Blick kommen.125 In diesem Sinn wäre Kadushins Tora-Hermeneutik als meta-skriptural zu bezeichnen: Aus der Tora werden die „value concepts“ abgeleitet (abstrahiert), anstatt zu erkennen, dass rabbinisches Denken nur mit der Tora und in der Tora lebt.126 Das vermeintlich nachmoderne Konstrukt Kadushins steht so in der Gefahr, sich selbst zu verabsolutieren und sich in ein modernes Konzept logisch-philosophischer Abstraktion zurückzuverwandeln.127 Die Sprachgemeinschaft im Kontext skripturaler Hermeneutik rabbinischen Judentums erscheint demgegenüber dadurch ermöglicht, dass anstelle des „value-concept“-Netzes Kadushins das Netzwerk der Tora tritt.128 Die schriftliche Tora ist es, die mit Hilfe der Haggada und Halacha mit unterschiedlichen Lebens- und Glaubenswirklichkeiten intertextuell vernetzt wird. Was daraus entsteht, ist nicht der wohlgeordnete Raum, sondern eher das vielfältige, mehrdimensionale, undurchschaubare Geflecht, das u.a. mit der Metapher des talmudischen Meeres (‫ )י התלמוד‬bezeichnet werden könnte. Gleichzeitig lässt sich auch in rabbinischer Zeit eine Art materialer Grundgrammatik gemeinsamen Redens wahrnehmen, die ich oben als apriorische Tora-Erwartung bestimmt habe. Diese aber kann am ehesten negativ verstanden werden, da sie von sich selbst, von eigener Materialität, wegweist und immer neu einführt in die schriftliche Tora.129

125 Vgl. zu einer ähnlichen Kritik JAFFEE: Halakhic Personhood, 102. Kadushin ist sich prinzipiell der hier angedeuteten Problematik bewusst, wenn er bereits in seiner ersten Monographie schreibt: „We are attempting to extricate the individual concepts out of a mental organism which functioned always as a whole organism. This organic quality is never present in any system produced by ratiocination, and is immediately lost whenever a living organism is subjected to analysis. And so rabbinic theology loses its most distinctive quality by our very attempt to understand it.“ (KADUSHIN: The Theology of Seder Eliahu, 109 [Hervorhebung im Original]). 126 Kadushins eigene Beschreibung der rabbinischen Interpretationen als „Implikationen“ der Tora (vgl. KADUSHIN: Organic Thinking, 27: „implications imbedded in the Scriptures“) hätte m.E. helfen können, die Dynamik der „value concepts“ aufgrund ihrer ständig neuen Bindung an die schriftliche Tora wahrzunehmen. Dagegen spricht Kadushin aber von einem Denken „out of biblical thought“ (vgl. KADUSHIN: The Rabbinic Mind, 288 [Hervorhebung AD]) bzw. von der (bloßen) Verwurzelung des rabbinischen Denkens in der Bibel (vgl. ders.: A Conceptual Approach to the Mekilta, 6f). Den notwendigen Konnex zur Schrift betrachtet Kadushin nicht dynamisch, sondern eher evolutionistisch: Das rabbinische System der „value concepts“ habe sich – mit charakteristischen Unterschieden – aus dem „value concept“ der Schrift entwickelt (vgl. vor allem ders.: Organic Thinking, 219–229). 127 Vgl. ähnlich OCHS: Max Kadushin as Rabbinic Pragmatist, 174. 128 Vgl. zum Bild des „Netz[es]“ z.B. GRÖZINGER: Ich bin der Herr, 242. 129 Vgl. oben Kap. 3.2.

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13.1.3.3 Abraham Joshua Heschel (1907–1972): Haggada und Halacha als Lebensform Anders als bei Bialik und Kadushin beginnen Abraham Joshua Heschels Überlegungen zum Miteinander von Haggada und Halacha nicht bei einem Defizit oder einer Problemfrage, sondern nehmen ihren Ausgang bei der phänomenologischen Beschreibung religiösen Lebens selbst.130 Dieses religiöse Leben charakterisiert Heschel in seinen – insgesamt wenig systematischen, sondern eher „dicht beschreibenden“131 – Büchern als responsives Leben. Die Tora-Story zu verstehen, bedeutet für Heschel, ihr in der gestalteten Zeit des Lebens zu antworten.132 Heschel konstruiert eine dialogische Hermeneutik,133 die zur Grundlage seiner Religionsphänomenologie gehört und die er bereits in seiner 1932 abgeschlossenen und 1936 erschienenen Dissertation zur „Prophetie“ entwickelte:134 Unhintergehbare Voraussetzung des Redens der Propheten sei Gottes Pathos, dem die antwortende Sympathie der Propheten entspreche.135 Es entstehe so ein dichtes Ineinander von Gottes Hinwendung zur Welt (Anthropotropismus Gottes) und menschlicher Hinwendung zu Gott (Theotropismus des Menschen).136 Reli130

Der Begriff „Phänomenologie“ ist hier einerseits in einem engen Sinn zu verstehen und weist hin auf den intellektuellen Kontext, in dem Heschel in Deutschland groß wurde und der entscheidend von der Phänomenologie Husserls geprägt war. Heschel nimmt – vor allem in seiner Dissertation – Grundkonzepte dieses Denkens auf (vgl. PERLMAN: Abraham Heschel’s Idea of Revelation, bes. 4f; FRIEDMAN: Abraham Joshua Heschel, 55). Andererseits muss der Begriff der Phänomenologie weiter gefasst werden, da sich Heschel (außer in seiner Dissertation) nicht der distinkten philosophischen Sprache der phänomenologischen Schule bedient, sondern eine eigene Methode der „dichten Beschreibung“ religiösen Lebens entwickelt (vgl. auch die folgende Anm.). Anders gesagt führt Phänomenologie bei Heschel nicht in die Abstraktion und den Solipsismus des Denkens (so die Gefahr bei Husserl), sondern bleibt auf das religiöse Leben in seiner Konkretion und seiner Intersubjektivität bezogen (vgl. KAPLAN: Holiness in Words, 33–43.173f [Anm.]). 131 Vgl. zum Begriff der „dichte[n] Beschreibung“ GEERTZ: Dichte Beschreibung, und oben Kap. 1.3, 44f Anm. 130. Vgl. zur Besonderheit der Heschelschen Methodik und den daraus resultierenden Folgen für die Heschel-Lektüre FRIEDMAN: Abraham Joshua Heschel, 57; KAPLAN: Holiness in Words, 19–31.171–173 (Anm.); ders.: Heschel’s Poetics of Religious Thinking; ders.: Heschel as Philosopher; ROTHSCHILD: Varieties, bes. 93–102; vgl. auch oben Kap. 11.2.1, 312f. 132 Vgl. dazu grundlegend ANDERSON: Coexistence with God, bes. 54f; PERLMAN: „As a Report […]“, bes. 32. 133 Heschel selbst grenzt diese Hermeneutik ab von einem wörtlichen bzw. symbolischen Verständnis der Schrift (vgl. PERLMAN: Abraham Heschel’s Idea of Revelation, 105; KAPLAN: Holiness in Words, bes. 52f). 134 Heschel sieht es als Ziel seiner Arbeit, „Erkenntnis und Auskunft über Wesen und Aufbau des prophetischen Bewußtseins“ (HESCHEL: Die Prophetie, 1) zu gewinnen – eine Formulierung, die den phänomenologischen Ausgangspunkt gut zum Ausdruck bringt. Vgl. zu Heschels Dissertation MERKLE: Heschel’s Theology of Divine Pathos. Eine kürzere englische Zusammenfassung der Ergebnisse seiner Dissertation bietet HESCHEL: Prophetic Inspiration. 135 Vgl. HESCHEL: Die Prophetie, 56–126. 136 Vgl. HESCHEL: Die Prophetie, 114–119.

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giöses Leben fügt sich in diese Dynamik und partizipiert an ihr nicht nur denkerisch, sondern in der Zeit lebend und handelnd.137 Gotteserkenntnis bedeute – so Heschel in seiner Religionsphilosophie „Gott sucht den Menschen“ – „erkennen, wie man mit Gott lebt“138. Nötig sei daher nicht der Versuch, zu „glauben“ oder „Dogmen zu erfassen“, sondern der „Sprung ins Tun“ („leap of action“).139 Handelnd bleibe der Mensch in Spannungsfelder bzw. Polaritäten verwickelt. Am wichtigsten erscheint dabei die Polarität von Ethik und Mystik, die Heschel in den beiden großen Figuren des frühen osteuropäischen Chassidismus wiederentdeckt: in den Figuren des Baal Schem Tov und des Kotzker Rebben (und die er auch selbst als „Professor of Jewish Ethics and Mysticism“ lebte).140 Auch in hermeneutischem Kontext wird diese Polarität entscheidend: Die „mystisch“ auf die Polysemie des Schriftwortes bezogene Hermeneutik Akivas und die „ethisch“ auf den peschat des Textes bezogene Hermeneutik Jischmaels markieren nach Heschel die grundlegenden Triebkräfte jüdischen Umgangs mit der schriftlichen Tora.141 In diesem Spannungsfeld spielen die Mizwot (‫ ;מצות‬Gebote) für Heschel eine entscheidende Rolle.142 Sie sind der Ort, an dem Gott in das Leben des Menschen und der Mensch in Gottes Weg eintritt und sich die Spannung zwischen Ethik und Mystik zwar nicht löst, aber in eine gestaltete Lebensform führt: Gott wartet darauf, „in unsere Taten einzutreten durch unsere Treue zu Seinem Gesetz“143. Eine Mizwa kann bezeichnet werden als „ein Gebet in der Form der Tat“144. Eine denkerische Abstraktion, die den symbolischen Gehalt in diesen Mizwot entdecken will (Hirsch; Bialik) bzw. deren abstrakten Zusammenhang im Kontext von „value concepts“ (Kadushin), scheidet damit aus. Die Mizwot haben ihren Sinn nicht im Begriff, sondern allein darin, Teil der dialogischen Relation Gottes zu seiner Welt und der Menschen zu ihrem Gott zu sein.145 137

Vgl. zur Bedeutung der Dimension der Zeit vor allem HESCHEL: Der Schabbat, bes. 1–10. HESCHEL: Gott sucht den Menschen, 217. 139 Vgl. HESCHEL: Gott sucht den Menschen, 218; im engl. Original: ders.: God in Search of Man, 282f. 140 Vgl. dazu u.a. DRESNER: Heschel the Man, 23; FRIEDMAN: Abraham Joshua Heschel, 22– 30; MCAFFEE BROWN: „Some Are Guilty […]“, 124f. 141 Vgl. HESCHEL: Theology of Ancient Judaism (‫)תורה מ השמי‬, und dazu EISEN: A. J. Heschel’s Rabbinic Theology, bes. 215; NEUSNER: The Intellectual Achievement, bes. 13–16; PERLMAN: Abraham Heschel’s Idea of Revelation, 119–133. 142 Vgl. EISEN: Re-Reading Heschel, 18–25; FIERMAN: Leap of Action, 219–240; PERLMAN: Abraham Heschel’s Idea of Revelation, 112.155f. 143 HESCHEL: Gott sucht den Menschen, 221; im engl. Original: ders.: God in Search of Man, 286. 144 HESCHEL: Der Mensch fragt nach Gott, 48 [im Original hervorgehoben]. 145 Vgl. HESCHEL: Der Mensch fragt nach Gott, 74. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Symbolismus findet sich 83–104; vgl. auch ders.: Der Schabbat, 66; PERLMAN: „As a Report 138

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Das Problem einer solchen Beschreibung religiösen Lebens liegt nun allerdings – wie beim oben dargestellten mystisch-existentialistischen Ansatz Martin Bubers – in der potentiellen Reduktion auf den Punktualismus der religiös qualifizierten Situation. In den je einzelnen Ereignissen der Mizwot könnte religiöses Leben entdeckt werden; demgegenüber wäre aber weder eine Kontinuität dieses religiösen Lebens noch eine Intersubjektivität denkbar. Neben dem Begriffspaar Kawwana (‫ ;כונה‬innere Beteiligung) und Qäba (‫ ;קבע‬feststehende Ordnung)146 ist es vor allem das Begriffspaar Haggada und Halacha, das für Heschel über den situativen Punktualismus hinausweist: Die Haggada verorte die Mizwa in der die Zeiten übergreifenden Tora-Story, in der allein sie Sinn mache. Die Halacha sichere den Bezug auf die Gemeinschaft ebenso wie die Stetigkeit eines Lebens im Kontext der Mizwot; sie hebe – so Heschel im Blick auf das Gebet – die Handlung „von der Ebene individuellen Tuns auf die einer ewigen Begegnung zwischen dem Volk Israel und Gott […], von der Ebene einer gelegentlichen Erfahrung auf die eines dauernden Bundes.“147 Pointiert kann Heschel daher sagen: „Der Kern des Judentums ist das Aufeinanderbezogensein von Halacha und Agada. Halacha ohne Agada ist tot; Agada ohne Halacha wird Wildwuchs.“148 Angesichts der grundlegenden Bedeutung des Wechselspiels von Halacha und Haggada findet Heschel zahlreiche Umschreibungen für diese Polarität: Haggada handelt von den unaussprechlichen [ineffable] Beziehungen zu Gott, zu anderen Menschen und zur Welt Bezug auf das Individuum Teilhabe am Drama der Ewigkeit poetische Sprache

Halacha handelt von der Rationalisierung und Schematisierung des Lebens149 Allgemeinheit150 Tun des Alltäglichen151 exakte Sprache152

[…]“, bes. 32–34. Grundlegend ist bereits auf die Kontroverse zwischen Heschel und Buber in den 1930er Jahren in Deutschland zu verweisen – ausgelöst durch Bubers Aufsatz „Symbolische und sakramentale Existenz im Judentum“ (1935), vgl. KAPLAN: Holiness in Words, 82–84; KAPLAN/DRESNER: Abraham Joshua Heschel, 153–161.218–228. 146 Vgl. dazu auch PETUCHOWSKI: Zur Geschichte der jüdischen Liturgie, bes. 21–23. 147 HESCHEL: Der Mensch fragt nach Gott, 47. 148 HESCHEL: Gott sucht den Menschen, 259. Vgl. dazu auch MERKLE: The Genesis of Faith, 136–138. 149 Vgl. HESCHEL: A Time of Renewal, 27. 150 Vgl. HESCHEL: Gott sucht den Menschen, 259. 151 Vgl. HESCHEL: Gott sucht den Menschen, 258. 152 Vgl. HESCHEL: A Time of Renewal, 27.

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„Flexibilität“, „Vielfalt“ „Spontaneität“ unendliche Sehnsucht hat das ganze Leben im Blick „Kunst des Seins“ „Innerlichkeit“ „Frömmigkeit“ „Hingabe“, „Freiheit“, „Ursprünglichkeit“ „Geist“ „Seele“ Flamme „Bogen“

„Gleichförmigkeit“153 „Rezeptivität“154 Grenzmarkierungen155 hat die Details im Blick156 „Wissen vom Handeln“157 „Gesetz“158 „Gesetz“159 „Disziplin“, „Vorgeformte[s]“, „Gesetz“160 „Leib“161 „Körper“162 Kohle163 „Saite“164

Religiöses Leben verliert – gemäß Heschel – seine Dynamik, sobald sich eine der beiden Größen (Haggada bzw. Halacha) verselbständigt. Bereits oben habe ich – unter Aufnahme Heschelscher Terminologie – von der Gefahr des Panhalachismus bzw. Panhaggadismus gesprochen. Bei Heschel selbst findet sich nur die Warnung vor dem Panhalachismus.165 Dieser kann von Heschel auch religiöser Behaviorismus genannt werden: Er trennt Innerlichkeit, Frömmigkeit und Seele vom Glauben ab und lebt nur noch von der Äußerlichkeit des Tuns. Die Polarität fällt auseinander.166 Aber auch die umgekehrte Problematik erkennt Heschel, das Problem einer „Agada ohne Halacha“167 (allerdings ohne dieses Problem als Panhaggadismus zu bezeichnen). Wo die Dynamik der Polarität zerbricht, kommt es im Panhalachismus zur atomisierenden Fokussierung auf die kontextlose einzelne Tat, 153

HESCHEL: Gott sucht den Menschen, 252. HESCHEL: Gott sucht den Menschen, 258; vgl. auch HESCHEL: A Time of Renewal, 27. 155 Vgl. HESCHEL: Gott sucht den Menschen, 258. 156 Vgl. HESCHEL: A Time of Renewal, 27. 157 HESCHEL: Gott sucht den Menschen, 240. 158 HESCHEL: Der Mensch fragt nach Gott, 44. 159 HESCHEL: Der Mensch fragt nach Gott, 78. 160 HESCHEL: Der Mensch fragt nach Gott, 45. 161 HESCHEL: Der Mensch fragt nach Gott, 45. 162 HESCHEL: Gott sucht den Menschen, 249. 163 Vgl. HESCHEL: A Time of Renewal, 28. 164 HESCHEL: Gott sucht den Menschen, 265: „Wenn die Saite gespannt ist, wird der Bogen die Melodie hervorlocken. Aber unter der Hand des Stümpers quietscht die Saite.“ 165 Für einen selbst im Kontext der Mizwot und damit orthodox lebenden Menschen erscheint mir dies insofern bemerkenswert, als sich seine eigene kritische Spitze nicht gegen die Anderen, sondern gegen die eigene Richtung wendet. 166 Vgl. vor allem HESCHEL: Gott sucht den Menschen, 246–258; im engl. Original: ders.: God in Search of Man, 320–335. 167 Vgl. HESCHEL: Gott sucht den Menschen, 261f, Zitat: 261. 154

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im Panhaggadismus zur generalisierenden bzw. abstrahierenden Auflösung religiösen Lebens ins Denken hinein.168 Polarität wird – nach Heschel – zu einem grundlegenden Charakteristikum des jüdisch-religiösen Lebens, ja der gesamten Wirklichkeit: „Polarität ist ein wesenhaftes Merkmal der gesamten Wirklichkeit, und innerhalb des jüdischen Glaubens steht die Beziehung zwischen halacha (Gesetz) und agada (Innerlichkeit) im Zeichen der Polarität.“169 Jede Linearität führe zur Auflösung der Dynamik religiösen Lebens.170 „Überall findet sich Polarität außer in Gott. Denn alle Spannung endet in Gott. Er ist über allen Widersprüchen.“171 Lässt sich bei Bialik vor allem der Bezug von Haggada und Halacha auf die Sprache der rabbinischen Zeit und bei Kadushin auf die Methodik des Umgangs mit der Tora wahrnehmen, so führen Heschels Überlegungen zu einem dritten entscheidenden Kontext der Unterscheidung von Haggada und Halacha, indem er alles Gewicht auf die Lebensform des Glaubenden legt, d.h. auf die konkrete Gestaltung des Lebens auf dem „Pfad der Treue zur Regel eines geheiligten Lebens“.172 Dabei ist es interessant zu sehen, dass Heschels phänomenologisch orientierte Analyse in vielerlei Hinsicht so offen bleibt, dass keineswegs nur Jüdinnen und Juden ihr folgen können. U.a. wird auch eine christliche Lektüre des Grundkonzepts möglich, die sich dann freilich die Frage gefallen lassen muss, wie sie die bei Heschel so bedeutsame Stelle der Mizwa füllen will. Ohne Schwierigkeit aber lässt sich das grundlegende Ineinander von Haggada und Halacha nach Heschel übertragen als das Ineinander von haggadischem Sich-Hineinsprechen in die Gottesgeschichte und halachischer Konkretion im Handeln als Anleitung zur Lebensform des Christen, worauf unten zurückzukommen sein wird. Freilich müsste dann auch die Frage gestellt werden, ob die Offenheit Heschelscher Terminologie nicht auch zum Problem wird. Wenn Polarität als grundlegendes Prinzip formuliert wird, 168 Vgl. HESCHEL: Gott sucht den Menschen, 233; vgl. dazu auch DRESNER: Heschel, Hasidism, and Halakha, 113. 169 HESCHEL: Der Mensch fragt nach Gott, 44 [Hervorhebungen im Original]. Vgl. auch ders.: Gott sucht den Menschen, 258–267 [Das Problem der Polarität]; FRIEDMAN: Abraham Joshua Heschel, 43f. 170 Demgegenüber lässt sich eine solche Linearität durchaus bei manchen Heschel-Exegeten entdecken. So schreibt John C. Merkle: „Apart from agada, halachic living would be a motiveless routine“ (MERKLE: Genesis of Faith, 138). Das Wort „motiveless“ suggeriert, dass die Haggada ihre Funktion in der motivationalen Begründung der Halacha erhält. Damit wäre aus den beiden interdependenten Bewegungen die Linearität einer Motivationslogik geworden (vgl. ähnlich auch DRESNER: Heschel, Hasidism, and Halakha, 105: „It [die Haggada, AD] provides the motivation, the vision, and the values, for which halakha is the means, the expression, the program.“). 171 HESCHEL: Gott sucht den Menschen, 263 Anm. 56. 172 Vgl. HESCHEL: Gott sucht den Menschen, 265f [Der Wert der Gewöhnung], Zitat: 265.

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ergibt sich die Schwierigkeit, dass sich die konkrete Bedeutung der Unterscheidung von Haggada und Halacha aufzulösen droht in die Allgemeinheit der Relation von Innen und Außen, Seele und Körper … Die Unterscheidung von Haggada und Halacha würde zur formalen Kategorie werden und ihre materiale Spezifität in doppelter Hinsicht verlieren: (1) als Verlust des unaufgebbaren hermeneutischen Kontextes der Unterscheidung von Haggada und Halacha und (2) als Verlust des „Inhalts“ der Halacha („content of believing“) gegenüber dem „act of believing“.173 Sichtbar wird diese Problematik u.a. daran, dass das, was Mizwa und Halacha konkret bedeuten, bei Heschel kaum eine Rolle spielt.174 Überspitzt gesagt könnte sich daraus eine panhaggadische Tendenz ergeben, wenn die das Leben strukturierend erfassende Phänomenologie selbst zum Inhalt wird. Sie würde dann nicht neues religiöses Leben generieren, sondern eher „dogmatisch“ zur Kenntnis genommen werden. Zusammenfassend unterstreichen die Beiträge von Bialik, Kadushin und Heschel je auf ihre Art eindrucksvoll die notwendige Zusammengehörigkeit von Haggada und Halacha und warnen vor den Problemen der Isolierung der Haggada gegenüber der Halacha und umgekehrt. Bei einer kritischen Betrachtung der drei Ansätze aus dem 20. Jahrhundert zeigt sich aber vor allem auch die Gefahr, bei der Betonung des Miteinanders von Haggada und Halacha den hermeneutischen Kontext beider, ihren Ort im Zusammenhang der mündlichen Tora, zu vernachlässigen und aus dem herausfordernden hermeneutischen Wechselspiel die allgemeine Erkenntnis einer grundlegenden Polarität menschlichen Lebens (Heschel) oder eines Miteinanders von „Idee“ und „Tat“ (Bialik) abzuleiten bzw. sie als Methodik zur Konkretion basaler Theologumena in die Lebensgestaltung hinein zu gebrauchen (Kadushin). Haggada und Halacha gewinnen demgegenüber in rabbinischem Kontext ihr Potential als Generator mündlicher Tora in ihrem Bezug auf die schriftliche. Im Miteinander von Bialik, Kadushin und Heschel zeigt sich, dass Haggada und Halacha dabei literarisch als Sprachformen, theologisch als Methodik und ethisch als Lebensform Einzelner und einer religiösen Gemeinschaft betrachtet werden können.

173 Vgl. zu den Begriffen HESCHEL: God in Search of Man, 7; ders.: Gott sucht den Menschen, 5; vgl. dazu PERLMAN: Abraham Heschel’s Idea of Revelation, 4. 174 So bezieht sich z.B. Arnold M. Eisen mit der Aussage auf Heschel zurück, dass nicht die konkrete Mizwa entscheidend sei, sondern die „notion of mitzvah“ (EISEN: Taking Hold of Torah, 38).

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13.2 Gesetz und Evangelium im Kontext evangelischer Schriftauslegung und als homiletisches Problem Auf den ersten Blick scheint Luthers Doppelformel Gesetz und Evangelium der rabbinischen Unterscheidung von Halacha und Haggada nahe zu kommen. Um die Möglichkeit, aber auch die Grenze dieses rabbinisch-lutherischen Vergleichs zu bestimmen, betrachte ich die Doppelformel zunächst grob in dogmatischer, sodann in homiletischer Perspektive.175

13.2.1 Gesetz und Evangelium als soteriologisch-hermeneutische Doppelformel Luthers Doppelformel von Gesetz und Evangelium scheint mir grundlegend in einem soteriologisch-hermeneutischen Kontext verortet;176 sie ist bezogen auf das „Ereignis“ der Aufdeckung der Wirklichkeit des sündigen Menschen durch das Wort Gottes (Gesetz; Urteil) sowie auf das „Ereignis“ der Erfahrung der Wahrheit des gerechtfertigten Menschen durch das Wort Gottes (Evangelium; promissio).177 In der Dynamik des Glaubens als Wortereignis, in der Dynamik des verkündigten Wortes Gottes als „einfacher Gottesrede“ (Friedrich Mildenberger),178 gehören Gesetz und Evangelium unauflösbar zusammen.179 Auf einer dogmatischen Reflexionsebene freilich können und müssen sie in ihrer Unterschiedenheit betrachtet werden.180 Als Wortereignis auf der Ebene der einfachen Gottesrede werden Gesetz und Evangelium vom glaubenden Rezipienten je und je erfahren.181 Luthers Doppelformel hat ihren biographisch-existentiellen Bezug in der Erfahrung des Hörers, der das Wort der Schrift als anklagend-richtendes bzw. als auf175

Vgl. zu einer grundlegenden Orientierung und zur Literatur bis Anfang der 1980er Jahre: BARTH: Art. Gesetz und Evangelium; PETERS: Gesetz und Evangelium. Einen guten Überblick über die homiletische Diskussionslage bietet HAUSCHILDT: „Gesetz und Evangelium“, bes. 264– 282. Texte zur Diskussion bis in die 1960er Jahre stellt KINDER: Gesetz und Evangelium, zusammen. 176 Dies im Gegenüber zur scholastischen Bestimmung des Gesetzes als Universalkategorie für die Beschreibung der Beziehung Gottes zur Welt (vgl. dazu MILDENBERGER: Biblische Dogmatik, Bd. 1, 137f). 177 Vgl. zur Betonung der Verbindung von „Gesetz“ und „Wort Gottes“ IWAND: Die Predigt des Gesetzes, bes. 86f; vgl. zum Begriff „promissio“ BAYER: Promissio; ders.: Martin Luthers Theologie, 46–53. 178 Vgl. zum Begriff MILDENBERGER: Biblische Dogmatik, Bd. 1, 92–115 u.ö. 179 Gegen Werner Elert, für den Gesetz und Evangelium zwei Worte sind, die nicht unter dem Oberbegriff des Wortes Gottes/der Offenbarung zusammengefasst werden dürfen (vgl. ELERT: Der christliche Glaube, 113–155, bes. 155). 180 Vgl. BAYER: Martin Luthers Theologie, 58–60; bes. 58f Anm. 33. 181 Vgl. auch WÖHLE: Gesetzesfreude bei Luther, 121.

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richtend-tröstendes Wort vernimmt. Nicht die eigene Entscheidung des Hörers, dieses oder jenes hören zu wollen, ist dabei für die Hörerfahrung verantwortlich, sondern die Wirkung des Heiligen Geistes durch das Wort der Schrift. Hermeneutisch entspricht dem das eschatologisch-sakramentale Schriftverständnis Luthers: Die Schrift tut, was sie sagt, und entspricht „grundsätzlich der Art und Weise von Gottes Wirken“182. Wenn Luther auf den Wortsinn der Schrift rekurriert, dann hat er damit genau diesen Aspekt der wirksamen Schrift und des schöpferischen Wortes Gottes im Blick. Ob das Wort als Gesetz oder als Evangelium vernommen wird, entzieht sich daher menschlicher Machbarkeit (in homiletischem Kontext heißt das: sowohl der Machbarkeit des Predigers als auch der Machbarkeit des Hörers).183 Dabei entspricht es Luthers eigener Erfahrung, dass das selbe Schriftwort sowohl als Gesetz als auch als Evangelium gehört werden kann – wie etwa Luthers eigene Schilderung seiner reformatorischen Wendeerfahrung unterstreicht: Die Worte des Paulus in Röm 1,16f (besonders: „dikaiosu,nh ga.r qeou/ evn auvtw/| avpokalu,ptetai evk pi,stewj eivj pi,stin“) hatte Luther zunächst als ihn heil-los überforderndes Gerechtigskeitsverlangen Gottes verstanden (iustitia distributiva), bis ihm aufging, dass Gottes Gerechtigkeit diejenige sei, die Gott selbst schafft (iustitia passiva).184 Wie Röm 1,16f hat jedes Schriftwort das Potential, als Gesetz und Evangelium gehört zu werden. So beschreibt dies grundlegend auch AC XII: „In haec duo opera distributa est universa scriptura. Altera pars lex est, quae ostendit, arguit et condemnat peccata. Altera pars evangelium, hoc est, promissio gratiae in Christo donatae […]“185. Auf der Ebene der einfachen Gottesrede handelt es sich also um eine Doppelformel, die zwei ineinander verschränkte Aspekte der Wirklichkeit des Glaubenden (simul iustus et peccator) im Kontext der Hermeneutik zur Sprache bringt. Nur auf der Ebene der „Theologie“ lässt sich von einer Unterscheidung von Gesetz und Evangelium sprechen und lassen sich Gesetz und Evangelium je für sich betrachten – wohl wissend, dass die theologische Betrachtung auf das soteriologische und hermeneutische In- und Miteinander von Gesetz und Evangelium bezogen bleiben muss, wenn sie ihren Gegenstand 182

RINGLEBEN: Metapher und Eschatologie, 225. Vgl. HEINTZE: Luthers Predigt von Gesetz und Evangelium, 260: Entscheidend sei „die Art und Weise, wie das gepredigte Wort vom Hörer aufgenommen wird, ob als demütigendes, tröstendes oder wegweisendes Wort. Und das führt […] zu Gottes eigenem Werk, das er durch die Predigt seines Wortes an den Menschenherzen ausrichtet.“ Vgl. auch Martin Nicol, der das Wort Gottes als Gesetz und Evangelium in den Kontext der Anfechtungserfahrung einordnet (vgl. NICOL: Meditation bei Luther, 91–96, bes. 95). 184 Vgl. Luthers Vorrede zum ersten Band der „Opera Latina“ 1545 (WA 54, 176–187, hier: 185f). 185 BSLK 261, 47–50 [Hervorhebung AD]; vgl. auch HAUSCHILD: Lehrbuch, 296. 183

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nicht verlieren möchte. Das Wissen um die Notwendigkeit der Unterscheidung kann nicht gleichgesetzt werden mit dem Vermögen, diese Unterscheidung auch durchzuführen. So betont Luther in seiner berühmten Tischrede des Jahres 1531, dass allein der Heilige Geist die Kunst der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium verstehe: „Non est homo, qui vivit in terris qui sciat discerne inter legem et euangelium. Wir lassen vns wol geduncken, wen wir horen predigen, wir verstehens; aber es felet weit. Solus Spiritus Sanctus hoc scit. […] Also soll vnd muß allein Gott der heiligst meister sein.“186 Da diese Kunst aber als die „höchste Kunst jnn der Christenheit, die wir wissen sollen“187, zu werten sei, ergibt sich daraus die Notwendigkeit zu ständiger und erwartungsvoller Beschäftigung mit der Schrift. Die große Kunst des Theologen besteht daher – so führe ich den Gedanken Luthers fort – vor allem darin, zu wissen, dass das Ereignis von Gesetz und Evangelium außerhalb seiner theologischen Machbarkeit liegt und durch die Theologie vor dem Zugriff der Theologen bewahrt werden muss.188 Allerdings ergab sich bereits zu Luthers Lebzeiten eine Verschiebung, die zunehmend dazu führte, die Doppelformel von der Ereignisebene abzulösen und sie zu einer handhabbaren Methodik der Unterscheidung zwischen Evangelium und Gesetz zu machen. Wesentlich für diese Entwicklung scheint mir vor allem die Auseinandersetzung mit dem Antinomismus Agricolas.189 Ein vorläufiger Endpunkt dieser Entwicklung lässt sich in der Konkordienformel beobachten. Dort wird das Evangelium als Predigt der Gnade bestimmt, das Gesetz als „opus alienum, ut faciat opus proprium“190 bezeichnet und dann gefolgert: „Also sind beide Lehren beieinander und müssen auch nebeneinander getrieben werden, aber in gewisser Ordnung und gebührlichem Unterscheid […]“191. Es gelte, die „confusio[nem] inter legem et evangelium“192 zu vermeiden; zunächst sei es daher nötig, die „Herzen der unbußfertigen Menschen“193 zu erschrecken, dann müsse das Evangelium gepredigt werden. Die Konkordienformel zeigt die problematische Entwicklung von einer polaren Doppelformel hin zu einer linearen 186 187

WA TR 2, 3, 20, Nr. 1234; vgl. dazu BAYER: Martin Luthers Theologie, 60f. So in der Neujahrspredigt 1532 (Predigt am Tag der Beschneidung, nachmittags): WA 36,

9, 28f. 188

Vgl. HEINTZE: Luthers Predigt von Gesetz und Evangelium, 260f. Heintze spricht hier von der Spannung zwischen der Betonung der Notwendigkeit der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium in der Dogmatik und der praktischen Undurchführbarkeit dieser Unterscheidung in der Predigt. 189 Vgl. zu Agricola (1492/94–1566) ROGGE: Art. Agricola. 190 FC.S V (BSLK 955, 27f). 191 FC.S V (BSLK 956, 38–41 [Hervorhebung AD]). 192 FC.S V (BSLK 961, 14f). 193 FC.S V (BSLK 960, 28f).

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Unterscheidung, von der theologischen Notwendigkeit des Wachhaltens der Dynamik der Wirkung des Wortes Gottes als Gesetz und Evangelium hin zur theologischen Aufgabe, die Unterscheidung selbst zu treffen. Die marcionitische Problematik rückt dabei ins Blickfeld – eine Problematik, die Tertullian so umschrieb: „Separatio legis et evangelii proprium et principale opus est Marcionis […]“194. Im Hintergrund steht bei dieser hin zur Trennung neigenden Tendenz m.E. vor allem die Ablösung des (in der FC vor allem beachteten) soteriologischen vom hermeneutischen Kontext der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.195 Demgegenüber scheint es mir – mit Hans-Martin Barth – entscheidend, den Ort der Unterscheidung in „der lebendigen Dynamik des verkündigten Wortes Gottes“196 festzuhalten. An dieser Stelle rückt daher die Predigt ins Blickfeld der Betrachtung. Die Sprache der Predigt gehört in den Bereich einfacher Gottesrede, die sich aber zugleich theologisch verantworten muss und daher in Produktion und Rezeption zwischen einfacher Gottesrede und Theologie changiert. Ihr grundlegendes Ziel ist es, Glauben zu wirken – ein Ziel, das außerhalb homiletischer Machbarkeit liegt. Im Blick auf die Verkündigung und Wirkung 194

TERTULLIAN: Adversus Marcionem, 48 [I, 19]. Es ist hier nicht der Ort, ausführlich auf die weitere Lehrentwicklung einzugehen. Immer wieder aber erweist sich, dass die Ablösung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium von ihrem bibelhermeneutischen Kontext zu problematischen Lehrentwicklungen führt. Dies zeigt sich exemplarisch in der Luther-Renaissance nach dem Ersten Weltkrieg, die Tendenzen der Aufklärung sowie der altprotestantischen Orthodoxie fortsetzt, indem der einst Schrift-hermeneutische Kontext der Unterscheidung in einen universalhermeneutischen verwandelt wird. In Folge ist dann besonders Elerts Dogmatik zu nennen: Elert spricht vom Gesetz einerseits im Zusammenhang mit dem Selbstverständnis des Menschen unter der Verborgenheit Gottes, andererseits vor dem Abschnitt über die Heilige Schrift unter der Überschrift „Der Grund des christlichen Kerygmas“. Im Kern erscheint das Gesetz dabei als eine universal verhängte Zwangs-, Todes- und Schicksalsordnung, und die radikale Negativität der Welterfahrung unter der Kategorie des Gesetzes dominiert das dann notwendig mediatisierte Evangelium (vgl. dazu MILDENBERGER: Biblische Dogmatik, Bd. 1, 139). Auch bei Althaus (ALTHAUS: Die christliche Wahrheit, bes. 45f.597–600) kann das Gesetz zunächst im Zusammenhang mit der „Uroffenbarung“ erscheinen und erst dann im Kontext der Rechtfertigungslehre. Gegen diese lutherischen Dualisierungen, „Konfrontationsmodelle“ (Hans-Martin Barth) sowie Ablösungen von der Schrifthermeneutik und Christologie wendet sich vor allem Karl Barth (vgl. zunächst BARTH: Evangelium und Gesetz; vgl. dann auch KD I/2). Gegenüber der Linearität eines Nacheinanders von Gesetz und Evangelium verweist er neu auf deren Interdependenz, gegen die Ablösung von der Schrift rekontextualisiert er die Rede von Gesetz und Evangelium in das in der Schrift bezeugte Bundeshandeln Gottes mit Israel und der Welt (vgl. auch JOEST: Karl Barth und das lutherische Verständnis von Gesetz und Evangelium). Auch bei Hans Joachim Iwand zeigt sich – so Ralph Meier – insgesamt eine Entwicklung, die von der Konfrontation des Gegenübers von Gesetz und Evangelium zum Miteinander des Spannungsfeldes, „von der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium innerhalb des einen Wortes Gottes zu dem einen Wort Gottes in der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium führt“ (MEIER: Gesetz und Evangelium bei Hans Joachim Iwand, 279 [Hervorhebungen im Original]). Vgl. insgesamt JOEST: Dogmatik, Bd. 2, 487–503. 196 BARTH: Art. Gesetz und Evangelium, 139. 195

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des Wortes Gottes wurde die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium primär entwickelt.197 Es verwundert daher, dass angesichts der fast unüberschaubaren Literatur zum Thema „Gesetz und Evangelium“ die Frage nach der Predigtpraxis Luthers im Blick auf die Doppelformel bisher m.W. nur zu einer einzigen Monographie geführt hat: Gerhard Heintzes Arbeit mit dem Titel „Luthers Predigt von Gesetz und Evangelium“ (1958).198 Ich stelle Heintzes Ergebnisse zusammenfassend vor: Luthers Formel aus den Exoduspredigten 1524/27 „Nihil nisi Christus praedicandus“199 erkennt Heintze als grundlegende Bestimmung der Predigtaufgabe. Für Luther verbinden sich mit der Predigt des Christusgeschehens sowohl die Heils- als auch die Sündenoffenbarung.200 Damit gilt, dass es bei Luther keine eigenständige „Gesetzespredigt“ gibt: „Die sündenaufdeckende Funktion der Gesetzespredigt wird […] nicht sorgfältig gegenüber der Christuspredigt des Evangeliums isoliert, sondern letzten Endes ihr eingeordnet“201 – eine Aussage, die im Blick auf die obigen Feststellungen zur Verortung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und zur sakramentalen Deutung des Wortgeschehens nicht überrascht. Heintze erkennt, dass erst später – vor allem im Kontext der Antinomerdisputationen von 1539 – „die Bußpredigt des Gesetzes und die Trostpredigt des Evangeliums auch begrifflich auseinander“ treten.202 Gleichzeitig finden sich erst ab den 1530er Jahren Aussagen, die die Linearität der Abfolge von Predigt der Sündenerkenntnis und Predigt des Evangeliums andeuten.203 Luther gerät hier in argumentative Probleme und sagt selbst, dass er früher ähnlich gedacht habe wie jetzt die Antinomer; allerdings seien damals auch andere Zeiten gewesen, es war „die Welt voll von Angefochtenen und Verzweifelten“204. Fast beiläufig bringt Heintze die fundamentale Veränderung, die sich mit dieser Entwicklung ergab, auf den Punkt: „Somit wird jetzt die göttliche Pädagogie von Gericht und Gnade, Demütigen und Erhöhen, von Gesetz und Evangelium zu einer vom Prediger zu handhabenden Pädagogie.“205 Die Subjektverschiebung kann m.E. hermeneutisch nicht deutlich genug hervorgehoben werden, bedeutet sie doch letztlich, dass

197

Vgl. dazu auch Hans Joachim Iwand, für den „die Verkündigung als Ziel der Lehre von Gesetz und Evangelium“ galt (vgl. MEIER: Gesetz und Evangelium bei Hans Joachim Iwand, 225– 236, Zitat: 225). 198 Zum Begriff des Gesetzes in Luthers Predigten hat Andreas H. Wöhle gearbeitet (vgl. WÖHLE: Luthers Freude an Gottes Gesetz; ders.: Gesetzesfreude bei Luther). 199 WA 16, 113, 17. 200 Vgl. HEINTZE: Luthers Predigt von Gesetz und Evangelium, 69f. 201 HEINTZE: Luthers Predigt von Gesetz und Evangelium, 76, vgl. 257f. 202 HEINTZE: Luthers Predigt von Gesetz und Evangelium, 86; vgl. auch MÜLLER, H. M.: Homiletik, 58–61, bes. die Zitate 59 und 59 Anm. 68 sowie 60 und 60 Anm. 70. 203 Vgl. HEINTZE: Luthers Predigt von Gesetz und Evangelium, 86. Vgl. dazu auch das berühmte Wort aus einer Tischrede der 1530er Jahre: „Primo est deicienda conscientia, secundo erigenda, tertio resolvenda seu evolvenda ex his, quae ei dubia sunt, primo per legem, secundo per euangelium, tertium per expositionem illorum, quae est sententia et quid continetur in toto verbo Dei […]“ (WA TR 4, 479, 1–4). 204 HEINTZE: Luthers Predigt von Gesetz und Evangelium, 92, vgl. insg. 90–94. 205 HEINTZE: Luthers Predigt von Gesetz und Evangelium, 94; ähnlich 97f.

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der sakramentale Charakter des Wortes im Blick auf das Predigthandwerk zurückgedrängt bzw. aufgegeben wird. Die Verschiebung, die sich zwischen dem jungen Luther und dem Luther der Antinomerdisputationen zeigt,206 relativiert sich allerdings durch einen Blick auf Luthers eigene Predigtpraxis: Seine Predigt war und blieb primär Textpredigt, die – meist in der Form der Homilie – dem biblischen Text nachzugehen und auslegend zu entsprechen suchte. Die unbedingte Textbindung der Predigt setzt sich gegenüber der sich in den Auseinandersetzungen problematisch entwickelnden homiletischen Hermeneutik letztlich durch.207 Überall zeige sich „die Überordnung des Gehorsams gegen die Schrift über das dogmatische System“208. Die zunehmend lineare Betrachtung der Handhabbarkeit der Abfolge von sündenaufdeckender Gesetzespredigt und die Rechtfertigung zusprechender Evangeliumspredigt verwandelt sich nicht in ein Predigtschema.209 Daher auch kann Heintze zusammenfassend feststellen: „Es geht bei dieser Dialektik [von Gesetz und Evangelium, AD] um Gottes eigenes Handeln, nicht um eine vom Menschen, auch nicht vom christlichen Prediger, nach eigenem Ermessen zu handhabende Methode.“210

Als Doppelformel gehört die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium – so kann zusammenfassend festgehalten werden – gleichzeitig in den Kontext der Soteriologie und der Hermeneutik und charakterisiert das wirksame Wort Gottes in seiner zweifachen Wirkung auf den Rezipienten. Theologische Reflexion über die Doppelformel macht dann Sinn, wenn sie auf diesen soteriologisch-hermeneutischen Kontext der Unterscheidung bezogen bleibt. Ich frage von dieser Grundlegung aus weiter, wie Gesetz und Evangelium in der jüngeren Homiletik rezipiert wurden.

13.2.2 Gesetz und Evangelium als Thema der Homiletik 13.2.2.1 Die Aufnahme der Thematik durch Manfred Josuttis Gemessen an der Bedeutung der Diskussion um Gesetz und Evangelium in der Systematischen Theologie und Ethik des 20. Jahrhunderts hat die lutherische Doppelformel nur eine relativ schmale und wenig kontroverse Spur in der praktisch-theologischen und spezifisch homiletischen Diskussion ge206

Heintze datiert den Beginn der Veränderungen allerdings bereits ins Jahr 1522, in die Zeit der Schwärmerunruhen und Bauernkriege (vgl. HEINTZE: Luthers Predigt von Gesetz und Evangelium, 82–84). 207 Vgl. HEINTZE: Luthers Predigt von Gesetz und Evangelium, 98–101.257–283; vgl. auch die Analyse der Einzelpredigten zum Dekalog (102–146), zur Bergpredigt und dem doppelten Liebesgebot (147–211) sowie zur Passion Christi (212–256). 208 HEINTZE: Luthers Predigt von Gesetz und Evangelium, 256. 209 Vgl. neben Heintze auch MÜLLER, H. M.: Homiletik, 60. 210 HEINTZE: Luthers Predigt von Gesetz und Evangelium, 274.

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zogen. Das bedeutet nicht, dass es nicht in den allermeisten evangelischen Homiletiken einen Abschnitt zum Stichwort Gesetz und Evangelium gäbe; zur entscheidenden Fragestellung wird die Doppelformel allerdings selten.211 Dabei wäre es – entsprechend der eben dargelegten primären Verortung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium – sachgemäß, wenn die Doppelformel vor allem homiletisch rezipiert würde.212 Die Monographie von Manfred Josuttis aus dem Jahr 1966 mit dem Titel „Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart“ sowie sein 1995 erschienener zweiter Band der Homiletischen Studien „Gesetz und Evangelium in der Predigtarbeit“, in dem sich ein erneuter Abdruck der Schrift aus dem Jahr 1966 sowie eine Reihe weiterer Aufsätze zur Thematik finden, stellen eine Ausnahme dar. Grundlegend sind diese Beiträge Josuttis’ von dem Ziel geprägt, gegenüber gesetzlicher Verfälschung eine Predigt des Gesetzes und des Evangeliums wieder zu gewinnen. In drei Punkten fasse ich die Stoßrichtung des 1966 erschienenen Buches zusammen:213 (1) Ausgangspunkt: Die Sakramentalität des Wortes Gottes in der Predigt: „Das Wort Gottes ist eine dynamische, eine kreatorische, eine sakramentale Größe. […] Das Wort Gottes wirkt.“214 Diese Feststellung ist für Josuttis zentrale Überzeugung reformatorischer Theologie und wird für ihn zum entscheidenden Ausgangspunkt seiner Überlegungen. „Gesetzlichkeit“ entstehe dort, wo das gesprochene Wort nicht mehr als wirkmächtig gesehen werde, sondern sich die Wirkung des Wortes Gottes in die Entscheidung des Hörers hinein verschiebe.215 Josuttis schreibt: „Wenn sie [die Prediger, AD] doch einmal dem Wort Gottes zutrauen lernten, daß es von sich aus Glauben zu schaffen vermag!“216 211 Vgl. HAUSCHILDT: „Gesetz und Evangelium“, 262f. Vgl. z.B. auch Friedrich Mildenbergers „Kleine Predigtlehre“, in der die Doppelformel scheinbar grundlegend im Blick ist, da der gesamte zweite Teil der materialen Homiletik unter der Überschrift „Die Predigt von Gesetz und Evangelium“ steht (vgl. 46–118). Faktisch aber spielt die Doppelformel in der Durchführung keine tragende Rolle. 212 Vgl. auch RICHTER-BÖHNE: Unbekannte Schuld, 129 (unter Rückgriff auf Hans Joachim Iwand). 213 Vgl. zu einer anders strukturierten Zusammenfassung auch HOFFMANN: Ethik predigen, 16– 23. WEYMANN: Christliche Verkündigung, und STIEWE: Gesetz und Evangelium in der Predigt, stützen sich in ihren Aufsätzen zur homiletischen Bedeutung von Gesetz und Evangelium ebenfalls wesentlich auf die Erarbeitungen von Josuttis. 214 JOSUTTIS: Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart, 16. Vgl. dazu auch WA 9, 440, 3–5.9f: „[…] omnia verba, omnes historie euangelice sunt sacramenta quedam, hoc est sacra signa, per que in credentibus deus efficit, quicquid ille historie designant […]. Ita verba Christi sunt sacramenta, per que operatur salutem nostram.“ (Luther in einer Predigt am 25.12.1519); vgl. dazu JOSUTTIS: Die Predigt des Evangeliums nach Luther; vgl. auch BAYER: Promissio, bes. 78–114 [Zwischenkapitel: Sakramentale Textmeditation und Verständnis der Messe]; MÖLLER: seelsorglich predigen, 23–29. 215 Vgl. JOSUTTIS: Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart, 16, und insg. 16–26. 216 JOSUTTIS: Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart, 39; vgl. ähnlich auch DENECKE: Lob der Sonntagspredigt, 235f.

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(2) Die Problematik der „Gesetzlichkeit“: Damit erscheint die Problematik der „Gesetzlichkeit“ für Josuttis grundlegend als die Problematik einer Verkündigung, die die Wirkung des Wortes Gottes von der Aktivität des Hörers abhängig macht. Gesetzliche Predigt distanziere das Wort Gottes in dogmatischer oder historisch-kritischer Objektivität, worauf dann der Mensch der Gegenwart zu etwas gerufen bzw. nach etwas gefragt werden müsse (explicatio-applicatio-Schematismus).217 Diese Problematik konkretisiert sich – wie Josuttis anhand der Analyse von 907 Predigten zeigt – u.a. in folgenden typischen Redeformen der Predigt: in der (inquisitorischen) Frage an den Hörer,218 in dem Nacheinander von Indikativ und Imperativ im Aufbau der Predigt219 bzw. im (rhetorisch nicht selten verschleierten) Appell zu realisierender Anwendung des Heilswerks Jesu Christi im Leben des Einzelnen220. (3) Die Chance der Predigt des Gesetzes: Wenn die Gefahr der Gesetzlichkeit der Predigt erkannt werde, biete sich neu die Chance, das Gesetz als „richtende[n] Aufweis der menschlichen Sünde“221 zu predigen. Entscheidend sei es dabei, alle Verharmlosung, und d.h. alle Moralisierung, aus dem Sündenbegriff herauszunehmen. Die Beseitigung der Sünde dürfe keinesfalls ([semi-]pelagianisch) zu einer Möglichkeit des Menschen kleingeredet werden.222 Nur dort, wo die Sünde in ihrer Radikalität und damit in ihrer Beziehung zum Tod nicht verdrängt werde, könne auch die Hoffnung der Auferstehung laut werden.223

217 Vgl. JOSUTTIS: Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart, 16–22; ders.: Die Predigt des Gesetzes bei Luther, 24: Die Predigten der Gegenwart seien langweilig geworden, „denn die unauflösliche und unverrechenbare Spannung von Gesetz und Evangelium ist verschwunden und hat dem unproblematischen Zweischritt von historisierender Erklärung und moralisierender Anwendung des Textes Platz gemacht.“ Martin Hoffmann fragt ausgehend von Josuttis weiter nach der theologischen Ursache der Problematik der Gesetzlichkeit, die er einerseits in der Geist-, andererseits in der Zeitvergessenheit der Predigt erkennt (vgl. HOFFMANN: Ethik predigen, 24–53 [Theologische Ursachen der Gesetzlichkeit]). 218 Vgl. JOSUTTIS: Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart, 20f. 219 Vgl. JOSUTTIS: Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart, 33–39. 220 Vgl. bes. JOSUTTIS: Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart, 76–78. Hier warnt Josuttis vor „fast technischen Begriffen und Gedankenfolgen“ (76f), die sich in der Predigt der Gegenwart verbreiteten, etwa: Sich-Öffnen, Bereit-Sein, Angebot und Annahme (vgl. 77) sowie Sich-Entscheiden (vgl. 78). Vgl. ähnlich auch BOHREN: Predigtlehre, 308f, der von der höchsten Gesetzlichkeit dort spricht, wo „das neue Sein […] als Möglichkeit von Jesus eröffnet“ gedacht werde; „jetzt wird zur Verwirklichung durch den Menschen gerufen“ (Zitat: 309). 221 JOSUTTIS: Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart, 41 [im Original hervorgehoben]. Vgl. auch ders.: Die Predigt des Gesetzes nach Luther, 26f, u.a. unter Verweis auf WA 39,1, 533, 1 (3. Antinomerdisputation, 1539): „Hoc est legem praedicare, ostendere peccatum.“ 222 Vgl. JOSUTTIS: Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart, 44. 223 Vgl. JOSUTTIS: Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart, 47–49.

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Die große Chance von Josuttis’ neuer Beachtung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium in homiletischer Perspektive erkenne ich darin, dass er aufgrund der Wahrnehmung reformatorischer Theologie den hermeneutischen Kontext der Unterscheidung beachtet und so den Versuch der Wiedergewinnung einer Predigtrede unternimmt, die der Sakramentalität des Wortes Gottes entspricht. Dabei erkennt Josuttis die Schwierigkeit dieses Weges; es werde „noch langer Überlegung und viel praktischer Arbeit bedürfen“, um dafür die angemessene „Sprachgestalt zu entwickeln“224. Gleichzeitig deutet Josuttis eine bedenkenswerte und weiterführende Richtung an, in der dieser Weg gesucht werden könnte, wenn er im Blick auf eine Predigt zu Phil 1,12–21 sagt, die eigentliche Aufgabe einer Predigt zu diesem Text sei es, „den Hörer in die Worte des Paulus so einzuführen, daß er sie für sein eigenes Leben und Sterben sprechen“ könne.225 Eine Predigt als Einführung in die Worte der Schrift – in meiner Diktion ließe sich sagen: eine Predigt im Kontext skripturaler Hermeneutik – böte die Chance, eine der Sakramentalität des Wortes entsprechende Predigtrede zu gestalten.

13.2.2.2 Probleme der homiletischen Rezeption Josuttis’ homiletische Rezeption der reformatorischen Doppelformel ermöglicht zahlreiche Einsichten zur homiletischen Hermeneutik und konkreten Predigtgestaltung. Dennoch erscheint sie mir nicht unproblematisch. Zwei grundlegende Probleme greife ich heraus, die ich – wie mit einigen Hinweisen auf andere homiletische Werke gezeigt werden soll – für durchaus typisch halte: die Äquivokation von Methodik und Ereignis (1) sowie der Verlust der Tora in der christlichen Predigt (2). (1) Die Äquivokation von Methodik und Ereignis: Die Doppelformel Gesetz und Evangelium weist einerseits hin auf das Ereignis einfacher Gottesrede und bedeutet andererseits die Möglichkeit analytischer Betrachtung dieses Ereignisses auf der Reflexionsebene der Theologie. Demgegenüber kommt es m.E. dort zur Äquivokation, wo die Formel Gesetz und Evangelium in den Bereich homiletisch-methodischer Machbarkeit gezogen wird, was meiner Wahrnehmung nach vor allem auf dreifache Art und Weise geschieht: (a) Die (vermeintliche) Machbarkeit „reiner“ Gesetzes- bzw. Evangeliumspredigt: In den Überlegungen von Manfred Josuttis wird das Ereignis des 224 225

JOSUTTIS: Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart, 18f. JOSUTTIS: Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart, 20.

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Wortes Gottes zwar nicht als Imperativ dem Hörer zugewiesen (so Josuttis’ Beschreibung der Gesetzlichkeit), dafür aber tendenziell dem Prediger zugeschoben – ähnlich wie dies in der Pädagogik einer Predigt in der linearen Reihenfolge von Gesetz und Evangelium im Pietismus angelegt war und sich bereits in FC zeigt.226 Der Prediger wird zur Instanz, dem die Wahl zufällt, Evangelium oder Gesetz zu predigen. So schreibt Josuttis: „[…] wer das Evangelium rein verkündigen will, muß lernen, es vom Gesetz klar zu unterscheiden, denn das Evangelische des Evangeliums besteht in seiner Differenz zum Gesetz. Zweitens gilt aber auch: wer das Evangelium versteht, lernt, das Gesetz neu, nämlich auf außer-gewöhnliche Weise zu predigen; denn das Evangelische des Evangeliums befreit das Gesetz Gottes aus der Gesetzlichkeit, zu der es die Sünde erst mißbraucht hat. […] Gesetzlichkeit ist […] die Form der Verkündigung, die auf der Vermischung von Gesetz und Evangelium basiert und aus der die Ideologisierung des Evangeliums wie die Moralisierung des Gesetzes resultiert.“227 Auf dieser Grundlage kann Josuttis dann die kriteriologisch entscheidende Frage zur Beurteilung der Predigt formulieren: „Inwieweit wird in ihr [der Predigt der Gegenwart, AD] das Evangelium in klarer Unterscheidung vom Gesetz und das Gesetz in klarer Unterscheidung vom Evangelium verkündigt?“228 Noch deutlicher findet sich die Verlagerung der Möglichkeit der Gesetzes- bzw. Evangeliumspredigt auf die verantwortliche Instanz des Predigers in einem 1965 erschienenen Aufsatz: „[…] es gibt Zeiten, in denen der Prediger nur bzw. vor allem das Gesetz, und es gibt andere Zeiten, wo er nur bzw. vor allem das Evangelium zu verkündigen hat.“229

Auch bei dem reformierten Theologen Peter Bukowski fällt dem Prediger letztlich die Aufgabe zu, Gesetz oder Evangelium zu predigen. Bukowskis Überlegungen ordnen sich in seine grundlegende Bestimmung christlicher

226

Vgl. zum pietistischen Umgang mit der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium HAU„Gesetz und Evangelium“, 267–269; vgl. zur FC oben Kap. 13.2.1, 427f. 227 JOSUTTIS: Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart, 13. 228 JOSUTTIS: Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart, 14. 229 JOSUTTIS: Die Predigt des Gesetzes bei Luther, 27. Vgl. hierzu auch die problematische Leitfrage des zweiten Abschnitts: „Warum ist die Predigt des Gesetzes auch in der Kirche noch notwendig?“ (29–35). Wenn von dem Gesetz als Aspekt der Wirkung des Wortes Gottes ausgegangen wird, kann es nicht anders sein, als dass dieses für die Kirche bleibend notwendig ist. – Eine implizite Zurücknahme dieser auf die homiletische Machbarkeit fokussierenden Sicht findet sich am Ende eines der jüngsten Texte von Josuttis zum Thema (JOSUTTIS: Gesetzlichkeit in neueren homiletischen Konzeptionen), wo er auf seinen Ausgangspunkt von 1966 zurückkommt und schreibt: „Das Wort Gottes ist eine dynamische, eine kreatorische, eine sakramentale Größe. […] Gesetzlich wird die Verkündigung dann, wenn die Dynamik des Geistes im Akt des Redens nicht wirksam wird.“ (197) Daher sei der Ruf „Veni, creator Spiritus“ der entscheidende Ruf gegen die gesetzliche Predigt. Vgl. dazu auch JOSUTTIS: Religion als Handwerk, 35: „Sie [die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, AD] dient nicht der begrifflichen Klarstellung, sondern der situativen Erhellung. Sie betrifft auch nicht menschliches Sprechen, sondern göttliches Reden. Und sie zielt auch nicht auf die Lösung von Fragen, sondern auf die Befreiung von Mächten.“ SCHILDT:

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Predigt als indikativische Rede ein.230 In theologischer Hinsicht lebe die Predigt allein von der „Verheißung, daß Gott selbst sich durch das Zeugnis hindurch bewahrheitet“231. Im Blick auf die Predigtpraxis hält dann aber auch Bukowski die „Kunst, recht zu unterscheiden“ – u.a. auch zwischen Gesetz und Evangelium –, für die entscheidende Voraussetzung, damit Predigt tatsächlich als indikativische Predigt gehört werden könne.232 Die beiden Probleme, die sich indikativischer Predigt in den Weg stellten, seien die gesetzliche Predigt einerseits, die enthusiastische Predigt andererseits.233 Zu beiden Aspekten verweist Bukowski auf eine Fülle hervorragender Detailbeobachtungen zur Gestaltung der Predigt. Gesetz und Evangelium aber werden auch bei ihm zu handhabbaren und inhaltlich bestimmbaren Elementen in der Predigtpraxis. So warnt Bukowski vor einer „Verkürzung des Evangeliums“234 und „Verflachung“235 bzw. „Verdrängung des Gesetzes“236. Es gelte: „Wer das Evangelium unter Ausblendung des ‚Gesetzes‘ predigt, redet im Modus der Erfüllung, wo sachgemäß im Modus der Verheißung zu reden wäre.“237

Neben Josuttis und Bukowski verweise ich auf die 1978 erschienene Homiletik von Hans van der Geest, die sich auf Wirkungsanalysen von Gottesdiensten und Predigten stützt und folglich von der Perspektive der Rezeption ausgeht. Auf die Frage nach Gesetz und Evangelium kommt er im dritten Kapitel seines Buches zu sprechen, das die Überschrift „Die Dimension der Befreiung“ trägt.238 Befreiung bedeute, dass Menschen in ihrer Realität ernst genommen würden und in dieser Realität eine Perspektive erhielten,239 präziser: „Die Gottesdienstteilnehmer verlangen, daß ihnen im Dunkel ihres Lebens Licht geschenkt wird, daß die Aussichtslosigkeiten des Alltags, des Lebens in dieser Welt von einer Aussicht, die nicht im Alltag selber auffindbar ist, überboten werden.“240 Die Polarität von Dunkel und Licht, die van der Geest zunächst von der Perspektive der Hörerinnen und Hörer aus in den Blick nimmt, wird zum Ort, an dem er die Notwendigkeit der Unterscheidung 230

Vgl. BUKOWSKI: Predigt wahrnehmen, 126–172 [Die Predigt als indikativische Rede von

Gott].

231

BUKOWSKI: Predigt wahrnehmen, 129 [im Original hervorgehoben]. BUKOWSKI: Predigt wahrnehmen, 130. 233 Vgl. zur gesetzlichen Predigt BUKOWSKI: Predigt wahrnehmen, 132–139 (Bukowski selbst setzt den Begriff „gesetzlich“ immer in Anführungszeichen); vgl. zur enthusiastischen Predigt 139– 148. 234 BUKOWSKI: Predigt wahrnehmen, 132f. 235 BUKOWSKI: Predigt wahrnehmen, 133–135. 236 BUKOWSKI: Predigt wahrnehmen, 139–142. 237 BUKOWSKI: Predigt wahrnehmen, 140 [im Original hervorgehoben]. 238 VAN DER GEEST: Du hast mich angesprochen, 89–139. Die beiden weiteren Grunddimensionen lauten: die Dimension der Geborgenheit (vgl. 43–88) und die Dimension des Erkennens (vgl. 140–174). 239 Vgl. VAN DER GEEST: Du hast mich angesprochen, 40.89.118. 240 VAN DER GEEST: Du hast mich angesprochen, 90. 232

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von Gesetz und Evangelium, darüber hinaus aber auch von Kreuz und Auferstehung bzw. Gericht und Gnade betont.241 Wenn van der Geest so von Gesetz und Evangelium spricht, dann ist dieses Reden von einer Spannung gekennzeichnet: Einerseits weiß er, dass dann, wenn die Erfahrung der Hörerinnen und Hörer im Blick ist, von der Unverfügbarkeit der Wirkung des Wortes Gottes als Gesetz und Evangelium auszugehen ist: „Nur Gott selbst kann erlösen und befreien, nur Er kann wirklich Hoffnung wecken. Die homiletische Frage lautet: Wie soll der Prediger sich verhalten, damit er diesem unverfügbaren Geheimnis nicht unnötige Hindernisse in den Weg legt?“242 Andererseits aber – von Seiten der Predigerinnen und Prediger – erkennt van der Geest dann doch die methodische Möglichkeit, entweder das eine oder das andere zu predigen. Aufgabe des Predigers sei es, „das Spannungsgleichgewicht zwischen den einander entgegengesetzten Kraftfeldern“ aufrecht zu erhalten.243 Es gehe um eine polare Verkündigung, eine Verkündigung im Spannungsfeld – van der Geest kann auch sagen: im „Gleichgewicht zwischen Gesetz und Evangelium“244 –, die weder der Gefahr der Zurückdrängung des Evangeliums (Gesetzlichkeit) noch der Gefahr der Zurückdrängung des Gesetzes (Unverbindlichkeit) erliegen dürfe.245

Selbstverständlich haben alle drei homiletischen Entwürfe darin recht, dass auf der Inhaltsebene der Predigt über die Sünde und das Gesetz bzw. über die Gnade und das Evangelium gesprochen werden kann. Problematisch aber erscheint mir, dass damit die Ereignisebene des wirksamen Wortes Gottes als die eigentliche Pointe der Doppelformel von Gesetz und Evangelium nicht annähernd im Blick ist. Wozu es führen kann, wenn Gesetz und Evangelium zum unterscheidbaren Handwerkszeug der Predigt werden, verdeutlicht m.E. anschaulich der Aufsatz „Von der Glaubwürdigkeit des Predigers“ von Dietrich Stollberg (1979), der Gesetz und Evangelium im Blick auf die Aufgabe der Verkündigung auseinanderreißt und meint, gegenwärtig auf eine eigenständige Gesetzespredigt verzichten zu können. Stollbergs Aufsatz ist gekennzeichnet von einem sehr berechtigten anti-donatistischen Anliegen – es geht um den Fall eines Pfarrers, der wegen eines Ehebruchsdelikts für zwei Jahre beurlaubt werden sollte. In seiner Argumentation allerdings überträgt Stollberg die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium von ihrem hermeneutisch-soteriologischen Kontext auf die Art und Weise des Umgangs der Glieder der Kirche untereinander – und kommt so zu zwei problematischen Spitzensätzen:

241

Vgl. VAN DER GEEST: Du hast mich angesprochen, 93f.118. VAN DER GEEST: Du hast mich angesprochen, 94; vgl. auch 99. 243 VAN DER GEEST: Du hast mich angesprochen, 118; vgl. 122: „Seine [des Predigers, AD] Aufgabe ist, die Polarität in der Verkündigung klar darzustellen.“ 244 VAN DER GEEST: Du hast mich angesprochen, 139. 245 Vgl. VAN DER GEEST: Du hast mich angesprochen, 123–129 [Gesetzlichkeit]; 134–139 [Unverbindlichkeit]. 242

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(1) „Eine Kirche, die meint das Gesetz predigen zu müssen und dieser Predigt auch noch durch ein den Geboten entsprechendes Leben der Heiligung ihrer Glieder Glaubwürdigkeit verschaffen will, frönt der Grundsünde der Werkgerechtigkeit“246 – ein Satz, der in den reformatorischen Auseinandersetzungen klar als Antinomismus hätte verurteilt werden müssen. (2) „Das Gesetz als Gestalt des Evangeliums ist für den erwachsenen Christen – wenn er nicht gerade geistig behindert oder sonstwie in seinem Erwachsensein stark eingeschränkt ist [sic!] – die Ausnahme. Denn er hat das Gesetz in seinem primus und secundus usus erlebt […]“247 – ein Satz, der neben der antinomistischen Problematik noch den Versuch zeigt, das grundlegende Spannungsfeld des Glaubens aufzulösen in die Linearität eines Vorher und Nachher mit jeweiligen Entwicklungsstufen, die zu durchlaufen wären (in Reformationszeiten hätte man hier wohl von der „römischen Irrlehre“ gesprochen). Insgesamt versucht Stollberg, eine allein am Evangelium orientierte Predigt zu entwickeln. Er bleibt also nicht bei der handhabbaren Unterscheidung von Gesetz und Evangelium stehen – wie die meisten anderen Ansätze –, sondern geht einen Schritt weiter, indem er die Hintanstellung des Gesetzes hinter das Evangelium fordert.248

(b) Die Äquivokation von Gesetz und Imperativ, Evangelium und Indikativ: Wenn versucht wird, entweder Gesetz oder Evangelium zu predigen, so stellt sich die Frage, wie Gesetz bzw. Evangelium formal Sprache finden können. An dieser Stelle kommt es fast unweigerlich zu Äquivokationen, indem das Evangelium dann meist mit „Indikativ“, „Gabe“ bzw. „Zuspruch“ und das Gesetz mit „Imperativ“, „Aufgabe“ bzw. „Anspruch“ gleichgesetzt wird.249 Werner Schütz ist in seinem Buch „Probleme der Predigt“ typisch für viele andere. Denn einerseits verweist auch er auf die Unverfügbarkeit der Wirkung der Predigt als Gesetz und Evangelium250 und betont, dass es daher nicht um eine Verteilung von Gesetzes- und Evangeliumspredigt auf verschiedene Abschnitte der Predigtrede gehen könne.251 Andererseits aber erscheinen Gesetz und Evangelium dann doch homiletisch handhabbar: „Die Fähigkeit, recht mit Gesetz und Evangelium umzugehen, ist die höchste Kunst in der Theologie, sie ist auch die hohe Schule des Predigens.“252 Gesetz zu predigen sei – als typische Predigtweise des Anfängers – eine Predigtform, die sich in Forderungen, Idealen, Optativen, Imperativen und

246

STOLLBERG: Von der Glaubwürdigkeit des Predigers, 12. STOLLBERG: Von der Glaubwürdigkeit des Predigers, 11. 248 Vgl. zur Auseinandersetzung mit Stollberg auch MÖLLER: seelsorglich predigen, 103f. 249 Vgl. auch ULRICH: Rechtfertigung und Ethik, 48, der diese Äquivokationen aus ethischer Perspektive kritisiert. 250 Vgl. SCHÜTZ: Probleme der Predigt, 137. 251 Vgl. SCHÜTZ: Probleme der Predigt, 137f. 252 SCHÜTZ: Probleme der Predigt, 134. 247

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Superlativen bewege und sich so zur Moralpredigt verwandle.253 Die Predigt müsse dagegen – so Schütz im Blick auf die neutestamentliche Paränese – zunächst „von dem reden, was Gott gibt, und dann von dem, was er fordert“254. Das Nacheinander von Gabe und Aufgabe wird so zum Schlüssel für die Machbarkeit der Evangeliums- und Gesetzespredigt.255 Anders als für den Lutheraner Schütz, spielt die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium für den katholischen Praktischen Theologen Ottmar Fuchs keine gewichtige Rolle. Er versteht seine Homiletik – wie etwa auch Bukowski – als grundlegend indikativisch.256 In diesen Indikativ der „Barmherzigkeit und Güte Gottes“257 sei der Imperativ eingeordnet. Die Predigt verwandle sich zur Gesetzespredigt, wenn der Imperativ aus dem Indikativ gelöst werde.258 Damit ergibt sich auch bei Fuchs die Problematik, dass sich der Indikativ motivationslogisch in die Voraussetzung des darauf folgenden Imperativs verwandelt. So schreibt Fuchs: „Christliche Predigt hat immer wieder die gottgegebene Ermöglichungsdimension dessen ins Gespräch zu bringen, was sie ohne Abstriche für das ethisch verantwortete Leben der Christen im individuellen und politischen Bereich zu fordern hat.“259 Wo nach homiletischer Machbarkeit Ausschau gehalten wird, verwandelt sich die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium leicht in die in der Tat handhabbare Differenzierung zwischen Imperativ und Indikativ – oder synonyme Begriffe.260 Dies zeigt sich auch bei Manfred Josuttis selbst: 1991 hält er einen Vortrag mit dem Titel „Unterhaltsam von Gott reden?“, in dem er zu Recht darauf verweist, dass die Darstellung von Ambivalenzen, von 253

Vgl. SCHÜTZ: Probleme der Predigt, 134f. SCHÜTZ: Probleme der Predigt, 137. 255 Vgl. auch SCHÜTZ: Probleme der Predigt, 55–59, wo Schütz davon spricht, dass der Imperativ immer in den Indikativ eingebettet sein müsse. Auch STOLLBERG: Ein ‚unmöglicher‘ Text, 286, spricht von der Abfolge von „Indikativ und Imperativ“, die „homiletisch nicht umkehrbar“ sei. Paul Scott Wilson möchte demgegenüber vom Konflikt im Text und dem analogen Konflikt in der Welt zur guten Nachricht im Text und analogen guten Nachricht in der Welt voranschreiten, wobei der Konflikt mit dem Gesetz, die gute Nachricht mit dem Evangelium identifiziert wird (vgl. WILSON: The Four Pages of the Sermon). 256 Vgl. FUCHS: Von Gott predigen, 9–56.138–162 (Anm.) [Überlegungen zu einer indikativischen Homiletik]. 257 FUCHS: Von Gott predigen, 9. 258 Vgl. FUCHS: Von Gott predigen, 29. 259 FUCHS: Von Gott predigen, 9 [Hervorhebungen im Original]. Später spricht Fuchs dann von „Motivation“ zur „ethischen und politischen Praxis des Glaubens“ (10) bzw. von der „Energiequelle zur Erfüllung des Appells“ (29). 260 Dies gilt auch dort, wo die Doppelformel von Gesetz und Evangelium im Blick auf die Predigtanalyse Verwendung findet – etwa in der Analyse politischer Predigten zur Zeit alliierter Besatzung durch Andreas Richter-Böhne. Mit Bezug auf Luther formuliert Richter-Böhne: „Entsprechend diesen Bestimmungen [Luthers, AD] prägt der Indikativ die Sprache des Evangeliums, denn es spricht zu, während das Gesetz verurteilt, indem es fordert und damit im Imperativ redet.“ (RICHTER-BÖHNE: Unbekannte Schuld, 129 [Hervorhebungen im Original]; vgl. insg. 129–139). 254

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elementaren Lebenskonflikten, von Ja und Nein, von Vertrauen und Misstrauen, von Leben und Sterben zum Auftrag der Verkündigung gehöre. Problematisch erscheint im Kontext seiner eigenen Warnung nur, dass er alles dies als Konkretionen der grundlegenden Unterscheidung von Gesetz und Evangelium betrachtet. Die reformatorische Unterscheidung löst sich in die Allgemeinheit des Redens über Ambivalenzen menschlichen Lebens auf.261 (c) Die Schematisierung von Gesetz und Evangelium in der homiletischen Reflexion: Homiletisch handhabbar erscheint die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium auch dort, wo sie auf der homiletischen Reflexionsebene als Schema zur Wahrnehmung des Predigtgeschehens in den Blick genommen wird. Zwei Beispiele dieser Rezeption seien kurz erwähnt: (aa) Einer der – neben Karl Barths Aufsätzen der 1920er Jahre sowie Ernst Langes Beiträgen der 1960er Jahre – wirkungsgeschichtlich bedeutungsvollsten Aufsätze der homiletischen Diskussion des 20. Jahrhunderts benutzt die Formel Gesetz und Evangelium, um mit ihr auf Strukturen der Predigt aufmerksam zu machen und so eine alte Predigtweise von einer neuen abzugrenzen: Gerhard Marcel Martins 1984 publizierte Marburger Antrittsvorlesung „Predigt als ‚offenes Kunstwerk‘“. Martin grenzt die (jurisdiktionelle) Eindeutigkeit des Gesetzes von der (befreienden) Mehrdeutigkeit des Evangeliums ab: „‚Evangelium‘, strukturalistisch betrachtet, heißt, daß Gott, Welt und Mensch verschieden ‚lesbar‘ werden, daß es nicht nur eine, sondern mehrere Plausibilitäten und unausweichliche Erfahrungs- und Erwartungshorizonte gibt, die sich als solche gegenseitig relativieren und damit zugleich in Relation setzen.“262 Dieses Verständnis des Evangeliums bietet für Martin die theologische Brücke zur homiletischen Rezeption der Ecoschen Metapher des „offenen Kunstwerks“. Mit Martins „struktureller“ Lesart der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ist sicher ein nachdenkenswerter Aspekt erfasst. Dennoch bleiben m.E. zwei schwerwiegende Bedenken gegen diese Aufnahme der reformatorischen Doppelformel: Zum einen sind mit den Begriffen Eindeutigkeit bzw. Mehrdeutigkeit weder Evangelium noch Gesetz zutreffend charakterisiert; genauso könnte von der Eindeutigkeit der Bindung durch den Ruf des Evangeliums („Folge mir nach!“) und von der Lebensperspektiven eröffnenden Mehrdeutigkeit des Gesetzes gesprochen werden.263 Andererseits zeigt sich bei Martin die Problematik einer Reduktion der Doppelformel: 261 Vgl. JOSUTTIS: Unterhaltsam von Gott reden, bes. 88–92; vgl. ähnlich MOSCHO/SCHMIDTROST: Dem Evangelium auf der Spur, 79f. 262 MARTIN: Predigt als „offenes Kunstwerk“, 52; vgl. insg. 50–52. 263 In einem neueren Aufsatz revoziert Martin daher auch seine Unterscheidung aus der Marburger Antrittsvorlesung und schreibt: „Daß die Thora ihrerseits einen offenen Lebensraum markiert und zu kreativen Lebensgestalten einlädt, statt vornehmlich auszugrenzen und den Lebensspielraum durch eindeutige Forderungen und Definitionen einzuengen, wird in neueren Interpretationsansätzen zum Verständnis des ‚Gesetzes‘ stark betont. In dieser Hinsicht stehen ‚Gesetz‘ und ‚Evangelium‘ gerade nicht in Opposition zueinander!“ (MARTIN: Zwischen Eco und Bibliodrama, 54).

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Letztlich bleiben am Ende eben nicht Gesetz und Evangelium in ihrer Dynamik stehen, sondern es gilt nach Martin, lediglich den Aspekt des Evangeliums predigtsprachlich zu konkretisieren. (bb) Anders verhält es sich in einem 1991 veröffentlichten Aufsatz von Eberhard Hauschildt, in dem er für eine Wiedergewinnung von Gesetz und Evangelium als homiletische (Doppel-)Kategorie plädiert. Aus der Geschichte der Lehrentwicklung folgert Hauschildt eine Verortung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium in zwei Spannungsfeldern: zwischen Erfahrung und Lehre (so bereits in der Zeit der Reformation) sowie zwischen Allgemeinverständlichkeit und christlicher Spezifität (so vor allem seit der altprotestantischen Orthodoxie und der Aufklärung sowie in den Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts).264 Diese Spannungsfelder hält Hauschildt auch in der gegenwärtigen Homiletik als „kategoriales Modell“265 für rezipierbar. Exemplarisch verweist er auf die Predigtpraxis Bultmanns zwischen existentialer (Gesetz) und existentieller (Evangelium) Sprechebene,266 womit sich auch bei Hauschildt das Problem einer Ausblendung des soteriologisch-hermeneutischen Kontextes der Doppelformel und damit das Problem der Äquivokation ergibt.

Schon Martin Luther unterstrich in der zweiten Antinomerdisputation (1536): „Erroris mater est aequivocatio semper.“267 Der grundlegende „error“ bei allen drei Versuchen der methodischen Rezeption der Doppelformel besteht m.E. darin, die göttliche Dynamik des als Gesetz und Evangelium wirkenden Wortes aus dem Blick zu verlieren und das in den Bereich homiletischer Machbarkeit zu verlegen, was homiletisch nur als Geheimnis behütet werden kann.268 Rechter Umgang mit der Unterscheidung müsste daher rechte Wahrung der Unverfügbarkeit sakramentaler Dynamik des Wortes Gottes bedeuten. Evangelische, d.h. dem Evangelium gemäße, Predigt des Wortes Gottes darf nicht linear auf die Banalität „billiger Gnade“ eines allgemeinen Redens vom Zuspruch reduziert werden, auf die Beliebigkeit einer „guten Nachricht vom lieben Gott“, sondern wird dann „evangelisch“ sein, wenn sie als das Wirken des lebendigen und heiligen Gottes, der „tötet und lebendig macht“ (1Sam 2,6), der in Gesetz und Evangelium spricht, erfahren werden kann.269 Dies unterstreicht z.B. auch Karl Barth in einer Predigt zu Jes 60,19f (07.05.1922, Reformierte Kirche Göttingen): „O, wenn wir dieses Widersprechende in einem Wort sagen oder hören könnten. Denn es ist ja ein Wort, was sich da ankündigt: das Erlöschen aller Lichter und das 264

Vgl. zur geschichtlichen Darstellung HAUSCHILDT: „Gesetz und Evangelium“, 264–282; vgl. zur Zusammenfassung der Spannungsfelder: 286. 265 HAUSCHILDT: „Gesetz und Evangelium“, 287. 266 Vgl. HAUSCHILDT: „Gesetz und Evangelium“, 285–287. 267 WA 39,1, 446, 19f. 268 Vgl. zu dieser Formulierung im Rückgriff auf 1Tim 3,9 STOLLBERG: Der Pfarrberuf, 505; DEEG: Pastor legens, 426f. 269 Vgl. HEINTZE: Luthers Predigt von Gesetz und Evangelium, 266–269, bes. 267f; Heintze weist hier auf die Bedeutung von 1Sam 2,6f in der Theologie Luthers hin.

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Aufgehen des einen wahren Lichtes, Gottes Nehmen und Geben, Richten und Begnadigen, […] Töten und Lebendigmachen [vgl. 1. Sam. 2,6], Gesetz und Evangelium. Höre nur eins ohne das andere, so hast du nicht Gottes Wort, sondern nur Menschenwort gehört. Höre Beides in einem und eins in Beidem, so ist’s Gottes Wort, lebendig und kräftig und schärfer denn kein zweischneidiges Schwert […]. Aber noch kein Menschenmund hat es ausgesprochen und noch kein Menschenohr hat es gehört als ein Wort. Sondern wenn wir es aussprechen und vernehmen, dann zerteilt es sich auf unseren Lippen und in unseren Ohren, wird zum Rätsel und zur Frage. Weißt du, warum das so sein muß? Damit es in jedem Augenblick Gottes Wort sei für uns, Gottes eigenes Wort, das sich offenbaren und geglaubt sein muß.“270

Freilich kann die Frage nach der homiletischen Methode nicht in der resignierenden oder bequemen Erwartung, dass das Gelingen der Predigt letztlich ja doch bei Gott liege, ausgeklammert werden. Die entscheidende Frage lautet m.E.: Wie kann Predigtsprache gestaltet werden, damit sie sich dem Wirken des Wortes Gottes als Gesetz und Evangelium nicht in den Weg stellt, sondern umgekehrt diesem Wirken kooperativ zuarbeitet?271 Ähnlich differenziert formuliert auch Hans Martin Müller in seiner Homiletik: „Die Aufgabe des Predigers besteht […] darin, die Wahrnehmung des Wortes Gottes als Gesetz und Evangelium durch die inhaltliche und formale Gestaltung seiner Predigt zu ermöglichen.“272 Dass dazu auch die Reflexion des In- und Miteinanders von Zuspruch und Anspruch, imaginativem und präskriptivem Reden gehört, steht außer Frage. Lediglich darf diese Reflexion nicht mit der vermeintlichen Alternative, Gesetz oder Evangelium predigen zu wollen, verknüpft werden. Eine Predigt in Gesetz und Evangelium hingegen weiß um die Dynamik des wirkenden Wortes Gottes, redet nicht meta-skriptural darüber, sondern gestaltet Predigtrede als Einführung in dieses Wort.273 (2) Der Verlust der Tora in der christlichen Predigt: Bei aller m.E. unaufgebbaren homiletischen und dogmatischen Bedeutung der lutherischen Doppelformel von Gesetz und Evangelium beinhaltet diese jedoch auch eine terminologische und homiletische Schwierigkeit, die nicht übergangen werden soll: 270

BARTH: Predigten 1921–1935, 9f [Hervorhebungen im Original]. Vgl. auch JOSUTTIS: Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart, 18: „Aber wie die Gnadenwahl Gottes die Aktivität des Menschen nicht lähmt, sondern fördert, so macht auch die Verheißung des Geistes, der allein unser menschliches Predigtwort segnen kann, die verantwortliche Frage nach der sachgemäßen Sprache der Predigt nicht überflüssig.“ Den theologisch entscheidenden Beitrag zur Frage nach der cooperatio von menschlichem und göttlichem Handeln im Blick auf die Predigt hat m.E. bleibend Rudolf Bohren mit seinem (von Anton A. Ruler übernommenen) Begriff der „theonomen Reziprozität“ geleistet (vgl. BOHREN: Predigtlehre, 65–88 [Der Heilige Geist], Zitat: 65 u.ö.). 272 MÜLLER, H. M.: Homiletik, 189 [Hervorhebung AD]. 273 Vgl. genauer unten Kap. 13.4.1; Kap. 14.2. 271

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(a) Die terminologische Problematik: „Gesetz“ als Negativbegriff: Wenn Gesetz zunächst das den Menschen aufgrund der Offenbarung der Sünde erschreckende Wort Gottes meint, so gehört diese Funktion des Wortes Gottes für Martin Luther zwar zu der schlechthin notwendigen, bleibend unerlässlichen und somit positiven Wirkung des Wortes Gottes. Dennoch wird der Begriff des Gesetzes dadurch äußerst einseitig konnotiert (was noch stärker für den Begriff der „Gesetzlichkeit“ gilt, der zur Etikettierung kritikwürdiger kirchlicher Verkündigung [oder allgemeiner: kirchlicher Praxis] gebraucht wird). Die spannungsreiche Vielschichtigkeit des Redens vom Gesetz, die z.B. die Aussagen des Paulus prägt, kommt dabei nicht in den Blick, noch weniger aber das Spektrum dessen, was „Tora“ im Tanach sowie in der jüdischen Tradition und Gegenwart bedeutet. Dies lässt sich bereits bei Martin Luther als Problem erkennen. In der Fortentwicklung der dogmatischen Begrifflichkeit verwandelte sich das Gesetz weiter zu einem Negativbegriff, der allgemein zur Beschreibung sündhafter Weltwirklichkeit dienen konnte. Das, was das Gesetz aufdeckt, wurde teilweise mit dem Gesetz selbst identifiziert. Wenn das solchermaßen negativ verstandene Gesetz dann mit dem Judentum als der sich auf dieses Gesetz beziehenden Religion in Verbindung gebracht wurde, lag die Gefahr des Antijudaismus nicht fern.274 Ich illustriere dies kurz an zwei Aussagen aus neueren homiletischen Lehrbüchern: (aa) Hans Martin Müller setzt sich einerseits sehr differenziert mit der lutherischen Lehre von Gesetz und Evangelium auseinander; andererseits kann Müller, der als Schüler Emanuel Hirschs das Getroffensein durch das Wort Gottes in das Gewissen des je Einzelnen verlagert, davon sprechen, dass durch die „Predigt des Gesetzes“ die „menschlich unüberwindbaren Bedingungen geschichtlichen Daseins“ „vermittelt“ werden sollten – vermittelt (!), nicht etwa aufgedeckt oder offenbart.275 Das Gesetz führt bei einer solchen Betrachtung nicht zur Erkenntnis des heiligen Willens Gottes und daher zur Aufdeckung der Sünde, sondern wird zur Chiffre für den grundlegend negativen Welt- und Lebenszusammenhang, den Müller mit den neutestamentlichen stoicei/a tou/ ko,smou (vgl. Gal 4,3.9; Kol 2,8.20) identifiziert.276 Aufgabe der Gesetzespredigt sei es dann dementsprechend, die negative Welterfahrung „als Gottes Gesetz und damit als Gewissenserfahrung vernehmbar werden zu lassen“277.

274 Vgl. VOLKMANN: „Gesetz“ und „Evangelium“ in der Predigt, bes. 114–120; STÖHR: Art. Gesetz und Evangelium. Vgl. zur terminologischen Problematik auch BUKOWSKI: Predigt wahrnehmen, 131. 275 MÜLLER, H. M.: Homiletik, 188. 276 Vgl. MÜLLER: Homiletik, 188. Vgl. auch 189, wo Müller von den „Bedingungen seines [des Menschen, AD] Daseins in der Welt“ spricht, die vom Menschen „als ehernes Gesetz erfahren“ würden. 277 MÜLLER: Homiletik, 189 [Hervorhebung im Original].

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(bb) Wilfried Engemann erkennt einerseits – theologisch korrekt –, dass das „Gesetz zur Erkenntnis (der Sünde)“ führe.278 Andererseits bezeichnet er an anderer Stelle seiner Predigtlehre – allerdings in Anführungszeichen – das „Gesetz“ als „Begrenzung der Möglichkeiten des Menschen“.279 Wiederum andernorts heißt es von „Erfahrungen des Schuldig-Werdens und Scheiterns“, dass diese als Erfahrungen bestimmbar seien, „die die Präsenz des Gesetzes zum Ausdruck bringen“280; korrekter müsste es m.E. heißen: Erfahrungen, die aufgrund der Wirkung des Gesetzes als Sünde aufgedeckt werden.

Die Folge solcher Verschiebungen des Gesetzesbegriffs hin zur Chiffre negativ erfahrener Weltwirklichkeit zeigt sich vielfach auch in Predigten, sogar bei Manfred Josuttis, der sich theoretisch ausführlich mit dem Gesetz in seiner Funktion der Aufdeckung der Sünde beschäftigt hat. So heißt es in einer Predigt zu Gal 2,11–21: „Die Geschichte ist offen, auch heute noch. Wir können herausfinden, wie ein menschliches Leben jenseits des Gesetzes, jenseits des Geldes aussieht.“281 Das Gesetz und die die Gegenwart problematisch bestimmende Wirklichkeit des Geldes setzt Josuttis als Mächte, „die menschliches Leben von Grund auf beherrsch[en]“282, in dieser Predigt gleich. (b) Die homiletische Problematik: Ausfall der „Tora“: Josuttis konzentriert das Gesetz in seiner Studie zur „Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart“ vollständig auf den usus elenchticus legis, berücksichtigt den tertius usus nicht und entspricht damit einem weiten Strom der Rezeption im Luthertum.283 Als spezifisch homiletische Problematik folgt daraus die Gefahr des Ausfalls der Predigt der Weisung Gottes („Tora“). Das Ringen um die Frage nach einem tertius usus legis im Luthertum des 20. Jahrhunderts, das etwa zu den Antwortansätzen von Wilfried Joest („usus practicus evangelii“284) und Eilert Herms (usus adhortativus legis285) führte, sowie die eigene Praxis Luthers (etwa in seinen Predigten zum Dekalog bzw. in seinen Katechismen) zeigen aber m.E. die bleibende Notwendigkeit, das Gesetz Gottes als Einweisung in die Lebensform der Heiligung auch im evangelischen Gottesdienst zu predigen.286 Besonders eindringlich hat der Alttestamentler Frank Crüsemann in seinen Veröffentlichungen immer wieder 278

ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 13. Vgl. ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 220 [Hervorhebung im Original]. 280 ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 371. 281 JOSUTTIS: Offene Geheimnisse. Predigten, 21. 282 JOSUTTIS: Offene Geheimnisse. Predigten, 20. 283 Vgl. JOSUTTIS: Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart, 80f. 284 JOEST: Gesetz und Freiheit, 132 u.ö. 285 Vgl. HERMS: Die Bedeutung des Gesetzes, 6. 286 Vgl. ULRICH: Rechtfertigung und Ethik, bes. 54–64; vgl. auch DEEG: 20. Sonntag nach Trinitatis. 279

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auf die Bedeutung der Tora für die christliche Ethik aufmerksam gemacht.287 Im Blick auf die Lehre von Gesetz und Evangelium erkennt er – allerdings m.E. etwas zu pauschal –, dass diese „einen nicht unwichtigen Beitrag zu einer potentiellen Trennung von Glauben und Handeln in theologischer Lehre und kirchlicher Praxis geleistet“ habe.288 Nötig sei demgegenüber ein Lesen der Tora (auch in ihren Einzelbestimmungen) auf dem Weg der Entdeckung des Glaubens „als neue[r] Praxis der Gerechtigkeit“.289 Dieser Impuls lässt danach fragen, wie sich christliche Predigt neu auf die Tora beziehen kann. Heinz-Günther Schöttler geht dieser Frage in seiner Studie zur christlichen Predigt alttestamentlicher Texte ausführlich und hermeneutisch weit reflektierter als Crüsemann nach, u.a. indem er am Beispiel von Lev 19 und unter Rückgriff auf die Kategorie des Fiktionalen aufzeigt, wie ein Toratext als „kreatorische Einübung in die Gegenwart durch Erinnerung in die Zukunft“ hermeneutisch verantwortet gepredigt werden kann.290 Auch blickt er anhand der sogenannten matthäischen Antithesen und mit Bezug auf die jüdische Halacha darauf, „wie in der Nachfolge Jesu die Tora zu leben (‚erfüllen‘)“ und so „in Jesus an der Tora Israels“ zu partizipieren sei.291 Ich folge diesen von Crüsemann und Schöttler gelegten Spuren, frage aber auf dem Hintergrund obiger Erarbeitungen allgemeiner nach einer möglichen christlichen Rezeption des jüdischen Wechselspiels von Haggada und Halacha. Dabei muss es im Folgenden zunächst darum gehen, die beiden bisher getrennt betrachteten Formeln („Haggada und Halacha“ und „Gesetz und Evangelium“) in ihrer möglichen Analogiefähigkeit zu beleuchten.

287

Neben Friedrich-Wilhelm Marquardt als systematischem Theologen; vgl. dazu z.B. MARZur Reintegration der Tora in eine Evangelische Theologie. 288 CRÜSEMANN: Maßstab: Tora, 17. Allerdings versteht Crüsemann die Unterscheidung primär als eine Unterscheidung von Indikativ und Imperativ: Mit der Unterscheidung von „Gesetz und Evangelium, Indikativ und Imperativ“ habe man „ein berechtigtes Teilmoment zum Fundamentalgesetz christlichen Glaubens gemacht“ (16). 289 Vgl. zum Lesen der Tora CRÜSEMANN: Maßstab: Tora, 29–35.63f; vgl. zum Zitat die Bibelarbeit Crüsemanns zu Röm 3,21–31: 67–85, Zitat: 85; vgl. insgesamt auch CRÜSEMANN: Die Tora, bes. 7–13. Die bleibende Bedeutung des alttestamentlichen Gesetzes für die christliche Ethik betont z.B. auch HILPERT: Christliche Moraltheologie, 170–174. 290 Vgl. SCHÖTTLER: Christliche Predigt und Altes Testament, 160–207, Zitat: 186 [Hervorhebungen im Original]; vgl. zu dem für den Gedankengang Schöttlers zentralen Begriff des „Fiktionalen“ 176–182. 291 Vgl. SCHÖTTLER: Christliche Predigt und Altes Testament, 522–621, Zitate: 589.619 [Hervorhebungen im Original]. QUARDT:

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13.3 Haggada und Halacha/Gesetz und Evangelium – zur Verknüpfung der beiden Diskurse Marianne Grohmann versucht in ihrer systematisch-theologischen Dissertation, „Wege einer christlichen Rezeption jüdischer Hermeneutik“ zu entdecken und zu begehen.292 Dabei hält sie die Hermeneutik des Midrasch für besonders interessant, „weil es hier v.a. um Aggada geht: Auf diesem Gebiet könnte eine Verständigung zwischen jüdischer und christlicher Hermeneutik eher möglich sein als in der Halacha, in der das Trennende zwischen Judentum und Christentum immer bleiben wird und die als spezifisch Jüdisches kaum Parallelen im Christentum hat.“293 Natürlich erkennt Grohmann zu Recht, dass die Halacha als Lebensform einen deutlichen und bleibenden Unterschied zwischen Christentum und Judentum markiert. Dennoch stellen sich – im Kontext der bisherigen Überlegungen – zwei Fragen an Grohmanns Aussage: (1) Zum einen erscheint mir fraglich, was im Blick auf die Hermeneutik jüdisch-christlicher Begegnung mit „Verständigung“ gemeint sein kann. Geht es um die widerspruchslose Einheit, den Konsens? Und bedeutet Grohmanns Hinweis, dass als Weg zum Konsens der Weg der Reduktion beschritten werden sollte, d.h. die Suche nach den im Miteinander harmlosen, da unumstrittenen Punkten? Im binnenchristlichen ökumenischen Diskurs wird demgegenüber zunehmend erkannt, wie wenig ein solcher konsensorientierter Weg den einzelnen christlichen Konfessionen gerecht wird und zum Miteinander in der Ökumene beiträgt – eine Grundlegung, die m.E. auch für den christlich-jüdischen Dialog gilt.294 (2) Zum andern zeigten die obigen Reflexionen, dass Haggada und Halacha zwar getrennt voneinander betrachtet werden können, aber hermeneutisch zusammengehören. Die Herausforderung für den christlich-jüdischen Dialog bestünde dann aber darin, Haggada und Halacha als hermeneutischen Wechselschritt in diesen Dialog einzubeziehen.295 Besonders Axel Denecke 292 So der Untertitel der Arbeit: GROHMANN: Aneignung der Schrift. Wege einer christlichen Rezeption jüdischer Hermeneutik. 293 GROHMANN: Aneignung der Schrift, 76. 294 Vgl. BULHOF: Die postmoderne Herausforderung der ökumenischen Bewegung. 295 Sicherlich steht Marianne Grohmann mit ihrer Reduktion nicht allein. Die sich hier andeutende Problematik könnte als die panhaggadische Reduktion des christlich-jüdischen Dialogs bezeichnet und mit vielen Beispielen belegt werden. Es könnte m.E. sogar gefragt werden, ob diese Reduktion nicht insofern typisch ist, als christlich-jüdischer Dialog meist (aber selbstverständlich nicht nur!) mit Vertretern des Reformjudentums geführt wird. Zahlreiche Nähen lassen sich dann schnell in den Blick nehmen, die ihre historischen Wurzeln in einer bewussten (!) Annäherung jüdischen Lebens an christliche Vorbilder im 19. Jahrhundert haben. So sehr auch dieser Dialog fruchtbar ist, bleibt er doch auf einen Sektor jüdischen Lebens beschränkt, und es fallen entscheidende Diskurse aus dem Dialog heraus (wie etwa die Frage nach der Halacha und ihrer Verbindlichkeit für das Leben der Gegenwart).

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und Friedrich-Wilhelm Marquardt haben dazu Modelle entwickelt. Dabei ist die Zielrichtung Deneckes homiletisch, Marquardts systematisch-theologisch und ethisch. Beide rezipieren die Doppelformel; grob lässt sich aber sagen, dass Denecke primär an der Haggada, Marquardt primär an der Halacha Interesse zeigt.

13.3.1 Axel Denecke: Haggada und Halacha in homiletischer Rezeption Axel Denecke war meiner Wahrnehmung nach einer der ersten, der der Homiletik im christlich-jüdischen Dialog nicht nur die Aufgabe zuwies, Antijudaismus in der christlichen Predigt zu vermeiden, sondern vor allem Wege einer formal und inhaltlich erneuerten Predigt zu entdecken. So schreibt er: „Es ist eine neue Homiletik (Predigtlehre) zu entwickeln von Jesus, dem Juden und der persongewordenen Tora, in der halachisch/aggadischen Erfahrungs-, Denk- und Redeweise Jesu, in der Einheit von Glauben und Handeln.“296 Wie das Zitat unterstreicht, hält Denecke für diese Neukonstitution der Homiletik das haggadisch-halachische Miteinander für entscheidend. Unter Verweis auf Chajim Nachman Bialik und Abraham Joshua Heschel zeigt Denecke in seiner Aufsatzsammlung „Als Christ in der Judenschule“ die „untrennbare Verbundenheit, ja innere Verwicklung von Halacha und Aggada“ in der jüdischen Hermeneutik auf.297 „Schriftauslegung gelingt vor Gott dann, wenn ich zugleich und in eins halachisch und aggadisch denke, rede und handle, beides nicht nur halb, sondern voll und ganz, also hundertprozentig.“298 Grundlegend deutet Denecke Halacha dabei als die unbedingte Bindung an jedes einzelne Wort, ja jeden einzelnen Buchstaben der Schrift. Haggada versteht er demgegenüber als die kreative Freiheit der Auslegung der Schrift in die jeweilige Zeit hinein: „a) Voll und ganz, hundertprozentig halachisch jedes Wort, ja jeden Buchstaben des Textes ernst nehmend, kein Jota vergessend oder abstreichend […]. Hier kann man gar nicht observant, akribisch genug jeden Buchstaben wenden und wenden, bis sein Sinn und Geist sich entfaltet. b) Voll und ganz, hundertprozentig aggadisch: in freier und ungebundener Kreativität die ‚großen Taten Gottes‘ weitererzählend und bis in alle Ecken und Winkel der Welt tragend, darauf vertrauend, daß Gott meinen Geist und meine Phantasie

296

DENECKE: Als Christ in der Judenschule, 141. Vgl. DENECKE: Als Christ in der Judenschule, 97–103, Zitat: 102. 298 DENECKE: Als Christ in der Judenschule, 102. Zu bedenken bleibt allerdings, dass die Wendung „zugleich und in eins“ nur dann zutrifft, wenn man die rabbinische Literatur insgesamt betrachtet. Die je einzelnen Aussagen und Abschnitte in Talmud und Midrasch lassen sich (in aller Regel deutlich) der Haggada bzw. der Halacha zuweisen. 297

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dazu benutzen will, seine eine Wahrheit in vielfältiger Weise in dieser Welt in Erscheinung treten zu lassen.“299

Diese Gleichzeitigkeit von hundertprozentiger Bindung und hundertprozentiger Freiheit sieht Denecke als anregend für christlichen Umgang mit der Schrift in homiletischem Kontext. Auch hier gelte es, die eine, hundertprozentige Bindung zu beachten: die Bindung an Jesus Christus als das fleischgewordene Wort Gottes: „Wir haben die fleischgewordene Tora, unsere Halacha Christus so akribisch ernst zu nehmen, wie die Juden ihre Halacha ernst nehmen.“300 Mit dieser „halachischen“ Grundlegung verbindet Denecke eine kritische Pointe gegenüber allen anderen christlichen Dogmen, die von der einen Halacha her in Frage gestellt werden müssten.301 Das Festhalten der einen Christus-Halacha öffne den Raum für die haggadische Weitererzählung „mit Freude und unbegrenztem Einfallsreichtum […], ohne Angst vor Häresien, ohne Berührungsängste mit anderen Kulturen und Religionen“302. Verliere das Christentum eine der beiden Dimensionen – wie es nach Denecke oft genug in Geschichte und Gegenwart geschah und geschieht303 –, so gingen beide Aspekte des Wechselspiels verloren: „Wie auch immer man es wendet, gelingt das eine nicht – streng halachisch zu denken, zu reden, zu glauben, zu handeln –, dann kann auch das andere – frei und grenzenlos offen aggadisch zu reden, zu denken, zu glauben, zu handeln – nicht gelingen.“304 Mit diesen Überlegungen gelingt Denecke ein Doppeltes: (1) Im Blick auf die homiletische Hermeneutik deutet er eine faszinierende Perspektive an, die die Freiheit der Auslegung als eine Freiheit versteht, die durch die grundlegende und unaufgebbare christologische Bindung überhaupt erst ermöglicht wird.305 Mit Denecke gilt es zu unterstreichen, dass gerade im christlich-jüdischen Gespräch die Deutlichkeit der eigenen christologischbestimmten Identität nicht aufgegeben oder nivelliert werden darf. Vielmehr 299

DENECKE: Als Christ in der Judenschule, 102f [Hervorhebungen im Original]; vgl. auch 135f. Kurz zusammengefasst finden sich diese Überlegungen auch in DENECKE: Lob der Sonntagspredigt, 240f. 300 DENECKE: Als Christ in der Judenschule, 103f; vgl. auch 79. Inhaltlich kann Denecke diese Christus-Halacha noch näher bestimmen als „die grundsätzliche und gründliche Menschenfreundlichkeit Gottes – sein JA zum Leben, sein NEIN zum Tod – in der fleischgewordenen Tora Jesus Christus“ (106). 301 Vgl. DENECKE: Als Christ in der Judenschule, 104f. Denecke führt das Gesagte hier am Beispiel des Dogmas der Jungfrauengeburt aus, das er als haggadische Weitererzählung der einen Christus-Halacha versteht. Ziel sei es, einen Blick für die Pluralität verschiedener „Geburtsaggadot“ zu gewinnen (105). 302 DENECKE: Als Christ in der Judenschule, 105f; vgl. auch 80.97. 303 Vgl. die Beispiele DENECKE: Als Christ in der Judenschule, 140. 304 DENECKE: Als Christ in der Judenschule, 108. 305 Vgl. dazu auch DENECKE: Die Texte sind offen.

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ist die durch sie entstehende Spannung auszuhalten und innerhalb dieses (bleibenden!) Dissenses nach Verbindendem zu suchen.306 (2) Zweitens wird es Denecke – im Blick auf die homiletische Praxis – möglich, einen neuen Blick auf die Problematik der „Gesetzlichkeit“ christlicher Predigt zu werfen: „Gesetzlichkeit“ werde zum Phänomen dort, wo der Pol der Bindung ohne den Pol der Freiheit gesehen und die Predigtrede so starr werde307 bzw. umgekehrt der Pol der Freiheit ohne den Pol der Bindung betrachtet werde, wodurch die Predigtrede in die Beliebigkeit abgleite308. „Unsere christliche Verkündigung leidet darunter, daß wir meist weder gut halachisch noch gut aggadisch predigen, sondern beides nur mit halbem Herzen tun und damit eben ‚gesetzlich‘ predigen.“309 Zwei miteinander verbundene Fragen sind m.E. aber kritisch im Blick auf Deneckes Ansatz zu stellen: (1) Wird die Doppelformel von Halacha und Haggada nicht zu stark epistemologisch formalisiert, wenn sie (vor allem) als die Unterscheidung von Bindung und Freiheit betrachtet wird? Droht die jüdische Unterscheidung von Halacha und Haggada hier nicht ihre Spezifität als Miteinander zweier distinkter Weisen des Umgangs mit der Schrift und der Tradition, d.h. ihren hermeneutischen Kontext, zu verlieren? Damit allerdings wäre Halacha dann nicht mehr nur die dogmatische Voraussetzung für die Ermöglichung der hermeneutischen Methodik der Haggada – wie es im Miteinander von christologischer Bindung und haggadisch-erzählender Freiheit tendenziell erscheint. Beide wären als analogiefähige Arten und Weisen des Umgangs mit der Schrift zu verstehen. So sind ja auch im rabbinischen Judentum beide Formen des Umgangs mit der Schrift, Halacha und Haggada, auf eine genaue, jedes Wort und jeden Buchstaben beachtende Lektüre angewiesen, die dann freilich zu unterschiedlichen Ergebnissen kommt und als Haggada in die Weite der Gottesgeschichte mit seinem Volk und der Menschheit, als Halacha in die Konkretion der Lebensgestaltung im Kontext der Mizwot einführt. (2) Die zweite Frage ergibt sich unmittelbar aus der ersten: Halacha ist bezogen auf das Handeln des Glaubenden in der Welt. Die Schrift wird in der Halacha als Möglichkeit entdeckt, einen gangbaren Weg des Lebens zu suchen und zu finden, und daraufhin befragt (vgl. vor allem Heschel). Diese ethische Pointe der Halacha kommt bei Deneckes Betrachtung nur andeutungsweise

306

Vgl. DENECKE: Als Christ in der Judenschule, 62–64, und vgl. oben Kap. 8.1.3. Es bestehe die Gefahr, die Freiheit der Haggada „gegen Jesu Intention selbst halachisch“ zu dogmatisieren (DENECKE: Als Christ in der Judenschule, 80). 308 Vgl. DENECKE: Als Christ in der Judenschule, 80f.140. 309 DENECKE: Als Christ in der Judenschule, 138 [im Original hervorgehoben]. 307

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vor;310 sie wird aber zum Ausgangspunkt der Betrachtungen FriedrichWilhelm Marquardts zum Thema.

13.3.2 Friedrich-Wilhelm Marquardt: Halacha (und Haggada) in dogmatischer Rezeption Der im Jahr 2002 verstorbene Berliner Systematiker Friedrich-Wilhelm Marquardt311 versucht in seiner systematischen Theologie, dort wieder neu einzusetzen, „wo einst das Christentum das jüdische Volk verließ und verstieß: in der biblischen Wirklichkeitsordnung“312. Es gehe darum, zurückzukehren zur Bibel Israels und damit zur Geschichte und Gemeinschaftsgerechtigkeit des lebendigen Gottes.313 Diese Rückkehr zur Bibel Israels geht bei Marquardt einher mit einer neuen Offenheit für das Lernen von jüdischer Schriftauslegung.314 Das Schwergewicht legt Marquardt dabei auf ein Lernen von der Halacha, sodass er seine Prolegomena der Dogmatik „als Evangelische Halacha“ – in Bezugnahme auf und doch notwendiger Verschiedenheit von jüdischer Halacha – konzipiert.315 Jüdische Halacha sieht Marquardt vor allem durch ihren Bezug auf die Lebensführung im Alltag sowie auf die Gemeinschaft der durch diese Lebensführung Verbundenen charakterisiert: • Halacha sei auf den Lebenswandel gemäß der Gebote Gottes bezogen, nicht hingegen auf das (religiöse bzw. bibelgemäße) Denken (dies sei die Aufgabe der

310

Vgl. z.B. den Satz: „Halacha verleiht der Aggada Erdenschwere und Konkretion“ (DENEAls Christ in der Judenschule, 103; ähnlich 137f). Auch spricht Denecke davon, dass die Halacha im Judentum der „Verankerung im Leben“ diene (140). Insgesamt fällt auf, dass sich in Deneckes Buch Aussagen über die Bedeutung der Halacha als Weisung des konkreten Tuns vor allem im dritten Aufsatz des zweiten Teils finden (vgl. 133–142 [Daß Jesus unsere einzige ‚Halacha‘ ist und wie wir die Jesus-‚Aggada‘ weitererzählen. Zusammenfassende Thesen zu ‚Gesetz und Evangelium‘ – ‚Halacha und Aggada‘ – ‚Freude an der Tora‘], bes. 138), kaum aber in den vorauslaufenden grundlegenden Bestimmungen (vgl. 61–82.86–108). 311 Vgl. zur Biographie und Bibliographie Marquardts PANGRITZ: „Mich befreit der Gott Israels“, bes. 33–42. 312 MARQUARDT: Von Elend und Heimsuchung, 8. 313 Vgl. vor allem MARQUARDT: Von Elend und Heimsuchung, 11–34; vgl. auch 35.151. 314 Vgl. MARQUARDT: Von Elend und Heimsuchung, 151. 315 Vgl. MARQUARDT: Von Elend und Heimsuchung, 166–262 [Prolegomena zur Dogmatik als Evangelische Halacha]. Vgl. zur notwendigen Differenz bereits 166 [im Original hervorgehoben]: „In notwendiger Verschiedenheit von jüdischer Halacha befinden wir uns, weil wir auf unseren Weg nicht durch Gesetzestraditionen, sondern nur von Jesus Christus gebracht werden können, der allein uns auf biblische Texte einer uns bindenden Evangelischen Halacha stoßen kann.“ Vgl. dazu auch 181f.209f. Vgl. zu einer kritischen Rezeption der Aufnahme des jüdischen Terminus der Halacha durch einen christlichen Systematiker KAL: Eine universale Halacha, bes. 26.

CKE:

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Haggada).316 Daher widme sich die Halacha den Details des Alltags „in der denkbar genauesten Konkretheit“317 und komme hier zu verbindlichen Aussagen.318 • Es gehe in der Halacha weniger um das Lehren als vielmehr um das gemeinsame Lernen319 in einem unabgeschlossenen und kontroversen Diskurs.320 Halacha habe daher eine „ekklesiologische“ Dimension, da sie auf die Gemeinschaft der Lesenden und Diskutierenden angewiesen sei und Verstehen nicht auf die Individualität des Verhältnisses Gottes zur je einzelnen Seele reduzieren könne.321

Epistemologisch bedeute ein christliches Lernen von der Halacha, den Primat des Handelns neu zu entdecken: „Darum geht es für Christen zuerst um neue Lebensverbindlichkeiten, damit es um andere Denkmöglichkeiten gehen kann als bisher.“322 In dieser Hinsicht müsse der „Erkenntniswert des Handelns“ bedacht werden.323 Hermeneutisch rückt damit die Wahrnehmung der Lebensorientierung der Schrift wieder ins Zentrum. Es geht Marquardt um eine der Halacha analoge Schriftauslegung als Entdeckung gottgewollten menschlichen Handelns. Allerdings tendiert Marquardt m.E. dazu, die Halacha zu stark in den Mittelpunkt zu rücken und dabei die Haggada zu verdrängen. Dass Haggada und Halacha nur im Miteinander Bedeutung haben, beachtet Marquardt zwar theoretisch durchaus, für seine Praxis hat diese Erkenntnis aber wenig Bedeutung. So schreibt er: „In dieser Unterschiedenheit gehören aber Halacha, die Bibelauslegung, die zum Tun hilft, und Haggada, die Bibelauslegung, die zur Weisheit und zum Wissen hilft, zusammen – das Erkennen, Wissen, Denken freilich unter dem Primat des Tuns: als sein Motivations-

316

Vgl. MARQUARDT: Von Elend und Heimsuchung, 181f.202. MARQUARDT: Von Elend und Heimsuchung, 182. 318 Vgl. MARQUARDT: Von Elend und Heimsuchung, 182: „Praxis ist verbindlich, Theorie frei – gerade umgekehrt zur protestantischen Tradition, in der Lehre verbindlich, Tun aber frei ist.“ 319 Vgl. MARQUARDT: Von Elend und Heimsuchung, 163f: „Der Talmud ist ein Lernbuch, kein Lehrbuch, ein Buch der Gespräche, nicht der Verfügungen und Entscheidungen.“ 320 Vgl. MARQUARDT: Von Elend und Heimsuchung, 182. 321 Vgl. MARQUARDT: Von Elend und Heimsuchung, 202. 322 MARQUARDT: Von Elend und Heimsuchung, 153; vgl. ähnlich auch STÖHR: Die nicht gelernte Weisung. 323 Vgl. MARQUARDT: Von Elend und Heimsuchung, 213–261, Zitat: 213. Interessant erscheint mir, wie sich diese Grundlegung Marquardts aus seinen dogmatischen Prolegomena in anderen Feldern der Systematischen Theologie auswirkt. Ich verweise nur exemplarisch auf den ersten Band von Marquardts Eschatologie: „Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften?“. Das Materiale dieser Eschatologie entwickelt er nur zum geringen Teil aus der biblischen Verheißung (vgl. 152–200), zum weitaus größeren Teil aus dem biblischen Gebot, das er als Form der Verheißung versteht. Konkret betrachtet Marquardt dazu die im rabbinischen Judentum als Halacha für die Heiden zusammengefassten sieben noachidischen Gebote, die er „als Weisungen an Gojim, die Hoffnungslosigkeit der Welt zu überwinden“ (vgl. 152.200–321, Zitat: 152) versteht und daher eschatologisch deutet. Vgl. dazu auch Lyotard, der Ethik als „empirische Eschatologie“ verstand (WOHLMUTH: Traktat über die Sprache, 53). 317

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feld, seine Sinnbestimmung und geistig-seelischer Kontext.“324 Die Haggada ordnet sich bei Marquardt tendenziell als bloße Motivation in ein linearkonsekutives Modell ein, das auf die Halacha zuläuft.325

13.3.3 Zur Frage nach der Analogie der Doppelformeln Halacha & Haggada und Gesetz & Evangelium Denecke und Marquardt zeigen, in welche Richtungen Haggada und Halacha christlich rezipiert werden könnten. Das Begriffspaar Gesetz und Evangelium setzen sie dabei kaum mit Haggada und Halacha in Verbindung,326 obwohl mit beiden Formeln auf den ersten Blick durchaus Analoges im Blick zu sein scheint: Beide beziehen sich auf den Umgang mit der (jeweils natürlich verschiedenen) Heiligen Schrift und sind daher als hermeneutische Formeln zu lesen. Darüber hinaus ist es sowohl bei der Unterscheidung von Haggada und Halacha als auch bei der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium von entscheidender Bedeutung, die beiden Aspekte zusammenzuhalten. Aus der Panhalachisierung entwickelt sich – wie oben gezeigt – eine sekundäre Haggada sowie eine veränderte Halacha, ebenso umgekehrt aus der Panhaggadisierung; im Kern geht in beiden Fällen die Lebendigkeit des Bezugs auf die Schrift verloren. Auch dies gilt analog für einen christlichen Antinomismus, der sich als „Pan-Evangelismus“ bezeichnen ließe, ebenso wie für den Versuch des Nomismus, der als „Pan-Gesetzlichkeit“ bestimmt werden könnte. Trotz dieser Ähnlichkeiten darf aber nicht übersehen werden, dass sich Gesetz und Evangelium einerseits, Haggada und Halacha andererseits auf kategorial unterschiedlichen Ebenen bewegen. Bezieht sich die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zunächst auf die unverfügbare Wirkung der Schrift als Heiliger Schrift (Ereignis), so bezieht sich die Unterschei324

MARQUARDT: Von Elend und Heimsuchung, 182. So spricht Marquardt auch vom „Primat der Halacha vor der Haggada“ (MARQUARDT: Von Elend und Heimsuchung, 192; vgl. auch 202f). Eine Akzentverlagerung und Korrektur gegenüber dieser die Haggada zurückdrängenden Sicht erkenne ich in Marquardts Aufsatz „Vom Rechtfertigungsgeschehen zu einer Evangelischen Halacha“; vgl. dazu unten Kap. 13.4.3, 458f. 326 Bei Marquardt leuchtet diese Verbindung nicht auf; im Gegenteil wehrt er sich gegen das „gesetzeskritische Systemprinzip des Protestantismus“ (MARQUARDT: Von Elend und Heimsuchung, 187). Notwendig sei „eine rigorose Kritik der evangelischen Gesetzeskritik“. Bei Denecke erscheint die Frage nach „Gesetz und Evangelium“ zwar im Titel seines Aufsatzes „Daß Jesus unsere einzige ‚Halacha‘ ist und wie wir die Jesus-‚Aggada‘ weitererzählen. Zusammenfassende Thesen zu ‚Gesetz und Evangelium‘ – ‚Halacha und Aggada‘ – ‚Freude an der Tora‘“ (DENECKE: Als Christ in der Judenschule, 133–142). Denecke geht in seinen Ausführungen aber nicht näher auf die reformatorische Doppelformel ein. 325

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dung von Halacha und Haggada inhaltlich auf das literarische Korpus der mündlichen Tora, methodisch auf den Umgang mit der Tora und ethisch auf die Lebensform des Einzelnen und der Gemeinschaft (vgl. Bialik, Kadushin, Heschel). Gerade dieser kategoriale Unterschied zwischen den Formeln Gesetz und Evangelium und Haggada und Halacha aber macht m.E. die Wahrnehmung der jüdischen hermeneutischen Doppelformel für die christliche Homiletik und Hermeneutik interessant. Die Äquivokation, die sich dort ergibt, wo die Doppelformel von Gesetz und Evangelium in den Bereich homiletischer Machbarkeit und hermeneutischer Verfügbarkeit übergeht, wurde bereits oben kritisiert. Haggada und Halacha beschreiben demgegenüber unterschiedliche und jeweils gangbare Wege des Umgangs mit der Tora sowie deren Ergebnis und Auswirkung ins Leben hinein. Für christliche Homiletik bestünde daher m.E. die Möglichkeit, Halacha und Haggada analog zu rezipieren, um den Äquivokationen im Reden von Gesetz und Evangelium zu entgehen. Es böte sich die Chance, so meine These, neben den drei homiletisch vielfach beachteten genera dicendi antiker Rhetorik zwei weitere zu gewinnen. Die drei antiken genera sind vor allem durch die Redesituation charakterisiert, in die sie gehören (genus iudiciale – Gericht; genus deliberativum – Forum; genus demonstrativum – Fest).327 Bei ihrer homiletischen Rezeption war nie völlig klar, inwiefern die Predigt tatsächlich von ihnen lernen und im Blick auf die Gerichts-, politische oder Festrede gestaltet werden kann. So schreibt Wilfried Engemann: „Jede gelungene Rede hat Elemente aller drei Gattungen: Man kann sich keine Rede vorstellen, die nicht in irgendeiner Hinsicht zur Urteilsbildung beitrüge, die sich nicht mit bestimmten Auffassungen auseinandersetzte, ganz ohne Wertungen auskäme und nicht auch einen Impuls für künftiges Handeln setzte.“328 Und bereits Augustin wusste, „daß die genera dicendi der Rhetorik nur bedingt auf die Homiletik anwendbar sind“329. Demgegenüber hätten die beiden neuen genera dicendi eines Redens in Analogie zu Haggada und Halacha den Vorteil, dass sie grundlegend in einem hermeneutischen Kontext verankert und damit der Predigtsituation nahe sind. Haggada und Halacha weisen als mündliche Tora auf Wege des Umgangs mit der schriftlichen; dies bringt 327 Eine gelungene tabellarische Übersicht bietet ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 292–294, Tabelle: 293. 328 ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 293 [Hervorhebungen im Original]. 329 MÜLLER, H. M.: Homiletik, 33 [Hervorhebung im Original]; vgl. insg. 27–35 [Augustins Predigtlehre], und dazu AUGUSTINUS: Die christliche Bildung, 149–211 [Viertes Buch]. Auch im Kontext seiner eigenen Darstellung der formalen Homiletik kommt Hans Martin Müller auf die genera dicendi zu sprechen. Hier betont er, dass der liturgische Kontext der christlichen Predigt eine unmittelbare Übernahme der drei antiken Redeformen unmöglich mache: „[…] der gottesdienstliche Ort verändert den Charakter der Redesituation und damit der Rede selbst.“ (MÜLLER: Homiletik, 265; vgl. insg. 264f).

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sie in die Nähe der Predigt, die – als Textpredigt – durch Kon-Textualisierung eines Bibelwortes zu einem eigenen Reden zu gelangen sucht (Kap. 11.1). Im folgenden Abschnitt versuche ich daher, über die bisherigen Andeutungen hinaus konkrete homiletische Lernpotentiale aus der Doppelformel von Haggada und Halacha aufzuzeigen (13.4.2–13.4.4). Zuvor jedoch soll kurz nach der homiletischen Bedeutung der lutherischen Doppelformel Gesetz und Evangelium gefragt werden (13.4.1).

13.4 „Haggalachische“ Predigtrede. Homiletische Perspektiven 13.4.1 Die Doppelformel Gesetz und Evangelium homiletisch ernst nehmen Die obige Betrachtung (13.2.2) unterstrich: Die reformatorische Doppelformel von Gesetz und Evangelium neu in ihrer homiletischen Pointe zu entdecken, bedeutet vor allem, mit dem spannungsreich als Gesetz und Evangelium wirkenden Wort Gottes in der Predigt zu rechnen. Auf dieser Grundlage lassen sich zwei entscheidende Aspekte einer Predigt als KonTextualisierung nochmals in den Blick nehmen: (1) Voraussetzung für eine kon-textualisierende Predigt ist es, am Reden des biblischen Textes zu bleiben, das sich nicht auf eine explizierbare und sekundär applizierbare Bedeutung reduzieren lässt. (2) Daraus wird eine Bescheidenheit der Predigenden resultieren, die einerseits entlastet und andererseits gerade deshalb homiletische Verantwortung zuweist. (1) Luther selbst setzte sich in seinen Predigten über jede Einebnung der Formel von Gesetz und Evangelium in ein homiletisches Schema hinweg und hielt sich stattdessen an das verbum externum, an den Buchstaben der Schrift.330 Gegenüber den Schwärmern hob er hervor: „Solchs rede ich darumb, das man nicht uber den Text hin schnurre wie die rohen geister und lerne, wo zu solch eußerlich wort und weise nutz und not sey, nemlich das man damit das hertz zusamen halte, das nicht zurstrewet werde, und sich mit den gedancken an die buchstaben heffte, wie man sich mit der faust an ein bawn odder wand halten mus, auff das wir nicht gleiten odder zu weit fladdern und irre faren mit eigenen gedancken. Das manglet unsern schwermern, das sie meinen, wenn sie jnn ihre hohe geistliche gedancken faren, so haben sie es troffen, und sehen nicht, wie sie on wort des holtzweges faren, lassen sich eitel irre wissche verfüren.“331

Luther beschreibt die Problematik einer über die Buchstaben der Schrift hinwegfahrenden Abstraktion in „hohe[n] geistliche[n] gedancken“ sowie 330 331

Vgl. zum verbum externum bei Luther MÖLLER: seelsorglich predigen, 21. WA 28, 77, 25–33 (Predigt zu Joh 17,1 am 08.08.1528).

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die Gegenbewegung eines Sich-Festmachens am äußeren Wort, „wie man sich mit der faust an ein bawn odder wand halten mus“. Auch midraschischer Umgang mit der Tora in rabbinischer Zeit ist davon gekennzeichnet, dass sich der Ausleger erwartungsvoll im Text der Tora gründet (apriorische Tora-Erwartung): Vor aller Beschäftigung mit der Tora steht fest, dass in der Tora alles, die gesamte Welt- und Gotteswirklichkeit, zu suchen und zu finden ist – ein Apriori, das sich im lebendigen Umgang mit der Tora immer wieder aufs Neue selbst bestätigt.332 Analog ließe sich bei Luther von einer apriorischen Wort Gottes-Erwartung in der Heiligen Schrift sprechen.333 Im Lesen und Hören des Wortes der Schrift wird sich – so Gott will – das lebendige Wort Gottes (viva vox evangelii) vernehmen lassen. Der entscheidende Unterschied zwischen der jüdischen Tora-Erwartung und der christlichen Wort Gottes-Erwartung liegt freilich in der christologischen Bindung christlicher Erwartung. Es gilt, die drei particulae exclusivae der Reformationszeit in ihrem Miteinander zu bedenken: Nur durch die Schrift (sola scriptura) ereignet sich Christus als das lebendige und rechtfertigende Wort Gottes (solus christus) im Glauben (sola fide). Christlicher Glaube ist in dieser Hinsicht unaufgebbar logo-zentrisch strukturiert, da er auf den Logos als das fleischgewordene Wort Gottes verweist. Dieser Logos offenbart sich aber im Buchstaben der Schrift und entzieht sich in dieser Offenbarung dem verstehenden Zugriff immer wieder neu.334 Predigtvorbereitung 332 333

Vgl. oben Kap. 3.2. Vgl. auch meine Ausführungen zur apriorischen Kanon-Erwartung oben Kap. 11.1.2.1, 305–

307.

334

Daher erscheint mir – worauf ich hier nur in einer Anmerkung eingehen kann – dieser christliche Logo-Zentrismus deutlich von dem unterschieden, was Derrida pejorativ als den „Logozentrismus“ abendländischer Hermeneutik apostrophiert und bereits mit Platons „Phaidros“ (vgl. bes. Kap. 59–64 [=274b–279c]) beginnen sieht. Logozentrismus charakterisiert nach Derrida eine Hermeneutik, die feste Bedeutungen von Texten voraussetzt, welche durch eine außerhalb des Textes angenommene Instanz (außersystemische Präsenz) garantiert werden. Derrida lehnt solche außersystemische Präsenz grundlegend ab. Entscheidend ist für ihn der Text mit seinen Signifikanten. Dem Logozentrismus setzt Derrida den Neologismus der „différance“ entgegen, der zum Kernbegriff seiner Hermeneutik wird. Im Sinne Derridas wäre es unangemessen, différance definieren (eingrenzend verstehen!) zu wollen. Der Begriff changiert zwischen „différencier“ (eine Differenz/einen Unterschied erzeugen) sowie „différer“ (aufschieben) und bewegt sich so zwischen der Differenz erzeugenden Tätigkeit und der Verzögerung der Präsenz. Der leere Raum, der durch die différance zwischen den Signifikanten geschaffen werde, erscheint als die Voraussetzung eines bestenfalls punktuell zu denkenden Bedeutens (vgl. dazu DERRIDA: Positionen, bes. 63–71; HAWTHORN: Grundbegriffe, 59f). Versucht man, christliche Hermeneutik in diese Begrifflichkeit einzutragen, so zeigt sich einerseits, dass das sola scriptura christliche Hermeneutik auf der Seite der différance festhält. Die Schrift bleibt unabgeschlossen in ihrem Bedeutungspotential. Dagegen aber setzt das sola fide die (allerdings nicht feststehende, sondern sich ereignende!) außersystemische Präsenz voraus: Es ist mit Ereignissen zu rechnen, in denen sich das Wort der Schrift als bedeutsam erweist. Solus Christus verbindet als fleisch- und buchstabegewordener logos die Offenheit der différance mit der Stabilität eines Logozentrismus und garantiert so die erwartungsvolle Dynamik zwischen beiden.

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und Predigt, die hermeneutisch in der Wort-Gottes-Erwartung gründen, werden sich daher immer neu an das Wort der Schrift halten in der Hoffnung, dass sich darin Gottes Wort (erneut in der Grundspannung von Gesetz und Evangelium) ereignet. (2) Für Predigende bedeutet diese Wahrnehmung der homiletischen Aufgabe: Als Predigerin und Prediger bin ich nicht dafür verantwortlich, dass Gottes Wort als Gesetz und Evangelium wirkt, wohl aber dafür, den kategorialen Unterschied zwischen meinen Sprachbemühungen und der sakramentalen Wirkung des Wortes Gottes im Blick zu behalten und im eigenen Reden den Raum, in dem sich Bedeutung ereignen kann, sprachlich zu eröffnen.335 Eine Bescheidenheit des Predigers/der Predigerin resultiert aus dieser Unterscheidung, die die Wahrnehmung von Verantwortung eigentlich erst möglich macht, da sie der Verantwortung den ihr zukommenden Ort zuweist. An dieser Stelle ist daher erneut336 vor der Überforderung des Predigenden zu warnen, die sich in manchen Homiletiken zeigt, auch dort, wo das Ziel explizit die Vermeidung von Überforderung ist – wie etwa bei Hans van der Geest. Der Prediger brauche sich nicht anzumaßen, „Herold oder Zeuge“337 zu sein; er müsse nicht für die biblischen Worte oder die Wahrheit der Verkündigung insgesamt einstehen, so van der Geest. Es genüge, wenn er entdecke, „wo die Relevanz des Bibelwortes“ für die Gegenwart liege und zu dieser Einsicht stehe.338 In Aufnahme von Ernst Lange sieht van der Geest den Prediger als „Anwalt der Hörer“ und „Anwalt des Textes“, der die Tradition auf ihre gegenwärtige Bedeutung hin untersuche.339 Zu fragen wäre m.E., ob dies nicht bereits zu viel verlangt. Wird der Prediger/die Predigerin dadurch nicht zur entscheidenden, zwischen dem Text und der Gemeinde vermittelnden Instanz, indem er oder sie aus dem Text heraus eine gegenwärtig bedeutsame Aussage entwickelt, anstatt mit der Gemeinde getrieben von der Wort Gottes-Erwartung Wege in den Text hinein zu unternehmen? Ich erinnere nochmals an den jüdischen Prediger Nehemia A. Nobel: Die Faszination, die Franz Rosenzweig für ihn empfand, rührte – wie oben gezeigt340 – gerade nicht daher, dass hier ein von der Relevanz der von ihm ermittelten Textaussage über335 Axel Denecke unterstreicht die Bedeutung der Reflexion der Predigtrede im Kontext des Sakraments: Die Kanzel sei „Ort des Heiligen, wo das Wunder des Glaubens sich ereignen kann – so Gott will. Da geschieht das Sakrament der Wandlung der bloßen und nackten Menschenworte (Luther) in das heilige und Glauben stiftende Wort Gottes.“ (DENECKE: Lob der Sonntagspredigt, 236). 336 Vgl. bereits oben Kap. 11.1.2.1; 11.3.3.2, 352–356. 337 VAN DER GEEST: Du hast mich angesprochen, 100. 338 VAN DER GEEST: Du hast mich angesprochen, 104; vgl. auch 108: „Hauptaufgabe des Predigers ist nicht, daß er den Text weitergibt. Sein Amt ist es, das Bibelwort zu betrachten, zu befragen und das Relevante darzustellen.“ 339 Vgl. VAN DER GEEST: Du hast mich angesprochen, 108; vgl. zur Aufnahme Langes 103. 340 Vgl. oben Kap. 6.3.2, 180–183.

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zeugter „Anwalt der Tradition“ vor der Gemeinde stand, sondern ein selbst den Dialog mit dem Text Suchender, der durch diesen Dialog den Raum für eigene Dialogerfahrungen der Hörerinnen und Hörer schuf.

Achtet man homiletisch neu auf die soteriologisch-hermeneutische Doppelformel von Gesetz und Evangelium, so ergibt sich die methodische Frage, wie dann mit dem in den Mittelpunkt rückenden Bibeltext in der Predigt umgegangen werden kann. An diesem Punkt scheint mir eine Rezeption der jüdischen Doppelformel von Haggada und Halacha als homiletische genera dicendi für eine Predigt als Kon-Textualisierung hilfreich.

13.4.2 Von der Haggada lernen Oben (13.1.1.1) habe ich drei Kennzeichen der Sprachspiele der Haggada auf der Grundlage eines Beispieltextes erarbeitet: (1) Genauigkeit im Lesen des Textes als Spielfeld der Haggada, (2) Unabgeschlossenheit der Deutung als Spielregel der Haggada, (3) Entdeckung der Weltwirklichkeit Gottes im Text als Erfahrung im Spiel.

Rezipiert man das genus dicendi der Haggada homiletisch, so folgt daraus grundlegend: Predigt als Inszenierung des biblischen Textes in Analogie zur Haggada eröffnet einen intertextuellen Raum zwischen Gottes- und Weltwirklichkeit, der individuelle Verortungen ermöglicht. In meinen Ausführungen zur Hermeneutik, Methodik und Pragmatik einer homiletischen Textlektüre (Kap. 11) wurde diese These bereits ähnlich formuliert und in wesentlichen Aspekten entfaltet. Ich rekapituliere daher – bezogen auf die drei Kennzeichen haggadischer Sprachspiele – nur knapp drei grundlegende Aspekte einer Predigtrede in Analogie zum genus dicendi der Haggada. (1) Predigtrede in Analogie zum genus dicendi der Haggada führt aufgrund der genauen Lektüre des Textes in einen Raum der Deutungen des biblischen Wortes. Dieser Raum entsteht durch das „Umwenden“ des Textes der Schrift (vgl. mAv 5,22) und umgreift – wie oben gezeigt341 – die Generationen. In ihm finden sich altkirchliche, reformatorische und neuzeitliche Interpretationen ebenso wieder wie gegenwärtige exegetische Bemühungen. Er schließt die Wahrnehmung der Auslegungen aus dem Judentum ebenso ein wie den Umgang nicht-professioneller Ausleger mit dem biblischen Wort. Und er regt die Gemeinde zu eigenen Verortungen und Wahrnehmungen an. Kein Ausleger kann den Text abschließend behandeln, und Pre341

Vgl. oben Kap. 11.2.1.2.

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digtrede in Analogie zum genus dicendi der Haggada gelingt daher, wenn sie bewusst ambiguitär bleibt und zu neuem Lesen des Textes führt.342 (2) Predigtrede in Analogie zum genus dicendi der Haggada verzichtet auf die Ermittlung eines Text-Skopus. Es geht ihr nicht um die abstrakt zu ermittelnde Aussage, sondern darum, die Phantasie und Imagination des Auslegers und der Hörenden mit den Worten des Textes zu vernetzen. In Aufnahme eines aus der jüdischen Tradition gewonnenen Bildes: Wie erst durch die Hinzufügung der Vokale aus dem unpunktierten hebräischen Konsonantentext der Tora die Lesung werden kann, so wird aus dem Text der Schrift unter Hinzufügung der Person der Predigenden und ihrer Situation das Wort der Predigt. Aufgabe der Predigenden ist – im Bild – die „Vokalisierung“ des vorgegebenen Konsonantentextes, nicht aber die Abstraktion einer Aussage auf der Basis dieses Textes.343 (3) Predigtrede in Analogie zum genus dicendi der Haggada wird zum intertextuellen Geschehen. Sie lässt sich hineinziehen in das Spannungsfeld der Worte, Bilder und Geschichten des biblischen Textes und der sich daraus ergebenden biblischen Kontexte und ermöglicht es den Hörenden, die Fäden der eigenen Lebensgeschichte und der je aktuellen Situation mit den Worten des biblischen Textes zu verweben, ohne dass die Predigenden zu direkt applikativen Aussagen genötigt sind. Blickt man auf die homiletische Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte, so lässt sich feststellen, dass eine Predigt, auf die die genannten Kennzeichen einer Rede in Analogie zum genus dicendi der Haggada zutreffen, vielfach gesucht wurde. Bereits 1971 stimmte z.B. Rudolf Bohren in seiner „Predigtlehre“ ein „Kleines Lob der Homilie“ an344 und verstand die Homilie dabei als Komposition eines neuen Stückes unter Aufnahme einer vorgegebenen Melodie, als Bearbeitung bzw. Dehnung des biblischen Textes,345 als einen Weg, „dem Text im Predigen das Wort“ zu erteilen und ihn so weiterzuführen346. Auch das Leitwort einer Predigt als Inszenierung des biblischen Textes, das seit den 1980er Jahren homiletisch bedeutsam wurde, kann hier angeführt werden. Der Begriff wurde zuerst von Henning Luther geprägt und im vergangenen Jahrzehnt in semiotischer und rezeptionsästhetischer Perspektive intensiv aufgenommen.347 Gegenüber der seit den 1970er 342

Vgl. zum Begriff der „taktischen“ neben der „faktischen Ambiguität“ oben Kap. 12.3.2,

386.

343

Vgl. oben Kap. 7.3.3, 210, und dazu ausführlicher unten Kap. 14.2.2. BOHREN: Predigtlehre, 121–127. 345 Vgl. BOHREN: Predigtlehre, 123. 346 BOHREN: Predigtlehre, 122. 347 Vgl. LUTHER: Predigt als inszenierter Text; vgl. als Weiterführung z.B. ENGEMANN: Der Spielraum der Predigt; NICOL: Einander ins Bild setzen, der seine Homiletik insgesamt als „Dra344

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Jahren propagierten narrativen Predigt348 hat die Predigt als Inszenierung m.E. den Vorteil, dass sie auf einen stringenten, die ganze Predigt bestimmenden Handlungsablauf, vorgegebene Identifikationsmuster sowie die Kulmination in der einen Pointe durchaus verzichten kann.349 Während sich vielfache Ansätze gegenwärtiger christlicher Predigt mit dem genus dicendi der Haggada berühren, kann dies von der Halacha nicht gesagt werden. Für die momentane homiletische Situation herausfordernder erscheinen mir daher die Lernmöglichkeiten von der rabbinischen Halacha, die ich im Folgenden etwas ausführlicher in den Blick nehme.

13.4.3 Von der Halacha lernen Auch die Halacha als Methodik wurde oben (13.1.1.2) in dreifacher Perspektive beschrieben: (1) Genauigkeit im Lesen der „Texte des Lebens“ und der Texte der Tora als Spielfeld der Halacha, (2) Suche nach Entscheidung als Spielregel der Halacha, (3) Eröffnung von Wegen im Spielraum des Handelns als Ziel der Halacha.

Mit der Betrachtung des genus dicendi der Halacha ist die ethische Predigt im Blick. Sie bleibt bis in die Gegenwart ein eher vernachlässigtes Thema christlicher Homiletik.350 Abraham Joshua Heschel warnte speziell den Protestantismus davor, angesichts der Beschäftigung mit dem „Mysterium“, womit er vor allem Leben, Tod und Auferstehung Jesu meint, die „Gebote der Unterweisung“ und mit ihnen das konkrete Leben in dieser Welt zu vergessen.351 Heschel schreibt: „Es muß endlich Schluß gemacht werden mit dem Skandal der Sentimentalität angesichts göttlicher Hoheit, Schluß mit dem Angebot der ‚billigen Gnade‘ […]. Zuerst müssen wir auf das Gebot hören.“352 Wie oben gezeigt, ist genau dies der Punkt, an dem FriedrichWilhelm Marquardt mit seinen Überlegungen zur „Evangelischen Halacha“ einsetzt. Grundlegend versucht Marquardt, die Rechtfertigungslehre als maturgische Homiletik“ konzipiert. Vgl. hierzu auch den kulturwissenschaftlichen „performative turn“ (und dazu FISCHER-LICHTE: Vom „Text“ zur „Performance“). 348 Vgl. HAUSTEIN: Sprachgestalten der Verkündigung, 462–466 (Lit.!), sowie KREITZSCHEK: Zeitgewinn. Vgl. auch die in ihrer Wirkung bedeutsamen praktischen Arbeiten von Klaus-Peter Hertzsch (HERTZSCH: Der ganze Fisch; ders.: Nachdenken über den Fisch) sowie zur Praxis narrativer Predigt ROBINSON: Journeys; NITZSCHKE: Erzählende Predigten. 349 Anders (in aller Regel) die narrative Predigt, vgl. z.B. LOWRY: The Homiletical Plot, und unten Kap. 14.2.2. 350 Vgl. ähnlich HOFFMANN: Ethik predigen, 11–16. 351 HESCHEL: Erneuerung des Protestantismus, 141. 352 HESCHEL: Erneuerung des Protestantismus, 142.

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Basis einer evangelischen Ethik der Tora zu profilieren. Dabei erkennt er die christologische Pointe der Rechtfertigungslehre darin, dass „Nichtjuden […] die Tora in Christus“ haben.353 Somit weise die Rechtfertigung unmittelbar an die Tora und führe in die „Tatverpflichtung“.354 An dieser Stelle gelte es, ein Versäumnis in der Kirchengeschichte zu korrigieren: „Wurde in der zweitausendjährigen Tradition der Kirche am sogenannten Alten Testament festgehalten, dann zwar unter der Nomenklatur ‚Gesetz und Evangelium‘, in Wahrheit aber unter einem Primat der Haggada und unter Opferung der Halacha.“355 Marquardt weist auf ein Defizit vor allem des lutherischen Protestantismus, das seinen dogmatischen Ort in der Frage nach der Heiligung (sanctificatio) und seinen homiletischen Ort in der Frage nach der ethischen Predigt (als Predigt des tertius usus legis) hat.356 Konturen einer ethischen Predigt entwickelt Wilfried Engemann in einem seiner jüngsten Aufsätze. In Auseinandersetzung mit dem gegenwärtig in unterschiedlichen Diskursen reflektierten Begriff der „Lebenskunst“ fordert er „lebensdienlich[e]“ Predigten, die etwas „austragen für die Kunst zu leben“.357 Engemann schreibt weiter: „Sie [solche Predigten, AD] sollten auf die biblischen Texte auch als Lernmodelle für ein Leben aus der Erfahrung (mit Gott) Bezug nehmen und selbst Lernmodell für die Kunst zu leben sein.“358 Sie müssten sich „mit dem Erkennen von Grenzen, mit der Wahrnehmung von Spielräumen, dem Bilden von Entscheidungen und dem Mut zu entsprechendem Handeln befassen.“359 Auf den Begriff der Halacha als möglicher Analogie für solche „lebensdienliche“ Predigt kommt Engemann nicht zu sprechen; genau dieser aber könnte m.E. helfen, die hier angedeutete homiletische Richtung näher zu profilieren. Daher stelle ich im Folgenden unter Aufnahme der drei oben erarbeiteten Kennzeichen der Halacha drei Thesen auf, die eine christliche ethische Predigt in Analogie zur Halacha umreißen. Grundlegend gilt dabei: Predigt als Inszenierung des biblischen Textes in Analogie zur Halacha eröffnet einen Spielraum des Handelns im Kontext des Gebotes Gottes, der subjektive und inter-subjektive Verortungen ermöglicht.

353

MARQUARDT: Vom Rechtfertigungsgeschehen zu einer Evangelischen Halacha, 73. MARQUARDT: Vom Rechtfertigungsgeschehen zu einer Evangelischen Halacha, 71. 355 MARQUARDT: Vom Rechtfertigungsgeschehen zu einer Evangelischen Halacha, 63. 356 Vgl. zum „dritten Gebrauch des Gesetzes“ in homiletischer Perspektive KETTNER: The „Third Use of the Law“. Vgl. zu den Überlegungen insgesamt auch meine Predigtmeditation zu 1Thess 4,1–8 (DEEG: 20. Sonntag nach Trinitatis). 357 ENGEMANN: Die Lebenskunst und das Evangelium, 894. 358 ENGEMANN: Die Lebenskunst und das Evangelium, 894. 359 ENGEMANN: Die Lebenskunst und das Evangelium, 895; vgl. zum Begriff des „Spielraums“ auch 896. 354

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(1) Predigtrede in Analogie zum genus dicendi der Halacha liest im „Buch der Schrift“ und im „Buch des Lebens“360: Halacha wird angetrieben von einer genauen Lektüre, die mit einem Auge die Schrift, mit dem anderen das Leben im Blick hat. Eine solche zweifach genaue Lektüre scheint mir auch homiletisch entscheidend, da sie jede belanglose „Moralpredigt“ unmöglich macht. Die Problematik der Moralpredigt erkenne ich in deren Tendenz zu doppelter abstrahierender Oberflächlichkeit: Das Leben wird klischee- und schablonenhaft wahrgenommen (übrigens auch und gerade dort, wo bei großen Figuren wie Martin Luther King oder Franz v. Assisi vermeintliche Konkretionen gesucht werden361), und aus der Schrift werden Allgemeinplätze (Solidarität; Nächstenliebe …) abstrahiert.362 Die Folge dieser doppelten Abstraktion liegt dann in der langatmigen, da altbekannten Gleichsetzung eines christlichen Lebens mit einem angepassten Leben gemäß der moralischen Werte der Gesellschaft oder im leeren, da jede Konkretion ausklammernden Appell zu einem ganz anderen Leben auf der Basis des Evangeliums.363 Die spannungsreiche Herausforderung einer ständig neuen Suche nach dem gebotenen Leben anhand der Schrift und gemäß der Fragen gegenwärtigen Lebens kann demgegenüber als Ziel einer Predigtrede in Analogie zur Halacha bestimmt werden. Dabei wird es auch um Kasuistik gehen, da der spezifische „Fall“ des Lebens, die konkrete Handlungsalternative Gegenstand der Nachfrage ist.364 Gleichzeitig scheint es möglich, 360 Die Metapher „Buch des Lebens“ verwendet etwa SÖLLE: Hermeneutik des Bekannten, bes. 116.134. 361 Vgl. zu dieser Problematik der „Elite-Helden“ politischer Predigt BURBACH: Das Weltbild politischer Predigten, 479–481, Zitat: 481, und ausführlicher dies.: Argumentation in der „politischen Predigt“, 82–95.183f (Anm.). 362 Immer wieder verweist Manfred Josuttis auf die Gefahr der Moralisierung (vgl. z.B. JOSUTTIS: Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart, 30 und passim). Vgl. auch HOFFMANN: Ethik predigen, 16; JANZOW: Law/Gospel Sermons versus Moralising Messages, bes. 51–53. 363 Ganz ähnlich beschreiben Roger Alling und David J. Schlafer die Problematik mancher gegenwärtiger ethischer bzw. politischer Predigten in den USA, die sich anhörten wie „unhelpful platitudes and vague spiritualizing generalizations (Peace is better than war! The environment must be protected, but so must jobs as well!)“ (ALLING/SCHLAFER: Introduction, xi). Bei der Durchsicht deutschsprachiger katholischer Predigtzeitschriften kommt Gottfried Bitter zu einem vergleichbaren Ergebnis, das so sicherlich nicht nur für die katholische Homiletik gilt. Predigten würden oft eine „gefällige Harmlosigkeit“ verkündigen. „[…] es bleiben gutbürgerliche Lebensregeln übrig, wie sie ähnlich von Reformhäusern und Lebenshilfe-Zirkeln feilgeboten werden“ (BITTER: Bibel und Verkündigung, 299). 364 Besonders Friedrich Mildenberger hat in seiner „Kleine[n] Predigtlehre“ auf die notwendige Konkretheit der Sprache der Paraklese verwiesen. Paraklese versteht er dabei als den Zuspruch des Guten des Lebens in der Form eines bestimmten Tuns (vgl. MILDENBERGER: Kleine Predigtlehre, 42f). Entscheidend sei es, dass dieser Zuspruch „genau“ ist und „trifft, was an der Zeit ist“ (42f). Auch im Blick auf die Predigt des Gesetzes als Gebot bzw. als Aufweis der Sünde (Mildenberger wahrt bewusst den Zusammenhang von usus elenchticus und tertius usus) hält er die Konkretion für entscheidend: „So geht die Predigt mit dem Gesetz um, daß sie es nicht beim Allgemeinen läßt, bei der Norm, sondern nach Möglichkeit zum Gebot kommt. Freilich geht sie auch so mit dem Gesetz

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bisher vernachlässigte bzw. völlig ausgeklammerte Texte der Bibel (vor allem: Texte des Pentateuch) neu als lohnende Predigttexte wahrzunehmen.365 Geht es um die Lektüre der Texte der Bibel und des Lebens, so ist der unabschließbare Kreislauf eines Lesens in den Blick zu nehmen, der sich zwischen beiden Texten hin- und herbewegt. Die Lektüre kann ihren Ausgang entweder bei einer Frage des Lebens oder umgekehrt bei einem Text der Schrift nehmen. Im Neuen Testament wird von beiden Ausgangspunkten erzählt: Als Jesus nach der Ehescheidung gefragt wird (Mk 10,2p) lautet seine unmittelbare Rückfrage: „Was hat euch Mose geboten?“ (Mk 10,3p).366 Umgekehrt geht es in der Erzählung vom „Kämmerer aus Äthiopien“ (Apg 8,26–40) zunächst nur um das Verstehen der Schrift (vgl. V.30: +Ara, ge ginw,skeij a] avnaginw,skeijÈ); dieses Verstehen konkretisiert sich aber unmittelbar im Handeln, indem sich der äthiopische Eunuch taufen lässt (V.36). Die Schrift verstehen und den Weg des Lebens gehen (vgl. V.39: evporeu,eto ga.r th.n o`do.n auvtou/ cai,rwn) gehören so nach Apg 8 unmittelbar zusammen. Lesen der Bibel ist gebunden an die Lektüre der Texte des Lebens. Das eine gibt es – so zeigt die jüdische Halacha – nicht ohne das andere.367 (2) Predigtrede in Analogie zum genus dicendi der Halacha eröffnet die Diskussion: Eine Predigt, die von der Halacha lernt, wird versuchen, die offene und kontroverse Diskussion in der Kanzelrede zu inszenieren und durch die Kanzelrede zu eröffnen. Der Prediger/die Predigerin wird zum engagierten Part in einer Diskussion, die sich nicht in einen die Lebensform dekretierenden Monolog verwandeln darf. Erneut ist es die Moralpredigt, die an dieser diskursiven Offenheit scheitert. Sie tut dies sowohl in ihrer liberalen, d.h. auf Werte fokussierenden, Spielart als auch in ihrer fundamentalistischen, d.h. die Eindeutigkeit der biblischen Weisung behauptenden, Variante. Moralpredigt ist nicht darauf ausgerichtet, den Einspruch und um, daß sie durch das Gesetz die Sünde straft, ans Licht bringt. Das ist […] der usus elenchticus legis. Und auch der bleibt nicht in Allgemeinheiten stecken […]. Er zeigt hin auf das, was ist, und nennt die Sünde beim Namen. […] So oder so ist gerade auch die Predigt des Gesetzes konkrete Predigt.“ (110). 365 Vgl. exemplarisch die anregende Relektüre der Erlassjahrgesetze aus Lev 25 im gegenwärtigen politischen Kontext (vgl. www.erlassjahr.de). 366 In der Mt-Parallele antwortet Jesus: „Habt ihr nicht gelesen: Der im Anfang den Menschen geschaffen hat […]“ (Mt 19,4 [Hervorhebung AD]). 367 Gegenüber diesem Kreislauf der Lektüre bleibt die „ethische Pyramide“ nach Martin Hoffmann in ihrer Abfolge von „Wirklichkeitswahrnehmung“, „Motive[n]“, „Normen“ und „Verhaltensweisen“ tendenziell linear – auch wenn er sie teilweise als „Zirkel“ darzustellen versucht (vgl. HOFFMANN: Ethik predigen, 54–58). Vgl. zum Miteinander der Lektüre der Bibel und der „Texte“ des Lebens auch das oben (Kap. 12.2) zum Verhältnis von Maschal und Nimschal Gesagte.

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Widerspruch als notwendigen, die Lehre überhaupt erst ermöglichenden Faktor zu erkennen (bestenfalls integriert sie ihn in ein lernpsychologisch strukturiertes Argumentationsmodell). Von der Halacha könnte gelernt werden, wie ein spannender Diskurs intellektuell herausfordernd inszeniert werden kann. Persönliches Engagement der Beteiligten, exegetische Verve und genaue Wahrnehmung des Lebens würden sich bei einer Predigtrede in Analogie zur Halacha bei der Formulierung der Argumente und Gegenargumente verbinden.368 (3) Predigtrede in Analogie zum genus dicendi der Halacha entdeckt Spielräume des Handelns: Ziel einer an der Halacha orientierten Predigt wäre es, anhand des diskursiven Engagements im Blick auf die Schrift und das Leben Spielräume des Handelns zu entdecken – eine Richtung, die auf anderer Argumentationsbasis auch Martin Hoffmann für die ethische Predigt andeutet: „Die [ethische, AD] Predigt gestaltet sich […] sehr viel stärker zu einem Entdeckungsvorgang für Prediger und Hörer als zu einer Instanz des Appells.“369 Dabei wird – ich erinnere an die von Bialik betonte Narrativität der Halacha – neben der Paraklese bzw. Paränese370 auch die Erzählung dessen, was im Leben und in der Bibel der Fall ist oder der Fall sein könnte, ethische Predigt wesentlich bestimmen.371 Eine Predigt in Anlehnung an die Halacha deutet nicht nur auf das jetzt geforderte Tun (Paraklese), sondern inszeniert biblische Texte als Spielräume, in denen mögliche Wege des Handelns entdeckt werden können.372 Es versteht sich dann von selbst, dass die hier zu suchende Predigtsprache nicht einfach als Imperativ oder Anspruch beschrieben werden kann, der einem grundlegen368 An dieser Stelle lässt sich uneingeschränkt das aufnehmen, was Axel Denecke als erstes von fünf Kriterien für eine christliche Paränese benennt: „Aufnahme erfahrungsgetränkter und durch die Glaubwürdigkeit der jeweiligen Person legitimierter aposteriorischer Alltagsweisheit bei Verzicht auf den Anspruch, durch axiomatische Setzungen personunabhängige globale Allgemeinverbindlichkeiten beanspruchen zu wollen. Eine Paränese kann nur der aussprechen, der sich selbst als Person mit einschließt und der als glaubwürdiger Repräsentant des von ihm Gesagten vom Adressaten anerkannt wird. Die subjektbezogene Bindung der Paränese an Sprecher und Hörer ist Bedingung für die Wirksamkeit und Glaubwürdigkeit.“ (DENECKE: Art. Paränese, 744 [Hervorhebung im Original]). 369 HOFFMANN: Ethik predigen, 52. 370 Vgl. zu den Begriffen POPKES: Art. Paränese. 371 Auch Martin Hoffmann unterscheidet drei Redeformen der ethischen Predigt: Erzählung, Argumentation und Appell (vgl. HOFFMANN: Ethik predigen, 74–146; vgl. auch ders.: Ethische Orientierung als Predigtaufgabe, 164–173; SILL: „Sinn für mögliche Wirklichkeit“). Wilfried Engemann betont, dass neben dem „nachvollziehbare[n] Durchdenken von Situationen und konkreten Facetten menschlicher Lebenswirklichkeit“ auch „entwickelte Phantasie“ zu einer Predigt im Kontext der „Lebenskunst“ gehöre (ENGEMANN: Die Lebenskunst und das Evangelium, 895 [Hervorhebungen im Original]). 372 Auch das Bild des Spiels könnte hier aufgegriffen werden: Im Nach-Gehen (‫ )הל‬der Wege des „Deus vere ludens“ kann der „homo ludens“ Spielräume entdecken und Mitspieler werden (vgl. zu dieser Begrifflichkeit RAHNER: Der spielende Mensch).

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den Indikativ oder Zuspruch gegenüberstünde. Beides greift beständig ineinander, wo Predigende und Hörende im Wechselspiel von Lebens- und Schrifttexten Handlungsspielräume entdecken und so in der Predigt und durch die Predigt zu „Tätern des Wortes“ (poihtai. lo,gou; Jak 1,22) werden.

13.4.4 Vom Miteinander von Haggada und Halacha lernen 13.4.4.1 Die Ebene der Predigtrede Halacha und Haggada gehören – wie oben gezeigt – zusammen. Insgesamt wird daher auch die christliche Predigtrede darauf achten müssen, nicht einseitig nur das eine genus zu pflegen, sondern – mit dem oben eingeführten Kunstwort – haggalachisch zu reden. Was dies heißen könnte, deute ich durch vier untereinander zusammenhängende Thesen an: (1) Haggalachische Rede bringt die Weltwirklichkeit Gottes zur Sprache. Mit Halacha und Haggada kommen zwei Denk- und Sprachrichtungen zusammen, die auch in der Predigtrede insgesamt nicht voneinander getrennt werden dürfen. In seiner „Theology of Ancient Judaism“ bringt Abraham Joshua Heschel die beiden Richtungen wie folgt auf den Punkt: „Die Halacha spricht über die Wege des Menschen und ihre Regeln [wörtlich: ‫ומדותיו‬, AD], die Haggada über die Wege des Heiligen, gepriesen sei Er, und ihre Regeln.“373 Welt- und Gotteswirklichkeit verbinden sich im Wechselspiel von Halacha und Haggada. Die Verbindung leistet die Tora, auf die beide genera dicendi bezogen sind und die den Raum zwischen Gott und Welt umgreift. Eine haggadische Metapher bringt dies zum Ausdruck, indem sie die Tora als den (präexistenten) Bauplan (‫)דיפטראות ופינקסות‬ der Welt bezeichnet, nach dessen Vorgaben Gott die Welt schuf (BerR 1,1). Für den Menschen bietet daher das Lesen der Tora die Möglichkeit, den göttlichen Schöpfer (freilich immer nur fragmentarisch) zu erkennen, sowie sich im Tun der Tora an der Schöpfung der Welt im Sinne der Verwirklichung dieses Bauplans zu beteiligen. Das Nach-Gehen der Wege Gottes und das Nach-Sprechen der Gedanken Gottes – beides gehört im Miteinander von Haggada und Halacha zusammen. Dieses haggalachische Wechselspiel hat daher die Chance, dass beieinander bleibt, was zusammengehört: Gott und Mensch, Gott und Welt, Seele und Leib, Feiertag und Alltag. Predigtrede in Analogie zum Wechselspiel von Haggada und Halacha übt in eine Sprache ein, in der eine haggalachische Grammatik (vgl. Kadushin) beides verbindet. 373

HESCHEL: Theology of Ancient Judaism, Bd. 1, II [Übersetzung AD].

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(2) Predigtrede in Analogie zu Haggada und Halacha bewahrt die Auslegung vor der verinnerlichenden Individualisierung und bewegt sich im Spannungsfeld zwischen individuellem Wahrnehmen und notwendigem Gemeinschaftsbezug. Christliche Predigtrede sieht etwa Friedrich Mildenberger vielfältig von der Problematik der Behaftung des Menschen auf seine Innerlichkeit gekennzeichnet.374 Wo die beiden genera dicendi Haggada und Halacha gepflegt werden, bleiben Innerlichkeit und Welt- und Lebensbezug, gleichzeitig aber auch Individualität und (Sprach-)Gemeinschaft der Glaubenden beieinander.375 Die individuelle Positionalität des je einzelnen Auslegers verbindet sich mit der Suche nach dem gemeinsamen Handeln. Die beiden ersten Thesen nehmen den Welt- und Gemeinschaftsbezug der Predigt (gegenüber der verinnerlichenden Subjektivierung) neu in den Blick. Dies geschah bewusst auch in homiletisch-liturgischen Entwürfen der 1960er/70er Jahre: Am profiliertesten suchte das „Politische Nachtgebet“ (zuerst in Köln) eine Lösung der Problematik der Weltvergessenheit christlicher Verkündigung.376 M.E. lassen sich Chance und Grenze dieses Versuchs durch die Betrachtung der Analogie zu Halacha und Haggada präzise wahrnehmen: Glaube und Handeln wurden im Politischen Nachtgebet in ihrer notwendigen Relation wahrgenommen. Die Welt (vor allem auch die Welt jenseits des eigenen bürgerlich-saturierten Milieus in der bundesrepublikanischen Gesellschaft) war durch ausführliche Informationen konkret im Gottesdienst präsent; die biblische und christliche Botschaft wurde durch Lesungen und Predigt eingebracht. Politisches Nachtgebet führte dann weiter zu Diskussionen und gipfelte in der Aktion als gemeinsam durchgeführter Konkretion des im Miteinander von Information und biblisch-christlicher Meditation als notwendig Erkannten.377 Das Ziel ist zunächst als ein „halachisches“ zu bestimmen: Ausgangspunkt war die Frage, wie gegenwärtig Handlungsspielräume einer Gemeinschaft der Glaubenden inmitten der Weltwirklichkeit gefunden werden können. Allerdings versuchte man, dieses Ziel in der Zuspitzung auf die eine Aktion zu erreichen. Die Chance lag in der Konkretion, die Problematik aber in der möglichen Isolierung dieses Handelns, in der Herauslösung aus dem sonstigen Lebenszusammenhang (als dem Zusammenhang der Heiligung des Lebens im Kontext der Gebote Gottes) sowie aus dem Zusammenhang der in der Schrift bezeugten Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel und der Welt. Die Notwendigkeit einer Rede in Analogie zur Haggada geriet aus dem Blick – bzw. veränderte sich zur lediglich motivationalen Ausgangsbasis des heute geforderten Handelns. Rudolf Bohren markiert genau diese Problematik, verwendet zu ihrer Kennzeichnung aber (m.E. problematisch) die Begriffe „Gesetz“ und „Evangelium“. Er stellt fest, dass im politischen Nachtgebet „primär nicht das Evangelium, sondern das Gesetz“ gepredigt werde.378 Das Gesetz drohe so, das Evangelium zu übertönen.379 Es 374

Vgl. MILDENBERGER: Kleine Predigtlehre, 113 und passim. Vgl. dazu oben Kap. 13.1.3.2 (Kadushin), und vgl. SPERO: Morality, 185–188; GOLDIN: The Freedom and Restraint of Haggadah, 69. 376 Vgl. SÖLLE: Politisches Nachtgebet; SEIDEL: Aktion Politisches Nachtgebet. 377 Vgl. SÖLLE: Politisches Nachtgebet, 9f. 378 BOHREN: Predigtlehre, 539; vgl. insgesamt zum Politischen Nachtgebet 536–541. 375

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müsse für das Politische Nachtgebet darum gehen, „in der Meditation zum Evangelium“ zu finden, um zu einem „Zeichen der Erneuerung für die Christenheit“ zu werden.380 Präziser erscheint es mir, dort, wo Bohren von „Gesetz“ spricht, die Analogie zur Halacha zu hören, und dort, wo er „Evangelium“ schreibt, die Analogie zur Haggada wahrzunehmen. Nur wenn beides zusammenbleibt, das offene, pointenlose Erzählen von Gottes Handeln mit der Welt und die gemeinsame Suche nach den Spielräumen für menschliches Handeln gemäß Gottes Gebot in der Welt, hätte eine Neuauflage des Politischen Nachtgebetes m.E. die Chance, zum „Zeichen der Erneuerung für die Christenheit“ zu werden.381

(3) Das Spannungsfeld zwischen der Suche nach der Pointe der Schriftaussage und der Pointenlosigkeit der Schriftinterpretation bleibt im haggalachischen Reden erwartungsvoll offen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Haggada und Halacha wurde oben darin erkannt, dass die Halacha nur gelingen kann, wo die Suche nach der Pointe des Schriftwortes im konkreten Lebensvollzug zur Spielregel wird; die Haggada umgekehrt erhält ihren Reiz durch den bewussten Verzicht auf diese Pointe in der Entdeckung der Vielfalt und des Reichtums des in der Schrift Eröffneten. Wenn beide Arten zu reden unbedingt zusammengehören, bedeutet dies auch, dass die Pointe der Halacha und die Pointenlosigkeit der Haggada nur in ihrem Miteinander einen Sinn machen. Eine Predigtrede, die sich nur an das genus dicendi der Haggada anlehnen würde, verlöre ihre Lebensrelevanz und drohte, belangslos zu werden. Umgekehrt verlöre eine nur an der Halacha orientierte Predigtrede ihre Freiheit und die über das heute zu gestaltende Leben hinausweisende Erinnerung an und Einstimmung in die Offenheit der Geschichte Gottes mit seiner Welt. (4) Predigtrede in Analogie zum halachisch-haggadischen Wechselspiel führt zur Konkretion der Predigtsprache. Der Midraschforscher David Stern geht davon aus, dass der wahre Gegensatz zur Haggada nicht die Halacha und umgekehrt sei, sondern der wahre Gegensatz beider in der „dogmatic theology“ zu suchen wäre, in jenem Denken also, dass aus der Bewegung der Relation die Statik eines systematischen Diskurses mache.382 Beide, Haggada und Halacha, seien durch eine Sprache gekennzeichnet, die konkret am biblischen Text und an der Wahrnehmung des Lebens bleibe. Die Spannung zwischen konkretem Reden und abstrakter Zusammenfassung wird auch in der Homiletik immer wieder diskutiert. So kommt etwa 379

Vgl. BOHREN: Predigtlehre, 540. Vgl. BOHREN: Predigtlehre, 541. 381 Vgl. auch GRÖZINGER: Toleranz und Leidenschaft, 182–213 [Politische Predigt], bes. 201– 203.211f: Grözinger betont die Entdeckung und Eröffnung des „Möglichkeitssinns“ (in Anlehnung an Musil) als Grundlage einer politischen Predigt, die nicht einfach Handlungsalternativen entscheide, sondern sich an der „Erfindung des Politischen“ (203) beteilige. 382 Vgl. STERN: Art. Aggadah, 12. 380

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Martin Nicol aufgrund der Wahrnehmung von Phänomenen in der Kunst zu der Überzeugung: „Schönes lässt sich nicht zusammenfassen.“383 Er plädiert dafür, Predigtrede in der „konkrete[n] Entfaltung“ zu suchen.384 Hans van der Geest geht demgegenüber von der Perspektive der Hörerinnen und Hörer aus und erkennt in seinem Buch „Du hast mich angesprochen“: Predigerinnen und Prediger würden zunehmend narrativ oder in Bildern predigen,385 für die Hörerinnen und Hörer aber sei dies nicht unproblematisch: „Die Gottesdienstbesucher kommen nicht, um eine Erzählung zu hören. Sie hoffen darauf, in und mit der Erzählung eine klare Botschaft für ihr eigenes Leben zu vernehmen. Gerade dieser Bezug auf das eigene Leben muß daher deutlich werden. Die Zuhörer wollen das An-geschaute einpacken und mitnehmen, sie möchten darüber gewissermaßen verfügen können.“386 Dieses m.E. bis heute treffende Problem möchte van der Geest so lösen, dass er Predigerinnen und Prediger dazu anhält, neben die anschauliche Rede unbedingt auch die begriffliche Rede zu setzen.387 „Es wäre allzu vereinfachend, bei der anschaulichen Rede zu bleiben. Die Verheißungen, die für erzählende und bildhafte Predigten offensichtlich sind, erfüllen sich merkwürdigerweise erst, wenn ein gewisses Gegenspiel begrifflicher Rede geboten wird.“388 Predigtpraktisch führte und führt das von van der Geest m.E. zu Recht konstatierte Unbehagen samt der von ihm angedeuteten Lösung dazu, dass der beinahe schon klassische Doppelschritt von Erzählung bzw. bildlicher Rede einerseits und begrifflicher Bündelung andererseits nach wie vor die Predigtsprache prägt. Nicht selten lassen Predigende keine Erzählung und kein Bild für sich wirken und entleeren diese zu bloßen Mitteln einer instrumentellen Rhetorik, indem sie suggerieren, dass das Eigentliche, worum es in der Erzählung oder in dem Bild gehe, auch begrifflich zu haben sei. Erzählungen und Bilder mutieren dann zu Illustrationen der eigentlichen, nämlich begrifflichen Rede.389 Mit Hilfe der Wahrnehmung der Unterscheidung und der Bezogenheit von Haggada und Halacha kann das von van der Geest erkannte Problem m.E. auch anders betrachtet werden: Die Predigt, die bei den Hörerinnen und Hörern Ungenügen hinterlässt ist „panhaggadisch“, ihr fehlt Halachisches im Gegenüber zum Haggadischen. Es geht daher m.E. nicht um das notwendige Ineinander von begrifflicher und bildhafter Sprache, sondern 383 Vgl. NICOL: Einander ins Bild setzen, 31–37, Zitat: 31; es handelt sich bei dem zitierten Satz um ein Wort von Paul Valéry. 384 NICOL: Einander ins Bild setzen, 37. 385 Vgl. VAN DER GEEST: Du hast mich angesprochen, 156–169. 386 VAN DER GEEST: Du hast mich angesprochen, 169. 387 Vgl. insg. VAN DER GEEST: Du hast mich angesprochen, 169–174. 388 VAN DER GEEST: Du hast mich angesprochen, 169. 389 Vgl. dazu auch oben Kap. 12.3.2, 385.

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eher darum, in der Predigtrede insgesamt ein an der Halacha und ein an der Haggada orientiertes Reden beieinander zu halten. Bei beiden Redeweisen aber handelt es sich um konkrete Entfaltung im Gegensatz zur begrifflichabstrahierenden Sprache.

13.4.4.2 Die Ebene homiletischer Reflexion Wie sich die Analogie zu Haggada und Halacha für die Ebene der Predigtrede als fruchtbar erweist, so gilt dies m.E. auch für die Ebene homiletischer Reflexion, besonders für die seit Mitte der 1980er Jahre intensiv geführte Diskussion um das sogenannte ästhetische Paradigma in der Praktischen Theologie390 und seine homiletischen Konsequenzen. Letztere lassen sich seit Gerhard Marcel Martins Marburger Antrittsvorlesung391 auf die Frage zuspitzen: Ist die Predigt im Ecoschen Sinne ein „offenes Kunstwerk“ oder nicht? Schon Henning Schröers (insgesamt positive) Replik auf Martins Antrittsvorlesung fragt danach, ob zwischen dem Begriff der „Eindeutigkeit“, gegen den sich das Konzept des offenen Kunstwerks abgrenzt, und dem Begriff der „Mehrdeutigkeit“, für den Martin optiert, nicht noch die „Deutlichkeit“ liege,392 die vor allem ethisch zu bestimmen sei.393 Neben der prinzipiellen Bejahung der Pluralität der Interpretation394 müsse es um das gemeinsame Handeln in der Gemeinschaft der Glaubenden gehen395 – wollte man hier jüdische Terminologie aufnehmen, so ließe sich sagen: um die Halacha. Der zwölf Jahre nach dem Erscheinen von Martins Aufsatz veranstaltete Kongress der AGH e.V. (Arbeitsgemeinschaft für Homiletik) untersuchte die Rezeption der Theorie des offenen Kunstwerks in der Praktischen Theologie, hob die positiven und anregenden Aspekte hervor und stellte kritische Fragen, die sich auf der von Henning Schröer eröffneten Linie bewegen und die sich in drei Aspekten zusammenfassen lassen:

390

Vgl. GRÖZINGER: Praktische Theologie und Ästhetik. Vgl. MARTIN: Predigt als „offenes Kunstwerk“. 392 SCHRÖER: Umberto Eco als Predigthelfer, 60f.62. Schröer verweist mit dem Begriff der „Deutlichkeit“ auf WEIZSÄCKER: Deutlichkeit. 393 Vgl. als Hintergrundfolie bereits Kierkegaards Unterscheidung von ästhetischer, ethischer und religiöser Existenzsphäre und dazu SCHRÖER: Art. Kierkegaard, 144–149. 394 Schröer bevorzugt den Begriff der „Pluralität“ gegenüber dem – zum Pluralismus tendierenden – Begriff der „Mehrdeutigkeit“ (vgl. SCHRÖER: Umberto Eco als Predigthelfer, 62); vgl. ähnlich oben Kap. 10.1.3, 285f. 395 Vgl. SCHRÖER: Umberto Eco als Predigthelfer, 62. 391

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(1) Die Gefahr der Ästhetisierung: Besonders der Philosoph Wolfgang Welsch hat sich mit der Problematik der Ästhetisierung auseinandergesetzt;396 er versteht darunter die ästhetische Überformung bzw. Konstruktion der Wirklichkeit. Karl-Heinrich Bieritz, der diesen Prozess der Ästhetisierung ausgehend von Welsch als die zunehmende Selbstreferentialität der Wahrnehmung bestimmt,397 plädiert angesichts der Gefahr der Ästhetisierung in der Predigt für eine „eigensinnige Predigt“: Sie halte den „Eigen-Sinn der Offenbarung […] gegen den ästhetisierenden Gemein-Sinn des Zeitalters“ fest.398 Nach Wolfgang Welsch geht mit der Ästhetisierung gleichzeitig das Problem der Anästhetisierung, der Abstumpfung der Wahrnehmung, einher.399 Die Innenorientierung nehme zu – wie Bieritz bemerkt auch in einer sich ästhetisch verstehenden Predigt.400 Nötig sei demgegenüber eine durchaus auch verstörende „Predigt in der ‚Schule der Andersheit‘“401. (2) Die Gefahr der Beliebigkeit: Vor allem Klaus Müller fragt – im Gegenüber zur Theorie des offenen Kunstwerks –, ob es dann, wenn es um die Verkündigung (und nicht um ein Kunstwerk) und damit um „Mitteilung einer Wahrheit“402 geht, nicht doch Kriterien sowie den Rekurs auf eine „‚Letztbegründung‘“ brauche.403 LetztGültiges würde sich sonst in Gleich-Gültiges auflösen.404 (3) Die Gefahr des Verlustes der Gemeinschaft: Wenn die Predigt als offenes Kunstwerk in die unabschließbare Offenheit der je unterschiedlichen Lektüren führt, so muss – wie G. M. Martin selbst betont – gefragt werden, ob dies nicht zum „Privatismus einzelner Gläubiger [führe, AD], die unfähig sind zu mehrheitsfähigen gemeindlichen bzw. kirchlichen […] Positionen.“405

Im Gegenüber zu diesen kritischen Stimmen problematisiert Wilfried Engemann in seinem Tagungsbeitrag mit dem Titel „Der Spielraum der Predigt und der Ernst der Verkündigung“ die falsche Verknüpfung der Begriffe „Beliebigkeit“ und „Offenheit“ im Blick auf die Predigt. Predigt werde gerade durch den Spielraum, den sie Hörerinnen und Hörern einräume, ernst: Predigt sei „Schutzraum vor der Beliebigkeit andrängender Entscheidungs- und Lebensalternativen“ und zugleich „Spielraum“, in dem sie „mein Entscheiden vorsieht, mich zum Verstehen und Handeln anleitet – 396

Vgl. WELSCH: Ästhetisches Denken, 13 u.ö; vgl. hierzu auch SCHULZE: Die Erlebnisgesellschaft, 33–91 [Ästhetisierung des Alltagslebens]. 397 Vgl. BIERITZ: Offenheit und Eigensinn, 42. 398 BIERITZ: Offenheit und Eigensinn, 43. Der Begriff der „eigensinnige[n] Predigt“ findet sich im Untertitel des Aufsatzes. 399 Vgl. WELSCH: Ästhetisches Denken, 9–40 [Ästhetik und Anästhetik], bes. 13–15. 400 Vgl. BIERITZ: Offenheit und Eigensinn, 46. 401 Vgl. BIERITZ: Offenheit und Eigensinn, 48–50, Zitat: 48. Den Begriff übernimmt Bieritz von WELSCH: Ästhetisches Denken, 39. 402 MÜLLER: Herbst der Hermeneutik, 145. 403 Vgl. MÜLLER: Herbst der Hermeneutik, 146–148, Zitat: 148. 404 Die Warnung vor einer Beliebigkeit wird in kritischen Stimmen gegenüber einer ästhetisch orientierten Homiletik so oft gebraucht, dass sie beinahe als Cantus firmus der Kritik bezeichnet werden kann (vgl. zu dieser Kritik z.B. auch DENECKE: Lob der Sonntagspredigt, 236–238). 405 MARTIN: Zwischen Eco und Bibliodrama, 57.

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und es deshalb mit Fug und Recht ernst werden läßt in meinem Leben.“406 Engemanns Votum unterstreicht: Wird Ästhetik nicht nur formal missverstanden, dann hat sie den Ernst des Lebens immer im Blick; genauso wie umgekehrt Ethik die konkrete Gestaltung des Lebens (also: dessen ästhetische Dimension) ständig reflektieren muss. Ästhetik ohne Ethik würde zur Ästhetisierung führen, Ethik ohne Ästhetik zur Moralisierung. Mit den Begriffen Ästhetik und Ethik ist ein weiter philosophischer Diskurs berührt, der hier nicht im Detail ausgeführt werden kann. Vereinfacht formuliert war es Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft“, der – um die Universalität des Ethischen zu sichern – das auf das Gefühl bezogene Ästhetische von der auf die praktische Vernunft bezogenen Ethik trennte.407 Seither kann – zu denken wäre im 19. Jahrhundert etwa an Schleiermacher oder Kierkegaard – die Frage nach dem Verhältnis von Ethischem und Ästhetischem als prekäres Dauerproblem philosophischer Reflexion bestimmt werden. Elisabeth Gräb-Schmidt nimmt diese Diskussion in einem 2003 erschienenen Aufsatz auf und betont die grundlegende und unaufgebbare Verbindung von Ethik und Ästhetik. Dabei greift sie auf Husserls Phänomenologie und ihre Weiterführung und Kritik durch Emmanuel Lévinas zurück und betont, dass bereits mit der Wahrnehmung als dem Grundvollzug des Ästhetischen die Gestaltung als Grundvollzug des Ethischen verbunden sei. Ethik sei als diejenige Reflexionsform zu bestimmen, die die gegebenen Dinge in ihrem Potential wahrnehme und auf die Möglichkeiten ziele, die aus dieser Wahrnehmung resultieren. Wahrnehmung und Handlung, Ästhetik und Ethik seien so als gleichursprünglich zu bestimmen.408 Zu einer vergleichbaren These kommt auch Stefan Heuser in seinem im selben Jahr erschienenen Aufsatz zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik im Alten Testament. Heuser betont, dass es in den Texten des Alten Testaments nicht um ein konsekutives Verhältnis von Weltwahrnehmung und daraus ableitbarem ethischem Handeln gehe, sondern um „eine neue Wahrnehmung der Welt, ein neues Hören auf Gott und eine neue Aufmerksamkeit auf den Menschen“409, in der Ethik und Ästhetik in unauflösbarer Relation verbunden seien. Am Beispiel von Ps 1 zeigt Heuser, wie diese Relation sich im Lesen der Tora JHWHs (vgl. Ps 1,2) und im Hören auf Gottes Wort konkretisiere: Der Gerechte (‫יק‬‫דּ‬‫ )צ‬bleibe „beim Hören“ und stimme so „in ein neues Ethos ein, das menschliche Möglichkeiten der Lebensführung überwindet“, indem es sich in den Willen Gottes fügt.410 406

ENGEMANN: Der Spielraum der Predigt, 182 [Hervorhebungen im Original]. Vgl. KANT: Kritik der Urteilskraft, bes. 242–273. 408 Vgl. GRÄB-SCHMIDT: Ethics and Aesthetics, bes. 159–163; vgl. auch FUCHS: Praktische Hermeneutik, 52. 409 HEUSER: „Gib deinem Diener […]“, 137. 410 Vgl. HEUSER: „Gib deinem Diener […]“, 143–145, Zitat: 144. 407

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Diese Relation von Ethik und Ästhetik scheint mir auch durch den rabbinischen Wechselschritt von Halacha und Haggada grundlegend zur Sprache gebracht. Im Lesen des Wortes der Tora eröffnet sich eine neue Wahrnehmung der Weltwirklichkeit Gottes und ergeben sich Entdeckungsperspektiven für menschliches Handeln. Gleichzeitig bleibt die individuell-subjektive Wahrnehmung des Einzelnen diskursiv auf die Wahrnehmungen der anderen bezogen – in einem zeitenübergreifenden Lehrhaus, dessen Türen durch keine abschließende Erkenntnis allgemeingültiger kategorischer Imperative verschlossen werden können. Wendet man diese Reflexion homiletisch, so ergibt sich daraus eine haggalachische Predigtrede, in der Ästhetik und Ethik, Pointenlosigkeit und Pointe, Offenheit und Ernst, „Gotteskunst“ (Nicol) und „Lebenskunst“ (Bubmann)411 zusammengehören. Mit dieser Überlegung wäre m.E. auch eine Antwort auf die – im Kontext der Diskussion um die ästhetische Wende in der Praktischen Theologie (und besonders um die daraus folgende Hermeneutik) – immer wieder gestellte Frage nach den Grenzen der Interpretation zu suchen. Umberto Eco, der spiritus mentor der Diskussion um die rezeptionsästhetische Offenheit der Interpretation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, stellt diese Frage – als Frage nach der Möglichkeit der Falsifizierung von Interpretation – 1992 selbst.412 Im Gegenüber zu einer bloßen (und damit letztlich beliebigen) Betrachtung der intentio lectoris rückt bei ihm die intentio operis als zweiter Pol des Spannungsfeldes der Interpretation entscheidend in den Blick.413 Es dürfe nicht dazu kommen, dass – aufgrund der Voraussetzung einer unbegrenzten Semiose – „die Willkür der Interpreten […] die Texte so lange zurechtklopft, bis sie die Form annehmen, die sie für ihre Zwecke brauchen.“414 Der Text/das Opus dürfe nicht zum bloßen Sprungbrett eigener und dann potentiell willkürlicher Auslegung werden, sondern müsse als widerständiger, korrigierender zweiter Pol der Interpretation immer im Blick bleiben. In Aufnahme der Ergebnisse dieses Kapitels lässt sich von Eco ausgehend und über ihn hinausweisend formulieren: Die Grenzen homiletischer Textlektüre finden sich dort, wo die Predigtrede nicht mehr haggalachisch ist. Dort also, wo sich Ästhetisches bzw. Ethisches von dem generativen Bezug auf das Wort der Schrift lösen, und dort, wo nur noch Ästhetisches (Panhaggada) oder nur noch Ethisches (Panhalacha) gepredigt würde. Posi411 Vgl. zum Begriff der „Gotteskunst“ in praktisch-theologischer Zuspitzung NICOL: Ereignis und Kritik; vgl. zum Begriff der „Lebenskunst“ ENGEMANN: Die Lebenskunst und das Evangelium; BUBMANN: Gemeindepädagogik, bes. 104–110; ders.: Leben mit Stil und Profil; ders.: Einführung in die christliche Lebenskunst. 412 Vgl. ECO: Die Grenzen der Interpretation, 51–53. 413 Vgl. ECO: Die Grenzen der Interpretation, 54. 414 ECO: Die Grenzen der Interpretation, 441.

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tiv gewendet ginge es darum, diejenige unabschließbare haggalachische Bewegung zwischen göttlicher Wahrheit und menschlichem Leben immer neu zu vollziehen, für die Franz Rosenzweig am Ende seines „Stern[s] der Erlösung“ eindrucksvoll Sprache findet: „Einfältig wandeln mit deinem Gott [Mi 6,8, AD] – nichts weiter wird da gefordert als ein ganz gegenwärtiges Vertrauen. Aber Vertrauen ist ein großes Wort. Es ist der Same, daraus Glaube, Hoffnung und Liebe wachsen, und die Frucht, die aus ihnen reift. Es ist das Allereinfachste und gerade darum das Schwerste. Es wagt jeden Augenblick zur Wahrheit Wahrlich zu sagen. Einfältig wandeln mit deinem Gott – die Worte stehen über dem Tor, dem Tor, das aus dem geheimnisvoll-wunderbaren Leuchten des göttlichen Heiligtums, darin kein Mensch leben bleiben kann, herausführt. Wohinaus aber öffnen sich die Flügel des Tors? Du weißt es nicht? Ins Leben.“415

13.5 Zusammenfassung Haggada und Halacha wurden in diesem Kapitel als grundlegender hermeneutischer Wechselschritt sowie als genera dicendi rabbinischer Schriftauslegung bestimmt und analog mit christlicher homiletischer Textlektüre ins Gespräch gebracht. Es ergaben sich dabei einerseits Perspektiven für eine Predigtrede in Analogie zu Haggada bzw. Halacha sowie andererseits für eine insgesamt haggalachische Predigtrede:

(1) Predigtrede in Analogie zu Haggada bzw. Halacha Kon-textualisierende Predigtrede kann sich von den genera dicendi der Haggada bzw. Halacha anregen lassen, wie folgende Tabelle in einer Übersicht zeigt:

415 ROSENZWEIG: Der Stern der Erlösung, 472. Im Original sind diese letzten Sätze des „Sterns“ sich verjüngend gedruckt; bis auf der letzten Zeile nur noch die beiden Worte „Ins Leben.“ stehen. Vgl. auch die treffende Formulierung von Schöttler, der die Aufgabe der „allsonntägliche[n] Predigt“ darin erkennt, „mit der Sonntagsgemeinde je neu den Glaubensfaden in den Lebenstext des alltäglichen Lebens einzuwirken“ (SCHÖTTLER: „… indem jene durch unsere Reden […]“, 225 [Hervorhebung im Original]).

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Die Haggada

Lernen von der Haggada

Die Halacha

Lernen von der Halacha

Genauigkeit im Lesen des Textes als Spielfeld der Haggada

Eröffnung eines ambiguitären Raumes in der Predigt durch die genaue Lektüre des Bibelwortes

Genauigkeit im Lesen der „Texte des Lebens“ und der Texte der Tora als Spielfeld der Halacha

Genaues Lesen im Buch der Schrift und „Buch des Lebens“ (statt abstrahierender „Moralpredigt“)

Unabgeschlossenheit der Deutung als Spielregel der Haggada

Textbindung statt Skopusbindung in christlicher Predigtrede

Suche nach Entscheidung als Spielregel der Halacha

Gestaltung einer gemeinsamen und offenen Diskussion (statt dekretierender „Moralpredigt“)

Entdeckung der Weltwirklichkeit Gottes im Text als Erfahrung im Spiel

Intertextuelle Inszenierung statt direkte Applikation des Textes

Eröffnung von Wegen im Spielraum des Handelns als Ziel der Halacha

Entdeckung von Spielräumen des Handelns in der Inszenierung des Textes

insgesamt: Eröffnung eines intertextuellen Raumes zwischen Gottes- und Weltwirklichkeit

insgesamt: Eröffnung von Spielräumen des Handelns im Kontext des Gebotes Gottes

(2) Predigtrede als haggalachische Rede In Aufnahme rabbinischer Texte und der Positionen Bialiks, Kadushins und Heschels wurde deutlich, dass Haggada und Halacha als Wechselschritt wahrgenommen werden müssen. Für die homiletische Reflexion bedeutet dies, den Konnex von Ethik und Ästhetik nicht aus dem Blick zu verlieren. Für die Predigtrede folgt daraus die Chance, 472 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

• die Weltwirklichkeit Gottes zur Sprache zu bringen; • im Spannungsfeld von individueller Wahrnehmung und notwendigem Gemeinschaftsbezug zu reden; • einen Weg zwischen der Pointe und der Pointenlosigkeit der Schriftauslegung zu gehen und • konkrete Entfaltung gegen die Abstraktion in der Predigtrede zu suchen.

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14. Peticha und Chatima – Predigt als Eröffnung und Einführung

Die Peticha – aller Wahrscheinlichkeit nach eine der wesentlichen Formen der Predigt-Rede in rabbinischer Zeit1 – führt von einem „weit entfernten“ biblischen Vers (Peticha-Lemma) zum Vers der Toralesung (Injan-Lemma). Ich versuche zunächst, die obigen Überlegungen (3.4) aufnehmend und erweiternd, grundlegende hermeneutische und homiletische Kennzeichen der Peticha zu bestimmen (14.1). Diese bringe ich unter dem Stichwort „Predigt als Eröffnung“ mit praktischen Fragen zur Gestaltung einer Predigt als KonTextualisierung im christlichen Gottesdienst in Verbindung (14.2). Eine besondere Chance zur Kon-Textualisierung bietet sich, wenn von der Peticha her die Frage nach christlicher Predigt des Alten Testaments betrachtet wird (14.3). Innerhalb der rabbinischen Literatur findet sich mit der Chatima eine Art umgekehrte Peticha: eine Kompositionsform, die vom Text der Lesung ausgeht und eschatologisch weiterführt, wobei sie in aller Regel in einen Vers aus dem Corpus propheticum mündet. Die Chatima verweist auf die Bedeutung eschatologischer Themen in christlicher Predigtrede sowie grundlegender auf die Frage nach der Eschatologie christlicher Predigt – beides kommt abschließend in den Blick (14.4).

14.1 Die Peticha im Kontext midraschischer Hermeneutik Drei Thesen zur Hermeneutik der Peticha sollen im Folgenden an einem Beispiel verdeutlicht und näher ausgeführt werden: (1) Die Peticha vernetzt Worte der Schrift, indem sie von einem Schriftvers ausgeht, der nicht der Toralesung des Sabbats oder Festes entstammt, und von diesem zur Toralesung führt. Die Peticha ermittelt nicht die Aussage eines Verses, sondern gestaltet die Intertextualität (mindestens) zweier Schriftstellen. 1 Wie bereits oben (Kap. 3.3) sei auch hier auf die Einschränkung hingewiesen, dass es sich bei den in den Midraschim gesammelten Petichot eher um „Textskizzen“ denn um Nachschriften tatsächlich gehaltener mündlicher Vorträge handelt. Sie waren „zu sorgfältigem Lesen“ oder „für Personen, die sie zu Predigtvorträgen verarbeiten konnten“, bestimmt (GOLDBERG: Der verschriftete Sprechakt als rabbinische Literatur, 14 [die Zitate beziehen sich auf die rabbinische Homilie insgesamt]).

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(2) Die Peticha stellt einzelne Aussagen und Auslegungen in Form einer parataktischen Collage nebeneinander, anstatt sie in einem hypotaktischen Diskurs miteinander zu verbinden. (3) In ihren Weg von der Schrift zur Schrift nimmt die Peticha Lebenswirklichkeit(en), aktuelle Fragen und Probleme auf indirekte Art und Weise mit hinein, anstatt die Schrift direkt zu applizieren.

Als Beispiel für eine Peticha wähle ich eine leicht überschaubare Vorgabe aus dem Midrasch ShemR, die mit Ps 11,4aa beginnt und auf Ex 3,1 zuläuft: „Mose aber hütete die Schafe Jitros …“ Die drei Abschnitte meiner Unterteilung der Peticha ergeben sich durch die sukzessive Aufnahme weiterer Lemmata aus Ps 11.2 [Peticha-Lemma: Ps 11,4aa]3 „JHWH [ist] in seinem heiligen Tempel“. [1] Der Tempel ist zerstört – und wo ist Gott? Es sagt R. Schmuel bar Nachman: Seit der Tempel zerstört ist, entfernte sich die Schechina4 zum Himmel, wie gesagt ist: „JHWH errichtete im Himmel seinen Thron“ [Ps 103,19a; vgl. Ps 11,4ab: „JHWH – im Himmel ist sein Thron“]. R. Elasar sagt: Die Schechina ist nicht aus dem Tempel gewichen, denn es steht geschrieben: „[JHWH sprach zu Salomo:] ‚Meine Augen und mein Herz sollen immer dort sein‘ [1Kön 9,3b; 2Chr 7,16b]“. Und entsprechend sagt er: „Mit meiner Stimme rufe ich zu JHWH, so erhört er mich von seinem heiligen Berg, Sela“ [Ps 3,55]. Obwohl er [der Tempel] zerstört ist, hat sich Gott in seiner Heiligkeit nicht von dort wegbewegt. Und siehe, was Kyrus sagt: „[…] er ist der Gott, der in Jerusalem ist“ [Esra 1,3b6]. Er sagt zu ihnen: Obgleich er zerstört ist, so ist Gott doch nicht von da gewichen. R. Acha sagt: Nie wich die Schechina von der Westmauer, denn es steht geschrieben: „Siehe, er steht hinter unserer Mauer“ [Hhld 2,97].

2 ShemR 2,2 (eine Parallelüberlieferung findet sich u.a. in TanB Schemot 10). Die Übersetzung stützt sich auf den kritischen Text der Ausgabe von Avigdor Shinan (SHINAN: Midrash Shemot Rabbah). Die Gliederung und deren Überschriften sowie alle Anmerkungen in eckigen Klammern stammen von mir (AD). Vgl. zum ersten Teil dieser Peticha auch DEEG: Opfer als ‚Nahung‘, 140f; vgl. zu den Einleitungsfragen zu ShemR STEMBERGER: Einleitung, 303f. 3 In der Wilna-Ausgabe von ShemR wird als Ausgangsvers Hab 2,20a genannt – ein mit Ps 11,4a identischer Vers. 4 Vgl. zum Begriff oben Kap. 3.4.1, 99 Anm. 185. 5 Ps 3 ist überschrieben: „Ein Psalm Davids, als er vor Absalom, seinem Sohn, floh“ (Ps 3,1; vgl. 2Sam 15). Er bezieht sich damit auf eine Zeit, als der Tempel in Jerusalem noch nicht gebaut war. Dennoch wird Gottes Eingreifen „von seinem heiligen Berg“ aus zugesagt. 6 Auch Kyrus spricht – in einer Zeit, als der erste Tempel zerstört ist, – von JHWH als dem Gott, der in Jerusalem ist. Für R. Elasar ein weiterer Hinweis darauf, dass sich Gott nicht vom Tempelberg fortbewegt habe. 7 Im Text des Hhld bezieht sich die Aussage auf den Freund; in der rabbinischen Deutung wird das Hhld in aller Regel auf das Verhältnis Gottes zu Israel hin interpretiert.

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[2] Gottes prüfender Blick „Seine Augen sehen herab, seine Blicke prüfen die Menschenkinder“ [Ps 11,4ag.b]. R. Jannai sagt: Obgleich seine Schechina im Himmel ist, sehen seine Augen herab, prüfen seine Blicke die Menschenkinder. Ein Gleichnis. [Dies gleicht] einem König, welcher einen Obstgarten [‫]פרדס‬ hatte und dort einen hohen Turm baute. Und der König befahl, dass Arbeiter hineingesetzt werden und dort arbeiten sollen. Der König sprach: Wer sich tüchtig in seiner Arbeit erweisen wird, dem wird Erlass gewährt werden.8 Der König, das ist der König der Könige, der Heilige, gepriesen sei Er, und der Obstgarten, das ist die Welt, in die Gott die Israeliten gesetzt hat, um die Tora zu bewahren. Und er hat ihnen die Bedingung gegeben und sagt zu ihnen: Jeder, der die Tora bewahrt, siehe, der hat das Paradies [‫ ]ג עד‬vor sich; und wer die Tora nicht bewahrt, der hat die Hölle [%‫ ]גהינ‬vor sich. Wenn es nun auch den Anschein hat, dass Gott seine Schechina vom Tempel zurückgezogen habe, so sehen doch seine Augen herab und prüfen seine Blicke die Menschenkinder. [3] Die Prüfung der Gerechten und das Weiden der Schafe Und wen prüft er? Den Gerechten, denn es steht geschrieben: „JHWH prüft den Gerechten“ [Ps 11,5aa]. Und wobei prüft er ihn? Beim Weiden der Schafe. So prüfte er David mit Schafen, und er erkannte ihn als einen guten Hirten, denn es steht geschrieben: „[…] und er erwählte seinen Knecht David und nahm ihn von den Schafhürden [‫[ “]מכלאת צא‬Ps 78,70]. Was heißt „Hürde“ [‫ ?]מכלא‬Wie in [dem Vers]: „und es [das Volk] wurde abgehalten [‫ ]ויכלא‬zu bringen“ [Ex 36,6b; das Wort für „Hürde“ (‫ )מכלא‬wird über Ex 36,6b von ‫ כלא‬ni. (=abgehalten werden) her verstanden und im Folgenden narrativ entfaltet]. Er [David] hielt nämlich die großen Schafe zurück und führte zuerst die kleinen hinaus zur Weide, damit die kleinen weiches Futter fänden, dann führte er die alten hinaus, damit sie mittelmäßiges Futter fänden, und danach führte er die jungen [und starken] hinaus, damit sie das Kraut des Feldes essen sollten. Da sprach der Heilige, gepriesen sei Er: Wer so die Schafe jedes nach seiner Kraft zu weiden versteht, der komme und weide auch mein Volk, denn so steht geschrieben: „von den säugenden Schafen holte er ihn, um Jakob, sein Volk, zu weiden“ [Ps 78,71]. Und auch Mose hat er nicht anders denn durch Schafe geprüft. Unsere Rabbinen sagen: Als Mose die Schafe Jitros in der Wüste weidete, lief einmal ein junger Bock davon. Er lief hinter ihm her, bis er an einen schattigen Ort kam. Als er an den schattigen Ort kam, traf er auf ein Wasserbecken, und der Bock stand da, um zu trinken. Als Mose zu ihm kam, sprach er: Ich wusste nicht, dass du weggelaufen bist, weil du müde bist! Er nahm ihn auf seine Schulter und trug ihn zurück. Der Heilige, geprie-

8 Die Wilna-Ausgabe des Midrasch liest hier: „Jeder, der sich tüchtig in seiner Arbeit erweisen wird, wird vollen Lohn erhalten, wer sich aber nachlässig darin zeigt, soll in das Gefängnis (‫ )דימוס‬geworfen werden“, wobei das griechische Lehnwort ‫ דימוס‬von do,moj, nicht von dh/moj abgeleitet und als „Gefängnis“ interpretiert wird. Die erweiterte Lesart legt sich im Blick auf den Nimschal-Teil des Gleichnisses nahe; umgekehrt aber handelt es sich bei der im Haupttext übersetzten Version des Gleichnisses um die lectio difficilior.

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sen sei Er, sprach zu ihm: Du hast Mitleid [%‫ ]רחמי‬bewiesen, die Schafe eines Menschen zu führen, bei deinem Leben, du sollst auch meine Schafe weiden. [Injan-Lemma: Ex 3,1] Daher: „Und Mose weidete …“

Ex 3 als Ziel der vorliegenden Peticha erzählt von der Offenbarung Gottes im brennenden Dornbusch, einer Offenbarung, die zur Beauftragung Moses führt, das Rettungshandeln Gottes an seinem Volk auszuführen. Die Peticha setzt aber mit Ps 11,4a ein – einem bereits in sich selbst spannungsreichen Halbvers. Über den Ort, der JHWH zugeordnet werden kann, findet sich eine zweifache Aussage: „JHWH [ist] in seinem heiligen Tempel, JHWH, im Himmel [ist] sein Thron“. Hans-Joachim Kraus erkennt, dass in Ps 11,4 „die Niedrigkeitsaussage von der Erwählung und Einwohnung Jahwes auf dem Zion und die Hoheitsaussage von der Himmelsherrschaft und dem weltweiten Richtamt Gottes unmittelbar nebeneinander und ineinander“ liegen.9 Für die Rabbinen spitzt sich die Frage nach dem Ort von Gottes Gegenwart angesichts der Tempelzerstörung zu. Ist er bzw. seine Schechina noch immer auf dem heiligen Berg oder nur noch (weit entfernt) im Himmel? Diese Frage prägt den ersten Abschnitt der Peticha und erfährt drei verschiedene, sich widersprechende Antworten: Die Schechina sei seit der Tempelzerstörung nur noch im Himmel, so die Position von R. Schmuel bar Nachman. R. Elasar zeigt mit drei biblischen Belegen, dass JHWH nicht vom heiligen Berg gewichen sei und nie von dort weichen werde. R. Acha konkretisiert noch weiter und spricht – mit einem Vers aus Hhld 2,9 – von der verbliebenen Westmauer des Tempels als dem Ort der Schechina. Mit dem Diktum R. Jannais wird der Faden des Psalms im zweiten Teil der Peticha neu aufgenommen, gleichzeitig deutet sich eine Art Kompromisslinie für die im ersten Teil eröffnete Frage an: Gott ist im Himmel, zugleich blickt er aber nach wie vor auf die Menschen (vgl. Ps 11,4b).10 Dieses Mitsein Gottes in seinem Blick auf die Welt bedeutet keineswegs nur das bewahrende, sondern auch das bedrohlich wachende Prüfen Gottes. Dies bringt das Königsgleichnis zur Sprache: Gottes prüfender Blick führt zur Scheidung im Volk Israel; Kriterium dafür ist das Bewahren der Worte der Tora. Auch der dritte Teil der Peticha nimmt Ps 11 wieder auf, nun V.5aa: „JHWH prüft den Gerechten [‫“]צדיק‬. Die Peticha zeigt mit Verweis auf 9

KRAUS: Psalmen, 1. Teilband, 90f. Für die rabbinische Hermeneutik ist es entscheidend, dass diese Kompromisslinie nicht als einzige Antwort stehen bleibt. Auch die anderen werden aufgeführt und verlieren durch R. Jannais Diktum nicht an Bedeutung. Vgl. zum Phänomen der Bewahrung divergierender Auslegung im Midrasch auch SCHWARTZ: Reimagining the Bible, 33, und oben Kap. 11.2.1.1, 315–317. 10

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David, dass ein Prüfen des Gerechten am besten dort geschieht, wo es um das Weiden einer Herde geht. So habe David durch geschicktes „Abhalten“ (‫ כלא‬ni.) dafür gesorgt, dass alle geweideten Tiere das ihnen Nötige erhalten. Auch Mose habe sich durch seine Art des Weidens empfohlen, da er – wie eine Haggada erzählt – dem Verlorenen nachgeht und sich seiner erbarmt. Mit dieser Erzählung ist die Peticha bei dem Vers der Parascha angelangt. Folgende Übersicht verdeutlicht die Struktur der Peticha: PetichaLemma Der Tempel ist zerstört – und wo ist Gott? Gottes prüfender Blick Die Prüfung der Gerechten und das Weiden der Schafe Injan-Lemma

Ps 11,4aa

„JHWH [ist] in seinem heiligen Tempel …“

Ps 11,4ab

Rabbinische Diskussion mit drei verschiedenen Citemen11 zur Frage nach dem Ort von Gottes Aufenthalt nach der Zerstörung des Tempels Ein Citem und ein rabbinisches Gleichnis (bestehend aus Maschal und Nimschal): Gottes bleibend prüfender Blick auf die Israeliten Zwei narrative Miniaturen zur Prüfung der Gerechten durch Gott: (1) Davids Prüfung als Hirte (2) Moses Prüfung als Hirte Daher: „Und Mose weidete …“

Ps 11,4ag.b

Ps 11,5aa

Ex 3,1

14.1.1 Vernetzungen in der Schrift vs. Ermittlung der Schriftaussage In rabbinischer Hermeneutik kann – wie oben gezeigt – jeder Teil der Schrift in der Erwartung wechselseitiger Erhellung mit jedem anderen verknüpft werden.12 Besonders die Peticha lebt davon, Vernetzungen in der Schrift vor Augen zu führen und mit dem Ereignis von Bedeutungskonstitutionen aufgrund der gestalteten Intertextualität zu rechnen. Bei der zitierten Peticha aus ShemR 2,2 werden primär Ps 11, der mit Hans-Joachim Kraus „in die Gruppe der ‚Vertrauenslieder‘“13 eingeordnet werden kann, und die Berufungserzählung aus Ex 3 miteinander verbunden. Zwar wird aus beiden Texten nur fragmentarisch zitiert (Ps 11,4f; Ex 3,1), dennoch ist

11

Vgl. zum Begriff GOLDBERG: Zitat und Citem, und dazu oben Kap. 10.1.2, 283f. Vgl. oben Kap. 11.1.1.1; vgl. auch GOLDBERG: Form-Analysis of Midrashic Literature, 89, der die Funktion der rabbinischen Homilie insgesamt darin erkennt, „relations between verses from Scripture“ aufzuzeigen. 13 KRAUS: Psalmen, 1. Teilband, 89. 12

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mit dem jeweiligen Zitat der gesamte Kontext aufgerufen,14 wodurch sich ein intertextueller Raum eröffnet, in dem sich Ps 11 und Ex 3 begegnen. Auf den ersten Blick erscheint die Verbindung beider Texte arbiträr; weder sprachliche noch inhaltliche Berührungen zwischen Ps 11 und Ex 3 liegen auf der Hand. Dennoch erschließt die Peticha u.a. folgende Wechselbeziehungen: • Die im ersten Teil der Peticha diskutierte Frage nach dem Ort, an dem die Schechina gesucht werden kann, lässt sich mit der Gotteserscheinung im brennenden Dornbusch in Verbindung bringen. Dabei zeigt der Text von Ex 3 eine ähnliche Ambivalenz, wie sie sich in Ps 11,4a beobachten lässt: Einerseits heißt es dort, dass der „Engel JHWHs“ (Ex 3,2) in der feurigen Flamme erscheine, andererseits spricht Gott selbst direkt „aus dem Busch“ zu Mose (Ex 3,4). Zwischen dem in der Niedrigkeit des Dornbuschs einwohnenden und dem lediglich vermittelt im Dornbusch erscheinenden Gott tut sich ein Spannungsfeld auf, das als eines der Argumente für eine literarkritische Scheidung von Ex 3 dienen konnte.15 Auf der Ebene des Endtextes aber stehen beide Aussagen nebeneinander. In Ex 3 wie in Ps 11 erscheint Gott als der irdisch Nahe und doch gleichzeitig der Welt Überlegene. • Ps 11 beschreibt die Situation eines von „Gottlosen“ Verfolgten, der bei JHWH, in seinem heiligen Tempel, Zuflucht sucht (Ps 11,1–3). Auch Mose in Midian ist auf der Flucht; ein schützendes Heiligtum kann er noch nicht aufsuchen. Stattdessen erweist Gott sich für ihn und sein Volk durch seine Verheißung inmitten der Wüste Midians als Zuflucht und Zukunft. In Ps 11 erscheint Gott aber keineswegs nur als bewahrender. Der Beter preist zugleich JHWHs Gerechtigkeit, die die Gottlosen verderben, den Frommen aber das göttliche Angesicht schauen lassen wird (V.4–7). Von diesen Gerichtsaussagen aus Ps 11 (bes. V.6) ausgehend kommen – wenn man sie auf Ex 3 bezieht – die ägyptischen Plagen sowie die Ereignisse beim Auszug des Volkes bereits andeutungsweise in den Blick. Im zweiten Teil der Peticha wird dann unmissverständlich deutlich, dass Gottes Blick auf die Welt auch sein richtendes Beurteilen bedeutet. • Nicht zuletzt bringen die beiden Texte zwei biblische Figuren und deren Geschichten miteinander ins Spiel: David (Ps 11,1: „Von David …“) und Mose (Ex 3). Beide nehmen ihren Anfang als Hirten einer Kleinviehherde; bei beiden wird dies – so der dritte Teil der Peticha – zur Bewährung für ihre Fähigkeit, Gottes Volk zu leiten. Sicherlich ließen sich – einmal miteinander ins Wechselspiel gebracht – zahlreiche weitere Nähen und Unterschiede entdecken zwischen Mose als prophetischem und David als königlichem Führer Israels. 14 Vgl. zur Evozierung des weiteren Kontextes durch das Zitat eines Verses etwa die bleibend lesenswerte Studie Hartmut Geses zur Bedeutung von Ps 22 für die Darstellung der Passion Jesu (GESE: Psalm 22, bes. 180.193–196). 15 Klassisch wird der Text J und E zugewiesen sowie mit einigen weiteren Ergänzungen gerechnet. Ex 3,2 gehört dabei – nach W. H. Schmidt – zu J, Ex 3,4b* wird E zugerechnet, vgl. die Übersicht bei SCHMIDT: Exodus, 109 [tabellarische Übersicht]; vgl. auch bereits NOTH: Das zweite Buch Mose, 22.

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Am Ende der Peticha bleibt offen, was Ex 3 oder Ps 11 eigentlich bedeuten. Die Texte werden nicht auf eine Aussage reduziert, sondern durch ihre Vernetzung zusammen mit den weiteren zitierten Schriftstellen in einen Raum wechselseitiger Deutung gebracht.

14.1.2 Parataktische Collage vs. hypotaktischer Diskurs Bei der Peticha handelt es sich um eine Kompositionsform16, die aus unterschiedlichen einfachen Formen zusammengesetzt ist. Im zitierten Beispiel aus ShemR werden im ersten Teil drei Citeme ohne zusammenfassende Schlussfolgerung und verbindende Überleitung nebeneinander gestellt. Der zweite Teil der Peticha wird vor allem von einem rabbinischen Gleichnis geprägt. Im dritten Teil finden sich zwei haggadische Erzählungen. Diese verschiedenen Texte verbindet die Peticha zu einem neuen Ganzen. Ihren Charakter als Komposition teilt sie mit der rabbinischen Literatur insgesamt, worin Arnold Goldberg eine spezifisch rabbinische Sprachkunst erkennt. Er schreibt: „Sicherlich ist es falsch davon auszugehen, daß die Anordnung der Zitate ein durchweg rationaler Akt ist oder daß der Redaktor oder Darschan sich ganz oder auch nur teilweise der Funktionen bewußt war. Das kann für so rationale Texte wie die Gemara angenommen werden; für den aggadischen Midrasch, im besonderen für die Homilie, gilt dies kaum. Die Verbindung der Zitate zu neuen Formen und Aussagen war doch wohl eher zu einer zweiten Sprache geworden, die der Darschan oder Redaktor spricht, ohne sich ihrer Gesetze ganz bewußt zu werden. So zu sprechen ist eine Kunst, eine Weise der Aussage, die man als Dichtung vernehmen muß.“17

Von den Petichot als Kunstwerken spricht auch der Midrasch-Übersetzer August Wünsche in seinen Bemerkungen zu den Petichot, die der Midrasch EkhaR zu Klgl 1,1 versammelt.18 „In formeller Hinsicht erscheinen die Prooemien gradezu [sic!] als rhetorische Kunststückchen […]. Man kann sie gewissermaßen als rhetorische Exercitien bezeichnen, bei denen nichts als zwei Stichworte gegeben sind, die Bibelstelle am Anfang und das Wort Echa am Schluss, und dem Redner die Aufgabe zufällt, zwischen beiden einen Zusammenhang herzustellen.“19

16

Vgl. GOLDBERG: Versuch über die hermeneutische Präsupposition und Struktur der PetiÎa,

303f.

17

GOLDBERG: Entwurf einer formanalytischen Methode, 66. Vgl. zu den Einleitungsfragen zu EkhaR STEMBERGER: Einleitung, 279–283, und zur Interpretation u.a. COHEN: The Destruction. 19 WÜNSCHE: Der Midrasch Echa Rabbati, vi. 18

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Die Sprach-Kunst der Rabbinen liegt in der Schaffung eines neuen Zusammenhangs durch die Verbindung unterschiedlicher Materialien. Mit anderen Worten: Es handelt sich um die Kunst der Erstellung einer sprachlichen Collage.20 Durch die Zusammenstellung kommen formal wie inhaltlich verschiedene Aussagen oft ohne Überleitung nebeneinander zu stehen. Im Beispiel der zitierten Peticha aus ShemR folgen Aussagen zum Ort der Schechina, zum Blick Gottes auf die Welt und zum Weiden Davids und Moses aufeinander. Ihren Zusammenhalt gewinnen sie allein dadurch, dass die Peticha den Worten des elften Psalms nachgeht. Es ist also nicht eine argumentativ-diskursive Logik, die vom Ausgangs- zum Zielvers der Peticha führt, vielmehr wird die Peticha durch die sukzessive Aufnahme weiterer Lemmata aus dem Kontext des Ausgangsverses strukturiert.21 Mit einem syntaktischen Begriff könnte man bei der Peticha von einer Parataxe sprechen, die verschiedene, je für sich abgeschlossene Formen gleichwertig neben-ordnet und sich dadurch von einer – mehrere Aussagen unter-ordnenden – Hypotaxe unterscheidet. Auch wenn die Peticha parataktisch aufgebaut ist und auf argumentativdiskursive Logik verzichtet, erscheint sie dennoch alles andere als beliebig. Wie auch eine Collage in der bildenden Kunst ermöglicht sie ein bestimmtes und neues Wahrnehmen des Dargestellten, ohne jedoch auf die eine Aussage fixiert werden zu können.22

14.1.3 Indirekte vs. direkte Applikation In der zitierten Peticha aus ShemR findet sich, wie generell im haggadischen Midrasch, keine einzige direkt-applikative Aussage. Der Darschan enthält sich – wenigstens in der schriftlich überlieferten Fassung – jeder Festlegung, was die Aussagen für die Hörer der Gegenwart bedeuten könnten.23 Und dennoch fällt es nicht schwer, Fragen zu imaginieren, auf die die Peticha Antworten andeutet: Etwa – als eine Frage des elften Psalms – die Frage nach der Möglichkeit der Bergung und Rettung bei Gott, die angesichts des Fehlens des Tempels als sichtbarem Ort der Gottesgegenwart ihre 20 Vgl. zum Begriff der Collage GOLDBERG: Der verschriftete Sprechakt als rabbinische Literatur, 7; vgl. auch EBACH: Das Zitat als Kommunikationsform, 60 [bei Ebach im Blick auf den Diskurs der Gemara]. 21 Neben dieser hier realisierten Struktur findet sich in den Petichot häufig auch eine Aneinanderreihung unterschiedlicher Auslegungen zum gleichen Ausgangsvers, von denen die letzte dann auf den Zielvers hinführt. 22 Vgl. auch STELLER: Giv’on, 54; GOLDBERG: Entwurf einer formanalytischen Methode, 54. 23 Vgl. GOLDBERG: Der verschriftete Sprechakt, 8, der darauf hinweist, dass generell in der rabbinischen Homilie sowohl das „‚Ich‘ des Autors“ als auch die „Anrede an einen möglichen Adressaten“ fehlen.

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Zuspitzung erfährt. Oder, um nur eine weitere zu nennen, die Frage danach, ob es angesichts der Erfahrung der Gottesferne überhaupt noch Sinn mache, nach der Tora und ihren Mizwot zu leben – eine Frage, auf die der zweite Teil der Peticha eine deutliche Antwort gibt. Sollte es sich bei der Peticha aus ShemR um eine in Kurzfassung erhaltene Derascha aus rabbinischer Zeit handeln, so sind sehr unterschiedliche Rezeptionen der Peticha denkbar: Man könnte sie als Beruhigung hören, weil Gott auch nach der Zerstörung seine Zuwendung zu seinem Volk nicht aufgibt, oder umgekehrt als Beunruhigung, weil Gott unterscheidend und richtend sein Volk beobachtet und die Erfüllung der Tora auch dann erwartet, wenn er so weit weg scheint wie der Wächter auf einem Turm des Obstgartens, oder, um nur eine weitere denkbare Wirkung zu nennen, als Hoffnung stärkend, weil Gott sich in auswegloser Lage einen Gerechten wie David oder Mose erwählen wird, der es versteht, sein Volk angemessen zu weiden. In der Peticha leuchten en passant, unterwegs vom Text zum Text, Lebenssituationen, Lebensfragen und mögliche Antworten auf. Deutlicher als bei der zitierten Peticha aus ShemR lässt sich die Situation, in die hinein Petichot sprechen, dann bestimmen, wenn der liturgische Ort der Petichot bekannt ist. Dies ist etwa bei den Petichot der Fall, die zu Beginn von EkhaR als ‫„( פתיחתא דחכימי‬Einleitung der Schriftgelehrten“24) überliefert sind. Das Buch der Klgl wird als Megilla (Festrolle) zum Tischa be’Av, zum Gedenktag der Zerstörung des Tempels in Jerusalem (und weiterer Zerstörungen in der jüdischen Geschichte), gelesen.25 Die 34 (36) Petichot, die dazu überliefert sind,26 setzen sich daher mit den angesichts der Zerstörungserfahrungen akuten Fragen auseinander, vor allem mit der Frage, wie sich die Zerstörung mit der Erwählung des Volkes und mit der Vorstellung von einem gnädigen und allmächtigen Gott in Einklang bringen lässt. Die Theodizeefrage steht im Raum, die allerdings in keiner der Petichot direkt erwähnt wird. Alle Petichot führen von einem „entfernten Vers“ zu Klgl 1,1, wobei die Redaktion von EkhaR häufig den überleitenden Satz verwendet: „Da sie sündigten, wurden sie ins Exil geführt [‫]כיו שחטאו גלו‬, und da sie ins Exil geführt wurden, stimmte Jeremia die Klage über sie an: ‚Wie liegt die Stadt so verlassen […]‘“. Diese Überleitung bekräftigt den Tun-Ergehens-Zusammenhang, der in einigen der Petichot

24

So die Übersetzung von Wünsche; vgl. WÜNSCHE: Der Midrasch Echa Rabbati, 1–41. Vgl. dazu VOLKMANN: Vom „Judensonntag“ zum „Israelsonntag“, 42–64. 26 In der klassischen Wilna-Ausgabe werden 34 Petichot gezählt; Wünsche zählt 33 (vgl. WÜNSCHE: Der Midrasch Echa Rabbati, v). Bei Peticha 2 und 31 (in der Zählung der Wilna-Ausgabe) handelt es sich um zwei (aus jeweils zwei ursprünglich unabhängigen) zusammengesetzte Petichot, weswegen insgesamt von 36 Petichot ausgegangen werden kann. Dies entspricht auch dem gematrischen Zahlenwert von ‫איכה‬. Meine Nummerierung im Folgenden bezieht sich auf die Wilna-Ausgabe. 25

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ausführlicher entfaltet wird.27 So parallelisiert etwa Peticha 4 die Urgeschichte und die Geschichte Israels: Gott setzte den ersten Menschen in den Garten, gab ihm Gebote, die er aber übertrat, und vertrieb ihn aus dem Garten; ganz ähnlich die Geschichte des Volkes: Gott führte es in das Land, gab ihm Gebote, die es aber übertrat, weswegen Gott es von dort vertrieb. Exegetische Klammer zwischen Urgeschichte und Geschichte Israels ist das Wort ‫„( איכה‬echa“) aus Klgl 1,1, das der Midrasch mit Gen 3,9 (&‫ ;איי‬eigentlich „ajjäka“: „Wo bist du?“) verbindet. Die Peticha liest auch in Gen 3,9 „echa“, was vom Konsonantenbestand her nicht ganz (doppeltes ‫)י‬, aber annähernd möglich ist. Der Tun-Ergehens-Zusammenhang wird damit zwar in der Peticha bestätigt, gleichzeitig aber wird Gott selbst als einer geschildert, der – wie Jeremia später in Klgl 1,1 – in Klage ausbricht angesichts des Verhaltens seines Volkes. Dieses Bild eines klagenden Gottes wird auch in weiteren Petichot gezeichnet (etwa Peticha 8). Andere beschreiben Gott als einen, der nun – nach der Zerstörung des Tempels – selbst einsam ist (vgl. Petichot 2028; 2129; 29), sich als in seinen eigenen Worten gefangener Gott fühlt (vgl. Peticha 33) oder angesichts des Schicksals Israels weint (vgl. Peticha 2430). Die letztgenannte Peticha schildert eindrucksvoll, wie Gott zusammen mit Jeremia die Ruine des Tempels besichtigt, in Tränen ausbricht und feststellt, er gleiche heute jemandem, der einen einzigen Sohn hatte, für diesen die Chuppa (das Hochzeitszelt) aufstellte und dessen Sohn unter der Chuppa verstarb. Der weinende Gott lässt Abraham, Isaak, Jakob und Mose herbeirufen, da diese zu weinen verstünden. Schließlich tritt Rahel auf, die um ihre Kinder weint. Durch ihre Klage verwandelt sich der weinende zum getrösteten und tröstenden Gott, der mit Jer 31,16 sagt: „[…] Lass dein Schreien und Weinen und die Tränen deiner Augen […]“. Die Petichot bieten insgesamt nicht die eine Antwort auf die Theodizeefrage, aber sie eröffnen durch die Verknüpfung biblischer Verse und die Beschreibung unterschiedlicher Reaktionen Gottes Sprach- und Denkräume, die betreten werden können. In Aufnahme von vier lyrischen Versuchen eines Umgangs mit der Theodizeefrage im 20. Jahrhundert spricht Martin Nicol davon, dass die untersuchten Lyriker nicht Denkmuster, sondern Sprachspiele angesichts der Theodizeefrage böten.31 Ganz ähnlich lässt sich dies für die Petichot von EkhaR formulieren. Ohne direkt applikativ zu sagen, wie angesichts der Theodizeefrage zu denken oder zu reden sei, lassen sie Hörende und Lesende teilhaben an unterschiedlichen Sprachversuchen.

Der Verzicht auf direkte Applikation in den Petichot (und generell in der rabbinischen Haggada) scheint mir theologisch darin begründet, dass rabbinische Auslegung mit Gottes „Orthotomie“ rechnet – damit, dass Gottes 27

Vgl. dazu die Petichot 4; 10; 11; 19; 22; 31[b]. Gott sei „einsam wie ein Vogel auf dem Dach“, so heißt es in Aufnahme von Ps 102,8. 29 Heinemann sieht diese Peticha an der Grenze zur Blasphemie: Der zerstörte Tempel wird in ihr mit einem ausgestoßenen Leprakranken in Beziehung gesetzt (vgl. HEINEMANN: The Literature of the Synagogue, 131). 30 Vgl. zu einer Interpretation dieser längsten aller Petichot in EkhaR STERN: Midrash and Theory, 80–88; SCHRAMM: Schwarzes und weißes Feuer, 235–237. 31 Vgl. NICOL: Living with the Hidden God, bes. 454. 28

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Wort den Einzelnen direkt und unterschiedlich begegnet.32 Etwa PesK 12,25, eine Auslegung zu Ex 20,2a („Ich bin JHWH, dein Gott“), bringt dies zur Sprache: „Rabbi Levi hat gesagt: Es erschien ihnen der Heilige, gepriesen sei Er, wie jenes Bild [‫ ;איקוני‬vgl. gr. eivko,nion], das Gesichter auf jeder Seite hat. Tausend Menschen blicken es an, und es sieht auf alle. So auch der Heilige, gepriesen sei Er: Als er sprach, sagte jeder Einzelne der Israeliten: Mit mir spricht das Wort. ‚Ich bin JHWH, euer Gott‘, steht hier nicht geschrieben, sondern: ‚Ich bin JHWH, dein Gott‘. Es sagte R. Jossi bar Chanina: Nach der Kraft jedes Einzelnen redete das Wort mit ihm. Wundere dich nicht über diese Aussage, denn auch als das Manna auf Israel herunterkam, hatte es für jeden Einzelnen seinen Geschmack nach seiner Kraft. […] Und wie das Manna seinen Geschmack für jeden Einzelnen nach seiner Kraft hatte, so hört auch jeder Einzelne das Wort nach seiner Kraft.“

14.2 Predigt als Eröffnung: Der Weg im Text 14.2.1 … nos in verbum suum mutuat Zur Eröffnung eines homiletischen Dialogs mit der Peticha setze ich bei Martin Luther ein. Wie oben gezeigt weist Luthers reformatorische Schriftlehre strukturelle Analogien zur apriorischen Tora-Erwartung im rabbinischen Judentum auf und kann grundlegend als skripturale Hermeneutik charakterisiert werden.33 Wort und Glaube stehen bei Luther in unmittelbarem Zusammenhang: Lesen der Schrift bedeutet Verwandeltwerden in das rechtfertigende Wort hinein und so die Neubegründung menschlicher Existenz im äußeren Wort der Schrift. Dies betont Luther bereits in seiner ersten Vorlesung zum Römerbrief 1515/16 zu Röm 3,4 sowie dem darin aufgenommenen Zitat aus Ps 51,6: „Vincit [bezogen auf Gott, AD] enim in verbo suo, dum nos tales facit, quale est verbum suum, hoc est Iustum, verum, Sapiens etc. Et ita nos in verbum suum, non autem verbum suum in nos mutuat.“34 Aus dieser hermeneutisch-soteriologischen Grundlegung35 folgt die Zentralstellung der Predigt; genauer: einer Predigt, die in die Bewegung des 32

Der Begriff der „Orthotomie“ wird seit dem 16. Jahrhundert in poimenischem Kontext verwendet. Eine wichtige Rolle spielte er, seit ihn Nitzsch Mitte des 19. Jahrhunderts neu betonte. Er verstand darunter die „rechte Austheilung und Anwendung des göttlichen Wortes“ (NITZSCH: Praktische Theologie, 168–178, Zitat: 168; vgl. dann auch ACHELIS: Lehrbuch der Praktischen Theologie, 85–87). 33 Vgl. oben Kap. 8.1.4, 233f, und Kap. 13.4.1. 34 WA 56, 227, 2–5. 35 Vgl. zu dieser hermeneutischen Grundlegung etwa auch den VELKD-Text mit dem Titel „Ökumene nach evangelisch-lutherischem Verständnis“ (2004). Dort heißt es: „[…] hermeneuti-

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rechtfertigenden Wortes hineinführt. So beschließt Luther den ersten Teil seiner Kirchenpostille, einer Sammlung von „Predigtmeditationen“, mit dem eindringlichen Ruf: „Darumb hyneyn, hyneyn, lieben Christen, und last meyn und aller lerer außlegen nur eyn gerust seyn zum rechten baw, das wyr das blosse, lautter gottis wort selbs fassen, schmecken unnd da bleyben; denn da wonet gott alleyn ynn Zion. AMEN.“36

Die Predigt – wie jede Schriftauslegung – setzt sich nicht an die Stelle der Schrift, sondern versteht sich als ein Gerüst, mit dessen Hilfe der schon längst fertige (!) Bau der Schrift begangen und bewohnt werden kann in der Erwartung, in diesem Bau dem Gott zu begegnen, der darin Wohnung genommen hat. Predigt und jede Form menschlicher Auslegung erscheinen für Luther eminent bedeutsam, aber gegenüber der Schrift selbst sekundär: „O das gott wollt, meyn und aller lerer außlegung untergiengen, unnd eyn iglicher Christenn selbs die blosse schrifft und lautter gottis wortt fur sich nehme!“37 Keineswegs dürfe sich die Auslegung anmaßen, dem Wort Gottes zu genügen, es zu erreichen oder umfassend zu erklären: „[…] wie gar keyn mensch mag eyn eyniges gottis wortt gnugsam erreychen und vorkleren mit allen seynen wortten. Es ist eyn unendlich wort […]“38 . Mit dieser Betonung der Unendlichkeit des Wortes und seiner Unerschöpflichkeit, weist Luther zugleich auf eine Lebensform der Christinnen und Christen hin, die sich als textgebundene Existenz bezeichnen ließe und unaufhörlich unterwegs zum Text bleibt in der Erwartung, im Lesen des äußeren Wortes der Schrift in die Bewegung des Wortes Gottes hineingezogen zu werden.39 En passant, in einem Petitsatz, findet diese grundlegende Richtungsangabe Luthers in der Predigtlehre Rudolf Bohrens Aufnahme, wenn Bohren schreibt: „Angst vor Langeweile wird bei dem Prediger gar nicht aufkommen, der unterwegs zu seinem Text bleibt und darum staunt über die Unendlichkeit des Wortes Gottes und über den Stückwerkcharakter seines

sche Gewissheit“ sei als jenes „Ereignis“ zu bestimmen, „in dem Personen die Wahrheit eines Textes dadurch ergreifen, dass sie von dieser Wahrheit ergriffen werden. Das ist die Bedingung aller Wahrheitserkenntnis. Dieses unverfügbare Geschehen der Wahrheitserkenntnis durch Wahrheitsgewissheit ist seinerseits zu verstehen als Wirken Gottes, genauer als Werk des Heiligen Geistes am und im Herzen derer, die das Evangelium hören“ (1h [=S. 5]). Es sei nur angemerkt, dass das gleiche VELKD-Dokument zeigt, wie schwierig es ist, diese hermeneutische Bestimmung durchzuhalten. So spricht der Text noch vorher (!) davon, dass zum „Verstehen“ (Singular!) eines Textes dessen „eigene[r] Sinn (Literalsinn)“ ermittelt werden müsse – und zwar durch „Personen […], die in der Lage sind, den Sinn, der den Texten eigen ist […], zu erfassen und wiederzugeben“ (1f [= S. 5]). 36 WA 10,1,1, 728, 18–22. 37 WA 10,1,1, 728, 9–11. 38 WA 10,1,1, 728, 12–14. 39 Vgl. dazu auch NICOL: Meditation bei Luther, bes. 47–49.167–181.

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Sagens.“40 Auch Karl Barth bezeichnet in seinem Homiletikseminar das „Hineinkommen in die Bewegung des Wortes“41 als die Grundbedingung der „Biblizität der Predigt“42. Zu fragen bleibt dann aber: Welche Gestalt der Predigtrede entspricht dieser hermeneutischen Einsicht? Barths Verweis auf die Homilie als Grundform der Predigt reicht m.E. zur Beantwortung dieser Frage keineswegs aus. An vielen Beispielen ließe sich zeigen, dass sich die Homiletik mit dieser Formales und Inhaltliches verbindenden Gestaltfrage immer wieder schwer tut. Ich greife nur ein Beispiel heraus: Die Gleichnishomiletik hinkt m.E. noch immer den wesentlichen Erkenntnissen der Gleichnishermeneutik des 20. Jahrhunderts hinterher. Hatte man die Gleichnisse Jesu zu Beginn des Jahrhunderts durch Jülichers bahnbrechende Arbeiten in rhetorischer Perspektive neu verstanden als Reden, die auf ein tertium comparationis zwischen Bild- und Sachhälfte hin interpretiert werden müssen, so konnte die Homiletik dieser Entwicklung noch relativ problemlos nachkommen, indem sie zunehmend die vorherrschend allegorische und paränetische Auslegung vergangener Zeiten hinter sich ließ und ihre Rede auf das tertium comparationis als Pointe der Gleichnisse fokussierte. Als dann aber durch Theologen wie Ernst Fuchs, Eberhard Jüngel, Wolfgang Harnisch oder Hans Weder Gleichnisse als Sprachereignisse verstanden wurden, die nicht auf ein begrifflich fassbares tertium außerhalb ihrer selbst reduziert werden können, blieb die Homiletik weithin eine Antwort auf die sich jetzt erst recht stellende Frage schuldig, wie das biblische Sprachereignis in der Predigtrede Gestalt finden könne. Stattdessen setzt sich eine auf das tertium orientierte Predigt neben allegorischen und moralischen Auslegungen fort; daneben finden sich nicht wenige Predigten, die nun über das Gleichnis als Sprachereignis reden. Die Frage nach einer angemessenen Kanzel-Inszenierung des Sprachereignisses Gleichnis bleibt demgegenüber aber weithin unbeantwortet.43

Ich sehe in der Peticha einen Anstoß zur formalen Gestaltung einer Predigtrede im Kontext skripturaler Hermeneutik, die – Luthers Richtungsangabe aufnehmend – „hyneyn, hyneyn“ in das biblische Wort führt und dabei selbst so bescheiden bleibt, dass sie sich als nicht mehr sieht als einen KonText zum biblischen Text – in Luthers Bild: ein Gerüst, mit dessen Hilfe der Bau der Schrift begangen werden kann. In Aufnahme der drei im ersten Teil dieses Kapitels erarbeiteten hermeneutischen Aspekte zur Peticha würde dies eine Predigtrede bedeuten, die (1) einführt in die vernetzte Welt des biblischen Textes, (2) dabei verschiedenartige Wege in den Text zeigt und parataktisch nebeneinander stellt sowie (3) mit der Mündigkeit der Hörerinnen und Hörer rechnet, vom begehbaren Gerüst der Predigt aus eigene 40

BOHREN: Predigtlehre, 384 [Hervorhebung AD]. BARTH: Homiletik, 62. 42 Vgl. zur „Biblizität der Predigt“ BARTH: Homiletik, 58–64. 43 Vgl. zur Entwicklung der Gleichnishermeneutik ERLEMANN: Gleichnisauslegung, 11–51; HARNISCH: Die Gleichniserzählungen Jesu; ROLOFF: Neues Testament, 140–143; vgl. zur Gleichnispredigt DUTZMANN: Gleichniserzählungen. 41

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Wege in das biblische Wort zu finden. Insgesamt wäre Predigen weniger als ein Aus-legen, als vielmehr ein Hinein-führen zu verstehen. Zwei Hinweise, die zeigen, wie die Peticha Anregungen für eine Predigt als „Einführung“ geben kann, sollen im Folgenden angedeutet werden.

14.2.2 Parataktische Collage als Predigt-Struktur Die Peticha ist parataktische Collage. Unterschiedliche Stimmen kommen nebeneinander zu stehen und ergeben ein mehrstimmiges Ganzes. Die einfachste Art, eine mehrstimmige Kanzelrede zu erreichen, könnte darin gesehen werden, verschiedene Menschen zu Wort kommen zu lassen. Allerdings führte die vor allem seit den 1970er Jahren propagierte Dialogpredigt44 kaum zu einer wirklichen Veränderung der Kanzelrede hin zu mehr Dialogizität – wohl vor allem deshalb, weil es sich in der Praxis der Dialogpredigten nicht selten um dialogisch verteilte Monologe (gerne als Frage und Antwort) handelte. Vielversprechender erscheint das im Lernen vom rabbinischen Midrasch entwickelte Modell, das Uta Pohl-Patalong als „Bibliolog“ aus der Anregung des US-amerikanischen „Bibliodramatic Midrash“ (Peter Pitzele) in die deutschsprachige Homiletik brachte.45 Die zum Gottesdienst versammelte Gemeinde wird in diesem Modell mit einem biblischen Wort (meist einer biblischen Erzählung) konfrontiert und kurz in die vorausgesetzte Situation eingeführt. Die Gottesdienst-Feiernden sollen sich dann in dem biblischen Text verorten und z.B. als einzelne Akteure der biblischen Erzählung selbst das Wort ergreifen. Die unterschiedlichen Aussagen werden von der Moderatorin oder dem Moderator nicht auf einen Punkt gebracht, sondern bewusst in ihrer Vielstimmigkeit im Raum belassen. Es entsteht ein Netz unterschiedlicher Einzelaussagen, in dem Lebenswirklichkeiten – wie in der rabbinischen Peticha – indirekt zur Sprache kommen. Die Vielstimmigkeit der entstehenden „Predigten“ sowie die Indirektheit der Applikation des Bibelwortes zeigen die Nähen des „Bibliologs“ zur Hermeneutik der Peticha. Gleichzeitig sind aber auch wesentliche Unterschiede nicht zu übersehen: (1) Während die Spannung des „Bibliodramatic Midrash“/„Bibliologs“ durch die Konfrontation der Teilnehmenden mit dem biblischen Wort entsteht, gewinnt die Peticha ihre Spannung aus dem intertextuellen Verhältnis (mindestens) zweier unterschiedlicher biblischer Aussagen. 44

Vgl. dazu HAUSTEIN: Sprachgestalten der Verkündigung, 469f; vgl. auch 496 (Lit.!). Vgl. dazu oben Kap. 7.4.2. Ähnliche Intentionen hat das „Glaubensgespräch“, das KlausPeter Jörns als Alternative zur monologen Kanzelrede vorschlägt (vgl. JÖRNS: Schritte der Predigtvorbereitung, 280f). 45

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(2) Während die Aussagen des „Bibliodramatic Midrash“/„Bibliolog“ unkommentiert und unstrukturiert aufeinander folgen (wie es analog auch die Dynamik der Entwicklung eines Bibliodramas kennzeichnet), ist die Peticha durch eine bewusst gestaltete Spannung charakterisiert. Die einzelnen Auslegungen, die vom Ausgangsvers zum Zielvers führen, reihen sich nicht willkürlich, sondern in einer reflektierten Dramaturgie aneinander. (3) Während die Teilnehmenden am „Bibliodramatic Midrash“/„Bibliolog“ Figuren und Gegenständen der biblischen Geschichte ihre Stimme leihen und sich so mit Handlungsträgern im Text identifizieren, bewegen sich die rabbinischen Ausleger in den durch mindestens zwei Texte eröffneten Textraum hinein und beziehen sich kommentierend oder fragend auf diesen „äußeren Text“ in seinem Wortlaut.

Pointiert kann formuliert werden: Während die Peticha den Weg in den intertextuellen Raum des Tanach durch die strukturiert und reflektiert gestaltete Bewegung einer monologen Rede eröffnet, bleibt der „Bibliolog“/„Bibliodramatic Midrash“ – wie sein Vorbild, das Bibliodrama – ausgerichtet auf das Wechselspiel zwischen den situativen und individuellen Entdeckungen Einzelner und dem biblischen Text. Dieser Unterschied zeigt aber im Umkehrschluss zugleich, dass die Wahrnehmung der Peticha Anregungen zur Gestaltung einer mehrstimmigen monologen Kanzelrede verspricht. Dieser Spur gehe ich daher im Folgenden weiter nach. Dabei erkenne ich die entscheidende Voraussetzung für jede Mehrstimmigkeit in monologer Rede darin, von der Forderung nach einer logischdiskursiven Einheit der Predigtrede Abstand zu nehmen. In der Geschichte der Homiletik war es besonders Schleiermacher, der eine solche Einheit zum Grundprinzip der Predigtgestaltung erhob. Die „Einheit“ des Cultus insgesamt galt für Schleiermacher als grundlegende ästhetische Gestaltungsregel.46 Sie wird auch zum entscheidenden Kriterium für die Gestaltung der religiösen Rede.47 Wie jedes „Kunstwerk“ sei auch die religiöse Rede durch ihren „organische[n] Charakter“ bestimmt.48 Die spezifische Einheit der Predigtrede bestimmt Schleiermacher doppelt, als subjektive und objektive Einheit:49 Zunächst sei von einer subjektiven bzw. individuellen Einheit der religiösen Rede auszugehen, die sich als „in sich vollendete Darstellung des religiösen Bewußtseins“50 beschreiben lasse und dadurch entstehe, dass der Prediger das in dem biblischen Text zur Sprache 46

SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 136 [„Einheit des ganzen“]; vgl. auch 138f [organischer Zusammenhang des Gottesdienstes]. Diese „Einheit“ sah Schleiermacher schon dann gefährdet, wenn neben der der Predigt zugrundeliegenden Schriftstelle noch weitere Bibelworte im Gottesdienst verlesen werden sollten (vgl. 136–139). 47 So beginnt Schleiermachers „Theorie der religiösen Rede“ mit einem Kapitel zu deren „Einheit“ (vgl. SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 222–251 [Von der Einheit der religiösen Rede]; vgl. dazu auch SCHRÖER: Die Einheit der Predigt, 344). 48 SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 232; vgl. zum Begriff der „Kunstmäßigkeit“ als Kriterium für die religiöse Rede 233. 49 Vgl. SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 226. 50 SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 225.

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kommende religiöse Bewusstsein des Urhebers des Textes nachkonstruiere.51 Daneben spricht Schleiermacher dann von einer objektiven Einheit der religiösen Rede, die als Einheit des Gegenstandes zu bestimmen sei.52 Sie erweise sich darin, dass die Predigtrede als „zusammenhängende Folge von Gedanken“ erscheint.53 Daher fordert Schleiermacher von dem Prediger, dass dieser „Herr […] über die Combination seiner Gedanken“ sein müsse.54 Mit anderen Worten: der – in den Prediger hinein assimilierte – Text steht für die subjektive, das Thema für die objektive Einheit der Rede.55 Dabei allerdings grenzt sich Schleiermacher von einer älteren Auffassung der Lehrpredigt deutlich ab, die meinte, mit der bloßen Benennung des Themas dieses erfassen und die Einheit bereits schaffen zu können. Vielmehr geht es ihm darum, durch die Predigtrede in den spezifischen Gegenstand hineinzunehmen56 und so das religiöse Bewusstsein zu beleben57. Im Miteinander von Text und Thema finde die Predigtrede daher ihre einheitliche Gestalt.58 Diese manifestiere sich in der Klarheit der „Anordnung des Stoffes“ und der „Disposition“ der Predigt.59 Dabei entwickelten sich Predigtgedanken und Predigtaufbau idealiter gemeinsam. Eine Unvollkommenheit der Predigtrede werde dadurch vermieden, „daß innerlich beides die Disposition und die Ausbildung der Gedanken gleichmäßig“ voranschreite und so das „lebendige Ganze“ der Rede ergebe.60

Die ästhetische Einheit des Kunstwerks der religiösen Rede als Einheit im Miteinander von Text und Thema erweist sich in der logisch-stringenten Anlage der Predigten Schleiermachers. An lediglich einem Beispiel möchte ich dies vor Augen führen. Ich wähle eine Christfestpredigt Schleiermachers, die im Jahr 1826 zuerst im Druck erschien.61 Schleiermacher greift darin auf Lk 1,31f sowie V.35 zurück – jene Verse, in denen der Engel die Geburt eines Sohnes ankündigt, der „groß sein und Sohn des Höchsten“ (V.32) sowie „Gottes Sohn genannt werden“ wird (V.35). Daraus entwickelt Schleiermacher die biblisch und dogmatisch grundlegende Feststellung, „daß 51 „Im Gebrauch des Textes liegt eine Assimilation zwischen der heiligen Schriftstelle und dem redenden, und sowol der Ton als die Stärke des religiösen Bewußtseins im redenden ist eine Nachconstruction von beidem im Urheber des Textes […]“ (SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 235). Es sei nur angemerkt, dass in dieser Bestimmung der innere Grund für Schleiermachers (beinahe) vollständige Ablehnung der Möglichkeit der Predigt über alttestamentliche Texte gesucht werden muss; in diesen spiegele sich meist ein für den christlichen Ausleger vermeintlich nicht mehr nachvollziehbares „religiöses Bewußtsein“ (vgl. 236–238). 52 Vgl. SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 230. 53 SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 216. 54 SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 202. 55 Vgl. SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 235. 56 Vgl. SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 227. 57 Vgl. zum Generalziel der „Erbauung“ bzw. „Belebung des religiösen Bewußtseins“ SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 216. 58 Vgl. SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 234. 59 SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 218 [im Original hervorgehoben]. 60 SCHLEIERMACHER: Die praktische Theologie, 250. 61 SCHLEIERMACHER: Dogmatische Predigten, 176–189 [Predigt], sowie 377–379 [Angaben zur Edition und Anmerkungen].

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der Erlöser schon geboren ist als der Sohn Gottes“62. Gerade weil diese Feststellung so grundlegend für das Verständnis des Sinnes des Weihnachtsfestes sei, markiere sie für gegenwärtige Hörer zugleich eine „schwierige Zumuthung“ und „harte Rede“: Dieses Kind soll bereits der Sohn Gottes sein, nicht erst im Laufe seines Lebens dazu werden.63 Ziel der Predigtrede Schleiermachers ist es, den Hörerinnen und Hörern zu zeigen, wie diese harte Zumutung ihre Härte verlieren und denkbarer werden könne. Dennoch aber verwandelt Schleiermacher die „harte Rede“ nicht in eine logische Denkmöglichkeit, sondern fordert seine Hörerschaft am Ende zu einem Glauben auf, den er als den Glauben der Kinder bestimmt. Nachdenken führt nicht zur logischen Auflösung des Dogmas, hilft aber, Verstehenshürden abzubauen. Es geht Schleiermacher darum, „den Glauben wahrscheinlich [zu, AD] machen“64, und es ist eine Art inszenierter und zirkulärer „Fides quaerens intellectum-Homiletik“, die Schleiermacher vor Augen führt: Die Predigtrede setzt bei dem schwer verstehbaren dogmatischen Satz ein, problematisiert diesen, denkt ihm dann zunächst in christologischer, dann in ethischer Hinsicht nach, um schließlich erneut auf den Ausgangssatz zurückzukommen. Damit ergibt sich folgende Struktur der Predigtrede: Einleitung Erster Hauptteil

Zweiter Hauptteil

Schluss

„[…] daß der Erlöser schon geboren ist als Sohn Gottes“ Der Erlöser als Sohn Gottes in christologischer Perspektive I Die Zumutung für den Glauben durch diesen Glaubensgegenstand II Die notwendige Sündlosigkeit des Erlösers III Die Undenkbarkeit unseres Glaubens ohne diesen Glaubensgegenstand Der Erlöser als Sohn Gottes in ethischer Perspektive I Die Reinheit christlicher Liebe setzt die Sündlosigkeit des Erlösers voraus II Die Allgemeinheit christlicher Liebe setzt die Sündlosigkeit des Erlösers voraus Der Erlöser ist als Sohn Gottes geboren; gefordert ist der Glaube der Kinder, um diese Aussage zu erfassen.

Es gab wohl keinen Theologen, der zu Schleiermacher in einem ambivalenteren Verhältnis stand als Karl Barth: Grundlegender Widerstand und ständiger Bezug verbinden sich in Barths Verhältnis zu Schleiermacher – auch in homiletischer Hinsicht, wo Barth an Schleiermacher vor allem die fehlende Externität des Wortes Gottes kritisiert: Bei Schleiermacher verliere sich das Wort der Schrift in den vermittelnden Prediger hinein.65 Dem62

SCHLEIERMACHER: Dogmatische Predigten, 177 [im Original hervorgehoben]. SCHLEIERMACHER: Dogmatische Predigten, 177. 64 KARLE: Den Glauben wahrscheinlich machen; vgl. auch ALBRECHT: „… klare und belebende Darstellung […]“, bes. 130–134. 65 Vgl. BARTH: Homiletik, 9–13. 63

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gegenüber fokussiert Barth die Predigtaufgabe darauf, der Bewegung des Wortes Gottes zu entsprechen. Aus diesem Grund kommt er auch im Blick auf die Einheit der Predigtrede zu grundlegend anderen Schlussfolgerungen als Schleiermacher. So führt Barth in seinem Bonner Homiletischen Seminar aus: „Das Ganze der Predigt ist konstituiert durch das Ganze des gegebenen Textes. Die Einheit liegt im Text selber und soll auch in der Predigt, die den Bewegungen des Textes folgt, zum Ausdruck kommen.“66 Daher müsse die Predigt ohne eigene Einleitung und damit ohne jeden Versuch der Anknüpfung gestaltet werden; es gehe vielmehr darum, dass „die Bibel gleich zu Anfang redet.“67 Auf schematische Aufbaumodelle (wie Gesetz und Evangelium, explicatio und applicatio) sei ebenso zu verzichten wie auf einen „selbständigen ‚Schluß‘“68. Nur einen Hinweis auf die Gestaltung des Aufbaus gibt Barth: „Achten wir darauf, daß der Faden des Textes nicht abreißt, damit nichts Fremdes hineinragt!“69 Es ist konsequent, dass sich auf dieser Grundlage die Homilie als Regelpraxis der Predigtstruktur ergibt. Allerdings bleibt m.E. kritisch zu fragen, ob eine „reine“ Textpredigt, in die „nichts Fremdes“ hineinragen darf, nicht faktisch die Selbstaufgabe der Predigt bedeuten würde. Ist nicht jede Gestaltung der Textaufteilung – auch die der einfachsten Homilie – sowie jedes eigene Wort des Predigers/der Predigerin „Fremdes“, das gerade als solches aber den eigentlichen Reiz der Kanzelrede gegenüber der Lesung des Textes ausmacht? Betrachtet man Barths Predigten, so zeigt sich, dass diese – auch in der Form der Homilie – klar und bewusst strukturiert waren.70 Ich wähle auch hier nur ein Beispiel: In Analogie zu Schleiermachers Predigt betrachte ich eine Predigt, die Barth am ersten Advent 1929 zur Annunciatio Mariae gehalten hat.71 Im Unterschied zu Schleiermacher bezieht Barth den gesamten Textzusammenhang Lk 1,26–38 in die Predigt ein. Diesem Text geht er nach einer Einleitung, die am ehesten als hermeneutische Vorbemerkung bezeichnet werden könnte, in einer Homilie mit sechs Abschnitten nach. Ähnlich wie Schleiermacher erkennt auch Barth ein grundlegendes Problem, das sich durch die gesamte Betrachtung zieht. Dieses ist nun allerdings kein dogmatisches, sondern ein hermeneutisches, nämlich die Inkommensurabilität der göttlichen bzw. biblischen Geschichte gegenüber der menschlichen: „Unsere Geschichte ist nicht heilige Geschichte […]“72. „Wir“ seien gefangen im Irrtum, die Bibel spreche in Lk 1,26f von der Gewissheit der Botschaft des En66

BARTH: Homiletik, 101 [Hervorhebung AD]. BARTH: Homiletik, 105; vgl. insg. 102–105. 68 Vgl. BARTH: Homiletik, 105f, Zitat: 106. 69 BARTH: Homiletik, 107. 70 Vgl. auch HERMELINK: Predigt und Predigtlehre bei Karl Barth, bes. 457f. 71 Vgl. BARTH: Predigten 1921–1935, 214–223. 72 BARTH: Predigten 1921–1935, 216. 67

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gels,73 „unsere“ Geschichte sei geprägt durch Übermut und Selbsttäuschung, die heilige Geschichte spreche Gnade zu,74 „unser“ Stolz hindere an wahrer Demut, wie Maria sie lebe,75 „wir“ kennten bestenfalls den Schrei nach dem Erretter, dessen Kommen die biblische Geschichte verheiße,76 „uns“ trieben die letzten Fragen um, auf die die biblische Geschichte letzte Antwort sei.77 So konjugiert Barth die hermeneutische Grundspannung in immer neuen Anläufen durch. Am Ende der Predigt löst er (wie auch Schleiermacher) die Spannung nicht einfach auf. Dennoch aber unterstreicht Barth, dass trotz der Inkongruenz zwischen Göttlichem und Menschlichem das fremde Wort der biblischen Geschichte „uns“ als Wort der Verheißung nahe komme. Insgesamt ergibt sich folgende Predigtstruktur: Hermeneutische Vorbemerkung Lk 1,26f Lk 1,28 Lk 1,29f Lk 1,31–33 Lk 1,34–37 Lk 1,38

Entwicklung der Grundspannung zwischen heiliger Geschichte und Menschheitsgeschichte Irrtum vs. Gewissheit Übermut vs. Gnadenzusage Stolz vs. Demut Der Schrei nach dem Erretter Die letzten Fragen und die letzte Antwort Rückkehr zu der Grundspannung und Verweis auf die nur von Gott her zu überwindende Kluft zwischen menschlicher und göttlicher Geschichte

Der Aufbau der Predigt ist in allen Abschnitten von der eingangs artikulierten hermeneutischen Grundspannung geprägt, und es kann allein schon deshalb gefragt werden, inwiefern bei Barth tatsächlich der spezifische biblische Text zu Wort kommt. Ließe sich – überspitzt – formulieren, dass Barth vor allem seine Hermeneutik predigt, wie Schleiermacher tendenziell seine Dogmatik zum Gegenstand der Predigtrede macht? Das Predigtbeispiel Barths zeigt, dass es eine Illusion wäre, so predigen zu wollen, dass nur der Bibeltext redet. Dennoch aber kann Barths Zurückweisung des gegenüber dem Bibelwort „Fremden“ in der Predigt m.E. als Warnsignal gehört werden – als Warnsignal gegen eine Predigt, die den biblischen Text in der Kanzelsprache nicht mehr kon-textualisiert (und mit ihm Sprache findet), sondern die eine aus dem Text entnommene Aussage entfaltet und sich wie eine Decke über den Text breitet.78

73

Vgl. BARTH: Predigten 1921–1935, 216–218 [zu V.26f]. Vgl. BARTH: Predigten 1921–1935, 218f [zu V.28]. 75 Vgl. BARTH: Predigten 1921–1935, 219f [zu V.29f]. 76 Vgl. BARTH: Predigten 1921–1935, 220f [zu V.31–33]. 77 Vgl. BARTH: Predigten 1921–1935, 221f [zu V.34–37]. 78 Zu erinnern ist hier an die Probleme von Textverlust und Textbändigung in der Predigtrede (vgl. oben Kap. 9.1). 74

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Von der Peticha her wäre demgegenüber nach einer Predigtrede zu fragen, die den Text nicht zudeckt, sondern vom Text aus Fäden spannt, die zu weiterer Vernetzung herausfordern. Ohne Bild: Die Peticha lässt nach einer Predigtrede fragen, die, anstatt auf eine einzige Aussage zu fokussieren, bewusst defokussiert, die Einheit aufbricht und Unterschiedliches nebenordnet (Parataxe). Diese Defokussierung würde dabei nicht zu einer Unschärfe der Wahrnehmung, sondern im Gegenteil zu einer Schärfung des Blicks führen, der für unterschiedliche Facetten geöffnet würde. Den Begriff der „Defokussierung“ verwende ich in Anlehnung an den Filmregisseur Lars von Trier, einen jener Filmemacher, die die Dogma 95-Bewegung prägten. Seine Überlegungen zur Defokussierung seien kurz vor Augen geführt: Die zehn Regeln, die den grundlegenden Text, das „Keuschheitsgelübde“ („Vow of chastity“), der Dogma 95-Bewegung bilden, lassen sich als Weg radikaler Reduktion und Vereinfachung im Filmemachen verstehen. Verzicht auf technische Effekte und optische Filter sowie auf die Einspielung von Geräuschen und auf eine Beleuchtung, die nicht von selbst zur Szene gehören, sollen den Film der „Wirklichkeit“ wieder näher bringen. Dogma 95 ist eine Gegenbewegung:79 gegen den Hollywood-Film, der immer raffinierter in der Lage sei, Illusionen zu produzieren, sich dabei immer weiter vom Leben entferne und die Zuschauer so „an der Nase herumführe“;80 gegen die Hollywood-Hermeneutik, die die Wirklichkeit auf den einen Plot, die eine Handlungslinie reduziere, wodurch die Filme vorhersagbar, leer und langweilig würden: „Predictability (dramaturgy) has become the golden calf around which we dance.“81 Lars von Trier, einer der beiden Erstunterzeichner des Dogma 95-Manifests, schreibt: „Die Story ist der Schurke. […] Aber auch die Pointe, die mit Hilfe von widersprüchlichen Standpunkten und Fakten relativiert […]. Die Anbetung eines einzigen Modells auf Kosten des Stoffs, woraus auch immer er besteht. Dieser Stoff, den man auch den wirklichen Reichtum des Lebens nennen könnte, wurde uns unter den Füßen weggezogen. Wie finden wir ihn wieder […]? Das ist die Herausforderung der Zukunft – etwas zu suchen, ohne es zu suchen: zu defokussieren.“82 Defokussierung bedeutet konkret, dass die Dogma 95-Regisseure die Story aufbrechen, Schnitte früher oder später setzen, als es in der Hollywood-Filmgrammatik üblich wäre, pointenlos-lange bei einzelnen Details hängenbleiben – und dadurch versuchen, sich als Autor zurückzuhalten, „die Kontrolle […] aufzugeben“83 und der

79 „DOGMA 95 has the expressed goal of countering ‚certain tendencies‘ in the cinema today. DOGMA 95 is a rescue action!“ (zitiert nach HALLBERG: Dogma 95, rote Einlegeseite vorne im Buch; vgl. zum deutschen Text 11–13). 80 „The ‚supreme‘ task of the decadent film-makers is to fool the audience.“ (aus der Grundsatzerklärung von Dogma 95). 81 Aus der Grundsatzerklärung von Dogma 95. 82 TRIER: Defokus, 252. 83 TRIER: „Die Kontrolle aufgeben“, 161.

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„Wirklichkeit“ mit den Mitteln des Films wieder näher zu kommen.84 Für Thomas Vinterberg, neben Lars von Trier der zweite Erstunterzeichner der Dogma 95-Regeln, sind es gerade „Brüche“, die zu neuem Sehen und neuer Aufmerksamkeit führen: „Wenn man immer nur aufbaut, dann tritt eine Vorhersehbarkeit ein, die undynamisch ist. Wird aber etwas zerhackt, dann erzeugt das Dynamik und Aufmerksamkeit.“85 Und Harmony Korine, Regisseur des Dogma-Films „Julien Donkey-Boy“, bemerkt: „Ich kann Plots nicht ausstehen, weil ich nicht das Gefühl habe, daß das Leben aus Plots besteht. Es gibt keinen Anfang, keine Mitte und kein Ende, und es stört mich, wenn alles so perfekt aneinandergereiht ist.“86 Die radikale filmische Enthaltsamkeit, die die zehn Dogma 95-Regeln kennzeichnet, wurde zur kreativen Vorgabe für zahlreiche Filme seit der Mitte der 1990er Jahre.87 Inzwischen allerdings werden sie – auch von Lars von Trier – in dieser Radikalität kaum noch beachtet. Sicherlich leiden sie praktisch unter ihrer faktischen Unmöglichkeit der Umsetzung sowie ästhetisch-hermeneutisch unter dem etwas naiven Neo-Realismus, der ihnen vorgeworfen werden kann – man vergleiche nur die Verwendung des Begriffs der „Wirklichkeit“. Der Impuls aber, nach einer neuen Filmsprache jenseits der Dominanz des einen Plots Ausschau zu halten, bleibt und wird keineswegs nur von Dogma 95-Regisseuren geteilt. So erscheint etwa auch für Wim Wenders das heutige Hollywood, „in dem die Story dominiert gegenüber den Orten und Charakteren“ als Gegenbild gegen die eigentlichen Möglichkeiten des Filmemachens. Es müsse – so Wenders – der Filmemacher abwarten und „abdanken als Autor, mit seinem Anspruch der Schöpfer der Bilder zu sein“. Eine neue Demut sei zu lernen.88 Bedeutsam sei das Hinsehen und Wahrnehmen, nicht das denkerische Erfassen des Ganzen;89 wichtiger als die Geschichte, die der Film erzählt, sei daher auch das einzelne Bild: „Die Geschichten sind immer ein einziges Manipulieren. Bilder sind […] mehr fähig zur Wahrheit als Geschichten.“90 Wenders kann auch vom „Respekt“ sprechen, den man haben müsse „vor dem, was da vor dieser Kamera […] sich einstellen soll“91 – ein Respekt, der der Dominanz der einen Perspektive entgegenstehe.

Homiletische Defokussierung würde in Anlehnung an die Beobachtungen in der gegenwärtigen filmästhetischen Diskussion bedeuten, „abzudanken“ als Prediger und Predigerin mit dem Anspruch, die eine Story, die eine Pointe, 84

In der Dogma 95-Grundsatzerklärung heißt es: „By using new technology anyone at any time can wash the last grains of truth away in the deadly embrace of sensation. The illusions are everything the movie can hide behind.“ 85 VINTERBERG: „Die verkehrte Ästhetik“, 96. 86 KORINE: „Film kann so viel mehr sein“, 226. 87 Die offizielle Homepage der Bewegung listet aktuell 79 Filme auf, die sich den DogmaRegeln verschreiben (vgl. www.dogme95.dk, Zugriff vom 13.02.06). 88 Alle Zitate aus: GÖTTLER: Abwarten, 14; vgl. ähnlich auch Wenders in seinem kurzen Essay „Wintermärchen“ (in: WENDERS: The Act of Seeing, 158–160). 89 Vgl. Die Wahrheit der Bilder. Zwei Gespräche mit Peter W. Jansen, in: WENDERS: The Act of Seeing, 57–87, hier: 60. 90 WENDERS: The Act of Seeing, 60. 91 WENDERS: The Act of Seeing, 87.

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die eine Aussage des Schriftwortes in der „perfekten Aneinanderreihung“ stimmiger Gedanken weiterzugeben. Stattdessen wären Predigende aufgefordert, genau hinzusehen und einzelne „Einstellungen“ zu zeigen. Eine solchermaßen parataktische, defokussierende Predigt würde sowohl der conditio postmoderna mit ihrem Bruch der großen Erzählungen und ihrem Nebeneinander unterschiedlicher Logiken92 als auch der in ihr erlebten Fragmentarität der Subjektkonstitution93 entsprechen. Sie würde damit Ernst machen, dass Predigtrede immer „Stückwerk“ bleibt (1Kor 13,9f), und gerade so den Hörerinnen und Hörern eine „frei-spielerische Selbstdeutung“ (Gräb) ermöglichen.94 Defokussierung würde gleichzeitig eine Demut des Predigtmachens markieren, die wohl auch zur Folge hätte, dass Predigerinnen und Prediger auf direkte Applikation verzichten und nicht länger behaupten würden, zu wissen, was der Text „für uns“ bedeuten soll.95 Stattdessen würde den Hörenden die Freiheit eingeräumt, je eigene Verknüpfungen zu entdecken. Dass dies nicht einen Verzicht auf die Aktualität der Predigtrede bedeutet, wusste bereits Karl Barth: „Eine Predigt kann oft aktueller sein, wenn sie scheinbar gar nicht aktuell ist.“96 Die kommunikationssoziologischen und rezeptionsästhetischen Ansätze seit der empirischen Wende der Homiletik haben an dieser Stelle im Blick auf die Hörerinnen und Hörer weiter gedacht und die Eigenaktivität der Hörer bei der Konstitution von Bedeutung betont. Isolde Karle unterscheidet in Aufnahme dieser Überlegungen „gelungene“ und „gutgemeinte“ Predigten. Gelungen seien Predigten, die keine „gute[n] Absichten“ transportieren wollen,97 d.h.

92 Vgl. zur conditio postmoderna GRÖZINGER: Die Kirche – ist sie noch zu retten, 11–48. Homiletisch reflektiert Ronald J. Allen (ALLEN: Preaching and Postmodernism) die Herausforderungen und vor allem die Chancen der Postmoderne (genauer: der verschiedenen Postmodernismen; „various postmodernisms“ [35]). Diese Chancen ergäben sich, wenn die Predigtrede verschiedenen Stimmen Raum gewähre und vielgestaltig ausgeführt werde (vgl. 44– 46). Dies gelte auch für die Interpretation des Bibelwortes (vgl. bes. 37). 93 Vgl. besonders die Beiträge in: LUTHER: Religion und Alltag. 94 GRÄB: Der inszenierte Text, 225. 95 Die Figurentypologie von Mt 4,1–11 aufnehmend könnte eine Hermeneutik allzu direkter Applikation drastisch als „teuflische Hermeneutik“ bezeichnet werden. Ulrich Luz schreibt zu der matthäischen Versuchungserzählung: „Jesus bewährt seine Gottessohnschaft, die ihm in der Tauferzählung zugesprochen wurde, im Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes im Alten Testament und besiegt so den Satan.“ (LUZ: Das Evangelium nach Matthäus, 1. Teilband, 159f [Hervorhebung im Original]) Im Kontext der Frage nach der Applikation des biblischen Wortes bedeutet dies: Er bewährt seinen Gehorsam, indem er die direkte Applikation, die der Versucher ihm vorgibt, verwirft. Besonders deutlich wird dies an der teuflischen Aufforderung, Jesus solle sich von den Zinnen des Tempels stürzen, da ihn die Engel ja auf Händen tragen würden (vgl. Ps 91,11f; Mt 4,6), die Jesus unter Bezug auf Dtn 6,16 zurückweist (vgl. Mt 4,7). 96 BARTH: Homiletik, 107. 97 KARLE: Den Glauben wahrscheinlich machen, 342 [im Original hervorgehoben].

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„Predigten mit selbständigen und scharfsichtigen Wahrnehmungen, mit Beobachtungen und Gedanken, die die Zuhörenden so nicht erwartet haben und die ihnen die Lebendigkeit, Differenziertheit und den Reichtum christlichen Lebens vor Augen führen. Die Beschreibung und Vergegenwärtigung christlichen Lebens in der Predigt läßt den Zuhörenden dabei viel Raum für sich selbst und ihre eigenen Gefühle, Gedanken und Assoziationen. Religion wird hier nicht aufgedrängt. Es wird auch nicht mit Hilfe moralischer Appelle diffuser Handlungsdruck erzeugt.“98

Von der Peticha könnte eine dieser Beschreibung Karles entsprechende Predigtrede gelernt werden, die sich als indirekt applikativ bezeichnen ließe und sich – mit Herbert Haslinger – einer „Kultur der Diskretion“ verschreiben würde, einer Kultur „des Verzichts auf das bedrängende, vereinnahmende Eindringen in die Lebenssphäre der Hörenden“99. Eine solche Predigtrede würde den Hörerinnen und Hörern als mündiger Gemeinde zutrauen, eigene Bedeutungen in der Konfrontation des biblischen Textes, der Worte der Predigt und der „Texte“ der Welt- und eigenen Lebensgeschichte wahrzunehmen. Und sie würde Gott selbst die Orthotomie seines Wortes anvertrauen – die je passende Zuteilung an den Einzelnen wie das Manna in der Wüste in dem oben zitierten Midrasch aus PesK. Wird man die letztgenannte theologische Begründung für die Unaufdringlichkeit der Predigtrede kaum bestreiten können, so ließe sich die erstgenannte durchaus hinterfragen: Kann von einer mündigen Gemeinde tatsächlich ausgegangen werden – oder muss diese nicht erst und immer wieder neu auch durch die Predigt geschaffen werden? Ist die applikative Eindeutigkeit und logische Stringenz der Auslegung des Bibeltextes in der Predigt nicht nötig, damit der Text überhaupt gegenwärtig rezipiert werden kann? Diese Fragen verstärken sich, wenn durch neuere Untersuchungen klar wird, wie wenige Gemeindeglieder regelmäßig selbst die Bibel lesen und wie stark die Bibel an kultureller Bedeutung verliert.100 Und dennoch sind diese Fragen theologisch problematisch, ja, in ihrer Tendenz geradezu anti-reformatorisch, da sie bei positiver Beantwortung dazu führen könnten, die Bibel nur noch als eine kirchlich vermittelte und d.h. in bestimmter Richtung und durch ausgebildete Experten interpretierte zu verstehen, anstatt von der Kirche als Gemeinschaft der um das Wort versammelten Hörerinnen und Hörer, Leserinnen und Leser des Wortes auszugehen. Darüber hinaus erscheinen die Fragen auch in oikodomischer Perspektive kontrapro98 KARLE: Den Glauben wahrscheinlich machen, 342f [Hervorhebung im Original]. Zu einer Karle sehr ähnlichen Beschreibung einer Predigtrede, die darauf verzichtet, anzuleiten, zuzumuten, zu erziehen und Vorgaben zu machen, gelangt auch WITTEKIND: Predigt als Deutungsraum, bes. 41.45. 99 HASLINGER: Riskantes Zeugnis, 475. 100 Vgl. GRETHLEIN: Modernes Leben mit der Bibel; GARHAMMER: Verkündigung heute, 433– 435; vgl. ähnlich auch WITTEKIND: Predigt als Deutungsraum, 28–30.

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duktiv. Dies deutet bereits Schleiermacher an, der auf den kritischen Einwand, er würde immer so reden, als gebe es noch „Gemeinen der Gläubigen und eine christliche Kirche“, entgegnete: „Vielleicht kommt auch die Sache dadurch wieder zu Stande, daß man sie voraussetzt […]“101. Vielleicht führt – so ließe sich Schleiermacher weiterführen – gerade die Entmündigung der hörenden Gemeinde durch allzu logisch einheitliche und direkt-applikative Predigten zur fortgesetzten Bibelferne heutiger Gemeinden und zur Unlust vieler, sich dem Wort der Bibel direkt zuzuwenden. Und vielleicht würde die auf das Wort einerseits und die Gemeinde andererseits vertrauende Predigtrede gerade dazu verhelfen, eine gegenüber dem biblischen Wort erwartungsvolle und mündige Gemeinde zu konstituieren. Die Predigenden wären in dieser mündigen Gemeinde charakterisiert durch eine Demut, die das biblische Wort nicht mit der einen, eigenen Logik überzieht, und durch eine Zurückhaltung, die sich vor allzu direkter Applikation hütet. Auch hier wäre daher die Entlastung der Predigenden als eine positive Folge kon-textualisierender Predigt anzusprechen.102 Predigt muss nicht unmittelbar praktisch umsetzbares Wort sein, sondern kann einerseits mit den aktiven Hörerinnen und Hörern rechnen und andererseits als Heranführung und Hineinführung in das Wort verstanden werden, das das Potential hat, selbst zur Verkündigung zu werden.103 Freilich darf diese Entlastung nicht zu einer theologisch und oikodomisch begründeten Trägheit der Predigenden führen. Es gilt daher auf jeden Fall, eine doppelte Abgrenzung zu beachten: • Parataktische Predigtgestaltung bedeutet nicht, dass die Predigt auf Argumentation, Logik und „intellektuelle Redlichkeit“ verzichtet.104 Vor allem Ursula Roth hat in den vergangenen Jahren zu Recht auf die Bedeutung der Argumentation in der Predigt hingewiesen.105 Und auch in der rabbinischen Peticha wird – wie sich etwa in obigem Beispiel aus ShemR zeigt (14.1) – argumentiert und logisch gedacht. Allerdings wird nicht die 101

Zitiert nach WINTZER: Predigt, 49. Vgl. dazu bereits oben Kap. 11.1.2.1, 303f; 11.3.3.2, 354–356, sowie 13.4.1, 455f, und vgl. TRILLHAAS: Die wirkliche Predigt. 103 Lange vor der rezeptionsästhetischen Wende in der Homiletik zeigt bereits Emanuel Hirsch ein erstaunliches Vertrauen in die Leistung der Predigthörer. Er schreibt: „Eine […] bestimmbare und daher unter Umständen sicher erzielbare Wirkung ist rechter Predigt niemals eigen. […] Die Predigt, wenn sie recht ist, ist sich der Art und Richtung der Bewegung, die von ihr in Seele und Sinn der Hörer entbunden wird, nicht sicher.“ Denn es gelte: „Der lebendige Sinn einer jeden Predigt gebiert sich in einem Wechselverhältnis zwischen ihr und dem Hörer, welches der Prediger nicht in der Hand hat.“ (HIRSCH: Predigerfibel, 89; vgl. auch 101). 104 „Intellektuelle Redlichkeit“ fordert etwa Klaus Müller von den Predigenden (vgl. MÜLLER: Dahingesagt? Über intellektuelle Redlichkeit im Dienst der Verkündigung). 105 Vgl. ROTH: Die Beerdigungsansprache, bes. 378–384.387–390; dies.: Predigten hören, 284– 289. 102

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eine Logik, nicht die eine Linie stringenter Argumentation über das Wort der Schrift gelegt. Vielmehr verbinden sich in der Peticha drei mit unterschiedlichen Schriftstellen argumentierende exegetische Aussagen, ein Gleichnis sowie zwei Erzählungen miteinander. Die Peticha führt so – im Nachgehen der Schrift – narrative und argumentative Logiken nebeneinander vor Augen. Ebenso könnte eine parataktische Predigt in Analogie zur Peticha verschiedene Logiken miteinander ins Spiel bringen – Narratives und Argumentatives, Haggadisches und Halachisches.106 Dies hätte dann – gegen Ursula Roth – freilich zur Folge, dass Predigtrede auf die eine „Globallogik“ verzichtet.107 • Gleichzeitig bedeutet parataktische Predigtgestaltung keinesfalls das beliebige und willkürliche Nebeneinander formal-inhaltlich verschiedenster Sequenzen. So sehr die Peticha ihren Reiz durch die Kombination unterschiedlicher Sprachformen und durch die parataktische Konfrontation verschiedener Logiken gewinnt, so erscheint dieses Nebeneinander doch dramaturgisch miteinander verbunden. Für die parataktische Predigtgestaltung würde dies analog bedeuten, die schwierige und schöne Kunst einer Dramaturgie zu üben, die auf die eine Logik verzichten kann und doch nachvollziehbar bleibt. Bereits Rudolf Bohren schlug in seiner Predigtlehre vor, von der Collage zu lernen.108 Unter anderem zitiert er dazu Worte von Dietrich Mahlow aus dem Sammelband „prinzip collage“, die betonen, wie die Collage im bewussten Zusammenbringen von Verschiedenem Neues entstehen lässt.109 „in der collage erweist sich der künstler als eine kraft, die fähig ist, sich in dem durcheinander dieses lebens zurechtzufinden; aber nicht indem er ‚ordnung macht‘, das vielfältige den bekannten regeln unterwirft und das netz seiner einsicht und erfahrung darüberstülpt, sondern indem er die dinge beläßt, ihre teile, reste, abfälle nimmt als zeichen des ungeheuren wirrwarrs und sie noch in den kunstlosesten zuständen zusammenbringt – und plötzlich etwas neues hervortreten läßt […]“110.

Für Predigerinnen und Prediger könnte das „Prinzip Collage“ dazu führen, sich mit neuer Lust und Kreativität an unterschiedlichen Möglichkeiten der Gestaltung der Predigtstruktur zu versuchen. Bohren schrieb

106

Vgl. ähnlich auch DOBER: Flanerie, Sammlung, Spiel, 101. Vgl. ROTH: Predigten hören, 287–289. 108 Vgl. BOHREN: Predigtlehre, 204f. 109 Es geht damit bei einer homiletischen Rezeption der Collage – gegen Bohren (!) – nicht um die „Aufnahme des Zufalls in die Predigtgestaltung“ (BOHREN: Predigtlehre, 204). 110 Dietrich Mahlow, in: prinzip collage, hg. v. institut für moderne kunst nürnberg, 1968; zitiert bei BOHREN: Predigtlehre, 204. 107

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bereits vor mehr als drei Jahrzehnten und m.E. bis heute gültig: „Das Feld ist offen für Experimente.“111

14.2.3 Gestaltete Intertextualität Die rabbinische Peticha führt – ausgehend von einem biblischen Lemma – hinein in die Hauptlesung des Sabbats oder Feiertags und endet mit dieser. Analog kann christliche Predigt – mit Luther – als Einführung in den Text verstanden werden. Auf dieser Grundlage scheint es mir reizvoll, die praktische Frage nach der Stellung der Predigtrede im Kontext des Verkündigungs- und Bekenntnisteils des Gottesdienstes zu betrachten. Ich nehme sie in zwei Perspektiven wahr und blicke zunächst auf die Positionierung des Bibeltextes im Aufbau der Kanzelrede und anschließend auf die Verortung der Predigt im Textraum des Gottesdienstes. (1) Zur Stellung des Bibeltextes im Aufbau der Predigtrede: Das Paradigma der Text-Auslegung für die Predigt zieht konsequenterweise die Praxis nach sich, das Bibelwort zu Beginn der Kanzelrede zu verlesen. So schlägt es auch das Evangelische Gottesdienstbuch knapp und (trotz der ansonsten zahlreich angegebenen liturgischen Varianten) alternativlos vor: „Der Prediger/die Predigerin verliest den Predigttext […] und hält die Predigt.“112 Auf Seiten der Predigerin bzw. des Predigers führt diese Verlesung zu Beginn der Predigt häufig dazu, die Bibel in übertragenem und konkretem Sinn nach der Verlesung des Textes zuzuschlagen und das eigene Wort der Predigt (Barth hätte gesagt: das „Fremde“ gegenüber dem Text) folgen zu lassen. Auf Seiten der Hörerinnen und Hörer bleibt von dem verlesenen Text nicht selten kaum etwas in Erinnerung; die eigentliche Predigt und mit ihr der Moment gesteigerter Aufmerksamkeit beginnen erst dann, wenn 111 BOHREN: Predigtlehre, 205. – Hilfreich zur Gestaltung einer parataktischen Predigtrede in Analogie zur rabbinischen Peticha erscheint mir das homiletische Handwerkszeug der „Dramaturgische[n] Homiletik“ Martin Nicols. Die Predigtrede entsteht aus der Kombination einzelner „Moves“, die in ihrem Miteinander deren „Structure“ ergeben (vgl. NICOL: Einander ins Bild setzen, 102–113; vgl. bereits BUTTRICK: Homiletic). Dabei unterscheiden sich die einzelnen Moves in ihrer Gestaltung jeweils voneinander, was Nicol durch die Begriffe „Titel“ für die inhaltliche Ausrichtung und „Mittel“ für die formale Gestaltung der Moves zum Ausdruck bringt. Vgl. auch NICOL/DEEG: Im Wechselschritt zur Kanzel, 73–107. 112 Evangelisches Gottesdienstbuch: 42. Als Variante wird hier lediglich die Möglichkeit erwähnt, auf die einzelnen Lesungen jeweils eine „Kurzpredigt oder ein[en] Teil der Predigt“ folgen zu lassen; die grundlegende Reihenfolge von Textverlesung und auslegender Predigt bleibt erhalten. Die „Reformierte Liturgie“ äußert sich zur Stellung des Predigttextes im Kontext der Predigt nicht, sondern schreibt nur allgemein: „In der Regel liegt ihr [der Predigt, AD] ein Bibelabschnitt zugrunde.“ (BUKOWSKI: Reformierte Liturgie, 39).

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Predigerin oder Prediger sich mit den Worten „Liebe Gemeinde“ an die Adressaten der Rede wenden. Seit vielen Jahren tritt neben die genannte Regelpraxis der Verlesung des Textes zu Beginn der Predigt vermehrt eine weitere Form: Der Text wird nach einem ersten hinführenden Predigtabschnitt verlesen und erst dann weiter ausgelegt. Im besten Fall gelingt diesem ersten Predigtabschnitt eine öffnende, die Hörbereitschaft weckende Einführung in die Lesung; im schlechtesten Fall findet sich an dieser Stelle die pastoralpsychologisch verständliche, homiletisch aber problematische captatio benevolentiae des Predigers gegenüber seiner Hörerschaft angesichts des „alten“ oder aber besonders „schwierigen“ Textes, mit dem er sich (nun letztlich doch erfolgreich!) auseinandergesetzt habe. Generell besteht das Problem einer solchen einleitenden Hinführung darin, die Möglichkeiten der Textrezeption durch allzu einseitige Fokussierung des Hörerinteresses auf eine bestimmte Fragestellung von vorneherein zu verengen. In der homiletischen Diskussion wird die Frage nach der Stellung des Textes in der Predigt trotz ihrer keineswegs nur formalen Relevanz kaum thematisiert.113 Wilfried Engemann widmet sich als einer der wenigen explizit der Frage nach der Stellung des Predigttextes.114 Engemann schreibt: „Es empfiehlt sich, den Ort des Textes in der Struktur der Predigt jeweils gesondert zu bedenken.“115 Entscheidend sei es dabei, die Funktion zu reflektieren, die der Text in der Predigt erfülle. Stehe er am Anfang, so habe er „einen mehr oder weniger informativen Charakter. Je weiter er nach hinten gerät, desto höher wird sein interpretatorischer Wert für das bis dahin in der Predigt Gesagte. Wenn ein Text […] ganz an das Ende gestellt wird, kann er nichtsdestoweniger eine Schlüsselfunktion für die gesamte Predigt haben und schlaglichtartig aufzeigen, in welchem Horizont die Predigt zu verstehen ist. Der Text fängt in diesem Fall sofort an zu ‚sprechen‘, denn der Hörer ist bereits mit einer Interpretationsstruktur vertraut gemacht worden, die nun durch den Text sowohl nachgezeichnet wie inhaltlich gefüllt 113

Martin Nicol erkennt, dass die Frage nach dem Aufbau der Predigt generell wenig gewürdigt wurde, weil man ihr meist keinerlei theologische Bedeutung, sondern lediglich eine „formallogische“ Begründung zugewiesen habe (NICOL: Gestaltete Bewegung, 158 – mit Verweis auf Wolfgang Trillhaas). 114 Immerhin eröffnet auch Frank Thomas Brinkmann unterschiedliche Fragen zur Stellung des Predigttextes (vgl. BRINKMANN: Praktische Homiletik, 148–150; vgl. auch 154). Letztendlich bleibe aber, so Brinkmann resümierend, „vielfach nur die schlicht pragmatische Frage, bei deren Beantwortung es allein um Fingerspitzengefühl und Stil, um angemessene Berücksichtigung von Gepflogenheiten und Erwartungen, um hinreichend schlüssige theologische Begründung geht: Wo kommt denn nun der Bibeltext hin?“ (149) Wie bereits Brinkmanns Aufzählung der zu berücksichtigenden ästhetischen, kommunikationssoziologischen und theologischen Aspekte zeigt, ist die Frage freilich nicht so „schlicht pragmatisch“, wie er es suggeriert. 115 ENGEMANN: Predigen und Zeichen setzen, 19.

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wird. So kommt es dazu, dass nicht nur die Predigt einen Text interpretiert, sondern, vermittelt durch die Hörerin, auch der Text die Predigt – einschließlich der in ihr angesprochenen Situation.“116 Man könne – so Engemann – „von einer mehr deduktiven und einer mehr induktiven Textauslegung sprechen“117. Entscheidend sei aber, dass der Ort des Textes in der Struktur der Predigt selbst begründet liege.118 Von der Peticha und Luthers Richtungsangabe „hyneyn, hyneyn“ ins Bibelwort herkommend, könnte Predigtrede zu Experimenten mit einer induktiven Predigtstruktur herausgefordert werden, die dem biblischen Text in der Predigt das letzte Wort ließe. Praktisch wäre es denkbar, dass der Predigttext bereits vor der Predigt oder zu deren Beginn gelesen, in der Predigtrede kon-textualisiert und dann am Ende nochmals wiederholt wird. Reizvoll erschiene es auch, Teile des Predigttextes (einzelne Worte oder Verse) schon in der Predigtrede aufscheinen zu lassen, aber erst am Ende den gesamten Text zu lesen. Aber auch die von Engemann angeregte Möglichkeit, den Text ganz ans Ende zu stellen und nur dann zu lesen, erscheint (besonders bei Texten, die als bekannt vorausgesetzt werden können) reizvoll. In jedem Fall böte die Endstellung des Bibeltextes rhetorische, homiletische und hermeneutische Chancen. • Rhetorisch: Für die Hörenden ergäbe sich durch die Positionierung des Textes am Ende die keineswegs nur formale Spannung einer Predigtrede, die ihren Text noch vor sich hat. Otto Hermann Pesch fordert, dass „eine Predigt […] eine ‚Spitze‘ haben muss, auf die die Hörenden mit wachsender Spannung warten sollen“119. Zuhörerinnen und Zuhörer könnten – bei Endstellung des Bibelwortes – der neuen Interpretation, die durch den biblischen Text auf das vorher Gesagte fällt, gespannt entgegensehen. Anstelle der – wie sonst nicht selten in Predigten anzutreffenden – bloßen zusammenfassenden Wiederholung des Gesagten oder anstelle eines applikativen oder pathetischen Schlusses, würde es bei der Endstellung des Textes gelten, mit dem Text den Höhepunkt der Rede zu erwarten. • Homiletisch: Die Endstellung des Bibeltextes würde der Bedeutung des Bibelwortes für die Predigtrede deutlichen Ausdruck verleihen und so unterstreichen, dass es in der Predigt – mit Herbert Haslinger – vor allem darum geht, „das vorgültige Gotteswort zu Gehör zu bringen und selbstlos auf die Durchsetzung des eigenen Wortes zu verzichten“120. 116

ENGEMANN: Predigen und Zeichen setzen, 19 [Hervorhebungen im Original]. ENGEMANN: Predigen und Zeichen setzen, 20 118 Vgl. ENGEMANN: Predigen und Zeichen setzen, 20. 119 PESCH: Wortverkündigung und Rhetorik, 214; freilich ist es bei Pesch der „Zielsatz“, auf den die Predigtrede zuläuft. 120 HASLINGER: Riskantes Zeugnis, 476. 117

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• Hermeneutisch: Sehr fulminant formuliert ließe sich sagen, dass ein Predigtaufbau, der im Bibelwort gipfelt, dem protestantischen Fundamentalprinzip des Priestertums aller Gläubigen sehr viel näher käme, als eine Rede des Predigers oder der Predigerin, auf die hin die Hörenden mit ihrem „Amen“ antworten sollten, faktisch aber meist nur noch die Predigenden selbst ihr bekräftigendes „Amen“ sprechen. Ein solcher Predigtaufbau würde bedeuten, der Möglichkeit auch in der Gestalt der Predigt Ausdruck zu verschaffen, dass das Bibelwort von sich aus Neues und Anderes zu sagen hat, als Predigerin oder Prediger es in ihrer Predigtvorbereitung erkannt haben. Das hermeneutische Grundprinzip sola scriptura sowie die reformatorische Interpretationsanweisung „sui ipsius interpres“ würden durch den Predigtaufbau sinnenfällig unterstrichen.121 Freilich wird aus diesen Überlegungen nicht die Forderung zu erheben sein, eine generelle Regelpraxis der Textlesung am Ende der Predigt zu etablieren; aber die Selbstverständlichkeit, mit der die Predigt immer mit dem verlesenen Text beginnt und dann in die eigene Aus-legung weiterführt, gilt es m.E. zu hinterfragen und die Chancen einer Umkehrung in den Blick zu nehmen. (2) Die Predigt im Textraum des Gottesdienstes: Zumindest prinzipiell hat auch die protestantische Theologie immer darum gewusst, dass die Predigt als ein Teil der Liturgie reflektiert werden muss.122 Nach CA VII lebt die Kirche als „congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta“, wodurch Predigtwort und Sakrament als die beiden gleichwertigen Pole der gottesdienstlichen Versammlung bestimmt werden.123 Freilich aber findet sich bereits in der Reformationszeit eine 121

Bereits oben (Kap. 11.1.1.1, 293) wurde auf eine rabbinische Diskussion verwiesen, in der Rabbi Jischmael seinem rabbinischen Kollegen Rabbi Elasar vorwirft: „Siehe, du sagst zu der Schrift: Schweig, bis ich dich auslege! [‫( “]הרי את אומר לכתוב שתוק עד שאדרש‬Sifra Tazria 13,2). Ein ähnlicher Vorwurf könnte sicher manchem Prediger entgegengehalten werden, der die einmal verlesene Schrift durch seine eigenen Worte zum Schweigen bringt und damit das Bild Luthers aus der Kirchenpostille umdreht: Nicht die Worte der Predigt werden zum Gerüst für den Bau des Bibelwortes, sondern umgekehrt wird das Bibelwort zum Gerüst, um zu dem eigentlichen Wort des Predigers hinzuführen. Eine Predigt, die in Analogie zur Peticha erst am Ende auf ihren Text kommt, könnte diese Gefahr vermeiden. 122 Vgl. nur TRILLHAAS: Evangelische Predigtlehre (1935). Die Predigtlehre beginnt mit einem §1 zu „Predigt und Liturgie“ (vgl. 11–23) und eröffnet mit dem Satz: „Die christliche Predigt ist im Hauptgottesdienst nicht ein Gegenstück zur Liturgie, sondern ein wesentlicher Teil derselben“ (11); vgl. auch FENDT: Homiletik, 27–30. – Vgl. grundlegend zur Fragestellung ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 398–421; HIRSCHLER: biblisch predigen, 484–508; JOSUTTIS: Gottes Wort im kultischen Ritual; SCHRÖDER: Die Predigt im Gottesdienst; SMOLÍK: Die Erneuerung der biblischen Predigt, 123–128. 123 Vgl. NICOL: Gestaltete Bewegung, 156; vgl. zum Zitat BSLK 61, 3–6.

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faktische Höhergewichtung der Predigt – etwa dort, wo Luther im Großen Katechismus den Gottesdienst als den Ort bestimmt, an dem man zusammenkomme, um „Gottes Wort zu hören und [zu be-, AD]handeln, darnach Gott loben, singen und beten“124, oder noch deutlicher in AC XV, wo es in der lateinischen Fassung heißt: „Atqui praecipuus cultus Dei est docere evangelium“125 und derselbe Gedanke in der deutschen Fassung von Justus Jonas noch zusätzlich unterstrichen wird: „Denn der allergrößte, heiligste, nötigste, höchste Gottesdienst […] ist Gottes Wort predigen; denn das Predigtamt ist das höchste Amt in der Kirchen.“126 Die Konzentration des Gottesdienstes auf die Predigt wurde in den folgenden Jahrhunderten geradezu zu einem – kontroverstheologisch bedeutsamen – Kennzeichen reformatorischen Gottesdienstes.127 In den vergangenen Jahren mehren sich demgegenüber die Versuche, die Predigt im evangelischen Gottesdienst neu in ihrem liturgischen Kontext zu betrachten.128 So fordert etwa der Systematische Theologe Klaus Schwarzwäller, dass die Predigt als „Teil des Gottesdienstes […] wahrzunehmen“ sei und „nicht aus ihm gelöst werden“ dürfe.129 Den ganzen Gottesdienst sieht er dabei als ein Geschehen, in dem sich Kirche als creatura verbi erfahre. Die Predigt sei nur eine Stimme, „eingebettet in das Stimmengefüge der großen Partitur“ des Gottesdienstes.130 Auf dem Hintergrund einer ästhetisch reflektierten Liturgik kommt Martin Nicol zu einer ähnlichen Sicht. Nicol fragt, wie es gelingen könne, „Predigt und Liturgie im Rahmen einer einheitlichen gottesdienstlichen Dramaturgie wahrzunehmen“131. Als problematisch erweise sich dabei einerseits, dass der Gottesdienst mit Predigt und Abendmahl zwei Höhepunkte aufweise, was faktisch meist zur Dominanz eines der beiden Höhepunkte – und d.h. im lutherischen Gottesdienst meist zur Dominanz der Predigt gegenüber dem Abendmahl – führe.132 Andererseits ergebe sich das Problem, dass die Predigt als „Diskurs“ das „Ritual“ des Gottesdienstes unterbreche – mit der Folge, dass entweder „die Predigt als Fremdkörper im Ritual“ erscheine 124

BSLK 581, 20f. BSLK 305, 9f. 126 BSLK 305, 41–43. 127 Vgl. WITTEKIND: Predigt als Deutungsraum, 25.45f Anm. 25. 128 Vgl. neben den im Folgenden zitierten Positionen von Schwarzwäller und Nicol etwa auch GRETHLEIN: Die Predigt – Zentrum des Gottesdienstes; MEYER-BLANCK: Predigt als ‚Neues Sehen‘, 317f; MÖLLER: Der heilsame Riss, 214–218; WILSON/GAVENTA: Preaching as the Rereading of Scripture, bes. 396f. Vgl. zur katholischen Diskussion z.B. JASCHINSKI: Gottes Wort und menschliche Antwort, bes. 192–196. 129 SCHWARZWÄLLER: Von der Kanzel, 36 [Zitate im Original hervorgehoben]; vgl. insgesamt das erste Kapitel mit dem Titel „Predigt und Gottesdienst“ (11–36). 130 SCHWARZWÄLLER: Von der Kanzel, 17. 131 NICOL: Gestaltete Bewegung, 151. 132 Vgl. NICOL: Gestaltete Bewegung, 156f. 125

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„oder das Ritual […] zur Umrahmung der Predigt“ verkomme.133 Ziel wäre eine Predigtrede, die „sich organisch in die Liturgie einfügt“134. Eine Lösung deutet Nicol an, indem er in Anlehnung an die US-amerikanische Homiletik eine dramaturgisch reflektierte Predigtrede als „gestaltete Bewegung“ („plotted mobility“) konzipiert.135 Predigtrede und Liturgie könnten in diesem Rahmen als „Bewegung“ verstanden und einer „einheitlichen Dramaturgie des Gottesdienstes“ zugeordnet werden.136 Die Predigt würde so ihre Eigenständigkeit im Gottesdienst behalten, gleichzeitig aber ihren Charakter als liturgischer Fremdkörper verlieren. Von der Peticha her stellt sich m.E. darüber hinaus die Frage nach der liturgischen Verortung der Predigt im Verkündigungs- und Bekenntnisteil des Gottesdienstes. Die Peticha führt einen Weg vom Text zum Text. Sollte sie einen Ort im synagogalen Gottesdienst rabbinischer Zeit gehabt haben, so spricht m.E. vieles dafür, dass dieser vor der Toralesung lag (Kap. 3.3). Der Darschan begann mit dem „weit entfernten“ Lemma und gelangte anhand verschiedenartiger Auslegungen dieses Lemmas oder weiterer Verse hin zum ersten Vers der Toraparascha des betreffenden Sabbats oder Feiertags. Analog zur Peticha könnte daher nach einer Predigtrede gefragt werden, die sich bewusst in der Dramaturgie des Verkündigungs- und Bekenntnisteils des Gottesdienstes verortet und Wege zwischen den Lesungen bzw. der Lesung und dem Bibelwort der Predigt gestaltet. Daraus würde folgen, dass die Fixierung der Predigtrede auf den einen Predigttext (hin und wieder) aufgegeben und bewusst eine Predigtrede im Textraum gesucht werden könnte, der das Proprium des Sonn- oder Feiertags bestimmt. Ein gewichtiger Vorteil einer solchermaßen liturgisch-intertextuellen Predigtrede schiene mir darin zu liegen, dass die gottesdienstlichen Lesungen durch sie neues Gewicht erhalten würden. Sie wären davor bewahrt, schnell wieder zu verklingen, und würden im textlichen Hallraum des Gottesdienstes weiter schwingen und ihren eigenen Ton zur Polyphonie des Gottesdienstes beitragen.137 Ähnlich erkennt Melanie Köhlmoos die Chance, „den Atem der Texte zu verlängern“, wenn sich Predigtrede im Geflecht der verschiedenen Propriumstexte intertextuell verortet.138 Unter Rückgriff auf einschlägige Intertextualitätstheorien geht Köhlmoos grundlegend davon aus, dass „Be133

NICOL: Gestaltete Bewegung, 158. NICOL: Gestaltete Bewegung, 158. 135 Vgl. NICOL: Gestaltete Bewegung, 160–162. 136 NICOL: Gestaltete Bewegung, 163; vgl. auch NICOL/DEEG: Im Wechselschritt zur Kanzel, 154–177. 137 Vgl. zur Bedeutung der Gestaltung der Lesungen für den Gottesdienst auch HIRSCHHÜFFELL: Vorlesen im Gottesdienst, bes. 174. 138 KÖHLMOOS: Der Atem des Textes, 224. 134

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deutung […] nicht durch die objektive Relation zwischen Text und außertextlicher Wirklichkeit, sondern im Gegenüber zwischen Text und Text“ entstehe.139 Der Zwischenraum zwischen den Texten werde daher entscheidend. Trotz dieser Erkenntnis legt Köhlmoos dann allerdings entscheidenden Wert darauf, im Zusammenspiel der Texte, die das Proprium eines Sonn- oder Feiertags ausmachen, vor allem die „Korrelationen“ und Konsonanzen zwischen diesen Texten zur Sprache zu bringen und „in der Predigt zu entfalten“.140 Die intertextuelle Predigt wird so – mit einem Bild von Köhlmoos – eher zur fokussierenden Linse141 anstatt – um von der Peticha her ein Gegenbild zu finden – zum Prisma, das zwar einen Zusammenhang des eingehenden Lichtes zur Voraussetzung hat, aber dennoch ein weites Feld unterschiedlicher Spektrallinien eröffnet. Dem Ziel, den „Atem der Texte“ zu „verlängern“, lassen sich in weiterem Sinne auch jene liturgischen Arbeitshilfen zurechnen, die seit einigen Jahren vermehrt erscheinen und Präfamina zu den gottesdienstlichen Lesungen bieten.142 Als einen der neueren Bände erwähne ich das 2004 erschienene Buch „Hinführungen zu den biblischen Lesungen im Gottesdienst“. Dieser Sammelband möchte auf die Probleme reagieren, die viele Gottesdienstbesucherinnen und -besucher mit den Lesungen hätten: Als weithin unverstandene Texte würden sie nicht selten lediglich zur Kenntnis genommen und schnell wieder vergessen. Demgegenüber bleibe – so der Umschlagstext des genannten Buches – „ihr tieferer Sinn oft verborgen“. Daher versuche das Buch durch die Sammlung von Präfamina, „in einfacher Sprache […] eine Brücke zwischen den Gottesdienstbesuchern und der Bibel“ zu schlagen.143 Die Präfamina „wollen biblische Texte aufschließen. Sie wollen sie ankündigen und verdeutlichen. Zugleich wollen sie Bezüge zur Gegenwart herstellen und neugierig machen.“144 Sicherlich kann es Präfamina gelingen, einen Zugang zu den Texten der Lesungen zu eröffnen. Andererseits aber droht – wie manche der zitierten Sätze verdeutlichen – eine nicht unproblematische Bibelhermeneutik. Es besteht die Gefahr, die Texte der Lesungen auf ihren verstehbaren „Sinn“ zu reduzieren und dadurch ihrer Fähigkeit zu berauben, jenseits aller Brückenschläge „vielfach und auf vielerlei Weise“ (Hebr 1,1) mit den Hörerinnen und Hörern in Kommunikation zu treten. Hinzu kommt, dass isolierte Hinführungen zu einzelnen Texten diese je für sich stehen lassen und so

139

KÖHLMOOS: Der Atem des Textes, 219 [Hervorhebung im Original]. KÖHLMOOS: Der Atem des Textes, 223; vgl. insg. 220–225. 141 Vgl. KÖHLMOOS: Der Atem des Textes, 229. 142 Vgl. KERNER: Gottesdienst Gestalt geben, 67. 143 Alle Zitate aus dem hinteren Umschlagstext des Bandes. 144 Aus der Einführung der Herausgeber (BALTRUWEIT: Hinführungen, 8–10, Zitat: 8). 140

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kaum die liturgischen Vernetzungen zwischen den verschiedenen Texten des Gottesdienstes vor Augen führen. Dem berechtigten Anliegen, den gottesdienstlichen Lesungen neues Gewicht zu verleihen, könnte m.E. durch eine eröffnende und in Analogie zur Peticha von Text zu Text führende Predigtrede besser gedient werden. Zu lernen wäre dabei m.E. auch vom Verständnis der „Homilie“ in der katholischen Messe. Das zweite Vatikanische Konzil forderte nach einer Zeit vielfacher Marginalisierung gottesdienstlicher Predigt, die Homilie „in den Messen, die an Sonntagen und gebotenen Feiertagen mit dem Volk gefeiert werden“, auf keinen Fall „ausfallen [zu, AD] lassen“145. Dabei wird die Homilie grundlegend als „pars ipsius liturgiae“ gesehen und mit der Aufgabe verknüpft, den „Tisch des Gotteswortes“ für die Gläubigen reicher zu bereiten und „die Schatzkammer der Bibel“ weiter aufzutun.146 Auch die „Allgemeine Einführung in das Römische Messbuch“ (AEM) ordnet die Homilie ganz auf die gottesdienstlichen Lesungen hin: Durch die Homilie als „lebendige Auslegung“ werde die „Wirkkraft“ des gelesenen Gotteswortes erhöht.147 Rupert Berger verweist auf die terminologische Unterscheidung zwischen „Predigt“ und „Homilie“: „Die Homilie wird meist von der Predigt insofern unterschieden, als diese einen mehr selbstständigen, von der liturgischen Feier losgelösten Charakter aufweist.“148 Als Kriterium für die Homilie benennt Berger: „Wichtig ist auch, daß die Homilie inhaltlich aus der liturgischen Feier herauswächst und tiefer in sie hineinführt, also mystagogischen Charakter hat.“149 Den Begriff der „mystagogische[n] Predigt“ prägte bereits Romano Guardini.150 Wollte man eine auf die Lesungen des biblischen Wortes bezogene Predigtrede mit einem Begriff charakterisieren, so könnte analog von einer „logagogischen Predigt“ gesprochen werden, die – in Aufnahme und Veränderung der Formulierung Bergers – aus der Lesung des Wortes Gottes

145

Die Konstitution des zweiten Vatikanischen Konzils über die Heilige Liturgie: 113 [=Nr. 52]; vgl. dazu auch die Apostolische Konstitution von Papst Paul VI., zitiert in: Messbuch: 21*– 24*, hier: 23*. Vgl. hierzu und zum Folgenden auch KRANEMANN: Wort – Buch – Verkündigungsort, bes. 57–65; PESCH: Wortverkündigung und Rhetorik, 207–212. 146 Vgl. Die Konstitution des zweiten Vatikanischen Konzils über die Heilige Liturgie: 112 [=Nr. 51]. 147 Vgl. AEM 9, zitiert in: Messbuch: 31*. 148 BERGER: Art. Homilie, 207; vgl. auch ders.: Art. Predigt, 413f. 149 BERGER: Art. Homilie, 208; vgl. fast wortgleich ders.: Art. Mystagogie, 358f, hier: 359. Ganz ähnlich formuliert dies auch Zerfaß in seiner Homiletik: Die Predigt „ist weder die Hauptsache, die von der Liturgie nur eingerahmt würde, noch ein Intermezzo, das die gottesdienstliche Gemeinde als Publikum für die Lehre der Kirche mißbraucht.“ (ZERFASS: Grundkurs Predigt, Bd. 1, 25) Vielmehr vereinen sich nach Zerfaß Predigt und Liturgie in ihrem Ziel, einzustimmen in das „neue Lied“ der frohen Botschaft (vgl. insg. 24f; vgl. auch ders.: Grundkurs Predigt, Bd. 2, 225f). 150 Vgl. GUARDINI: Die mystagogische Predigt.

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herauswächst und tiefer in die gelesenen Texte hineinführt, also „logagogischen“ Charakter hat. Rolf Zerfaß regt dazu an, Möglichkeiten einer „undogmatische[n] Einbindung von Ansprachen in die Liturgie“ zu erwägen und dazu die Vorfrage zu stellen, „ob die Predigt heute dem Evangelium mit der gleichen Strenge zu folgen hat wie früher (vor dem Konzil und heute noch in der evangelischen Agende) dem Credo.“151 So schlägt er u.a. vor, auf die häufig Aufmerksamkeit erregende alttestamentliche Lesung sofort eine „Auslegung“ folgen zu lassen. Dadurch werde auch die nachfolgende Evangelienlesung nicht entwertet. „Das Gegenteil ist der Fall, besonders wenn man – was in vielen Fällen möglich ist – am Ende der Predigt bereits ein Motiv des nachfolgenden Evangeliums anklingen läßt: Das Evangelium bedarf dann keiner Auslegung mehr, weil der Horizont eröffnet, das ‚Ohr aufgetan‘ ist, das Evangelium selbst als ‚Predigt‘ zu hören […].“152 Damit deutet Zerfaß eine Möglichkeit der predigenden Verknüpfung von Lesungen an, die der Peticha durchaus nahe kommen und den Textraum des Verkündigungsteils des Gottesdienstes neu erschließen könnte. Entgegen der Klammerbemerkung von Zerfaß ist die Stellung der Predigt nach dem Credo mit der „Erneuerten Agende“ und dem „Gottesdienstbuch“ auch im evangelischen Gottesdienst keineswegs mehr agendarisch festgelegt. Im Gegenteil besteht eine der Neuerungen der „Erneuerten Agende“ in dem Vorschlag, das Credo als Abschluss des Teils „B: Verkündigung und Bekenntnis“ zu positionieren.153 Auf dieser Basis scheinen mir vielfältige weitere Experimente mit der Stellung der Predigt – im Sinne der Überlegungen von Zerfaß und in Analogie zur Peticha – denkbar.154 Mit dem Hinweis auf die Möglichkeit der predigenden Verknüpfung der im Gottesdienst gelesenen Texte ist auch die Frage nach der christlichen Predigt des Alten Testaments berührt, auf die ich im Folgenden zu sprechen komme.

151

ZERFASS: Grundkurs Predigt, Bd. 2, 226. ZERFASS: Grundkurs Predigt, Bd. 2, 227 [Hervorhebung im Original]. 153 Vgl. Evangelisches Gottesdienstbuch: 42f; KERNER: Gottesdienst Gestalt geben, 82f. 154 Vgl. hierzu auch SCHULZ: Reform mit Weitblick, 45; MEYER-BLANCK: Inszenierung des Evangeliums, 88f: Meyer-Blanck schlägt als eine Möglichkeit vor, die drei Lesungen nach Grundform I der Erneuerten Agende durch jeweils kurze Predigtstücke miteinander zu verbinden. Vgl. auch meinen Vorschlag zur Gestaltung des Verkündigungs- und Bekenntnisteils am 4. Sonntag nach Trinitatis (DEEG: 4. Sonntag nach Trinitatis, 157f). In den neuen Liturgien des „Common Worship“ der Church of England ist der „floating sermon“ angeregt, d.h. eine Predigt, die ihren fixierten Ort im Gottesdienstablauf verliert und an geeigneter Stelle gehalten werden kann (vgl. GLEDHILL: Introduction, in: The Sixth Times Book of Best Sermons, xii). 152

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14.3 Predigt zwischen den Testamenten: Predigt als inszenierte kanonische Intertestamentarität Die Peticha verbindet Teile des Tanach miteinander und inszeniert so das intertextuelle Wechselverhältnis von Tora einerseits, Nebiim oder Ketubim andererseits. Wie die Erzählung von Ben Azai zeigt, konnte man im rabbinischen Judentum die Verbindung von Versen aus den drei Teilen der schriftlichen Tora in ihrem Resultat in Analogie zur Sinaierfahrung des unmittelbaren Redens Gottes beschreiben. Als Ben Azai Ketubim, Nebiim und Tora miteinander verband, sei er von Flammen umgeben gewesen, wie sie einst am Sinai loderten.155 Diese Eigenschaft der Peticha macht sie m.E. auch interessant, um aus ihr einen Impuls für die Frage nach einer christlichen Predigt im Kontext des einen und doch in Altes und Neues Testament zweigeteilten christlichen Kanons zu gewinnen. Könnten auch in christlicher Predigt Flammen lodern wie einst am Sinai, wenn Altes und Neues Testament in der Predigtrede gelingend miteinander verknüpft werden? Wohl gemerkt: es soll sich im Folgenden um einen Impuls handeln, nicht mehr; auf keinen Fall kann die Frage nach einer christlichen Predigt des Alten Testaments grundlegend diskutiert werden. Diese erscheint insofern besonders komplex, als ständig mindestens drei Frageperspektiven ineinander laufen und miteinander verknüpft sind: (1) Da ist zunächst die Frage nach der Bestimmung des Verhältnisses der beiden Testamente zueinander. Vielfach versuchte man in der Geschichte der christlichen Kirche, eine Art Generalschlüssel zu finden, um dieses Verhältnis zu erfassen. Eine Zuordnung von Altem und Neuem Testament durch die problematisch entleerte und ihrem eigentlichen Sitz im Leben entzogene Formel Gesetz und Evangelium gehört beispielsweise in diese Kategorie,156 aber auch eine undifferenzierte Verallgemeinerung der Formel Verheißung und Erfüllung. Es gilt, gegenüber solchen schematisierenden Modellen einerseits auf die einzelnen Texte zu blicken und andererseits 155 Die Charisa, um die es in der Erzählung von Ben Azai geht, ist allerdings nicht zu verwechseln mit dem Grundprinzip der Peticha. Charisa meint die Verbindung der drei Teile der schriftlichen Tora, in der Peticha geht es hingegen primär um eine Verbindung zweier Lemmata. Vgl. dazu GOLDBERG: PetiÎa und Íariza (gegen BACHER: Die Proömien); vgl. zu der Erzählung von Ben Azai oben Kap. 11.1.1.2, 295. 156 Vgl. HIRSCH: Das Alte Testament und die Predigt des Evangeliums. In seiner „Predigerfibel“ schreibt Hirsch: „Das Verhältnis des alten zum neuen Testament fällt in eins zusammen mit dem des Gesetzes zum Evangelium, der irdisch ausgerichteten Religion zu dem der Ewigkeit zugekehrten lebendigen Glauben an Gott.“ (HIRSCH: Predigerfibel, 145) Nicht unähnlich liest sich auch die antithetische alttestamentliche Hermeneutik Rudolf Bultmanns (BULTMANN: Die Bedeutung des Alten Testaments). Vgl. zu Gesetz und Evangelium in homiletischer Perspektive auch oben Kap. 13.2.2.

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grundlegend zu fragen, welche hermeneutischen Konsequenzen die unaufgebbare christologische Bindung christlicher Lektüre des Alten Testaments nach sich zieht.157 (2) Mit der Frage nach dem Verhältnis der Testamente ist untrennbar auch die Frage nach dem Verhältnis des Christentums zum Judentum verbunden.158 Die Texte des Alten Testaments sind zunächst und bleibend der Kanon des Judentums. Damit setzen sie die sich auf sie beziehende christliche Kirche in ein unlösbares Verhältnis zum Judentum, das nicht nur als Verhältnis zu einer historischen Wurzel anzusehen ist, sondern auch als ein gegenwärtig spannungsreiches Miteinander. Es ist klar, dass antithetische Bestimmungen des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament, die das Neue Testament als qualitativ Überbietendes dem Alten Testament gegenüber profilieren, immer in der Gefahr stehen, antijudaistische Modelle zur Beschreibung des christlich-jüdischen Verhältnisses zu liefern. Die neuen Erkenntnisse im christlich-jüdischen Dialog führten zu einer sensiblen Wahrnehmung der doppelten Nachgeschichte der Hebräischen Bibel einerseits in die jüdische Geschichte und damit in die mündliche Tora hinein, andererseits in die christliche Geschichte und damit in das Neue Testament. Besonders Heinz-Günther Schöttler hat auf die Notwendigkeit und Chancen einer veränderten Hermeneutik des Alten Testaments im Angesicht des bleibend erwählten Judentums und einer neuen Predigtpraxis, die von der relationalen Eigenwertigkeit der Texte des Alten Testaments ausgeht, hingewiesen.159 (3) Schließlich verbindet sich mit der Frage nach der Predigt des Alten Testaments immer auch die allgemeinere hermeneutische Frage danach, inwiefern „alte“ Texte aus einem anderen Kulturkreis gegenwärtig glaubensfördernde und lebenserschließende Bedeutung haben und so Gegenstand der Verkündigung werden können. So ist etwa die strukturanaloge Interpretation alttestamentlicher Texte in der christlichen Predigt (Preuß) kein Modell, das sich ausschließlich auf das Alte Testament beziehen ließe; vielmehr fragt strukturanaloge Auslegung grundsätzlich nach Möglichkeiten, Texte der Bibel auf gegenwärtige Situationen hin zu lesen.160 157

Vgl. zur christologischen Auslegung des Alten Testaments die klassischen Monographien von Wilhelm Vischer und dazu BÜTTNER: Das Alte Testament, 61–92; vgl. zu einer neuen Beurteilung der Bedeutung der Christologie für die Lektüre des Alten Testaments SCHÖTTLER: „Per Christum …“; ders.: Christliche Predigt und Altes Testament, bes. 625–627. 158 Vgl. LEMAIRE: Christliches Verstehen des Alten Testaments, bes. 157–370. 159 Vgl. SCHÖTTLER: Christliche Predigt und Altes Testament; ders.: „Per Christum …“. 160 Vgl. zu diesem Modell PREUSS: Das Alte Testament in christlicher Predigt, 120–140; vgl. bereits ders.: Das Alte Testament in der Verkündigung der Kirche. Vgl. auch ENGEMANN: Einführung in die Homiletik, 287–289, der hier vom „Analogie-Modell“ spricht und feststellt, dass es an dieser Stelle keinen prinzipiellen methodischen Unterschied zwischen der Predigt des Alten und des Neuen Testaments gebe (vgl. 287).

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Faktisch sind – so meine These – immer alle drei Aspekte mehr oder weniger explizit im Spiel, wenn nach der christlichen Predigt des Alten Testaments gefragt wird, und es geht daher bei der Diskussion dieser Frage immer ums Ganze christlich-biblischer Hermeneutik, was zu einer äußerst weitgefächerten wissenschaftlichen Diskussion führt.161 Von der Peticha her berühre ich nur einen Ausschnitt dieses weiten Themas und frage, ob die spannungsreiche Inszenierung der Tanach-Intertextualität in der Peticha einen Hinweis liefern könnte für die Inszenierung einer Intertextualität von Altem und Neuem Testament in der christlichen Predigt. Ich steige zunächst mit einer Beobachtung aus der Predigtpraxis ein und greife erneut auf Karl Barth zurück. Dieser kann als ein Prediger gelten, der seit seinen frühen Safenwiler Predigten immer wieder selbstverständlich und kreativ die beiden Testamente in ein intertextuelles Wechselspiel treten ließ. Altes und Neues Testament fließen häufig ineinander, deuten sich gegenseitig und fordern sich wechselseitig heraus. Einige Beispiele führe ich im Folgenden an. Die Selbstverständlichkeit, mit der Karl Barth Altes und Neues Testament miteinander verbindet, zeigt sich etwa im Schlussgebet einer Predigt im Akademischen Weihnachtsgottesdienst (Basel, 20.12.1957). Barth verknüpft in einem einzigen Satz verschiedene Aussagen zum Stichwort „Wasser“ und „Steine“ miteinander und bringt so das wandernde und murrende Volk Israel in der Wüste, die Hochzeitsgesellschaft von Kana und den Wegbereiter Johannes den Täufer mit der jetzt betenden Gemeinde zusammen: „Du [Gott, AD] kannst ja Wasser aus dem Felsen fließen lassen [Ex 17,1–7; Num 20,7–12; AD], Wasser in Wein verwandeln [Joh 2,1–12, AD] und dem Abraham aus diesen Steinen Kinder erwecken [Mt 3,9, AD] – Alles in der großen, unbegreiflichen Treue, die du deinem Volk geschworen und wieder und wieder gehalten hast.“162 Ganz ähnlich verbindet Barth bereits in einer Safenwiler Predigt des Jahres 1917 unterschiedliche Erzählkomplexe der Bibel unmittelbar und ohne distanzierende hermeneutische Reflexion miteinander. Die markinische Erzählung von der dritten Leidensankündigung Jesu „auf dem Weg hinauf nach Jerusalem“ (Mk 10,32–34) inszeniert Barth in einem „Wort an die Gemeinde Safenwil zur Passionszeit 1917“ (18.02.1917) in einer weit ausgreifenden heilsgeschichtlichen Perspektive neu.163 Dabei wird ein einziges Wort zum Ausgangspunkt: In Mk 10,32 beginnt der Text mit dem Wort „+Hsan [„sie waren“ auf dem Wege hinauf nach Jerusalem]“, ohne dass das Subjekt genannt würde. Im Kontext ist freilich klar, dass es sich um Jesus und seine Jünger handelt. Karl Barth nützt die Unbestimmtheitsstelle, um noch andere einzutragen, die sich mit Jesus und den Jüngern auf dem Weg nach Jerusalem befin161 Vgl. den Literatur- und Forschungsüberblick bei SCHÖTTLER: Christliche Predigt und Altes Testament, 37–140, bes. 105–140. Vgl. über Schöttler hinaus noch ALSTON: Die Predigt des Alten Testaments. 162 BARTH: Predigten 1954–1967, 103, insg. 97–104. 163 BARTH: Predigten 1917, 46–63.

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den: „Ja, es ist freilich ein großes Volk, das unterwegs ist, ‚hinauf gen Jerusalem‘ […]. Ein Mann nur, meinen wir zuerst, mit dem kleinen Schärlein seiner Freunde und Vertrauten, aber wenn wir genauer zusehen, ein ganzes Heer […]: Abraham, der sein Vaterland und seine Freundschaft hinter sich läßt […] – Jakob, der mit den Seinen heimkehrt aus der Fremde und nun ringen muß mit Gott und Menschen […] – Josua, der das Erbe Abrahams wieder gewinnt mit Schwertesgewalt […] – David, der Jerusalem nimmt mit stürmender Hand und dann vor der Bundeslade tanzt, weil nun der rechte Gott wohnen will zu Zion […] – Jeremia, der durch die Tore dieser Stadt geht gebeugten Hauptes […], ‚[…] und Jesus ging vor ihnen‘, sie gehören zu ihm.“164 Nicht selten sucht Barth bewusst einander kontrastierende Bibelverse aus Altem und Neuem Testament. Er verwendet sie aber nicht, um eine der beiden Aussagen als die eigentliche oder richtige, die andere aber als die vorläufige bzw. falsche hinzustellen – wie dies in einer antithetischen Gegenüberstellung von Altem und Neuem Testament denkbar wäre. Im Gegenteil gestaltet Barth mit dieser Konfrontation eine bleibende und unlösbare Spannung. Ein Beispiel findet sich in der Predigt, die Barth am 03.02.1935 beim Rheinisch-Westfälischen Gemeindetag „Unter dem Wort“ in Barmen-Gemarke in politisch und kirchen-politisch bewegten Zeiten zur matthäischen Fassung der Stillung des Sturmes (Mt 8,23–27) hielt.165 Barths Predigt ist eine Homilie, die der Erzählung Vers für Vers (manchmal Halbvers für Halbvers) nachgeht und die Situation der Jünger jeweils mit der Situation der gegenwärtigen Kirche verknüpft. Als Barth zu den Worten „Und er schlief“ (V.24) kommt, führt er diese Worte zunächst so aus, dass er von der Verborgenheit des Handelns Christi spricht.166 Dann aber zitiert er unvermittelt Ps 121,4: „Aber seht: der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht.“ Aus der Spannung beider Worte schließt Barth auf das „Geheimnis seiner [Gottes, AD] Majestät […], die verborgen in sich schließt seine Allmacht und Liebe“167. Das Schlafen im Schiff wird in diesem Ineinander von Verborgenheit und Handeln zu einem „Vorspiel“ des dreitägigen Schlafes Jesu im Tod, der aber wiederum nicht das letzte Wort behält.168 Bemerkenswert, aber für Barth durchaus typisch erscheint, dass der schlafend-verborgene Gott vom neutestamentlichen Bild des schlafenden Jesus her Profil erhält, wogegen der wachend-offenbare Gott mit einem alttestamentlichen Vers zur Sprache gebracht wird.

Karl Barth kann als Beispiel eines Predigers gelten, der sich in seinen Predigten selbstverständlich im Textraum des Kanons aus Altem und Neuem Testament bewegt.169 In der neueren homiletischen Diskussion ist es vor 164

BARTH: Predigten 1917, 47 [Hervorhebungen im Original]. Vgl. BARTH: Predigten 1921–1935, 403–417; vgl. zur Situation 403f Anm. 1. 166 Vgl. BARTH: Predigten 1921–1935, 410f. 167 BARTH: Predigten 1921–1935, 411. 168 Vgl. BARTH: Predigten 1921–1935, 411f, Zitat: 411. 169 Vgl. dazu auch BARTH: Homiletik, 62. In hermeneutischer Perspektive betont Rudolf Bohren die grundlegende Bedeutung kanonischer Intertestamentarität für die christliche Predigt: „Mit einiger Übertreibung kann man sagen: Jede Predigt muß alttestamentliche Predigt sein, insofern nämlich jeder neutestamentliche Text mit dem Schriftganzen zusammen zu sehen ist.“ (BOHREN: Predigtlehre, 120) Auch Dietrich Stollberg zeigt ausgehend von einem schwierigen Predigttext (Spr 23,29–35), wie eine „christliche Kontextualisierung“ bzw. ein Einbringen des einzelnen Tex165

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allem die US-amerikanische Homiletikerin Elizabeth Achtemeier, die eine Predigtpraxis als gestaltetes Miteinander von Altem und Neuem Testament vorschlägt. Achtemeier spricht vom „pairing“ alt- und neutestamentlicher Texte in der Predigt.170 Grundlage für das inszenierte Miteinander der beiden Testamente in der Predigtrede ist dabei Achtemeiers Überzeugung, dass die Texte der Bibel lediglich im Licht des ganzen Kanons angemessen interpretiert werden können.171 Freilich weiß Achtemeier um die tendenziell marcionitische Problematik, die dort entstehen könnte, wo man das Alte Testament nicht für sich, sondern nur im Zusammenhang mit dem Neuen Testament zu Wort kommen lässt. Sie betont demgegenüber, dass selbstverständlich auch das Alte Testament Heilige Schrift sei. Allerdings aber könne es aus christlicher Perspektive (auf das gegenwärtige jüdische Verständnis der Hebräischen Bibel geht Achtemeier nicht ein!) nur „in Christus“ recht verstanden werden. Weil es „Christus“ aber nie als abstrakte dogmatische Formel gebe, sondern das Christusereignis nur in neutestamentlichen Texten „greifbar“ sei, erscheint für Achtemeier die Verknüpfung von zwei Texten als geeignete Möglichkeit einer christlichen Predigt des Alten Testaments.172 Die verschiedenen hermeneutischen Modelle der Zuordnung von Altem und Neuem Testament (Verheißung und Erfüllung, Analogie, gemeinsame Motive und Themen sowie Kontrastierung) werden dabei zu unterschiedlichen Möglichkeiten des Pairing, wodurch Achtemeier die hermeneutische Dominanz eines Modells als Generalschlüssel zum christlichen Verständnis des Alten Testaments durchbricht.173 Zum letztgenannten Punkt der Kontrastierung bemerkt Achtemeier, dass es dabei keineswegs nur um eine Kritik des Neuen Testaments am Alten gehe, sondern auch das Umgekehrte denkbar sei.174 Dennoch aber – und dies gilt es m.E. kritisch zu dem Ansatz zu bemerken – gestaltet Achtemeier mit ihrem Pairing letztlich ein neutestamentlichchristologisches und heilsgeschichtlich-lineares Dominanzmodell. Dies wird besonders dort deutlich, wo Achtemeier von Verheißung und Erfüllung als hermeneutischem Schlüssel spricht. Sie schreibt: „The Old Testament does not end with the fulfillment of God’s purposes, either of judgment or of salvation, but only with the promise of that fulfillment to come. Apart from the completion in the New Testament, we never know what happened tes in den kanonischen Textraum zu weiterführenden und homiletisch anregenden Erkenntnissen führen kann (vgl. STOLLBERG: Ein ‚unmöglicher‘ Text, Zitat: 291). 170 Vgl. ACHTEMEIER: Preaching from the Old Testament, 56–59, Zitat: 56; dies.: Art. Old Testament Preaching, 350f. 171 Vgl. ACHTEMEIER: Preaching from the Old Testament, 52. 172 Vgl. ACHTEMEIER: Preaching from the Old Testament, 56f. 173 Vgl. ACHTEMEIER: Art. Old Testament Preaching, 351. 174 Vgl. ACHTEMEIER: Preaching from the Old Testament, 58f.

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to God’s word. […] Only by pairing texts can we hear the whole story.“175 In diesem Zitat zeigt sich eine heilsgeschichtliche Linearität, die eine doppelte Nachgeschichte der Hebräischen Bibel in Judentum und Christentum nicht in den Blick nimmt, sondern von der einen Geschichte ausgeht. Diese eine Geschichte erzählt Achtemeier ausführlich nach, wobei sie das gegenwärtige Judentum als sich ebenfalls auf die Texte der Hebräischen Bibel berufende Religionsgemeinschaft völlig außer Acht lässt. Stattdessen schreibt Achtemeier: „The way in which God was to fulfill his promises to her [Israel, AD] was not evident on the stage of world history but came in the form of the incarnation of all those words of God. In his person the Son of God became what Israel was meant to be, and through him God gave to the world all that Israel was meant to give. Christ became […] God’s new covenant […]“.176

Mit dieser Konstruktion der einen Geschichte wird nicht nur das christlichjüdische Miteinander problematisch, sondern m.E. faktisch auch jede herausfordernde kanonische Intertextualität schwierig, da die Texte des Alten Testaments lediglich eingebettet in die eine bereits bekannte Geschichte zu Wort kommen können; eine „relational eigenwertige Auslegung des Alten Testaments“ in der christlichen Predigt, die Heinz-Günther Schöttler als zentrale These seiner Arbeit zur christlichen Predigt des Alten Testaments herausgearbeitet hat, erscheint bei Achtemeier prinzipiell und praktisch unmöglich.177 Eine grundlegend andere Art des Pairing führt Henry F. Knight in seinem im Jahr 2000 erschienenen Buch „Confessing Christ in a Post-Holocaust World“ vor Augen. Er bringt Texte aus Altem und Neuem Testament jeweils so zusammen, dass sich zwischen ihnen ein weiter Raum verschiedener Deutungen und neuer Einsichten eröffnet. Der Unterschied zu Achtemeier zeigt sich brennpunktartig in folgendem hermeneutisch grundlegenden Satz Knights: „The narrated world of Scripture is not subsumed under a simple narrative plot. Rather, it is complexly punctuated by contrasting and sometimes fragmented stories as well as other internal ambiguities.“178 Knight versteht sein Projekt – so der Untertitel seines Buches – als „midrashic experiment“. Der rabbinische Midrasch wird für ihn zum Paradigma seiner eigenen Bibellektüren, wobei Knight darauf bedacht ist, den jüdischrabbinischen Begriff des Midrasch nicht einfach für seine Methodik zu 175

ACHTEMEIER: Preaching from the Old Testament, 57. ACHTEMEIER: Preaching from the Old Testament, 36; vgl. zur Nacherzählung der einen Heilsgeschichte insg. 32–37 sowie bereits 11–19. Eine vergleichbar einlinige Sicht vertritt etwa auch GREIDANUS: The Necessity of Preaching Christ. 177 SCHÖTTLER: Christliche Predigt und Altes Testament, 24 [im Original hervorgehoben]; vgl. ders.: „Per Christum …“, bes. 8. 178 KNIGHT: Confessing Christ in a Post-Holocaust World, 15. 176

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usurpieren, sondern seinen Weg als analogen Weg („midrashic“) zu beschreiben.179 Midraschisches Lesen verbindet für Knight die Treue zur Überlieferung mit der Bereitschaft zu ständiger, herausfordernder Kritik an ihr.180 Methodisch entdeckt Knight im Midrasch einerseits dessen nicht-totalisierende Partikularität, andererseits die ständige Kontextualisierung, die der Midrasch unternimmt und aus der heraus sich Bedeutungen konstituieren.181 Darüber hinaus betrachtet Knight die Lektüre im Midrasch immer als persönlich engagiert und damit von der jeweiligen Zeit und Situation affiziert.182 Als prägende Signatur gegenwärtiger Welt erkennt Knight „Auschwitz“, weswegen die beiden Fragen nach einer Revision christlicher Theologie im Angesicht der Schoa sowie nach der Möglichkeit einer Erneuerung des christlich-jüdischen Miteinanders in den Mittelpunkt der Lektüren und Relektüren Knights treten. Die midraschische Methodik führt Knight zu einem vorsichtigen sowie ständig lern- und veränderungsbereiten Interpretieren biblischer Texte. Konkret verbindet er in seinen Lesungen jeweils Texte aus dem Matthäusevangelium mit zentralen alttestamentlichen Texten, aus deren Miteinander sich überraschende Intertextualitäten ergeben. So erscheint der nächtliche Kampf Jesu in Gethsemane (Mt 26,36–46) neben dem Kampf Jakobs am Jabbok (Gen 32,22–32) und verliert aufgrund dieser Verbindung die in christlicher Deutung vorherrschende Fokussierung auf die Innerlichkeit des Leidens Jesu. Vielmehr tritt der nächtliche Kampf – und mit ihm die gesamte folgende Passionsgeschichte – in das Licht der Bundesgeschichte Gottes mit Israel, in die dann auch die andere lange Nacht der Zerstörung, die Schoa, als moderner Jabbok eingezeichnet wird.183 Die Art und Weise, wie Abraham und Jesus auf Sodom blicken (vgl. Gen 18,1– 19,29 und Mt 10,5–15, vgl. bes. V.15), lässt Knight retrospektiv danach fragen, welcher Blick auf die Katastrophe der Zerstörung (Schoa) angemessen sei, und lässt ihn prospektiv nach Gastlichkeit („hospitality“) als Perspektive eines jüdisch-christlichen und allgemein menschlichen Miteinanders Ausschau halten.184 In der Verklärungsgeschichte (Mt 17,1–9) und durch ihre Verbindung mit der Sinaiperikope (konkret: Ex 24,12–18: Mose auf dem Berg) entdeckt Knight die Basis 179

Vgl. KNIGHT: Confessing Christ in a Post-Holocaust World, xxiv.18f. Vgl. KNIGHT: Confessing Christ in a Post-Holocaust World, xix.155f. 181 Vgl. zur Rezeption midraschischer Hermeneutik durch Knight besonders die Abschnitte „The Midrashic Way“ (KNIGHT: Confessing Christ in a Post-Holocaust World, 10–12) sowie „PaRDeS – The World of the Text“ (13–17). 182 Midrasch „is an interpretive prism that mediates between the text and the contemporary world“ (KNIGHT: Confessing Christ in a Post-Holocaust World, 11). 183 Vgl. KNIGHT: Confessing Christ in a Post-Holocaust World, 1–37 [Facing the Night – Wrestling with the Text: Meeting Jacob at Jabbok and Jesus in Gethsemane]; vgl. zur Analogisierung mit der Nacht der Schoa 25–27 [Another Night]. 184 Vgl. KNIGHT: Confessing Christ in a Post-Holocaust World, 39–61 [Looking Back at Sodom with Abraham and Jesus: The Search for Hospitality and Justice in the Face of Destruction]. 180

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einer in das Bundesgeschehen und damit in die Tradition des Gesetzes und der Propheten (Mose und Elia) eingezeichneten Christologie.185 Das wirkungsgeschichtlich problematische Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16) liest er von Ex 3,1–15 her als Topographie eines christlichen Glaubens nach der Schoa, der sich die Frage stellt, wie er sich dem „heiligen Land“ (Ex 3,5) des göttlichen Bundes, dem Weinberg Gottes, neu nähern könne. Dabei entdeckt Knight, dass dies nicht anders denn durch das neue Aussprechen der zur Verantwortung rufenden Antwort Moses auf Gottes Anrede (‫„ ;הנני‬Hier bin ich“, Ex 3,4) möglich sei.186 Die Verbindung des Feldes der Totengebeine aus Ez 37,1–14 mit dem matthäischen Bericht vom leeren Grab (Mt 28,1–20) führt Knight schließlich zu einer nichttriumphalistischen, zurückhaltenden Lesart der Auferstehung, die den „verdorrten Gebeinen“ der Vision Ezechiels (Ez 37,2), aber ebenso den „verdorrten Gebeinen“ der Schoa-Opfer standhält und sich immer wieder durch die Frage Gottes an Ezechiel herausfordern lässt: „Du Menschenkind, meinst du wohl, dass diese Gebeine wieder lebendig werden?“ (Ez 37,3).187

Knight zeigt insgesamt ein nicht-totalisierendes Miteinander von Altem und Neuem Testament, das die Vielheit des Kanons als generatives Moment immer neuer Bedeutungskonstitutionen wahrnimmt. Diese Art des Pairing von Texten aus beiden Teilen des Kanons könnte m.E. zum Paradigma einer christlichen Predigt im Kontext der beiden Testamente werden. Sie erinnert – um über Knight hinausgehend einen weiteren matthäischen Text anzuführen – an das Gleichnis vom Schriftgelehrten, das den Abschluss des Gleichniskapitels Mt 13 bildet und damit redaktionell an herausgehobener Stelle erscheint. Der matthäische Jesus sagt: „Darum gleicht jeder Schriftgelehrte, der ein Jünger des Himmelreichs geworden ist, einem Hausvater, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt.“ (Mt 13,52) Ulrich Luz betont in seiner Auslegung, dass Matthäus mit dem weitgehend redaktionellen188 Gleichnis zeigen wolle, wie Altes (die Worte der Schrift) im Kontext der Jesus-Verkündigung neu werde, und doch beides, Altes und Neues, untrennbar zusammengehören.189 Diese Zusammengehörigkeit macht für Luz den entscheidenden Unterschied zu „Stellen wie Mk 2,21f; 2Kor 5,17; Apk 21,4f [aus, AD], die ‚Neues‘ und ‚Altes‘ eher antithetisch entgegenstellen“190. 185

Vgl. KNIGHT: Confessing Christ in a Post-Holocaust World, 63–84 [The Transfigured Face of Post-Shoah Faith: Critical Encounters with Root-Experiences]. 186 Vgl. KNIGHT: Confessing Christ in a Post-Holocaust World, 85–122 [From the Bush to the Vineyard (and Back): A Post-Shoah Return to Holy Ground]. 187 Vgl. KNIGHT: Confessing Christ in a Post-Holocaust World, 123–154 [Can These Bones Live? From the Valley of Dry Bones to an Opened Tomb and Beyond]. 188 Vgl. LUZ: Das Evangelium nach Matthäus, 2. Teilband, 362. 189 Vgl. LUZ: Das Evangelium nach Matthäus, 2. Teilband, 364f. 190 LUZ: Das Evangelium nach Matthäus, 2. Teilband, 365 Anm. 29.

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Predigerinnen und Prediger, die dem Paradigma des „Schriftgelehrten, der ein Jünger des Himmelreichs geworden ist“, folgen, könnten sich dieser spannungsreichen Vorgabe anschließen und „Neues und Altes“ in der Predigtrede in unauflösbarem intertextuellem Miteinander inszenieren und so Hörerinnen und Hörer mitnehmen auf eine „literarische Entdeckungsreise“ im Kanon.191 Blickt man von diesem Hintergrund auf die Peticha mit ihrer Bewegung von Text zu Text, so erscheint eine Predigtrede denkbar, die vom Neuen auf das Alte oder umgekehrt vom Alten auf das Neue Testament führt. Besonders die erstgenannte Möglichkeit, die eine Umkehrung eingeübter Leseordnung (vom Alten Testament über die Epistel hin zum Evangelium) bedeuten würde, erscheint m.E. interessant. Eine solche Richtung der Predigtrede vom Neuen zum Alten Testament könnte sich auf Luthers Schrift „Eyn kleyn unterricht, was man ynn den Evangeliis suchen und gewartten soll“ (1522) berufen.192 In ihr erscheint das Evangelium als „zeyger und unterrichter […] ynn die schrifft“193, mit anderen Worten als Hinführung und Einführung in das Alte Testament, das Luther in dieser seine „Kirchenpostille“ einleitenden Betrachtung als eigentliche „heylige schrifft“194 bezeichnet. Luther entwickelt in diesem Text zunächst ein Verständnis des Begriffs „Evangelium“.195 Gegen eine formale Reduktion, in der der Begriff äußerlich auf die Schriften des Neuen Testaments bezogen würde, und gegen eine ethisch-moralische Reduktion, in der das Evangelium vor allem auf seine Funktion als Vorbild für christliches Handeln verkürzt würde, betont Luther ein theologisches Verständnis des Evangeliums als Rede von Christus, seiner Menschwerdung, seinem Tod und seiner Auferstehung. Das Evangelium habe erst dann sein Ziel erreicht, wenn es diejenigen, die es hören, in die Christusgeschichte hineinziehe: „Denn Euangeli predigen ist nichts anders, denn Christum zu uns komen odder uns zu yhm bringenn.“196 Das Evangelium wird so zum Wegweiser auf Christus hin und gleichzeitig werden die von diesem Evangelium kündenden Bücher des Neuen Testaments – und dies ist die hier 191 Der zitierte Begriff stammt von Ulrich H. J. Körtner. Dieser charakterisiert den Kanon als „literarische Montage“ und schreibt dann: „Indem die alttestamentlichen und neutestamentlichen Schriften aus einer umfangreichen religiösen Literatur ausgesondert und – in verschiedenen Variationen – zu einem Kanon komponiert wurden, entstand ein neuer Makrotext, in welchem der einzelne Leser und die Interpretationsgemeinschaft, der er angehört, immer neue Sinnbezüge entdecken können und sollen. […] Als Regel oder Richtschnur […] ist der Kanon nicht nur ein Leitfaden des Glaubens, sondern eine Anweisung zum permanenten Lesen, die Einladung zu einer literarischen Entdeckungsreise.“ (KÖRTNER: Theologie des Wortes Gottes, 338; vgl. auch ALTER: Canon and Creativity; STOCK: Typologie). 192 WA 10,1,1, 8–18. 193 WA 10,1,1, 17, 2. 194 WA 10,1,1, 17, 7. 195 WA 10,1,1, 8–14. 196 WA 10,1,1, 13, 22–14, 1.

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interessierende Pointe Luthers gegen Ende seiner Betrachtung – zum Wegweiser in die Schrift des Alten Testaments: „Syntemal die Euangeli und Epistel der Apostel darumb geschrieben sind, das sie selb solche zeyger seyn wollen und uns weyßen ynn die schrifft der propheten und Mosi des allten testaments, das wyr alda selbs leßen und sehen sollen, wie Christus ynn die windel thucher gewicklet und yn die krippen gelegt sey, das ist, wie er ynn der schrifft der propheten vorfassett sey.“197 Diese Funktion des Neuen Testaments als Wegweiser in das Alte begründet Luther mit zahlreichen neutestamentlichen Zitaten, die allesamt zeigen, dass die Evangelien und Epistel das Ziel haben, „ynn die schrifft [zu, AD] furen“.198 Vom Christuszeugnis des Neuen Testaments führt, so zusammenfassend die Pointe von Luthers Einführung, einerseits ein unmittelbarer Weg hin zur lebendigen Begegnung mit dem aus Gnade rechtfertigenden Christus, andererseits und untrennbar damit verbunden ein Weg hin zu der Schrift des Alten Testaments.

Luthers Äußerungen aus dem Jahr 1522 markieren mit ihrer Hochschätzung des Alten Testaments als der eigentlichen Heiligen Schrift das Gegenteil manch skeptischer Nachfrage in der Geschichte der Kirche bis in die Gegenwart, inwiefern das Alte Testament denn für Christen noch aktuell und daher für die Predigt noch bedeutsam sein könne. Das Evangelium als Zeugnis von Christus zieht zu Christus hin und gleichzeitig unmittelbar in die Heilige Schrift des Alten Testaments hinein, ohne die das Christuszeugnis leer in der Luft hängen würde. Würden diese Äußerungen Luthers formal und inhaltlich in homiletischer Perspektive rezipiert, könnte dies, wie bereits angedeutet, eine Predigtrede nahelegen, die mit dem Neuen Testament und seiner Auslegung einführt in die Heilige Schrift des Alten, die darum weiß, dass sich das Christuszeugnis nur von den Windeltüchern und der Krippe der Texte des Alten Testaments her erschließt, und die so – wie die Peticha der Lesung aus der Tora – dem Alten Testament das letzte Wort lassen könnte.199 Der entscheidende Vorteil einer solchen Richtungsumkehrung wäre, dass nicht mehr vom Alten Testament her gefragt werden müsste, inwiefern das dort Gesagte mit dem Christuszeugnis des Neuen Testaments harmoniere und inwiefern es sich erfülle, bestätige oder verändere.200 Vielmehr könnte das Neue Testament gelesen werden in Analogie zur mündlichen Tora im 197

WA 10,1,1, 15, 1–5. WA 10,1,1, 16, 8; Luther verweist auf Joh 5,46.39; Röm 1,2; Apg 17,11; 1Petr 1,10–12; Apg 3,24; Lk 24,45 und Joh 10,1–10. 199 William H. Willimon beschreibt in einem seiner Aufsätze seine Praxis, im Gottesdienst die Reihenfolge der Lesungen bewusst umzukehren und das Alte Testament am Ende zu lesen. Er möchte damit der Gemeinde zeigen, dass das Alte Testament nicht nur ein Vorläufer des Neuen sei, sondern eigenen Wert in sich habe (vgl. WILLIMON: The Lectionary, 335). 200 Fragen dieser Art werden häufig gestellt, wenn von der christlichen Predigt des Alten Testaments die Rede ist; vgl. nur exemplarisch PREUSS: Das Alte Testament in christlicher Predigt, 57: „Wie kann ein historisch-kritisch exegesierter Text des AT zu einer christlichen Gemeinde in Christus neu und weiterreden?“ 198

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rabbinischen Judentum, deren Ziel darin besteht, vielperspektivisch in die schriftliche Tora einzuführen. Es könnte verstanden werden als eine Art hinführender Kommentar zur Heiligen Schrift – wie etwa Norbert Lohfink es sieht: „Was weniger im christlichen Bewußtsein steht und stärker beachtet werden müßte, ist allerdings, daß auch für den Christen nur das Alte Testament Bibel im strengsten Sinn ist, während das Neue Testament nur Auslegung dazu ist.“201 Natürlich wird man sich vor einem umgekehrten Marcionismus hüten müssen, der bei einer Überzeichnung der angedeuteten Richtungsangabe drohen und darin bestehen könnte, die Kanonisierung des Neuen Testaments faktisch rückgängig zu machen, seine 27 Schriften in ihrer herausgehobenen kanonischen Bedeutung zu nivellieren und neben andere Kommentare und Auslegungen zu stellen. Die Schriften des Neuen Testaments sind – freilich nur mit denen des Alten Testaments zusammen – Kanon. Im intertextuellen Miteinander der Testamente ergeben sich wechselseitige Erschließungen und Herausforderungen. Daher wird bei einer homiletischen Rezeption der Peticha im Kontext des Verhältnisses der beiden Testamente genauso auch der umgekehrte Weg denkbar sein: Ein Bibelwort aus dem Alten Testament führt hin zu einem Wort aus dem Neuen, wobei es besonders bei dieser Richtung entscheidend ist, die relationale Eigenwertigkeit des Alten Testaments, die Schöttler herausgearbeitet hat, zu betonen. Dies erscheint mir dann möglich, wenn – wie bei Knights midraschischen Lesungen und anders als bei Achtemeier – klar wird, dass die inszenierte Wegrichtung nicht die einzige, sondern nur eine Möglichkeit eines Verständnisses des Alten Testaments ist. Die Predigtrede muss formal und inhaltlich offen bleiben für die andere, die jüdische Nachgeschichte der Hebräischen Bibel, indem in ihr nicht die eine Logik einer Heilsgeschichte, die von Verheißung zur Erfüllung oder vom Gesetz zum Evangelium führt, gestaltet wird. Insgesamt könnte eine Predigt als in Analogie zur Peticha inszenierte kanonische Intertestamentarität zu einer in intertextueller Perspektive modifizierten homiletischen Gestaltung dessen führen, was in der biblischen Hermeneutik seit den grundlegenden Arbeiten von Brevard S. Childs als „canonical approach“ diskutiert wird. Childs legte 1992 seine „Biblical Theology of the Old and New Testaments“ vor, die 1994 und 1996 in zwei Bänden in deutscher Übersetzung erschien.202 Grundlegend ist 201 LOHFINK: Hermeneutik des Alten und Neuen Testaments, 244f. Vgl. auch ders.: Moses Tod, die Tora und die alttestamentliche Sonntagslesung, 491f, wo Lohfink vom Neuen Testament als „dem definitiven Kommentar zur Tora des Alten Testaments“ spricht (Zitat: 492). 202 CHILDS: Die Theologie der einen Bibel, Bd. 1: Grundstrukturen (1994); Bd. 2: Hauptthemen (1996); vgl. bereits ders.: Biblische Theologie und christlicher Kanon; vgl. dazu auch NOBLE: The Canonical Approach; OEMING: Text – Kontext – Kanon.

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sein Interesse, die Bibel als Ganzes in der „Einheit des biblischen Zeugnisses“203 sowie als „Glaubenszeugnis“204 zu lesen. Abgrenzend wehrt sich Childs daher gegen eine lediglich das Zeugnis des Alten oder das des Neuen Testaments berücksichtigende Theologie, aber auch gegen die Tendenz, durch die kritische Rückfrage hinter die Endgestalt des Kanons zu theologischen Aussagen gelangen zu wollen. Positiv geht es ihm darum, die theologische Einheit der beiden Testamente wahrzunehmen und von dieser Wahrnehmung ausgehend das eine biblische Zeugnis („den Hauptinhalt des Glaubenszeugnisses der Schrift“205) zu verstehen und das im Text Gemeinte zu erkennen. Sicherlich kommt Childs dabei zu interessanten und gegenüber einer Dominanz historisch-kritischer Dekanonisierung206 weiterführenden Ergebnissen, andererseits aber droht Childs von einer – kaum explizit als solche reflektierten – klaren dogmatischen Vorentscheidung aus eine Einheit des Kanons zu behaupten, die Differenzen marginalisiert bzw. ausblendet und so gerade den Spannungsreichtum, den etwa Knight zwischen einzelnen Texten des Kanons wahrnimmt und der in einer intertextuellen Perspektive für die Konstitution von Bedeutung entscheidend ist, zu übersehen.207 In dieser Hinsicht finden sich in dem 1999 erschienenen Buch von Georg Steins, das sich als „Aufnahme, Kritik und Weiterführung des Ansatzes von Childs“208 versteht, durch die Verbindung der Grundeinsichten Childs’ mit Intertextualitäts- und Rezeptionstheorien entscheidend neue Perspektiven. Steins legt Wert auf die Betonung der Offenheit und Unabgeschlossenheit der Bedeutungskonstitution durch die Leserinnen und Leser sowie der Polyphonie der Lektüre im Kontext einer „konturierte[n] Intertextualität“ des Kanons.209 Die Arbeit ist in ihrem Hauptteil auf die Lektüre von Gen 22 im Kontext des Pentateuch konzentriert; nur am Rande deutet Steins 203

CHILDS: Die Theologie der einen Bibel, Bd. 2, 444. CHILDS: Die Theologie der einen Bibel, Bd. 1, 133. 205 CHILDS: Die Theologie der einen Bibel, Bd. 2, 447. 206 Vgl. dazu oben Kap. 1.1.1, 28f; Kap. 11.1.2.1, 305f. 207 So ist es sicherlich charakteristisch, wenn Childs in seinem zweiten Band zehn Hauptthemen der Bibel formuliert, die an die Gliederung der Dogmatik in klassischer Loci-Tradition erinnern. – Vgl. hierzu den aufschlussreichen Satz von John Barton, der in einem zustimmenden Aufsatz zu Childs’ Ansatz schreibt, es gehe dem „canonical approach“ darum, das herauszufinden, „was der Text an theologischer Wahrheit kommuniziere“ (BARTON: Canonical Approaches Ancient and Modern, 204). Vgl. zur Kritik an der vereinheitlichenden Kanonlektüre von Childs auch BARTH, G.: Rez. zu: Childs. Diese Kritik einschränkend sei allerdings auf Childs’ eigenes Votum hingewiesen, wonach die „Erkenntnis des einen Skopus der Schrift, der Jesus Christus ist, […] nicht in der Weise umgesetzt werden [dürfe, AD], daß die große Bandbreite der biblischen Stimmen beschränkt“ würde (CHILDS: Die Theologie der einen Bibel, Bd. 2, 452). 208 STEINS: Die „Bindung Isaaks“, 2. 209 Vgl. STEINS: Die „Bindung Isaaks“, 9–102 [Methodologische Grundlagen einer kanonischintertextuellen Lektüre]; der Begriff der „konturierten Intertextualität“ stammt von Norbert Lohfink (vgl. 23). Vgl. auch STEINS: Der Bibelkanon als Denkmal und Text. Interessant ist es, die Gegenkritik von Childs an Steins’ Ansatz zu lesen, die m.E. gerade durch ihre kritischen Fragen das über Childs hinausweisende und Einseitigkeiten in Childs’ Ansatz überwindende Neue der Konzeption Steins’ deutlich vor Augen führt (vgl. CHILDS: Critique of Recent Intertextual Canonical Interpretation, bes. 173–178). 204

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an, welche Folgen sich aus seinem kanonisch-intertextuellen Ansatz für das Verhältnis von Altem und Neuem Testament ergeben. Das Verhältnis der beiden Testamente müsse, so Steins, auf die Festlegung abstrakter Großkonzepte verzichten und sich vielmehr in der ständig neuen und unabgeschlossenen Lektürebemühung erweisen.210 In einem 2003 erschienenen Aufsatz spricht Steins davon, dass Altes und Neues Testament als zwei Halbchöre zu hören seien, wobei das Alte Testament seine eigenständige Stimme habe und behalte.211 Dieser von Steins entwickelte intertextuell konturierte „canonical approach“ mit seinem Verweis auf den kanonischen Textraum ist es, den eine in Analogie zur Peticha gestaltete Predigt auf ihrem Weg vom Alten zum Neuen Testament oder umgekehrt inszenieren könnte.212

Nach Erich Zenger muss es hermeneutisch darum gehen, eine „Superiorität des Christentums gegenüber dem Judentum“ und damit eine grundlegende Priorität des Neuen Testaments gegenüber dem Alten Testament aufzugeben. Stattdessen sei es entscheidend, „die alttestamentlichen und die neutestamentlichen Stimmen so in einen wechselseitigen Diskurs zu bringen, dass sie sich gegenseitig erhellen.“213 Genau dieser wechselseitige Diskurs könnte die Basis eines homiletischen Energiegewinns aufgrund kanonisch-intertestamentarischer Dialogizität werden. Ein Hinweis als Nachbemerkung zu diesem Abschnitt scheint mir dann freilich noch nötig: Wenn in der christlichen Predigt herausfordernde Intertextualitäten zwischen Altem und Neuem Testament inszeniert werden sollen, so stellt sich grundlegend die Frage, welche Texte aus dem Alten Testament im christlichen Gottesdienst überhaupt zur Sprache kommen und mit welchen neutestamentlichen Texten sie im Textraum eines Sonntagsgottesdienstes erscheinen. Heinz-Günther Schöttler erkennt, dass für die Auswahl der katholischen Leseordnung das hermeneutische VerheißungsErfüllungs-Modell sowie das „typologisch-christologische Verstehensmodell“ prägend waren.214 Gleiches lässt sich auch für die Auswahl der knapp 100 alttestamentlichen Texte sagen, die sich in den Reihen I–VI des lutherischen Perikopenbuchs (1978) finden. Seit einigen Jahren wurden – vor allem auf dem Hintergrund des sich entwickelnden christlich-jüdischen Dialogs und primär im katholischen und 210

Vgl. STEINS: Die „Bindung Isaaks“, 35. Vgl. STEINS: Wege durch den „Bibel-Dschungel“, 103f. 212 Vgl. zum Bild des kanonischen Textraums auch GREVEL: Der Raum des Verstehens, 220f; LÄMMLIN: Die Lust am Wort, 320–326. 213 ZENGER: Heilige Schrift der Juden und der Christen, 20. 214 Vgl. SCHÖTTLER: Christliche Predigt und Altes Testament, 148–151, Zitat: 148 [im Original hervorgehoben]; vgl. ders.: „… indem jene durch unsere Reden […]“, 228–231. Vgl. zur Geschichte christlicher Lesung des Alten Testaments auch SMOLÍK: Die Heilige Schrift, 125–129, und vgl. zur Orientierung über den Stand der Perikopendiskussion BIERITZ: Auf dass die Stimme Gottes nicht verstumme. 211

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reformierten Bereich – revidierte oder radikal veränderte Perikopenvorschläge erarbeitet, die das Alte Testament grundlegender als bisher in seinem Reichtum und „Überschuß“ (Mildenberger)215 zur Sprache bringen sollen und nicht lediglich alttestamentliche Perikopen in Konsonanz zur Vorgabe des Sonntagsevangeliums bieten. Es ist hier nicht der Ort, ausführlicher auf die unterschiedlichen Modelle einzugehen.216 Im Kontext der vorgeschlagenen Inszenierung einer spannungsreichen kanonischen Intertestamentarität erscheint mir besonders das von Georg Braulik entwickelte und von Norbert Lohfink unterstützte „bipolare“ Modell hilfreich.217 Das Modell geht von einer dreijährigen Tora-Bahnlesung als dem einen Pol und einer lectio currens der Evangelien als dem zweiten Pol sonntäglicher Lesungen aus.218 Dazwischen stünde dann eine weitere alttestamentliche Lesung, die in Bezug auf die Tora ausgewählt wird, und eine weitere neutestamentliche Lesung, die eine gewisse Konsonanz zum Evangelium aufweist. Je nach Schwerpunkt des Gottesdienstes könnte eine der beiden mittleren Lesungen, nicht aber einer der beiden Pole entfallen.219 Besonders interessant und im Blick auf die bisherige Perikopendiskussion neu erscheint an diesem Modell die Chance, dass im Textraum eines Sonntags durch die beiden fortlaufenden Lesungen, die die Pole markieren, zwei herausfordernd verschiedene Texte gelesen werden und interagieren können. Braulik schreibt: „Die Evangelienstelle braucht nicht eigens thematisch oder verbal mit der Tora zu korrespondieren […]“220; das Alte Testament gewinnt größere Eigenständigkeit.221 Der weit gespannte Textraum könnte zu 215

Vgl. MILDENBERGER: Kleine Predigtlehre, 101–105. Vgl. SCHÖTTLER: Christliche Predigt und Altes Testament, 151–153. Neben dem unten kurz vorgestellten Modell von Georg Braulik ist als gewichtiger weiterer Vorschlag das heilsgeschichtlich orientierte Modell Hansjacob Beckers zu erwähnen; vgl. BECKER: Die Bibel Jesu und das Evangelium Jesu; ders.: Wortgottesdienst als Dialog der beiden Testamente; ders.: Liturgie als Einladung zum jüdisch-christlichen Dialog. Vgl. zum grundlegenden Impuls auch NÜBOLD: Die Kriterien zur Auswahl der Perikopen. 217 Als „bipolare[s]“ Modell wird der Entwurf von Albert Gerhards bezeichnet (vgl. GERHARDS: Impulse des christlich-jüdischen Dialogs für die Liturgiewissenschaft, 201). Vgl. BRAULIK: Die Tora als Bahnlesung, und dazu LOHFINK: Moses Tod, die Tora und die alttestamentliche Sonntagslesung, bes. 492–494. 218 Auch im Kontext der niederländischen Kirchen wurde eine dreijährige Toralesung entwickelt; vgl. dazu MONSHOUWER: Alttestamentliche Lektionare; ders.: Der dreijährige Torazyklus; ders.: The Reading of the Scripture in the Liturgy; SCHULZ: Reform mit Weitblick, 43. 219 Vgl. BRAULIK: Die Tora als Bahnlesung, bes. 62–65. 220 BRAULIK: Die Tora als Bahnlesung, 64f. 221 Letzteres ist auch das erklärte Ziel des „Revised Common Lectionary“ als ein von verschiedenen Kirchen in den USA entwickeltes und 1992 vorgelegtes Modell, das vom römischen Ordo (1969) ausgeht und als alttestamentliche Lesung im ersten Lesejahr (Matthäus) Texte aus dem Pentateuch liest, im zweiten Lesejahr (Markus) Erzählungen von David und im dritten (Lukas) Erzählungen von Elia, Elisa und den kleinen Propheten; vgl. dazu JASCHINSKI: Gottes Wort und menschliche Antwort, 197; WILLIMON: The Lectionary. 216

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vielfachen Entdeckungen und homiletischen Gestaltungen jenseits jedes zu einfachen hermeneutischen Generalmodells zum Verhältnis von Altem und Neuem Testament herausfordern.

14.4 Die Chatima und die Eschatologie der Predigt: Mit dem Text in Gottes neue Welt In der rabbinischen Literatur, genauer: in den Homilien der sogenannten homiletischen Midraschim, findet sich – wie oben bereits bemerkt222 – sehr regelmäßig als Abschluss der einzelnen Homilien eine Art umgekehrte Peticha.223 Führt die Peticha von einem „entfernten Vers“ zur Toraparascha hin, so verbindet die Chatima als „die den Diskurs abschließende, letzte konstitutive Kompositionsform der rabbinischen Homilie“224 die Auslegungen zur Toraparascha (Injan) mit einem Chatima-Lemma, das in der Regel aus dem Corpus propheticum stammt und „tröstlichen, eschatologischen Inhalts ist“225. Inhaltlich geht die Chatima dabei in aller Regel von einer Schilderung des Ist-Zustandes aus, stellt dann die göttliche Verheißung daneben und kulminiert in dem Chatima-Lemma, das „als Änderung des gegenwärtigen Zustandes auf den angekündigten, zukünftigen hin interpretiert“ wird.226 Im Blick auf die strukturelle Realisation dieser Kompositionsform lassen sich – mit Arnold Goldberg – zwei Grundformen unterscheiden: die antithetische und die steigernde Chatima.227 Die antithetische zeigt, wie es in dieser Welt ist, und stellt dem das Andere der kommenden Welt entgegen. Auch die steigernde setzt ein mit einer Schilderung der Zustände dieser Welt. Wenn es – so führt sie weiter – bereits in dieser Welt so ist, um wieviel mehr dann in der kommenden. Ich stelle im Folgenden das Beispiel einer antithetischen Chatima aus WaR 15,9 vor, die sich auf Lev 13,2 bezieht:228 Lev 13,2 leitet das Gesetz zur Feststellung von Aussatz ein und lautet in der LutherÜbersetzung: „Wenn bei einem Menschen an seiner Haut eine Erhöhung (‫ )שאת‬oder ein Ausschlag (‫ )ספחת‬oder ein weißer Flecken (‫ )בהרת‬entsteht und zu einer aus-

222

Vgl. oben Kap. 3.3.1, 89 Anm. 120. Vgl. GOLDBERG: Die Peroratio, 397. 224 LENHARD: Die rabbinische Homilie, 61, vgl. insg. 61–69. 225 LENHARD: Die rabbinische Homilie, 62. 226 GOLDBERG: Die Peroratio, 396. 227 Vgl. GOLDBERG: Die Peroratio, 409; vgl. auch LENHARD: Die rabbinische Homilie, 62f, die von „antithetische[r] und klimaktische[r] Relation“ innerhalb der Chatima spricht (Zitat 63). 228 Vgl. dazu auch LENHARD: Die rabbinische Homilie, 65f. 223

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sätzigen Stelle (‫ )נגע צרעת‬an der Haut wird, soll man ihn zum Priester Aaron führen oder zu einem unter seinen Söhnen, den Priestern.“ Die Chatima verbindet in der Form der Petira nacheinander die vier hebräisch angegebenen Begriffe mit den vier Fremdvölkern, unter deren Herrschaft Israel stand bzw. steht. Dabei wird ‫ שאת‬auf Babel, ‫ ספחת‬auf Medien, ‫ בהרת‬auf Griechenland und ‫ נגע צרעת‬auf Edom (=Rom) bezogen. Nach dieser Petira kehrt die Chatima zu Lev 13,2b zurück: „Gemäß dem, wie es in dieser Welt ist, besieht der Priester die Aussatzschäden, aber in der Zukunft, die kommt, spricht der Heilige, gepriesen sei Er: Ich reinige euch. Denn so steht geschrieben: ‚Ich besprenge euch mit reinem Wasser, und ihr werdet rein‘ [Ez 36,25].“

Die Chatima verbindet den kultischen Terminus der Reinigung (‫ טהר‬pi., reinigen) mit dem politischen Kontext der Sammlung der Exilierten und ihrer Rückführung aus allen Ländern gemäß der Gottesverheißung aus Ez 36,22–32: „Und ich nehme euch aus den Völkern heraus und sammle euch aus allen Ländern und bringe euch in euer Land hinein. Und ich sprenge reines Wasser über euch, so daß ihr rein werdet. Von all euren Unreinheiten und von all euren Götzen mache ich euch rein“ (V.24f)229. Auf diesem Hintergrund verknüpft die Chatima das kultische Thema der Unreinheit und des Aussatzes aus dem Buch Leviticus mit dem politischen Thema der Fremdherrschaft und des Exils. Die von der Gemeinschaft trennende Unreinheit des Aussatzes (vgl. Lev 13,46) wird mit den Erfahrungen des Beherrschtwerdens durch andere Völker und des Exiliertseins zusammengebracht. Der einzelne Kranke kann – wie der Kontext im Buch Leviticus zeigt – durch den Priester gereinigt werden (vgl. Lev 14,1–32); für das exilierte und beherrschte Volk ist es – so die Chatima – Gott selbst, der sein Volk reinigen, d.h. politisch befreien und in sein Land zurückführen, wird. Die Chatima lässt sich als eine geprägte Sprachform zum Ausdruck eschatologischer Hoffnung beschreiben. Durch die Verbindung zweier Bibelworte verknüpft sie die jetzige Weltwirklichkeit und das Neue der Gotteswirklichkeit. Von einem Bibelwort, das die Weltwirklichkeit, wie sie jetzt erfahren wird, kennzeichnet, führt die Chatima hin zu einem Bibelwort, das das kommende Neue in den Blick nimmt, ja, nicht nur in den Blick nimmt, sondern – wie im zitierten Ezechielvers – bereits jetzt sprachlich konstituiert. Ein ausführlicher homiletischer Dialog mit der Chatima ist an dieser Stelle nicht möglich, würde er doch die großen Fragen nach dem Eschatologischen in der Predigtrede und noch allgemeiner nach der grundlegenden Eschato-

229

Übersetzung nach ZIMMERLI: Ezechiel, 869.

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logie der Predigtrede stellen. Perspektiven in beide genannte Richtungen deute ich aber abschließend an: (1) Die rabbinische Form der Chatima lässt danach fragen, wie Eschatologisches in der christlichen Predigtrede vorkommt. Dabei scheint mir vor allem interessant, dass die rabbinische Chatima beides, die Weltwirklichkeit, wie sie jetzt erfahren wird, und die neue Welt Gottes, sein eschatologisches Handeln, jeweils mit einem Bibelwort zur Sprache bringt. Die defizitäre Weltwirklichkeit wird bereits in den Sprachraum der Bibel hineingeholt, mit Worten der Bibel besprochen und so grundlegend in den Kontext des Redens Gottes und seiner Verheißungen gerückt. Keineswegs wird in der Chatima eine gottverlassene und daher hoffnungslose Welt hinübergeholt in das Andere der Gotteswirklichkeit – wie es, um ein Etikett zu verwenden, am ehesten als das klassische Problem evangelistisch-eschatologischer Predigt mit gnostischer Grundtendenz bezeichnet werden könnte. Umgekehrt aber bricht die Chatima das Neue und Andere eschatologischer Gotteswirklichkeit auch nicht auf die kleine Münze der jetzt erfahrbaren Lebenswirklichkeit herunter, sodass in dieser Welt bereits das Ganze der Gotteswirklichkeit sichtbar würde. Auch diese Tendenz findet sich in christlicher Predigtpraxis und kann – um auch hier ein Etikett zu verwenden – am ehesten in einer liberal-religiösen, präsentisch-eschatologischen Predigt mit idealistischer Grundtendenz erkannt werden. Die Chatima hingegen weiß von einem eschatologischen Mehr, das nicht im Präsentischen aufgeht. Diese Ausrichtung der Eschatologie schrieb vor allem Jürgen Moltmann in seiner „Theologie der Hoffnung“ der Theologie des 20. Jahrhunderts neu ins Stammbuch.230 Die Chatima konfrontiert das Vorletzte mit dem Letzten, den Alltag mit der Eschatologie, und sie spricht Gottes neue Welt konkret, bezogen auf die geschilderte Situation in die Weltwirklichkeit hinein. Auch dazu nutzt sie ein Bibelwort, nicht etwa eine allgemeine, begrifflich formulierte Idee. Sie greift auf die eschatologische Sprache der Bibel in ihren Formen und Bildern zurück, um das Neue zum Ausdruck zu bringen. Insgesamt kann die Chatima daher analog auf eine eschatologische Predigt im Kontext skripturaler Hermeneutik verweisen, die Gottes neue Welt sprachlich eröffnet, indem sie die erfahrbare Weltwirklichkeit in die Verheißungen der Bibel stellt, von der Weltwirklichkeit ausgehend hinführt zur biblischen

230 Moltmanns Eschatologie richtet sich vor allem gegen individualisierte und präsentisch verkürzte Eschatologien im Umkreis existentialer Interpretation. Er schreibt: „Glauben, das heißt in der Tat Grenzen überschreiten, transzendieren und im Exodus stehen. So jedoch, daß damit die bedrückende Wirklichkeit nicht unterschlagen oder überschlagen wird.“ (MOLTMANN: Theologie der Hoffnung, 15).

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Sprache für das Neue und so Welterfahrung und Gotteswirklichkeit, Zeit und Ewigkeit, Alltag und Eschatologie verbindet.231 (2) Wo genau der Sitz im Leben der Chatima gesucht werden kann, bleibt fraglich. Ihr Sitz in der Literatur aber ist klar zu greifen: In den homiletischen Midraschim schloss sie regelmäßig die einzelnen Homilien ab. Zumindest für die Redaktoren dieser Midrasch-Sammelwerke war der eschatologische Abschluss einer Komposition, die zunächst mit der Peticha zu dem Parascha-Text hinführt und dann im Injan bei diesem Text verweilt, eine Selbstverständlichkeit: Keine Einführung in den Text ohne Hinführung in Gottes neue Welt durch den Text! Mit Ingrid Schoberth gilt prinzipiell auch für die christliche Predigt: „Alles Predigen hat […] eine eschatologische Dimension, nicht nur das Predigen über eschatologische Texte und eschatologische Themen […]“232. Zu fragen wäre daher nicht nur danach, wie in der christlichen Predigtrede Eschatologisches zur Sprache kommt, sondern umfassender danach, wie christliche Predigt insgesamt zu einer eschatologischen Predigt werden könnte.233 Entscheidend dürfte dafür zunächst sein, dass die Predigt nicht allzu endgültig redet, sondern um ihre eigene Vorläufigkeit und notwendige Fragmentarität weiß und deshalb offen bleibt für das, was von Gott her kommt, und den, der kommt. Bereits Rudolf Bohren unterscheidet eine ängstliche und eine mit dem „kommenden Retter“ rechnende Predigt und schreibt: „Ängstlichkeit muß auf Vollständigkeit bedacht sein, Vorsicht walten lassen, während die Hoffnung Mut macht zum Fragment.“234 231 Ähnlich fordert dies auch Ingrid Schoberth in ihren Überlegungen zur Eschatologie in der christlichen Predigt in Abgrenzung von Hans Martin Müller. Müller spricht – in Anlehnung an Emanuel Hirsch – von einer „Nacht der Bildlosigkeit“, die dadurch entstehe, dass die biblischen Bilder des Neuen (die himmlische Stadt, das Abwischen der Tränen …) heute nur noch „als Traumbilder empfunden [würden, AD], die zuletzt der schmerzhaften Realität des wirklichen Todes nicht standhalten können“ (MÜLLER: Homiletik, 369; vgl. dazu SCHOBERTH: Von Zeit und Ewigkeit, 440–442). Demgegenüber ist für Schoberth entscheidend, dass eschatologische Predigt ihre Sprache „im Vertrauen auf die biblischen Verheißungen“ finden müsse (442; vgl. auch 448– 452). Vgl. auch Peter Cornehl: „Das Wichtigste, was wir haben, sind die großen Visionen der Bibel. Wir dürfen sie nicht verschweigen und den Menschen nicht vorenthalten.“ (CORNEHL: Stärker als der Tod, 81). 232 SCHOBERTH: Von Zeit und Ewigkeit, 439. 233 Vgl. auch LÄMMLIN: Die Lust am Wort, 109–122, der unter der Überschrift „Das Ende der Predigt“ auf die grundlegende Eschatologie christlicher Predigtrede zu sprechen kommt: „Mit dem Bezug zum den [sic!], was jenseits der Predigt liegt, ist das Problem des Endes der Predigt prägnant bestimmt. Die Predigt findet ihr Ende an dem, was jenseits von ihr liegt. Jenseits der Predigt liegt einmal das eigene Leben der Hörer und zum anderen, [sic!] das was jenseits dieses Lebens liegt und was im Vorgriff auf das Handeln Gottes bestimmt werden kann, seine Vollendung im Rahmen der (eschatologischen) Vollendung von Welt und Geschichte.“ (Zitat 110). 234 BOHREN: Predigtlehre, 230, vgl. insg. 222–279 [Predigt als Verheißung].

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Nötig ist es dazu freilich, dass christliche Theologie die christologisch begründete Bedeutung der bis heute bestehenden Offenheit der Verheißungen Gottes erkennt. Mit 2Kor 1,20 („Denn auf alle Gottesverheißungen ist in ihm [Christus, AD] das Ja; darum sprechen wir auch durch ihn das Amen, Gott zum Lobe.“) kann Jesus Christus als Bestätigung der Gottesverheißungen bekannt und muss nicht vorschnell als deren Erfüllung behauptet werden.235 Für die Predigtrede kann die bleibende Erwartung wesentliche Entlastung bedeuten. Predigt muss nicht zeigen, inwiefern schon jetzt erfüllt ist, was die Bibel verheißt. Sie muss, im Beispiel gesprochen, den Schalom, den die Propheten verheißen, nicht auf die kleine Versöhnung im Alltag oder auf den inneren Frieden des religiösen Subjekts heruntertransformieren, sondern kann die umfassende politische Dimension im Auge behalten, das noch Ausstehende schmerzlich wahrnehmen, klagend zur Sprache bringen und doch an der Hoffnung festhalten.236 Das Neue, von dem die Bibel spricht, wird die Predigtrede so zu einem Humor finden lassen, der überrascht wahrnimmt, was Gott mit dieser Welt noch vorhat – gegenüber allem Planen und Erwarten der Menschen.237 Es wird zum Lachen bringen angesichts der Inkommensurabilität dieses Neuen (vgl. Gen 18,12). Und es wird eine verkehrte Welt erahnen lassen, die sich letztlich als die eigentliche Welt erweisen wird und die schon jetzt die Wirklichkeit verändert. Darauf weist auch Ingrid Schoberth hin: „Wirklichkeitsnahe Predigt kann darum gerade keine Wiederholung der Gegenwarts- und Wirklichkeitserfahrung des Hörers sein; vielmehr hat sie die Wirklichkeit im Lichte des kommenden Retters und Richters anzusagen. Damit vollzieht sich mit der Predigt eine Verwandlung der Wirklichkeit […]“238. Von dieser verwandelten Wirklichkeit spricht auch eine kurze Erzählung im babylonischen Talmud (bPes 50a), mit der ich diese Andeutungen zu einer eschatologischen Predigtrede abschließe: „Denn einst erkrankte Rab Josef, Sohn des R. Jehoschua ben Levi, und fiel um wie tot. Als er wieder erwachte, sagte sein Vater zu ihm: Was hast du gesehen? Er antwortete ihm: Eine verkehrte Welt (&‫ הפו‬%‫ )עול‬habe ich gesehen: Die Oberen waren unten, und die Unteren oben. Er sagte zu ihm: Mein Sohn, eine klare Welt (%‫עול‬ ‫ )ברור‬hast du gesehen.“ 235 Gerade im christlich-jüdischen Dialog wurde diese Offenheit immer wieder betont; vgl. z.B. MUSSNER: Traktat, 374–376; SCHÖTTLER: „Per Christum …“, bes. 4–6; ders.: Christliche Predigt und Altes Testament, bes. 512–521. 236 Vgl. MOLTMANN: Theologie der Hoffnung, bes. 299–304 [Die Christenheit im Erwartungshorizont des Reiches Gottes]. Vgl. in homiletischer Perspektive bereits BARTH: Homiletik, 38: „Das Neue Testament ist vom ersten bis zum letzten Wort bezogen auf die Zukünftigkeit des Heils.“ Dies hat für Barth unmittelbar homiletische Konsequenzen: „Die christliche Predigt muß darum unbedingt Hoffnungspredigt sein.“ (40 [Hervorhebung im Original]). 237 Vgl. BEUSCHER: Verstehen Sie Spaß, bes. 521. 238 SCHOBERTH: Von Zeit und Ewigkeit, 448 [Hervorhebung im Original].

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14.5 Zusammenfassung Am Beispiel einer Peticha aus ShemR erarbeitete das Kapitel drei grundlegende hermeneutische Kennzeichen der rabbinischen Peticha: • Sie ermittelt nicht die Aussage eines Schriftwortes, sondern vernetzt Worte der Schrift miteinander. • Sie gestaltet eine parataktische Collage, nicht etwa einen hypotaktischen Diskurs. • Ihr gelingt eine indirekte Applikation des biblischen Wortes. Im Gespräch mit christlicher Homiletik ergaben sich daraus zwei Perspektiven für die praktische Gestaltung einer kon-textualisierenden Predigt: Zum einen deutete sich die Chance einer parataktisch-mehrstimmigen Predigtrede an, die das biblische Wort nicht der einen Logik unterwirft, sondern defokussierend Raum lässt für unterschiedliche Wahrnehmungen. Zum andern wurde von der Peticha her die Frage nach der Gestaltung von Intertextualität in zwei Richtungen neu aufgeworfen: • Die Regelpraxis der Predigtrede als Text-Auslegung, die von einem verlesenen biblischen Text herkommt, lässt sich hinterfragen. Reizvoll erscheint es, mit der Stellung des Bibeltextes in der Predigtrede zu experimentieren und besonders eine Endstellung des Predigttextes und somit eine Predigtrede zu erproben, die den biblischen Text noch vor sich hat und zu ihm hinführt. • Gleichzeitig bietet sich in Analogie zur Peticha die Möglichkeit, eine liturgisch im Verkündigungs- und Bekenntnisteil vernetzte Predigtrede zwischen den Lesungen des Gottesdienstes zu gestalten, die als intertextuell-logagogische Predigtrede bezeichnet werden könnte. Weiterhin ließ sich zeigen, wie von der Peticha her die Frage nach der christlichen Predigt des Alten Testaments neu aufgenommen und im Blick auf eine Gestaltung kanonischer Intertestamentarität in der Predigtrede weitergeführt werden kann. Eine Predigt, die vom Neuen ins Alte Testament einführt oder umgekehrt ermöglicht die homiletische Rezeption des in der alttestamentlichen Wissenschaft der vergangenen Jahre vielfach diskutierten „canonical approach“ (B. S. Childs) in seiner intertextuell profilierten Weiterführung durch Georg Steins. Die Chatima als eine Art umgekehrte Peticha verweist auf die grundlegende Eschatologie christlicher Predigtrede und darauf, wie die in den Text einführende Predigt gleichzeitig mit dem Text hinausführt in Gottes neue Welt. 528 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

15. Predigt und Derascha – Rückblick und Ausblick

Ein homiletischer Dialog mit dem Judentum bewegt sich zwischen Predigt und Derascha. Dies gilt in doppelter Hinsicht: einerseits für die Wahrnehmung der jüdisch-homiletischen Entwicklung durch die Jahrhunderte hindurch, wie sie Gegenstand des ersten Teils dieser Untersuchung war, andererseits für den (literarischen) christlich-jüdischen homiletischen Dialog, wie er im zweiten Teil geführt wurde. (1) Predigt und Derascha – innerjüdisch: Die Frage nach dem Ausgangspunkt einer jüdischen Predigtgeschichte kann zu zwei unterschiedlichen Antworten führen: einerseits ins Jahr 1808 zu Joseph Wolfs erster deutschsprachiger jüdischer Predigt in Dessau, andererseits zur Derascha in tannaitisch-amoräischer Zeit. Die frühen gottesdienstlichen Reformer des 19. Jahrhunderts wollten sich entschieden von der mittelalterlichen „Drosche“ abgrenzen und einen gänzlich neuen, aufgeklärten, instruierenden und zugleich erbauenden Typ der Kanzelrede entwickeln. In Anlehnung an die christliche Predigt, mit dem Ziel der Akkulturation und in Aufnahme eines gemischt aufgeklärt-romantischen (und später auch idealistischen) Philosophiehintergrunds konzipierten sie die deutschsprachige jüdische Predigt, die sich vielleicht am deutlichsten in Zunz’ 1823 erschienener Sammlung seiner Berliner Predigten greifen lässt. Auch in ihrer leitenden Hermeneutik kann diese jüdische Predigt als Gegenentwurf zur Derascha verstanden werden. Bringt man den Gegensatz auf vereinfachende Schlagworte, so stehen sich mit Predigt und Derascha eine meta-skripturale und eine skripturale Hermeneutik gegenüber: Versucht die jüdische Predigt von den Worten der schriftlichen und mündlichen Tora ausgehend eine neue, weltoffene, universale und in viele Diskurse hinein anschlussfähige Sprache zu finden, so führt die Derascha umgekehrt aus verschiedenen Sprachen und unterschiedlichsten Situationen hinein in die vielfältig bewohnbare Sprachwelt schriftlicher und mündlicher Tora. Bei der Predigt erscheint die Bewegung daher zentrifugal, bei der Derascha demgegenüber zentripetal. Freilich: derart zugespitzt gab es weder die meta-skripturale Hermeneutik der Predigt noch die skripturale Hermeneutik der Derascha jemals in Reinform. Dennoch aber lassen sich zwei Pole eines Feldes bestimmen, in dem sich jüdischer gottesdienstlicher Vortrag durch die Geschichte bewegte. Beide Pole werden bereits erkennbar, wenn man die rabbinische Zeit mit 529 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

dem jüdischen Mittelalter vergleicht. Die Derascha rabbinischer Zeit war begründet in der apriorischen Tora-Erwartung rabbinischen Judentums. Für die rabbinische Bewegung stand midraschische Aktivität unter der Herausforderung und Verheißung, alles, d.h. Gottes-, Welt- und Lebenswirklichkeiten, in der Tora zu finden. Die Deraschot hatten grundlegend die Funktion, mitzunehmen in ein dementsprechendes Suchen in der Schrift. Im jüdischen Mittelalter fand die Derascha rabbinischer Zeit vielfache Fortsetzung; gleichzeitig aber wurden neue hermeneutische Tendenzen sichtbar, die als meta-skripturale Hermeneutiken charakterisiert werden können. Zum einen führte der vor allem durch islamische Gelehrte vermittelte Kontakt mit der Philosophie zu einer hermeneutischen Richtungsänderung, indem nun von der Tora ausgehend und diese auslegend die Kompatibilität oder gar Überlegenheit der Aussagen der Tora im Vergleich mit philosophischen Sätzen aufgezeigt werden sollte. In der Kabbala lässt sich ein anderer meta-skripturaler Weg wahrnehmen: Gleichsam durch die Tora hindurch gelangt kabbalistische Hermeneutik zum sod (‫ )סוד‬als eigentlicher Bedeutung und mystischer Wahrheit der Heiligen Schrift. Und schließlich begegnet eine ethisch orientierte Meta-Skripturalität, die Handlungsanweisungen und -maximen durch Schriftstellen begründet. Während die kabbalistisch-mystische Hermeneutik vor allem durch den Chassidismus Fortsetzung bis in die Gegenwart fand, war es die philosophische und ethische Linie, die sich über die Aufklärer des 18. in der Predigtbewegung des frühen 19. Jahrhunderts fortsetzte. Bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts aber nahm man das Problem eines jüdischen Identitätsverlustes wahr, der auch als Folge einer abstrahierend von der Grundlage der Tora auf allgemein Bekanntes und Akzeptiertes hinführenden Predigtrede gesehen wurde. Daher sollte die Predigt wieder jüdischer werden – und das hieß anders gesagt: Sie sollte sich im Spannungsfeld von Predigt und Derascha wieder deutlicher am Pol der Derascha orientieren und sich klarer auf jüdische Inhalte beziehen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde allerdings deutlich, dass die alleinige Konzentration auf jüdische Inhalte bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Frage nach den Formen zu kurz greift. Es ging der jüdischen Renaissance daher um die Suche nach einer neuen Gestalt jüdischen Lebens, Lernens und Lesens, um eine modernitäts-kritische Neuerung durch die Relektüre der Tradition. Andeutungen eines neuen Predigens wurden sichtbar; allerdings verhinderte die Schoa, dass diese Wege unmittelbar weitergeführt wurden. In den USA erfreute sich die moderne jüdische Predigt demgegenüber bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus weitreichender Beliebtheit vor allem (aber keineswegs ausschließlich) in reformorientierten Kreisen. Es war dann weniger ein radikaler modernitäts-kritischer Bruch, als vielmehr 530 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

eine vielfach wahrgenommene Predigtmüdigkeit auf Seiten der Rabbiner und Hörerinnen bzw. Hörer, die zur neuen Nachfrage nach Stellenwert, Bedeutung, Form und Inhalt jüdischer Predigt Anlass gab. Ob und inwiefern die vielfache Neuentdeckung des Midrasch und seiner Hermeneutik, wie sie sich auf wissenschaftlicher und gemeindepraktischer Ebene seit etwa einem Vierteljahrhundert zeigt, auch einen neuen Impuls für die (nicht nur!) USamerikanische jüdische Predigt zu vermitteln vermag und inwiefern sich jüdische Predigt von der Derascha her und in die gegenwärtigen Herausforderungen hinein erneut reformuliert, bleibt abzuwarten. (2) Predigt und Derascha – christlich-jüdisch: Mit den Begriffen Predigt und Derascha eröffnet sich auch das Feld eines christlich-jüdischen Dialogs, wobei dann Predigt für die christliche, Derascha für die jüdische gottesdienstliche Rede steht. Das Feld ist durch beide Begriffe weit gespannt, und zahlreiche Ansatzpunkte eines homiletischen Dialogs bieten sich an: Das christlich-jüdische homiletische Gespräch kann bezogen auf einzelne Phasen bzw. Epochen der Entwicklung jüdischer und christlicher Predigt und Homiletik geführt werden, wie Andrea Bieler dies exemplarisch für das 19. Jahrhundert vor Augen führt.1 Die Frühzeit der Entwicklung christlicher Predigt im Kontext rabbinischer Derascha (und hellenistisch-synagogaler Predigt), die mittelalterlichen Berührungen und Analogien, wie sie sich hermeneutisch etwa im christlich und jüdisch je unterschiedlich verwendeten vierfachen Schriftsinn zeigen, die vielfältigen Beziehungen zwischen christlicher und jüdischer Predigt seit dem Umbruch der Moderne bis in die jüngste Gegenwart – all dies bietet ausreichend Stoff für weitere Forschungen. In dieser Arbeit wurde der Dialog von Predigt und Derascha so gesucht, dass der rabbinische Midrasch, der derzeit vielfältig neu rezipiert wird, die Stichworte vorgab und diese christlich-homiletisch so aufgenommen wurden, dass sie sich mit der gegenwärtig in der Homiletik wieder intensiver diskutierten Frage nach dem Text in der Predigt verbanden. Es ergaben sich so Anregungen für eine homiletische Textlektüre im Kontext skripturaler midraschischer Hermeneutik. Thetisch lassen sich die vier exemplarisch erarbeiteten Dialogfelder wie folgt zusammenfassen: • Midrasch: Eine Predigt im Kontext des Midrasch vermeidet Textbändigung und Textverlust in der Predigt und führt zur Textbefreiung, wenn sie – wie rabbinischer Midrasch – kon-textualisierend die eigenen, aktuellen Texte mit den biblischen konfrontiert und so Texte weniger aus-legt

1

Vgl. BIELER: Die Sehnsucht nach dem verlorenen Himmel.

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als vielmehr in einen Raum der Texte einführt. Methodisch entwickelt sie sich aus einem slow and responsive reading biblischer Texte und führt predigtpraktisch in diese Art der Lektüre ein. Lesen-Lernen kann daher als ihr wesentliches Ziel bestimmt werden. • Maschal und Nimschal: Auch eine Predigt als Kon-Textualisierung steht vor der Frage, wie sich der biblische Text und gegenwärtige Lebenswirklichkeit in der Predigtrede verbinden. Entscheidend ist es, dass die Predigt die reduktiven Tendenzen der Abstraktion und der Identifikation bei der homiletischen Inbeziehungsetzung von biblischen Texten und gegenwärtigen Lebenswirklichkeiten vermeidet. Vielmehr liegt ihr Ziel darin, einen Dritten Raum (Bhabha) zu eröffnen, indem sie – vergleichbar dem Miteinander von Meschalim und Nimschalim im rabbinischen Gleichnis – strukturell analoge Bewegungen in biblischen Texten und in der Lebenswirklichkeit wahrnimmt und diese sprachlich gestaltet. • Haggada und Halacha: Eine Predigt im Kontext des Midrasch redet insgesamt „haggalachisch“, indem sie von der Haggada des rabbinischen Midrasch die Freiheit der Rede in der Bindung an das Wort und von der Halacha des rabbinischen Midrasch die Bindung an die Welt durch das Wort sowie die spielerische Ernsthaftigkeit der Kasuistik lernt. Ethik und Ästhetik der Predigt verbinden sich in solchermaßen „haggalachischem“ Reden. • Peticha und Chatima: Eine Predigt im Kontext des Midrasch entdeckt – aufgrund der Wahrnehmung der Peticha im rabbinischen Midrasch – Wege in das biblische Wort sowie Wege im intertextuellen Raum der gottesdienstlich gelesenen Texte. Von der Chatima lernt sie, dass Wege in den Text immer zugleich Wege über den Text hinaus in Gottes neue Welt bedeuten. Die Fokussierung auf die Frage nach dem Text in der Predigt klammerte die anderen Konstituenten des homiletischen Dreiecks nicht aus. Dennoch steht – auch in den eröffneten Feldern des Dialogs – zu erwarten, dass andere und weitere Ergebnisse möglich werden, wenn die Frage nach den Hörerinnen und Hörern und ihrer rezipierenden Aktivität oder nach den Predigenden und ihrer Rolle in den Mittelpunkt tritt. Diese Perspektiven des Gesprächs müssen offen bleiben. Was aber vor allem aussteht, damit aus der Erarbeitung ein Dialog wird, sind die Reaktionen jüdischer Gesprächspartnerinnen und -partner, deren Aufnahme, Zurückweisung oder Vertiefung des hier Entwickelten. Auf dieser Basis ginge es darum, die Fragestellungen auf wissenschaftlicher und gemeindlicher Ebene im Bewusstsein der Verschiedenheit der beiden homiletischen Wege, aber gleichzeitig in der Erwartung wechselseitiger Anregung weiterzuführen. 532 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

Franz Rosenzweig schrieb: „Die Bibel ist unter allen Büchern das, dessen Bestimmung es ist, übersetzt zu werden […]“2. Diese Aufgabe gilt Jüdinnen und Juden zuerst, dann aber auch Christinnen und Christen. Bei aller Verschiedenheit christlicher und jüdischer Les-Arten könnte ein wechselseitiges Voneinander-Lesen-Lernen helfen, an dieser grundlegenden Bestimmung der Bibel kreativ weiterzuarbeiten.

2

ROSENZWEIG: Vorwort zu Jehuda Halevi, 5.

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16. Literatur

Das Literaturverzeichnis führt die für die Erarbeitung verwendete Literatur auf. Nicht berücksichtigt wurden allerdings zahlreiche der eingesehenen Zeitschriftenartikel und Predigtbände (vor allem aus dem deutschsprachigen Bereich im 19. und frühen 20. Jahrhundert sowie aus dem US-amerikanischen Bereich im 20. Jahrhundert). • Die verwendeten Abkürzungen (auch zu den Texten aus der rabbinischen Literatur) beziehen sich auf SCHWERTNER, SIEGFRIED M., Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Zeitschriften, Serien, Lexika, Quellenwerke mit bibliographischen Angaben, Berlin/ New York 21992. • Verwendete Hilfsmittel sind in der alphabetischen Liste vermerkt. • Hebräische Literatur ist entweder (falls vorhanden) mit ihrem offiziellen englischen Titel oder mit dem hebräischen Titel in einer vereinfachten Umschrift ins Literaturverzeichnis aufgenommen. In Klammern ist die Originalsprache vermerkt. • Wo in der Arbeit nicht anders angegeben, beziehen sich Bibelzitate auf die Luther-Bibel (1984). • Sind mehrere Titel einer Autorin/eines Autors aufgelistet, so sind die Titel chronologisch nach dem Erscheinungsjahr des zitierten Textes und innerhalb des gleichen Erscheinungsjahres alphabetisch angeordnet. The 1999 Pittsburgh Platform: A Statement of Principles for Reform Judaism, May 26th 1999, CCAR.J 181, Winter 2000, 2–6. AARON, DAVID H., The First Loose Plank. On the Rejection of Reason in the Pittsburgh Principles of 1999, CCAR.J 188, Herbst 2001, 87–116. ABELS, NORBERT, Von den Mühen eines Bibelspiels. Franz Werfel und Kurt Weill: Der Weg der Verheißung, in: Helmut Loss/Guy Stern (Hg.), Kurt Weill. Auf dem Weg zum „Weg der Verheißung“, Rombach Wissenschaften: Reihe Litterae 75, Freiburg i.Br. 2000, 133–156. ACHELIS, ERNST CHRISTIAN, Lehrbuch der Praktischen Theologie. Bd. 3: Poimenik – Koinonik […], Heiden- und Judenmission, Kybernetik, Leipzig 31911. ACHTEMEIER, ELIZABETH, Preaching from the Old Testament, Louisville (KY) 1989. –, Art. Old Testament Preaching, in: William H. Willimon/Richard Lischer (Hg.), Concise Encyclopedia of Preaching, Louisville (KY) 1995, 350–352. ACZEL, RICHARD, Art. Intertextualitätstheorien und Intertextualität, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar 1998, 241–243. ADAM, ANDREW K. M., What Is Postmodern Biblical Criticism?, Minneapolis (MN) 1995. AGUS, AHARON R. E., Heilige Texte, München 1999.

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Anhang: Glossar

Aggada Amoraim, amoräische Zeit

Charisa

Chatima

Chiddusch Citem

Darschan Derascha (Derascha)

Gemara (Gemara) Gematrie

Gleichnis, rabbinisches

⇒ Haggada Bezeichnung für die Rabbinen seit der Zeit des Abschlusses der Mischna (um 200 n.Chr.) bis zur Zeit des Abschlusses der Talmudim (ca. 500 n.Chr.). In der rabbinischen Literatur lassen sich ca. 1000 namentlich bekannte und zahlreiche unbekannte Amoraim bestimmen, die in sieben Generationen eingeteilt werden. In der rabbinischen Literatur verwendete Bezeichnung für die Verbindung von Lemmata aus den drei Teilen des ⇒ Tanach. (Kap. 14.3) Der eschatologisch geprägte Schlussabschnitt der in den homiletischen ⇒ Midraschim überlieferten Homilien. Die Chatima geht von einem Vers der an dem Sabbat oder Festtag gelesenen ⇒ Parascha aus und führt meist zu einem Vers der Verheißung aus dem Corpus propheticum hin. (Kap. 14.4) Rabbinische Bezeichnung für die neue Auslegung eines biblischen Lemmas (von ‫ חדש‬pi.). (Kap. 11.3.1) In der formanalytischen Terminologie Arnold Goldbergs Bezeichnung für die in der rabbinischen Literatur sehr häufige Verbindung von Redeeinleitung (Rabbi X sagt) und sich daran anschließendem Zitat. Bezeichnung für den „Prediger“ in rabbinischer Zeit (⇒ Derascha). Die „Predigt“ in rabbinischer Zeit im Kontext der Synagoge oder des Lehrhauses. Die Bezeichnung wird durch die Jahrhunderte hindurch bis in die Gegenwart (und auch im modernen Hebräisch) für die Predigt im jüdischen Gottesdienst (vor allem in der Orthodoxie) verwendet. Wegen des häufigen Vorkommens im Text immer vereinfacht Derascha (nicht Derascha) geschrieben. Bezeichnung für die amoräischen Diskussionen der ⇒ Mischna, die zusammen mit der Mischna den ⇒ Talmud bilden. Bezeichnung für eine – auch von den Rabbinen genutzte – exegetische Operation, bei der die Zahlenwerte der hebräischen Buchstaben eines oder mehrerer Wörter addiert und mit den Zahlenwerten anderer Buchstabenkombinationen in Beziehung gesetzt werden. Das rabbinische Gleichnis besteht in seiner Normalform aus Maschal und Nimschal. Bei dem Maschal-Teil handelt es sich

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Haftara Haggada

Halacha

Injan

Jabne

Kabbala

Karaismus

Ketubim Ma‘ase

Maschal Middot

Midrasch

um eine Kurzerzählung oder ein Bild aus der Lebenswelt, das im Nimschal-Teil explizit mit einem Wort der Schrift verbunden wird. (Kap. 12.2) Bezeichnung für die die Toralesung begleitende Lesung aus den ⇒ Nebiim im synagogalen Gottesdienst. Der Begriff lässt sich am ehesten negativ bestimmen und bezeichnet alle rabbinischen Auslegungen und Sätze, die nicht ⇒ Halacha sind. (Kap. 13.1) Halacha steht für diejenigen rabbinischen Auslegungen und Sätze, die das heute geforderte Verhalten im Kontext der Tora und der darin enthaltenen Gebote bestimmen. (Kap. 13.1) Der Mittelteil der in den (homiletischen) ⇒ Midraschim überlieferten Homilien, der Auslegungen zu den einzelnen Versen der ⇒ Parascha bietet. (Kap. 3.3) Ort an der Mittelmeerküste (14 km nördlich von Aschdod gelegen), der für die Neukonstitution des rabbinischen Judentums nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem (70 n.Chr.) bekannt wurde. Bezeichnung für die sich im Hochmittelalter in der Provence und in Nordspanien aus Vorläufern entwickelnde mystische Bewegung im Judentum. Als Hauptwerk der Kabbala gilt der Sohar, der zu größten Teilen von Mose ben Schem Tov de Léon stammt (Ende 13./Anfang 14. Jahrhundert). (Kap. 4.2.2) Eine Gruppierung, die im 8. Jahrhundert entstand und radikal kritisch gegenüber der rabbinischen Schriftauslegung für den literalen Sinn der Schrift (Mikra, daher der Name Karäer) eintrat. (Kap. 4.1) „Schriften“ – bezeichnet den dritten Teil der Hebräischen Bibel, neben der ⇒ Tora (Pentateuch) und den ⇒ Nebiim (Propheten). Rabbinischer Begriff für die Erzählung von einem Präzedenzfall, auf den im Kontext einer halachischen Diskussion verwiesen wird (⇒ Halacha). ⇒ Gleichnis, rabbinisches Der Begriff bezeichnet die Auslegungsregeln der Schrift, die im rabbinischen Judentum entstanden und in drei Sammlungen vorliegen: die sieben Middot Hillels, die 13 Middot Rabbi Jischmaels und die 32 Middot Rabbi Eliezers. (Kap. 11.2.2) Der Begriff Midrasch kann in drei Bedeutungsaspekten verwendet werden und bezeichnet: • die Methodik und Hermeneutik rabbinischer Schriftauslegung, • die einzelne Auslegung eines Rabbinen zu einem/mehreren biblischen Lemma(ta), • die Sammlungen solcher Auslegungen, die in halachische bzw. haggadische oder exegetische bzw. homiletische Mid-

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raschim untergliedert werden können. (Kap. 10; Kap. 11) Mischna Das von R. Jehuda ha-Nasi um 200 n.Chr. redigierte älteste rabbinische Werk, das in sechs Ordnungen (Sedarim) gegliedert primär halachisches Material sammelt. Mizwa, Mizwot Das konkrete Gebot für gegenwärtiges Handeln und Verhalten, das sich aus den Aussagen der schriftlichen ⇒ Tora ableitet. Nebiim „Propheten“ – Bezeichnung für den zweiten Teil der Hebräischen Bibel (neben ⇒ Tora und ⇒ Ketubim), der nach jüdischem Verständnis die Bücher des deuteronomistischen Geschichtswerks (frühe Propheten) und die auch in der christlichen Bibel als Propheten bezeichneten Bücher (späte Propheten) umfasst. Nimschal ⇒ Gleichnis, rabbinisches Notarikon Bezeichnung für eine – auch von den Rabbinen genutzte – exegetische Operation, bei der ein Wort in mehrere zerlegt wird bzw. die einzelnen Buchstaben eines Wortes als Anfangsbuchstaben einer neuen Wortfolge gelesen werden. Parascha Dem jeweiligen Sabbat oder Festtag zugeordnete Tora-Leseperikope im synagogalen Gottesdienst. Im frühen Judentum entwickelte sich ein einjähriger babylonischer sowie ein dreijähriger palästinischer Lesezyklus. peschat Bezeichnung für die „einfache“ Auslegung der Schrift. Im rabbinischen Judentum steht der Begriff vor allem für diejenige Auslegung, die sich aus dem Kontext der Verse ergibt. Unter dem Einfluss des ⇒ Karaismus sowie durch die Rezeption griechischer Philosophie bezeichnet peschat seit dem Mittelalter eine Auslegung, die sich bewusst von der freieren rabbinischderaschischen Auslegung abgrenzt. (Kap. 11.1.1.1) Peticha (Peticha) Form innerhalb der rabbinischen Literatur, die die Homilien der homiletischen ⇒ Midraschim prägt. Über verschiedene rabbinische Auslegungen führt sie von einem entfernten Vers hin zum (in aller Regel) ersten Vers der ⇒ Parascha. Wegen des häufigen Vorkommens im Text, wird Peticha immer vereinfacht (nicht Peticha) geschrieben. (Kap. 3.3.2; Kap. 3.4; Kap. 14.1) e Petira (P tira) Ein Weg rabbinischer Schriftauslegung, der ein Wort/Lemma der Schrift mit einer anderen Aussage bzw. einem weiteren Lemma verbindet, meist in der Form: X, das ist/meint Y. Pijut Liturgische Dichtung, die seit dem frühen Mittelalter einen wesentlichen Platz im synagogalen Gottesdienst einnimmt und ursprünglich die Stammgebete erweitert. Pilpul Wörtlich: „Gepfeffertes“; Bezeichnung für scharfsinnig-detailgenaue (vor allem) halachische Diskussion (⇒ Halacha). Rabbinen/ Rabbinen bezeichnet die Lehrer aus der Zeit der ⇒ Mischna Rabbiner und des ⇒ Talmud, für die in der hebräischen Literatur gerne

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Siddur

Talmud

Talmud Tora

Tanach Tannaim, tannaitische Zeit

Tora

Tosafisten, Tosafot Zimzum

die Abkürzung Chasal steht (‫ לבכרה = חז"ל‬%‫;חכמינו זכרונ‬ unsere Weisen, seligen Angedenkens). Rabbiner ist demgegenüber die Bezeichnung für den seit dem Hochmittelalter existierenden Beruf des auf eine Gemeinde bezogenen Lehrers und Tora-Auslegers. Jüdisches Gebetbuch (gegenwärtig wird der Begriff meist nur noch für die Sammlung der Gebete für den Alltag und Sabbat, nicht für die Feste gebraucht). Bezeichnung für das Sammelwerk, das die ⇒ Mischna samt deren ⇒ amoräischer Kommentierung verbindet. Der Talmud existiert als bT (babylonischer Talmud) und jT (Talmud Jeruschalmi; palästinischer Talmud). Wörtlich: „Toralehre und -lernen“; die sozial-performative Praxis des gemeinsamen Toralernens, die sich in rabbinischer Zeit entwickelte. (Kap. 11.3) Die dreigeteilte Hebräische Bibel, bestehend aus ⇒ Tora (Pentateuch), ⇒ Nebiim (Propheten) und ⇒ Ketubim (Schriften). Sammelbezeichnung für die Rabbinen von der Zeitenwende (bzw. von der Zeit jüdischer Neukonstitution nach der Tempelzerstörung [⇒ Jabne]) bis zum Abschluss der ⇒ Mischna; üblicherweise eingeteilt in fünf Generationen. Der Begriff bezeichnet in engem Sinne die fünf Bücher Mose (Pentateuch), in weiterem Sinn kann er für den gesamten Komplex der autoritativen und auf die Offenbarung am Sinai zurückgeführten Tradition verwendet werden. Seit rabbinischer Zeit kann die Tora in diesem weiten Sinn in schriftliche Tora und mündliche Tora (alle Auslegungen der schriftlichen Tora) untergliedert werden. Tosafisten meint die (Super-)Kommentatoren der anerkannten Talmud-Kommentare (vor allem des Raschi-Kommentars zum Talmud). Ihre Kommentare werden Tosafot genannt. Wörtl.: „Zusammenziehen“; in der (lurianischen) ⇒ Kabbala (16. Jahrhundert; Zefat) Bezeichnung für das Sich-Zurückziehen Gottes von der Welt, um der geschaffenen Welt Raum zu geben.

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Namenregister

Aaron, David H. 210 Abels, Norbert 186f Achelis, Ernst Christian 485 Achtemeier, Elizabeth 513f, 519 Aczel, Richard 240 Adam, Andrew K. M. 29 Agricola, Johann 427 Agus, Aharon R. E. 298, 342 Aichele, George 29 Albeck, Hanoch 66 Albrecht, Christian 133, 491 Aldebert, Heiner 214 Alexander, Hanan A. 397 Alexander, Philip S. 69 Aliner, Eliezer 51, 64 Alkier, Stefan 352 Allen, Ronald J. 28, 496 Allerhand, Jakob 54, 151 Alling, Roger 460 Alter, Robert 313 Althaus, Paul 428 Altmann, Alexander 53, 55, 117, 122, 126, 129f, 132, 138, 157, 159, 179 Amichai, Yehudah 215 Amir, Yehoschua 58 Anatoli, Jakob 52, 110–112 Anderegg, Johannes 304f Anderson, Bernhard W. 419 Arens, Heribert 243, 324, 347 Artson, Bradley Shavit 209 Aschheim, Steven E. 168 Askani, Hans-Christoph 171, 382 Assisi, Franz v. 460 Assmann, Jan 67, 72, 356 Auerbach, Erich 209 Augustin 452 Austin, John L. 323 Avery-Peck, Alan J. 416 Avineri, Shlomo 166

Bacher, Wilhelm 89–92, 98, 102, 281, 509 Bächli, Otto 327 Backhaus, Fritz 185, 188 Baeck, Leo 87f, 91, 94, 133, 165, 168, 179–182, 188f, 303f, 400f Baer Mozes, Deborah 213 Baerwald, Leo 186 Bamberger, Fritz 134 Banon, David 171, 245 Bard, Terry R. 208 Barié, Helmut 35, 37 Barkai, Avraham 188 Barth, Gerhard 520 Barth, Hans-Martin 28, 425, 428 Barth, Karl 26, 29, 31, 33, 187, 235f, 253, 255, 260–265, 267, 303, 305f, 325–327, 361, 384, 428, 439–441, 487, 491, 493, 496, 500, 511f, 527 Barthes, Roland 240, 255, 313, 350 Bartlett, David L. 23 Barton, John 520 Bastian, Hans-Dieter 264, 364f Battenberg, Friedrich 54 Bayer, Oswald 228, 381f, 425, 427, 431 Becker, Hansjacob 522 Behse, G. 414 Bellice, Alice Ogden 238 Ben-Avner, Yehuda 54 Ben-Chorin, Schalom 191 Ben-Horin, Meir 354 Benjamin, Walter 243, 313, 324, 383 Ben-Sasson, Chayyim Hillel 51 Benton, Suzanne 214 Berger, Rupert 398, 507 Berkovits, Eliezer 392, 396–398 Bernays, Isaac 130, 145 Bettan, Israel 51f, 56, 64, 88, 105f, 110–112, 116f, 158, 198, 199

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Beuscher, Bernd 527 Beutel, Albrecht 132f, 234, 248 Bhabha, Homi K. 368f, 375, 381, 388, 532 Bialik, Chajim Nachman 168, 397, 409–413, 417, 419f, 423f, 446, 452, 462, 472 Bieler, Andrea 39–41, 53, 57, 125–127, 130, 132f, 145, 147f, 151, 155, 157, 159, 177, 249, 531 Bieritz, Karl-Heinrich 386, 468, 521 Bietenhard, Hans 295, 389, 401 Binstock, Louis 199 Bitter, Gottfried 29, 460 Bizer, Christoph 306 Blau, Julius 180–182 Blinder, Robert 203 Bloch, Philipp 90, 92, 158, 178, 215, 290 Bloch, Renée 283 Bloom, Harold 278f Bobert-Stützel, Sabine 258 Böckler, Annette 55, 66, 68, 73, 81, 225f, 229, 323, 341, 345 Bogdal, Klaus-Michael 237, 271, 274, 306 Bohren, Rudolf 22, 28, 40, 245, 253, 260, 263, 265, 267–271, 304, 307f, 311f, 317, 324–326, 345, 352f, 356, 432, 441, 457, 464f, 486f, 499f, 512, 526 Bonfil, Robert 54, 117 Borowitz, Eugene B. 55, 209 Boteach, Shmuley 222 Bovon, François 65 Boyarin, Daniel 31, 84, 94, 279, 286– 288, 295f, 300, 318f, 322, 327, 374f Brämer, Andreas 55, 131f, 137, 143– 145, 176 Braulik, Georg 522 Brearley, Margaret 223 Bregman, Marc 88, 213 Brenner, Michael 54, 164, 168, 170, 174, 185 Breuer, Mordechai 54, 145, 147, 168, 404

Briegleb, Karl 44 Brinkmann, Frank Thomas 387, 501 Brod, Harry 214 Brod, Max 374 Brown Taylor, Barbara 222 Bruckstein, Almut Sh. 55, 168 Brueggemann, Walter 29, 222 Brumlik, Micha 165 Bruns, Gerard L. 298, 314 Buber, Martin 158, 164f, 168f, 171– 175, 188, 202, 273, 382, 393, 406f, 421 Bubmann, Peter 470 Büchler, Adolph 68 Budick, Sanford 280f Budmor, Moshe 214 Büttner, Matthias 301, 510 Bukowski, Peter 385f, 434f, 438, 442 Bulhof, Ilse 445 Bultmann, Rudolf 25, 269, 284, 440, 509 Burbach, Christiane 460 Burnett, Fred W. 29 Busch, Eberhard 262 Buttrick, David 500 Buzan, Tony 313 Cahen, Didier 317 Carlebach, Alexander 51 Carter, Sidney 365 Casper, Bernhard 172 Chanina, Sherira ben 68 Childers, Jana 222 Childs, Brevard S. 519f, 528 Christlieb, August Theodor 153 Citron, Atay 187 Clearfield, Andrea 214 Cohen, Abraham 58f, 195–198, 224 Cohen, Hermann 134, 164, 180 Cohen, Jack J. 204 Cohen, Jeffrey M. 68, 204, 340 Cohen, Michael M. 213 Cohen, Norman J. 66, 79, 212, 214, 298 Cohen, Shaye J. D. 481 Cohn, Bernhard N. 54 Cohn, Emil 171, 193

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Cohn-Sherbok, Dan 194f, 224 Cohon, Beryl D. 206 Comstock, Gary L. 417 Cornehl, Peter 526 Craddock, Fred B. 208, 302, 385f Cronbach, Abraham 80 Crüsemann, Frank 443f Culler, Jonathan 24 Curkpatrick, Stephen 379 Curzon, David 215 Daewel, Hartmut 324 Daiber, Karl-Fritz 359 Dan, Joseph 51, 54, 106, 110, 113, 292 Daxelmüller, Christoph 57, 128f, 159 Denecke, Axel 41f, 230, 244, 249f, 261–263, 265, 269, 326, 361, 384, 389, 392, 395, 399, 431, 445–449, 451, 455, 462, 468 Derrida, Jacques 24, 28f, 237, 278f, 300, 320, 355, 454 DeVries, S. Ph. 250 Dexinger, Ferdinand 105, 130 Diem, Hermann 346 Dienemann, Max 88, 91 Dierse, Ulrich 72 Dilthey, Wilhelm 165, 180, 255 Döbb, Hans-Martin 68 Dober, Hans Martin 324, 499 Dode, Ralf-Erik 136 Doerne, Martin 265 Dohmen, Christoph 331 Dolna, Bernhard 201–203 Dorff, Elliot N. 294 Döring, Lutz 107 Douglas-Klotz, Neil 286 Doulos, Bill Lane 215 Dreesman, Ulrich 130 Drehsen, Volker 163, 262 Dresner, Samuel H. 201, 420–423 Drobner, Martina 55, 129, 132, 142f Dschulnigg, Peter 369, 375 Dubnow, Simon 54 Durand, Marie L. 242 Düsterfeld, Peter 347 Dutzmann, Martin 386, 388, 487

Ebach, Jürgen 85, 304, 309, 318, 320, 322, 340, 392, 482 Ebeling, Gerhard 28, 235–237, 303, 311 Eco, Umberto 26, 255, 439, 467, 470 Ego, Beate 51, 60, 69, 72, 88, 90, 108, 248 Eibach-Danzeglocke, Swantja 391 Eicker, Thomas 172 Eilberg-Schwartz, Howard 280, 290f, 323 Eisen, Arnold M. 132, 159, 210, 424 Eisen, Robert 420 Eisendraht, Maurice N. 206f Elbaum, Jacob 56, 92, 106, 117 Elbogen, Ismar 54f, 64, 68, 70, 107, 117, 128, 130, 134, 137, 164, 194 Elert, Werner 425, 428 Elk, Max 191 Elze, Martin 72 Engemann, Wilfried 123, 232, 244, 248, 253–257, 259–261, 264, 268, 346, 351, 355, 386, 443, 452, 457, 459, 462, 468–470, 501–503, 510 Erlemann, Kurt 487 Ernst, Hanspeter 94f, 99, 370, 378 Eschelbacher, Max 76, 88, 94, 110, 149, 151, 158, 166, 178 Essrig, Harry 207 Exner, Richard 289, 335–337 Fackenheim, Emil L. 297 Farris, Stephen 29 Fassel, Hirsch B. 139 Faur, José 279f, 299–301, 344 Feldman, Abraham J. 55, 59, 198, 222 Fendrick, Susan P. 213f Fendt, Leonhard 503 Feuer, Razyl 214 Feyerabend, Paul 29 Fiebig, Paul 375 Fiedler, Leonhard M. 187 Fiedler, Peter 35 Fierman, Morton C. 420 Figo, Azariah 158 Finkelstein, Louis 68

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Fisch, Harold 281 Fischer-Lichte, Erika 458 Fisdel, Steven A. 114 Fishbane, Michael 72, 81, 85, 113–115, 172, 175, 238, 292, 294–296, 298, 300, 323, 329f, 332 Floresheim, Georges 334 Flusser, David 375 Foucault, Michel 27, 44, 368 Fraade, Steven D. 238, 280f, 283, 286, 310, 317, 339 Fraenkel, Jona 51, 94, 282, 322, 369, 399 Frank, Helmut 193 Frankel, Zacharias 143–145, 147f, 157 Frankl, P. F. 381 Freehof, Solomon B. 58f, 139, 195, 197f, 204f, 224 Freeman, Susan 214 Frei, Hans W. 238, 417 Freud, Sigmund 164, 278f Friedenberg, Robert V. 51, 54, 192– 195, 200, 222 Friedlander, Albert 224 Friedman, Maurice 172, 419f, 423 Fritsch, Stefan 38f, 242 Fuchs, Ernst 236, 254, 267, 381, 487 Fuchs, Ottmar 223, 240, 335, 438, 469 Fürst, Walter 261 Gabler, Johann Philipp 27 Gadamer, Hans-Georg 236, 365, 417 Gafni, Isaiah M. 89 Garber, Zev 185 Garhammer, Erich 497 Gaventa, Beverly Roberts 304, 504 Geertz, Clifford 44f, 238, 419 Gehring, Hans-Ulrich 23, 30, 234, 306, 349 Geiger, Abraham 127, 129, 143, 147 Geis, Robert Raphael 188 Gelber, Nathan Michael 151, 169 Gelhard, Dorothee 292 Genest, Hartmut 261 Gerhards, Albert 230, 522 Gerleman, Gillis 70, 71

Gese, Hartmut 480 Gibbs, Robert 315–317 Gilman, Sander L. 189, 342, 401 Ginzberg, Louis 69 Girard, René 320 Gittelsohn, Roland B. 59, 198, 205 Glatzer, Nahum N. 50, 134 Gleckman Hayman, Kezia 214 Gledhill, Ruth 223, 508 Gleßmer, Uwe 69 Goethe, Johann Wolfgang v. 183, 236, 320 Göttler, Fritz 495 Goitein, Fritz 181f Gojny, Tanja 79, 240, 308, 318, 356f Goldbard, Arlene 213 Goldberg, Abraham 398 Goldberg, Arnold 51, 63, 89, 91f, 94, 98, 246, 281, 283f, 287, 290–292, 314, 317, 349, 369, 374–376, 398, 475, 479, 481f, 509, 523 Goldin, Judah 464 Goldmann, Manuel 262 Goldschmidt, Lazarus 82, 294, 298, 342, 400 Goldstein, Elyse 348 Gomringer, Eugen 269 Goodman, Tobias 192 Goodman-Thau, Eveline 55, 73, 76f, 106, 229, 343 Gotzmann, Andreas 125, 128, 157, 180, 405 Grab, Walter 54, 136, 142, 159, 306, 362–364, 496 Gräb-Schmidt, Elisabeth 469 Grätz, Heinrich 54, 328 Graetz, Michael 66 Graham, Billy 222 Graubard, Baruch 58 Graupe, Heinz Mosche 54, 130–132, 143, 159, 185 Greeley, Arthur M. 239 Green, Arthur 185, 285 Greenberg, Moshe 79, 414 Greenberg, Simon 416 Greenstein, Ed 323

600 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

Greenwood, D. S. 29 Greidanus, Sidney 514 Greimas, Algirdas Julien 371 Grethlein, Christian 42, 497, 504 Grevel, Jan Peter 23, 30, 306, 365, 521 Gries, Zeev 53, 116, 164 Grill, Ingrid 243 Grohmann, Marianne 27, 79, 240, 278, 287, 445 Grotte, A. 131 Grözinger, Albrecht 28, 304f, 352f, 357, 465, 467, 496 Grözinger, Elisabeth 250 Grözinger, Karl-Erich 91, 418 Grünberg, Wolfgang 264 Guardini, Romano 320, 507 Güdemann, Moritz 158 Gumpert, Gregor 164 Gutmann, Joseph 68 Guttmann, Alexander 85 Haendler, Otto 227–229 Hahn, Ferdinand 230 Haizmann, Albrecht 132 Halevi, Jehuda 171f, 313, 382–385 Hamann, Johann Georg 381 Hamburger, Wolfgang 188 Hammer, Jill 213–215 Hammer-Schenk, Harold 55, 127f, 131, 142, 148, 157 Handelman, Susan A. 66f, 211, 278f, 284, 286, 300, 333, 338, 341, 344f, 354, 379 Harnack, Adolf von 165f Harnisch, Wolfgang 487 Harris, Jay M. 107, 143, 293, 300 Hartman, Geoffrey H. 280f, 389, 398, 403 Haslinger, Herbert 497, 502 Hauschild, Wolf-Dieter 426 Hauschildt, Eberhard 425, 431, 434, 440 Haustein, Manfred 488 Havlin, Shlomo Zalman 78 Hawthorn, Jeremy 355, 454 Heimbrock, Hans-Günter 164 Heinemann, Isaak 77, 181–183, 282, 322

Heinemann, Joseph 51, 69, 85, 88f, 91– 93, 101, 281, 396, 484 Heintze, Gerhard 426f, 429f, 440 Heinz, Hanspeter 239 Herde, Peter 151 Herlyn, Okko 356 Hermelink, Jan 261f, 364f, 492 Herms, Eilert 443 Herrmann, Klaus 51, 60, 248 Hertzsch, Klaus-Peter 458 Herz, Henriette 126 Herzig, Arno 54, 136 Herzog, Urs 25 Heschel, Abraham Joshua 105f, 109, 116, 201–203, 206, 209, 217, 293, 312, 356, 390, 401, 409, 419–424, 446, 448, 452, 458, 463, 472 Heuberger, Georg 131, 185 Heuser, Stefan 469 Hezser, Catherine 55 Hilton, Michael 66, 444 Hirsch, Emanuel 257–260, 381, 442, 498, 509, 526 Hirsch, Samson Raphael 143–148, 157, 168, 202, 401–405, 408, 412, 418, 420 Hirschhorn, Linda 214 Hirsch-Hüffell, Thomas 505 Hirschler, Horst 22, 352, 359, 503 Hirshman, Marc 86, 89, 91, 279 Hitler, Adolf 186 Hoet, Hendrik 23 Hoffman, Lawrence A. 94 Hoffmann, Christhard 130 Hoffmann, Martin 431f, 458, 460–462 Hoheisel, Karl 164 Holdheim, Samuel 405 Holtz, Avraham 415f Homolka, Walter 55, 189 Hörisch, Jochen 24f, 232, 253, 271– 275, 300, 313, 350, 356 Horovitz, Jacob 180–183 Horowitz, Carmi Y. 106, 110, 113, 116 Hughes, Robert R. 28, 346, 355 Huizing, Klaas 22, 233f, 350 Huizinga, Johan 320

601 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

Husserl, Edmund 419, 469 Hyman, Naomi Mara 213 Ibn-Daud, Abraham 63 Idel, Moshe 105, 113f Idelsohn, Abraham Zebi 55, 65, 68, 130 Iser, Wolfgang 30, 255 Iwand, Hans Joachim 425, 428f, 431 Jabès, Edmond 290, 317, 322f Jacob, Walter 205, 399 Jacobs, Louis 51, 69, 389 Jacobson, Israel 124, 129, 131, 411 Jaffee, Martin S. 286, 298f, 415, 418 Jakobson, Roman 379f Japhet, Sara 106 Jaschinski, Eckhard 504, 522 Jastrow, Marcus 299 Jauß, Hans Robert 30, 349 Jay, Martin 180 Jellinek, Adolf 136, 148–151, 158 Jenssen, Hans-Hinrich 228 Joel, Manuel 145 Joest, Wilfried 428, 443 Jonas, Justus 504 Jörns, Klaus-Peter 350, 488 Josephus 65, 152 Jospe, Alfred 55, 178 Josuttis, Manfred 22–24, 26, 88, 303, 324, 355f, 430–435, 438f, 441, 443, 460, 503 Jülicher, Adolf 487 Jüngel, Eberhard 236f, 253, 260, 265– 268, 332, 487 Junke, Wolfgang 391 Kadushin, Max 73, 101, 309, 409, 414– 417, 419f, 423f, 452, 463f, 472 Kafka, Franz 374 Kahn, Robert I. 59, 198 Kal, Viktor 449 Kalimi, Isaac 80 Kaminsky, Joel S. 295 Kamphaus, Franz 254, 308 Kant, Immanuel 59, 177, 381, 469 Kaplan, Aryeh 113

Kaplan, Dana Evan 195, 209f, 215 Kaplan, Edward K. 201, 312, 419, 421 Kaplan, Mordechai M. 409 Karff, Samuel E. 210f, 218 Karle, Isolde 25f, 491, 496f Karp, Abraham J. 205 Kasher, Rimon 72 Katz, Jacob 54, 128 Katz, Robert L. 199 Kaufmann, Hans Bernhard 347 Kayserling, Meir 57f, 121–125, 128f, 137f, 140–142, 148, 151 Kepnes, Steven 173, 313 Kerner, Hanns 506, 508 Kertész, Imre 297 Kettner, Edward G. 459 Kierkegaard, Søren 258, 320, 381, 385f, 467, 469 Kilcher, Andreas B. 55, 113, 158 King, Martin Luther 460 Kirschner, Robert 203, 209f Klappert, Bertold 188 Klauck Hans-Josef 232 Klauser, Theodor 248 Kley, Eduard 57, 129, 132f, 150 Kluback, William 317 Knight, Henry F. 297, 514–516, 519f Kober, Adolf 136, 141, 143–145, 147f, 176, 179 Koch, Dietrich-Alex 80 Köhlmoos, Melanie 505f Kohn, Pinchas 168 Konrad, Werner 23 Korine, Harmony 495 Korn, Salomon 131 Kornberg Greenberg, Yudit 171 Körtner, Ulrich H. J. 22, 229, 232f, 239, 331, 338, 517 Kozińska-Witt, Hanna 130 Kracauer, Siegfried 174f Kranemann, Benedikt 507 Kraus, Hans-Joachim 61, 71, 292, 294f, 478f Krause, Gerhard 132 Kreitzschek, Dagmar 458 Kretzschmar, Gottfried 347

602 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

Kriener, Katja 250 Kristeva, Julia 240f Krochmalnik, Daniel 109, 201 Krondorfer, Björn 213f Krusche, Peter 363 Kruse, Anne-Kathrin 35, 37 Kruse, Wolfgang 35–37 Kücherer, Heiner 258 Kugel, James L. 281, 292, 299f, 318 Kühn, Ulrich 23, 26 Kunath, Siegward 35 Kunze, Reiner 383 Künzl, Hannelore 131 Kushner, Harold 222 Kuyt, Annelies 51, 60, 108 Kwasman, Theodore 107 Kysar, Robert 28, 346, 355

Link, Christian 321 Lischer, Richard 222 Lohfink, Norbert 519f, 522 Lorenz, Ina S. 130 Lowenstein, Steven M. 189 Lowry, Eugene L. 222, 458 Luksch, Thomas 375, 380 Luntshitz, Ephraim 116f Luther, Henning 316f, 457, 496 Luther, Martin 25, 31, 123, 229, 231, 233f, 301, 306, 331, 345, 349, 417, 425–427, 429f, 438, 440, 442f, 453–455, 485–487, 500, 502, 504, 517f Lux, Rüdiger 304 Luz, Ulrich 231f, 352, 407, 496, 516 Lyotard, Jean François 28, 226f, 450

Lacan, Jacques 278f, 379 Lämmlin, Georg 23–27, 30f, 229, 361f, 365, 381, 521, 526 Landau, Erika 243 Landau, Ezekiel 52 Lange, Ernst 257, 347–349, 362–365, 367, 381, 439, 455 Lauer, Simon 94–96, 369–372, 374, 376–378 Lavant, Christine 289, 336f LeDéaut, Roger 283 Leeser, Isaac 192f Leibowitz, Yeshayahu 209, 403 Leimgruber, Stephan 261, 326 Lemaire, Rainer 510 Lenhard, Doris 89–92, 283, 523 Lenhardt, Pierre 78, 296 Lerner, M. 147 Lévinas, Emmanuel 273, 315, 320, 469 Levine, Lee I. 68, 131 Levine, Nachman 78 Levinson, Nathan Peter 188, 249 Levinson, Pnina Navè 189 Lieberman, Saul 282 Lienhard, Michael 23 Lilienthal, Max 222 Lindbeck, George A. 238, 417 Lindner, Erik 122, 129, 131f

Mack, Chananel 79, 117 Magid, Shaul 297 Magonet, Jonathan 51, 205, 224f, 249 Mahlow, Dietrich 499 Maier, Johann 107, 113f Maimonides 106, 109, 320 Makarova, Jelena 188 Malino, Jerome R. 200 Mandelbaum, Bernard 370, 376–378 Mann, Jacob 55, 92 Mannheimer, Isaac Noah 148, 157 Margolin, Jean-Claude 168 Margolis, Peter 212 Margulies, Mordecai 93, 99 Mark, Julius 207 Marmur, Dow 210 Marquard, Odo 24, 27, 347 Marquardt, Friedrich-Wilhelm 45, 261f, 444, 446, 449–451, 458f Martin, Gerhard Marcel 26, 395, 439f, 467 Marxsen, Willi 308 Mates-Muchin, Jacqueline 209 Maurer, Trude 169 Maybaum, Ignaz 170, 343 Maybaum, Siegmund 57–59, 64, 67, 90, 92, 94, 138, 151–158, 165, 174, 178, 196f, 224, 244, 329, 343

603 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

Mayer, Günter 89, 318, 170, 246, 279, 389 Mayer Wise, Isaac 193 McAffee Brown, Robert 420 McKay, Heather 55, 66 Meier, Ralph 428f Mendelson-Hamburg, Moses 130 Mendelssohn, Moses 122 Mendes-Flohr, Paul 164, 169, 407 Merk, Otto 27 Merkle, John C. 419, 421, 423 Merkt, Andreas 248 Merzbach, Richard 181 Meyer, Michael A. 54, 122, 125, 128, 130f, 137, 142f, 163, 189, 193f, 201, 204f Meyer-Blanck, Michael 244, 346–348, 353, 364, 387f, 504, 508 Mezger, Manfred 266, 268 Mihaly, Eugene 198 Mikva, Rachel 209 Mildenberger, Friedrich 124, 306, 365– 367, 425, 428, 431, 460, 464, 522 Mildenberger, Irene 34 Milgrom, Jo 214 Miron, Dan 410 Mirsky, Mark Jay 399f Miskotte, Kornelis Heiko 25 Mocher Sefarim, Mendele 413 Möller, Christian 228, 232, 244, 260f, 306, 347, 353, 431, 437, 453, 504 Moltmann, Jürgen 525, 527 Monshouwer, Dirk 68, 522 Morandi, Giorgio 289, 333–335 Morris, Charles W. 338 Moscato, Juda 52, 106, 112 Moscho, Katja 439 Moscovitz, Leib 395 Mosès, Stéphane 319–321 Mosheim, Lorenz v. 130 Moss-Coane, Marty 213 Mühlenberg, Ekkehard 331 Mühlinghaus, Gerhard W. 131 Müller, Hans Martin 21, 248, 331, 346, 429f, 441f, 452, 526 Müller, Klaus I 35, 468, 498

Müller, Klaus II 39, 100 Müller-Rosenau, Franziska 306 Musil, Robert 465 Mußner, Frank 527 Nadler, Allan 398 Nadolny, Sten 313 Narot, Joseph R. 59, 198, 207 Neusner, Jacob 51, 87, 101, 103, 127, 203, 229, 239, 246, 281–284, 292, 298, 341f, 370, 372, 374f, 395, 398f, 414, 416, 420 Nicol, Martin 21, 23, 29, 79, 160, 244, 253, 260, 270f, 288, 300, 302f, 306, 309, 318, 387, 426, 457, 466, 470, 484, 486, 500f, 503–505 Niebergall, Friedrich 177 Niehoff, Maren Ruth 55, 134f, 144, 148, 157f, 174 Nitzsch, Carl Immanuel 260, 485 Nobel, Josef 158 Nobel, Nehemia Anton 179–184, 455 Noble, Paul R. 519 Noethlichs, Karl Leo 87 Noth, Martin 480 Novalis 316f Nowak, Kurt 128 Nübold, Elmar 522 Nüchtern, Michael 385f Nussbaum, Max 185 Oberhänsli-Widmer, Gabrielle 95f Ochs, Peter 238, 282, 310, 314f, 414, 418 Oelbaum, Francess 213 Oeming, Manfred 230, 239, 309, 519 Olan, Levi A. 206 Oshry, Ephraim 188 Osten-Sacken, Peter von der 78, 224, 232, 243, 296 Ostriker, Alicia Suskin 214 Otto, Gert 22, 244, 259 Ouaknin, Marc-Alain 399 Pagel, Gerda 379 Palmer, Christian 152

604 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

Pangritz, Andreas 449 Pelz, Heidrun 338 Perelmuter, H. Goren 324 Perlman, Lawrence 419f, 424 Perrot, Charles 68 Pesch, Otto Hermann 502, 507 Peters, Albrecht 425 Petersen, Birte 32 Petuchowski, Jakob J. 79, 142, 159, 194f, 421 Pfister, Manfred 240 Philippson, Johanna 141f Philippson, Ludwig 57–59, 136–142, 150f, 157 Philips, Susan 213 Phillips, Gary A. 29 Philo 65, 152, 319 Pierce, Charles S. 338 Pikas, Anatol 42 Pilchik, Ely E. 59, 197–199 Piper, Hans-Christoph 244 Pitzele, Peter 212, 215–218, 251, 488 Plato 350, 454 Plaut, W. Gunther 157, 210 Pohl-Patalong, Uta 218, 251, 488 Popkes, Wiard 462 Porton, Gary G. 51, 86, 93, 245f, 289f Posen, Jacob S. 181 Preuß, Horst Dietrich 40f, 225, 249, 510, 518 Price, Roger 208 Prolingheuer, Hans 262 Rabinowitz, Louis Isaac 373, 375 Rad, Gerhard v. 83, 399 Raguse, Hartmut 306 Rahner, Hugo 462 Raimondi, Guiseppe 334 Rand, Archie 214 Raphael, Marc Lee 204, 208 Raschi 56, 107f, 296f, 320 Raschzok, Klaus 256, 333 Rashkover, Randi 316 Ravnitzky, Yehoshua Hana 168, 411 Reif, Stefan C. 55, 130, 157 Reinhardt, Max 186

Reinmuth, Eckart 27, 29 Rendtorff, Rolf 32 Richardt, Franz 243, 324 Richarz, Monika 189 Richter-Böhne, Andreas 431, 438 Ricoeur, Paul 236, 379, 380 Riffaterre, Michael 287 Ringleben, Joachim 426 Ritschl, Dietrich 217 Ritter, Adolf Martin 87 Ritter, Immanuel Heinrich 157 Rivkin, Ellis 52 Rogge, Joachim 427 Rojtman, Betty 55, 80, 217 Roloff, Jürgen 487 Romain, Jonathan A. 55 Rosen, Jonathan 73, 208 Rosenblüth, Pinchas E. 145 Rosenmann, Moses 148–150 Rosenthal, Gilbert S. 209 Rosenwald, Lawrence 174 Rosenzweig, Franz 164f, 169–175, 179–184, 202, 242, 313, 338, 341– 345, 348, 382–384, 387f, 393, 455, 471, 533 Rossi, Laura Mattiolio 335 Rössler, Dietrich 248, 308, 359, 363 Roth, Cecil 117, 136 Roth, Ursula 498f Rothenbusch, Ralf 393 Rothschild, Fritz 419 Rubenstein, Jeffrey L. 107 Rudin, Jacob P. 59, 198–200, 222 Rudnick, Ursula 32 Ruler, Anton A. 441 Runesson, Anders 66, 68 Ruprecht, Eberhard 70f Rutishauser, Christian M. 398 Ryle, Gilbert 44 Sachot, Maurice 94 Safrai, Shmuel 67, 80, 86, 294, 351, 389 Sagi, Avi 81, 396 Salomon, Gotthold 129 Sandberg, Ruth 215

605 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

Sanders, Boykin 29 Saperstein, Harold I. 58, 204 Saperstein, Marc 52, 55f, 107f, 110– 112, 117f, 186, 188, 204 Sarason, Richard S. 72, 92f, 246, 279, 290, 323, 330f, 416f Saussure, Ferdinand de 85, 300 Sayers, Dorothy L. 392 Schäfer, Peter 73, 78, 86f, 91, 298 Schahadat, Schamma 241 Scharfenberg, Joachim 391 Scheuer, Josef 107 Schieder, Rolf 368 Schild, Erwin 58, 200, 226 Schildmann, Wolfgang 261 Schimon ha-Darschan 56 Schlafer, David J. 460 Schleiermacher, Friedrich D. E. 22, 28, 31, 133, 137, 153, 177, 234f, 253– 255, 260, 340, 350, 382, 469, 489– 493, 498 Schmidt, Werner H. 480 Schmidt-Rost, Reinhard 439 Schneider, Hans-Dieter 347 Schoberth, Ingrid 344, 354, 526f Schoeps, Julius H. 54, 130, 137, 151 Scholem, Gershom 84, 99, 113–115, 251, 298, 331 Schönherr, Albrecht 353 Schorsch, Ismar 126 Schöttler, Heinz-Günther 41, 230, 249, 311, 352, 444, 471, 510f, 514, 519, 521f, 527 Schottroff, Willy 175 Schrage, Wolfgang 68, 233 Schramm, Tim 217, 250f, 484 Schreiner, Stefan 73, 339 Schröder, Bernd 33, 38f, 43, 503 Schröer, Henning 22, 244, 348, 467, 489 Schulte, Josef 243, 324 Schulz, Frieder 248, 508, 522 Schulz, Gerhard 129 Schulze, Gerhard 468 Schütz, Werner 308, 437f Schwartz, Dov 44

Schwartz, Howard 78, 213, 478 Schwarz, Egon 148 Schwarzfuchs, Simon A. 55 Schwarzwäller, Klaus 504 Schweizer, Alexander 153f, 195 Schwier, Helmut 240 Segal, Eliezer 110, 212 Seim, Jürgen 34f Seligman, Rafael 170, 182 Seligmann, Caesar 176, 181–183 Seltzer, Debra 213 Shapira, Chajim Elazar 297 Shapiro, Aliza 214 Shem Tov, Joseph Ibn 58 Sherwin, Byron L. 297 Shinan, Avigdor 68, 92f, 98, 101, 399, 476 Shoham, Chaim 130 Shulman, Sheila 224 Siegert, Folker 65, 93f, 96–98 Sigal, Phillip 65, 129, 134, 137, 193– 195 Signer, Michael A. 230 Sill, Bernhard 462 Silver, Harold S. 195, 205 Silverman, Hillel E. 197, 207–209 Simon, Ernst 180, 185f Simon-Nahum, Perrine 157 Singer, David 398 Sklare, Marshall 55 Smend, Rudolf 237, 325 Smitten, Wilhelm Th. in der 67 Smolík, Josef 503, 521 Sölle, Dorothee 460, 464 Soloff, Rav A. 197 Soloveitchik, Joseph B. 398 Sonne, Isaiah 55 Sontag, Susan 272 Sosland, Henry Adler 58, 117–119 Sparn, Walter 163 Spero, Shubert 398, 464 Spiegel, Paul 189 Spira, Israel 186 Spong, John Shelby 213 Stäblein, Christian 33, 35, 37, 42 Stavroulakis, Nikos 214

606 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

Steffensky, Fulbert 347 Stein, Renata 213 Steinberg, Theodore 414 Steiner, George 253, 271–275, 281, 300 Steinmeier, Anne M. 24 Steins, Georg 66f, 520f, 528 Steller, Hans-Ernst 89, 92–94, 98, 482 Stemberger, Günter 51, 56, 63, 68f, 72, 74, 76f, 79f, 83, 85–87, 89, 91, 93, 105–107, 109, 111, 113–115, 245, 279, 290, 293f, 296, 298, 313, 318f, 322, 327–329, 331, 369, 390, 392, 395, 398f, 414, 476, 481 Stephan, Inge 411 Stern, David 72, 77, 79f, 84, 91, 93–95, 113, 124, 168, 246, 278–281, 283– 287, 310, 322, 328, 370f, 373–375, 378–380, 397f, 465, 484 Stern, Frank 126, 168, 174, 243 Stiewe, Martin 431 Stock, Alex 313, 517 Stöhr, Martin 298, 442, 450 Stollberg, Dietrich 331, 436–438, 440, 512f Strauß, Botho 273f Strübind, Kim 301 Sundermeier, Theo 242 Surall, Frank 166 Tabor, James D. 80 Talmage, Frank 115 Talmon, Shemaryahu 72, 171, 173 Temkin, Sefton D. 194 Teplitz, Saul Israel 200 Tertullian 428 Teugels, Lieve 279, 318, 322 Theißen, Gerd 27, 29, 260, 302, 308f, 384 Theodor, Julius 90, 241f, 281 Thoma, Clemens 80, 94–96, 369–372, 374, 376–378 Thurneysen, Eduard 360–362, 367 Thyen, Hartwig 96 Tomson, Peter J. 282 Toury, Jacob 126 Track, Joachim 355

Trefz, Bernhard 164 Trepp, Leo 55, 67, 107, 145, 194, 225f Trier, Lars von 494f Trillhaas, Wolfgang 22, 257–260, 268, 498, 501, 503 Trowitzsch, Michael 29, 235, 237, 333 Tucker, JoAnne 214 Turpie, Bill 222 Ucko, Sinai 178f Ulrich, Hans G. 437, 443 Urbach, Ephraim E. 55, 70 Urner, Hans 265 Utzschneider, Helmut 29 Valéry, Paul 466 Van der Geest, Hans 435f, 455, 466 Veltri, Giuseppe 340 Vetter, Uwe 172 Vinterberg, Thomas 495 Vischer, Wilhelm 510 Visotzky, Burton L. 90 Voelz, James W. 29 Volkmann, Evelina 33f, 37, 44, 442, 483 Volkmann, Michael 170 Volkov, Shulamit 54, 122, 125, 127, 133 Vonach, Andreas 80 Wachowski, Johannes 229 Wagner, Siegfried 69–71 Wallach, Luitpold 130, 169 Walser, Martin 37 Walton, Rivkah M. 213f Wanke, Gunter 73 Washburn, Kelly Tzvia 185 Wassermann, Jakob 163 Watson, Francis 29 Weber, Otto 308 Weder, Hans 275, 379f, 487 Weeber, Martin 153 Weil, Jakob 157 Weiler, Moses Cyrus 185 Weill, Kurt 186 Weimar, Klaus 255

607 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900

Weisberg, Ruth 214 Weiser, Alfons 64 Weisgal, Meyer W. 186 Weiss, Adolf 109 Weiss Halivni, David 238, 282, 284, 294, 298, 300 Weizsäcker, Carl Friedrich 467 Wellhausen, Julius 61 Welsch, Wolfgang 28, 245f, 348, 468 Weltsch, Robert 406f Wenders, Wim 495 Wengst, Klaus 230f Werfel, Franz 186f Wertheimer, Jack 200 Westerhoff, John C. 346 Westermann, Claus 70f Weyel, Birgit 367 Weymann, Volker 431 Whitehead, Alfred North 415 Wick, Peter 68 Wiener, Max 147 Wiese, Christian 126, 143, 145, 163, 165f Wiesel, Elie 82f, 211f, 297, 396 Wiesemann, Falk 189 Wigoder, Geoffrey 51, 69 Wilckens, Ulrich 302, 311, 318, 331f Williamson, Hugh Godfrey Madurin 66f Willimon, William H. 518, 522 Willson, Patrick J. 304 Wilson, Paul Scott 438, 504 Wingren, Gustaf 361f, 365, 367 Winkler, Eberhard 347, 353 Winters, Alton Meyer 207

Wintzer, Friedrich 132, 153f Wischmeyer, Oda 27, 29, 302 Wittekind, Folkart 306, 497, 504 Wittgenstein, Ludwig 391 Wöhle, Andreas H. 425, 429 Wohlgemuth, Joseph 58f, 130, 140, 147, 154, 176–178, 196 Wohlmuth, Josef 227f, 450 Wolf, Arnold Jacob 401 Wolf, Joseph 57, 121–125, 129, 151, 192, 529 Wolff, Abraham Alexander 139 Wolff, Christian 232 Wolff, Hans-Walter 70 Wolff-Thomsen, Ulrike 163 Wolfson, Elliot R. 115 Wolf-Withöft, Susanne 387 Wright, Addison G. 283 Wundt, Wilhelm 164 Wünsche, August 241, 299, 375, 481, 483 Zachalon, Ja’akob 58, 117–119 Zank, Michael 316 Zenger, Erich 71, 243, 332, 521 Zerfaß, Rolf 21, 222, 507f Ziegler, Ignaz 167, 373 Zielke, Wolfgang 313 Ziemer, Jürgen 311 Zimmerli, Walther 524 Zimmermann, Sheldon 210 Zorn, Jean-François 225 Zunz, Leopold 49–51, 55, 57, 61, 64, 69, 88, 106, 109, 126f, 129–131, 134–136, 141, 154, 157, 165, 169, 197, 244, 281, 529

608 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623909 — ISBN E-Book: 9783647623900