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German Pages 217 [218] Year 2020
Prädikation und Bedeutung
Text und Textlichkeit
Schriftenreihe des Arbeitskreises „Text und Textlichkeit“ Herausgegeben von Andreas Kablitz, Christoph Markschies und Peter Strohschneider Redaktion: Mark Halawa-Sarholz und Hannelore Rose
Band 1
Prädikation und Bedeutung Herausgegeben von Andreas Kablitz, Christoph Markschies und Peter Strohschneider
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung
ISBN 978-3-11-071540-8 e-ISBN [PDF] 978-3-11-071551-4 e-ISBN [EPUB] 978-3-11-071561-3 ISSN 2626-9767 Library of Congress Control Number: 2020943504 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlaggestaltung: André & Krogel Design, Hamburg Titelbild: Regino-Handschrift mit Alleluia-Teil, entstanden um 900 im Kloster Prüm (Rep. I 93, fol. 39v; Leihgabe Leipziger Stadtbibliothek, Digitalisat: Universitätsbibliothek Leipzig) Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Vorwort VII Andreas Haug Die prekäre Textlichkeit der Musik: Zur Genealogie eines modernen Problems 1 Charlotte Klonk Bildsinn und Bedeutung 51 Hans-Georg Soeffner Die Geste in der Photographie. Zur Hermeneutik des Sehens 67 Andreas Kablitz Prädikation und Bedeutung im fiktionalen Text. Der Zauberberg als Paradigma 97 Erhard Schüttpelz Chils Prädikation. Ein Kommentar zu Charles Goodwins Co-Operative Action 127 Daniel Jacob Prädikation? Information? Diakrise? Zur Funktion und inneren Struktur der minimalen Äußerung zwischen Semantik, Syntax und Pragmatik 149 Ludwig Jäger Ist Prädikation ein Sprechakt? Anmerkungen zu Searles Theorie der Bedeutung 171 Biobibliographische Informationen zu den Herausgebern und Autor/innen 195 Register 201
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Zu den Ursachen, die während der letzten Jahrzehnte zu einem Geltungsverlust des sprachlichen Textes als des einstmals zentralen Forschungsgenstandes der Geistes- und Kulturwissenschaften geführt haben, zählen zwei k omplementäre konzeptuelle Verschiebungen, die diese Einbuße an Prestige gleichsam symptomatisch spiegeln. Zu nennen ist zunächst die längst geläufig, wo nicht selbstverständlich gewordene Metaphorisierung des Textes, die inzwischen ein methodisches Modell für die Untersuchung unterschiedlichster Gegenstände anzubieten scheint: Bilder, die Stadt oder die Kultur als Text zu ‘lesen’, gilt allenthalben als ein probates Mittel, sich ihrer zu bemächtigen. Solche Formulierungen sind deshalb längst zu vertrauten kulturwissenschaftlichen Formeln geworden, die mit der Versicherung einer ‘Lesbarkeit’ der zu Texten erklärten Dinge suggerieren, diesen Phänomenen sei mit den gleichen Verfahren wie sprachlichen Äußerungen beizukommen. Vordergründig mag sich diese Ausweitung des Textbegriffs wie ein durchaus zu Gunsten der Textwissenschaften zu verbuchender Exportgewinn ausnehmen. Doch eine solche Sicht der Dinge täuscht darüber hinweg, dass sich in der betreffenden Metaphorisierung die distinktiven Merkmale sprachlich-textueller Muster und Verfahren der Bedeutungsgenerierung verlieren. Der Begriff Text wird in diesem Sinn semantisch zum Abstraktum einer Textur ausgedünnt, die kaum mehr als die Verbundenheit der Dinge miteinander in einem sehr allgemeinen Sinn benennt. Eine wirklich operationale Leistung, die der Textbegriff etwa durch die Möglichkeit einer Lektüre zu suggerieren scheint, aber bleibt unter solchen Voraussetzungen ein ziemlich leeres Verspechen.1 Der Tendenz einer Ausweitung des Textbegriffs auf andere als sprachliche Phänomene stehen in jüngerer Zeit entwickelte Ansprüche anderer Wissenschaften auf eigenständige und vor allem sprachunabhängige Verfahren der Erzeugung von Bedeutung gegenüber, die bislang als eine exklusive, zumindest aber vorrangige Leistung der Sprache galt. Speziell das Aufkommen der Bildwissenschaft hat ein solches Privileg der Sprache nachhaltig in Frage gestellt. Zu den wesentlichen theoretischen Anliegen dieser noch relativ jungen Disziplin zählt es, dem Bild eine eigene Logik der Produktion von Bedeutung zu bescheinigen, für die sie eine Gleichrangigkeit im Verhältnis zu entsprechenden sprachlichen Verfahren postuliert (auch wenn mit dem Rekurs auf das ‘sprachliche Bild’ – alias: die Metapher – als Modell ikonischer Produktion von Bedeutung
1 Vgl. ausführlich dazu: Andreas Kablitz, „Die Sprachlichkeit des Textes. Vom Nutzen und Nachteil seiner Metaphorisierung und von deren Ursachen“, in: Poetica 48 (2016), Nr. 3–4, S. 169–199. https://doi.org/10.1515/9783110715514-201
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insgeheim mitunter durchaus Anleihen bei sprachlichen Verfahren gemacht werden).2 Weniger prononciert werden solche Ansprüche auf eine medienspezifische Erzeugung von Semantik von musikwissenschaftlicher Seite vorgetragen. Indessen spielt auch dort die Frage nach einer ‘musikalischen Bedeutung’ eine wachsende Rolle.3 Angesichts dieser Situation kultur- und geisteswissenschaftlicher Forschung scheint es angebracht, nach den spezifischen Verfahren wie Leistungen sprachlicher Bedeutungsbildung zu fragen. Eine solche Vergewisserung ist nicht zuletzt deshalb von Belang, weil sie auch dazu dient, den – keineswegs evidenten und darum in der kulturwissenschaftlichen Diskussion mitnichten einheitlich als solchen verstandenen – spezifischen Kern sprachlicher Generierung von Bedeutung zu erfassen. Denn erst in Bezug auf ihn ergeben alle intermedialen Vergleiche und Unterscheidungen Sinn. Das Kolloquium, aus dem die in diesem Band versammelten Beiträge hervorgegangen sind, hat deshalb ins Zentrum seiner Diskussionen das Verhältnis von Prädikation und Bedeutung gerückt. Die Prädikation wird dabei als das logische Grundmuster aller sprachlichen Sätze begriffen. In ihrer abstraktesten Form lässt sie sich als die Zuschreibung einer Eigenschaft an einen Träger dieser Eigenschaft bestimmen. Diese Definition betont absichtsvoll die Interdependenz der beiden an einer jeden Prädikation beteiligten Entitäten: Von einer Eigenschaft lässt sich erst dann sprechen, wenn sie einer anderen Entität zugesprochen wird, wie umgekehrt auch der Träger derselben im Hinblick auf diese Zuordnung allererst zum Gegenstand der Rede wird. Zum rechten Verständnis der Prädikation ist es erforderlich, sie von der Proposition zu unterscheiden – dem sprachlichen Satz, dessen logisches Grundmuster die Prädikation darstellt. Sätze können aus einer (durchaus auch) komplexen Kombination von verschiedenen Prädikationen bestehen – und tun dies in aller Regel auch. Die Prädikation definiert insofern die elementare logische Struktur des propositionalen Gehaltes eines Satzes. Aber sie unterscheidet sich vor allem in einer wesentlichen Hinsicht von einer Proposition: Der Sachverhalt, den eine Prädikation (resp. eine Kombination von Prädikationen) definiert, lässt sich erst durch die Proposition auf seine Tatsächlichkeit hin befragen. Erst ein sprachlicher Satz stellt eine Beziehung zwischen diesem Sachverhalt und der Welt der
2 Vgl. diesbezüglich insbesondere Gottfried Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin: Berlin University Press, 2007. 3 Stefan Orgass, „Musikbezogenes Unterscheiden. Überlegungen zu einer interaktionalen Theorie musikalischer Bedeutung und nicht-musikalischer Bedeutsamkeit“, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 8 (2011), Nr. 1, S. 91–120.
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Tatsachen her: sei es als dessen Feststellung, sei es als eine Frage nach seiner Tatsächlichkeit, sei es als Aufforderung, den bezeichneten Sachverhalt zu einer Tatsache zu machen (oder dies gerade zu unterlassen). *** Die einzelnen Beiträge, die dieser Band versammelt, beleuchten die mit dem Verhältnis von Prädikation und Bedeutung zusammenhängenden Fragen aus der Warte unterschiedlicher theoretischer Sichtweisen wie disziplinärer Orientierungen. Im Einzelnen handelt es sich um Beiträge aus linguistischer, sprachphilosophischer, literaturwissenschaftlicher, kunstwissenschaftlicher, soziologischer und musikwissenschaftlicher Sicht. Im Folgenden sei ein knapper Überblick über die einzelnen Texte geboten:4 Den einzelnen Bestandteilen einer Prädikation geht Daniel Jacob in seinem Beitrag nach und situiert diese Analyse in der sprachwissenschaftlichen wie sprachphilosophischen Diskussion des 20. Jahrhunderts. Ein besonderer Akzent ist dabei auf die Überlegungen Gottlob Freges gelegt, dem er einen über manchen Späteren hinausreichenden Scharfblick für die Strukturen der Sprache bescheinigt. Seine Analyse schließt auch die Kontextualisierung der Prädikation in der Vielfalt der unterschiedlichen Dimensionen sprachlicher Äußerungen ein. In diesem Sinn geht er der Beziehung zwischen den logischen und den syntaktischen Verhältnissen eines Satzes ebenso nach wie der Relation zwischen der Prädikation und der Informationsstruktur sprachlicher Sätze. Letzteres bringt es mit sich, dass nicht nur die Beschränkung auf einzelne Sätze für ein angemessenes Verständnis der Leistung von Prädikationen aufgegeben werden muss, sondern dass gleichermaßen der nicht-sprachliche Kontext sprachlicher Kommunikation als eine Instanz ihrer Strukturierung in Rechnung zu stellen ist. Dabei stellt Jacob in sehr grundsätzlicher – wie durchaus provokanter – Weise die überkommene Überzeugung in Frage, dass sprachliche Sätze der Information über Sachverhalte dienen, die für den Adressaten als unbekannt vorauszusetzen sind. Die Situierung sprachlichen Informationsaustausches in einem vom Sender wie Empfänger geteilten Wissen hat vielmehr zur Folge, dass sprachliche Sätze, zumindest in der Alltagskommunikation, primär der Selektion zutreffender Annahmen aus einer Menge potentieller Alternativen und somit eher der Eli-
4 Die Abfolge der Beiträge innerhalb des Bandes folgt der Reihenfolge des Kolloquiums. Sämtliche der in runden Klammern angezeigten Seitenverweise beziehen sich auf den vorliegenden Band.
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mination von Information dienen als der Übermittlung positiver Kenntnis eines Sachverhaltes. Freilich stellt Jacob abschließend ebenso fest, dass eine solche Möglichkeit keineswegs zur Grundbefindlichkeit sprachlichen Informationsaustausches erklärt werden kann, sondern an bestimmte Bedingungen der Kommunikation gebunden bleibt. Ludwig Jäger widmet sich einem der einflussreichsten Sprachtheoretiker des 20. Jahrhunderts: John R. Searle und seiner Sprechakttheorie, in deren Rahmen die Bestimmung des Verhältnisses von Prädikation und Referenz eine wichtige Rolle spielt. Sie wirft allerdings zugleich eine Reihe von Fragen auf, die zu den Grundlagen dieser Theorie führen und die Jäger sehr grundsätzlich erörtert. Die Grundfrage, die Searles Einlassungen aufwerfen, lässt sich wie folgt umreißen: Während er Referenz als einen selbständigen Sprechakt begreift, gilt dies für die Prädikation aus seiner Sicht nur unter bestimmten Bedingungen. Prädikationen setzen für Searle den Akt des Referierens bereits voraus. Wie kommt es zu dieser Asymmetrie? Die Antwort geht aus von Jägers Feststellung zweier Errungenschaften der Sprechakttheorie, die vor allem John L. Austin zu danken sind und einen maßgeblichen Erkenntnisfortschritt gegenüber herkömmlichen Analysen bedeuten: 1. Sprachliche Äußerungen stellen grundsätzlich Handlungen dar, sie lassen sich nicht auf ein Grundmuster bloßer Repräsentation einer außersprachlichen Welt reduzieren. 2. Die Einheit sprachlicher Generierung von Bedeutung ist der Satz, nicht der einzelne Ausdruck. Searles Priorisierung der Referenz gegenüber der Prädikation verrät, dass er diesen Einsichten der Sprechakttheorie nur halbherzig folgt und in Teilen an einer traditionellen repräsentationslogischen Sicht der Sprache festhält. Von hierher erklärt sich, dass die Identifikation eines Objektes, dem sodann ein Prädikat zugesprochen wird, einen Vorrang gegenüber dem Akt der Prädikation besitzt. Seine letzte epistemologische Grundlage hat Searles Präferenz für die Referenz in seiner Annahme eines externen Realismus, der sich gegen alle Versuche wendet, die ‘objektive’ Welt in ihrer Bestimmtheit von ihrer Beobachtung und/oder Darstellung des Menschen abhängig zu machen. Dagegen plädiert Jäger für eine Auffassung der Prädikation, die sie nicht als einen bloßen Nachvollzug eines unabhängig von ihr konstituierten Sachverhaltes begreift, sondern als die sprachliche Operation, durch die alle Bedeutung geschaffen wird und die zugleich an der Konstitution dessen, was wir als die ‘objektive’ Wirklichkeit verstehen, maßgeblich beteiligt ist.
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Der Beitrag von Erhard Schüttpelz verbindet die Definition eines theoretischen Ansatzes sehr entschieden mit einem Medienwechsel im Vergleich zu herkömmlichen sprachtheoretischen Untersuchungen. Orientierten diese sich vorzugsweise am Medium der Schrift und privilegierten zugleich eine Beschäftigung mit einzelnen Sätzen, so rückt Schüttpelz auf der Grundlage des Verfahrens der audiovisuellen Sequenzanalyse (kurz: AV-Analyse) ein Korpus von Aufzeichnungen und Transkriptionen in den Vordergrund, dem er ein beträchtliches analytisches Potential bescheinigt. Theoriegeschichtlich ist dabei interessant, dass es fast eines halben Jahrhunderts bedurfte, bis diese Methode für sprachtheoretische Einsichten genutzt wurde, d. h. bis Forschungsfragen entwickelt wurden, die gewinnbringend mit dem neuen empirischen Material beantwortet werden konnten. Paradigmatisch für das Ergreifen dieser Möglichkeit steht Charles Goodwins Buch Co-Operative Action von 2017, dem Schüttpelz nicht weniger als das Potential für eine neue Definition dessen attestiert, was den homo sapiens sapiens zu eben diesem macht. Grundlegend für diese beträchtlichen Möglichkeiten ist letztlich der Bindestrich, den schon der zitierte Buchtitel in das überkommene Wort einfügt: co-operative. Denn dieses Zeichen signalisiert ein neues Konzept humaner Interaktion, das herkömmliche Vorstellungen von ihr in substantieller Weise ergänzt, wenn auch durchaus nicht, wie Schüttpelz eigens hervorhebt, ersetzt. Die betreffenden Erweiterungen lassen sich vor allem in dreierlei Hinsicht benennen: 1. Kooperation wirkt auf andere Operationen ein, auf denen sie ihrerseits aufbaut. 2. Solche Operationen erzeugen kumulative Effekte, die weiterer Verarbeitung offenstehen. 3. Sie initiieren Lernprozesse, die über die unmittelbare Situation hinaus wirksam werden können. Ko-Operation schafft insofern einen sehr viel weiteren Wirkungskreis, als überkommene Modelle der Kooperation ihn ansetzen. Ko-Operation erlaubt es im Besonderen, das räumlich wie zeitlich Abwesende, etwa durch Antizipation oder Reproduktion, in die Kooperation einzubeziehen. Das sich hier eröffnende analytische Potential bleibt indessen vielleicht noch intensiver für die Revision überkommener Kategorien der Sprachanalyse wie Prädikation und Bedeutung zu nutzen, um seine theoretischen Möglichkeiten auszuschöpfen. Andreas Kablitz geht in seinem Beitrag anhand von Thomas Manns Roman Der Zauberberg der Frage nach, in welcher Weise sich die sprachlichen Muster der Prädikation für eine literarische Gestaltung von Wirklichkeit fruchtbar machen lassen. Die Voraussetzung für eine solche Untersuchung dieses Romans schafft
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er mit einer sprachlogischen Charakteristik der Leistungen einer Prädikation, für die er eine analytische und eine synthetische Komponente unterscheidet. Jede Prädikation, d. h. die Zuordnung einer bestimmten Eigenschaft zu dem Träger dieser Eigenschaft, setzt voraus, dass eine solche Eigenschaft bei dem betreffenden Träger identifiziert wird, dass er insofern in verschiedene Bestandteile zerlegt wird. Diese analytische Komponente der Prädikation aber fällt zusammen mit ihrer synthetischen Komponente der Herstellung einer Verbindung zwischen den beiden durch sie ins Verhältnis gesetzten Größen. Auch diese beiden Operationen sind insofern interdependent. Das Eigentümliche der Erzählung in Manns Zauberberg sieht Kablitz in einer Form narrativer Rede, die er als analytisches Erzählen bezeichnet. Sie beruht darauf, dass die Darstellung der Gegenstände, Personen und Handlungen dieses Romans zugleich als ihre Analyse, als eine Analyse im etymologischen Sinn des Wortes fungiert: als eine Auflösung in ihre Bestandteile, die den Zauberberg im Endergebnis zu einer solchermaßen verstandenen Analyse der Welt schlechthin machen. In diesem Sinn stellt der Roman eine Verbindung zwischen der sprachimmanenten Rationalität der Sprache und seinem Sujet, der Auflösung des Lebens, zunächst im Sanatorium des Berghofs und schließlich auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs, her. Die Untersuchung des Textes zum Nachweis der skizzierten These erfolgt anhand von paradigmatisch ausgewählten Unterkapiteln des Zauberbergs, einem vom Beginn und einem vom Ende des Textes. In seiner Lektüre des Kapitels ‘Im Restaurant’ nimmt sich Kablitz die scheinbar simple Beschreibung einer Menüfolge vor, die sich bei näherem Zusehen als ein Exerzitium über unsere Gewohnheiten sprachlichen Umgangs mit Nahrungsmitteln erweist. Der Abschnitt ‘Fragwürdigstes’ bietet mit seiner Schilderung einer Séance hingegen einen grundsätzlichen Einblick in die Logik unserer elementaren Wirklichkeitsannahmen. Wenn Der Zauberberg sich als eine Zergliederung der Welt beschreiben lässt, dann wird gerade in diesem Unterkapitel die allgemeine Dimension dieses Anspruchs sichtbar. Einen innovativen Versuch, die semantischen Verhältnisse in Bild und (sprachlichem) Text in theoretischer Hinsicht voneinander abzugrenzen, unternimmt Charlotte Klonk. Dieser Vergleich fällt umso plastischer aus, als es ihr gelingt, ein ursprünglich für die Sprache definiertes Begriffspaar an die spezifischen Bedingungen des Bildes anzupassen: Gottlob Freges Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung. Abweichend von anderweitig üblichem Sprachgebrauch, meint Frege mit Bedeutung die Beziehung zwischen dem sprachlichen Zeichen und seinem Referenten, während der Sinn die semantischen Einheiten benennt, für die man gemeinhin den Begriff der Bedeutung verwendet.
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Die grundsätzlich anderen Gegebenheiten des Bildes lassen eine Übertragung der für die Sprache charakteristischen Triade von Zeichen, Bezeichnetem und Sinn nicht zu. Gleichwohl lässt sich Freges Unterscheidung gewinnbringend für die Analyse von Bildern nutzen, sofern man sie neu definiert. „Bedeutung ist nicht der Wahrheitswert des Gegenstands […], sondern der thematisch identifizierbare Inhalt eines Bildes, und sinnlich mag eine Vorstellung gegeben sein, die nicht mit dem Bedeuteten identisch ist. Sinn ist also mehr als die ästhetische Präsenz von Zeichen.“ (S. 53) Im Unterscheid zur (thematischen) Bedeutung eines Bildes schlägt der Sinn eine Brücke von der sinnlichen Erscheinungsweise der Bildgestaltung zu seiner Bedeutung. Dabei können Sinn und Bedeutung eines Bildes in dem hier beschriebenen Verständnis durchaus voneinander abweichen. Klonk exemplifiziert dies anhand von zwei Gemälden Joseph Mallord William Turners, wie hier für das erste der beiden, Die Bucht von Baiae mit Apollo und Sibylle von 1823, beispielhaft angedeutet sei: Während in thematischer Hinsicht die Vergänglichkeit von physischer Schönheit und die Flüchtigkeit das Bild bestimmen, deutet vor allem seine Farbgestaltung – die in unverkennbarer Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Diskussionen über die Farbe steht – in eine andere Richtung: „Während das Gemälde auf der Bedeutungsebene Melancholie und Vergänglichkeit von ehemaliger Größe und Schönheit thematisiert, verweist seine formale Darstellung, also die Sinnebene, auf ein Universum an prismatischer und chromatischer Fülle, die jedoch so und nicht anders nur in diesem einen Augenblick existiert.“ (S. 61) Dem Bildmedium gilt auch im Beitrag von Hans-Georg Soeffner das besondere Interesse, nur betrachtet er Bilder nicht aus kunstwissenschaftlicher, sondern aus soziologischer Perspektive. Im Zentrum seines Interesses steht das Phänomen der Geste, dessen Merkmalen er sich von der Theorie George Herbert Meads her nähert. Der besondere systematische Belang von Gesten und Gebärden (deren typologischen Differenzen Soeffner sehr präzise nachgeht) für den Kontext dieses Kolloquiums besteht in der Frage, auf welche Weise Gesten Bedeutung erzeugen. Fundamental ist in dieser Hinsicht die Einsicht in den grundsätzlich relationalen Charakter der Semantik von Gesten: Ihre Bedeutung besitzen sie nicht aus sich selbst heraus. Sie gewinnen sie vielmehr in der sozialen Interaktion durch die Reaktionen, die auf sie antworten. Vor allem anhand der subtilen Analysen zweier paradigmatischer Beispiele wird deutlich, wie dieses Wechselspiel aussieht. Um es am Fall des Handkusses zu exemplifizieren: Auf halber Strecke zwischen Kuss und Handschlag angesiedelt und in einer schwierigen Kombination die Markierung sozialer Hierarchien mit einem Ausdruck von Emotion verbindend, besitzt er eine sozial kodierte Bedeutung, die jedem einzelnen Einsatz dieser Geste vorausliegt. Aber zugleich und nicht zuletzt aufgrund dieser Kom-
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plexität verfügt er über einen Spielraum, der sich erst durch die besonderen Umstände seiner Verwendung jeweils einlösen und konkretisieren lässt. Im Vergleich mit den Prädikationen sprachlicher Sätze besitzen hermeneutische Operationen zur Bestimmung der Bedeutung von Gesten zweifellos einen sehr viel höheren Stellenwert, da ihnen die konventionelle Regelung durch ein Sprachsystem, durch eine langue fehlt. Gleichwohl fragt sich, ob die Beziehung zwischen der Geste, zwischen ihrem semantischen Potential, unabhängig von ihrer konkreten Verwendung und ihrem Einsatz in konkreten sozialen Situationen, nicht eine strukturelle Ähnlichkeit zu dem Verhältnis zwischen Prädikation und Proposition aufweist. Hier scheint ein beträchtliches Potential für die vergleichende Untersuchung der Konstitution von Bedeutung in verschiedenen Verfahren sozialen Informationsaustausches zu existieren. Lässt sich von der Textlichkeit der Musik sprechen? Ist die Musik eine Sprache? Fragen wie diesen geht der Beitrag von Andreas Haug nach, um sie in einer ebenso innovativen wie instruktiven Kombination von systematischen mit historischen Gesichtspunkten zu beantworten. Dass sich vom ‘Text der Musik’ nur unter jeweils zu spezifizierenden Bedingungen und vom ‘Sprachcharakter der Musik’ nur um den Preis von letztlich nicht zu begründenden Metaphorisierungen resp. konzeptuellen Verschiebungen (oder Unterschlagungen) sprechen lässt, demonstriert Haug im ersten, systematischen Teil seiner Ausführungen. Gefordert sind im Umgang mit diesen Fragen vor allem Differenzierungen: „Kann, wenn Musik nicht Sprache, Notenschrift nicht Schrift ist, der Notentext ein Text sein?“ (S. 7) Wie verhalten sich Text und Werk, Text und Klang und wie Text und Interpretation in der Musik zueinander? Wie sind diese Beziehungen ihrerseits zu den entsprechenden Relationen innerhalb von Sprache und Literatur ins Verhältnis zu setzen? Vor allem wird aus Haugs systematischer Erörterung der aktuellen Forschungsdiskussion deren Bindung an bestimmte historische Voraussetzungen deutlich: an einen neuzeitlichen Begriff musikalischer Komposition, der das Verallgemeinerungspotential dieser Diskussion erheblich einschränkt. Es ist diese latente Bindung der Reflexion über das Medium der Musik an bestimmte ihrer Erscheinungsformen, die Haug in einem zweiten Teil seiner Untersuchung zu einem entscheidenden Moment der europäischen Musikentwicklung führt: in das 9. Jahrhundert, den dort geführten Diskurs über die Musik und die mit ihm verbundene Entstehung der karolingischen Notationssysteme, die sich zugleich als eine maßgebliche Station einer ‘Ur- und Frühgeschichte’ der Frage nach dem Verhältnis von Musik und Text begreifen lassen. Der für die Zukunft entscheidende Aspekt besteht darin, dass „der karolingische Diskurs nicht über Musik geführt [wird], sondern über den Kultgesang der Kirche (cantus) und den Klang der seinen Texten unterlegten Kantilene (cantinlena)“ (S. 20). Die
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Nutzung von antiken Kategorien, die zur Analyse von Sprache entwickelt worden waren, für die Charakteristik von nonverbalen Klängen und Klangfolgen hat nicht nur für die spezifischen Musiktraditionen Europas entscheidende Weichenstellungen mit sich gebracht, sondern ebenso Voraussetzungen für die Frage nach der Beziehung von Text und Musik geschaffen, die bis in die heutzutage geführte – wenn auch vor dem Hintergrund eines gänzlich verschiedenen theoretischen Horizontes stattfindende – Diskussion hinein wirksam sind. *** Ein Band wie dieser käme nicht ohne die Mitwirkung vieler zustande. Dank gebührt natürlich den Vortragenden und Autoren, ebenso wie allen, die sich an den Diskussionen der Tagung, aus der dieses Buch hervorgegangen ist, beteiligt haben. Dank aber gebührt vor allem Frau Dr. Hannelore Rose sowie Herrn Dr. Mark Halawa-Sarholz, die sich ebenso kompetent wie akribisch der Redaktion dieses Bandes angenommen haben. Und Dank gebührt ebenso der Fritz Thyssen Stiftung, die diese Tagung wie auch den Arbeitskreis, dem sie entstammt, und nicht zuletzt die Drucklegung dieses Bandes großzügig fördert. Köln, im Sommer 2020 Andreas Kablitz, Christoph Markschies, Peter Strohschneider
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Die prekäre Textlichkeit der Musik: Zur Genealogie eines modernen Problems 1 Einleitung Der typische Beitrag eines Historikers zur Diskussion eines systematischen Problems besteht im Nachweis von dessen Historizität. In diesem Sinne wird im vorliegenden Aufsatz versucht, einige mit der Frage, ob Musik „nicht nur eine Textur, sondern ein Text“1 sei, zusammenhängende Probleme einer interdisziplinären Diskussion zugänglich zu machen, zugleich aber auch die historische Bedingtheit dieser Frage zu verdeutlichen. Dazu wird ein vorneuzeitliches Kapitel der Vorgeschichte des hier nicht zum ersten Mal erörterten Themas aus diskursgeschichtlicher, begriffsgeschichtlicher2 und mediengeschichtlicher Perspektive neu in den Blick genommen.3 Unter ‘Textlichkeit’ soll dabei die „Gesamtheit aller Eigenschaften, die einen Text zum Text machen“4 verstanden werden. Darüber, welche Eigenschaften das sind, ist zurzeit ein Streit im Gange. Die Gesamtheit dieser Eigenschaften entspricht der Menge der Merkmale, die den Bedeutungsinhalt (die Intention) des Begriffes ‘Text’ ausmachen und somit dessen Bedeutungsum-
1 So formuliert, bezogen auf das musikalische Werk, Karlheinz Stierle, „Der Text als Werk und als Vollzug“, in: Hermann Danuser/Tobias Plebuch (Hrsg.), Musik als Text. Bericht über den Internationalen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung Freiburg im Breisgau 1993, Kassel: Bärenreiter, 1998, S. 8–15, hier: S. 15. 2 Vgl. Dietrich Busse, „Begriffsgeschichte oder Diskursgeschichte? Zu theoretischen Grundlagen und Methodenfragen einer historisch-semantischen Epistemologie“, in Carsten Dutt (Hrsg.), Herausforderungen der Begriffsgeschichte, Heidelberg: Winter, 2003, S. 17–38. 3 Die vorliegende Fassung dieses Beitrags entstand während meines Aufenthaltes als Senior Fellow des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien im Winter 2019/2020. Für die dort genossenen idealen Arbeits- und Diskussionsbedingungen bin ich ebenso dankbar wie für die immense Bereicherung, die der Beitrag der freundlichen Aufmerksamkeit verdankt, die Ludwig Jäger über eine eher selten überquerte Fachgrenze hinweg meinen Bemühungen zuteil werden ließ. Wie unbekümmert ich die in seinen einschlägigen Publikationen vertretenen Thesen auf meine Argumentationsziele hin zurechtgestutzt habe, möge er verzeihlich finden. Innerhalb meines eigenen Fachs ist seit vielen Jahren Charles M. Atkinson mein wichtigster Gesprächspartner, wenn es um Aspekte des in seinem gleichnamigen Buch rekonstruierten ‘Critical Nexus’ geht: Vgl. Charles M. Atkinson, The Critical Nexus: Tone-System, Mode, and Notation in Early Medieval Music, Oxford: Oxford University Press, 2009. 4 Heinz Vater, Einführung in die Textlinguistik, München: Fink, 1992, S. 31. https://doi.org/10.1515/9783110715514-001
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fang (seine Extension) festlegen. Textlichkeit bleibt demnach solange ein prekäres Attribut von Musik, solange die Grenzen des Textbegriffs problematisch sind. Der Streit darüber, was ein bestimmtes Medium zu einem Text macht, lässt sich auch am Medium Musik austragen, aber an diesem einen Medium nicht entscheiden. Statt die Antwort auf die Frage, ob Musik ein Text sei, vom Ausgang eines Streitfalls abhängig zu machen, zu dessen Beilegung er nicht beitragen kann, wendet sich der vorliegende Beitrag den Bedingungen der Möglichkeit zu, diese Frage überhaupt zu stellen. Sie hat sich ja nicht immer schon gestellt. Und das liegt nicht darin begründet, dass Kulturen der Vergangenheit, die wir als ‘Textkulturen’5 auffassen, der Begriff des Textes unbekannt war, sondern weil ihnen der Gedanke selbst fernlag, Texturen nicht-sprachlicher Klänge optimistisch Eigenschaften zuzuschreiben und Leistungen zuzutrauen, die Eigenschaften sprachlicher Lauttexturen gleichen und an deren Leistungen heranreichen; Gleiches gilt für den Impuls, nicht-sprachliche Klänge lesbar oder auch nur sichtbar machen zu wollen. Auch solche Klangformen, die vergangenen Kulturen als Träger religiöser Zuschreibungen oder als eminente Wissensgegenstände teuer waren, haben sie dem Zustand ungebrochener Klanglichkeit und ungestörter Unsichtbarkeit niemals ohne Anlass entfremdet. Worin dieser Anlass bestand, ist freilich nicht immer evident. Deshalb gilt es, wenn eine Kultur beginnt, diesen vertrauten Zustand eines nicht-sprachlichen klanglichen Mediums in Frage zu stellen und durch Vertextlichung und Verschriftlichung des Mediums aufzuheben, den – politischen, gesellschaftlichen oder ideologischen – Störfaktor zu ermitteln, der den Medienwechsel ausgelöst hat. Dabei muss – wenn auf aktuelle Forschungspositionen der Mediensemantik Bezug genommen werden soll – nicht davon ausgegangen werden, durch die Explikation und Transkription eines nicht-sprachlichen klanglichen Mediums ‘als Text’ werde ein diesen intermedialen Bezugnahmen vorgängiger, sozusagen medientranszendenter Zustand des Mediums nachträglich verändert.6 Zumal es gerade im Hinblick auf die historische Dimension der Bezugnahmen nur darauf ankommt, wieweit durch sie bestimmte ‘Eigenschaften’ eines Mediums von Gegenständen impliziten, ‘stillen’ Wissens in Gegenstände eines expliziten,
5 Martin Irvine, The Making of a Textual Culture. ‘Grammatica’ and Literary Theory, 350–1100, Cambridge/New York: Cambridge University Press, 1994. 6 Vgl. Ludwig Jäger, „Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen“, in: Sybille Krämer (Hrsg.), Performativität und Medialität, München: Fink, 2004, S. 35–73; ders., „Transkription“, in: Christina Bartz et al. (Hrsg.), Handbuch der Mediologie. Signaturen des Medialen, München: Fink, 2012, S. 306–315.
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geschichtsträchtigen Wissens verwandelt wurden und welche geschichtlichen Folgen diese Verwandlung nach sich zog.7 Im ersten Teil des Beitrags wird die Frage nach der Textlichkeit von Musik in jener Form umrissen, in der sie sich uns heute stellt. Im zweiten Teil wird ein im 9. Jahrhundert einsetzender Diskurs identifiziert, der nicht über Musik geführt wurde, in dessen Thema sich aber so etwas wie eine historische Präfiguration des modernen Themas ‘Musik als Text’ ausmachen lässt. Zugleich wird ein im Rahmen dieses Diskurses ausgearbeitetes Denkmodell rekonstruiert, das als ‘Karolingisches Modell melodischer Textlichkeit’ bezeichnet werden soll. Ziel seiner Rekonstruktion wird sein, das alteritäre Denkmodell als eine, wenn nicht als die diskursgeschichtliche Bedingung der Möglichkeit einer späteren Ausbildung der Denkform ‘Musik als Text’ wahrscheinlich zu machen. Wenn ein von Theoretikern des 9. Jahrhunderts ausgearbeitetes Denkmodell von medienwissenschaftlichen Forschungspositionen aus beleuchtet wird, geschieht das selbstredend nicht, um es als rudimentären, allenfalls historisch signifikanten Versuch erscheinen zu lassen, sich an Probleme heranzutasten, die die moderne Medienwissenschaft inzwischen überzeugender gelöst hat. Im Gegenteil mag man einen Vorzug des vormodernen Textlichkeitsmodells darin sehen, dass es unbelastet von Problemen entwickelt wurde, die sich aufwerfen, seit problematisch ist, was einen Text ‘zum Text macht’.
2 Konturen des modernen Problems 2.1 ‘Notenschrift’, ‘Notenlesen’, ‘Notentext’ Lassen sich im Medium Musik Texte bilden, die sprachlichen Texten in systematisch relevanter Hinsicht gleichen? Die Bedenkenlosigkeit, mit der wir Ausdrücke wie ‘Notenschrift’, ‘Notenlesen’ oder ‘Notentext’ verwenden, Töne als ‘Noten’ bezeichnen und statt von einem Klangtext von einem nach den Zeichen der Notenschrift benannten Notentext sprechen, legt diese Frage nahe, ohne sie zu erledigen; denn die theoretische Begründung einer positiven (oder negativen) Antwort nimmt uns der vorbegriffliche Gebrauch solcher Ausdrücke ja nicht ab.
7 Vgl. Michael Polanyi, The Tacit Dimension, Garden City/NY: Doubleday & Company, 1966. Deutsche Ausgabe unter dem Titel: Implizites Wissen, übers. von Horst Brühmann, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1985.
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Die Ausdrücke ‘Notenschrift’ und ‘Notenlesen’ bekunden den Anspruch eines klangbezogenen Zeichensystems, als eine Form von Schrift zu gelten, ohne das daran geknüpfte Versprechen der Lesbarkeit von Musik einlösen zu müssen; dass wir ‘Ton’ und ‘Note’ synonym verwenden, unterstreicht, wie eng die Vorstellungen ‘Notentext’ und ‘Notenschrift’ beieinander liegen, ohne anzuzeigen, ob der Notentext zurecht als eine Art von Text, Notenschrift zurecht als eine Art von Schrift bezeichnet wird; und ein aus dem Ausdruck ‘Notentext’ allein abgeleiteter Anspruch von Musik auf Textlichkeit würde erhoben, ohne dass ersichtlich wäre, mit welchen Implikationen dieser tatsächlichen oder vermeintlichen Eigenschaft ernsthaft gerechnet wird: Beglaubigt sie die Sprachähnlichkeit von Musik? Gewährleistet sie ihre Schreibbarkeit und Lesbarkeit? Relativiert sie ihre Klanglichkeit und Zeitlichkeit, indem sie eine Klangkunst zur Produktion vom Erklingen unabhängiger, eine Zeitkunst zur Produktion der Zeit entwundener Werke ermächtigt? Sichert sie dem Komponisten dieser Werke den Status eines Autors? Ermöglicht sie dem Medium Musik, nicht nur ‘Präsenzeffekte’, sondern auch ‘Sinneffekte’ zu produzieren?8 Erlegt sie Verbindungen von Klängen, die keine sprachlichen, ja nicht einmal immer stimmliche Laute sind, eine Bezeichnungsleistung auf, die an die Leistung sprachlicher Lautverbindungen heranreicht? Verbürgt sie die Verstehbarkeit von Äußerungen im Medium Musik? Bedingt sie die Auslegungsbedürftigkeit ihrer Werke? Treten, mit anderen Worten, im notenschriftlich festgehaltenen Notentext, wie es beim schriftlich stillgestellten sprachlichen Text der Fall ist, Geschriebenes und Gemeintes einander gegenüber? Als der Musiktheoretiker Hugo Riemann im 19. Jahrhundert kanonische Musikwerke der Vergangenheit ergänzt durch Angaben zu ihrer sinngerechten Aufführung herausgab, wollte er seine Zusätze nicht als Eingriff in den Notentext der Werke, sondern als deren musikalischen Sinn erschließende Kommentare verstanden wissen, die den gleichen Zweck erfüllen „wie die Kommentare schwer verständlicher Dichtungen: die Wege zu weisen, wie man zwischen den Zeilen liest, wie man vom primitiven Ablesen dessen, was da steht, zum wirklichen Verständnis des Sinnes vordringt“9. Bürdet die Textlichkeit des musikalischen Werks seiner Aufführung also eine Deutungsleistung auf? Einer Tätigkeit, von der man selbst dann noch als von einer bloßen „An-, Auf- und Ausführung einer Musik“10 sprach, als man im 18. Jahrhundert dazu übergegangen war, sie mit einem aus der Fachsprache der Rhetorik übernommenen Begriff als ‘Vortrag’ zu bezeichnen und
8 Im Sinne von Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, übers. von Joachim Schulte, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2004. 9 Hugo Riemann, Vademecum der Phrasierung, Leipzig: Hesse, 31912, S. 15. 10 Johann Mattheson, Der vollkommene Kapellmeister, Hamburg: Christian Gerold, 1739, S. 479.
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„mit dem Vortrage eines Redners“ zu vergleichen?11 Damit stufte man das Singen oder Spielen zwar als eine dem wirkungsvollen Vortrag sprachlicher Texte vergleichbare Leistung ein. Das setzt aber nur voraus, dass man in Musik eine Art von Text, nicht, dass man in ihr eine Art von Sprache sah; und dass selbst vom Vortrag eines Redners zunächst einmal „Abwechslung des Tones in Silben und Wörtern“12 gefordert wurde, spricht dafür, dass man auch im Vortrag eines Musiker zwar kein bloßes Ablesen, Abspielen oder Absingen von Notenzeichen, aber auch keinen Akt der Textauslegung erblickte.13 Eine emphatische Aufwertung der musikalischen Reproduktion zu einem veritablen Akt der Interpretation ist begriffsgeschichtlich erstmals zu Beginn des 19. Jahrhunderts belegt, also erst zu Beginn jener Epoche, in der (sofern diese Feststellung Hans-Joachim Hinrichsens zutrifft) „die Wissenschaft der Textauslegung ihre Umdefinition zu einer Auslegungsk u n s t erfuhr“.14
2.2 Notenschrift nicht Schrift, Musik nicht Sprache Im 20. Jahrhundert hat Theodor W. Adorno der Idee eines von den Notenzeichen zum Sinn des Notentextes vordringenden Verstehens eine vielzitierte Absage erteilt: „Sprache interpretieren heißt: Sprache verstehen; Musik interpretieren: Musik machen.“15 Aber das Machen, das Adornos Diktum dem Verstehen auf so schroffe Weise gegenüberstellt, meint nicht bloßen Vollzug, sondern einsichtsvollen, mimetischen Nachvollzug; nicht Gehorsam gegenüber vorgeschriebenen Tönen, sondern Treue gegenüber den Tonbeziehungen, deren intramediale Logik den Sinn des Notentextes konstituiert. Dass die Partitur Töne vorschreibe, Tonbeziehungen aber abbilde, ist die Pointe einer von Adorno wiederholt betonten Besonderheit der europäischen Notenschrift, die er als „Zweiheit des sig-
11 Johann Joachim Quantz, Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen, Berlin: Johann Friedrich Voß, 1752, S. 100. 12 Johann Christian Gottsched, Ausführliche Redekunst, Hannover: Förster, 1728, S. 364. 13 Dazu: Ulrich Siegele, „Vortrag“, in: Friedrich Blume (Hrsg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 14, Kassel u. a.: Bärenreiter, 1968, Sp. 16–31. 14 Hans-Joachim Hinrichsen, „Was heißt ‚Interpretation‘ im 19. Jahrhundert? Zur Geschichte eines problematischen Begriffs“, in: Claudio Bacciagaluppi/Roman Brotbeck/Anselm Gerhard (Hrsg.), Zwischen schöpferischer Individualität und künstlerischer Selbstverleugnung. Zur musikalischen Aufführungspraxis im 19. Jahrhundert (= Musikforschung der Hochschule der Künste Bern, Bd. 2), Schliengen: Edition Argus, 2009, S. 13–25, hier: S. 14. 15 Theodor W. Adorno, „Fragment über Musik und Sprache“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 16, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1978, S. 253.
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nifikativen und gestischen Moments“16 umschreibt; in semiotischen Begriffen: Notenschrift bildet kein System durchgängig symbolischer Zeichen, sondern ein Zeichensystem, dem ikonische Momente eingeschrieben sind, Züge einer „Gestenschrift“.17 Indem diese gestischen Momente die Klangbewegung der Musik mit „bildlicher Treue“ wiedergeben, unterwandern sie die „signifikative Starrheit“ schriftlicher Zeichen.18 Die Zweiheit von signifikativer Eindeutigkeit und gestischer Unmittelbarkeit begründet eine der Notenschrift und dem Notentext innewohnende „Zone der Unbestimmtheit“, die eine Reproduktion des Notentextes hindert, zu einer subalternen Rezitation von Zeichen herabzusinken, aber eben keineswegs, um sie zur Interpretation des Geschriebenen zu zwingen, sondern um sie auf eine Mimesis des Gemeinten zu verpflichten.19 Die Grenzen, die das Moment gestischer Unmittelbarkeit zugleich der Schriftähnlichkeit der Notenschrift und der Textähnlichkeit des Notentextes setzt, entsprechen den Grenzen, in die Adorno die Sprachähnlichkeit der Musik verweist: „Sprachähnlich ist sie als zeitliche Folge artikulierter Laute, die mehr sind als bloß Laut“;20 denn sie „sagen“ etwas: „Die Folge der Laute ist der Logik verwandt: es gibt Richtig und Falsch. Aber das Gesagte lässt von der Musik nicht sich ablösen. Sie bildet kein System von Zeichen.“21 Weil ihre Laute kein System arbiträrer Zeichen bilden, ist Musik nicht Sprache; weil sie keine Struktur diskreter Zeichen bilden, lässt sich Musik nicht wirklich schreiben: Kein von ikonischen Momenten gänzlich freies System rein symbolischer Zeichen könnte aus Adornos Perspektive das musikalische Werk adäquat, das heißt: in adäquat reproduzierbarer Form repräsentieren. Notenschrift gleicht der Schrift, ist aber nicht nur Schrift; weder ganz Schrift noch ganz Bild, ist sie ein Medium von ‘Schriftbildlichkeit’ oder eine Kategorie des Diagramms.22
16 Theodor W. Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion: Aufzeichnungen, ein Entwurf und zwei Schemata (= Nachgelassene Schriften. Abt. 1: Fragment gebliebene Schriften, Bd. 2), hrsg. von Henri Lonitz, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001, S. 234. 17 Ebd., S. 233. 18 Ebd., S. 236 (Hervorhebungen von mir, A. H.). 19 Ebd., S. 239 et passim. 20 Theodor W. Adorno, „Musik, Sprache und ihr Verhältnis im gegenwärtigen Komponieren“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 16, S. 649. 21 Ebd. 22 Vgl. Sybille Krämer/Eva Cancik-Kirschbaum/Rainer Totzke (Hrsg.), Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen, Berlin: Akademie Verlag, 2012. Neue Erkenntnisse zum Thema Notation als Diagramm aus historischer Perspektive bietet: Konstantin Voigt, „From Lyre to Staff – Diagrams, Neumes and the Visualization of Tone Systems and Melodies from Boethius to Guido of Arezzo“ (Druck in Vorbereitung).
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Dass das Notieren von Musik nicht nur als ein Vorgang des Schreibens, sondern auch als ein Vorgang des Abbildens begriffen werden dürfe, und die Aufführung von Musik nicht als eine hermeneutische, sondern als eine mimetische Handlung begriffen werden müsse: das hängt unmittelbar damit zusammen, dass Musik in Adornos Augen nicht der Mitteilung eines Gemeinten, wohl aber der Mimesis des Meinens mächtig ist. Dass Musik intramedialen Sinn generiert, ohne extramediale, referentielle Bedeutung anzunehmen, begründet kein semantisches Defizit gegenüber der Sprache, sondern ihre mediale Autonomie: So wenig Musik für Sprache eintreten kann, kann Sprache für Musik eintreten. (Insofern sind die weiter unten zu erörternden Versuche, Musik als Sprache auszuzeichnen, nicht nur vergeblich; sie tun ihr auch keinen Gefallen.) Die Autonomie des Mediums Musik muss heute niemand mehr in dem utopischen Potential ihres Bestrebens erkennen, den „göttlichen Namen“ selbst zu nennen, das Adorno 1928 emphatisch als den „theologischen Aspekt“ der Musik bezeichnet hat.23 Worauf es aber im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung ankommt: Hängt die mediale Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit der Musik und ihre Unvertretbarkeit durch Sprache in systematischer Hinsicht davon ab, ob Formationen nicht-sprachlicher Klänge im Zustand eines eigenständigen, von der Textlichkeit von Sprache verschiedenen Modus von Textlichkeit auftreten können, und in historischer Hinsicht davon, dass solche Klangformationen irgendwann in diesen Zustand eingetreten sind?
2.3 Intention und Extension des musikbezogenen Textbegriffs Kann, wenn Musik nicht Sprache, Notenschrift nicht Schrift ist, der Notentext ein Text sein? Das scheint davon abzuhängen, was man unter einem Text versteht: Wollten wir nur Zusammenhänge solcher Klänge, die Zeichensysteme bilden, als Sprache beurteilen (was durchaus vernünftig erscheint) und nur Zusammenhänge sprachlicher Zeichen als Texte (was umstritten ist), bliebe uns nichts anderes übrig, als die Frage zu verneinen. Zwei definitorische Kunstgriffe versprechen Auswege zu einer positiven Antwort. Einmal lässt sich der Bedeutungsumfang des Textbegriffs auf nicht-sprachliche Bezugsgegenstände ausweiten, indem man seinen Bedeutungsinhalt dahin-
23 Zum ideengeschichtlichen Kontext von Adornos „Fragment über Musik und Sprache“: Sabine Bayerl, Von der Sprache der Musik zur Musik der Sprache. Konzepte zur Spracherweiterung bei Adorno, Kristeva und Barthes, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002.
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gehend eingrenzt, dass man die Menge der den Begriff bestimmenden Merkmale des Merkmals der Sprachlichkeit beraubt. Seine Preisgabe mag sich mit jener Entgrenzung des Textbegriffs rechtfertigen, die in den letzten 40 Jahren von einer Richtung der Kulturwissenschaft ausgegangen ist, die sich als Kultursemantik begreift und daher auf die Lesbarkeit auch nicht-sprachlicher Phänomene der Kultur methodisch angewiesen ist. So werden in einer auf das kulturwissenschaftliche Paradigma eingeschworenen Richtung der Musikwissenschaft auch Musikwerke im erweiterten Sinn des Wortes ‘gelesen’. Bei der strategischen Erweiterung des Textbegriffs, die uns des Zeichencharakters nonverbaler Kulturprodukte vergewissern will, wird die Begrenzung seiner Intention als Preis für die Entgrenzung seiner Extension in Kauf genommen; in den originären Textwissenschaften, denen dieser Preis zu hoch ist, stößt die Preisgabe des Textmerkmals der Sprachlichkeit hingegen auf Protest.24 Harmloser ist die Lösung, den Begriffsstatus der Vokabel ‘Text’, die in der Bedeutung ‘Gewebe, Machart, Textur’ als lexikalisierte Metapher25 seit der Antike auf Gesprochenes und Geschriebenes angewendet wurde, zu widerrufen und mit ihrer vorbegrifflichen Bedeutung vorlieb zu nehmen. Das hat der Musikwissenschaftler Helmut Danuser vorgeschlagen. Er wollte die Formulierung ‘Musik als Text’ (als Titel einer Tagung) so verstanden wissen, dass die lexikalisierte Metapher ‘Text’ lediglich in re-metaphorisierter oder de-lexikalisierter Bedeutung auf Musik bezogen werden soll.26 Dieser Schachzug kann sich auf den lexikographischen Befund berufen, dass die Wortgeschichte von ‘Text’ lange vor dessen Begriffsgeschichte einsetzt, die (wie Clemens Knobloch konstatiert) „eigentlich erst mit dem Problematischwerden des Gegenstandes Text (und mit der Theoriebildung darüber) im 20. Jahrhundert beginnt.“27
24 Vgl. Ulla Fix et al. (Hrsg.), Brauchen wir einen neuen Textbegriff? Antworten auf eine Preisfrage, Frankfurt/M.: Lang, 2000. 25 Im Sinne der von Gerhard Kurz getroffenen Unterscheidung zwischen „kreativen“, „konventionalisierten“ und „lexikalisierten“ Metaphern: Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 52004, S. 7–27. 26 Hermann Danuser, „Der Text und die Texte. Über Singularisierung und Pluralisierung einer Kategorie“, in: Danuser/Plebuch (Hrsg.), Musik als Text, S. 38–44, hier: S. 40. 27 Clemens Knobloch, „Text/Textualität“, in: Karlheinz Barck et al. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 6, Stuttgart: Metzler, 2015, S. 23–48, hier: S. 26. Siehe auch Clemens Knobloch, „Zum Status und zur Geschichte des Textbegriffs. Eine Skizze“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 20 (1990), S. 66–87, sowie Maximilian Scherner, „‘Text’. Untersuchungen zur Begriffsgeschichte“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 39 (1996), S. 103–160.
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Dass beide Versuche, sich der Textlichkeit von Musik durch definitorische Festlegungen zu vergewissern, auf einen ermäßigten Modus von Textlichkeit hinauslaufen, ist evident; deshalb sind sie, sofern sie darauf abzielen, Musik durch ein ‘Wesensmerkmal’ auszuzeichnen, das sie anderen nicht-sprachlichen Künsten überlegen und der Sprachkunst gleichrangig erscheinen lässt, vergeblich: Wenn alle möglichen nicht-sprachlichen Texturen als Texte gelten, wertet es sie anderen nicht-sprachlichen Künsten gegenüber nicht auf; wenn nichtsprachliche Texte nur als Texturen gelten, stellt es sie nicht der Sprachkunst gleich.
2.4 Jedes Werk eine Komposition Die Musikwissenschaft setzt sich mit der Frage, ob der Musik das Attribut der Textlichkeit zukomme, schon länger auseinander.28 Allerdings bleibt die bisherige Auseinandersetzung bei einer Form der Frage stehen, in der sich diese erst unter den begriffs- und diskursgeschichtlichen Rahmenbedingungen der europäischen Moderne stellt, das heißt: bezogen auf einen Musikbegriff neuzeitlicher und einen Textbegriff moderner Provenienz. Im Hinblick auf den Musikbegriff bedeutet das: Musik stellt sich in der Gestalt, in der Aspekte ihrer Textlichkeit zu einem wissenschaftlichen Problem geworden sind, als eine dem Ensemble der ‘Schönen Künste’ zugehörige Kunstgattung dar, die Kunstwerke hervorbringt, welche als Werke einer Klangkunst und einer Zeitkunst nach transitorischer Präsenz im Moment der Performanz, als Werke solcher Künste nach Permanenz im Medium der Notation verlangen. Genauer gesagt: Weil das musikalische Werk nur, wenn es aufgeführt wird, „wirklich existiert“, seine Existenz aber nicht in seiner Aufführung, sondern „in der Identität seiner Aufführungen“ besteht (eine Einsicht, mit der Ferdinand de Saussure in einer seiner hinterlassenen Notizen einen zentralen Gedanken Nelson Goodmans vorweggenommen hat)29, existiert es nur, wenn seine Identität durch eine Partitur gesi-
28 Vgl. Danuser/Plebuch (Hrsg.), Musik als Text. Zusätzlich zu diesem repräsentativen Tagungsband sei auf den Artikel von Stanley Boorman, „The Musical Text“, in: Nicholas Cook/Mark Everist (Hrsg.), Rethinking Music, Oxford/New York: Oxford University Press, 1999, S. 403–423, hingewiesen. Vgl. außerdem Andreas Jacob, „Zum Textcharakter von Musik als Bildungsgegenstand“, in: ders. (Hrsg.), Musik – Bildung – Textualität (= Erlanger Forschungen. Reihe A: Geisteswissenschaften, Bd. 114), Erlangen: Universitätsbund Erlangen-Nürnberg, 2007, S. 111–120. 29 Ferdinand de Saussure, Wissenschaft der Sprache. Neue Texte aus dem Nachlass, übers. von Elisabeth Birk und Mareike Buss, herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Ludwig Jäger, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003, S. 93: „Wirklich existiert [die] musikalische Komposition
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chert wird, deren „primäre Funktion die autoritative Identifikation eines Werkes von Aufführung zu Aufführung“ ist (wie Goodman später selbst argumentiert).30 Einerseits stellt „nur eine vollständige Erfüllung der Partitur“ den „echten Einzelfall eines Werkes“ dar; anderseits ist die einzige Forderung, die an einen „echten Einzelfall“ des Werkes gestellt wird, dass er dessen Partitur vollständig erfüllt, eine Forderung, der nur eine Aufführung genügt, die keinen einzigen in der Partitur verzeichneten Ton veruntreut (worauf Goodman insistiert).31 Dieses für Goodmans Theorie des musikalischen Werkes und seiner Notation unerlässliche Kriterium bedingt indessen die kulturelle und historische Relativität dieser Theorie. Denn damit die Aufführung sie einzeltongetreu erfüllen kann, muss eine Partitur das Werk einzeltongenau identifizieren. Dazu muss es sich einzeltongenau notieren lassen. Und das setzt wiederum voraus, dass sich das Werk der Notation im Zustand eines auf der Ebene seiner kleinsten veränderlichen Bausteine unveränderlich festgelegten Gefüges aufeinander bezogener Klangeinheiten darbietet. Nur wenn eine Notation voneinander abgrenzbare Klangereignisse durch einzelne Zeichen darstellt wie die Buchstaben der Schrift die Laute der Sprache, kann sie eine singuläre Zusammenstellung autoritativ aufeinander bezogener Klänge so eindeutig identifizieren wie die Schrift einen Text. Ein absichtsvoll geformtes, als invariantes System von Relationen seiner variablen Elemente konzeptualisiertes Klanggebilde identifiziert der Begriff der musikalischen Komposition. Das ist bezogen auf Musik ein neuzeitlicher Begriff. Aber das Konzept, das er so einprägsam benennt, und dessen Entwicklung historisch der Begriffsbildung vorausging, scheint ein spezifisch europäisches Konzept zu sein.32 Jedenfalls bildet es die Basis von Goodmans semiotischem Begriff des
nur, wenn man sie aufführt; aber es ist falsch, diese Aufführung für ihre Existenz zu halten. Ihre Existenz besteht in der Identität der Aufführungen.“ 30 „A score, whether or not ever used as a guide for a performance, has as a primary function the authoritative identification of a work from performance to performance“ (Nelson Goodman, Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, Indianapolis/Cambridge: Hackett, 21976, S. 128). Vgl. stellvertretend für eine Anzahl neuerer philosophischer Beiträge zur Theorie des musikalischen Werkes Gunnar Hindrichs, „Das musikalische Kunstwerk als Idealtyp europäischer Musik“, in: Ottfried Höffe/Andreas Kablitz (Hrsg.), Europäische Musik – Musik Europas, München: Fink, 2017, S. 11–30. 31 „Since complete compliance with the score is the only requirement for a genuine instance of a work, the most miserable performance without actual mistakes does count as such an instance, while the most brilliant performance with a single wrong note does not“ (Goodman, Languages of Art, S. 186). 32 Vgl. Markus Bandur, „Compositio/Komposition“ (1996), in: Hans Heinrich Eggebrecht/Albrecht Riethmüller (Hrsg.), Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, Wiesbaden: Steiner, 1971–2006, sub voce.
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musikalischen Werkes und der Zeichenrelation zwischen Partitur und Werk, von der dieser Werkbegriff getragen wird. Pointiert gesagt: Jedes musikalische Werk ist eine klangliche Komposition. Die für Goodmans Werkbegriff konstitutive eindeutige Erfüllbarkeit der Partitur ist mit einer der Notation eingeschriebenen Zone der Unbestimmtheit, wie sie für Adornos Musikbegriff konstitutiv ist, offensichtlich unvereinbar. Die beiden Konzepte eines Notentextes, dessen Existenz in der Identität seiner klanglichen Reproduktionen besteht, und einer Notenschrift, die diesen Notentext nicht eindeutig identifiziert, seine Identität von Reproduktion zu Reproduktion nicht eindeutig festlegt, sind systematisch nicht kompatibel, aber historisch koexistent. Goodman und Adorno argumentieren mit jenem neuzeitlich konnotierten Musikbegriff, als dessen letzte maßgebliche philosophische Exponenten sie hervorgetreten sind und an dem sich auch die musikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Denkform ‘Musik als Text’ orientiert.
2.5 Jede Komposition ein Text Was den diese Auseinandersetzung leitenden Textbegriff betrifft, wird die als Eigenschaft von Musik in Betracht gezogene, ihr bescheinigte oder streitig gemachte Textlichkeit weithin als ein genuines Merkmal des sprachlichen Textes (eines „strukturierten und kohärenten Zusammenhangs von sprachlichen Einheiten“33) oder des verschriftlichten literarischen Textes (eines „abgeschlossenen und schriftlich niedergelegten Sprachwerks“34) verstanden. Das bedeutet: Um als Text eingestuft zu werden, muss das Produkt der Musik analog zum sprachlichen Text als ein strukturierter und kohärenter Zusammenhang, um als Werk bewertet zu werden, analog zum literarischen Text als ein integraler, autoritativer und notierter Zusammenhang klanglicher Einheiten auftreten. Auf sprachliche Produkte bezogen bestimmt sich ‘Text’ in Opposition zu ‘Rede’, zu ‘Interpretation’ oder zu ‘Literatur’.35 Der Textbegriff kann das verschriftlichte vom mündlichen Sprachprodukt, das auszulegende Sprachprodukt von seiner Auslegung oder das nichtliterarische vom literarischen Sprachprodukt unterscheiden. In einer aktuellen Debatte der historischen Textwissen-
33 Lemma „Text“, in: Daniel Wrana et al. (Hrsg.), Diskursnetz. Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2016, S. 404–405, hier: S. 405 (Hervorhebung von mir, A. H.). 34 Knobloch, „Text/Textualität“, S. 31 (Hervorhebung von mir, A. H.). 35 Vgl. ebd., S. 26.
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schaft wird ‘Text’ in Opposition zu ‘Literatur’ strategisch eingesetzt, um der Subsumierung vorneuzeitlicher Textkorpora – namentlich solcher religiöser Funktion – unter den evaluativen Literaturbegriff terminologisch einen Riegel vorzuschieben.36 Bezogen auf Musik bestimmt sich ‘Text’ – analog zu seinen sprachbezogenen Verwendungsweisen – in Opposition zu ‘Klang’ oder zu ‘Interpretation’. Von der Option, mittels des Textbegriffs eine Subsumierung vorneuzeitlicher Musikformen unter den Werkbegriff zu verhindern, scheint die Musikwissenschaft noch keinen Gebrauch gemacht zu haben (so wie sie sich scheut, die Erforschung alteritärer Erscheinungsformen des musikhistorischen Gegenstandes, statt sie unverdrossen für die Domäne des im neuzeitlichen Sinne Musikalischen zu reklamieren, konsequent auf den Begriff des Klangs zu gründen).37 Um den Kompositionsbegriff wieder ins Spiel zu bringen: Soweit eine Klangformation als Komposition auftritt (als invariantes System diskreter, kompositorisch disponibler aufeinander bezogener Klangeinheiten), gleicht dies im Hinblick auf die beiden bereits festgestellten Merkmale Strukturalität und Kohärenz dem sprachlichen Text wenigstens hinsichtlich dieser beiden systematisch relevanten Eigenschaften.38 Pointiert gesagt: Jede musikalische Komposition ist ein klanglicher Text. Aber nicht jede Komposition ist ein Werk. Dem literarischen Werk gliche eine Komposition nur dann, wenn ihre minimalen disponiblen Elemente zumindest der ästhetischen Idee nach nicht nur aufeinander, sondern zugleich auch auf jenes autoritative singuläre Ganze bezogen wären, als das in der europäischen Moderne auch das Werk der Musik konzipiert, rezipiert, ästhetisch gewürdigt oder ideologiekritisch problematisiert wird.39
36 Vgl. Burkhard Hasebrink/Peter Strohschneider, „Religiöse Schriftkultur und säkulare Textwissenschaft: Germanistische Mediävistik in postsäkularem Kontext“, in: Poetica 46 (2014), S. 277–291. 37 Vgl. Holger Schulze (Hrsg.), Sound Studies: Traditionen – Methoden – Desiderate. Eine Einführung, Bielefeld: transcript, 2008. 38 Das hier als ‘Kohärenz’ bezeichnete Merkmal entspricht weder dem, was Beaugrande und Dressler unter ‘Kohäsion’, noch dem, was sie unter ‘Kohärenz’ verstehen; vgl. Robert de Beaugrande/Wolfgang Dressler, Einführung in die Textlinguistik, Tübingen: Niemeyer, 1981. 39 Innerhalb der Musikwissenschaft intensiv diskutiert: Lydia Goehr, The Imaginary Museum of Musical Works: An Essay in the Philosophy of Music, Oxford: Oxford University Press, 1992.
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2.6 Musik ‘als’ In Diskussionen über die Textlichkeit von ‘Musik’ wird gern aneinander vorbeigeredet. Denn wenn von ‘Musik als Text’ die Rede ist, ist nicht immer ohne weiteres ersichtlich, ob die Textlichkeit einer Kunstgattung, eines Kunstwerks oder des Symbolsystems gemeint ist, in dem das Werk kodiert ist, metaphorisch ausgedrückt: seiner Sprache. Ob nämlich von ‘Musik als Text’ bezogen auf ‘Musik als Kunst’ (unter Künsten), auf ‘Musik als Werk’ (dieser Kunst) oder auf ‘Musik als Sprache’ (dieses Werks) gesprochen wird, lässt sich mithilfe ebendieser Formeln zwar jeweils zweifelsfrei umschreiben; kurzerhand begrifflich auseinanderhalten lässt sich das aber deshalb nicht, weil auf Musik bezogen keine den Begriffen Text, Literatur und Sprache korrespondierende Trias differenter Begriffe existiert. Die mit sprachlichen Forschungsgegenständen befassten Wissenschaften sind gegenüber der Musikwissenschaft insofern begünstigt, als sie deren Erforschung auf jeweils einen dieser drei Begriffe – nach denen sie sich auch benennen – gründen können; dagegen zeigt sich, ob mit Musik die Kunst dieses Namens, deren Werk oder dessen Sprache gemeint ist, nur daran, womit sie verglichen wird: mit Literatur (der poetischen Praxis oder deren Produkt), mit dem Text als ‘Rede’ oder mit Sprache ‘als System’. So denkt der Musikwissenschaftler Boris Previšić an Kunstgattungen, wenn er die „Klanglichkeit von Musik“ mit der „Textlichkeit von Literatur“ konfrontiert, um zu erkennen: „Musik ist nicht nur Klang, Literatur nicht nur Text.“40 Der Literaturwissenschaftler Karlheinz Stierle hat das Werk im Blick. Seine Reflexionen zum Thema „Der Text als Werk und als Vollzug“ zielen auf die Frage: „Ist das musikalische Werk nicht nur eine Textur, sondern ein Text?“41 Und um einer positiven Beantwortung dieser Frage den Weg zu ebnen, zeigt er sich bereit, die Textlichkeit des musikalischen Werks nicht an der des literarischen, sondern (nur) an der des nichtliterarischen Textes zu messen; erwägt er doch, ob „eine moderne Texttheorie, die den Text weder als Autorität noch als Werk, sondern als eine Struktur des Redevollzugs und seiner schriftlichen Sedimentierung begreift“, sich fruchtbar machen lasse „für eine Theorie des musikalischen Werkes und seiner Kohärenz in der Zeit“.42 Der Sprachwissenschaftler Manfred Bierwisch wiederum
40 Boris Previšić, „Klanglichkeit und Textlichkeit von Musik und Literatur“, in: Nicola Gess/Alexander Honold (Hrsg.), Handbuch Literatur und Musik, Berlin/Boston: de Gruyter, 2017, S. 39–54, hier: S. 39. 41 Karlheinz Stierle, „Der Text als Werk und als Vollzug“, in: Danuser/Plebuch (Hrsg.), Musik als Text, S. 8–15, hier: S. 15. 42 Ebd., S. 15. (Hervorhebung von mir., A. H.)
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meint weder ‘Musik als Kunst’ noch ‘Musik als Werk’, sondern ‘Musik als Sprache’, wenn er unter der Überschrift „Sprache – Musik – Bild“ erklärtermaßen nicht drei Künste oder – wie er den Kunstbegriff bewusst umgehend sagt – die drei „Bereiche“ Literatur, Musik und bildende Kunst miteinander vergleicht, sondern „die Eigenart der Zeichensysteme, auf denen die verschiedenen Bereiche beruhen“; also auch nicht „die Werke, die dadurch möglich werden“.43 Die Ergebnisse dieses Vergleichs sind absolut überzeugend begründet, fallen aber, soweit sie die Musik betreffen, nicht überraschend aus: Die Lautstruktur der Musik sei zwar „zum Teil konventionsbedingt“, habe aber „keine dem jeweiligen Lautmuster rein konventionell zugeordnete Bedeutung“; die durch Musik vermittelte Bedeutung sei „nicht wie in der Sprache die von Begriffen und Aussagen“44, also „nicht propositionaler Natur“45. Nichts anderes meint im Prinzip auch schon Adorno, wenn er sagt, die Lautstruktur der Musik bilde gar kein System von Zeichen. Wenn unter dieser entmutigenden Prämisse an der – anscheinend einem starken ästhetischen oder kunstideologischen Wunsch geschuldeten, semiotisch offenbar nicht begründbaren – Idee festgehalten werden soll, das musikalische Werk sei „nicht nur eine Textur, sondern ein Text“, wird man sich wohl mit einem musikalischen Text begnügen müssen, der mit dem sprachlichen Text zwar die Eigenschaften Strukturalität und Kohärenz teilt, die Leistungen der Signifikation und der Prädikation, die von einem sprachlichen Text erwartet werden, aber schuldig bleibt.
2.7 Tonsprache, Tonkunst Unabhängig davon, ob ‘Text’ bezogen auf Musik in Opposition zu ‘Klang’ oder zu ‘Interpretation’ verstanden wird: Beharrlich orientieren sich die Ansprüche an den musikalischen Text, wenn nicht am ästhetischen Rang des literarischen, so doch am semantischen Potential des sprachlichen Textes; und obwohl diese Ansprüche theoretisch nicht gedeckt sind, scheint die Frage, ob Musik ein Text sei, die Musikwissenschaft nicht loszulassen. Was ist es, was diese Frage allen semiotisch noch so fundierten Einwänden zum Trotz plausibel, belangvoll oder dringlich erscheinen lässt?
43 Manfred Bierwisch, „Sprache – Musik – Bild. Zeichentypen und ihre Konsequenzen“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 155 (2009), S. 8–34. 44 Ebd., S. 17. 45 Ebd., S. 18.
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Ihre Plausibilität dürfte die Frage zu einem nicht geringen Teil der Suggestivkraft der im Topos ‘Tonsprache’ prägnant verdichteten Idee verdanken, Musik sei (gleichsam) eine (Art von) Sprache. Diese Idee kam (wie ihre Untersuchung durch Fritz Reckow zeigt) nicht vor dem 17. Jahrhundert auf; und „der Allgemeinbegriff Sprache selbst wurde in einschlägigen Erörterungen“ sogar „erst seit dem 18. Jh. auf die Musik angewandt“.46 Der Topos bringt eine an Musik herangetragene Erwartung zum Ausdruck, die er „allenfalls verdeutlichen, nicht aber begründen oder rechtfertigen kann.“47 Bevor er im 20. Jahrhundert zusehends der Banalität verfiel, konnte er sich in „der klassischen pragmatisch-heuristischen ToposFunktion“ als eine „Such- und Rahmenformel“ beim Aufspüren eventueller Ähnlichkeiten zwischen Musik und Sprache bewähren, zu einem Gemeinplatz ihrer platten Gleichsetzung herabsinken und in „fragwürdig-pauschalen Verwendungen“ als eine „bis zur ideologischen Korrumpierbarkeit verfügbare und zugleich respektheischende Prestigeformel“ eingesetzt werden.48 Seit der französischen Aufklärung wurde er „gern dazu gebraucht, der anthropologischen Überzeugung von der immer und überall gleichen menschlichen Natur wie auch den hierauf gegründeten kosmopolitischen Idealvorstellungen Nachdruck zu verleihen.“49 Auch wenn sie nicht explizit argumentativ eingesetzt wird, kann die durch den Topos suggerierte Vorstellung, Musik sei eine Art von Sprache, die Frage plausibel erscheinen lassen, ob sie auch ein Text sei. Aber als Argument für die Textlichkeit von Musik kommt sie nicht in Betracht; denn in ihrem begriffsgeschichtlichen Kern zielt sie spezifisch auf die Idee einer (auf vorsprachlichen Stimmlauten basierenden) ‘Sprache der Affektlaute’ oder einer (auf Betonungsschwankungen der Sprechstimme basierenden) ‘Sprache der Akzente’; und da weder Affektlaute noch Akzente Systeme diskreter und arbiträrer Zeichen bilden, bleibt der ‘Sprachcharakter’ einer auf Lauten dieses Typs basierenden ‘Tonsprache’ prekär. Das anhaltende Interesse an der Frage, ob Musik ein Text sei, dürfte wenigstens unterschwellig dem Umstand geschuldet sein, dass die Frage eine Eigenschaft betrifft, die das Werk der Klangkunst, besäße es sie denn, mit dem Werk der Sprachkunst teilen und es gegenüber dem der Bildkunst auszeichnen würde. Damit würde es über den Stellenwert der Musik innerhalb des Systems der ‘Schönen Künste’ entscheiden; ein System, dessen Genese erst zu Beginn des
46 Fritz Reckow, „Tonsprache“ (1979), in: Eggebrecht/Riethmüller (Hrsg.), Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, sub voce, S. 1. Der Wörterbuchartikel basiert auf Fritz Reckows ungedruckter Freiburger Habilitationsschrift von 1977: Sprachähnlichkeit der Musik als terminologisches Problem. Zur Geschichte des Topos Tonsprache. 47 Reckow, „Tonsprache“, S. 1. 48 Ebd., S. 2. 49 Ebd.
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16. Jahrhunderts in Italien mit Bestrebungen nach einer wertenden Abgrenzung der Malerei gegenüber Bildhauerei und Dichtung (dem später sogenannten ‘Paragone’) eingesetzt hat und gegen Ende des 17. Jahrhunderts mit der Ablösung der vorneuzeitlichen Ordnungen der artes liberales und der artes mechanicae durch die neuzeitliche Ordnung der beaux arts im Wesentlichen abgeschlossen war. Aus Paul Oskar Kristellers Abhandlung „The Modern System of the Fine Arts“ geht hervor, dass die Musik die einzige ‘Kunst’ war, die unter gleichem Namen im System der ‘Freien Künste’ (als musica) und im System der ‘Schönen Künste’ (als musique) kanonisch verortet war.50 Das täuscht leicht über den komplexen semantischen Umbruch hinweg, von dem die Musik – dem Begriff wie auch der Sache nach – in diesem Übergang betroffen war; ein Umbruch, ohne den ja die Übernahme dieser ‘Kunst’ aus einer Ordnung, aus der alle als artes mechanicae geringgeschätzten Kulturtechniken ausgeschlossen waren, in eine Ordnung, in die außer der Musik keine der als artes liberales bewerteten Wissenschaften aufgenommen wurde, kaum denkbar wäre.51 Der alte Wettstreit um den relativen Rang der Künste sollte sich im Zeitalter der Medien und der Intermedialität erledigt haben; dessen ungeachtet mag man in dem anhaltenden wissenschaftlichen Interesse an Themen wie ‘Die Textlichkeit der Literatur und die Klanglichkeit der Musik’ oder in der kuriosen Unverdrossenheit, mit der bis vor kurzem um den ‘Sprachcharakter’ oder ‘angeblichen Sprachcharakter von Musik’52 gerungen wurde, ein Indiz für ein latentes Weiterdenken in den Bahnen des Paragone sehen.
50 Paul Otto Kristeller, „The Modern System of the Arts“, in: Journal of the History of Ideas 12 (1951), S. 496–527, sowie in: Journal of the History of Ideas 13 (1952), S. 17–46. Deutsch: „Das moderne System der Künste“, in: ders., Humanismus und Renaissance II, übers. von Renate Schweyen-Ott, hrsg. von Eckhard Kessler, München: Fink, 1975, S. 164–206. 51 Das erklärt, warum die Implikationen der historischen Diskontinuität zwischen musica und musique selbst in der einschlägigen Forschung nur widerstrebend zur Kenntnis genommen werden. Vgl. dazu Fritz Reckow, „Zwischen Ontologie und Rhetorik“, in: Walter Haug/Burghart Wachinger (Hrsg.), Traditionswandel und Traditionsverhalten, Tübingen: Niemeyer, 1991, S. 145– 178, und Max Haas, Musikalisches Denken im Mittelalter. Eine Einführung, Bern u. a.: Lang, 2005. 52 Werner Jauks „Sprache und Musik: der angebliche Sprachcharakter von Musik“, in: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 26 (1995), S. 97–106, war nicht die letzte Einlassung zu diesem Thema.
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2.8 Von der Frage zu den Bedingungen der Möglichkeit, sie zu stellen Als Fazit dieser flüchtigen Problemskizzen darf festgehalten werden: Das Denkmodell ‘Musik als Text’ konnte erst in Verbindung mit den neuzeitlichen Denkformen ‘Musik als Tonkunst’, ‘Musik als Werk’ und ‘Musik als Tonsprache’ zum Thema werden; und erst mit dem „Problematischwerden des Gegenstandes Text“ in der Moderne wurde es zu dem hier einmal mehr erörterten Problem. Angesichts der Aporien, in die Versuche, das Problem zu lösen, geraten, wenn sie sich auf Definitionen verlassen und wenn sie Textlichkeit als eine einem Medium inhärente Eigenschaft oder als spezifischen Zustand eines Mediums begreifen, drängen sich indessen auch grundsätzliche Überlegungen auf, die von Thesen und Positionen inspiriert sind, die in neueren Veröffentlichungen der Mediensemantik vertreten werden. Kann der Versuch, sich angeblicher Eigenarten eines Mediums durch Definitionen zu vergewissern, überhaupt erfolgversprechend sein? Dagegen spricht nicht nur die Einsicht Friedrich Nietzsches, definierbar sei nur das, was keine Geschichte hat,53 sondern auch eine aktuelle mediensemantische These, die besagt, dass „eine definitorische Annäherung an den Gegenstandsbereich Medien nur schwer möglich“ sei, „weil sich Einzelmedien kaum in ‘Reinform’ präsentie ren und entsprechende monomediale Konzeptualisierungen von Medien preiszugeben sind.“54 Weiter: Werden die einem Medium vermeintlich von Hause aus anhaftenden Eigenschaften im Rahmen von Medienvergleichen oder Medienwechseln zwar nicht erst erzeugt, aber eben auch nicht bloß als gegebene Eigenschaften abgebildet? Das entspräche einer in der Mediensemantik vertretenen differenztheoretischen These, die besagt, dass Medien „in ihrer Spezifizität nur in Medienensembles, in Prozessen der medialen Konkurrenz, des Medienwechsels und der Mediendifferenz als solche identifizierbar“ und dass „Funktion, Leistung und spezifische Eigenschaften von Medien […] immer nur im Medienvergleich zu rekonstruieren“ sind.55 Schließlich: Haben wir es nicht nur im Fall von Klanglichkeit und Textlichkeit, sondern auch im Fall scheinbar so elementarer und einem Medium vermeintlich fraglos zukommender Eigenschaften wie Hörbar-
53 Vgl. Friedrich Nietzsche, Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, in: ders., Werke, Bd. III, hrsg. von Karl Schlechta, Frankfurt/M. u. a.: Ullstein, 1972, S. 266: „alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozeß semiotisch zusammenfaßt, entziehn sich der Definition; definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat.“ 54 Christina Bartz et al., „Einleitung“, in: dies. (Hrsg.), Handbuch der Mediologie, S. 7–15, hier: S. 10. 55 Ebd.
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keit und Sichtbarkeit nicht mit Eigenschaften eines Mediums zu tun, sondern mit alternativen und alternierenden Zuständen, in denen es auftritt? Das entspräche Thesen, die in einschlägigen Arbeiten Ludwig Jägers entfaltet werden. In diesen Arbeiten wird deutlich, dass Unsichtbarkeit im Sinne von Durchsichtigkeit auf das durch das Medium Vermittelte – anders als lange angenommen – Medien nicht als solche auszeichnet, sondern als ‘Betriebszustand’ eines Mediums aufzufassen ist, der nur solange anhält, solange er nicht unterbrochen wird. Jäger spricht vom Zustand seiner Transparenz, die durch eine Störung dann getrübt wird, wenn die Aufmerksamkeit von dem, was das Medium vermittelt, abgezogen und auf das Medium selbst gelenkt wird.56 Eine Störung wird bearbeitet, indem auf das Medium durch ein anderes Medium Bezug genommen wird, um das von dem von der Störung betroffenen Medium Vermittelte in anderer Form wieder zugänglich zu machen. Auf solche „intermediale[n] Bezugnahmen von Medien auf Medien“, aber auch auf „intramedial rekursive Bezugnahmen von Medien auf sich selbst“ bezieht sich der von Jäger vorgeschlagene mediensemantische Begriff der Transkription.57 Wenn unter diesen theoretischen Prämissen der historischen Bedingtheit des Problems der Textlichkeit von Musik nachgegangen werden soll, wäre zu fragen, im Rahmen welcher – wann und wo geführter – Mediendiskurse Medienvergleiche vorgenommen, Medienwechsel herbeigeführt und Medienbewegungen eingeleitet wurden, von denen ein nonverbales klangliches Medium in der Weise betroffen war, dass es einem Vergleich mit verbalen Texten unterzogen und zu einem Gegenstand von Explikationen und Transkriptionen wurde, die sich als Vertextlichung und Verschriftlichung deuten und als Bearbeitung einer Störung der Transparenz des Mediums erklären lassen. Mit Blick auf das Wann und Wo der zu ermittelnden intermedialen Bezugnahmen muss der Untersuchungszeitraum allerdings um mindestens 800 Jahre erweitert werden: von der musikgeschichtlichen Vergangenheit des musikgeschichtlichen Gegenstandes, in der uns dieser in gewohnter kategorialer Gestalt – eben als Musik – begegnet, auf seine mediengeschichtliche Vorver-
56 Vgl. Ludwig Jäger, „Bezugnahmepraktiken. Skizze zur operativen Logik des Medialen“, in: Ludwig Jäger/Gisela Fehrmann/Meike Adam (Hrsg.), Medienbewegungen. Praktiken der Bezugnahme, München: Fink, 2012, S. 13–41, hier: S. 30–32; ders., „Störung und Transparenz“. 57 Jäger, „Transkription“, S. 306–315; ders., „Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik“, in: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hrsg.), Transkribieren – Medien/Lektüre, München: Fink, 2002, S. 19–41; ders., „Transkriptive Verhältnisse. Zur Logik intra- und intermedialen Bezugnahmen in ästhetischen Diskursen“, in: Gabriele Buschmeier/Ulrich Konrad/Albrecht Riethmüller (Hrsg.), Transkription und Fassung in der Musik des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Steiner, 2004, S. 103–134.
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gangenheit, in der er uns in einer verblüffenden Pluralität alteritärer Gestalten entgegentritt.
3 Rekonstruktion des karolingischen Denkmodells 3.1 Kein Diskurs über Musik Den im 17. Jahrhundert geführten Diskursen über ‘Musik als Kunst’ und ‘Musik als Sprache’ ging ein Diskurs voraus, der um die Mitte des 9. Jahrhunderts nördlich der Alpen einsetzte. In seinem Rahmen wurde ein Denkmodell ausgearbeitet, das eine fundamentale und musikgeschichtlich wirkungsmächtige Re-Konzeptualisierung nonverbaler Klangtexturen als klangliche Texte impliziert. Zugleich wurde auf seiner Grundlage ein neuartiges Zeichensystem entwickelt, das es zum ersten Mal ermöglichte, nonverbale Klangtexturen im medialen Zustand eines klanglichen Textes sichtbar zu machen. Die Explikation und Transkription, denen nonverbale Klangtexturen im 9. Jahrhundert unterzogen wurden, haben Prozesse der Vertextlichung und Verschriftlichung von Musik eingeleitet, die bis in die europäische Moderne nachwirken. Das Korpus zeitgenössischer Quellen, das den karolingischen Diskurs dokumentiert, ist überschaubar und gut erschlossen. Zudem hat seine Erforschung durch Charles Atkinsons Studie The Critical Nexus: Tone-System, Mode, and Notation in Early Medieval Music eine über bislang verfolgte Forschungsansätze hinausführende Ausrichtung erfahren.58 Das Denkmodell als solches ist bekannt;59 aber seine mediensemantischen Konturen und seine langfristigen musikgeschichtlichen Auswirkungen bedürfen einer von der Forschung bislang nicht geleisteten Verdeutlichung.60 Im vorliegenden Zusammenhang konzen-
58 Vgl. Atkinson, The Critical Nexus. 59 Vgl. Mathias Bielitz, Musik und Grammatik. Studien zur mittelalterlichen Musiktheorie, München/Salzburg: Katzbichler, 1977, S. 25–76 (‘Der Ton als Element der Musik in Analogie zum Buchstaben’), S. 77–105 (‘Die Einzeltonauffassung in der klanglichen Wirklichkeit’). 60 Dass signifikante Aspekte der Quellen bislang übersehen wurden, zeigt sich immer wieder, sobald man die gewohnten Pfade ihrer Auswertung als ‘Quellen mittelalterlicher Musiktheorie’ verlässt. Um die Relevanz des karolingischen Denkmodells für die hier erörterte Problematik zu verdeutlichen, habe ich im Folgenden nicht nur Forschungsergebnisse einbezogen, die ich in vorangegangenen Arbeiten differenzierter darlegt habe, sondern – in bedarfsgerechter Verkürzung und Zuspitzung – auch Thesen vorweggenommen, die ich in einem in Vorbereitung
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triert sich das Interesse an dem vorneuzeitlichen Diskurs auf die Bedeutung des in seinem Rahmen entwickelten Denkmodells für die Vorgeschichte des Problems ‘Musik als Text’. Der karolingische Diskurs wird nicht über Musik geführt, sondern über den Kultgesang der Kirche (cantus) und den Klang der seinen Texten unterlegten Kantilene (cantilena). Dieser Gesang galt nicht als eine Form von Musik, sondern als ein Modus der vokalen Performanz sakraler Texte; als ein religiöses Ritual, bei dem seiner Kantilene die Funktion eines klanglichen Mediums der Hörbarmachung von Bibeltexten (namentlich der Psalmen) zukam. Da er nicht als eine Klasse von Musik (Vokalmusik, Kirchenmusik), sondern als ein Modus der vokalen Performanz von Texten beurteilt wurde, grenzt der Begriff des cantus den Gesang im 9. Jahrhundert nicht von anderen Klassen von Musik (Instrumentalmusik, weltliche Musik) ab, sondern von einem anderen Modus der Performanz von Texten: von der Lesung (lectio). Die Wörter des cantus und die Töne seiner cantilena wurden nicht den Systemen ‘Sprache’ und ‘Musik’ zugeordnet, zwei Globalbegriffe, die der karolingische Diskurs nicht kannte, sondern unterschiedlichen Klassen von Lauten (voces) der menschlichen Stimme (vox): sprachlichen und nicht-sprachlichen. Man grenzte nicht ‘Musik’ von ‘Sprache’ ab, sondern das Klangprodukt der Singstimme vom Klangprodukt der Sprechstimme. Bei dem von den Kantoren der fränkischen Kirche praktizierten, von karolingischen Theoretikern analysierten Gesang handelte es sich um den Kultgesang der Kirche Roms, der auf Initiative karolingischer Könige importiert und innerhalb der fränkischen Kirche als ‘Römischer Gesang’ verbreitet worden war: Thema des karolingischen Diskurses war ein spätantikes Korpus fremder, transalpiner Provenienz. Um die heterogenen Klangkomponenten des Gesangs – die verbalen Laute seines Textes und die nonverbalen Laute seiner Kantilene – voneinander zu trennen, gegeneinander abzugrenzen und einander gegenüberzustellen, standen seinen karolingischen Analytikern keine spezifisch im Hinblick auf deren Klang-
befindlichen Versuch einer Geschichte des Gesangs vor dem Zeitalter der Musik von der Spätantike bis zur Karolingerzeit begründe. Siehe einstweilen: Andreas Haug, „Der Beginn europäischen Komponierens in der Karolingerzeit: Ein Phantombild“, in: Die Musikforschung 58 (2005), S. 225–241; ders., „Der Codex und die Stimme in der Karolingerzeit“, in: Felix Heinzer/Hans-Peter Schmit (Hrsg.), Codex und Geltung, Wiesbaden: Harrassowitz, 2015, S. 29–46; ders., „Terminologie und Theorie des Notierens im neunten Jahrhundert. Mit acht Exkursen zur Entwicklung der Neumenzeichen“, in: Ulrich Konrad (Hrsg.), Rem tene, verba sequentur. Die lateinische Musikterminologie des Mittelalters bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts (= Abhandlung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften München, Neue Folge 145), München: Bayerische Akademie der Wissenschaften, 2019, S. 72–99.
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textur entworfenen Analysemodelle zur Verfügung. Dazu mussten und konnten sie sich des breitgefächerten Vorrats an Definitionen, Distinktionen, Dihäresen und Klassifikationen antiker Provenienz bedienen, der als Lehrstoff der spätantiken artes liberales überliefert wurde; namentlich spezieller Lehrinhalte der Grammatik (grammatica), der Rhetorik (rhetorica) und der Logik (dialectica), also der drei sprachlichen Fachdisziplinen des karolingischen Triviums, und nicht zuletzt, aber auch nicht an erster Stelle, der Harmonik (harmonica), eines Teilfachs der ‘Musik’ (musica), das dem spätantiken Quadrivium der Fächer zugehört, die sich mit Zahlen beschäftigen. Von den im ‘Denkraum Spätantike’61 zirkulierenden geläufigen Definitionen dieses Faches war im karolingischen Kontext unter anderen auch diese bekannt: „musica ist die Wissenschaft, die jene aufeinander bezogenen Zahlen behandelt, die in den Tönen aufgefunden werden“ (disciplina, quae de numeris loquitur, qui ad aliquid sunt his, qui inveniuntur in sonis).62 Nördlich der Alpen waren die in den artes liberales überlieferten Wissensbestände und Denkformen durch den gegen Ende des 8. Jahrhunderts – im Zuge der karolingischen Reform der Klerikerbildung – in Gang gekommenen Wissenstransfer zugänglich geworden; in Form von Abschriften spätantiker lateinischer Übersetzungen, Paraphrasen und Epitomen kaiserzeitlicher griechischsprachiger Kompendien und spätantiker lateinischer Fachtexte, Enzyklopädien und Kommentare. Dort eigneten sich an den Schulen karolingischer Klöster und Bischofskirchen tätige Experten die neuartigen Inhalte der spätantiken Texte an. Nach anfänglichen Phasen einer ‘passiven’ Rezeption, in der Textvorlagen beschafft, kopiert und zirkuliert, Texte glossiert und interpretiert, Textinhalte dokumentiert, kompiliert, aufbereitet und teilweise zu Schulbüchern verarbeitet wurden, lassen sich namentlich auf den musikgeschichtlich besonders relevanten Gebieten der Grammatik und Harmonik Phasen einer ‘produktiven’ Rezeption erkennen, in denen das erworbene Wissen eigenständig verarbeitet und auf reale Klangerscheinungen in der eigenen Umgebung bezogen wurde. Dabei scheint es anfangs lediglich darum gegangen zu sein, unbekannte antike Wissensformen, auf die man in den spätantiken artes-Texten allenthalben stieß, anhand bekannter Gegenstände zu erläutern. Mit der Zeit wurden die antiken Wissensformen aber auch herangezogen, um eminente, problematische oder prekäre Erkenntnisgegenstände der
61 Vgl. Nora Schmidt/Nora K. Schmid/Angelika Neuwirth (Hrsg.), Denkraum Spätantike: Reflexionen von Antiken im Umfeld des Koran (= Episteme in Bewegung, Bd. 5), Wiesbaden: Harrassowitz, 2016. 62 Cassiodor, Institutiones divinarum et saecularium litterarum, Bd. 2, übers. und mit einem Vorwort von Wolfgang Bürsgens, Freiburg u. a.: Herder, 2003, S. 416 (lib. II, cap. 5, § 4).
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karolingischen Kultur zu re-konzeptualisieren und von Gegenständen impliziten zu Gegenständen expliziten Wissens zu erheben.63 Keine der artes liberales hatte sich vor der Karolingerzeit mit dem Kultgesang der Kirche beschäftigt, auch dann nicht, wenn es christliche Autoren waren, die sich den Fächern widmeten. Augustinus spricht bezogen auf den Gesang der Kirche nicht von ‘Musik’ (musica), sondern von ‘Gesang’ (cantus), bezogen auf die pagane Wissenschaft und deren Gegenstand von musica, und wo er in seinen den paganen Wissenschaften gewidmeten frühen Werken den Begriff cantus (in der unspezifischen Bedeutung ‘Lied’, ‘Gesang’) gebraucht, meint er damit nirgends den Gesang der Kirche.64 Und wenn Cassiodor die enge Verbindung der musica disciplina mit der Religion betont, hat er die Musik im Alten Testament im Blick, nicht den Gesang der Kirche des 6. Jahrhunderts.65 Der erste Autor, der davon spricht, die musica disciplina auf den cantus der Kirche anzuwenden, war Hrabanus Maurus. Er rechtfertigt das Studium der musica mit dem Nutzen ihrer Kenntnis für die Ausübung von lectio und cantus.66 Welche weitreichenden Folgen eine weit über praktische Belange hinausgehende Anwendung von Wissensformen der Harmonik auf die Kantilene des Kirchengesangs einmal haben würde, war im Jahr 819 freilich noch nicht abzusehen.
3.2 Die Kantilene unter den Filtern der Wissenschaften Karolingische Analytiker spalten den (vokalen) Klang des Kultgesangs sozusagen unter wechselnden konzeptuellen ‘Filtern’ in seine heterogenen (verbalen und nonverbalen) Komponenten auf. Die Differenzen zwischen diesen Filtern sind durch die divergenten Perspektiven bedingt, unter denen die jeweils als ‘Modelldisziplin’67 in Anspruch genommenen Fächer Lautprodukte der Stimme analysie-
63 Vgl. Polanyi, Implizites Wissen. 64 Eine Tatsache, die meist vernachlässigt wird, wenn das beliebte Thema ‘Augustinus und die Musik’ behandelt wird, obwohl Marrou schon 1937 in einem breit rezipierten Standardwerk mit Nachdruck darauf hingewiesen hat: Henri Irénée Marrou, Augustinus und das Ende der antiken Bildung, übers. von Lore Wirth-Poelchau in Zusammenarbeit mit Willi Geerlings, hrsg. von Johannes Götte, Paderborn u. a.: Schöningh, 1982, S. 171–181. 65 Vgl. Cassiodor, Institutiones divinarum et saecularium litterarum, S. 416 (lib. II, cap. 5, § 3). 66 Hrabanus Maurus, De institutione clericorum, übers. und eingel. von Detlev Zimpel, Freiburg u. a.: Herder, 2006, S. 554–556 (Buch III, Kapitel 24). 67 Vgl. Fritz Reckow, „Vitium oder color rhetoricus? Thesen zur Begründung der Modelldisziplinen grammatica, rhetorica und poetica für das Musikverständnis“, in: Aktuelle Fragen der musikbezogenen Mittelalterforschung 3 (1982), S. 307–322.
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ren, und die Kriterien, nach denen sie die Lautformen und Lautverbindungen klassifizieren. Die Grammatik (grammatica) unterscheidet die ‘gegliederte’ Lautform (vox articulata) von der ‘verschwommenen’ (vox confusa): Die gegliederte Lautform lässt sich schreiben („durch Buchstaben erfassen“: litteris comprehendi potest), die verschwommene nicht (scribi non potest).68 Mit dieser Unterscheidung sondert die Grammatik die schreibbaren sprachlichen Laute, mit deren Formen und Formationen sie sich beschäftigt, aus der Vielzahl andersartiger Klänge aus, für die sie nicht zuständig ist. Das sind alle nicht von der menschlichen Stimme erzeugten Klangereignisse (soni im Sinne von ‘Klang’, ‘Schall’) sowie solche, die zwar von der Stimme (vox) erzeugt, aber nicht vom Sprechwerkzeug der Zunge in voneinander abgegrenzte Einzellaute zerteilt und auf diese Weise zu Sprachlauten geformt werden. Indessen bieten die im 9. Jahrhundert nördlich der Alpen gelesenen spätrömischen Grammatiken einander teilweise widersprechende Klassifikationen vokaler und nicht vokaler Laute an. Abweichend von Donat, der die gegliederte vox articulata von der formlosen vox confusa anhand des Merkmals der Schreibbarkeit unterscheidet, bringt Marius Victorinus die Bezeichnungsleistung der Laute mit ins Spiel: Er grenzt die vox articulata, „die verstanden wird, wenn man sie hört“ (audita intellegitur) als eine vox intelligibilis von der vox confusa ab und unterscheidet zwei Subklassen der vox articulata: die von unbelebten Klangwerkzeugen erzeugte vox musica und die stimmbegabten Wesen vorbehaltene vox communis.69 Priscian unterscheidet nicht zwei, sondern vier Klassen von Klängen: gegliederte (vox articulata) und ungegliederte (vox inarticulata); schreibbare (vox literata) und nicht schreibbare (vox iliterata). Die vox articulata fasst er als Trägerin von Bedeutung auf (copulata cum sensu mentis), im Gegensatz zur vox inarticulata, die „nichts bezeichnet“ (nihil significat); die vox literata lässt sich schreiben (scribi potest), die vox iliterata nicht (scribi non potest).70 Priscian zufolge können Klänge schreibbar sein, ohne etwas zu bedeuten (wie sinnlose Wörter), oder etwas bedeuten, ohne schreibbar zu sein (wie Klagelaute oder Schmerzensschreie).
68 Donatus, Ars maior, cap. I, ‘De voce’, in: Louis Holtz, Donat et la tradition de l’enseignement grammatical, Paris: CNRS Éditions, 1981, S. 603–674, hier: S. 603. 69 Marius Victorinus, Ars grammatica, in: Heinrich Keil (Hrsg.), Grammatici Latini IV, Leipzig: Teubner, 1864, S. 12. 70 Priscianus, Institutiones grammaticae I, 1, in: Heinrich Keil (Hrsg.), Grammatici Latini II, Leipzig: Teubner, 1855, S. 5.
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Karolingischen Lesern und Kommentatoren der spätantiken Lehrbücher blieben diese Widersprüche selbstverständlich nicht verborgen.71 Historisch erklären sie sich damit, dass die Autoren verschiedene Stränge der grammatischen Lehrtradition vertreten, die alle aus der Logik der Stoa hervorgegangen sind, sich aber schon während der Antike getrennt haben.72 Das lag freilich außerhalb des Sichtfelds karolingischer Leser. Bemerkenswerterweise hat Alkuin, der als erster karolingischer Autor eines Schulbuches der Grammatik hervorgetreten ist, sich nicht dem von Donat vertretenen Mainstream angeschlossen, sondern die Klassifikation des nördlich der Alpen weniger verbreiteten Priscian übernommen.73 Die Grammatik analysiert die Lautstruktur der Wörter, die sie nicht als verba (das wären nur die ‘Verben’), sondern als partes orationis (‘Bestandteile der Rede’) bezeichnet; und zwar die Struktur der Wörter aller (acht) Wortarten, nicht nur der Nennwörter (nomina) und Aussagewörter (verba). Sie löst Wörter in Silben (syllabae), Silben in Laute (litterae) auf. Der Einzellaut wird aufgefasst als „kleinster Teil [des Lautprodukts] der Sprechstimme“ (pars minima vocis articulatae). Die einzelnen Laute werden nach ihren Klangeigenschaften unterschieden, nämlich danach, ob sie eigenständig klingen (per se sonant), sowie danach, ob sie eigenständig eine Silbe bilden (per se syllabam faciunt): also in vocales, die beides, mutae, die weder das eine noch das andere tun, und semivocales, die eigenständig klingen, aber keine Silbe bilden. Mit der Zusammensetzung von Nennwort und Aussagewort zu einem Aussagesatz beschäftigt sich nicht die Grammatik, sondern die Logik. Auch die Unterscheidung der Lautform, die „mit Bedeutung verbunden“ (copulata cum sensu mentis) ist, „verstanden wird“ (intellegitur), „verstehbar“ (intellegibilis) ist, von jener Lautform, die „nichts bezeichnet“ (nihil significat), ist Sache der Logik. Wenn Marius Victorinus und Priscian innerhalb der Grammatik gleichwohl die Bezeichnungsleistung von Lauten ins Spiel bringen, ist das eigentlich ein fachfremder Gesichtspunkt. Die Rhetorik (rhetorica) analysiert den Text der Rede (oratio) als Zusammenhang zeitlich aufeinander folgender, voneinander abgegrenzter, ineinander enthaltener Sinnabschnitte wachsenden Umfangs, und zwar: verbum (Wort), comma
71 So weist etwa der unbekannte Verfasser des Commentum Einsidlense auf die abweichenden Auffassungen der vox articulata bei Donat und Priscian hin. Vgl. Hermann Hagen (Hrsg.), Anecdota helvetica quae ad grammaticam latinam spectant ex bibliothecis Turicensi Einsidlensi Bernensi (= Grammatici latini. Supplementum), Leipzig: Teubner, 1870, S. 220. 72 Vgl. dazu: Wolfram Ax, Laut, Stimme und Sprache. Studien zu drei Grundbegriffen der antiken Sprachtheorie (= Hypomnemata, Bd. 84), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1986; Irvine, The Making of a Textual Culture. 73 Alcuin, De grammatica, in: Patrologia Latina, Bd. 101, Sp. 854 f.
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(Satzteil), colon (Teilsatz) und periodus (Satz). Mehrere Wörter bilden einen Satzteil, mehrere Satzteile einen (semantisch unabgeschlossenen und syntaktisch abhängigen) Teilsatz, mehrere Teilsätze einen (vollständigen, in sich abgeschlossenen) Satz.74 Der Aufbau der Wörter aus Silben und Lauten ist kein Thema der Rhetorik. Die Grammatik geht auf die Sinnabschnitte der Rede im Zusammenhang mit den Interpunktionszeichen (positurae) ein, die Leser mittels unterschiedlich hoch positionierter Punkte auf das Ende der Abschnitte unterschiedlichen Umfangs und Sinngehalts aufmerksam machen.75 Den Lehrstoff der Logik (dialectica) – oder mit der gebotenen Einschränkung gesagt: der aristotelischen Logik, soweit diese in den Übersetzungen des Boe thius nördlich der Alpen zugänglich ist76 – kennen die meisten karolingischen Leser vermutlich in der kompakt aufbereiteten Form, in der sie Alkuin (nach der Übersetzung des Boethius) zu seinem Schuldialog De dialectica verarbeitet hat.77
74 Vgl. Isidor von Sevilla, Etymologiae II, 18, in: ders., Etymologiae sive originum libri XX, Bd. I, hrsg. von W. M. Lindsay, Oxford: Oxford University Press, 1911, S. 95. 75 „In lectione tota sententia periodos dicitur, cuius partes sunt cola et commata“ (Donatus, Ars maior, cap. 6, ‘De posituris’, in: Holtz, Donat et la tradition de l’enseignement grammatical, S. 612); Isidor von Sevilla, Etymologiae, S. 4 (lib. I, cap. 20). 76 Vgl. Boethius, De interpretatione vel periermenias, in: Lorenzo Minio-Paluello (Hrsg.), Aristoteles Latinus, Bd. II 1–2: De interpretatione vel periermenias: translatio Boethii, specimina translationum recentiorum, Brügge/Paris: Desclée de Brouwer, 1965, S. 5–9. Ein von Grund auf neues Szenario der Rezeption der aristotelischen Logik im karolingischen Kontext bietet die in Druck befindliche Studie von Fabio Troncarelli und John M. Magee, The Codex Pagesianus (BAV Pagès 1) and the Emergence of Aristotle in the Latin West (= Studi e testi), Città del Vaticano: Biblioteca Apostolica Vaticana, 2020 (im Druck). Beiden Autoren sei auch an dieser Stelle herzlichst dafür gedankt, dass sie ihr Typoskript vor seiner Veröffentlichung den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des von Felix Heinzer und mir organisierten Workshops Bridging the Gap. Transmissions of Greek Intellectual Heritage into the Latin West between Late Anitiquity and Early Middle Ages. The Role of Manuscripts (Universität Hamburg, Centre for the Study of Manuscript Cultures, 14./15.02.2020) zugänglich gemacht und mit uns diskutiert haben. Siehe auch John Marenbon, From the Circle of Alcuin to the School of Auxerre. Logic, Theology, and Philosophy in the Early Middle Ages, Cambridge: Cambridge University Press, 1981. 77 Alkuin, De dialectica, cap. XVI (Patrologia Latina, Bd. 101, Sp. 972–974): „Stimmliche Äußerungen (quae sunt in voce) sind Zeichen (notae) der Eindrücke in der Seele, und schriftliche Äußerungen (quae scribuntur) sind Zeichen stimmlicher Äußerungen.“ — „Das Nennwort (nomen) ist ein bedeutungstragendes Lautgebilde (vox significtiva) ohne Zeitbezug (sine tempore), dessen Bedeutung auf Übereinkunft (secundum placitum) beruht, von dem kein Teil isoliert etwas bedeutet (cuius nulla pars est significativa separata).“ — „Das Zeitwort (verbum) ist [ein Lautgebilde], das den Zeitbezug mitbedeutet (quod consignificat tempus), von dem kein Teil für sich etwas bedeutet (cuius pars nihil extra significat).“ — „Der Aussagesatz (oratio) ist ein bedeutungstragendes Lautgebilde (vox significativa), dessen isolierte Teile bedeutungstragend sind (cuius partium aliquid
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Die Logik grenzt das signifikative (vokale) Lautgebilde, das (eigenständig) etwas bezeichnet (vox significativa), von Lautgebilden ab, die das nicht leisten. Nur eine vox articulata ist in der Lage, etwas zu bezeichnen; aber eigenständig bezeichnen ihre Bestandteile, Einzellaut und Silbe, nichts. Erst indem sie zu einem Nennwort (nomen) oder einem Aussagewort (verbum) zusammengesetzt werden, bezeichnet diese Lautverbindung den Gedankeninhalt, auf den sie „durch Übereinkunft“ (secundum placitum) bezogen wird.78 Die Logik beschäftigt sich mit Semantik: mit dem Zusammentreten von Lautgebilden, die (eigenständig) etwas bezeichnen (nomen und verbum), zu einem Lautgebilde, das (eigenständig) etwas aussagt, dem Aussagesatz (oratio enuntiativa). Die Harmonik (harmonica) ist die Teildisziplin der Musik (musica), deren Thema das Melos ist. Das bedeutet: Sie beschäftigt sich nur mit der Form von Lauten oder Klängen, die ein Melos bilden können, und untersucht sie im Hinblick auf ihre unterschiedliche tonräumlich vorgestellte Höhe und Tiefe (nicht im Hinblick auf ihre Dauer; das überlässt sie einer anderen Teildisziplin der musica, der Rhythmik). Die hörbare Veränderung des Klangs nimmt sie als Ortsbewegung wahr. Dessen ungeachtet bezeichnet sie den Gegensatz von ‘hoch’ und ‘tief’, unter dem sich diese Veränderung vollzieht, mit dem Begriffspaar ‘scharf’ (acutus) und ‘schwer’ (gravis), dem nicht die Bildlichkeit des Gesichtssinns, sondern die (vorwissenschaftliche) Bildlichkeit des Tastsinns zugrunde liegt. Die Harmonik grenzt ihren Gegenstandsbereich ein, indem sie zwischen gestuften (vox cum intervallo suspensa; voces disgregatae) und stufenlosen (vox continua; voces continuae) Klangverläufen unterscheidet und den tonstufenbezogenen Laut oder Klang (sonus im spezifischen Sinne von ‘Ton’) von Lauten oder Klängen anderer Art (voces oder soni im unspezifischen Sinn von ‘Klang’, ‘Schall’) abgrenzt.79 Sie befasst sich mit dem tonstufenbezogenen Laut, dem Ton; denn nur
significativum est separatum).“ Die entsprechenden Stellen bei Boethius: Lorenzo Minio-Paluello (Hrsg.), Aristoteles Latinus, S. 5–8. 78 Zu Boethiusʼ Übersetzung und seinen beiden Kommentaren zu De Interpretatione (deren erster im 9. Jahrhundert nördlich der Alpen zugänglich war): John M. Magee, Boethius on Signification and Mind, Leiden: Brill, 1989; Taki Suto, Boethius on Mind, Grammar and Logic. A Study on Boethius’ Commentaries on Peri hermeneias, Leiden/Boston: Brill, 2012; sowie zuletzt Christian Vogel, Boethius’ Übersetzungsprojekt. Philosophische Grundlagen und didaktische Methoden eines spätantiken Wissenstransfers (= Episteme in Bewegung, Bd. 6), Wiesbaden: Harrassowitz, 2016, S. 66–112. Vgl. Aristoteles, Peri hermeneias, Kap. 1–5, 16a–17a, in: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 1, Teil II, hrsg. von Hellmut Flashar, Berlin: Akademie Verlag, 1994, S. 3–6, sowie den Kommentar zu den betreffenden Kapiteln, S. 133–199. 79 Vgl. Boethius, De institutione musica libri quinque, hrsg. von Godefredus Friedlein, Leipzig: Teubner, 1867, S. 356 (lib. V, cap. 6; vgl. auch lib. I, cap. 12).
diffusa
verschwommen
scribi non potest
nicht schreibbar
articulata
gegliedert
scribi potest
schreibbar
articulata
schreibbar
litterata nicht schreibbar
ilitterata
bezeichnend
inarticulata
schreibbar
litterata nicht schreibbar
ilitterata
nicht bezeichnend
vox
vox Lautprodukt
vox
Lautprodukt
eigenständig etwas aussagend
oratio enuntiativa
eigenständig bezeichnend
significativa
continuae
aequales gleichstufig
nicht gestuft
inaequales
stufenbezogen
sonus
gestuft
disgregatae
Lautprodukt
voces
Boethius Hucbald
Harmonik
ungleichstufig
eigenständig nicht bezeichnend
articulata
Lautprodukt
Aristoteles/Boethius Alkuin
Logik Priscian Alkuin
Donat
Grammatik
Tabelle 1: Fachspezifische Klassifikation von Stimmprodukten Die prekäre Textlichkeit der Musik: Zur Genealogie eines modernen Problems 27
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Tabelle 2: Fachspezifische Analyse von Lautprodukten der Stimme Grammatik
Rhetorik
Rede oratio
Rede oratio
Satz oratio
Satz periodus
Logik
Harmonik Gesang cantus
Aussagesatz oratio enuntiativa
Teilsatz colon Satzteil comma Wort pars orationis
Wort verbum
Silbe syllaba Laut littera
Nennwort nomen Aussagewort verbum
Tonleiter systema
Tonabstand diastema Ton sonus
dieser eignet sich zur Bildung eines Melos. Den Ton fasst sie auf als den „Fall“ (casus) eines (melosbildenden) „Lauts“ (vox) auf eine bestimmte, durch gleichbleibende Saitenspannung (intentio) festgelegte „Tonstufe“ (casus vocis in unam intensionem).80 Bei den tonstufenbestimmten Lauten (soni) unterscheidet die Harmonik zwischen gleichstufigen (voces aequales) und ungleichstufigen Tönen (voces inaequales).81 Ungleichstufige Töne (soni) bilden einen Tonabstand (diastema), Tonabstände eine Tonleiter (ein Tonsystem: systema). Tabelle 1 gibt eine Übersicht über die Merkmale, aufgrund derer die im karolingischen Kontext rezipierten und auf die Kantilene des Kirchengesangs angewendeten antiken Fachdisziplinen die Lautprodukte der Stimme unter wechselnden Aspekten voneinander abgrenzen; in Tabelle 2 werden die Bestandteile aufgeführt, in die diese Lautprodukte in den betreffenden Disziplinen aufgelöst werden.
80 Ebd., S. 195 (lib. I, cap. 8). 81 Ebd., S. 190 f. (lib. I, cap. 3).
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3.3 Die Kantilene im Medienvergleich Das Aufeinandertreffen und die Verkoppelung verbaler und nonverbaler Laute im Klang des cantus wird im 9. Jahrhundert anscheinend nirgends explizit beschrieben: Wenn verbale Texte gesungen werden, erklingen die Töne der Singstimme gebunden an jene Laute der Sprechstimme, die „eigenständig klingen“ (per se sonant) und „eigenständig eine Silbe bilden“ (per se syllabam faciunt), also auf den vocales (nur in begrenztem und genau geregeltem Umfang auch an semivocales gebunden).82 Mit der Verbindung von verbalem ‘Laut’ und nonverbalem ‘Ton’ scheinen sich karolingische Analytiker also weniger beschäftigt zu haben als mit deren Vergleich. Ihr Fokus war nicht darauf gerichtet, auf welcher Strukturebene verbale und nonverbale Laute (beim Singen) ineinandergreifen, und auch weniger darauf, wodurch sich die beiden Lautformen (unter analytischen Filtern) voneinander unterscheiden, als vielmehr darauf, worin das nonverbale Medium Kantilene dem verbalen Medium Text gleicht: Auf eine Explikation solcher Momente der Gleichartigkeit des Ungleichartigen waren die Vergleiche ausgerichtet, denen die beiden Medien im 9. Jahrhundert unterzogen wurden. Grundlage des ‘Karolingischen Modells melodischer Textlichkeit’ sind zwei Vergleiche zwischen dem Lautprodukt der Sprechstimme und dem der Singstimme. Der erste dieser Vergleiche (Vergleich A) lautet in der Abhandlung eines unbekannten, in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts tätigen Theoretikers wie folgt: So wie die elementaren und unteilbaren Lautpartikel (elementariae atque individuae partes) [des Produkts] der Sprechstimme (vox articulata) die [einzelnen] Sprachlaute (litterae) sind, aus denen die Silben (syllabae) zusammengesetzt (compositae) sind, aus denen sich die Zeitwörter und Nennwörter (verba et nomina) zusammensetzen (componunt), und aus diesen das Gewebe des vollständigen Satzes [der vollständigen Rede] (perfectae orationis textum), so sind die Ausgangselemente (origines) [des Lautprodukts] der Singstimme (vox canora) die phthongi, die auf lateinisch Töne (soni) heißen […]. Aus der Verbindung (copulatio) der Töne ergeben sich Tonabstände (diastemata), aus denen sich Tonsysteme (systemata) [vereinfacht gesagt: Tonleitern] bilden. Die Töne (soni) sind die primäre Grundlage (prima fundamenta) des Gesangs (cantus).83
82 Dazu ausführlich: Andreas Haug, „Zur Interpretation der Liqueszenzneumen“, in: Archiv für Musikwissenschaft 50 (1993), H. 1, S. 86–100. 83 Musica enchiriadis, cap. 1, in: Hans Schmid (Hrsg.), Musica et scolica enchiriadis una cum aliquibus tractatulis adiunctis (= Bayerische Akademie der Wissenschaften, Veröffentlichungen der Musikhistorischen Kommission, Bd. 3), München: Beck, 1981, S. 3.
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Das spätantike Vorbild für diesen Vergleich hat der karolingische Autor nicht in einem Fachtext der Grammatik oder der Harmonik vorgefunden, sondern in einem lateinischen Kommentar zu Platons Timaios,84 der im betreffenden Passus eine griechische Vorlage wörtlich übersetzend wiedergibt.85 In der spätantiken Fassung des Vergleichs wird nicht die Zusammensetzung (compositio) der verglichenen Lautstrukturen aus Einzellauten bzw. Einzeltönen, sondern deren Auflösung (dissolutio) in diese kleinsten, nicht weiter teilbaren Klangpartikel beschrieben: der Wörter in Silben, der Silben in Einzellaute, bei denen „die Auflösung endet“, und analog dazu die Zerlegung der Tonleiter in Tonabstände, der Tonabstände in Tonstufen. Den Vergleich auf die cantilena anwendend, bezieht der karolingische Autor den Begriff cantus, der im Kontext des spätantiken Platon-Kommentars irgendeine Form von Lied oder Gesang bedeutet, auf den cantus der Kirche. Der zweite Vergleich (Vergleich B) zwischen oratio und cantus ist in der gleichen Abhandlung erstmals belegt. Er wird nicht explizit vollzogen; er liegt aber implizit der Anwendung von Begriffen, die in der Rhetorik (und Grammatik) die Sinnabschnitte der Rede (oratio) bezeichnen, auf die melodischen Abschnitte des Gesangs (particulae cantionis) zugrunde: verbum (Wort), comma (Satzteil), colon (Teilsatz) und periodus (Satz). Mit Ausnahme von verbum werden diese Begriffe auf die Abschnitte der Kantilene übertragen.86 Als kleinstes Segment der Kantilene wird nicht der einzelne Ton exponiert, sondern die Verbindung zweier Töne in einer Tonbewegung: einer Hebung (levatio) oder einer Senkung (depositio). Diese beiden Begriffe stammen aus der Fachsprache der Grammatik, wo sie die Hebung und Senkung von Silben innerhalb metrischer Verse bezeichnen. Ein melodisches Komma besteht aus einer oder aus mehreren Tonbewegungen, zwei oder mehrere Kommata bilden ein melodisches Kolon. Wenn ein einziges Komma ein Kolon bildet, fallen Komma und Kolon in eins. Mehrere Kola bilden eine melodische Periode und endlich den ganzen Gesang (integer melos). Die Grenzen (fines) zwischen den melodischen Segmenten wirken als Zäsuren: Sie gliedern den Gesang (cantum distingunt). Diagramm 1 illustriert den beschriebenen Aufbau.
84 Vgl. Calcidius, Commentum in Platonis Timaios, pars I, cap. 44, in: J. H. Waszink (Hrsg.), Timaeus a Calcidio translatus commentarioque instructus, London/Leiden: Warburg Institute & Brill, 1975, S. 92; ders., On Plato’s Timaeus (= Dumbarton Oaks Medieval Library, Bd. 41), hrsg. und übers. von John Magee, Cambridge, MA/London: Harvard University Press, 2017, S. 188–191. 85 Vgl. Lukas J. Dorfbauer, „Favonius Eulogius, der früheste Leser des Calcidius“, in: Hermes 139 (2011), S. 376–394. 86 Musica enchiriadis, cap. IX (S. 22); Scholica enchiriadis, pars I, in: Schmid (Hrsg.), Musica et scolica enchiriadis una cum aliquibus tractatulis adiunctis, S. 82–85.
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Diagramm 1 levatio / depositio commata cola
3.4 Vertextlichung der Kantilene Die Vergleiche nehmen unterschiedliche Perspektiven ein (siehe Tabelle 3). Vergleich A expliziert die strukturelle Analogie zwischen den (in der Grammatik beschriebenen) Konstituenten der Lautstruktur des verbalen Textes (Laut – Silbe – Wort) – nicht unmittelbar der Kantilene, sondern des (in der Harmonik beschriebenen) Tonsystems (Ton – Tonabstand – Tonleiter), auf dessen skalare Matrix die Kantilene abgebildet werden soll. Für diese Abbildung ‘horizontaler’ Tonverläufe (in der Zeit) auf ‘vertikale’ Tonleitern (im Tonraum) liefert Vergleich A die Grundlage: Ausgangston und Zielton eines Tonschritts werden auf die Leiterstufe bezogen, sein tonräumlicher Umfang auf den Abstand (diastema) zwischen Leiterstufen, der gesamte Tonverlauf auf die Tonleiter im Ganzen. Im Rahmen von Vergleich A wird die Lauttextur der Kantilene als ein Tongefüge konzeptualisiert: als eine Zusammenstellung stufenbezogener ungleichstufiger Töne. Es ist ein Vergleich zwischen Systemen: zwischen (modern gesprochen) ‘Sprache als System’ (langue) und Tonsystem. Mit Vergleich B wechselt die Perspektive. Er expliziert die strukturelle Analogie zwischen den Segmenten eines verbalen Textes (Wort – Satzteil – Teilsatz – Satz) und den Segmenten der Kantilene: Tonbewegung – Folgen miteinander zusammenhängender Tonbewegungen – voneinander abgesetzte Folgen – aus solchen Folgen aufgebaute Perioden – ganzer Gesang. Im Rahmen von Vergleich B wird die Lauttextur der Kantilene als Tonverlauf konzeptualisiert: als Abfolge teils enger, teils weniger eng zusammenhängender Tonbewegungen. Es ist ein Vergleich zwischen (modern gesprochen) ‘Sprache als Rede’ (parole) und dem Tonverlauf in der Zeit. Die beiden Perspektiven werden vom gleichen Theoretiker zusammengeführt: Der „Unterschied“ (discrimen) zwischen dem „höchsten und dem tiefsten Laut (vox) eines Kommas“ (inter summam et infimam vocem commatis) werde
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Tab. 3: Zwei Vergleiche zwischen den Lautprodukten von Sprechstimme und Singstimme Vergleich A Grammatik
Harmonik
Laut littera
Ton sonus | ptongos
Silbe syllaba
Tonabstand diastema
Wort nomina | verba
Wort verbum
Tonleiter systema
Hebung – Senkung levatio – depositio
Satzteil comma
Melodisches Komma comma
Teilsatz colon
Melodisches Kolon colon
Satz oratio
Satz periodus
Melodische Periode periodus
Rede oratio
Rede oratio
Gesang cantus
Gesang cantus
Rhetorik Vergleich B
„Abstand“ genannt (appellatur diastema). Das ist ein Fachbegriff der Harmonik.87 Der „Unterschied“ zwischen Ausgangton und Zielton einer Tonbewegung ist nicht etwa von vornherein das gleiche wie ein „Abstand“ zwischen den Stufen einer Tonleiter: Das discrimen wird diastema benannt, und mit der Benennung wird sozusagen der casus vocis nachvollzogen, der dem Tonbegriff der Harmonik zugrunde liegt: Ausgangs- und Zielton einer Tonbewegung werden auf die Grenztöne des Tonabstands in einem Tonsystem abgebildet (siehe Diagramm 2). Damit
87 Vgl. Musica enchiriadis, cap. IX (S. 22), und Scholica enchiriadis, pars I (S. 82–85).
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verwandelt sich das implizite Wissen, das der Sänger (cantor) des Gesangs von diesem Unterschied besitzt (den er ‘richtig singt’) in das explizite Wissen eines Theoretikers dieses Gesangs (musicus). Diagramm 2 • discrimen diastema •
Die beiden Explikationen der nonverbalen Lauttextur verschränken sich zu einem komplexen Denkmodell, auf dessen Grundlage die Kantilene des Kultgesangs der Kirche zugleich als ein tonräumliches Gefüge diskreter Töne und als ein zeitlicher Verlauf zusammenhängender Tonbewegungen konzeptualisiert wird, mit anderen Worten: als ein strukturierter und kohärenter melodischer Text.
3.5 Verschriftlichung der Kantilene Gleichzeitig mit ihrer Explikation als melodischer Text wird die Kantilene im 9. Jahrhundert Transkriptionen unterzogen: Prozeduren der Sichtbarmachung, die sich (nicht ohne gewisse Schwierigkeiten, auf die weiter unten noch hingewiesen wird) als Weisen von Verschriftlichung begreifen lassen. Als Medien, in denen diese Sichtbarmachung sich vollzog, wurden im Laufe des 9. Jahrhunderts nebeneinander drei unterschiedliche Systeme graphischer Zeichen eingesetzt, die hier als ‘Tonstufenzeichen’, ‘Tonabstandszeichen’ und ‘Tonbewegungszeichen’ bezeichnet werden sollen. Allein die Tonstufenzeichen sind antiker Herkunft: Buchstaben, die in der Spätantike auf dem Gebiet der Harmonik herangezogen wurden, um die Stufen von Tonleitern zu bezeichnen und um die auf diese Stufen abgebildeten Töne zu unterscheiden. Ein karolingischer Analytiker der Kantilene nennt diese notae nach dem Fach, in dem er auf sie gestoßen ist, notae musicae (Zeichen der ars musica) und notae artificiales (Zeichen dieser ars).88 In der Forschung werden
88 Hucbald von Saint-Amand, De harmonica institutione, cap. 45, in: Yves Chartier (Hrsg.), L’Œuvre musicale d’Hucbald de Saint-Amand. Les compositions et le traité de musique, Montréal: Éditions Bellarmin, 1995, S. 195 und S. 196.
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Zeichensysteme dieses Typs als Buchstabennotation oder Tonstufennotation bezeichnet. Angewendet auf den Kirchengesang machen sie dessen Kantilene als ein Gefüge stufenbezogener ungleichstufiger Töne sichtbar, die sie auf die Stufen einer Tonleiter abbilden und im Hinblick auf die Position dieser Stufen auf der Leiter kennzeichnen. Bei den beiden anderen Zeichensystemen handelt es sich um karolingische Erfindungen ohne antike Vorbilder, die auf der Grundlage antiker Zeichen entwickelt wurden, die nicht in Fachschriften der Harmonik, sondern in solchen der Grammatik beschrieben werden. Tonabstandszeichen geben den Abstand an, der einen stufenbezogenen Ton (sonus, ptongos) von den ungleichstufigen Tönen seiner Umgebung entfernt. Der Abstand eines Tones zu seinen unmittelbaren Nachbartönen beträgt (im diatonischen System) entweder einen Ganzton (G) oder einen Halbton (H). Zur Bezeichnung einer Gruppe von vier benachbarten Tönen in den Abständen Ganzton (G) – Halbton (H) – Ganzton (G) zog man – wahrscheinlich nur, um selbst erfundenen Zeichen (notae, figurae ptongorum) den Schein antiker Autorität zu verleihen – das in den Lehrstoff der lateinischen Grammatik eingegangene griechische dasia-Zeichen in seiner spätantiken Form heran (a) und ergänzte es durch drei weitere Zeichen (b), (c) und (d), die gebildet wurden, indem man am oberen Ende des Ausgangszeichens buchstabenförmige Zusätze anbrachte (siehe Diagramm 3). Diagramm 3 Stufe 1 Stufe 2 Stufe 3 Stufe 4 | G | H | G | (d) (c) (a) (b)
Diese Viertongruppe (tetracordum) wurde durch den Anbau weiterer Gruppen gleicher Binnenstruktur zu einer vollständigen Tonleiter ausgebaut, zu deren Notation man die vier Zeichen kippte und drehte, um die Lage des vervielfältigten Abstandsgefüges auf der Gesamtleiter kenntlich zu machen. Das Zeichensystem ist nur in dieser zur Notation eines Tonsystems ausgebauten Form überliefert. Nach der Herkunft seines Ausgangszeichens wird es als dasia-Notation bezeichnet. Die Tonbewegungszeichen bilden ein System, das in der Forschung (nach einer seit dem 9. Jahrhundert belegten Bezeichnung der Zeichen als neuma) ‘Neumennotation’ genannt wird. Die Basiszeichen dieser Notation bildeten
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die Akzentzeichen (signa accentuum), die in Zusammenhang mit den durch sie bezeichneten Akzenten (accentus) der griechischen Sprache in der lateinischen Grammatik behandelt werden.89 Ein Paar dieser Akzentzeichen verweist auf die beim Sprechen und Lesen auftretende Hebung (/) oder Senkung (\) von Silben, ein zweites Zeichenpaar auf deren Länge (–) oder Kürze (⋃). Die karolingischen Erfinder der Neumennotation haben beide Zeichenpaare von Silben auf Töne umgelenkt: Die auf den Wechsel zwischen Hebung und Senkung von Silben bezogenen wurden auf die Richtungen bezogen, aus der ein Ton innerhalb einer Tonbewegung erreicht und in die er verlassen wird. Die auf den Wechsel zwischen Länge und Kürze von Silben bezogenen Akzentzeichen wurden auf die relative Dauer des Verweilens auf dem Ausgangs- und Zielton einer Tonbewegung übertragen. Zur Kennzeichnung der Bewegungsrichtung wurden zusätzlich zu den beiden richtungsbezogenen auch die dauerbezogenen Akzentzeichen herangezogen (in den Diagrammen 5 und 6 zusätzlich zu / und \ auch –).90 Diagramm 4
Zielton c d a = Aufwärtsschritt b = • c = Abwärtsschritt d = a b
Ausgangston Abwärtsschritt Aufwärtsschritt
89 Vgl. Charles M. Atkinson, „De accentibus toni oritur nota quae dicitur neuma: Prosodic Accents, the Accent Theory, and the Paleofrankish Script“, in: Graeme M. Boone (Hrsg.), Essays on Medieval Music in Honor of David G. Hughes, Cambridge, MA: Harvard University Press, 1995, S. 17–42; ders., „Glosses on Music and Grammar and the Advent of Music Writing in the West“, in: Sean Gallagher (Hrsg.), Western Plainchant in the First Millennium: Studies in the Medieval Liturgy and Its Music, Aldershot: Ashgate, 2003, S. 199–215. 90 Zu dieser Interpretation der Neumennotation vgl. die Exkurse in: Haug, „Terminologie und Theorie des Notierens“, sowie: Andreas Haug/Konstantin Voigt/Hanna Zühlke, „Neumes without Names. Towards a New View on Ninth Century Neumatic Notations“, Paper, vorgetragen auf der 47. Medieval and Renaissance Music Conference 2019, Basel, 3. bis 6. Juli 2019 (Druckfassung in Vorbereitung). Einen anderen Ansatz verfolgt Susan Rankin, Writing Sounds in Carolingian Music: The Invention of Notation, Cambridge: Cambridge University Press, 2018.
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Diagramm 5 Akzentzeichen Neumenzeichen Zeichenform Zeichenwert Zeichenform Zeichenwerte / Hebung der Silbe / a b a-c \ Senkung der Silbe \ c c-d — Länge der Silbe — c d a-d c-b U Kürze der Silbe .
Ein Ton kann aus zwei Richtungen (von unten, von oben) erreicht und in zwei Richtungen (nach unten, nach oben) verlassen werden91 (oder, im Falle gleichstufiger Töne, auf der Zielstufe wiederholt werden). Ein Ton ist also Ziel- oder Ausgangston einer Aufwärts- oder Abwärtsbewegung (siehe Diagramm 4). Diese Unterschiede werden durch drei verschiedene Formen des strichförmigen Zeichens gekennzeichnet, das den Ton sichtbar macht: durch die Richtung, in die der Strich gezogen wird (Diagramm 5): Zeichen 1, der diagonal nach oben gezogene Strich (/), kennzeichnet einen Ton als Zielton von Aufwärts- (a) oder als Ausgangston von Abwärtsbewegungen (b); Zeichen 2, der diagonal nach unten gezogene Strich (\), als Zielton einer (einzigen) Abwärtsbewegung (c); Zeichen 3, der waagerechte Strich (–), als Zielton von (mindestens zwei) Abwärts- (c) oder Aufwärtsbewegungen (d). Eine Verbindung von Zeichen 3 und 1 bezeichnet eine einzelne Bewegung aufwärts (elevatio), die Verbindung der Zeichen 1 und 2 eine einzelne Bewegung abwärts (depositio). Zur Notation melodischer Bewegungssegmente im Umfang von mehr als einer Hebung oder Senkung (also eines melodischen comma) werden dieser Verbindung weitere Zeichen angefügt (siehe Diagramm 6). Töne innerhalb eines comma werden zugleich als Ziel- und Ausgangston der Bewegungen bezeichnet (a + b, c + d, a + d, c + b), Töne am Beginn des comma nur als Ausgangston seiner ersten (nur b, nur d), Töne an seinem Ende nur als Zielton seiner letzten Tonbewegung (nur a, nur c). Auf diese Weise werden innerhalb eines colon die Grenzen (fines) zwischen den commata erkennbar, die den Tonverlauf gliedern (cantum distingunt): Die Verkettung der Zeichen macht die in Vergleich
91 Das trifft auf ungleichstufige Töne (voces inaequales) zu; gleichstufige Töne (voces aequales) werden als Wiederholungen des vorangegangenen Tons aufgefasst und als solche bezeichnet.
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B explizierte Abschnittsbildung innerhalb des melodischen Textes sichtbar (wie ein Vergleich der Diagramme 1 und 6 verdeutlicht). Diagramm 6 commata cola
da-bc da-bc
da bc b c
da-b c-d c b-c
Gemeinsam ist den drei Zeichensystemen, dass sie die Kantilene als einen Strang zeitlich aufeinanderfolgender, voneinander abgegrenzter Einzeltöne sichtbar machen, wobei auf den diskreten Einzelton jeweils durch ein diskretes Einzelzeichen Bezug genommen wird. Was die Systeme unterscheidet, sind die Bestimmungen, hinsichtlich derer dieses Zeichen den Ton, den es sichtbar macht, kennzeichnet und von anderen Tönen unterscheidet. Tonstufenzeichen (Buchstabennotationen) machen den Ton in stillgestelltem Zustand sichtbar, als Element eines Tongefüges, und kennzeichnen ihn hinsichtlich der Leiterstufe, auf die er bezogen wird. Tonabstandzeichen (der Dasia-Notation) unterscheiden Töne voneinander hinsichtlich der unterschiedlichen Abstände, die sie von den Nachbartönen ihrer unmittelbaren Umgebung trennen. Tonbewegungszeichen (der Neumennotation) machen den Ton sichtbar (durch einen Strich) und kennzeichnen ihn erstens hinsichtlich der Richtung, aus der er als Zielton einer Tonbewegung erreicht und in die er als deren Ausgangston verlassen wird (durch die Richtung, in die der Strich gezogen ist), zweitens im Hinblick darauf, ob der Ton mit dem vorangegangenen zusammenhängt (anders ausgedrückt: ob der Ausgangston einer Bewegung mit dem Zielton der vorangegangenen Bewegung zusammenfällt), wie es innerhalb eines comma der Fall ist, oder ob er von diesem getrennt ist, wie es zwischen den commata eines colon der Fall ist (weil der Zielton der letzten Bewegung eines comma nicht mit dem Ausgangston der ersten Bewegung des folgenden comma zusammenfällt). Ein Theoretiker des 9. Jahrhunderts hat die Tonstufenzeichen und Tonbewegungszeichen einem Leistungsvergleich unterzogen. Er demonstriert, wie die Tonbewegungszeichen vor dem casus vocis versagen: Anders als die Tonstufenzeichen sind sie nicht in der Lage, den Umfang eines Tonschritts auf den Ton-
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abstand auf einer Leiter abzubilden.92 Umgekehrt machen sie erkennbar, was dem Zugriff der Tonstufenzeichen entzogen bleibt: „wie die Töne miteinander verbunden oder voneinander getrennt sind“ (qualiter ipsi soni iungantur vel distinguantur ab invicem).93 Mit anderen Worten: Die Transkription der Kantilene mittels Tonstufenzeichen entspricht der Explikation, die sie in Vergleich A erfahren hat; ihre Transkription mittels Tonbewegungszeichen entspricht der Explikation in Vergleich B. Ob ihre karolingischen Benutzer diese Zeichensysteme als eine Art von Schrift begriffen – das Bezeichnen von Tönen, nur weil es mit der Schreibfeder ausgeführt wurde, als Schreibvorgang betrachtet haben –, ist nicht klar. Wie sie die Frage, ob man Töne (soni) schreiben kann, beantworteten, hing davon ab, wie sie sich dazu verhielten, dass Isidor von Sevilla diese Frage an prominenter Stelle autoritativ verneint (scribi non possunt).94 Und wie sie dieses Nein begründeten, hing davon ab, welcher der in der Grammatik aufgestellten Lautklassen sie die Töne der Kantilene zugeordnet und welcher der von Grammatikern vertretenen Klassifikationen sie sich angeschlossen haben. Jedenfalls hat keiner der bekannten Autoren des 9. Jahrhunderts behauptet, man könne Töne schreiben. Sie haben das Bezeichnen (notare) von Tönen (soni) mit sichtbaren Zeichen (signa, notae) mit dem Schreiben (scribere) von Sprachlauten (litterae) und das Absingen (canere) eines bezeichneten Tonverlaufs mit dem Lesen (legere) verglichen, ohne das Bezeichnen von Tönen als Schreiben, das Absingen von Tönen als Lesen zu bezeichnen.95 Bezogen auf die Funktion von Zeichen, die Töne sichtbar machen, verwenden sie Verben aus dem Wortfeld des Zeigens (demonstare, ostendere, auch exprimere), bezogen auf die Perzeption der Zeichen (die inspectio notarum) Verben aus dem Wortfeld des Sehens (pervidere, discernere).96 Nur der Adressat von Buchstaben ist ein legens, der Adressat von Tonzeichen ein videns.97
92 Hucbald von Saint-Amand, De harmonica institutione, cap. 46 (S. 196). 93 Ebd., cap. 46. 94 Isidor, Etymologiae, lib. III, cap. 1. 95 Musica enchiriadis, S. 13 (cap. VII). 96 Aurelianus Reomensis, Musica disciplina, cap. 19, in: Lawrence Gushee (Hrsg.), Aurelian of Réôme, Musica disciplina (= Corpus Scriptorum de Muscia, Bd. 21), o. O.: American Institute of Musicology, 1975, S. 118–128. 97 Hucbald von Saint-Amand, De harmonica institutione, cap. 44 (S. 195).
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3.6 Keine Signifikation, keine Prädikation Die Vermengung grammatischer und logisch-semantischer Kriterien bei der Klassifikation vokaler Lautformen, wie sie bei Marius Victorinus und Priscian (und Alkuin) zu beobachten ist, lässt sich historisch damit erklären, dass das originäre, von der Logik der Stoa entfaltete Verständnis von vox articulata (phone enarthros), vox literata (phone engrammatos) und vox significativa (phone semantike) in der Tradition der römischen Grammatik mit der Zeit verloren gegangen war.98 Diese Gliederung eines vokalen Lautgebildes erkannte die Logik der Stoa als Voraussetzung dafür, dass dieses Lautgebilde schreibbar ist, weil es sich in durch Einzelzeichen darstellbare Einzellaute auflösen lässt. Gleichzeitig bildet diese Gliederung die Voraussetzung dafür, dass das Lautgebilde etwas bezeichnet, indem seine Einzellaute, die (als kleinste bedeutungsunterscheidende Einheiten) eigenständig nichts bezeichnen, sich zu Wörtern verbinden, die (als kleinste bedeutungstragende Einheit) eigenständig etwas bezeichnen. Wenn ein spätrömischer Grammatiker und sein karolingischer Kompilator die vox articulata als vox significativa kennzeichnen, unterschlagen sie, dass die vox articulata erst auf der Strukturebene der Wörter zur vox significativa wird (die Pointe, auf die es der dialectica ankommt). Auf der Ebene elementarer Einzellaute, auf der sich die vox canora im Rahmen von Vergleich A als vox articulata präsentiert, unterscheiden vox articulata und vox significativa sich noch gar nicht voneinander. Die Unterschlagung dieser Pointe macht allerdings auf einen Tatbestand aufmerksam, auf den es aus diskursgeschichtlicher Perspektive ankommt: Der karolingische Vergleich zwischen verbaler und nonverbaler Lautstruktur endet an der Grenze zwischen Grammatik und Logik: Man vergleicht die vox canora mit der vox articulata, nicht mit der vox significativa. Auf der Grundlage der Vergleiche A und B war die Explikation und Transkription der Kantilene im medialen Zustand eines melodischen Textes möglich, der mit dem verbalen Text die Eigenschaften Strukturalität und Kohärenz gemeinsam hat. Ob dieser melodische Text überdies die Leistungen der Signifikation und der Prädikation erbringen könne, haben karolingische Theoretiker nicht zu fragen versäumt; diese Frage hätten sie nicht stellen können. In der einzigen theoretisch ausgearbeiteten Semantik, die im 9. Jahrhundert nördlich der Alpen zugänglich war, der Semantik der aristotelischen Logik (in der durch Alkuins De dialectica vermittelten Schwundform), ist das Vermögen etwas zu bezeichnen (die Signifikation) der vox significativa vorbehalten (Nennwort und Aussagewort), das Vermögen etwas auszusagen (die Prädikation) der
98 Ax, Laut, Stimme und Sprache, S. 26, Anm. 33.
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oratio enuntiativa (dem aus Nennwort und Aussagewort gebildeten Aussagesatz). Die Bestandteile von Nennwort und Aussagewort (Silbe und Laut), mit denen karolingische Theoretiker die Bestandteile des melodischen Textes ausschließlich verglichen haben, bedeuten eigenständig nichts. Wenn einem einzelnen Medium zugeschriebene Eigenschaften und Leistungen sich nur im Rahmen von Medienvergleichen identifizieren lassen, ließen sich in diesem Vergleich die Eigenschaften Strukturalität und Kohärenz als Eigenschaften melodischer Texte identifizieren, unmöglich aber die Leistungen Signifikation und Prädikation.
3.7 Folgen der Vertextlichung Ihre Explikation als melodischer Text, als ein System von Relationen diskreter Einzeltöne, entfremdete die Kantilene den Bedingungen melodischer O ralität, unter denen sie – grob gesprochen – nicht als Verbindung einzelner Töne oder Tonschritte, sondern als Verbindung geprägter Bewegungssegmente vom Umfang eines melodischen Kolons wahrgenommen und überliefert wurde. Die musikhistorische Forschung spricht in Anlehnung an die Formelsysteme mündlicher Dichtung von melodischen Formeln.99 Die Stillstellung der melodischen ‘Mouvance’ der Kantilene (um auch diesen Schlüsselbegriff aus der Erforschung mündlich überlieferter verbaler Texte aufzugreifen)100 bedeutete einen Bruch mit den Mechanismen melodischer Oralität, einen Traditionsbruch, der durch Verschriftlichung der Kantilene gewissermaßen besiegelt und gleichsam auf Dauer gestellt wurde. Umgekehrt setzte die Vertextlichung der Kantilene den Einzelton aber auch als kleinstes disponibles Element des Komponierens frei. Im Rahmen der im 9. Jahrhundert nördlich der Alpen einsetzenden Neuproduktion kirchlicher Gesänge – von einem beteiligten Zeitgenossen als nova carminum compositio bezeichnet101 – ist eine produktive Ausbeutung der neuen Disponibilität des Einzeltons erstmals erkennbar: in neuartigen Formen eines Komponierens, das auf der Ebene von Einzeltönen definierte (und seit dem Ende des 9. Jahrhunderts im Medium der Neumennotation überlieferte) Kompositionen zeitigte. Historisch lässt sich der
99 Vgl. Leo Treitler, „Homer and Gregory. The Transmission of Epic Poetry and Plainchant“, in: Musical Quarterly 60 (1974), S. 333–372; Max Haas, Mündliche Überlieferung und altrömischer Choral: historische und computergestützte Untersuchungen, Bern u. a.: Lang, 1997. 100 Vgl. Paul Zumthor, Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft, München: Fink, 1994, S. 94 f. 101 Notker von Sankt Gallen, Gesta Karoli I 33, in: H. F. Haefele (Hrsg.), Notkeri Balbuli Gesta Karoli Magni Imperatoris, Berlin: Weidmann, 1959, S. 12–15.
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Beginn eines Komponierens im spezifisch europäischen Sinne im 9. Jahrhundert als kulturelle Kompensation des Traditionsbruchs interpretieren, der dieses Komponieren technisch möglich machte.102 Eine weitere Folge der Textlichkeit der Kantilene war ebenfalls von großer Tragweite. Die Textgestalt ihrer Klangtextur rechtfertigte neue Ansprüche des nonverbalen Mediums und neue Anforderungen an das Medium: Sie begründete den Anspruch nonverbaler Lautverbindungen auf Eigengesetzlichkeit und die gegenüber nonverbalen Lautverbindungen geltend gemachte Forderung nach Richtigkeit, eine Forderung, die man vordem nur an verbale Texte gestellt hatte. Beides bezeugt der Versprolog zu einem durchgängig mit Neumenzeichen ausgestatteten Antiphonar, der sich um 980 mit folgenden Ermahnungen an die Benutzer des Buches wendet, Sänger, denen sich die Kantilene auf den Seiten des Buches in vertextlichter und verschriftlichter Gestalt präsentierte: Verwendet euren aufmerksamen Sinn auf die richtigen Töne (rectis sonis); lernt die rechtmäßigen Gassen der Wörter (verborum legales calles) zu durchschreiten und verbindet die wohlschmeckenden Wörter (dulcia dicta) so mit den vorzüglichen Gesangsweisen (egregiis modis), dass weder die Sorge um die Wörter (cura verborum) die Töne noch [umgekehrt] die Sorge um die Töne (cura sonorum) die Gesetze der Wörter (normas verborum) zunichtemacht (nullificare queat).103
Töne können richtig oder falsch gesungen werden. Melodien unterliegen nicht weniger strengen Normen als die Texte, die sich durch „gesetzeskonforme Gassen“ (legales calles) voran bewegen. Eine übertriebene Beachtung der Töne (cura sonorum) droht die grammatischen Normen der Texte (norma verborum) ebenso zu verletzen wie übertriebene Sorgfalt bei der Textaussprache (cura verborum) die melodischen Normen konforme Modulation der Töne verletzen kann. Die Textlichkeit der Melodien wertet diese gegenüber den verbalen Texten auf zu Klangkomponenten eigenen Rechts und eigenen Gewichts. Sie begründet eine mediale Autonomie der Melodien und ermöglicht dem nonverbalen Medium mit dem verbalen in Konkurrenz zu treten. Dass es bei Tonverbindungen Falsch und Richtig gibt, dass nicht alle Anordnungen von Tönen intramedial sinnvoll sind, wurde schon im 9. Jahrhundert bemerkt: So wie sich Sprachlaute nicht in beliebigen Anordnungen stimmig zu
102 Vgl. Haug, „Der Beginn europäischen Komponierens“. 103 Sankt Gallen, Stiftsbibliothek, Codex 390, pag. 12: „Sollicitam rectis mentem adhibete sonis; / Discite verborum legales pergere calles, / Dulciaque egregiis iungite dicta modis, / Verborum ne cura sonos, ne cura sonorum / Verborum normas nullificare queat.“ Vgl. dazu Haug, „Der Codex und die Stimme in der Karolingerzeit“.
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Silben und Wörtern verbinden, so bilden auch nur bestimmte Verbindungen von Tönen konsonante Zusammenklänge.104
3.8 Transparenz, Störung, Transkription Wenn man, wie in diesem Beitrag vorgeschlagen, die im 9. Jahrhundert zu beobachtenden Prozesse der Vertextlichung und Verschriftlichung der Kantilene des Kirchengesangs als Prozeduren seiner Explikation und Transkription begreift, stellt sich im Anschluss an die Arbeiten Ludwig Jägers die Frage, wodurch die Transparenz des Mediums gestört wurde, was die als Bearbeitung dieser Störung zu verstehenden Prozesse der Explikation und Transkription ausgelöst hat. Dem kann hier nicht weiter nachgegangen werden. Indessen deutet alles darauf hin, dass sich ein beispielloser Eingriff königlicher Macht in den Kultgesang der Kirche als dieser Störfaktor identifizieren lässt. Als klangliches Medium der Hörbar machung verbaler Texte haben die spätantiken Buchreligionen, denen das buchreligiöse Schlüsselritual der öffentlichen Rezitation ihrer O ffenbarungsschriften gemeinsam war, die der Textrezitation unterlegte Kantilene in einem Zustand nicht thematisierter Unsichtbarkeit belassen: Sie war durchsichtig bis auf die Worte, die sie hörbar macht. Diesem transparenten Zustand hat sie von allen buchreligiösen Gemeinschaften nur das Christentum entfremdet, und auch dies bemerkenswert spät und zuerst im lateinischen Westen: im 9. Jahrhundert nördlich der Alpen. Dort normativ verbreitet, hatte der Gesang der Kirche Roms indigene Traditionen verdrängt. Insofern stellte sich dessen Kantilene in dieser Region als ebenso eminenter wie problematischer Wissensgegenstand dar. Vor diesem Hintergrund dürfte sich die intensive und produktive Anwendung antiker Wissensformen auf eine Klangtextur, die dem Bezugsrahmen der artes bislang entzogen geblieben war, als ein Versuch erklären lassen, die Kantilene von einem Gegenstand des impliziten Wissens ihrer Performer in einen Gegenstand des expliziten Wissens ihrer Analytiker zu verwandeln; eine Form des Wissens, in der sie sich erfolgreicher überwachen, begründen, sichern, erweitern und vermitteln ließ.
104 Musica enchiriadis, S. 23 (cap. X). Dieser Vergleich ist bereits bei Censorinus, De die natali, cap. X, belegt. Vgl. Censorinus, Über den Geburtstag, lateinisch und deutsch, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Kai Brodersen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014, S. 66 f.
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4 Zusammenfassung: Die Textlichkeit der Kantilene und die Textlichkeit der Musik Das von Theoretikern des 9. Jahrhunderts auf der Grundlage antiker Wissensformen an der Kantilene des kirchlichen Gesangs gewonnene Modell melodischer Textlichkeit lässt sich als eine Präfiguration der Denkform ‘Musik als Text’ verstehen, die im 20. Jahrhundert aufgekommen und unter den Vorzeichen des modernen Textbegriffs zum Problem geworden ist. Von der Problematik der modernen Denkform war das vormoderne Denkmodell nicht betroffen: Für melodische Texte des 9. Jahrhunderts stellte sich die Frage, was einen Text zum Text macht, nicht, und sie waren von den in dieser Frage gebündelten Erwartungen ebenso wenig belastet wie von den Konnotationen des Musikbegriffs und des musikalischen Werkbegriffs der europäischen Moderne. Anders als die Neuzeit ihre Vergleiche zwischen Musik und Sprache hat das 9. Jahrhundert seine Vergleiche zwischen nicht-sprachlichen und sprachlichen Stimmlauten nicht überstrapaziert. Seine Suche nach Momenten signifikanter Gleichartigkeit zwischen den ungleichartigen Produkten der Singstimme und der Sprechstimme endet auf der Grenze zwischen Grammatik und Logik. Verglichen werden die fachspezifische Lautanalyse der Harmonik mit den fachspezifischen Lautanalysen der Grammatik und der Rhetorik. Ihre Analysen gründen karolingische Analytiker der Kantilene auf den Begriff des Klangs, nicht auf den Begriff der Musik. Anders als das 20. war das 9. Jahrhundert nicht von Definitionen abhängig, um die Intention des Textbegriffs gegenüber seiner Extension gehegten kulturellen Erwartungen oder Vorbehalten anzupassen. Während die Moderne die Textlichkeit von Musik bezogen auf ‘Musik als Kunst’ und ‘Musik als Werk’ erörtert, war die melodische Textlichkeit des 9. Jahrhunderts die Grundlage für ‘Klangtextur als Komposition’, nicht aber von ‘Komposition als Werk’. Wenn es zur strategischen Verfremdung der für die europäische Moderne typischen Form des Problems ‘Musik als Text’ in Anspruch genommen wird, kann sich das historische Denkmodell kraft seiner Alterität auch in systematischer Hinsicht als belangvoll oder wenigstens als heuristisch hilfreich erweisen. Zugleich lässt sich das im 9. Jahrhundert ausgearbeitete Modell melodischer Textlichkeit als eine entscheidende Voraussetzung für das moderne Konzept des musikalischen Werkes begreifen; und zwar als gemeinsame Grundlage der divergierenden, systematisch inkompatiblen, historisch koexistenten Theorien dieses Werkes, die Goodman und Adorno im 20. Jahrhundert vertreten haben. Keines der klangbezogenen Zeichensysteme des 9. Jahrhunderts war eine Notenschrift, und Aufzeichnungen melodischer Texte mithilfe dieser Zeichensysteme waren keine Partituren. Jedoch erkannte schon Adorno im gestischen
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Moment der europäischen Notenschrift ein „Erbteil der Neumenschrift“, also ein Erbe der karolingischen Tonbewegungsnotation, die er (im Einklang mit einem bis vor kurzem weithin unangefochtenen Konsens der Forschung) als eine „Gestenschrift“ auffasste, im signifikativen Moment der Notenschrift ein Erbteil jener Tonstufennotation antiker Provenienz, die das 9. Jahrhundert als Lehrstoff der spätantiken neuplatonisch orientierten Harmonik wiederentdeckt und bezogen auf die Kantilene des Kirchengesangs in Umlauf gebracht hatte.105 Adornos Einsicht, dass „der an der Sprache gewonnene Begriff des Lesens“ der „bildlichen Treue“ widerspreche, mit der die Tonbewegungsnotation Tonbewegungen wiedergibt,106 erscheint wie eine Wiederkehr des Zögerns karolingischer Theoretiker, im Bezeichnen von Tönen einen Akt des Schreibens, im Absingen von Tönen nach Zeichen einen Akt des Lesens zu erkennen. Historisch lässt sich die Adornos Musikverständnis und seiner Theorie der Reproduktion des musikalischen Werkes zugrunde liegende Idee einer der Partitur eingeschriebenen „Zone der Unbestimmheit“ aus der Uneindeutigkeit der karolingischen Tonbewegungszeichen ableiten, die die Richtungen von Tonbewegungen anzeigen, ohne den Unterschied (discrimen) zwischen dem Ausgangs- und dem Zielton der Bewegung dadurch eindeutig zu bezeichnen, dass sie den Unterschied als Abstand (diastema) zwischen den Stufen einer Tonleiter bestimmen, wie die Tonstufenzeichen es tun. Aus diesen Tonstufenzeichen lässt sich die für Goodmans Idee der vollständigen Erfüllbarkeit der Partitur unerlässliche Eindeutigkeit der Partitur, das signifikative Moment der Notation, historisch ableiten. Sie ermöglichten es, den ‘Fall eines Klangs auf eine Tonstufe’ abzubilden, den casus vocis, auf dem der antike Tonbegriff beruht, der infolge seiner karolingischen Anwendung auf die Laute der Kantilene zum europäischen geworden ist. Im ‘Fall eines Klangs auf eine Tonstufe’ ist Goodmans ‘echter Einzelfall des Werkes’ aus der Ferne vorbereitet, stellt sich der casus vocis in einer semiotischen Lesart doch als eine Typ-Instanz-Relation dar: Ein Ton hat dann eine bestimmte, identisch wiederholbare ‘Tonhöhe’, wenn er ein ‘echter Einzelfall’ der durch das Tonsystem bestimmten und durch Tonstufenzeichen festlegten Tonstufe ist. Nicht der antike Einzeltonbegriff und nicht der antike Vergleich zwischen dem Lautprodukt der Sprechstimme und der Singstimme waren die Voraussetzung der modernen Denkform ‘Musik als Text’, sondern die Anwendung dieser antiken Denkformen auf die Kantilene des Kirchengesangs im 9. Jahrhundert. Gegen Ende der Spätantike standen Tonleitern ohne Töne Tönen ohne Tonleiter
105 Adorno, Theorie der musikalischen Reproduktion, S. 233. 106 Ebd., S. 235.
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gegenüber. Mit dem Untergang der antiken Kulturtechniken der Klanggestaltung waren die Töne verstummt, auf die sich die Tonleitern der antiken Harmonik einst bezogen hatten. Die Tonleitern wurden weiterüberliefert als Gegenstände einer neuplatonischen Kontemplation intelligibler Zahlenrelationen.107 Sie blieben präsent als Reflexionsgegenstände eines Faches namens Musik, das sich weder mit antiken Kulturtechniken der Klanggestaltung noch mit Musik im neuzeitlichen Sinne abgab, sondern mit „aufeinander bezogenen Zahlen, die in Klängen aufgefunden werden“, eines Faches, das in bleibenden Zahlenverhältnissen die Formursachen der Leiterstufen ermittelte. Dazu mussten die im Medium der Tonstufenzeichen sichtbar gemachten Tonstufen der antiken Leitern nicht hörbar sein. Gleichzeitig trat in Verbindung mit dem Aufstieg der spätantiken Buchreligionen eine neue Art hörbarer Töne auf: die Stimmlaute der Kantilene, des klanglichen Mediums der Hörbarmachung heiliger Schriften. Im Rahmen der karolingischen Explikation und Transkription der Kantilene als melodischer Text verschränkten sich in gewisser Weise zwei gegenläufigen Medienbewegungen: Die sichtbaren, aber unhörbaren Tonordnungen der antiken Tonleitern wurden hörbar gemacht, indem der Tonverlauf der Kantilene auf sie bezogen wurde; der hörbare, aber unsichtbare Tonverlauf der Kantilene wurde sichtbar gemacht, indem er auf antike Tonleitern abgebildet wurde.
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107 Dass die Zahlenrelationen als Formursachen der Tonabstände aufgefasst wurden, zeigt im Anschluss an Gyburg Radke, Die Theorie der Zahl im Neuplatonismus, Tübingen/Basel: Francke, 2003: Anja Heilmann, Boethius‘ Musiktheorie und das Quadrivium. Eine Einführung in den neuplatonischen Hintergrund von De institutione musica, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, S. 177–202.
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Bildsinn und Bedeutung 1 Einleitung In der Alltagssprache werden die Begriffe Sinn und Bedeutung in der Regel synonym verwendet. Auch in der Kunstgeschichte ist der Gebrauch der Worte weitgehend unterschiedslos, zumal einer der einflussreichsten Vertreter des Faches, der sich mit der Bedeutung von Bildern beschäftigt hat, der Ikonologe Erwin Panofsky, keine Differenzierung vorgenommen hat. In seiner berühmten Aufsatzsammlung, die 1955 in den USA mit dem Titel Meaning in the Visual Arts publiziert wurde und zwanzig Jahre später auf Deutsch als Sinn und Deutung in der bildenden Kunst erschien, sind beide Begriffe unmissverständlich in eins gesetzt.1 Sinn ist, was im Bild an Bedeutung gegeben ist und von der Kunstgeschichte interpretiert bzw. gedeutet werden muss. Nun ist gemeinhin bekannt, dass in semiotischen Untersuchungen von Bildern Regelmäßigkeiten in den gegebenen Konstellationen immer neu und nur für das jeweils betrachtete Bild festgestellt werden können und müssen. Exemplarisch hat das der Schweizer Kunsthistoriker Felix Thürlemann in einem Aufsatzband mit dem Titel Vom Bild zum Raum aus dem Jahr 1990 vor Augen geführt.2 Im Gegensatz zur Sprache, darauf hat auch Andreas Kablitz immer wieder hingewiesen, gibt es kein System, welches jeder Äußerung zugrunde liegt und die Produktion und Rezeption von Aussagen ermöglicht und reguliert.3 Das heißt, dass Bilder zeichenhafte Gefüge sind, in denen die Form der Erscheinung weitaus stärker ins Gewicht fällt als das Bezeichnete, also die Bedeutung der Zeichen. Vergleichbar vielleicht, wenn überhaupt, mit der Lyrik oder der Fiktion, geht es in Bildern also nicht in erster Linie – wie in der Alltagssprache – um wahre oder falsche Aussagen über einen Sachverhalt oder die Wirklichkeit, sondern um die jeweilige Darstellungsweise und deren Bedeutung.4
1 Erwin Panofsky, Meaning in the Visual Arts, New York: Doubleday, 1955; ders., Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, übers. von Wilhelm Höck, Köln: DuMont, 1975. 2 Felix Thürlemann, Vom Bild zum Raum. Beiträge zu einer semiotischen Kunstwissenschaft, Köln: DuMont, 1990. 3 Andreas Kablitz, „Die Sprachlichkeit des Textes. Vom Nutzen und Nachteil seiner Metaphorisierung und von deren Ursachen“, in: Poetica 48 (2016), Nr. 3–4, S. 169–199, hier: S. 198; ders., Wie entsteht Bedeutung in Sprache und Bild? Philologische Überlegungen zur Bildwissenschaft, Berlin/Boston: de Gruyter (in Vorbereitung). 4 Andreas Kablitz, Kunst des Möglichen. Theorie der Literatur, Freiburg/Br.: Rombach, 2012. https://doi.org/10.1515/9783110715514-002
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Charlotte Klonk
In einem Aufsatz aus dem Jahr 1892 hat der Logiker Gottlob Frege versucht, eine Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung in der Sprache einzuführen.5 Sinn verweist Frege zufolge in Worten, Satzteilen und Sätzen auf eine Bedeutung, die nach seiner Auffassung der Gegenstand selbst ist. „Die regelmä ßige Verknüpfung zwischen dem Zeichen, dessen Sinne und dessen Bedeutung ist der Art“, so schreibt er, „daß dem Zeichen ein bestimmter Sinn und diesem wieder eine bestimmte Bedeutung entspricht, während zu einer Bedeutung (einem Gegenstande) nicht nur ein Zeichen zugehört. Derselbe Sinn hat in verschiedenen Sprachen, ja auch in derselben verschiedene Ausdrücke“.6 Das heißt, dass die Bedeutung der Wörter Abendstern und Morgenstern zwar dieselbe ist, nämlich der Planet Venus, ihr Sinn in Form der Bezeichnungen aber jeweils einen anderen Aspekt des Gegenstandes und damit einen anderen Gedanken zum Ausdruck bringt. Wenn zwei verschiedene Zeichen für denselben Gegenstand stehen, so kann laut Frege diese Verschiedenheit „nur dadurch zu Stande kommen, daß der Unterschied des Zeichens einem Unterschiede in der Art des Gegebenseins des Bezeichneten entspricht“.7 Nicht nur wegen der Formulierung „Art des Gegebenseins“ regen Freges Überlegungen zu einem Nachdenken über die unterschiedslose Verwendung von Sinn und Bedeutung in der Kunstgeschichte an. Geht es wirklich in beiden Fällen nur um ein und denselben Inhalt eines Kunstwerks? Doch Frege geht es explizit nicht um Bilder oder Kunstwerke, sondern um das Streben nach Wahrheit in der Sprache.8 In Kunstwerken wie dem griechischen Epos fessele uns, so schreibt er, „neben dem Wohlklange der Sprache allein der Sinn der Sätze und die davon erweckten Vorstellungen und Gefühle“.9 Mit Bildern gar bezeichnet er jene besonderen Fälle, in denen Zeichen nur einen Sinn haben und nicht mehrere wie im alltäglichen Sprachgebrauch üblich. „Nennen wir solche [Zeichen] etwa Bilder, so würden die Worte des Schauspielers auf der Bühne Bilder sein, ja der Schauspieler selber wäre ein Bild“.10 Mit der Frage nach der Bedeutung aber würde die Sinnebene der ästhetischen Betrachtung verlassen, denn die Bedeutung von Zeichen oder Zeichengefügen (Sätzen) ist nach Frege ihr „Wahrheitswert“.11 Dieser ist wiederum unauflöslich an ein Urteil gekoppelt, das „nicht das bloße Fassen
5 Gottlob Frege, „Über Sinn und Bedeutung“, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, NF 100 (1892), S. 25–50. 6 Ebd., S. 27. 7 Ebd., S. 26. 8 Ebd., S. 33. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 34.
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eines Gedankens“ (wie im Fall des Sinns) ist, sondern „die Anerkennung seiner Wahrheit“.12 Bilder aber fällen in dieser Weise kein Urteil über wahr oder falsch und bestehen auch nicht aus Urteilen dieser Art. Der Wahrheitswert der Darstellung steht in nicht-urteilsförmigen, nicht als Element einer als widerspruchsfrei unterstellten Gesamtaussage über die Wirklichkeit verfassten Zeichenkomplexen wie Bildern in der Regel nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit, es sei denn, es handelt sich etwa um dokumentarische Fotografien oder andere räumlich anschauliche Verortungen von Sachverhalten.13 Was sich in der Sprache auf Zeichen und Bezeichnetes reduzieren lässt, ist in Bildern vielschichtiger präsent.14 Um das zu fassen, hilft die Unterscheidung von Sinn und Bedeutung, wenngleich sie anders gedacht werden muss als bei Frege. Sowohl Sinn als auch Bedeutung erscheinen in Bildern als zwei gleichzeitig in der Wahrnehmung existierende Ebenen, die nicht unbedingt, so soll im Folgenden deutlich werden, deckungsgleich sein müssen. Bedeutung ist nicht der Wahrheitswert des Gegenstands selbst wie bei Frege, sondern der thematisch identifizierbare Inhalt eines Bildes, und sinnlich mag eine Vorstellung gegeben sein, die nicht mit dem Bedeuteten identisch ist. Sinn ist also mehr als die ästhetische Präsenz von Zeichen. Die Form der Erscheinung selbst generiert, wie bei Frege, einen Inhalt, der jedoch weder unabhängig vom Bedeuteten zu verstehen ist noch mit diesem notwendigerweise in Einklang stehen muss. Die Tragweite dieser Differenz mag ein Beispiel aus der Kunstgeschichte des frühen 19. Jahrhunderts vor Augen führen. Exemplarisch lässt sich daran zeigen, wie grundlegend die Unterscheidung von Sinn und Bedeutung für Bilder im Gegensatz zur Sprache ist und wie weitreichend die Folgen unter anderem für die Möglichkeit und Unmöglichkeit von Negationen und Serienbildung sind. 12 Ebd., S. 34. 13 Als räumlich anschauliche Verortung eines Sachverhalts muss man Wittgensteins ‘Bildals-Modell’-Begriff verstehen. Das Bild ist für ihn ein Modell der Welt, so wie „wenn im Pariser Gerichtssaal ein Automobilunglück mit Puppen etc. dargestellt wird“ (Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1984, S. 94). 14 Auch sprachphilosophisch ist Freges Unterscheidung nicht unumstritten geblieben. Schon Bertrand Russell hat darauf aufmerksam gemacht, dass eine Unterscheidung von Sinn und Bedeutung nach Frege zu Regress-Argumenten führt. Jede Bedeutungsbezeichnung eines Eigennamens sei selbst wiederum eine Kennzeichnung, die die Frage nach ihrem Sinn aufwerfe, denn jede Bestimmungsweise des Trägers könne abermals nur mit einer Beschreibung der Eigenschaften beantwortet werden. Vgl. Bertrand Russell, „On Denoting“, in: Mind, New Series 14 (1905), S. 479–493. In der neueren Sprachphilosophie ist die Unterscheidung mehrheitlich, so scheint es, ad acta gelegt worden. Zur zeitgenössischen Kritik der Unterscheidung in der Sprachphilosophie vgl. Genoveva Marti, „The Essence of Genuine Reference“, in: Journal of Philosophical Logic 24 (1995), S. 275–289, hier: S. 275.
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2 Die Gegenwart der Vergangenheit: Turners Die Bucht von Baiae mit Apollo und Sibylle (1823) Der englische Maler Joseph Mallord William Turner reiste 1819 zum ersten Mal nach Italien.15 Man muss sich die Reise nicht unbelastet vorstellen, denn ein Italienaufenthalt gehörte seit dem 18. Jahrhundert nicht nur zur klassischen Bildung der adligen Oberschicht auf Grand Tour, sondern auch zum Pflichtprogramm von Künstlern, die über die entsprechenden Mittel oder Mäzene verfügten. Schon der Ahnherr der englischen Landschaftskunst Richard Wilson hatte zwischen 1750 und 1756 die Landschaft um Rom künstlerisch erkundet. Auch die Bucht von Baiae westlich von Neapel wurde von ihm ausgiebig skizziert und schließlich in einem Ölgemälde festgehalten, das sich heute im Yale Center for British Art in New Haven befindet. Wilson wählte das Motiv vermutlich nicht zuletzt deshalb, weil sich bereits der schottische Dichter James Thomson 1735 im ersten Buch von Liberty genau diese Bucht in der Antike als Paradies auf Erden vorgestellt hatte: On Baia’s viny coast, where peaceful seas, Fanned by kind zephyrs, ever kiss the shore […].16
Thomson diente die Beschreibung der antiken Idylle als Folie, um das Ausmaß des modernen Verfalls vor Augen führen zu können. Wo einst „the delight of earth, / Where art and nature, ever smiling, joined“ im Einklang der Elemente existierte und im Gedicht in den intensiven Grundfarben durch das stille Blau des Meeres, das glühende Feuer des Vesuvs, das satte Grün der Weinreben, den zarten Duft der Zitronenbäume und Winde aufgerufen wird,17 da ist das moderne Bild für Thomson nur ein trauriger Abglanz der Vergangenheit: Hence drooping art almost to nature leaves The rude unguided year. Thin wave the gifts Of yellow Ceres, thin the radiant blush Of orchard reddens in the warmest ray. To weedy wildness run, no rural wealth
15 Werner Hofmann (Hrsg.), William Turner und die Landschaft seiner Zeit, Ausstellungskatalog, Hamburger Kunsthalle 1976, München: Prestel, 1976, S. 118. 16 James Thomson, „Liberty“, Teil 1, Vers 58–59, in: ders., Complete Poetical Works of James Thomson, hrsg. von J. Logie Robertson, London: Oxford University Press, 1961, S. 311–323, hier: S. 313 f. 17 Ebd., Vers 277 f., S. 320.
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Abb. 1: Joseph Mallord William Turner, The Bay of Baiae, with Apollo and the Sibyl (1823), Öl auf Leinwand, 145,5 × 237,5 cm, Tate Britain, London. © Tate Images
(Such as dictators fed) the garden pours. Crude the wild olive flows, and foul the vine […].18
Turner, der Thomsons Ancient and Modern Italy Compared – den ersten Teil des hier ausschnittweise zitierten Gedichts – mehrfach in seinen Werken aufgegriffen hat, fertigte auf seiner Reise Skizzen von der Bucht von Baiae an und präsentierte schließlich, vier Jahre später, eine Ansicht in der Jahresausstellung der Royal Academy (Abb. 1). In der zeitgenössischen Kritik wurde das Ölgemälde vor allem für seinen glanzvollen, goldenen Farbenreichtum bewundert, wenngleich auch Stimmen laut wurden, die seine Unnatürlichkeit kritisierten: „Where, we would ask, did Mr. Turner get this deep blue tint for the water? not from the sky“, schrieb zum Beispiel einer der Kritiker in der British Press.19 Das Werk war im Katalog mit dem Zusatz „Waft me to sunny Baiae’s shore“ versehen, während eine Inschrift auf einem Architekturfragment im linken Vordergrund Horazʼ Ode an Calliope zitiert:
18 Ebd., Vers 158–163, S. 316–317. 19 Zitiert nach Martin Butlin/Evelyn Joll, The Paintings of J. M. W. Turner, New Haven/London: Yale University Press, 1984, S. 125.
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Abb. 2: Claude Gellée (genannt Lorrain), Coast View with Apollo and the Cumaean Sibyl (ca. 1645–1649), Öl auf Leinwand, 99,5 × 127 cm, The State Hermitage Museum, St. Petersburg. © The State Hermitage Museum. Foto: Svetlana Suetova
„Liquidae Placuere Baiae“ („das klare Baiae gefiel“).20 Thematisch war somit das Spannungsverhältnis von gegenwärtiger Sehnsucht und vergangener Idylle gesetzt. Doch statt den Vordergrund durch Bäume, Architekturruinen und zentral gesetzte Figuren klar zu markieren – das bildnerische Äquivalent des erzählerischen „Es-war-einmal-und-ist-nicht-mehr“ – und den Mittel- und Hintergrund in goldenes, ewig währendes Sonnenlicht zu tauchen, wie es der von Turner und seinen Mäzenen meistgeschätzte Landschaftsmaler des 17. Jahrhunderts, Claude Gellée (genannt Lorrain), getan hatte, als er die Bucht von Baiae mit Apollo und Sibylle malte (Abb. 2), sind die Bildebenen bei Turner nicht klar voneinander getrennt. Man schlittert über den sandigen Untergrund fast an den Figuren und Gebäudefragmenten vorbei zum Meer, das sich in der oberen Hälfte des Bildes
20 Ebd., S. 125. Horaz, Oden 3,4, Vers 24.
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in blauem Dunst zum Himmel auflöst. Entsprechend unkommentiert blieb auch das Sujet des Bildes zum Zeitpunkt seiner Ausstellung. Und das, obwohl Claude Lorrains Gemälde durch einen Druck in England bekannt war, den der Stecher Richard Earlom 1776 für die weitverbreitete Reproduktionsausgabe des vom Künstler zuvor mit Zeichnungen selbst erstellten Liber Veritatis angefertigt hatte.21 Erst Turners kongenialer Exeget John Ruskin hat schließlich über dreißig Jahre später das Thema für die Nachwelt festgehalten, das dem Gemälde heute seinen Titel gibt: The Bay of Baiae with Apollo and the Sibyl.22 Wie schon bei Lorrain wird die Bucht von Baiae also als der Ort vorgestellt, an dem der Gott des Lichts und der Künste mit der Sibylle von Cumae zusammentraf, deren Orakel sich der Legende nach nicht weit davon entfernt befand. Die Geschichte geht auf Ovids Metamorphosen zurück und erzählt, dass der Gott, der in die Seherin verliebt war, ihr jeden Wunsch erfüllen wollte.23 Daraufhin bat sie um so viele Lebensjahre, wie sie Sandkörner in der Hand halten könne, vergaß aber bedauerlicherweise, zugleich um ewige Jugend zu bitten. Und so lebte sie zwar ewig weiter, doch schließlich nur noch, für alle unkenntlich geworden, als entkörperlichte Stimme in Raum und Zeit. Im Bild sehen wir, wie der rotgewandete und lorbeerbekrönte Apollo der halbnackten Sibylle Sand in die ausgestreckten Hände rieseln lässt. Rechts von der Figurengruppe macht sich ein weißes Kaninchen vom Acker, das in der Venusikonographie seit der Renaissance als Symbol für Fruchtbarkeit steht.24 Thematisch ist also alles klar und die Bedeutung offensichtlich: Es geht um Vergänglichkeit von physischer Schönheit, um die Flüchtigkeit von irdischem Leben, vielleicht auch um eine moderne Version von Vanitas, denn im Jahr von Turners Reise nach Italien hat sein Mäzen Sir Richard Colt Hoare die Bucht von Baiae in der römischen Kaiserzeit als Ort des zügellosen Vergnügens und der Genusssucht beschrieben.25 Die Ruinen im Mittelgrund des Bildes, einschließlich des Kuppelbaus rechts, stammen aus dieser Zeit. Turner gab sie 1823 so wieder, wie er sie auf seiner Reise im Jahr 1819 vorgefunden hatte. Und hier liegt nun auch das Problem: Auf der sinnlichen Ebene ist mehr zu sehen als das, was thematisch vorgegeben ist. Um es mit Freges Worten zu sagen: Die „Art des Gegebenseins“ produziert im Bild einen anderen Inhalt als
21 Claude Lorrain, Liber Veritatis, hrsg. von Richard Earlom (Stecher) und John Boydell (Verleger), Bd. 2, London: Boydell, 1777, folio 164. 22 John Ruskin, Notes on the Turner Gallery at Marlborough House, London: Smith, Elder and Co., 21857, S. 38–43. 23 Ovid, Metamorphosen (14, 130–153). 24 Vgl. Guy de Tervarent, Attributs et symboles dans l’art profane, Genf: Droz, 1997, S. 287 f. 25 Richard Colt Hoare, A Classical Tour through Italy and Sicily, London: J. Mawman, 1891, S. 161.
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die bezeichnete Geschichte. Da ist zunächst einmal die auffällige Durchkreuzung der Zeiten. Wir sehen eine Szene aus der griechischen Mythologie vor Ruinen aus der römischen Kaiserzeit, so wie sie zur Zeit Turners und noch heute vor Ort zu erleben sind. Weder sieht man das satte Grün von Weinreben noch die Zitronenbäume, mit deren Duft einst Thomson die Idylle der Antike beschworen hatte, noch den von ihm gepriesenen Einklang von Kunst und Natur. Stattdessen spenden zwei hochgewachsene Pinien rechts im Bild wenig Schatten, der abschüssige staubige Weg zum Hafen ist von Architekturfragmenten gesäumt und der Blick fällt auf Ruinen, während links eine einsame Hirtin ihre Schafherde den Hügel hinauftreibt. Der Standort der Betrachtung ist ohne Zweifel ein gegenwärtiger, und die Spuren der Kultur sind lediglich Zeugen einer ehemals großen Vergangenheit. Doch obwohl das Gemälde die Ansicht betont, die sich dem Künstler vor Ort auf seiner Reise bot, gab es während der Ausstellung des Werks in der Royal Academy im Jahr 1823 keine Kritik, die nicht die poetische Lizenz erwähnte, die sich Turner in diesem Werk genommen habe.26 Für Augen, die an Claude Lorrain und der an ihn anknüpfenden Landschaftsmalerei des 18. Jahrhunderts geschult waren, erschien der mangelnde Kontrast von dunkler, erdiger Rahmung im Vordergrund zum hellen sonnenlichtdurchfluteten Hintergrund wie eine farbexplosive Vision. Der Künstler John Northcote zum Beispiel schrieb an den einflussreichen Kunstmäzen Sir John Leicester, dass Turner in der Jahresausstellung eine „unglaubliche Landschaft in allen Farben des Regenbogens“ präsentiert habe.27 Die sanften Übergänge der Bildebenen und -farben, von Rot, Orange, Gelb und Grün im Vordergrund und Mittelgrund zu Blau, Indigo und Violett im Hintergrund, entsprachen nicht, so wird hier deutlich, den damaligen Sehgewohnheiten. Turner war 1807 zum Professor für Perspektive an der Royal Academy ernannt worden und hielt seine Vorlesungen zwischen 1811 und 1828.28 Wie der englische Kunsthistoriker John Gage gezeigt hat, beschäftigten ihn in diesen Jahren jedoch vor allem Probleme der Farbgebung und -harmonie. Um 1820, also zur Zeit der Arbeit an The Bay of Baiae, hellte sich seine Palette merklich auf.29 Statt chromatische Effekte über Komplementärkontraste zu erlangen, setzte Turner nun auf das Farbspektrum des Lichtes, wie er es in Newtons Lichttheorie vorgegeben fand. Es ging ihm dabei aber nicht, so belegen auch die Vorlesungsnotizen, um
26 Butlin/Joll, The Paintings of J. M. W. Turner, S. 125 f. 27 Ebd. 28 Vgl. Maurice Davies, Turner as Professor. The Artist and Linear Perspective, London: Tate Publishing, 1992. 29 John Gage, Colour in Turner: Poetry and Truth, London: Studio Vista Ltd, 1969, S. 106–117.
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Abb. 3: Joseph Mallord William Turner, Rocky Bay with Figures (ca. 1827–1830), Öl auf Leinwand, 123 × 156,2 cm, Tate Britain, London. © Tate Images
eine direkte Übersetzung der Gesetze von Lichtbrechung und -reflektion und einer angenommenen Vollständigkeit der Harmonie der Regenbogenfarben.30 Wie jeder Künstler musste auch Turner sich mit dem Unterschied von physikalischen und materiellen Farberscheinungen auseinandersetzen, denn prismatische Lichterscheinungen verhalten sich anders als Pigmente. Während alle Farben im Licht Weiß ergeben, kommt auf der Palette in der Mischung nur ein dunkles Braun zustande. Newton und die tradierte barocke Komplementärfarblehre standen also im Widerspruch zueinander und mussten in Einklang gebracht werden. Es war Johann Wolfgang von Goethe, der Turner in dieser Zeit die entscheidenden Hinweise lieferte. Das Resultat war schließlich eine idiosynkratrische Farbgebung, die wie Goethe Licht und Dunkel als Ursprung aller chromatischen Erscheinungen setzte, ohne dass Turner jedoch jemals Newtons prismatische Farbtheorie aufgab.31 Die Primärfarben Gelb, Rot, Blau sind dabei
30 Vgl. die transkribierten Auszüge aus den Vorlesungen in ebd., S. 196–214. 31 Vgl. ebd., S. 173–188.
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Abb. 4: Joseph Mallord William Turner, Apollo and Python (1811), Öl auf Leinwand, 145,4 × 237,5 cm, Tate Britain, London. © Tate Images
konstitutiv, erscheinen bei Turner aber, im Unterschied zu Goethe, niemals als stabile Harmonie, sondern immer in ihren tonalen Brechungen als Effekte von sich wandelnden Lichtverhältnissen. Ein unfertiges Gemälde von Turner, das wenige Jahre nach The Bay of Baiae entstanden ist, zeigt, wie der Künstler zu dieser Zeit chromatisch vorging. Es hat den Titel Rocky Bay with Figures und stammt aus den Jahren 1827–1830 (Abb. 3). Die Grundanlage des Bildes hält den Verlauf der Regenbogenfarben fest und verdichtet sie im Vordergrund zu Rotgelbtönen, im Mittelgrund zu blaugrünen und im Hintergrund sowie im Himmel zu feinen Abstufungen aller drei Grundfarben, in denen vor allem aber Orange und Violett zum Tragen kommen. Die Trias der Primärfarben, so steht anzunehmen, wäre als solche im Bild schließlich noch im ausgearbeiteten Licht- und Schattenspiel aufgeschienen und hätte sich vor allem wohl in der Figurengruppe links im Vordergrund gezeigt. Statt also alte Farbharmonien fort- und festzuschreiben, ging es Turner, in den Worten von Gage, um eine Form von „natürlichem Symbolismus“, in dem die Primärfarben ein Resultat des Kampfes von Licht und Dunkel, Harmonie und Disharmonie sind.32 Entsprechend polyvalent ist auch die Farbgebung in The Bay of Baiae.
32 Ebd., S. 117.
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Man kann, wie Northcote, ein gleitendes Regenbogenspektrum vom Vordergrund in den Hintergrund wahrnehmen. Man kann aber auch die Dominanz der Primärfarben von Rot, Gelb und Blau in der Figurengruppe von Apollo und Sibylle konstatieren und zugleich feststellen, dass sie sich über das ganze Umfeld ausbreiten und zum Beispiel am Fuß der Bäume rechts wieder auftauchen und den Weg der Schäferin säumen. All das aber wird nur sichtbar, weil starke Hell- und Dunkelkontraste das Bild durchziehen. Nur an den Stellen, an denen Licht und Schatten momenthaft aufeinandertreffen – wie in der Figurengruppe von Apollo und Sibylle, in der Tiefe des Meeres und im Himmel oder am aufgewühlten, fast vulkanischen Erdboden rechts im Vordergrund –, wird Farbe überhaupt sichtbar. Sie ist das Resultat einer flüchtigen und dynamischen, von Tages-, Jahresund Erdzeiten abhängigen Erscheinung. Kurzum: Während das Gemälde auf der Bedeutungsebene Melancholie und Vergänglichkeit von ehemaliger Größe und Schönheit thematisiert, verweist seine formale Darstellung, also die Sinnebene, auf ein Universum an prismatischer und chromatischer Fülle, die jedoch so und nicht anders nur in diesem einen Augenblick existiert. Es ist eine ewig währende Welt grenzenloser Licht- und Farbenergie, die dennoch nur für den einen Moment in der Wahrnehmung vorhanden ist. So wie die Architektur die Zeiten nicht überdauert hat und nur noch als Ruine präsent ist, so hat auch die Zusammenkunft des Gottes des Lichts und der Seherin des dunklen Orakels keine ewig währende Schönheit hervorgebracht. Ebenso wenig verweist die Schlange im rechten Vordergrund – ein Detail, das bisher noch nicht zur Sprache gekommen ist – auf die Verführung des Bösen im Paradies, denn kein Apfel steht ihr zur Seite, sondern eine geteilte Orange samt Messer, die als farblicher Kontrapunkt den Einstieg ins Bild akzentuiert. Die Schlange ist bei Turner kein Symbol für ein zu besiegendes Übel, wie in einem anderen Gemälde deutlich wird, das bereits 1811 in der Jahresausstellung der Royal Academy zu sehen war (Abb. 4). Apollo erscheint hier im Moment, da er den Drachen von Delphi erledigt, der ihm bei der Gründung seines Orakels im Wege stand. Doch aus dem Körper des gigantischen Python winden sich im Bild in intensiver roter Farbigkeit neue kleine Schlangen, sodass der Triumph der Lichtgestalt über das Dunkel nicht ausgemacht ist. Was also auf der Bedeutungsebene als Sieg oder Verlust artikuliert wird, erscheint auf der Sinnebene als ein Werden und Vergehen von dauerhafter Präsenz.
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3 Die Gegenwart der Zukunft: Turners Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway (1844) In seinem vielleicht berühmtesten Gemälde, Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway von 1844, hat Turner die gleiche Dichotomie auch auf die Zukunftsvisionen übertragen, die seine Zeitgenossen mit der Erfindung der Dampfmaschine und der Industriellen Revolution verbanden (Abb. 5).33 Im Gemälde nähert sich rechts eine Dampflokomotive auf einer Eisenbahnbrücke. Ihre Geschwindigkeit ist durch die sich rasant nach vorne öffnende Perspektive zum Ausdruck gebracht und auch durch einen fliehenden Hasen, der der Legende nach eines der schnellsten Geschöpfe des Tierreichs ist. Der Zug der Eisenbahngesellschaft The Great Western Railway rast zudem über eine andere große In genieurleistung der Zeit, die von Isambard Kingdom Brunel entworfene und 1839 eingeweihte Maidenhead Railway Bridge bei London. Doch während die Zugfahrt Gegenwart und Zukunft zum Ausdruck bringt, wird im Gemälde noch eine andere Realität gezeigt, die dieser Zeitreise entgegensteht. Kontrafaktisch ist die Front der Lokomotive offen, sodass die schwarzen, roten und weißen, pastos aufgetragenen Farbspuren die Naturelemente Kohle, Feuer und Wasserdampf anzeigen, welche die Energie liefern, mit der der Zug vorangetrieben wird.34 Ähnlich pastos und kraftvoll erscheinen auch die weißen Schlieren des Regens im Vordergrund und der aus blauen, gelben und roten Lichtfeldern bestehende leuchtende Himmel sowie das unter der Brücke sichtbare Ufer der Themse. Keine Ingenieurleistung, so wird hier deutlich, ist ohne die Kräfte der Natur denkbar. Jede Energieentladung ist Teil einer natürlichen Dynamik, die sich grundsätzlich und jenseits menschlicher Anstrengung ereignet. Nur an den Rändern des Flusses und auf dem Wasser ist der Pinselstrich deutlich ruhiger und lasierender. Dort sind schemenhaft Gestalten zu erkennen, die, wie die Menschen im Ruderboot links unten, der tanzende Reigen von Weißgewandeten darüber oder der Bauer, der rechts im Bild hinter einem von Ochsen gezogenen Pflug läuft, alle auf zyklisch wiederkehrende Tätigkeiten verweisen. Allesamt gehen sie Beschäftigungen nach, die sich je nach Tages- und Jahreszeit wiederholen und unberührt vom Geschehen auf der Brücke ihren Lauf nehmen. Ob thematisch in die Vergangenheit verweisend, wie in The Bay of Baiae, oder in die Zukunft, wie in Rain, Steam and Speed – bei Turner ist Geschichte immer Teil einer übergeordneten natürlichen Licht- und Farbdynamik. Sie bestimmt den Charakter seiner
33 Vgl. John Gage, Turner. Rain, Steam and Speed, London: Allen Lane, 1972. 34 Vgl. Monika Wagner, William Turner, München: Beck, 2011, S. 97 f.
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Abb. 5: Joseph Mallord William Turner, Rain, Steam and Speed – The Great Western Railway (1844), Öl auf Leinwand, 91 × 121,8 cm, National Gallery, London. © The National Gallery, London
Bilder und existiert doch immer nur für den einen festgehaltenen Augenblick. Es ist eine Form von Phänomenalismus, die Generalisierungen nur auf der Basis von möglichem Beobachteten erlaubt.35
4 Serien und Negationen Turner war zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht der einzige Künstler, der mit der Differenz von Sinn und Bedeutung in der Malerei experimentierte. Für John Constable oder Caspar David Friedrich könnte man Ähnliches zeigen. Es ist viel-
35 Zum Begriff des Phänomenalismus in diesem Kontext vgl. Charlotte Klonk, Science and the Perception of Nature. British Landscape Painting in the late Eighteenth and early Nineteenth Centuries, New Haven/London: Yale University Press, 1996.
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leicht auch kein Zufall, dass alle drei vor allem als Landschaftsmaler bekannt und berühmt wurden. Gerade hier bot sich ein Feld, in dem die Fülle visueller Erscheinungen sowohl aufgerufen als auch auf den Augenblick der Wahrnehmung begrenzt werden konnte. Für das gemalte bzw. gezeichnete Bild eröffnete sich damit aber auch die Möglichkeit, dass sich das Spiel mit der Vielfalt der Erscheinungsweisen auf der medial gegebenen Sinnebene verselbständigen konnte. Die moderne Kunst ist diesen Weg gegangen und hat gezeigt, welches Potenzial darin steckt. So wurde zum Beispiel eine Form von Serialität in Bildern vorstellbar, die in literarischen Texten kaum Schule gemacht hat. Sprachliche Äquivalente für Gemälde, wie sie der französische Künstler Paul Cézanne ab 1878 Jahr für Jahr vor immer dem gleichen Berg, dem Mont Sainte-Victoire, aus fast gleicher Perspektive angefertigt hat, sind eher selten. Das bekannteste Beispiel sind vielleicht Raymond Queneaus, im Vergleich geradezu hintergründig absurd anmutende, Exercises de style.36 In der modernen bildenden Kunst aber sind solche Serien keine Ausnahme, wie unter anderem Claude Monets zahlreiche Seerosenteichbilder zeigen. Umgekehrt bedeutet die Differenz von Sinn und Bedeutung in der Malerei nicht, dass die eine Ebene die andere aufhebt. Beide sind zugleich in der Betrachtung gegeben, denn eines können Gemälde nicht: Sie können nicht, wie in der sprachlichen Logik der Prädikation möglich, die Existenz von etwas oder jemandem bestreiten. Negationen dieser Art sind in Kunstwerken nicht möglich, wie bereits Frege mit seiner Rückbindung der Unterscheidung von Sinn und Bedeutung an die Form des Urteils, des wahrheitsfähigen Satzes, nahegelegt hat. Und so kann auch kein einzelnes Bild sprachlogische Paradoxien auf jene Weise zum Ausdruck bringen, wie sie zum Beispiel Lewis Carroll in Alice in Wonderland und Through the Looking Glass vorgeführt hat. „Jam to-morrow and jam yesterday – but never jam to-day“ ist ein bedauerliches Dilemma,37 wäre aber in keinem Bild jemals ohne Zuhilfenahme von Text vor Augen zu führen. Was in der Anschauung geboten wird, ist immer gleichzeitig vorhanden – so vielschichtig allerdings, dass einer Unterscheidung von Sinn und Bedeutung im Verständnis einiges an Gewicht zukommt.
36 Raymond Queneau, Exercises de style, Paris: Gallimard, 1947. 37 Lewis Carroll, „Through the Looking Glass and What Alice Found There“, in: The Complete Illustrated Lewis Carroll, Ware: Wordsworth Editions Ltd, 1996, S. 181.
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Verzeichnis der zitierten Literatur Butlin, Martin/Evelyn Joll, The Paintings of J. M. W. Turner, New Haven/London: Yale University Press, 1984. Carroll, Lewis, „Through the Looking Glass and What Alice Found There“, in: The Complete Illustrated Lewis Carroll, Ware: Wordsworth Editions Ltd, 1996. Davies, Maurice, Turner as Professor. The Artist and Linear Perspective, London: Tate Publishing, 1992. Frege, Gottlob, „Über Sinn und Bedeutung“, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, NF 100 (1892), S. 25–50. Gage, John, Colour in Turner: Poetry and Truth, London: Studio Vista Ltd, 1969. Gage, John, Turner. Rain, Steam and Speed, London: Allen Lane, 1972. Hoare, Richard Colt, A Classical Tour through Italy and Sicily, London: J. Mawman, 1891. Hofmann, Werner (Hrsg.), William Turner und die Landschaft seiner Zeit, Ausstellungskatalog Hamburger Kunsthalle 1976, München: Prestel, 1976. Kablitz, Andreas, Kunst des Möglichen. Theorie der Literatur, Freiburg/Br.: Rombach, 2012. Kablitz, Andreas, „Die Sprachlichkeit des Textes. Vom Nutzen und Nachteil seiner Metaphorisierung und von deren Ursachen“, in: Poetica 48 (2016), Nr. 3–4, S. 169–199. Kablitz, Andreas, Wie entsteht Bedeutung in Sprache und Bild? Philologische Bemerkungen zur Bildwissenschaft, Berlin/Boston: de Gruyter (in Vorbereitung). Klonk, Charlotte, Science and the Perception of Nature. British Landscape Painting in the late Eighteenth and early Nineteenth Centuries, New Haven/London: Yale University Press, 1996. Lorrain, Claude, Liber Veritatis, hrsg. von Richard Earlom (Stecher) und John Boydell (Verleger), London: Boydell, 1777. Marti, Genoveva, „The Essence of Genuine Reference“, in: Journal of Philosophical Logic 24 (1995), S. 275–289. Tervarent, Guy de, Attributs et symboles dans l’art profane, Genf: Droz, 1997. Thomson, James, „Liberty“, in: ders., Complete Poetical Works of James Thomson, hrsg. von J. Logie Robertson, London: Oxford University Press, 1961, S. 311–323. Thürlemann, Felix, Vom Bild zum Raum. Beiträge zu einer semiotischen Kunstwissenschaft, Köln: DuMont, 1990. Panofsky, Erwin, Meaning in the Visual Arts, New York: Doubleday, 1955. Panofsky, Erwin, Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, übers. von Wilhelm Höck, Köln: DuMont, 1975. Queneau, Raymond, Exercises de style, Paris: Gallimard, 1947. Ruskin, John, Notes on the Turner Gallery at Marlborough House, London: Smith, Elder and Co., 2 1857. Russell, Bertrand, „On Denoting“, in: Mind, New Series 14 (1905), S. 479–493. Wagner, Monika, William Turner, München: Beck, 2011. Wittgenstein, Ludwig, Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1984.
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Die Geste in der Photographie. Zur Hermeneutik des Sehens 1 Vorbemerkung Ohne Gebärden, Gestik, Mimik – Ausdrucksformen des menschlichen Körpers – und deren Deutung ist die Face-to-Face-Kommunikation nicht möglich. Umso erstaunlicher ist, wie dürftig das soziologische Interesse an einer systematischen Analyse dieser Ausdrucksformen ausfällt. Gestik und Mimik – sowohl angeborene, ‘primordiale’ als auch habituell oder intendiert geformte, konventionalisierte Ausdrucksbewegungen des Körpers und des Gesichtes – sind elementare Bestandteile menschlicher Interaktion, wechselseitiger Steuerung und Deutung: Wie die gesprochene Sprache, die sie begleiten oder auch ersetzen können, fungieren sie als Medium zeichenhaft geprägter Face-to-Face-Interaktion. Sinnlicher Adressat der gesprochenen Sprache ist das Gehör. Gestik und Mimik dagegen richten sich vorwiegend an das Auge. Dieses ist einerseits als ‘Akteur’ Teil der Mimik, andererseits übernimmt es als Rezipient die primäre Deutung der Ausdrucksbewegungen. Auf dieser Doppelfunktion – seiner Ausdrucks- und Deutungsfähigkeit – beruhen sowohl das ‘soziologische Wissen des Auges’ (Goffman) als auch die scheinbar unmittelbare Anschauungsgewissheit, die Suggestionskraft und das Steuerungspotenzial des Blicks. Um das dynamische Relationsgefüge von Ausdrucksbewegung und Blick, von wechselseitiger Deutung und Steuerung in der menschlichen Interaktion, soll es im Folgenden gehen. – Den empirischen Ausgangspunkt bilden zwei Fallbeispiele: zwei Photographien, d. h. Momentaufnahmen, in denen Gestik und Mimik als Zeugnisse zweier spezifischer Relationsgefüge im Bild fixiert sind. Sie werden als erstarrte Ausdrucksbewegungen, die ihrerseits den Blick des Bildbetrachters steuern, kontrolliert interpretiert. Die Fixierung erlaubt es, den zunächst durch eine ‘relativ natürliche Einstellung’ geprägten Blick des Betrachters in diskursiv einander überprüfende Bildsequenzen zu überführen. Theoretisch orientiere ich
Anmerkung: Erstmals erschienen ist dieser Beitrag unter gleichem Titel in meinem Buch Bild- und Sehwelten: Visueller Erkenntnisstil und Hermeneutik des Sehens, Weinheim/Basel: Beltz, 2020, S. 89–107 (© Beltz Juventa in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim/Basel). Für die Publikation im vorliegenden Band wurde der Text redaktionell leicht modifiziert. Michael Müller und Anne Sonnenmoser, den Mit-Hermeneuten des Rundumblicks, ebenso Ronald Hitzler, meinem treuen, signifikanten Anderen, danke ich – wieder einmal – für den genauen Blick. https://doi.org/10.1515/9783110715514-003
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mich bei meinem Vorgehen vorwiegend an Erkenntnissen der Humanethnologie und der Symboltheorie George Herbert Meads. Im Zentrum des Essays stehen damit ‘Gestenkommunikation’ und Blick: im Hinblick (1) auf die im Bild fixierte Interaktionsszene und den Blickaustausch; (2) auf die Steuerung der Bildbetrachtung durch das ‘gestische Bild’; (3) auf das Wirkungs- und Deutungspotenzial gestenbasierter Kommunikation. Daher verzichte ich – abgesehen von einigen Elementen einer allgemeinen sozialen Typik – ganz bewusst auf eine Interpretation der historischen Einbettung der Photographien und ihres Personals:1 Es geht mir nicht um Zeitdiagnosen, sondern um die Aufschlüsselung basaler Strukturen der Gestenkommunikation für Bildinterpretationen.
2 Zur protosoziologischen Basis der Hermeneutik Die Beschäftigung mit Gesten, Gebärden und Gebärdensprache hat eine lange, bis in die Antike zurückreichende Tradition. Rhetorik, Schauspiel, Liturgie und religiöse Rituale boten und bieten reichhaltiges Anschauungsmaterial für Abhandlungen und Lehrbücher über die Formen, Funktionen und das Erlernen von angemessenen Gesten und die ‘richtige’ Verwendung von Gebärden sprachen. Charles Darwins Untersuchung The Expression of Emotions in Man and Animal (1872, 21889) führte eine neue Dimension in die Beobachtung von Gesten und Gebärdensprache ein: die Entdeckung, dass auch bei Menschen ein angeborenes, artspezifisches, kulturübergreifendes Repertoire an Ausdrucksbewegungen zu finden ist, durch die Individuen in der Face-to-Face-Interaktion ihr Verhalten unmittelbar – ‘primordial’ – wechselseitig steuern. Aus dieser Einsicht entwickelte sich in der Folge die humanethnologische Basis für eine Protosoziologie menschlichen Verhaltens: Insbesondere Wilhelm Wundt – und über ihn George Herbert Mead –, später Konrad Lorenz, Irenäus Eibl-Eibesfeldt und Paul Ekman griffen Darwins Beobachtungen auf und korrigierten, präzisierten oder erweiterten sie. Damit belegten sie empirisch, was sich für die indogermanischen Sprachen zuvor sprachanalytisch andeutete. Der Ausdruck ‘Gebärde’ teilt sich mit ‘gebären’ und ‘Geburt’ den gleichen Wortstamm: Gebärden sind ein ‘Erbteil der Geburt’.
1 Anders als in meinen übrigen Arbeiten zur ‘visuellen Soziologie’ verzichte ich ebenso auf den Bezug zu Theorien, Methodologien und Methoden der Kunstgeschichte.
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Darwins Beobachtungen wurden durch Wundts Untersuchungen zur frühkindlichen ‘Gebärdensprache’ und zu den durch sie ausgelösten elterlichen Reaktionen weitergeführt. Wundt systematisierte analytisch, was kulturübergreifend Bestandteil der sozialisatorischen Alltagserfahrung der Menschheit ist: Kulturell geformten und gelernten Gebärdensprachen ‘vorgeschaltet’ ist eine ‘Urgrammatik’ (Konrad Lorenz) menschlichen Verhaltens, d. h. bevor sich jemand – aus kulturell geprägter Sicht – gut oder schlecht ‘gebärdet’, verfügt er oder sie bereits über eine Gebärdensprache, die sich im ‘außermoralischen’ (Nietzsche) und präkulturellen Sinne artikuliert. Der deutsche Ausdruck ‘Geste’ dagegen verweist auf eine kulturelle Prägung. Er ist abgeleitet vom Lateinischen gestus = ‘Gebärdenspiel’, das seinerseits, exemplarisch bei Cicero, Teil der Rhetorik ist und als Gestenlehre vermittelt werden kann – als Repertoire ausdrucks- und wirkungsvoller Hand- und Körperbewegungen. Auch außerhalb der Rhetorik gilt: Wer über die richtige Gestik verfügt, weiß sich gut zu führen und zu benehmen, lateinisch: gerere. Wer zu öffentlichem Auftreten verpflichtet ist, sei er Politiker, Anwalt, Richter, Priester oder Schauspieler, Showmaster, Gaukler, wird sich um die Beherrschung des Gebärdenspiels bemühen müssen. Die Lehrbücher für höfische Verhaltensregeln – beispielhaft Baldesar Castigliones „Das Buch vom Hofmann“ (Il libro del Cortegiano, 1524/28) –, aber ebenso die Pantomimen, die Typen und das Darstellungsrepertoire der ‘comedia dell‘arte’ belegen, wie intensiv immer wieder an einem Kompendium sozialer Ausdrucksformen für „das Individuum im öffentlichen Austausch“ (Erving Goffman)2: am Darstellen und Erlernen typisierter Gesten gearbeitet wurde. Mit Gotthold Ephraim Lessings Dramentheorie und seiner Kritik an unangemessener Gestik wird der Ausdruck – zunächst im Plural ‘Gesten’ – in die deutsche Sprache eingeführt3 (1767), bevor durch Friedrich Schiller (1795)4 auch der Singular ‘Geste’ im Deutschen möglich und später zunehmend üblich wird. Durch Darwins Hinweis darauf, dass Menschen in elementaren Bereichen des Ausdrucks von Emotionen – wie ihre ‘tierischen Vorfahren’ – eingebunden sind in ein System primordialer wechselseitiger Verhaltenssteuerung, ergibt sich zwangsläufig die Frage nach dem Verhältnis zwischen angeborenen Aus-
2 Vgl. Erving Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, übers. von R. und R. Wiggershaus, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1974. 3 Im Französischen wird der Ausdruck ‘geste’ bereits im 11. Jahrhundert mit Entstehung der „chansons de geste“, der Erzählung von Heldenepen, eingeführt. 4 Vgl. Friedrich Kluge (Hrsg.), Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin/New York: de Gruyter, 1975, S. 294.
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drucksgebärden einerseits und kulturell überformtem Gesten- und Gebärdenspiel andererseits: zwischen einem primordial angelegten System wechselseitiger Steuerung der Individuen in Face-to-Face Situationen einerseits und erlernbaren Medien der suggestiven Einflussnahme auf die Interaktionspartner andererseits. In beiden Fällen fungieren bestimmte Ausdrucksgebärden eines Individuums als Reize für entsprechende Reaktionen des Gegenübers. Aber während die angeborenen Ausdrucksgebärden beim Gegenüber als Auslöser festgelegter Reaktionen5 wirken, bleibt im Falle des erlernbaren, ‘kulturell’ – und damit variabel – ausgestaltbaren Gesten- und Gebärdenspiels ein Spielraum struktureller Ambiguität für die Deutung der Gesten und der durch sie ausgelösten Reaktionen. Darwins Einfluss auf die Natur- und Humanwissenschaften im 19. Jahrhun dert und damit auch auf die experimentelle Psychologie Wilhelms Wundt ist unverkennbar. Von Wundt, bei dem er in Leipzig studierte, übernahm George Herbert Mead die Einsicht, dass sowohl die Bedeutung von Gebärden als auch die Bedeutung von Handlungen durch die Reaktionen, die auf ein Verhalten oder eine Handlung folgen, konstituiert werden. Damit wird ein zentraler Gedanke der Mead’schen Sozialpsychologie/Soziologie formuliert. Er bildet die Basis für das Identitätskonzept, den Institutionenbegriff und die Gesellschaftstheorie Meads. Im Folgenden erinnere ich an Meads – in Anlehnung an Wundt entwickelten – Begriff der ‘signifikanten Geste’. Dieser Begriff bildet einen wesentlichen Bezugspunkt für meine Bildinterpretation. Sie wird – im Anschluss an das bisher Gesagte – dreistufig durchgeführt: Ich greife (1) Aspekte der Humanethnologie (‘Urgrammatik’) auf, (2) versuche, im Sinne einer erweiterten wissenssoziologischen Hermeneutik das im Gebärdenspiel sich ausdrückende Sinnes- und Körperwissen aufzuschlüsseln und es (3) auf sein Wirkungspotenzial hin zu interpretieren. Zunächst zu Mead: Er begreift die ‘signifikante Geste’, die unter spezifischen Voraussetzungen zum ‘signifikanten Symbol’ werden kann, grundsätzlich als Teil einer gesellschaftlichen Handlung: Aus Gesten resultieren die „Anfänge
5 Darwin glaubte, als elementare Ausdrucksgebärden jene körperlichen Ausdrucksbewegungen identifiziert zu haben, in denen sich ebenso elementare Emotionen Ausdruck verschaffen: Angst, Freude (Lachen), Trauer (Weinen), Hass (Aggression), Verachtung, Verlegenheit und Scham. Zur Diskussion dazu vgl. u. a. Paul Ekman, „Vorwort zur kritischen Ausgabe“ von Charles Darwin, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und bei den Tieren, Frankfurt/M.: Eichborn, 2000, S. IX–XXXIII, und das Nachwort von Paul Ekman, „Sind Formen des Gefühlsausdrucks universal?“, in: ebd., S. 407–439.
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gesellschaftlicher Handlungen, die als Reize für die Reaktionen anderer dienen.“6 Entscheidend ist dabei, dass für Mead die Geste als Zeichen oder ‘Signal’ nicht per se eine Bedeutung hat, sondern dass die gesellschaftliche Bedeutung einer Geste an die Reaktionen anderer – des Gegenübers – gekoppelt ist. Die Reaktion konstituiert die Bedeutung. Als Ausdrucksbewegung steht die Geste für eine Haltung, Emotion oder Idee des Gesten setzenden Wesens. Gleichzeitig dient der ‘bewusste Einsatz’ von Gesten der Reaktionssteuerung. Zu „signifikanten Symbolen“ werden Gesten dann, „wenn sie im Gesten setzenden Wesen die gleichen Reaktionen (Haltungen) implizit auslösen, die sie explizit bei anderen Individuen auslösen oder auslösen sollen.“7 Werden durch gestische Ausdrucksformen neben dem Auge auch andere Sinnesorgane angesprochen – wie etwa bei wechselseitigen Körperberührungen (z. B. Umarmung, Kuss; s. u.) –, so werden tendenziell die Aktionen, Reaktionen und Haltungen der beteiligten Individuen synchronisiert. Aber auch dann gilt, dass alle Gesten eingebunden sind in eine umfassendere gesellschaftliche Handlung. Insofern enthalten Gesten immer Hinweise sowohl auf vorangegangene als auch auf folgende Handlungen. Die wechselseitigen Steuerungsprozesse, mit denen „individuelle Organismen“8 aufeinander einwirken, sind – gemessen an der ‘Bewusstheit’ der Handlungen – dreistufig verfasst: Auf der ersten Stufe der „gegenseitigen Anpassung der Reaktionen und Handlungen der verschiedenen in diesen Prozess eingeschalteten individuellen Organismen“ vollzieht sich deren gestenbasierte Anpassung auf der Grundlage der ‘Urgrammatik’ (s. o.) menschlichen Verhaltens ‘vorbewusst’. Dies gilt sowohl für den Gesten setzenden als auch für den darauf reagierenden Organismus: Für „die Präsenz des Sinnes“ einer Geste „im gesellschaftlichen Erfahrungsprozeß [ist] Bewusstsein nicht unbedingt […] notwendig. […] Der Mechanismus des Sinnes ist […] in der gesellschaftlichen Handlung vor dem Auftreten des Bewußtseins des Sinnes gegeben. Die Handlung oder anpassende Reaktion des zweiten Organismus gibt der Geste des ersten Organismus ihren jeweiligen Sinn.“9
6 George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft – aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, mit einer Einleitung hrsg. von Charles W. Morris, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1968, S. 82. 7 Ebd., S. 86. 8 Ebd., S. 117. 9 Ebd., S. 117 (Hervorhebung von mir, H.-G. S.).
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Mit der Symbolisation der Geste in der Sprache („vokale Geste“)10, aber auch im Gebärdenspiel oder im regelgeleiteten Spiel (game)11 entstehen im Prozess gesellschaftlicher Kommunikation ‘Objekte’, auf die Gesten zwar hinweisen, die aber in der gestischen Ausdrucksform selbst nicht unmittelbar erscheinen. Für den „Erfahrungsbereich des in ihm eingeschalteten individuellen Organismus“ sind es „neue Objekte“.12 Die auf solche symbolisierten Gesten reagierenden Handlungen sind also Interpretationen, so „wie beim Fechten die Parade eine Interpretation des Angriffes ist“13. Aber auch auf dieser zweiten Stufe agieren die Individuen noch nicht reflektiert und bewusst deutend: Auch hier ist „die Interpretation von Gesten im Grunde kein Prozeß, der im Denken als solchem abläuft oder notwendigerweise Geist voraussetzt.“14 Erst wenn es dem Individuum gelingt, den ‘Mechanismus’ der Reiz-Reaktions-Sequenzen aufzubrechen und die unmittelbare Reaktion zu verzögern,15 entsteht die „Fähigkeit“, die eigenen „Reize anderen Personen oder sich selbst aufzuzeigen“ und das ‘mechanische’ durch „rationales Verhalten“ zu ersetzen.16 Erst auf dieser dritten Stufe, im „Prozeß der selektiven Reaktion – der nur deshalb selektiv sein kann, weil er verzögert wurde – bestimmt die Intelligenz das Verhalten“17. Analog zu dem hier skizzierten dreistufigen Modell verfährt die folgende Bildinterpretation. Die bildinterne Gestenkommunikation wird – aus der Perspektive des bildexternen Betrachters – auf drei Ebenen untersucht: (1) auf der Ebene der gestengesteuerten primordialen „gegenseitigen Anpassung der Reaktionen“ (s. o.) der beteiligten Individuen; (2) im Hinblick auf konventionalisierte, habitualisierte und impliziten Regeln folgende, einander ‘interpretierende’ Aktionen und Reaktionen der Individuen und (3) anhand der Frage, ob sich in der bildinternen Gestenkommunikation Elemente „selektiver Reaktionen“ (s. o.) und distanzierten, selbstreflexiven Verhaltens der Individuen auffinden lassen. ‘Bildexterne’ Bildbetrachtung und Bildinterpretation werden gedankenexperimentell daraufhin befragt, (1) wie eine noch unreflektierte, habitualisierte Bildbetrachtung ihrerseits auf die Gestenkommunikation im Bild ‘typischerweise’
10 Ebd., S. 409 ff. 11 Vgl. ebd., S. 192 ff. 12 Ebd., S. 116. 13 Ebd., S. 118. 14 Ebd. 15 Vgl. ebd., S. 140. 16 Ebd., S. 134. 17 Ebd., S. 140.
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reagieren würde, (2) welches Reaktionsrepertoire ‘typischerweise’ möglich wäre und (3) welches Interpretationspotenzial sich aus einer durch „selektive Reaktion“ geprägte, distanziert selbstreflexive Bildbetrachtung erschließen lässt.
3 Der Handkuss 3.1 Protosoziologische und soziale Typik Unverkennbar ist der Handkuss Teil eines typisierten, konventionalisierten und kollektiv symbolisierten Repertoires signifikanter Gesten. Er ist eingebunden in ein Regelsystem zeremoniellen und rituellen Austausches: Ausdrucksform für ‘Gemütsbewegungen’ im Spannungsfeld zwischen Liebe, Zuneigung, Verehrung, Demut und Unterwerfung. Aus protosoziologischer Perspektive ist diese Ausdrucksform geprägt durch die Kooperation und Konkurrenz zweier Sinne: Sehund Tastsinn. Letzterer basiert auf den von Mund und Hand vermittelten unterschiedlichen Sinneseindrücken. Innerhalb des Systems signifikanter Gesten, durch die Individuen in dem genannten Spannungsfeld aufeinander einwirken, nimmt er eine Zwischenstellung ein: zwischen (1) Kuss – von Mund zu Mund, mit eingeschränktem oder fehlendem Blickkontakt – und (2) Händedruck – von Hand zu Hand mit Blickkontakt – und in enger Berührung, bei gleichzeitiger, wechselseitiger Distanzierung der in der Regel aufrecht stehenden Körper und der Kooperation/Konkurrenz des Tast- und des Sehsinnes, der Hand und des Auges. Beide – der Kuss von Mund zu Mund und der Händedruck aufrecht stehender Individuen von Hand zu Hand – signalisieren strukturell Gleichheit. Zugleich synchronisieren beide die Aktionen und Reaktionen der beteiligten Individuen. Der Handkuss dagegen verlangt vom küssenden Individuum eine Körperbeugung: das Sich-Klein-Machen als Entgelt für die angestrebte Nähe. Je dezidierter dieses ausfällt, desto mehr geht der Blickkontakt mit dem Gegenüber verloren. Mund und Hand spüren ausschließlich die Hand des Gegenübers. Das geküsste Individuum ist strukturell überhöht. Es steht aufrecht und distanziert sich räumlich vom Gegenüber, das es im Blick behält und damit kontrollieren kann. Die Hand spürt den Mund des Gegenübers. Kurz: Der Handkuss als Geste erhält seine Signifikanz durch die erkennbare Rollendifferenz und die strukturell auferlegte Ambivalenz von Nähe und Distanz, Unterordnung und Dominanz, kooperierenden und konkurrierenden Sinnen. Die vertikal angelegte, soziale Positionierung der beteiligten Individuen lässt keine Synchronisierung der ‘Gemütsbewegungen’ zu, sondern bindet die Emotionen
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an die Stellung des jeweiligen Individuums in der sozialen Hierarchie. Diese strukturell angelegte Ambivalenz prägt das Verhalten der beteiligten Individuen ‘primordial’. Zugleich ist sie – ganz allgemein – ein wesentlicher Bestandteil ‘rituellen Verhaltens’. Sowohl die Verhaltensforschung18 als auch die geistes- und sozialwissenschaftlichen Symbol- und Ritualtheorien19 charakterisieren Rituale (1) als Handlungsform des Symbols, (2) als Element wechselseitiger Verhaltenssteuerung und (3) als eine Handlungs- und Ausdrucksform, durch die Widersprüche zugleich angezeigt und überwunden werden (sollen). In den kulturellen Überformungen dieses basalen Ausdrucksmusters lassen sich – mit unterschiedlichen Gewichtungen – die zentralen Elemente der bisher beschriebenen Grundstruktur wiedererkennen. Ich nenne im Folgenden einige Beispiele. Sie entstammen weitgehend ‘unserem’ Kulturkreis und bedürfen daher – zweifellos – der Ergänzung. Der Handkuss, durch den der höfische Kavalier hochgestellten Damen seine Verehrung anzeigte, wurde in Deutschland gegen Ende des 16. Jahrhunderts vom spanischen Hofzeremoniell übernommen und Teil des adligen Verhaltenskodex an deutschen Fürstenhöfen. Das Bürgertum übernahm – auch zur Demonstration seiner gewachsenen ökonomischen und politischen Bedeutung – im 19. Jahrhundert dieses Verhaltensmodell. Wieder kam der Handkuss ‘höhergestellten’ Damen zu. Bis heute lässt sich bei Adel und ‘gehobenem’ Bürgertum das Überleben dieser Tradition beobachten. Die Etikette verfügt dabei allerdings, dass der Kuss nur angedeutet wird: Der Mund des Herrn darf die Hand der Dame nicht berühren. Ein Verstoß gegen diese Konvention entlarvt den Hochstapelnden als Simpel. Adressatinnen des – konventionell die Berührung nur andeutenden – Handkusses sind vor allem ältere (verheiratete) Damen oder aber – bei einem erfolgreichen Heiratsantrag – die Mutter der Braut. Sowohl in der slawischen als auch türkischen Tradition gilt der Handkuss ganz allgemein als Zeichen der Verehrung der ‘Alten’ durch Kinder und junge Menschen. Eine andere Bedeutung des Handkusses – und des Ringkusses – erwächst aus dem Zusammenspiel Lateinischer Liturgie und weltlicher Herrschaftssym bolik. Zunächst leiht sich die Lateinische Liturgie im 4. Jahrhundert den Ringkuss
18 Vgl. u. a. Konrad Lorenz, Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, München: dtv, 1973/1977, insbesondere S. 259 ff.; Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Der vorprogrammierte Mensch. Das Ererbte als bestimmender Faktor menschlichen Verhaltens, München: dtv, 1973/1976, S. 242 ff. 19 Vgl. u. a. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bd., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 21953; Victor Turner, The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, London: Routledge, 1969; Hans-Georg Soeffner, Symbolische Formung. Eine Soziologie des Symbols und des Rituals, Weilerswist: Velbrück, 2010.
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vom kaiserlichen römischen Hof: An die Stelle des kaiserlichen Ringes tritt nun jedoch der ‘Fischerring’ des Bischofs. In der Folge stehen – je nach Einflussbereich – der Siegelring des Fürsten oder der ‘Fischerring’ des Bischofs als Kussobjekt konkurrierend nebeneinander. Im Absolutismus wandelt sich der Kuss auf den Siegelring des Fürsten – insbesondere am französischen Hof – vom Zeichen der Ehrerweisung zur Demutsgeste. Auch in Deutschland ersetzt am Hof der Handkuss gegenüber dem Fürsten nicht nur generell den Händedruck, sondern er ist ebenso – wie Schiller von seiner Schule, der Karlsschule, berichtet – ein Privileg des Adels: Adelige dürfen dem Fürsten die Hand küssen, Bürgerlichen verbietet sich solche Berührung. Sie haben die Knie zu beugen. Noch 1890 ehrt der preußische Minister von Boetticher den fürstlichen Kanzler von Bismarck mit einem Handkuss. Erst mit dem Sturz der Monarchien – in Deutschland 1917/18 – verliert diese Form des Handkusses nicht nur ihre Bedeutung, sondern sie wird nun auch als ‘Byzantinismus’ gebrandmarkt. – Eine besonders pikante und vulgarisierte Variante der Symbolisierung von Herrschaft – bei gleichzeitigem, scheinbarem Hierarchiedementi – bietet der ‘sozialistische Bruderkuss’, zumal er im sowjetischen Kontext unverkennbar anspielt auf ein zentrales Ritual der russisch-orthodoxen Kirche. Der politisch herrschaftliche Kuss hätte ein besseres Ende verdient gehabt.
3.2 Die Ausdrucksgebärden Gestisches Arrangement Zu sehen ist eine Schwarz-Weiß-Photographie (Abb. 1). Die Kameraperspektive zeigt den oberen Teil des Rückens und das Gesicht einer ‘alten Frau’ im Halbprofil. Deren hohes Alter ist erkennbar an den grauen Haaren, dem faltigen Gesicht, dem ebenfalls faltigen ‘Altersohr’ und der sehnigen Hand. Ihre Hand hält mit festem Griff die Hand eines – ebenfalls alten – Mannes, dessen Daumen die Hand der Frau berührt. Der Körper der Frau ist gebeugt. Die Beugung wird betont durch eine zusätzliche Senkung des Kopfes, die ihrerseits den Blickkontakt mit dem Gegenüber verhindert. Der Arm der Frau ist angewinkelt und weist – der Körperbeugung entgegenwirkend – nach oben. Der Mund berührt die Hand des Mannes an der oberen Handwurzel. Die im Bild sichtbare Ausdrucksgebärde schließt die unterschiedlichen gestischen Elemente im Gesamtausdruck einer signifikanten Geste zusammen. Diese signalisiert die freiwillige Unterordnung der Frau unter ein – ihr höher gestelltes – Gegenüber, dessen Nähe sie sucht und mit dem sie sich mit gebeug-
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Abb. 1: „1955. Adenauers Rückkehr aus Moskau“, in: General-Anzeiger Bonn, 14. September 1955, S. 1 (Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-33241-0001 / CC-BY-SA 3.0).
tem Körper durch den Handkuss so verbindet, dass die intensive Zuwendung die Hierarchie nicht gefährdet. Zum signifikanten Symbol wird diese Ausdrucksgebärde dadurch, dass sie auf ein umfassenderes gesellschaftliches Verhaltenssystem verweist, innerhalb dessen sich die beteiligten Individuen – nach implizit oder explizit wirksamen Konventionen – weitgehend habitualisiert wechselseitig interpretieren. Innerhalb dieser Verhaltensordnung signalisiert die Ausdrucksgebärde der ‘alten Frau’ Demut, Schutzsuche, Ehrerbietung und Dank. ‘Interpretiert’ wird dieses signifikante Symbol durch das Gegenüber: einen aufrecht stehenden Mann, dessen Gesicht im Dreiviertelprofil zu sehen ist. Das von Falten durchzogene Gesicht, ‘Altersohr’, graue Haare und sehnig-faltiger Hals lassen erkennen, dass er ähnlich alt ist wie sein Gegenüber. Unter der hohen Stirn erkennt man einen ‘gesenkten Blick’ (Abb. 2). Die halb geschlossenen Augen und
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Abb. 2: Ausschnitt aus Abb. 1.
Abb. 3: Ausschnitt aus Abb. 1.
die Muskulatur unterhalb der Augen verweisen auf eine abwehrende Reaktion.20 Diesem Ausdruckselement widerspricht der lächelnde Mund (Abb. 3). Zusammengenommen formieren Augen- und Mundausdruck eine in sich widersprüchliche Ausdrucksgestalt (split expression). Diese Ambivalenz setzt sich fort in dem auf der Photographie sichtbaren Oberkörper des Mannes. Einerseits wendet sich die rechte Seite – die rechte Schulter – der alten Dame zu, andererseits werden der rechte Arm und damit die geküsste Hand zurückgezogen. Der Daumen des Mannes berührt zwar die Hand der Frau, ist aber geöffnet. Der Händedruck schließt sich nicht. Der linke Teil des Oberkörpers wendet sich ab, so dass eine ‘ganzheitliche’ Zuwendung zum Gegenüber verhindert wird. Zugleich weist der rechte Arm nach vorn – in Richtung des rechten Armes der Frau. Insgesamt steht die Gebärde – trotz ihrer widersprüchlichen Ausdrucksgestalt – für ein signifikantes Symbol: für eine gesellschaftlich ‘begründete’ Interpretation (Mead; s. o.). Abwehrender Augenausdruck und zurückgezogene rechte Hand interpretieren den Handkuss und die Demutsgebärde der alten Frau als unangemessene Geste. Verhalten milde lächelnder Mund und zugewandter linker Arm weisen in ihrer – ergänzenden – Interpretation darauf hin, dass es in der hier geltenden hierarchischen Verhaltensordnung jedoch ebenso unangemessen und anmaßend wäre, die Demuts-, Ehrerbietungs- und Dankesgeste einer alten Frau zurückzuweisen. Insofern lässt die in sich widersprüchliche Ausdrucksgebärde
20 Die folgenden Interpretationen stützen sich auf entsprechende Typisierungen bei Darwin und Eibl-Eibesfeldt. Vgl. Darwin, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und bei den Tieren; Eibl-Eibesfeldt, Der vorprogrammierte Mensch.
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Ansätze einer ‘verzögerten, selektiven Reaktion’ erkennen: die Rationalisierung einer ‘mechanischen’ Reaktion, die es dem Reagierenden ermöglicht, so auf sich selbst zu reagieren, dass das eigene – als unangemessen empfundene – Verhalten kontrolliert variiert und rational legitimiert werden kann. Interaktionsrahmen21 und soziale Typik22 Die Photographie zeigt einen Handkuss im ‘öffentlichen Raum’. Die Öffentlichkeit präsentiert sich auf drei Ebenen: (1) der Pressephotographie, deren Dokument das Bild ist; (2) der Einbettung der Ausdrucksgebärde in einen erweiterten Interaktionsrahmen – bestehend aus einer größeren Gruppe von Augenzeugen sowie bildinternen Beobachtern; und (3) Hinweisen auf eine unsichtbare, mediale Öffentlichkeit, repräsentiert durch vier Mikrophone (rechte Bildhälfte, Vordergrund). An der Gestaltung der zentralen Ausdrucksgebärde sind zwei Personen beteiligt. ‘Gesten setzend’ ist eine alte Dame. Sie trägt einen konventionellen ‘Altdamenhut’. Die grauen Haare darunter sind in einem traditionellen Knoten (‘Dutt’) zusammengebunden. Bekleidet ist sie mit einem dunklen Regenmantel, unter dessen hellem Kragen die Ränder eines Wollschals erkennbar sind. Unsere Gesellschaft hält für sie ein Rollenrepertoire mit begrenzter Spannweite bereit: alleinstehende alte Dame, Witwe, Mutter und Großmutter. Keine dieser Rollen erlaubt es ihr, ‘anstandslos’ ältere Herren öffentlich durch einen Handkuss zu ehren, es sei denn, dem Geehrten käme eine gesellschaftliche Sonderstellung zu: Papst, Bischof, Priester – König, Fürst, weltlicher Herrscher. Da parlamentarische Demokratien – wie die deutsche – fürstlichen Hoheiten offiziell keinen zeremoniellen Rahmen für Ehrerbietungsgesten zur Verfügung stellen, bleiben als legitime Adressaten der Verehrungsgeste nur noch ‘hohe Geistliche’.
21 Das Photo ist dem Archiv des „General-Anzeigers“, einer Bonner Tageszeitung, entnommen. Seine Überschrift lautet: „1955. Adenauers Rückkehr aus Moskau“. Unter dem Bild findet sich folgende Erläuterung: „Danke, Herr Bundeskanzler! Die Mutter eines deutschen Kriegsgefangenen küsst die Hand vom Bundeskanzler Konrad Adenauer am Flughafen Köln/Bonn kurz nach seiner Rückkehr aus Moskau. Vom 8. bis 14. September 1955 verhandelte der Kanzler mit der sowjetischen Regierung um Nikolai Bulganin und Nikita Chruschtschow über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Dabei erreichte Adenauer die Freilassung der letzten 9626 Kriegsgefangenen, die danach endlich von Russland nach Deutschland zurückkehren konnten.“ 22 Die Bildinterpretation beschränkt sich bewusst auf die Nachzeichnung des im Bild erkennbaren Systems konventionalisierter und habitualisierter Regeln, innerhalb dessen die gezeigte Ausdrucksgebärde auftritt und durch ihr Auftreten den beteiligten Individuen ihre sozialen Rollen in ‘typischer’ Form zuweist.
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Das Erscheinungsbild des geehrten älteren Herren verweist weder auf eine kirchliche noch auf eine fürstliche Herkunft: Sowohl die zivile Kleidung – offener, heller Regenmantel, grauer Anzug, weißes Hemd, Krawatte – als auch seine alltäglich gekleidete Begleitung (Ausnahme: die militärische Schirmmütze im linken Bildhintergrund) repräsentieren das Standardrepertoire des konventionellen Auftretens von Individuen in ‘medial beobachteter Öffentlichkeit’. Allerdings weist das – von der Kameraperspektive hervorgehobene und von den ‘Begleitpersonen’ geformte – szenische Arrangement dem Geehrten erkennbar eine Sonderstellung zu:23 nämlich die, wie begründet vermutet werden kann, eines herausgehobenen politischen Repräsentanten weltlicher Herrschaft. Die bereits erwähnten Vorbilder für einen – geistlicher oder weltlicher Obrigkeit gewidmeten – Handkuss, adressiert an den Siegelring des Fürsten oder den ‘Fischerring’ eines Bischofs, sind in der zentralen Ausdrucksgebärde noch gut erkennbar. Aber ebenso deutlich ist, dass die Gesten setzende alte Dame und der auf die Geste reagierende, die Geste interpretierende alte Herr eine jeweils andere ‘Signifikanz’ mit der Gebärde verbinden.24 Die alte Dame verkörpert – nahezu vollendet – den sozialen Typus ‘einfache, alte Frau aus dem Volk’. Ihr Handkuss träfe, wenn er an einen Ring gerichtet wäre, weder auf einen Siegelring noch auf einen ‘Fischerring’, sondern (vermutlich) auf einen bürgerlichen Ehering. Dennoch wendet sie sich entschlossen – ganzheitlich – an ein Gegenüber, das durch ihre Geste zum Repräsentanten sakralisierter weltlicher Herrschaft wird. Die von ihr verkörperte Haltung, eine Komposition aus ‘Untertanin’, demütiger, gläubiger Verehrerin und dankbarer Mutter, ist Ausdruck einer vollständigen Rollenkonsistenz. Dem Adressaten dieser Geste bietet sich die Chance für eine solche Rollenkonsistenz nicht: Einerseits kann er als gleichaltriger Mann den Handkuss der alten Dame nicht akzeptieren, und als Repräsentant demokratischer Herrschaft darf er weder die Sakralisierung seines Amtes noch eine ‘Nobilitierung’ seiner Person zulassen. Andererseits verhielte er sich als Mann rüpelhaft und als politischer Repräsentant sowohl arrogant als auch undemokratisch, wenn er die alte Dame zurückwiese. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als die paradoxe Situation in einer multivalenten Ausdrucksgebärde zu gestalten. In ihr zeigt er sich selbst, seiner Umgebung und insbesondere dem Photographen den in der Reaktion zu
23 Hinter Adenauer ist Carlo Schmid, damals Vizepräsident des Deutschen Bundestages, erkennbar. Weitere Politiker, Beamte und Journalisten stellen das übrige auf dem Bild gezeigte Personal. 24 Wenn man den historischen Bezugsrahmen der Interpretation ausdehnt, ist zu berücksichtigen, dass sowohl Adenauer als auch die alte Dame ihre Kindheit und Jugend im ausgehenden 19. Jahrhundert erlebt haben, die alten Traditionen also noch gut kannten.
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lösenden Widerspruch an: die unvermeidbare Akzeptanz des Nicht-Akzeptierbaren. Dabei gewinnt er seine Souveränität gegenüber dem Handlungsdruck in einer paradoxen Situation zurück. Er verzögert und bricht die unmittelbare Reaktion und tritt dadurch sichtbar in beinahe ironische Distanz zu sich selbst – ohne sich der gemeinsamen Gestaltung des Rituals zu entziehen. Den beiden der zentralen Szene am nächsten stehenden bildinternen Beobachtern des prekären Gestenaustausches – einer steht links neben der alten Dame, der andere rechts von Adenauer – gelingt diese Selbstdistanzierung nicht. Eben weil sie nicht unmittelbar körperlich involviert sind, reagieren sie ‘mechanisch’ auf den von ihnen ganzheitlich wahrgenommenen prekären Gesamteindruck des Gestenaustausches. Der Blick des dem Geschehen am nächsten stehenden Betrachters ist zentriert auf Kopf und Handkuss der alten Dame. Adenauers Reaktion entgeht ihm – und damit die Multivalenz des Gesamtausdruckes. Dementsprechend reduziert sich die interpretierende Reaktion auf die Wahrnehmung der Unangemessenheit dieser Teilgebärde: Der abwehrende Blick unter den Brillengläsern korrespondiert mit missbilligend abgesenkten Mundwinkeln:25 ein Ausdruck irritiert kritischen Mitleids. Der rechts hinter Adenauer stehende Beobachter wiederum kann weder den Handkuss selbst noch den Gesichtsausdruck des Kanzlers sehen. Aber er hat – wahrscheinlich – die der Photographie vorausgehenden Handlungssequenzen beobachtet und ‘appräsentiert’ auf dieser Grundlage die ihm verdeckte Ausdrucksgebärde. Seine interpretierende Reaktion: Trotz der Brille ist gut erkennbar, dass seine – die Augen umgebene – Muskulatur angespannt ist. Gleiches gilt für die Mundmuskulatur und die zusammengepressten Lippen. Es ist ein Gesamtausdruck von Missbilligung und Abwehr. Beide Beobachter sind Teil jener professionellen, meist bürgerlichen Entourage, die öffentliche politische Auftritte begleitet. Die naive Verehrungs- und Demutsgeste der ‘alten, einfachen Frau aus dem Volke’ erregt eher ihr abwehrend irritiertes Mitleid als ihr Verständnis. Während die bildinternen Beobachter – als in die Gesamtszene Involvierte – in ihren Reaktionen unmittelbar die durch die auslösende Geste, den Handkuss, verursachte Ambiguität möglicher Interpretationen durch den Adressaten der Geste bestätigen, hat der bildexterne Betrachter der Photographie von vornherein strukturell die Chance, das zu überprüfen, was er ‘auf den ersten Blick’ wahrgenommen hat. Die Mischung aus anrührender Ausdrucksgebärde und dazu unverkennbar im Widerspruch stehenden, im Bild ebenfalls sichtbaren Reaktionen der Beteiligten löst bei ihm eine diffuse Irritation aus. Die auf diese erste Reaktion folgenden, sie brechenden und diskursiv verzögernden Reaktionssequenzen
25 Auch hier orientiere ich mich weitgehend an Darwins und Ekmans (s. o.) Beobachtungen.
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eröffnen, wie zu zeigen war, die Möglichkeit, das im Bild dokumentierte Reaktionsgefüge – die wechselseitige Steuerung der beteiligten Individuen – analytisch so aufzuschlüsseln, dass sie als eine strukturierte gesellschaftliche Handlung: als spezifisches, signifikantes Symbol interpretiert werden kann. Unabhängig von der inhaltlichen Interpretation der in der Photographie gezeigten Ausdrucksgebärde verweist die Analyse vor allem darauf, dass gerade in einer durch die Ambiguität des Reaktionspotenzials ausgelösten ‘Interaktionskrise’ für die Handelnden die Chance entsteht, eine auf reflexive Selbstdistanzierung gestützte Souveränität zurückgewinnen: eine Souveränität, die für sie in einem Gefüge ‘mechanisch’ und habituell organisierter Aktions- und Reaktionssequenzen unwahrscheinlich ist.
4 Die Umarmung 4.1 Protosoziologische und soziale Typik Wie der Handkuss so zählt auch die Umarmung – obwohl sie längst nicht so konturiert stilisiert ist – sowohl aus humanethnologischer, protosoziologischer als auch aus geistes- und kultursoziologischer Sicht zu jenen signifikanten Gesten, die auch zum signifikanten Symbol und Ambivalenz überwindenden Ritual werden können. Aber anders als beim Handkuss, bei dem das Gesten setzende Individuum – entweder durch die Darbietung oder durch das Ergreifen der Hand – als Initiator einer Handlungssequenz erkennbar ist, kann die Umarmung entweder durch ein Individuum handlungseröffnend einseitig oder durch zwei oder mehrere Individuen synchron wechselseitig initiiert werden. Während der synchron eröffnende Gestenaustausch signalisiert, dass die daran Beteiligten sich freiwillig in ein gemeinsam auszugestaltendes Ritual einfügen, kann im ersten Fall das Gesten setzende Individuum dem Gegenüber eine Reaktion abfordern, die entweder gern und freiwillig oder formal zwar adäquat, zugleich aber intentional widerstrebend erbracht wird. Die wechselseitige Verschränkung der Körper erweitert nachdrücklich die organische Basis des Tastsinnes der beteiligten Individuen. Zugleich wird der Geruchssinn und mit ihm bei den Akteuren eine weitere Quelle für eine bewusste oder unbewusste Zustimmung und Sympathie oder Abwehr und Antipathie aktiviert. Verbinden sich Umarmung und Kuss, so wird auch der Geschmackssinn der Küssenden stimuliert, der Blickkontakt eingeschränkt, und sie tendieren dazu, den Kopf des Gegenübers in die Hände zu nehmen. In der Standardumarmung werden die Kopfbewegungen synchronisiert und die Köpfe nebeneinander posi-
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tioniert. Der Blickkontakt geht verloren, während sich Arm- und Körperbewegungen harmonisieren. Diese Harmonisierung der Bewegungen bewegt sich zwischen zwei Polen: dem Wunsch nach größtmöglicher Nähe und dem Bedürfnis nach oder der Notwendigkeit von Distanz. Anders als beim engen Zusammenschluss der Körper, der Antwort auf den Wunsch nach Nähe und Verbundenheit, führt das Bedürfnis nach der Beibehaltung von Distanz – trotz oder sogar wegen bereits realisierter zu großer Nähe – zu einer in sich gebrochenen Ausdrucksgebärde: exemplarisch bei einer Umarmung als konventionellem Begrüßungsritual. Hier finden die Oberkörper der sich Umarmenden zueinander, während die unteren Körperhälften sich voneinander distanzieren und so u. a. die Umarmung ‘enterotisieren’. Auf den ersten Blick scheint die Umarmung der Ausdruck von Nähe, Gleichheit und Sympathie zu sein. Aber schon an der bisherigen Beschreibung des Bedeutungspotenzials dieser Geste wird deutlich, dass sich die konkrete Bedeutung einer Geste nur erschließen lässt, wenn genau beobachtet wird, wie sie von den an ihr Beteiligten ausgeformt und in der Ausformung bewertet wird: als freiwillige, wechselseitige Verbindung zu einer Einheit oder als taktische Umarmung und Autonomieeinschränkung – nach der Devise des arabischen Sprichwortes: „Wer seinen Gegner umarmt, macht ihn bewegungsunfähig.“ Das Bedeutungspotenzial der Umarmung als Ausdruckstypus spannt sich also auf zwischen der Darstellung eines freiwilligen Zusammenspiels der beteiligten Individuen und einer gezielten Distanzverletzung: dem bewussten Eingriff in die persönliche, körperliche Autonomie des Gegenübers. Die durch Distanzverletzungen und die Zumutung ungewollter Nähe ausgelösten Emotionen lassen sich beispielhaft beobachten an den Reaktionen von Kindern auf die aufdringlichen Umarmungen, die ihnen von allzu liebevollen Onkeln und Tanten aufgenötigt werden. Die signifikante Reaktion der Kinder auf diese Zumutung besteht in der Abwendung von den Invasoren und der Schutzsuche in der Umarmung der Eltern. Trotz ihrer Ambivalenz und Multivalenz lässt sich die Umarmung als signifikante Geste und Interaktionsritual typologisch und funktional eingrenzen. Sie kann eine Ausdrucksgebärde sein für (1) Schutzsuche und die Gewährung von Schutz (Dominanz und freiwillige Unterordnung); (2) expressiv realisierte Gemeinsamkeit (wechselseitig intentionale Überwindung der Schranken von ego und alter); (3) Gemeinschaftsritual (Ausdruck tradierter/tradierbarer Zugehörigkeit und Zugehörigkeitsbestätigung); (4) Inklusionsgeste (nach ‘innen’: Einbindung aller Beteiligten in einen Gemeinschaftskörper) und gleichzeitig Exklusionsgeste (Abwendung nach ‘außen’: Darbietung des Rückens und Ausschluss der Nicht-Beteiligten). Diese Typologie ist übertragbar auf ‘Gruppenumarmungen’. Diese lassen sich darüber hinaus als Ausdrucksgestalt (1) für eine Gemeinschaft ohne Mitte
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(Vereinigung tendenziell Gleichgestellter); (2) für eine Gemeinschaft mit einem Zentrum (Ausdruck von Dominanz-Gewährung in der Umarmung); (3) für eine hierarchisierte Gemeinschaft (Rollenhierarchie, Typus Familie/oder Verein) charakterisieren. In der kulturellen Überformung dieser Grundstrukturen und Typen finden sich – in unterschiedlicher Gewichtung – die zentralen Elemente des protosoziologischen Musters wieder, so in der Umarmung als zentralem Ritual bei der Neujahrsmesse – sowohl in der römisch-katholischen Kirche (hier insbesondere in Spanien und Lateinamerika) als auch in christlich-orthodoxen Kirchen: als Ausdruck hierarchisch-strukturierter Vergemeinschaftung. Zu den Inklusionsritualen der römisch-katholischen Kirche zählt ebenso die Umarmung des/der Gläubigen durch den Priester. Sie kann durch den ‘Friedenskuss’ (auf die Stirn des/der Gläubigen) ergänzt werden. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Umarmung zwar von allen Völkern und Kulturen als Ausdruck von Liebe, Anerkennung, Unterstützung, Ermutigung und Trost erkannt wird, dass aber die Häufigkeit des Auftretens und die Erscheinungsformen dieses Rituals sowie die Regeln, die darüber entscheiden, wer – in welcher Weise – zu ihm zugelassen wird, höchst unterschiedlich ausfallen. Ähnliches gilt für das Verhältnis zwischen der Umarmung als Alltagsritual einerseits und ihrer überwiegenden Beschränkung auf einen religiös zeremoniellen Bezugsrahmen andererseits. Außerhalb einer solchen religiös-zeremoniellen Rahmung lässt sich, beispielhaft seit ca. vier Jahrzehnten in den USA und Europa, beobachten, dass die Umarmung als Begrüßungsritual vor allem dann den Händedruck ersetzt, wenn die sich Umarmenden – nicht nur einander, sondern auch anderen öffentlich – wechselseitige Vertrautheit oder Freundschaft anzeigen wollen. Allerdings entzündete sich, als sich in den USA an den High Schools die Umarmung als allgemeines Begrüßungsritual durchzusetzen begann, wie zu erwarten war, eine öffentliche Debatte über die Schicklichkeit und ‘Korrektheit’ dieser Art der Begrüßung. Man attestierte ihr ein hohes Erotisierungs- und ‘Übergriffigkeitspotenzial’. Zwangsläufig kam es zu – weitgehend erfolglosen – Versuchen der High School-Leitungen, das neue Begrüßungsritual zu verbieten. An dieser Zeitgeist gesättigten Debatte lässt sich besonders gut erkennen, auf welches strukturelle Grundproblem menschlicher Interaktion die unterschiedlichen Typen der Umarmung – als Ritual und signifikantes Symbol – Antworten zu geben versuchen: auf die Bewältigung der Spannung zwischen Nähe und Distanz, Hingabe und Detachement, sozialer Verschmelzung und individueller Autonomie. Die eine Seite dieses Spannungsbogens zeigt sich, wenn Eltern und Kinder einander umarmen oder Kinder ihre Puppen und Kuscheltiere an sich drücken, die andere im zeremoniell gebändigten, religiösen Ritual, in dem die – eigentlich
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unüberwindbare – Kluft zwischen dem Heiligen, Ewigen und dem Fehlbaren, Sterblichen überbrückt werden soll.
4.2 Die Ausdrucksgebärden Gestisches Arrangement Auf dem Farbphoto (Abb. 4)26 sind deutlich fünf Individuen zu erkennen, die sich in einer Gruppenumarmung miteinander verbinden. Eine sechste – wahrscheinlich weibliche (ein Kind?) – Person, deren Haare man sieht, kniet (?) zwischen dem Papst und der ihn umarmenden Frau (oder ist es ein Mädchen?). Diese sechste Person ist kaum zu erkennen und daher für die auf die Fünferkonstellation konzentrierte Bildkomposition marginal. Beine und Füße der Personen werden in dem Bildausschnitt nicht gezeigt. Die Fünferkonstellation besteht aus zwei Frauen, zwei Männern und einem Kind, das von den Erwachsenen eingerahmt zu werden scheint. Allerdings bilden die zwei Frauen, das Kind und der junge Mann, er ist der Größte der Gruppe, innerhalb der Gesamtkonstellation einen eigenen Verbund. Dabei sind die Köpfe der Erwachsenen in der Bildkomposition so positioniert, dass das Gesicht des Kindes zum Zentrum dieses Verbundes wird. So formiert sich innerhalb der im Bild gezeigten Gesamtgestalt eine soziale Einheit aus vier Individuen, die sich einem – durch die Bildanordnung herausgestellten – Gegenüber, einem sichtlich älteren Mann zuwenden. Der junge Mann ist zwar innerhalb der Gesamtkonstellation der Größte, aber sein Körper und ein Teil seines Gesichtes sind verdeckt, während das Gegenüber, dessen Gesicht – deutlich abgehoben von denen des übrigen Verbundes – im Dreiviertelprofil gezeigt wird, durch seine Umarmungsgeste die Außengrenze der Gesamtkonstellation festlegt. Es verfügt darüber hinaus über mehr Bildraum als jede andere der im Bild zu sehenden Personen. Die von allen fünf Individuen gestaltete Ausdrucksgebärde fügt sich zu einer Komposition aus mehreren, aufeinander bezogenen Einzelgesten. Eine der Frauen, sie ist dem älteren Mann am deutlichsten zugewandt, beugt sich vor und legt ihren Kopf – ihr Gesicht – an seine Brust. Während ihr Unterkörper sich von dieser Zuwendung distanziert (s. o.), geht ihr Blickkontakt zu dem von ihr Umarmten in der errungenen Nähe verloren. Diese Frau wird ihrerseits umarmt von einer
26 Das Photo wurde von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung – FAS – am 4. Oktober 2015 veröffentlicht. Es ist unterschrieben: „Papst Franziskus am Weltfamilientag am vergangenen Sonntag in den Vereinigten Staaten.“
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Abb. 4: „Papst Franziskus am Weltfamilientag am vergangenen Sonntag in den Vereinigten Staaten.“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 4. Oktober 2015.
jungen Frau, deren Umarmungsgeste auf der Schulter des Kindes (?) endet und sich fast bis zur Hüfte des älteren Mannes fortsetzt. Das Bild zeigt ihr Gesicht im Halbprofil. Ihr Kopf ist erhoben und – in Richtung des Kindes – leicht schräg geneigt. Sie lächelt mit geöffneten Augen und geöffnetem Mund: Die obere Zahnreihe ist gut zu sehen. Ihr Lächeln wendet sich gezielt an das Gegenüber. Auch dieses lächelt mit halbgeöffnetem Mund, und auch hier ist die obere Zahnreihe gut zu erkennen (Abb. 5). Aber der von der Frau gesuchte Blickkontakt kommt nicht zustande: Ihr Blick wird nicht erwidert. Stattdessen richtet sich der Blick27 des älteren Mannes an
27 Zur Soziologie und Phänomenologie des Blickes, die hier nur gestreift werden, vgl. Georg Simmel, „Exkurs über die Soziologie der Sinne“, in: ders., Soziologie. Über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 21995, insbesondere S. 723 ff., und Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1980, darin: „Der Blick“, S. 338–397.
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Abb. 5: Ausschnitt aus Abb. 4.
Abb. 6: Ausschnitt aus Abb. 4.
einen sich außerhalb der Umarmung und außerhalb des Bildes befindlichen Adressaten (Abb. 6). Auch der junge Mann – er ist die größte Person im Bild – richtet seinen Blick auf das Gesicht des älteren Gegenübers, und auch dieser Blick wird nicht erwidert. Anders als bei der jungen Frau sind die lachenden Augen des jungen Mannes jedoch nicht weit geöffnet, sondern die Augenlider sind leicht zusammengekniffen. Der – vordergründig lachende – Mund ist geöffnet. Da aber beide Zahnreihen zu sehen sind und die den Mund umgebene Muskulatur angespannt ist, mischt sich in das Lachen eine Spannung, die den mimischen Gesamteindruck der ‘Gesichtsgeste’ (Wundt) ‘multivalent’ (Darwin) werden lässt: zum Ausdruck von – im Lächeln gebändigter – Aggression. Ob der Ältere den jungen Mann in seine Umarmung einschließt, ist nicht deutlich erkennbar; sichtbar ist jedoch, dass der junge Mann seinerseits mit seinem rechten Arm den Älteren umarmt – die Hand des jungen Mannes ruht auf der weißen Soutane. Gleichzeitig weist sein linker Arm aus dem Bild hinaus. Seine Körpergeste als ganze stellt – strukturell – die Dominanz des Älteren in Frage. Das Gesicht des von seinem Verbund geschützten Kindes zeigt gespannte Neugierde. Es fixiert das Gesicht seines Gegenübers mit weit geöffneten, nach oben blickenden Augen. Auch dieser Blick wird nicht erwidert, so dass die gesamte Blickkonstellation dadurch charakterisiert ist, dass drei suchende Blicke
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beim Gegenüber keinen antwortenden Blick und damit auch keinen Blickkontakt finden können. Der Blick und das Lächeln des älteren Mannes wenden sich an einen – im Bild nicht sichtbaren – Adressaten außerhalb der kleinen Umarmungsgemeinschaft: Die dreifache Blickzuwendung wird mit einer Blickabwendung beantwortet. Mit dieser Blickabwendung setzt der ältere, das Bild dominierende Mann einen gestischen Kontrapunkt zu der inkludierenden Zuwendung seiner Umarmungsgeste: Zusammengenommen ergeben beide Gesten wiederum eine in sich widersprüchliche Gesamtgebärde (split expression). Aber anders als bei dem vorangegangenen Bildbeispiel (Adenauer) reagiert diese Gebärde nicht auf die gestische Binnenkonstellation der Umarmung, sondern auf externe Beobachter und Betrachter. Diese werden – von dem die Umarmungsgeste dominierenden Individuum – zur Beobachtung und Betrachtung dessen eingeladen, was ihnen, gewissermaßen als Anschauungsmaterial, geboten wird: Die Binnenkommunikation der Umarmungsgeste wird zum ‘Stoff’ für die Außenkommunikation mit – im Bild unsichtbaren – Zuschauern. Wie beim ersten Bildbeispiel lässt sich auch bei dieser in sich widersprüchlichen Ausdrucksgebärde eine „verzögerte, selektive Reaktion“ des Hauptakteurs erkennen. Aber anders als im ersten Fall entsteht diese Reaktion nicht aus der Gestenkommunikation innerhalb des Umarmungsverbundes, sondern aus der Zuwendung des Hauptakteurs zu externen Beobachtern der Szene. In der – durch diese nach außen gerichtete Zuwendung entstehenden – Reaktionsverzögerung tritt er in eine doppelte Distanz zu sich und dem gesteninternen Interaktionsgeschehen: (1) Die Blickvermeidung nach innen löst ihn aus dem Zwang zur unmittelbaren Reaktion innerhalb des Nah- und Kontaktbereiches und verschafft ihm zugleich einen oder mehrere weitere Interaktionspartner in der Reichweite seines Blickes. Durch die so entstehende strukturelle Konkurrenz seiner internen und externen Interaktionspartner wird es ihm zugleich möglich, sich von beiden zu distanzieren und sich so einer ‘mechanischen Reaktion’ zu entziehen. (2) Die von ihm außerhalb des Nah- und Kontaktbereiches der Umarmungskonstellation geforderte Reaktion ist die des wechselseitigen Beobachtens. Indem er sich selbst als Beobachtungsgegenstand anderer wahrnimmt, eröffnet sich ihm die Möglichkeit, die unmittelbar geforderte Reaktion in die Darstellung einer Reaktion zu transformieren, vom Re-Akteur zum Darsteller zu werden.28
28 Vgl. Helmuth Plessner, „Zur Anthropologie des Schauspielers“ (1948), in: ders., Gesammelte Schriften VII. Ausdruck und menschliche Natur, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1982, S. 399–418.
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Interaktionsrahmen und soziale Typik Mit dem apostolischen Schreiben „Familaris consortio“ initiierte Papst Johannes Paul II. im Jahre 1981 den „Weltfamilientag“: ein internationales Treffen, das seitdem alle drei Jahre in wechselnden Gastgeberländern stattfindet. Die im Folgenden interpretierte Photographie entstand am Sonntag, dem 27. September 2015, in Philadelphia, USA. Sie zeigt Papst Franziskus bei der Gestaltung einer im öffentlichen Raum stattfindenden Zeremonie: eines demonstrativ zelebrierten Inklusionsrituals im Rahmen des durch den Weltfamilientag vorgegebenen liturgischen Gesamtzusammenhanges. Bezogen auf den liturgischen Rahmen – Weltfamilientag – ergibt sich thematisch eine beispielhafte Konstellation: Der Papst umarmt – pars pro toto – zwei Generationen einer Familie, die idealtypisch für alle anderen Familien stehen könnte. Den fehlenden Großvater könnte er selbst, während er ihn symbolisch überhöht, aufgrund des eigenen Alters – gleichnishaft – vertreten. Wir sähen eine ‘heilige Familie’, geheiligt durch die Kirche und das Amtscharisma ihres Vertreters. Die Bildkomposition suggeriert ebenfalls diese Deutung: Die Verknüpfung der Einzelgesten zu einer dominierenden Ausdrucksgebärde; die gläubige ‘Laienfamilie’, die sich in einer Verehrungsgeste zusammenschließt; die durch die Huldigung ratifizierte Dominanz des Verehrten – all diese Elemente summieren sich zu einem Gesamteindruck, der zusätzlich durch die Raumaufteilung und die Farbgebung der Photographie gestützt wird. Die überproportionale Beanspruchung des Bildraumes durch Franziskus, dessen dominante, grenzsetzende Umarmungsgeste, die ihrerseits unterstützt wird durch die Farbgebung – das gedeckte Weiß der Soutane, weiße Kopfbedeckung und weißes Hemd –, dominieren den Bildraum und verstärken gleichfalls diesen Anschein. Damit entstünde, wenn sich alle genannten Komponenten zu einem schlüssigen Verweisungszusammenhang fügten, für den Betrachter dieses Bildes eine Wahrnehmungslenkung, der er sich kaum entziehen könnte. – Wenn da nicht der Blick des Papstes wäre. Dieser Blick trifft den Betrachter und lenkt dessen Aufmerksamkeit auf einen neuen Fokus. Indem der Betrachter den auf ihn gerichteten – für ihn durch den Photographen stellvertretend fixierten – Blick des Papstes aufnimmt, löst sich für ihn die vom bildinternen Interaktionsverbund geformte Ausdrucksgebärde insofern auf, als ein unsichtbares, sich außerhalb der Photographie befindendes Publikum, dem er, medial vermittelt, letztlich selbst angehört, in die Interaktion mit einbezogen wird. Dieser Moment des im ‘Schnappschuss’ festgehaltenen Perspektivenwechsels des zentralen Akteurs, die Ablenkung seiner Aufmerksamkeit von der Binnenkommunikation und das durch seinen nach außen gerichteten Blick angezeigte
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Interesse daran, wie die von ihm mitgestaltete Szene von Außenstehenden wahrgenommen wird, erzeugt zwangsläufig den Eindruck einer strukturellen Illoyalität des Papstes gegenüber der ihm ganzheitlich zugewandten Familie. Diese dagegen gestaltet, ungebrochen auf Franziskus konzentriert und rollenkonsistent, in ihrem koordinierten, gestischen Handeln das Ritual. Sie bewegt sich ausschließlich im Ritual. Franziskus dagegen führt nicht nur das Ritual aus, sondern er zeigt auch nach außen an, dass er es ausführt. Dadurch, dass sich sein Handeln an zwei Bezugsgruppen, die Umarmungsgemeinschaft und ein auch medial präsentes (Photograph) Publikum wendet, macht er sich sowohl zum Mitgestalter als auch zum Darsteller seines rituellen Handelns. Diese das Ritual als in sich geschlossene, symbolische Form letztlich verletzende und brechende Rolleninkonsistenz ist erklärungsbedürftig. Durch sein Amt und den liturgischen Rahmen ist Franziskus im Gesamtritus des „Weltfamilientages“ zentral positioniert und ganzheitlich involviert. Dabei löste der liturgische Rahmen ursprünglich ein elementares Problem öffentlich rituellen Handelns. Denn innerhalb dieses Rahmens gibt es – streng genommen – keine Zuschauer mehr, weil alle, die sich diesem Rahmen verpflichten, in Mitglieder einer Glaubens- und Ritualgemeinschaft transformiert werden. Der liturgische Rahmen kennt somit eigentlich weder Spieler oder Mitspieler noch bloße Zuschauer oder ein Publikum. Durch den Einsatz von Medien im liturgischen Raum entsteht eine neue Situation für alle in ihm Agierenden. Allein dadurch, dass mediale Aufzeichnungen einem außenstehenden, abstrakten und anonymen Publikum zugänglich gemacht werden können, wird aus einem Ritual als Handlungs- und Kommunikationsform von ‘Anwesenden’ strukturell immer auch eine Darbietungsform für ein nicht anwesendes Publikum. Innerhalb eines von Medien beobachteten liturgischen Raumes begeben sich die Techniker, Photographen, Kameraleute von sich aus in eine perspektivisch und handlungspraktisch vom rituellen Handeln exkludierte Position – so ergriffen sie auch manchmal sein mögen. Aber auch für die anwesende Glaubensgemeinschaft, ihre Repräsentanten und das ‘liturgische Personal’ sind der für sie und durch sie gestaltete Ritus und der rituelle Raum nur dann noch ‘ungebrochen’ erlebbar, wenn es ihnen gelingt, im rituellen Handeln die mediale Beobachtung, das medial repräsentierte Außen, auszuklammern.29
29 Wie schwierig dieses ‘Ausklammern’ ist, zeigt sich beispielhaft an Fußballzuschauern im Stadion: Sie vergessen selbst das spannendste Spiel, wenn sie auf der Stadionleinwand sehen, dass eine Kamera sie ‘eingefangen’ hat.
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Beide Fallbeispiele, die Photographien sowohl des Handkusses als auch des Umarmungsrituals, sind erkennbar eingebettet in eine mediale Umgebung. Dennoch unterscheiden sich die Reaktionen der zentralen Akteure – die des Kanzlers Adenauer und die des Papstes Franziskus – auf diese mediale Rahmung deutlich. Die von Adenauer geformte widersprüchliche Einheit der ‘verzögerten Reaktion’ auf die durch eine paradoxe Situation ausgelöste Handlungskrise bezieht sich ausschließlich auf die vom Bild gezeigte Binneninteraktion. Obwohl die Medien – Mikrophone, Photograph, vermutlich Fernsehkameras – ‘materiell’ anwesend und nah am Geschehen sind, werden sie durch den Handlungsdruck, unter den sich die Beteiligten setzen, ausgeblendet. Franziskus dagegen orientiert seine ‘Situationsdefinition’ an dem Zusammenspiel von liturgisch rituellen Vorgaben einerseits und einer – als ‘adäquat’ intendierten – Reaktion auf ‘mediales Interesse’ andererseits: Die split expression der von ihm geformten Ausdrucksgebärde resultiert aus einer vorausgehenden split perception. So überformt die Darstellung seines Handelns für ein Außenpublikum sein Engagement gegenüber der rituellen Binnengruppe. An die Stelle der gemeinsamen rituellen Gestaltung der liturgisch fundierten Ausdrucksgebärde mit den darin involvierten Gläubigen tritt die Aufführung des Umarmungsrituals für eine externe, tendenziell anonyme Öffentlichkeit. Der liturgische Rahmen transformiert sich zur Bühne. Damit wird durch Franziskus‘ deutlich erkennbare Einbeziehung der medialen Rahmung in die eigene Reaktion strukturell und handlungspraktisch der interaktiv nahestehende ‘signifikante Andere’, die rituelle Umarmungsgemeinschaft, ersetzt durch den medial repräsentierten, ab strakten ‘generalisierten Anderen’ einer größeren Gemeinschaft. Den distanziert reflexiven ‘Außenbetrachter’ führt die durch die Photographie dokumentierte split expression der Ausdrucksgestalt spiegelbildlich ebenfalls zu einer split perception. In ihr wird das ursprünglich durch den liturgisch rituellen Zeremonialraum abgesicherte Amtscharisma des Papstes gebrochen, weil es sich in einen ‘fremdbestimmten’ Rahmen einpasst: in das allgemeine Eventmuster öffentlicher Inszenierungen. Strukturell resultiert für den Bildinterpreten aus dieser ‘Passung’ ein Zweifel an der Autonomie des dargestellten, sakral rituellen Handelns und an seiner Glaubwürdigkeit. Wer sich erinnert an die Konsequenz, mit der Papst Johannes XXIII. beim Zweiten Vatikanischen Konzil (1962) die Medien auf Distanz zum liturgischen Geschehen hielt, und wer mitverfolgte, wie diese Distanz im liturgisch rituellen Raum der katholischen Kirche zunehmend aufgelöst wurde – insbesondere durch Papst Johannes Paul II. – kann erkennen, wie das Spannungsverhältnis zwischen der Selbstbehauptung der Autonomie sakral rituellen Handelns einerseits und Anpassungsexperimenten gegenüber einer zunehmend medial basierten Aufmerksamkeit andererseits sich in immer neuen Metamorphosen eines Grund-
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widerspruches artikulierte: In dem ‘universalen’ Anspruch auf mediale Verfügbarkeit aller menschlichen Ausdrucksformen einerseits und der Unverfügbarkeit autonomer Sphären menschlicher Erfahrung andererseits.
5 Kleiner Anhang zur Hermeneutik des Sehens Der Essay beginnt mit dem Satz: „Ohne Gebärden, Gestik, Mimik – Ausdrucksformen des menschlichen Körpers – und deren Deutung ist die Face-to-Face-Kommunikation nicht möglich.“ Zu ergänzen ist nun: Diese Deutung basiert auf dem Sehsinn. Er ‘erschafft’ und erschließt uns die sichtbare Welt. Für ihn entwerfen wir unsere Bildwelten. Alle Wahrnehmungsformen des Sehsinnes: das Sehen, Betrachten, Beobachten, der Blick und das ‘sehende Sehen’ (Max Imdahl)30 – das Sehen, das sieht, wie es sieht – sind untrennbar verbunden mit Deutungsakten. Sehen und Deuten sind gleichursprünglich. Einige Besonderheiten des deutenden Sehens oder der sehenden Deutung lassen sich am Beispiel der vorangegangenen Bildinterpretationen zeigen. Ich beginne mit dem, was ich die ‘Simultaneitätsillusion’31 des ganzheitlichen Blickes nenne. Er nimmt – scheinbar gleichzeitig – die im Bild dargestellten Handlungen wahr. Dabei lässt er uns vergessen, dass er temporal organisiert ist: abhängig (1) davon, wie wir ein Bild in seine Umgebung einpassen und es zum Bildzentrum machen; (2) wie lange wir den Blick ‘auf Dauer stellen’ können; (3) wie schnell unsere Augen(bewegungen) unterschiedliche Bildelemente ‘fixieren’ und sich jeweils neu zentrieren. Dabei verweist die Veränderung der Blickrichtung, auch und gerade bei ‘stehenden’ Bildern, auf die Parallelität und Prozesshaftigkeit von Sehen und Deuten. Ähnliches gilt für die Wahrnehmung der im Bild ‘stillgestellten’ Handlungen: Während wir sie als ‘eingefroren und unveränderbar’ wahrnehmen, ‘appräsentieren’ wir (Edmund Husserl, Alfred Schütz) vorangegangene und folgende Handlungen. Gleichzeitig ‘identifizieren’ wir sie und die Handelnden als bestimmte, durch ihre Erscheinungsform von anderen Handlungsformen und Akteuren unterschiedene Handlungs- und Aktionstypen. Dabei greifen wir ‘appräsentativ’ auf jene Typisierungsschemata zurück, die wir durch vorangegangene Wahrneh-
30 Vgl. Max Imdahl, Giotto – Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik, München: Fink, 1980. 31 Für die Diskussion zu diesem Begriff danke ich Jürgen Raab, vgl. dazu u. a. Jürgen Raab, „E pluribus unum. Eine wissenssoziologische Konstellationsanalyse visuellen Handelns“, in: Michael Kauppert/Irene Leser (Hrsg.), Hillarys Hand. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart, Bielefeld: transcript, 2014, S. 105–130.
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mungen und Erfahrungen aufgebaut haben: Auch hier wirken Protention und Retention zusammen. Kurz: Der Wahrnehmungsprozess versetzt das stehende Bild in Bewegung. Innerhalb dieses Prozesses verändert sich auch das Sehen selbst. Mit der Fixierung eines bestimmten Gegenstandes – des Bildes, der Bildelemente etc. – wird aus dem ‘medialen’32, intentional ungerichteten ein aktives, gerichtetes Sehen, das seinerseits in die konzentrierte Betrachtung seines Gegenstandes übergehen und sich schließlich danach fragen kann, wie es sich selbst in dieser Betrachtung – beim Sehen – organisiert. Dennoch verweisen der Blick und das ihm zugrunde liegende, deutende Sehen auf eine Besonderheit des Bildes – insbesondere gegenüber der Sprache und der sprachlichen Beschreibung von Bildern: auf die als „visuelle Präsenz“ erscheinende „ikonische Differenz“ der Bilder gegenüber der Sprache, eine Differenz, die sich als „Wirkungskontrast“ darstellen lässt.33 Auch – oder gerade – in der besten sprachlichen Beschreibung eines Bildes wird diese Differenz deutlich. Sowohl die geschriebene Sprache als auch das Sprechen basieren auf einem kodifizierten, gegenüber der visuellen Wahrnehmung und ihrer Welt ‘arbiträren’ (de Saussure) Zeichensystem. Sie sind temporär und regelgeleitet strukturiert. Sie unterwerfen die Beschreibung außersprachlicher ‘Wirklichkeiten’ sowohl eigenen Zeit- und Strukturierungsprinzipien als auch solchen Kausalitäts- oder Finalitätssuggestionen, die sich der Eigenlogik der Sprache und des Sprechens verdanken.34 Der ‘Wirkungskontrast’ zwischen sprachlichem und bildlichem Ausdruck verführt dazu, dem ersteren einen rein ‘temporären’ und dem zweiten einen rein ‘präsentischen’ Charakter zuzuschreiben. Susanne K. Langer hält dieser Vereinfachung in ihrer Analyse der Wirkung von Symbolen entgegen, dass auch die Sprache einen „präsentativen Symbolismus“ kenne, der dadurch gekennzeichnet sei, „dass er eine Vielzahl von Begriffen in einem totalen Ausdruck“ zusammenfasse.35 Ähnlich, allerdings bezogen auf das ‘visuelle Feld’ und den Prozess des
32 Vgl. die für das Altgriechische geltende Unterscheidung von ‘passivischen’, ‘medialen’ und ‘aktivischen’ Verbformen. 33 Gottfried Boehm, „Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache“, in: Michael R. Müller/Jürgen Raab/Hans-Georg Soeffner (Hrsg.), Grenzen der Bildinterpretation, Wiesbaden: Springer, 2014, S. 25–37, hier: S. 31. 34 Vgl. dazu auch die auf einer ganz anderen Tradition beruhende Feststellung: „Wo es etwas gibt, das durch Zeichen unterscheidbar ist, da gibt es Täuschung“ (Siddhartha Gautama Buddha: Diamant-Sutra). 35 Susanne K. Langer, Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt/M.: Fischer, 1965, S. 191.
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Wahrnehmens, argumentiert Gottfried Boehm, wenn er betont, dass auch der bildliche Ausdruck gekennzeichnet sei durch eine „Fülle von Zeichen, die ebenso sehr nacheinander wie zugleich wahrgenommen werden wollen“. Das Ergebnis dieser Verknüpfung konträrer Zeitmodi bestehe darin, dass sich „die Teile des Bildes verschränken […] zu einem totum, das in der Regel sofort problemlos präsent“ sei.36 So sei es möglich, dass der Betrachter schon „auf den ersten Blick […] den ‚Phänomensinn‘ des Bildes, seine lebendige Physiognomie“ entdecken könne.37 Folgerichtig betont Boehm, dass ein Bild „seiner Natur nach ein Differenzphänomen“ sei: „Der Blick bewegt sich zwischen Faktum und Aktum. Das Bild sehen heißt, diesen Kontrast betrachtend zu vollziehen, seine Bewegungsimpulse, sein visuelles Potenzial zu aktivieren“.38 Es ist also zu unterscheiden zwischen der „visuellen Präsenz“ (s. o.), der Anwesenheit und Verfügbarkeit des Bildes für unser Wahrnehmen einerseits und dem Prozess des Wahrnehmens und Betrachtens andererseits. Ähnliches gilt für die notwendige Unterscheidung zwischen ‘blicken’ und ‘Blick’, ‘wahrnehmen’ und ‘Eindruck’. Es ist kein Zufall, dass ein Phänomenologe in seinem Entwurf einer ‘Theorie sozialen Handelns’ systematisch unterscheidet zwischen dem ‘Handeln’ als sich vollziehendem, noch nicht vollendetem Prozess einerseits und der ‘Handlung’, dem abgeschlossenen Handlungsprozess, einem im Nachhinein zu einer ab strakten Einheit hypostasierten Handlungstypus andererseits.39 Dass aus dem ‘Blicken’, dem ‘bewegten Blick’40, im Nachhinein eine als ganzheitlich empfundene Zuwendung zu einem „totum“: ein Blick und aus dem Prozess der Wahrnehmung die Verfestigung des ‘Eindrucks’ zu einer ganzheitlichen ‘Gestalt’ wird, verdankt sich einer ähnlichen Verkettung von Prozessgeschehen einerseits und abschließender Typenbildung andererseits, so wie sie sich auch im alltäglichen Wahrnehmen und Handeln implizit vollzieht. Kurz: Die ‘Übersetzung’ von Wahrnehmungsprozessen in Sprache ist immer in Gefahr, durch das Medium Sprache das zu verschleiern, was im Wahrnehmen – einem anderen, nämlich leiblich-sinnlichen Medium – erfahren wird: Die Sprache, „ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen“, verführt uns dazu, Illusionen für wahr zu halten, „von denen man ver-
36 Sämtliche Zitate in Boehm, „Bildbeschreibung“, S. 23 f. (Hervorhebung von mir, H.-G. S.). 37 Ebd., S. 25 (Hervorhebung von mir, H.-G. S.). 38 Ebd., S. 32. 39 Vgl. Thomas Luckmann, Theorie des sozialen Handelns, Berlin: de Gruyter, 1992, i nsbesondere: S. 48 ff., und Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Bd. 2, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1984, insbesondere: S. 17 ff. und S. 90 ff. 40 Vgl. Boehm, „Bildbeschreibung“, S. 32.
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gessen hat, dass sie welche sind“.41 So suggeriert auch die – gegenüber jedweder sprachlichen Beschreibung – zweifellos gegebene „visuelle Anwesenheit des Bildes“42, dass die Präsenz, die Anwesenheit des Bildes, auch den Prozess des Wahrnehmens auflöse und in einer totalen, im ‘Augenblick’ erfahrenen, von allen anderen Zeitdimensionen abgelösten ‘Gegenwart’ zum Verschwinden bringe. Ausdruck solcher Suggestionskraft sind Topoi wie ‘Kairós’ (der metaphorische Statthalter glückhafter ästhetischer oder überwältigender religiöser Erfahrung) oder ‘Evidenz’ (in der Philosophie Statthalter unmittelbarer Erkenntnis). Beide Topoi versuchen, sich einer synthetisch und synästhetisch fundierten Erkenntnis und Begrifflichkeit zu entziehen. Und bezeichnenderweise sind beide Topoi zentrale Elemente sowohl der romantischen Kunsttheorien als auch der Theologie des frühen 19. sowie der Philosophie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts: Sie sind Kennzeichen der Autonomieansprüche sich vom alltäglichen Leben abgrenzender ‘Sinnbezirke’ (Alfred Schütz) und des Aufstiegs jener sozialen Eliten, die seit ca. 200 Jahren als Experten die Ausgestaltung solcher sich zunehmend ausdifferenzierender und gesellschaftlich anerkannter ‘Subsinnwelten’ verantworten (Künstler, Theologen, Intellektuelle etc.). Menschen sind per se deutende Wesen. Sie können nicht ‘nicht deuten’. Wahrnehmung und Deutung sind bei ihnen untrennbar miteinander verbunden. Aber es besteht ein großer Abstand zwischen dem uns ständig begleitenden Wahr nehmungs- und Deutungsstrom, der weitgehend nicht zum Gegenstand unseres Bewusstseins wird, einerseits und der gezielten Wahrnehmung und Deutung der Welt andererseits. Zwischen dieser, unser praktisches Handeln begleitenden ethodisierten, ‘wissenDeutung auf der einen und der handlungsentlasteten m schaftlichen’ Auslegung von bewusst eingegrenzten und definierten Gegenstandsbereichen auf der anderen Seite besteht ebenfalls eine qualitative Differenz. Diese kann wiederum nur dann analytisch erfasst werden, wenn wir uns ihrer Struktur und ihres ‘Erkenntnisstils’ selbst-reflexiv vergewissern: wenn aus dem Verstehen ein Verstehen des Verstehens und seiner ‘Arbeitsweise’ wird. Die Hermeneutik des Sehens ist Teil dieses umgreifenden Deutungszusammenhanges und der in ihm erschließbaren Reflexionsebenen. Im Sinne des genitivus subjectivus bezeichnet Hermeneutik des Sehens die Deutung und Auslegung der Welt durch das Sehen – vom alltäglich typisierenden Sehen bis hin zur analytisch kontrollierten Beobachtung. Der genitivus objectivus dagegen bezeichnet die Auslegung des Sehens selbst, das von uns zu leistende Verstehen eines spe-
41 Friedrich Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“, in: ders., Werke in sechs Bänden, Bd. 5, hrsg. von Karl Schlechta, München: Hanser, 1980, S. 314. 42 Boehm, „Bildbeschreibung“, S. 35.
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zifischen Sinnes, des Sehsinnes, seiner ‘Arbeitsweise’, seiner Leistungen und Täuschungen, aber auch der Produktionen und der Bildentwürfe, die er herausfordert und die sich reflexiv an ihn wenden: das selbstreflexive Verstehen sowohl der durch das Sehen erzeugten Bilder der Welt als auch der von uns für das Sehen entwickelten Bildwelten.
Verzeichnis der zitierten Literatur Boehm, Gottfried, „Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache“, in: Michael R. Müller/Jürgen Raab/Hans-Georg Soeffner (Hrsg.), Grenzen der Bildinterpretation, Wiesbaden: Springer, 2014, S. 15–37. Cassirer, Ernst, Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bd., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 21953. Castiglione, Baldesar, Das Buch vom Hofmann (1524/28) (= Sammlung Dieterich, Bd. 78), übers., eingel. und erl. von Fritz Baumgart, Bremen: Schünemann, 1960. Darwin, Charles, The Expression of Emotions in Man and Animals, Cambridge: Cambridge University Press, 1872/21889. Eibl-Eibesfeldt, Irenäus, Der vorprogrammierte Mensch. Das Ererbte als bestimmender Faktor menschlichen Verhaltens, München: dtv, 1973/1976. Ekman, Paul, „Vorwort zur Kritischen Edition“, in: Charles Darwin, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und bei den Tieren. Kritische Edition, Einleitung, Nachwort und Kommentar von Paul Ekman, Frankfurt/M.: Eichborn, 1998, S. IX–XXXIII. Ekman, Paul, „Sind Formen des Gefühlsausdrucks universal?“, in: Charles Darwin, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und bei den Tieren. Kritische Edition, Einleitung, Nachwort und Kommentar von Paul Ekman, Frankfurt/M.: Eichborn, 1998, S. 407–439. Goffman, Erving, Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, übers. von R. und R. Wiggershaus, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1974. Goffman, Erving, Geschlecht und Werbung, übers. von Thomas Lindquist, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1981. Imdahl, Max, Giotto – Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik, München: Fink, 1980. Kluge, Friedrich (Hrsg.), Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin/New York: de Gruyter, 1975. Langer, Susanne K., Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, übers. von Ada Löwith, Frankfurt/M.: Fischer, 1965. Lorenz, Konrad, Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, München: dtv, 1977. Luckmann, Thomas, Theorie des sozialen Handelns, Berlin/New York: de Gruyter, 1992. Mead, George Herbert, Geist, Identität und Gesellschaft – aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, übers. von Ulf Pacher, hrsg. von Charles W. Morris, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1968. Nietzsche, Friedrich, „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“, in: ders., Werke in sechs Bänden, Bd. 5, hrsg. von Karl Schlechta, München: Carl Hanser Verlag.
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Prädikation und Bedeutung im fiktionalen Text. Der Zauberberg als Paradigma 1 Zur Struktur sprachlicher Prädikation Welche Funktion haben Prädikationen in fiktionalen Texten? Dieser Frage geht der folgende Beitrag nach; denn fiktionale Rede unterläuft ein konstitutives Merkmal aller Prädikation. Es bietet sich deshalb an, nach den Konsequenzen des latenten Konfliktes zwischen der Struktur dieser Rede und den Eigenschaften der Prädikation zu fragen. Eine zuverlässige Antwort erfordert es, zunächst einen Blick auf die Prädikation selbst zu werfen: Sie ist die minimale Einheit des Sprachgebrauchs, das konstitutive Element eines jeden Satzes und beruht auf der Zuordnung einer Eigenschaft zum Träger dieser Eigenschaft. Die Form dieser Zuordnung variiert entsprechend dem Typus des jeweiligen Satzes. Im Aussagesatz wird ihre Verbindung festgestellt (Franz spielt Klavier). Im Fragesatz möchte man sich über ihre Existenz vergewissern (Spielt Franz Klavier?). Ein Aufforderungssatz möchte hingegen diese Verbindung bewirken (Spiel doch Klavier, Franz!). Zu den Besonderheiten der Sprache zählt es, dass ihre Sätze nicht nur auf der Zuordnung einer Eigenschaft zu einem Träger dieser Eigenschaft beruhen – also genau demjenigen konzeptuellen Muster, das die Prädikation ausmacht. Denn sprachliche Sätze beschränken sich nicht auf eine solche Leistung. Zu ihren Eigenheiten gehört es ebenso, dass sie Behauptungen aufstellen, dass sie mit der Versicherung auftreten, es verhalte sich so, wie sie es sagen. Der Satz Franz hat dienstags Klavierstunde setzt voraus, dass es einen Jungen dieses Namens gibt, der jeden Dienstag den entsprechenden Unterricht erhält. Sprachliche Sätze verbinden also Prädikationen und Tatsachenbehauptungen. Nirgends wird dies so deutlich wie anhand von Sätzen, die sich des Hilfsverbs ‘sein’ bedienen. Wer sagt, Paris ist die Hauptstadt Frankreichs, benennt nicht nur den administrativen Status dieser Stadt, sondern behauptet zugleich, dass es sich de facto so verhält. Die Kopula ‘ist’ besitzt insofern eine doppelte Funktion. Sie stellt den Zusammenhang zwischen einer Eigenschaft und ihrem Träger her, und sie versichert, dass es den Tatsachen entspricht, was diese Prädikation besagt. Sprachliche Sätze beruhen also darauf, dass sie Sachverhalte benennen, deren Tatsächlichkeit sie zugleich behaupten. Nun könnte der Eindruck entstehen, ein solcher Behauptungsgestus eigne allein Aussagesätzen. Doch ist dies nicht der Fall. Denn auch die Frage Spielt https://doi.org/10.1515/9783110715514-004
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Franz Klavier? setzt eine Reihe von Tatsachen voraus, die die betreffende Frage allererst ermöglichen. So impliziert sie, dass es den hier bezeichneten Jungen dieses Namens gibt (und seine Identität dem Adressaten der Frage bekannt ist); sie setzt ebenso die Existenz des Musikinstrumentes Klavier wie auch die der sozialen Praxis des Musikunterrichts voraus. Auch Fragen fußen also auf einer strukturellen Eigenschaft sprachlicher Sätze, die man als Existenzpräsupposition bezeichnet hat.1 Die Kombination von Prädikation und Assertion bildet ein höchst ingeniöses Instrument der Sprache, das sehr präzise mit ihren strukturellen Eigenschaften korrespondiert. Denn sie ist ein radikal digitales Medium. Spätestens seit Ferdinand de Saussures Begriff der Arbitrarität ist dies für die Beziehung eines einzelnen Wortes zu seiner Bedeutung ins theoretische Bewusstsein getreten.2 Doch gilt eine gleiche Einsicht nicht unbedingt auch für größere Einheiten der Sprache wie eben die der Prädikation. In einem der berühmtesten Texte zur Sprachtheorie des 20. Jahrhunderts, in Ludwig Wittgensteins Tractatus logicophilosophicus, heißt es unter der Dezimalstelle 4.01: „Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit.“3 Doch eine solche Aussage, die die Sprache in beträchtlichem Maße zu einem analogen Medium erklärt, ist höchst problematisch. So impliziert ein Bild etwa Wahrnehmbarkeit. Zu den Leistungen der Sprache aber zählt es, dass sie Sachverhalte benennen kann, die sich jeder Wahrnehmung entziehen. Die Loslösung der Sprache von der Bindung an eine Sinneswahrnehmung ist nicht zuletzt einer der Effekte der Arbitrarität ihrer Zeichen, die eine maßgebliche Voraussetzung sprachlicher Systembildung darstellen. Operierte die Sprache nämlich nur mit motivierten Zeichen, so vermöchte sie – um bei dem Fall der natürlichen Sprache, also einer Lautsprache, zu bleiben – auch nur akustische Phänomene zu bezeichnen. Arbitrarität erweist sich mithin als das Instrument der Universalisierung sprachlicher Bedeutungen. Es lohnt, sich diesen Sachverhalt im Hinblick auf eine neuere Tendenz der Sprachtheorie vor Augen zu führen, die der Sprache gerade die Körperlichkeit ihrer Bezeichnungsoperationen nachweisen möchte und zu diesem Zweck das Phäno-
1 Zu dem mit diesem Begriff bezeichneten Konzept vgl. Klaus W. Hempfer, „Ansätze zur Definition und Typologisierung von Präsuppositionen“, in: Akten der zweiten Salzburger Frühjahrstagung für Linguistik (= Salzburger Beiträge zur Linguistik, Bd. 3), Tübingen: Narr, 1977, S. 19–34. 2 Vgl. Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique générale, édition critique préparée par Tullio de Mauro, Paris: Payot, 1974. 3 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1984, S. 7–85, hier: S. 26.
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men sprachlicher Deixis in Anspruch zu nehmen scheint.4 Ich kann hier nicht im Einzelnen auf die Probleme eingehen, die sich für ein solches Vorhaben stellen. Nur will ich darauf hinweisen, dass sich deiktische Zeichen im Grunde nicht kategorial von anderen sprachlichen Zeichen unterscheiden. Ihr Name erweist sich vielmehr als ein Fallstrick für die Bezeichnung ihrer Funktion; denn er suggeriert einen Vorgang des Zeigens – und damit einen letztlich körperlichen Vorgang. Träfe eine solche Beschreibung ihrer Funktionsweise zu, besäßen sie in der Tat einen schlechthin anderen Status als nicht-deiktische Zeichen. Der Unterschied käme in der Art und Weise ihrer Bezeichnungsleistung zum Vorschein. Während für alle anderen Sprachzeichen gilt, dass sie eine Bedeutung besitzen, aber erst im Verbund eines Satzes auch die Funktion einer Bezeichnung gewinnen, käme den deiktischen Zeichen auch unabhängig von einem Satzzusammenhang eine solche Bezeichnungsfunktion zu. Das berühmte semiotische Dreieck von Ogden und Richards5 (Abb. 1) führt insoweit in die Irre, als es auch dem einzelnen Zeichen einen unmittelbaren Bezug zu einem außersprachlichen Gegenstand bescheinigt und damit Bedeutung und Bezeichnung in dieser Hinsicht unzulässig gleichsetzt. Doch auch deiktische Zeichen funktionieren nur im Satzzusammenhang. Erst im Verbund einer Prädikation werden sie verständlich. Das hindert im Übrigen nicht, dass sie sozusagen materialiter als einzelne Worte vorkommen können: Wann hast Du Franz getroffen? – Gestern. Doch dieses Zeitadverb tritt als elliptischer Satz auf, dessen Vollständigkeit sich erübrigt, weil sich die Ergänzung aus der vorausgehenden Frage unschwer ergibt. Was deiktische Zeichen von anderen unterscheidet, ist daher der periphrastische Status ihres signifié. Gestern bedeutet am Tag vor der Sprechsituation, hier besagt am Ort der Sprechsituation. Auch Deiktika sind nicht dazu geeignet, den grundsätzlich körperlichen Charakter sprachlicher Bezeichnungsoperationen zu demonstrieren oder gar unter Beweis zu stellen. Das betreffende theoretische Bemühen bezieht sein Bedürfnis augenscheinlich aus einer modernen Episteme kantscher Provenienz, in der das Körperliche zum unerreichbaren Anderen unhintergehbarer Intellektualität wird. (Diese erkenntnistheoretischen Prämissen bilden damit das genaue Gegenstück zu einer vormodernen Episteme, die stets von der Sorge um die Bindung an die Sinnenhaftigkeit des Körperlichen umgetrieben war). Die Sprache aber ist ein
4 Vgl. in diesem Sinne etwa Sybille Krämer, „Sagen und Zeigen. Sechs Perspektiven, in denen das Diskursive und das Ikonische in der Sprache konvergieren“; in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 3 (2003), S. 509–519. 5 Vgl. Charles Kay Ogden/Ivor Armstrong Richards, The Meaning of Meaning. A Study of the Influence of Language upon Thought and of the Science of Symbolism, New York: Harcourt, 1923, S. 11.
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Abb. 1: Das semiotische Dreieck nach Ogden/Richards. Charles Kay Ogden/Ivor Armstrong Richards, The Meaning of Meaning. A Study of the Influence of Language upon Thought and of the Science of Symbolism, New York: Harcourt, 1923, S. 11.
ungeeignetes Instrument zur Überwindung erkenntnistheoretischer Sorgen um den Verlust des Konkreten. Denn ihre immense Leistung besteht gerade darin, ein an körperliche Zeichen gebundenes Medium bereitzustellen, das sich für die Gegenstände seiner Kommunikation von dieser Körperlichkeit gänzlich unabhängig zu machen versteht.6 Die Körperlichkeit der Sprache gilt es deshalb in ihren
6 Allerdings hat die Sprachtheorie des 20. Jahrhunderts sie ein Stück weit marginalisiert: „Le signe linguistique unit non une chose et un nom, mais un concept et une image acoustique. Cette dernière n’est pas le son matériel, chose purement physique, mais l’empreinte psychique de ce son, la représentation que nous en donne le témoignage de nos sens, elle est sensorielle, et s’il nous arrive de l’appeler ‚matérielle‘, c’est seulement dans ce sens et par opposition à l’autre terme de l’association, le concept, généralement plus abstrait“ (Saussure, Cours de linguistique générale, S. 98). [„Das sprachliche Zeichen verbindet nicht eine Sache und einen Namen, sondern ein Konzept und ein akustisches Bild. Letzteres ist nicht der materielle Laut, eine rein physikalische Größe, sondern der psychische Abdruck dieses Lautes, die Darstellung, die uns das Zeugnis unserer Sinne davon vermittelt. Sie ist sinnlicher Natur, und wenn es uns passiert, sie ‚materiell‘ zu nennen, dann geschieht dies nur in diesem Sinn und im Gegensatz zu dem anderen Begriff dieses Zeichenzusammenhangs, dem Konzept, das allgemein abstrakter ist.“
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Signifikanten aufzusuchen. Die Suche nach einer körperlichen Erdung sprachlicher Bezeichnungsoperationen als solcher führt an den Ordnungen (wie Leistungen) der Sprache in mehrfacher Hinsicht vorbei. Nicht nur die Arbitrarität des Signifikanten sorgt für die Loslösung der Bedeutung sprachlicher Zeichen von der Bindung an eine bestimmte Sinneswahrnehmung. Auch für das signifié selbst gilt, dass es einen Abstraktionsgrad besitzt, der sein Verständnis von sinnenhaften Vorstellungen der mit ihm bezeichneten Dinge unabhängig macht. Zudem bilden sprachliche Sätze nicht einfach etwas Gegebenes ab. Sie beinhalten vielmehr Informationen, beanspruchen für sich also, Kenntnis über einen Sachverhalt zu vermitteln, der dem Adressaten der Rede zuvor unbekannt war.
(Sämtliche Übersetzungen fremdsprachlicher Zitate stammen, sofern nicht anders angegeben, aus der Feder des Verfassers.)] Es ist bereits der Begriff der image acoustique selbst – die Idee eines Lautbildes –, der einer Marginalisierung der Lautlichkeit des Signifikanten dient. Denn diese bemerkenswerte synästhetische Hybride bewirkt es, dass der Laut in ein Konzept dieses Lautes verwandelt und seine akustische Manifestation damit ein Stück weit vergessen gemacht wird. Die phoné (der Klang) kommt auf diese Weise in theoretischer Hinsicht nicht anders als in Form eines konventionellen konzeptuellen Musters der lautlichen Abfolge vor, aus welcher der materielle Anteil eines Wortes besteht. Die Vorstellung von einem Bild (image) meint folglich die Abstraktion von den einzelnen Modalitäten aller Artikulation bei einzelnen Sprechern zugunsten eines generalisierten Konzepts dieser Laute, das deren Wahrnehmung immer schon bestimmt, dabei alle individuellen Variationen der Aussprache nivelliert und so nicht zuletzt eine Entkörperlichung des signifiant betreibt. Die image acoustique bezeichnet insofern den potentiellen Spielraum, der sich bei der Artikulation eines Signifikanten ergeben kann, ohne dass eine Verwechslung dieses Wortes mit irgendeinem anderen zustande kommt. Die Spannbreite dieser Möglichkeiten aber ist als solche konzeptueller und nicht ihrerseits akustischer Natur, sie ist vielmehr ein abstraktes Regulativ der Artikulation. Nun wird man dieser Charakteristik des sprachlichen Zeichens entgegenhalten können, dass sie allzu ‘mentalistisch’ verfahre. Schließlich ist schwerlich zu bestreiten, dass es einer lautlichen und mithin körperlichen Entität bedarf, die auch der Wahrnehmung resp. Bildung einer image acoustique unweigerlich vorangehen muss. Es fällt darum nicht ganz leicht, einer Definition des sprachlichen Zeichens zuzustimmen, die dessen unverzichtbaren materiellen Anteil aus dieser Definition im Grunde heraushalten möchte, heißt es doch von der image acoustique, sie sei nicht der materielle Laut, nicht eine rein physikalische Größe, sondern der psychische Abdruck (l’empreinte psychique) dieses Lautes. Dass eine solche Ausgrenzung alles Materiellen aus dem signe linguistique freilich zu weit greift, verrät schon der Cours selbst durch die dabei benutzte Begrifflichkeit. In der Tat trägt bereits die – metaphorische – Rede von einer empreinte, einem „Abdruck“, zweifellos ein körperliches Moment in die Beschreibung der Eigenschaften des Sprachzeichens hinein. Die Marginalisierung des materiellen Anteils dieses Zeichens hat also kurioser-, aber im Grunde verräterischerweise eine metaphorische Materialisierung des Psychischen zur Folge. Das Körperliche des signe linguistique lässt sich mithin nicht so einfach an den Rand drängen, wie es dessen hier untersuchte Analyse im Cours zu betreiben versucht.
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Im Grunde führt deshalb schon der vielfach zur Charakteristik der Sprache benutzte Begriff der Repräsentation ein Stück weit in die Irre. Denn auch er spielt über den Informationscharakter eines jeden Aussagesatzes hinweg. Sprachliche Sätze beruhen nicht auf der Vergegenwärtigung von etwas je schon Gegebenem, sie benennen vielmehr Sachverhalte, deren Unkenntnis sie voraussetzen und deren Tatsächlichkeit sie im gleichen Zug behaupten. Sprachliche Sätze sind deshalb von Haus aus nicht mimetisch, sondern analytisch. Sie selegieren einzelne Elemente aus der Wirklichkeit, um sie zueinander in einen Zusammenhang zu rücken, der für den Adressaten der Rede als unbekannt vorausgesetzt werden kann. Im Fall wissenschaftlicher Aussagen wächst die Zahl dieser Adressaten übrigens tendenziell bis zur Menge aller Menschen an. Gerade bei ihnen wird der strukturelle Zusammenhang von Information und Innovation sichtbar. Der analytische Charakter sprachlicher Sätze weist zudem noch einmal auf den grundsätzlichen – und keineswegs nur auf die Arbitrarität von Lautzeichen beschränkten – digitalen Charakter des Mediums Sprache hin. Die für sie charakteristische, ja konstitutive unhintergehbare Kombination einer Benennung von Sachverhalten mit der gleichzeitigen Behauptung ihrer Tatsächlichkeit ist also in der Tat ein ingeniöses Verfahren für ein digitales Medium, das sich auf diese Weise seiner Verankerung in der Wirklichkeit versichert. In der unverbrüchlichen Kombination von Prädikation und Tatsachenbehauptungen bleibt für die Sprache der strukturelle Zusammenhang zwischen den Verfahrensweisen eines digital organisierten Systems und der Wirklichkeit, über die vermittels dieses Systems Aussagen gemacht werden, erhalten. Denn eben darin steckt der Zweck aller sprachlichen Systembildung.
2 Funktionen der Prädikation in Thomas Manns Der Zauberberg 2.1 ‘Im Restaurant’ Was aber geschieht – und damit komme ich zu meiner einleitenden Ausgangsfrage zurück – im Fall von Texten, bei denen die Tatsachenbehauptung gleichsam ins Leere läuft? Denn eben dies ist das Merkmal der sogenannten fiktionalen Rede. Es macht ihre charakteristische Eigenschaft aus, von der anderweitig geltenden Verpflichtung sprachlicher Äußerungen auf das Tatsächliche enthoben
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zu sein.7 Wenden wir uns, um die Konsequenzen dieser Suspension für das Funktionieren von Prädikationen zu erkunden, einem ersten Beispiel aus dem Zauberberg zu: Ein einfacher junger Mensch reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Vaterstadt, nach Davos-Platz im Graubündischen.8
So lautet der erste Satz des ersten Kapitels von Thomas Manns Zauberberg. Weil es sich um einen Roman handelt, tut der Leser gut daran, an der Existenz eines Hans Castorp zu zweifeln9 und folglich auch die hier erwähnte Reise für etwas Ausgedachtes und nichts Faktisches zu halten. Welchen Effekt aber hat dieser Ausfall der Hälfte der Leistungen, die wir für sprachliche Sätze festgestellt haben? Noch immer scheint der zitierte Satz selbst ja zu behaupten, dass es sich so verhält, wie hier gesagt. Das Tempus der Vergangenheit des Verbs (reiste) scheint zuverlässig zu versichern, dass tatsächlich stattgefunden hat, was hier erzählt wird. Nur die Konventionen, die den Umgang mit Romanen regeln, der vielzitierte sogenannte Fiktionsvertrag,10 nicht aber die Form des sprachlichen
7 Ich habe an anderer Stelle für dieses Merkmal der Fiktionalität den Begriff der Vergleichgültigung gegenüber dem Wahrheitswert der Rede benutzt. Vgl. hierzu: Andreas Kablitz, „Literatur, Fiktion und Erzähler nebst einem Nachruf auf den Erzähler“, in: Irina Rajewski/Ulrike Schneider (Hrsg.), Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag, Stuttgart: Steiner, 2008, S. 13–44. 8 Dieses wie alle weiteren Zitate aus dem Zauberberg werden – unter bloßer Angabe von Seiten – zitiert nach der Ausgabe: Thomas Mann, Der Zauberberg, hrsg. und textkritisch durchgesehen von Michael Neumann (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 5.1), Frankfurt/M.: Fischer, 2002, hier: S. 11. 9 Es gehört zu den generischen Konventionen fiktionaler Rede, dass man dort vorkommende unbekannte Namen als Bezeichnung von Fiktivem versteht, obwohl es keinerlei Garantie dafür gibt. Intensive historische Forschung kann deshalb bisweilen zu einer Revision früherer Annahmen führen. Einen interessanten Fall bietet der Beginn von Flauberts Éducation sentimentale, dessen erste Szene von der Abfahrt des Schiffes Ville-de-Montereau aus Paris berichtet. Man hat diesen Namen lange für die Bezeichnung eines fiktiven Schiffes gehalten, bis man dessen Existenz entdeckte: vgl. Muriel Berthou Crestey, „La Ville-de-Montereau“, in: Flaubert, Arts/Images/Représentation, 2014, https://journals.openedition.org/flaubert/2178 (zuletzt abgerufen: 09.09.2020). 10 Auch wenn er allgemein Verwendung findet, ist der Begriff gleichwohl nicht sonderlich glücklich gewählt (eine Eigenschaft, die er im Übrigen mit anderen metaphorischen Verwendungen des Vertragskonzepts – wie beispielsweise dem ‘Gesellschaftsvertrag’ – teilt). Ein Vertrag setzt eine auf die Gegenseitigkeit der Verpflichtungen beruhende Abmachung zwischen zwei Vertragspartnern voraus. Doch davon kann im Falle eines ‘Fiktionsvertrages’ keine Rede sein. Der Leser findet vielmehr eine konventionelle Regelung vor. Seine einzige Freiheit besteht darin, sie zu akzeptieren oder nicht. Und ob die Akzeptanz einer vorgefundenen Regelung den Status einer Zustimmung zu einer vertraglichen Vereinbarung besitzt, steht doch in beträchtlichem Maße dahin.
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Satzes selbst, mahnen also zur Vorsicht. Liefe die in der Sprachform selbst fortbestehende Tatsächlichkeitsbehauptung mithin schlicht ins Leere? Oder macht der Ausfall einer Bezeichnung faktischer Sachverhalte die Rede frei für andere Funktionen? Diese Frage wird die Leitfrage meiner Beschäftigung mit Thomas Manns Zauberberg im Rahmen dieses Artikels bilden. Dass das Fehlen einer Bezeichnung von Tatsachen im fiktionalen Text in der Tat Raum für anderweitige Funktionen der Rede eröffnet, dafür kann uns nun schon der soeben zitierte Satz einen ersten Hinweis liefern. Betrachten wir nämlich seine Informationsstruktur, so fällt eine leise Inkonsistenz ins Auge. Sie betrifft das Verhältnis der Bezeichnung des Ziels der Reise von Hans Castorp (Davos-Platz) zur Angabe der Kantonszugehörigkeit dieser Ortschaft (im Graubündischen). Wer sich so genau mit den Untergliederungen der Gemeinde Davos auskennt, würde kaum des Hinweises bedürfen, in welchem Schweizer Kanton sie liegt. Darüber hinaus würde zu Davos-Platz kaum Hamburg, sondern allenfalls, sagen wir, HamburgHarvestehude als entsprechende Ortsbezeichnung passen. In der Konsequenz dieser Ungereimtheiten erweist sich der erste Satz deshalb als kaum etwas anderes denn das Zeugnis weitgehender Unkenntnis über die geographischen Gegebenheiten des Reiseziels. Er charakterisiert den einfachen jungen Menschen, aus dessen Warte das hier Erzählte berichtet zu sein scheint. Die semantische Leistung des Satzes wechselt aufgrund der bemerkten latenten Widersprüchlichkeit insofern von einer Belehrung des Lesers über die geographischen Gegebenheiten des Ziels von Hans Castorps Reise zu einer Darstellung seiner Person. Dieser Satz liefert gleichsam eine erste Probe aufs Exempel für das, was er über den Protagonisten der Geschichte zugleich feststellt, nämlich einen Beleg für dessen ziemlich prekäre Bildung. Weil fiktionale Rede nicht darauf angelegt ist, Kenntnisse über tatsächliche Sachverhalte zu vermitteln, lassen sich entsprechende Informationen, wie schon der erste Satz des ersten Kapitels des Zauberbergs sinnfällig vorführt, anderweitigen semantischen Funktionen zuführen. Eine solche Leistung des zitierten Satzes beschränkt sich indessen nicht auf eine Charakteristik der männlichen Hauptperson des Romans. Im gleichen Zug werden wir nämlich auf die Kriterien aufmerksam gemacht, die wir üblicherweise für eine Bezeichnung von geographischen Verhältnissen ansetzen und deren Störung im vorliegenden Fall sie uns zu Bewusstsein bringt. Wenn es, wie erörtert, zu den Eigenheiten sprachlicher Sätze gehört, dass sie einen analytischen Grundzug besitzen, weil sie Sachverhalte bezeichnen, indem sie sie in ihre Komponenten zerlegen, so ist ihr analytisches Potential in einem Satz wie dem hier betrachteten augenscheinlich gesteigert. Und diese Akzentuierung ihrer analytischen Leistung ergibt sich daraus, dass sie über den einzelnen Fall hinaus etwas Allgemeines bewusst macht; denn sie bringt durch eine Störung des Erwartbaren die stillschweigenden Bedingungen unserer Rede zum Vorschein.
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In genau diesem Sinne möchte ich in diesem Beitrag demonstrieren, wie Thomas Mann im Zauberberg das Potential fiktionaler Rede nutzt, um den Ausfall der Bezeichnung faktischer Sachverhalte in den Sätzen, die seinen Roman konstituieren, für eine solche Demonstration zu nutzen. In dem Maße, in dem diese Rede nicht der Bezeichnung konkreter faktischer Sachverhalte gilt, wird der Blick frei für die allgemeinen Bedingungen unserer Bezeichnung von Tatsachen. Ich habe an anderer Stelle deshalb mit Blick auf den Zauberberg von einem analytischen Erzählen gesprochen.11 Als ich vor Jahren diesen Begriff erstmals in einem Vortrag (in Basel) einführte, fragte mich ein germanistischer Kollege, warum ich nicht lieber von einem selbstbezüglichen oder autoreflexiven Erzählen spräche. In der Tat sind diese Begriffe in der Literaturwissenschaft seit gut einem halben Jahrhundert fest etabliert. Sie gehen bekanntlich auf Roman Jakobson zurück, der die Selbstbezüglichkeit des poetischen Textes als sein spezifisches Merkmal im Unterschied zum referentiellen Text behauptet hat.12 Der literarische Text macht, Jakobson zufolge, keine Aussagen über die Welt, sondern bezeichnet sich selbst. Ich will hier nicht im Einzelnen erörtern, warum mir diese Entgegensetzung von referentieller und autoreferentieller Funktion als Merkmal des Poetischen grundsätzlich problematisch zu sein scheint. Angedeutet sei nur soviel, dass die Ähnlichkeit der beiden Begriffe darüber hinwegtäuscht, dass sie zwei grundsätzlich verschiedene Relationen bezeichnen, die sich deshalb auch keineswegs ausschließen, sondern durchaus im Verbund miteinander auftreten können.13 Gleichwohl gibt die Begrifflichkeit der autoreflexiven Rede die Möglichkeit an die Hand, die spezifischen Eigenschaften eines analytischen Erzählens genauer zu spezifizieren. Der autoreflexive Text meint selbstbezügliche Rede. Schon unser erstes Beispiel, der Anfangssatz des ersten Kapitels des Zauberbergs, aber zeigt, dass das von mir so genannte analytische Erzählen darüber hinausreicht. Es macht nicht Halt bei der eigenen Rede, sondern lenkt den Blick auf etwas Allgemeines: auf die
11 Die Untersuchung von Thomas Manns analytischem Erzählen bildet das zentrale Erkenntnisinteresse meiner Monographie: Der Zauberberg. Die Zergliederung der Welt, Heidelberg: Winter, 2017. Ich greife im vorliegenden Artikel auf Teile der dortigen Untersuchungen zurück, um sie für die hier zugrunde gelegte Fragestellung fruchtbar zu machen. 12 Vgl. hierzu seinen in der jüngeren Literaturwissenschaft nachgerade kanonisch gewordenen Aufsatz: Roman Jakobson, „Linguistics and Poetics“, in: Thomas A. Sebeok (Hrsg.), Style in Language, Cambridge, MA: MIT Press, 1960, S. 350–377. 13 Dieser Frage gehe ich des Näheren in einem demnächst erscheinenden Aufsatz nach: Andreas Kablitz, „Autoréférentialité. Quelques remarques à propos de la définition structuraliste du discours poétique“, in: Ludwig Jäger/Andreas Kablitz (Hrsg.), Structuralisme. Ferdinand de Saussure et l’épistémè structuraliste, Berlin/Boston: de Gruyter, 2020.
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allgemeinen Prinzipien unserer üblichen Bezeichnung geographischer Verhältnisse. In diesem Sinn funktioniert das analytische Erzählen im Zauberberg, wie der Untertitel meines zitierten Buches besagt, in der Tat als eine Zergliederung der Welt. Es zerlegt die Sprache wie die Dinge in die Elemente, aus denen sie gebaut sind, und fragt dadurch zugleich nach den Prinzipien ihrer Konstruktion. Ein solches Erzählen betreibt mithin Analyse in des Wortes ursprünglichem Sinne: Es bewirkt Auflösung. Darstellung und Analyse gehören in diesem Sanatoriumsroman insofern unmittelbar zusammen. Denn sein zentrales Sujet betrachtet ja ebenso das Leben wie dessen Auflösung in Krankheit und Tod. Darstellungsweise und Gegenstand dieses Romans sind folglich auf das Engste miteinander verknüpft, ja sie spiegeln sich gleichsam wechselseitig in einer Metaphysik des Lebens. Das analytische Erzählen, das Thomas Manns Zauberberg kennzeichnet, macht sich insofern ein Merkmal zu eigen, das für die Struktur einer jeden Prädikation konstitutiv ist. Wie ich bei deren Charakteristik zu zeigen versucht habe, funktionieren Prädikationen solchermaßen, dass sie einen Sachverhalt benennen und ihn zugleich als einen tatsächlichen ausweisen, indem sie ihn in seine Komponenten zerlegen und deren Zusammengehörigkeit behaupten. Denn sprachliche Sätze ordnen, wie gesehen, eine bestimmte Eigenschaft einem Träger dieser Eigenschaft zu. Indem sie einen Sachverhalt solchermaßen auf seine elementaren Bestandteile zurückführen, eignet ihnen in der Tat ein analytischer Zug. Es ist dieses strukturelle Moment sprachlicher Äußerungen, das sich das Erzählen im Zauberberg sozusagen seinerseits strukturell zunutze macht, um ihm eine veränderte Funktion zu erschließen. Die für alle Prädikation charakteristische Analyse erschöpft sich nicht mehr in einem Medium der Bezeichnung von Sachverhalten, sondern ihr analytisches Moment wird selbst zu einem Gegenstand der Rede. Weil die Rede des Zauberbergs als eine fiktionale nicht der Information über faktische referentielle Sachverhalte dient, wird das sprachliche Verfahren dieser Informationsvermittlung frei für weitere Funktionen. Deshalb wandelt sich die analytische Struktur der Sprache in diesem Erzählen zu einem Medium der Analyse der Rede selbst wie der Wirklichkeit, die sie zum Gegenstand hat. Vor allem auf zwei Unterkapitel des Zauberbergs möchte ich in diesem Beitrag eingehen, um anhand der betreffenden Textteile Verfahrensweisen und Funktion des für diesen Roman konstitutiven analytischen Erzählens zu untersuchen: eines vom Anfang und eines vom Ende dieses Romans. Das erste der beiden setzt sich analytisch mit der Ordnung der Rede, das zweite mit der Ordnung der Dinge auseinander, ja, es wird die Kriterien der Wirklichkeit selbst zur Debatte stellen. Beginnen wir mit dem Abschnitt aus dem Zauberberg, der den Titel ‘Im Restaurant’ trägt: Als Hans Castorp bei seinem Cousin Joachim Ziemßen in Davos ankommt, ist es zu spät, um noch an der allgemeinen Mahlzeit im Speisesaal des
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Sanatoriums Berghof teilzunehmen. Deshalb essen die beiden Vettern an diesem Abend ‘Im Restaurant’. Von hierher also bezieht dieses Unterkapitel seine Überschrift. Die analytische Struktur des Erzählens im Zauberberg bringt es mit sich, dass jeder Abschnitt des Romans nicht nur der Darstellung eines Ausschnitts aus seiner Geschichte dient, sondern ebenso ein systematisches Anliegen verfolgt. Im vorliegenden Fall lautet die Frage, welche die Erzählung dieses Unterkapitels in ihren verschiedenen Facetten betrachtet: Was ist eine Information? Wir werden bemerken können, dass ‘Im Restaurant’ die Antwort auf diese Frage vor allem die Dialektik aller Information herausstellt und im Besonderen das Verhältnis von Vergabe und Entzug von Informationen eindringlich beleuchtet. Der Satz, mit dem das hier untersuchte Unterkapitel beginnt, lautet: Im Restaurant war es hell, elegant und gemütlich. (S. 26)
Die Frage nach der Natur einer Information, die die Erzählung dieses Romanteils maßgeblich strukturiert, steckt unausdrücklich bereits in der Abfolge der drei höchst generischen Epitheta, die das Restaurant des Berghofs zu charakterisieren haben. Die Gleichordnung dieser Adjektive verdient gleich in doppelter Hinsicht Aufmerksamkeit. Denn sie sind nicht nur von recht unterschiedlicher Art, nicht zuletzt ist ihr Zusammenhang alles andere als evident. Das erste Adjektiv benennt die Lichtverhältnisse. Da der Leser durch frühere Informationen weiß, daß die Dunkelheit in Davos längst eingebrochen ist, kann dieser Raum folglich nur von Lampen hell erleuchtet sein. Diejenige Beleuchtung, die ausdrücklich erwähnt wird, aber kann ihn kaum sonderlich hell machen: Sie hatten den erhöhten Tisch am Fenster genommen, den hübschesten Platz. An dem cremefarbenen Vorhang saßen sie einander gegenüber, die Gesichter beglüht vom Schein des rot umhüllten elektrischen Lämpchens. (S. 26)
Der Text entzieht also gerade alle Informationen über den Ursprung der Helligkeit des Raumes, was umso mehr ins Auge fällt, als bislang gerade über die Lampen des Sanatoriums Berghof recht präzise berichtet wurde. Vom Gang, der zum Zimmer Hans Castorps führt, hieß es etwa: Sie gingen geräuschlos den Kokosläufer des schmalen Korridors entlang. Glocken aus Milchglas sandten von der Decke ein bleiches Licht. (S. 22)
Und als Hans Castorp dieses Zimmer erstmals betritt, erfahren wir immerhin noch das Folgende:
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Joachim hatte das Deckenlicht eingeschaltet, und in seiner zitternden Klarheit zeigte das Zimmer sich heiter und friedlich, mit seinen weißen, praktischen Möbeln, seinen ebenfalls weißen, starken, waschbaren Tapeten, seinem reinlichen Linoleum-Fußbodenbelag und den leinenen Vorhängen, die in modernem Geschmacke einfach und lustig bestickt waren. (S. 22)
Auch wenn die Form des Beleuchtungskörpers keine Erwähnung mehr findet, wird dennoch ein Zusammenhang zwischen ihm und den Lichterverhältnissen des von ihm erleuchteten Zimmers hergestellt.14 ‘Im Restaurant’ liegen die Dinge auffällig anders. Dazu passt es übrigens, dass dieses Unterkapitel ‘Im Restaurant’ mit der Helligkeit ein weiteres sprachliches Spiel treibt, heißt es doch bei der ersten Begegnung Hans Castorps mit dem Psychotherapeuten des Sanatoriums, seinem „Seelenzergliederer“, einem alter ego Sigmund Freuds, das von dessen Karikatur nicht recht zu unterscheiden ist: Dr. Krokowski saß im Hellen, am Kamin des einen Konversationszimmers, gleich bei der offenen Schiebetür, und las eine Zeitung. (S. 30)
Diesmal ist die Lichtquelle benannt, die allerdings bezeichnenderweise eine solche gar nicht ist, sondern nur gewissermaßen nebenbei für Helligkeit sorgt, dient das Feuer im Kamin doch vorrangig der Erwärmung. Und wenn es der Erwähnung bedarf, dass Dr. Krokowski „im Hellen“ saß, dann besteht die vor-
14 Genau besehen ist freilich auch dieser Information ein kleines Fragezeichen eingeschrieben. Denn wie ist es miteinander vereinbar, dass sich das Zimmer in der „zitternden Klarheit“ des Deckenlichtes gleichwohl „heiter und friedlich“ zeigt? Eine – mögliche – Antwort könnte sich aus der Schilderung der weiteren Einzelheiten der Einrichtung ergeben. Allerdings scheinen die dabei erwähnten Gegenstände eher dazu angetan, zu erklären, warum der Raum „heiter“ wirkt. Kaum aber lassen sie nachvollziehen, warum sich der Raum gleichwohl „friedlich“ ausnimmt. Womöglich ist diese Angabe auf den Fortgang der Erzählung ausgerichtet, denn Vetter Ziemßen berichtet Hans Castorp sehr bald vom ‘Vorleben’ dieses Zimmers: „Vorgestern ist hier eine Amerikanerin gestorben“, sagte Joachim. „Behrens meinte gleich, daß sie fertig sein würde, bis du kämest, und daß du das Zimmer dann haben könntest. Ihr Verlobter war bei ihr, englischer Marineoffizier, aber er benahm sich nicht gerade stramm. Jeden Augenblick kam er auf den Korridor hinaus, um zu weinen, ganz wie ein kleiner Junge. Und dann rieb er sich die Backen mit Coldcream ein, weil er rasiert war und die Tränen ihn da so brannten. Vorgestern abend hatte die Amerikanerin noch zwei Blutstürze ersten Ranges, und damit war Schluß. Aber sie ist schon seit gestern morgen fort, und dann haben sie hier natürlich gründlich ausgeräuchert, mit Formalin, weißt du, das soll so gut sein für solche Zwecke.“ (S. 23) Die Schilderung des Ablebens der Vorbewohnerin steht in einem offenkundigen Kontrast zur nun bemerkten Friedlichkeit des Raumes, als gebe dieses Epitheton zu verstehen, dass den Räumen kaum anzusehen ist, was sich erst kürzlich in ihnen ereignet hat.
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rangige Information dieses Hinweises bezeichnender-, wo nicht paradoxerweise darin, dass es in dem Raum ansonsten dunkel war. Gerade anhand einer Textstelle wie dieser zeigt sich, dass die mimetischen Bausteine der im Zauberberg erzählten Geschichte zugleich Elemente einer konsequenten Erkundung systematischer Problemstellungen darstellen. In diesem Sinn werden die verschiedentlich ‘Im Restaurant’ geschilderten Lichtverhältnisse zu einem Exerzitium der unterschiedlichen Modalitäten dieser Information. Aber kommen wir zum Eingangssatz dieses Unterkapitels zurück: „Im Restaurant war es hell, elegant und gemütlich.“ Vermag das Adjektiv „hell“ mit seinen Implikationen zumindest noch das Vorstellungsvermögen des Lesers in Gang zu setzen, so sieht es im Falle des folgenden Beiwortes „elegant“ schon anders aus. Was es benennt, ist die stilistische Wirkung der Einrichtung. Doch dieser Hinweis bleibt äußerst vage, gewissermaßen ein ungedeckter Wechsel der Information, weil über die Einrichtung des Raumes, die diese Charakteristik nachvollziehbar machen könnte, keine genauen Angaben erfolgen. Auch diese Leerstelle tritt umso deutlicher hervor, als im Falle von Hans Castorps Zimmer, Nr. 34, ja recht genau beschrieben wurde, auf welches Mobiliar das Deckenlicht fiel – und dies, obwohl dieses Licht mit „zitternder Klarheit“ scheint, vermutlich so hell also gar nicht leuchtet. Das Informationsdefizit des Lesers steigert sich noch mit dem nächsten Adjektiv zur Charakteristik des Restaurants, denn es wird nicht nur „elegant“, sondern auch „gemütlich“ genannt. Die Schwierigkeiten, die dieses Wort auslöst, beruhen nicht nur darauf, dass – jedenfalls zunächst – auch dieses Adjektiv gleichsam ins Leere läuft, weil keine Angaben seine Verwendung motivieren. Hinzu kommt in seinem Fall, dass es in einem gewissen Widerspruch zu dem vorstehenden Adjektiv steht. Denn Eleganz und Gemütlichkeit schließen sich im Grunde aus. Die Informationsvergabe steigert sich also unter Rückgriff auf unterschiedliche sprachliche Verfahren zum zunehmenden Informationsentzug. Auch das ist in gewisser Weise paradox. Denn der quantitativen Zunahme der Information entspricht eine wachsende Verunsicherung des Lesers. Indessen spielt der Wortlaut des Textes zugleich mit einer Möglichkeit, die diese Verständnisschwierigkeiten wenigstens ein Stück weit aufzulösen erlaubt. Aber dieses Angebot bleibt nicht mehr als eben eine bloße Potentialität. Dem Leser wird nämlich keineswegs jegliche Information über die Einrichtung des Raumes versagt. Ein Detail, oder, genauer gesagt, zwei Details daraus werden ihm durchaus bekannt gemacht. Wir sind ihnen schon begegnet, wissen wir doch, dass die Vettern an einem „cremefarbenen Vorhang“ sitzen und der Schein des „rot umhüllten elektrischen Tischlämpchens“ auf sie fällt. Diese beiden Bausteine der Einrichtung des Restaurants lassen sich nun in der Tat mit seiner anfänglichen Charakteristik als „elegant“ und „gemütlich“ in Verbindung bringen. Auf
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ersteres deutet der Vorhang mit seiner dezenten Farbe, auf letzteres, zumal im Zusammenhang mit der Verkleinerungsform, das Tischlämpchen. Hätten wir also die Erläuterung für die Bezeichnung des Restaurants als gleichzeitig „elegant“ und „gemütlich“ gefunden? Die Zuverlässigkeit einer solchen Schlussfolgerung aber ist keineswegs sicher, und zwar aus zwei Gründen nicht. Denn es ist durchaus nicht gewiss, ob der gesamte Raum so ausgestattet ist. Und die diesbezügliche Unsicherheit entsteht durch den Satz, der dem Hinweis auf Vorhang und Tischlämpchen vorausgeht: „Sie [die Vettern] hatten den erhöhten Tisch am Fenster genommen, den hübschesten Platz“. Wiederum wirkt ein ästhetisches Urteil an dieser Stelle verunsichernd. Unweigerlich kommt nämlich die Frage auf, warum dieser Platz so attraktiv ist. Doch bei ihrer Beantwortung lässt uns der Text erneut recht ratlos zurück, weil seine Auskünfte höchst ungenau sind, und zwar wohlkalkuliert. Ist es der hübscheste Platz, weil er erhöht ist? Oder machen die Vorhänge und das Tischlämpchen ihn besonders einladend? Konsequent betreibt Thomas Mann auch an dieser Stelle Information im Grunde als Desinformation. Denn die Charakteristik des Erzählten wirft mehr Fragen auf, als sie Auskunft bereithält. Diese Eigenheit der Erzählung steigert sich noch, ja findet wohl ihre größte Verdichtung in diesem Unterkapitel beim Bericht über das Menü, das den Vettern im Restaurant serviert wird: Das Essen war vorzüglich. Es gab Spargelsuppe, gefüllte Tomaten, Braten mit vielerlei Zutat, eine besonders gut bereitete süße Speise, eine Käseplatte und Obst. (S. 27)
Zunächst liest sich diese Aufzählung der Gänge wie eine simple Menükarte, aber eben auch nur auf den ersten Blick. Was an ihr nämlich bei näherer Betrachtung ins Auge fällt, ist der unterschiedliche – und zugleich abnehmende – Präzisionsgrad, mit dem die verschiedenen Gänge bezeichnet werden. Die erste der genannten Speisen, „Spargelsuppe“, scheint so etwas wie den Normalfall der Information zu bieten. Produkt und Zubereitungsart werden genannt. Gleiches gilt auch für den nächsten Posten der Speisenfolge, die „gefüllten Tomaten“. Und doch wird ein Unterschied gegenüber der „Spargelsuppe“ erkennbar. Denn der Leser erfährt nicht, womit diese Tomaten gefüllt sind. Gleichwohl scheint diese Informationslücke das Verständnis nicht sonderlich zu behindern, ist die genannte Bezeichnung doch so etwas wie ein terminus technicus der Küchen- resp. Speisekartensprache. Konventionalisierung also überspielt fürs Erste das Informationsdefizit. Es tritt deshalb womöglich als ein solches gar nicht sonderlich in Erscheinung. Genau dies ändert sich bei der Charakteristik des Hauptgangs: „Braten mit vielerlei Zutat“. Eine solche Bezeichnung würde sich vermutlich auf keiner Spei-
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sekarte mehr finden. Der hier erwähnte Braten ist nämlich gleich in doppelter Hinsicht unbestimmt. Zum einen bleibt offen, um welches Fleisch es sich handelt. Einzig dessen Zubereitungsart ist angegeben. Ebenso ist unklar, ob eine oder verschiedene Sorten Fleisch diesen Gang ausmachen. Diese zweite Informationslücke ist umso spürbarer, als für die Beilagen zum Fleisch gerade auf die Betonung von deren – reichhaltiger – Vielfalt Wert gelegt wird: „Braten mit vielerlei Zutat“. Doch genau diese Vielfalt bleibt ihrerseits gänzlich unspezifiziert und springt gerade darum ins Auge. Der Braten und seine Beilagen verhalten sich insoweit informationslogisch (wenn auch nicht unbedingt kulinarisch) komplementär zueinander. Eine weitere Variante der Information über die Speisenfolge bietet das Dessert, das als „eine besonders gut bereitete süße Speise“ eingeführt wird. Hier wird kaum mehr als der an dieser Stelle übliche Gang selbst benannt, und er wird allein hinsichtlich seiner Qualität charakterisiert. Diesmal steht also nicht das Produkt und auch nicht die Art, sondern die Güte seiner Zubereitung zur Debatte. Im Dessert vollendet sich damit die dem Mahl von Anfang an bescheinigte Qualität. „Das Essen war vorzüglich.“ Aber der Umstand, dass die Schmackhaftigkeit des Essens nur an dieser Stelle Erwähnung findet, löst zugleich weitere Fragen aus. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass der Bezugspunkt des Adverbs „besonders“ undeutlich bleibt. Gilt dieses Urteil im Vergleich zu den anderen Gängen und bescheinigt damit auch ihnen eine durchaus lobenswerte Qualität? Oder ist es auf den üblichen geschmacklichen Standard von Süßspeisen bezogen und stellt diesem Dessert deshalb ein besonders gutes Zeugnis aus? Eine Entscheidung zwischen diesen Alternativen ist nicht möglich. Und deshalb bleibt ebenso ein wenig unklar, warum das Essen vorzüglich war: wegen seiner Reichhaltigkeit, seiner Qualität oder beidem zugleich? Bei der Charakteristik der Käseplatte fällt jedenfalls jedes Lob für ihre Qualität aus, an der sich ja ohnehin bestenfalls die Kunst einer Sennerei zeigte. War also auch sie vorzüglich? Und wenn ja, weshalb? Aufgrund der Qualität der verschiedenen Käsesorten oder ihrer Vielfalt? Oder wegen beidem? Diesmal spielt die Mehrzahl der Produkte wieder ausdrücklich eine Rolle; aber sie wird nun vermittels des Geräts, auf dem sie gereicht werden, zum Ausdruck gebracht, eben durch die Käseplatte. Die mutmaßliche Vielfalt der Früchte, die zum Abschluss folgen, wird stattdessen im Gegenteil durch einen generischen Singular, durch die bloße Gattungsbezeichnung „Obst“ angezeigt. Bei näherem Zusehen erweist sich die Aufzählung der verschiedenen Gänge dieser ersten gemeinsamen Mahlzeit der Vettern auf dem Zauberberg mithin als eine kleine Studie über die verschiedenen sprachlichen Verfahren und unsere Gewohnheiten bei der Bezeichnung von Speisen und Getränken. Dabei gibt sie nicht nur zu erkennen, mit welchen Kriterien wir dabei gemeinhin operieren,
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sondern auch, mit welchen wir uns üblicherweise begnügen und mit welchen wir das für gewöhnlich nicht tun. Auch die Schilderung der Menüfolge ist dadurch – wie das gesamte Unterkapitel ‘Im Restaurant’ – eine Studie darüber, was eigentlich eine Information ausmacht. Vor allem der Dialektik von Informationen geht sie nach, die es mit sich bringt, dass eine gegebene Information weit eher als ein Informationsentzug in Erscheinung treten kann, statt die Kenntnis eines Sachverhalts zu erhöhen. In diesem Sinn sind Erzählung und Reflexion hier nicht mehr recht voneinander zu unterscheiden, sondern bedingen sich wechselseitig.
2.2 ‘Fragwürdigstes’ Verfolgt der Abschnitt ‘Im Restaurant’ aus dem ersten Kapitel des Zauberbergs mithin eine sprachliche Problemstellung, so wird das zweite Unterkapitel, auf das ich nun einen Blick werfen möchte – das achte und zugleich drittletzte des Siebenten Kapitels des Romans und damit des Zauberbergs insgesamt –, die Frage nach den Kriterien der Wirklichkeit selbst aufwerfen und durchaus provokant unsere geläufigen Annahmen über das Funktionieren der Welt nachhaltig strapazieren. Dieses Unterkapitel gehört zu den bekanntesten Teilen des Zauberbergs, handelt es doch von einer spiritistischen Séance. Überschrieben ist es mit dem Titel ‘Fragwürdigstes’; und schon er spielt mit der doppelten Lesbarkeit dieses Wortes. ‘Fragwürdig’ nennen wir üblicherweise Dinge, die intellektuell riskant und/oder moralisch bedenklich sind. Doch Thomas Manns Kapitelüberschrift spielt sozusagen die Etymologie dieses Wortes gegen seinen gebräuchlichen Sinn aus. Das ‘Fragwürdigste’ wird im Lichte von Manns Bericht über die Séance nämlich auch als etwas erscheinen, das der Frage ganz besonders würdig, ja bedürftig ist, um im gleichen Zug den vielzitierten ‘gesunden Menschenverstand’ sehr nachhaltig zu erschüttern. Im Zentrum dieses Abschnitts steht die Erscheinung des inzwischen verstorbenen Vetters des Protagonisten, der Auftritt Joachim Ziemßens, der sich durch seine eigenmächtige Selbstentlassung aus dem Sanatorium und die Rückkehr ins Flachland dem Tode anheimgegeben hatte. Die Frage, um die dieses Unterkapitel darum naheliegenderweise kreist, ist diejenige nach der Wirklichkeit seiner Erscheinung. Ist Joachim Ziemßen de facto – aus welchem Jenseits auch immer – für einen Moment in diese Welt zurückgekehrt? Oder beruht sein Sichtbarwerden auf nichts anderem als der interessierten Einbildung der Teilnehmer an dieser Séance? Wir werden beobachten können, dass Thomas Manns Erzählung eine Antwort auf diese Frage ebenso konsequent wie raffiniert verweigert. Beschränken wir unseren Blick auf dieses Unterkapitel aus dem Zauberberg auf jenen Moment, in dem Hans Castorp durch die Vermittlung des eminent
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begabt scheinenden dänischen Mediums Ellen Brand seinen verstorbenen Vetter Joachim Ziemßen zu sehen glaubt. Zu den vom Grammophon gespielten Klängen von Valentins Gebet aus Gounods Faust-Oper harren die Teilnehmer an der Séance im Sprechzimmer Dr. Krokowskis, des Zuständigen für „Seelenzergliederung“ und alles Übernatürliche im Sanatorium Berghof, andächtig dessen, was da kommen mag: Niemand sprach. Man lauschte. Elly hatte, sobald der Gesang begann, ihre Arbeit erneuert. Sie war aufgefahren, zitterte, ächzte, pumpte und führte wieder die gleitnassen Hände an ihre Stirn. Die Platte lief. Es kam der mittlere Teil, mit umspringendem Rhythmus, die Stelle von Kampf und Gefahr, keck, fromm und französisch. Sie ging vorüber, es folgte der Schluß, die orchestral verstärkte Reprise des Anfangs, mächtigen Klangs: „O, Herr des Himmels, hör’ mein Flehn –“ Hans Castorp hatte mit Elly zu tun. Sie bäumte sich, zog durch verengte Kehle die Luft ein, sank dann lang ausseufzend in sich zusammen und blieb still. Besorgt beugte er sich über sie, da hörte er die Stöhr mit piepender, winselnder Stimme sagen: „Ziem – ßen –!“ Er richtete sich nicht auf. In seinen Mund trat ein bitterer Geschmack. Er hörte eine andere Stimme tief und kalt erwidern: „Ich sehe ihn längst.“ Die Platte war abgelaufen, der letzte Bläserakkord verklungen. Aber niemand stoppte den Apparat. Leer kratzend in der Stille lief die Nadel inmitten der Scheibe weiter. Da hob denn Hans Castorp den Kopf, und seine Augen gingen, ohne suchen zu müssen, den richtigen Weg. (S. 1031 f.)
Ausgerechnet die törichte Madame Stöhr, Musikergattin aus Bad Cannstatt, versiert in achtundzwanzig Fischsaucen und zu jeder Sottise bereit, äußert als erste etwas, das man als eine Reaktion auf Joachims Erscheinen deuten könnte: die Nennung seines Namens im Moment seiner Erscheinung. Doch dies ist nur eine denkbare, aber keineswegs zwingende Deutung ihrer Äußerung. Es könnte sich ebenso um einen Ruf, um eine Aufforderung an den Toten handeln, sich zu zeigen. Dass Hans Castorps Vetter indessen in der Tat zu sehen ist, behauptet als erste eine nicht näher spezifizierte „andere Stimme“. Wir sollten den Wortlaut dessen, was sie, „tief und kalt“, sagt, genau zur Kenntnis nehmen: „Ich sehe ihn längst“. Vor allem das Zeitadverb „längst“ verlangt wie verdient unsere besondere Aufmerksamkeit. Denn es scheint anzudeuten, dass hier jemand in einen Wettstreit mit der einfältigen Stöhr tritt, als wolle es sich die ungenannte Person, der diese Stimme gehört, nicht nehmen lassen, längst vor der stumpfsinnigen Frau eine Begegnung mit dem toten Soldaten gehabt zu haben. Erst jetzt scheint auch Hans Castorp den Toten zu bemerken:
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Es war einer mehr im Zimmer, als vordem. Dort, abseits von der Gesellschaft, im Hintergrund, wo die Reste des Rotlichtes sich fast in Nacht verloren, so daß die Augen kaum noch dahin drangen, zwischen Schreibtisch-Breitseite und spanischer Wand, auf dem gegen das Zimmer gedrehten Besucherstuhl des Doktors, wo während der Pause Elly gesessen, saß Joachim. Es war Joachim mit den schattigen Wangenhöhlen und dem Kriegsbart seiner letzten Tage, in dem die Lippen so voll und stolz sich wölbten. Angelehnt saß er und hielt ein Bein über das andere geschlagen. Auf seinem abgezehrten Gesicht erkannte man, obgleich es von einer Kopfbedeckung beschattet war, den Stempel des Leidens und auch den Ausdruck von Ernst und Strenge wieder, der es so männlich verschönt hatte. Zwei Falten standen auf seiner Stirn zwischen den Augen, die tief in knochigen Höhlen lagen, doch das beeinträchtigte nicht die Sanftmut des Blicks dieser schönen, groß-dunklen Augen, der still und freundlich spähend auf Hans Castorp, auf diesen allein, gerichtet war. (S. 1032)
Dass Joachims hier geschildertes Erscheinungsbild seinem Anblick in den letzten Tagen vor seinem Tod ähnelt, gibt der Erzähler ausdrücklich zu Protokoll. Was er hingegen verschweigt und dem Gedächtnis des Lesers abverlangt, ist die Erkenntnis, dass sein Gesicht vor allem die Züge des Verstorbenen zeigt, die Hans Castorp auf seinem Totenbett wahrgenommen hatte: Er hielt Frau Ziemßens Hand in der seinen, die ebenso gelb und abgezehrt war, wie sein Gesicht, von welchem, eben infolge der Abmagerung, seine Ohren, dieser leichte Kummer seiner guten Jahre, stärker als ehedem und in bedauerlich entstellendem Maße abstanden, das aber bis auf diesen Fehler und trotz seiner durch den Stempel des Leidens und durch den Ausdruck von Ernst und Strenge, ja Stolz, den es trug, eher noch männlich verschönt erschien, – obgleich seine Lippen mit dem schwarzen Bärtchen darüber jetzt gar zu voll wirkten gegen die schattigen Wangenhöhlen. (S. 805 f.)
Dass Erinnerung verklärt, ist eine sprichwörtliche Erfahrung. Und so heißt es nun auch von den dereinst allzu vollen Lippen des Toten, dass sie „voll und stolz sich wölbten“. Oder hätte eine jenseitige Verklärung den Toten so verschönt? Vordergründig nämlich wird die Szene so erzählt, dass an der Tatsächlichkeit des Berichteten kaum ein Zweifel aufkommen mag. Bei näherer Betrachtung aber stellen sich gleichwohl Bedenken ein. Den ersten Anstoß für die Annahme der Anwesenheit des verstorbenen Joachim Ziemßen gibt eine Äußerung der nicht eben scharfsichtigen Frau Stöhr, die man durchaus als eine Reaktion auf die Wahrnehmung seiner Person verstehen kann – aber eben auch nur kann. Fest steht nur, dass eine andere Person im Kreise der Séance-Teilnehmer sie so versteht. Doch ihre Beteuerung, den Toten „längst“ zu sehen, ist womöglich bestimmt von der Sorge, gegenüber der nicht gerade als Genie bekannten Stöhr nicht ins Hintertreffen zu geraten. Die Tatsächlichkeit des von ihr Geäußerten unterliegt also dem Zweifel, womöglich nur aus Konkurrenzneid behauptet zu werden. Erst danach wird geschildert, wie auch
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Vetter Hans den Dahingegangenen sieht. Und weil er seinen Vetter erst sieht, als andere sagen, ihn schon gesehen zu haben, bleiben auch in seinem Fall die Voraussetzungen der Wahrnehmung seines Cousins ungewiss. Diesmal allerdings bleibt es nicht bei einer bloßen Feststellung der Anwesenheit Joachim Ziemßens, es kommt vielmehr zu einer recht detaillierten Beschreibung dessen, was Hans Castorp an ihm beobachtet. Doch werden wir bemerken, dass just dieser Detailreichtum auf den zweiten Blick dazu geeignet ist, die Tatsächlichkeit von Joachims Erscheinung in Zweifel zu ziehen. Ein kleiner Hinweis scheint fürs Erste jedoch jegliche Skepsis, dass Joachim Ziemßen wahrhaftig anwesend ist, ausräumen zu sollen: „Da hob denn Hans Castorp den Kopf, und seine Augen gingen, ohne suchen zu müssen, den richtigen Weg“. Was aber besagt die Formel vom „richtigen Weg“ genau? Sie sagt zunächst nichts anderes, als dass Hans Castorp zielsicher findet, was er erhofft hatte sehen zu können. Aber wie gelingt ihm dies? Zufällig? Als Effekt magischer Anziehung durch eine übernatürliche Erscheinung? Oder vielleicht nur deshalb, weil er sich einbildet, was er wahrnimmt, und darum auch gar nicht verfehlen kann, was sich seinen Augen darbietet? Zweifel an der Tatsächlichkeit der Erscheinung seines Vetters aus dem Jenseits könnten auch durch die Schilderung der Lichtverhältnisse im Zimmer der Séance aufkommen. Denn Hans Castorp sieht seinen Vetter dort, „wo“, wie es eigens heißt, „die Reste des Rotlichtes sich fast in Nacht verloren, so daß die Augen kaum noch dahin drangen“. Auch diese Lichtverhältnisse sind einer mangelnden Unterscheidung von Wahrnehmung und Einbildung durchaus günstig. Und das, was er sieht, kann man mit gleichem Recht als Montage von Versatzstücken einer verklärenden Erinnerung verstehen. So belässt es der Bericht über die Erscheinung des toten Joachim Ziemßen konsequent und unaufhebbar im Ungewissen, ob es sich hier um eine tatsächliche Erscheinung aus dem Jenseits oder um eine Autosuggestion (und im Fall der „anderen Stimme“ womöglich um eine bloße Behauptung zum Zweck der Selbstdarstellung) handelt. Diese unauflösliche Ambivalenz gilt auch dort noch, wo man den untrüglichsten Beweis für die Faktizität seines Erscheinens zu finden gemeint hat: Zwei Falten standen auf seiner Stirn zwischen den Augen, die tief in knochigen Höhlen lagen, doch das beeinträchtigte nicht die Sanftmut des Blicks dieser schönen, groß-dunklen Augen, der still und freundlich spähend auf Hans Castorp, auf diesen allein, gerichtet war. Sein kleiner Kummer von ehedem, die abstehenden Ohren waren erkennbar auch unter der Kopfbedeckung, auf die man sich nicht verstand. Vetter Joachim war nicht in Zivil; sein Säbel schien am übergeschlagenen Schenkel zu lehnen, er hielt die Hände am Griff, und etwas wie eine Pistolentasche glaubte man gleichfalls an seinem Gürtel zu unterscheiden. Doch war das auch kein richtiger Waffenrock, was er trug. Nichts Blankes noch Farbiges war daran zu bemerken, es hatte einen Litewkakragen und Seitentaschen, und irgendwo
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ziemlich tief saß ein Kreuz. Die Füße Joachims wirkten groß und die Beine sehr dünn; sie schienen eng eingewickelt, auf sportliche mehr, denn auf militärische Art. Und wie war das mit der Kopfbedeckung? Sie sah aus, als hätte Joachim sich ein Feldgeschirr, einen Kochtopf aufs Haupt gestülpt und ihn durch Sturmband unter dem Kinn befestigt. Doch wirkte das altertümlich und landsknechthaft und kriegerisch kleidsam, merkwürdigerweise. (S. 1032 f.)
Man hat, nicht ohne Grund, in der Schilderung der Kleidung Joachims an dieser Stelle eine Vorausdeutung auf den künftigen Krieg sehen wollen. Im Kommentarband zum Zauberberg in der Großen Frankfurter Ausgabe heißt es dazu in aller Entschiedenheit: „Stahlhelm und Felduniform der deutschen Wehrmacht im Ersten Weltkrieg.“15 Für eine solche Deutung spricht, dass die merkwürdige, an einen Kochtopf erinnernde Kopfbedeckung in der Tat auf den Soldatenhelm anspielen könnte, der seit 1916 in der Armee des deutschen Kaiserreiches die altpreußische Pickelhaube ersetzen wird. Aber auch in diesem Fall steht bei genauerer Betrachtung nicht mehr als eine bloße, wiewohl durchaus ernstzunehmende Potentialität zur Debatte. Denn es handelt sich eben um eine Deutung – und diese ist das Ergebnis einer Interpretation, die die Kenntnis des Späteren schon voraussetzt. Alles, was der Leser über Joachims Kopfbedeckung indessen erfährt, besagt, dass sie dem Erscheinungsbild des ab 1916 zum Einsatz kommenden Helms ähnelt. Doch seine ein wenig merkwürdige Kopfbedeckung wird keineswegs eindeutig als ein solcher Helm kenntlich gemacht. Es kann sich also um ihn handeln, es muss aber nicht so sein. Die Ähnlichkeit mit dem neuen Helm des deutschen Weltkriegsheeres könnte insofern dem bloßen Zufall geschuldet sein, einem freilich verblüffenden Zufall. Womöglich aber hätte auch dieser Zufall seine – freilich nicht auf den ersten Blick ersichtliche – Logik. Es fällt nämlich auf, dass der Erzähler die durchaus mögliche, vielleicht sogar naheliegende Deutung von Joachims Kopfbedeckung als Helm der Wehrmacht im kommenden Krieg zugleich konterkariert. Eigens stellt er fest, dass diese Kopfbedeckung „altertümlich und landsknechthaft“ wirke. Dieser Hinweis deutet weit eher in die Vergangenheit als in die (nahe) Zukunft eines hochtechnisierten Kriegs. Zudem bleibt es nicht allein bei dieser Verschiebung der Zeitkoordinaten. In der zitierten Charakteristik von Joachims wunderlichem Helm steckt nämlich unausdrücklich ein weiterer Hinweis, genauer gesagt ein latenter Rückverweis auf eine frühere Szene des Romans:
15 Kommentar von Michael Naumann, in: Mann, Der Zauberberg, S. 397.
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Jede Spur der Anstrengung war nun aus seinem Gesicht gewichen; erkaltet, hatte es sich zu reinster, schweigender Form befestigt. Kurzes Gekräusel seines dunklen Haares fiel in die unbewegliche, gelbliche Stirn, die aus einem edlen, aber heiklen Stoff zwischen Wachs und Marmor gebildet schien, und in dem ebenfalls etwas gekrausten Bart wölbten die Lippen sich voll und stolz. Ein antiker Helm hätte diesem Haupte wohl angestanden, wie mehrere der Besucher meinten, die sich zum Abschiede einfanden. Frau Stöhr weinte begeistert im Anblick der Form des ehemaligen Joachim. „Ein Held! Ein Held!“ rief sie mehrfach und verlangte, daß an seinem Grabe die „Erotika“ von Beethoven gespielt werden müsse. (S. 812)
Auch diese Zeilen aus dem Unterkapitel ‘Als Soldat und brav’, das das sechste Kapitel des Zauberbergs abschließt, beschreiben den Anblick Joachim Ziemßens auf seinem Totenbett. Im Besonderen berichten sie von der Reaktion der verschiedenen Besucher, die ihm die letzte Ehre erweisen wollen. Darunter findet sich nicht nur der wohl berühmteste – und trotz der traurigen Umstände gleichwohl urkomische – Bildungsschnitzer Frau Stöhrs, die Beethovens 3. Symphonie als „Erotika“ statt „Eroica“ bezeichnet.16 Für unseren Zusammenhang wesentlicher sind die anderen Besucher, „die sich zum Abschiede einfanden“. Denn wie sie „meinten“, hätte ein „antiker Helm […] diesem Haupte wohl angestanden“. Nun ist aus der Militärgeschichte in der Tat ein Helm bekannt, den man nicht nur vergleichsweise mit einem Topf in Verbindung gebracht hat, sondern für den der terminus technicus des (auch Glocken-
16 Das von diesem Fauxpas verursachte Lachen kommt ja nicht nur deshalb zustande, weil der eine Buchstabe, der zu viel ist, einen Sinn erzeugt, der alle guten Absichten grausam zunichte macht. Ausgesprochen komisch wirkt das falsche Wort ja auch deshalb, weil Frau Stöhr offensichtlich nicht nur dem Toten auf höchst unglückliche Weise ihre Ehre erweisen, sondern zugleich mit einer musikalischen Bildung renommieren möchte, über die die Musikergattin offensichtlich nicht verfügt. Sonst wäre der Hinweis auf den Komponisten ja völlig überflüssig; aber er ist es natürlich ohnehin, weil Frau Stöhr sich mit ihrer fatalen Halbbildung vor Leuten wie Naphta und Settembrini spreizen möchte, die der Belehrung über den Urheber der bewussten Symphonie kaum bedürfen – weshalb sie es unseligerweise allerdings gerade bei ihnen darauf anlegt, Eindruck zu schinden. Auch darum führt ihre gute Absicht, die eben ganz so gut nicht ist, in ein rhetorisches Fiasko. Zu den abgründigsten Subtilitäten dieser Szene am Totenbett aber gehört es, dass in Frau Stöhrs verunglückter „Erotika“, die für Joachims Begräbnis „verlangt“ wird, aller komischen Abwegigkeit zum Trotz jene Beziehung aufscheint, die der Zauberberg von Beginn an in allen nur denkbaren Variationen umspielt und befragt und nun auch in komischer Gestalt präsentiert: den mysteriösen Zusammenhang von Eros und Thanatos. Diese Abgründigkeit wirft ein bezeichnendes Licht auf die Konstitution von Sinnhaftigkeit im Zauberberg. Selbst das scheinbar Absurdeste kann noch einen verborgenen Sinn bereithalten. Doch zum anderen ist eine solche Sinngebung auch zutiefst kontingent. Die Sinnhaftigkeit der Welt und die Kontingenz ihrer Sinnhaftigkeit stehen sich gleichsam einander provozierend gegenüber.
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helm genannten) ‘Topfhelms’ Verwendung findet. Er kommt im Mittelalter auf. Seine Zugehörigkeit zu dieser Epoche ist im Blick auf unseren Text nicht zuletzt deshalb von Belang, weil die nähere Charakteristik der Wirkung von Joachims „Kopfbedeckung, auf die man sich nicht verstand“ und die er während der Séance im Behandlungszimmer Dr. Krokowskis zu tragen scheint, genau auf diese Phase der Geschichte deutet. „Denn altertümlich und landsknechthaft und kriegerisch kleidsam“, so heißt es, nimmt sich der betreffende Helm aus. Landsknechte aber sind ihrerseits ein Phänomen des Spätmittelalters. Sollte die fragliche Kopfbedeckung des Vetters, den Hans Castorp zu sehen glaubt, also möglicherweise in seiner Vorstellung entstanden sein und eine imaginäre Konkretisierung jenes antiken Helms darstellen, von dem einige Besucher an seinem Totenlager meinten, er hätte „diesem Haupte wohl angestanden“? Wir können folglich nicht ausschließen, dass er seinem Verwandten vorstellungsweise zukommen lässt, was das Erscheinungsbild von dessen totem Körper nach Ansicht mancher zum Schaden des verehrungswürdigen Verstorbenen vermissen ließ. Indessen hat Thomas Mann im Text seines Romans die Spuren, die das Erscheinungsbild von Joachim Ziemßen bei der spiritistischen Sitzung zu erklären vermöchten, noch sehr viel subtiler gelegt. Das schier unendlich wirkende, zweifellos kaum vollständig zu rekonstruierende Netz von intratextuellen Bezügen, das den Zauberberg allenthalben durchzieht, könnte nämlich auch eine Erklärung dafür liefern, warum Hans Castorp bei seiner Vorstellung von einem antiken Helm just auf die Aufmachung eines Landsknechts zurückgreift. Als er seinem Vetter Ziemßen gegenüber einmal äußert, bei einem der vielen Streitgespräche zwischen Lodovico Settembrini und Dr. Leo Naphta, von denen der Roman bekanntlich auf das Reichlichste berichtet, sei nichts als Konfusion herausgekommen, zeigt sich Joachim Ziemßen wenig überrascht: „Das ist immer so. Das wirst du immer so finden, daß bloß Konfusion herauskommt beim Reden und Meinungen haben. Ich sage dir ja, es kommt überhaupt nicht darauf an, was für Meinungen einer hat, sondern darauf, ob einer ein rechter Kerl ist. Am besten ist, man hat gleich gar keine Meinung, sondern tut seinen Dienst.“ „Ja, so kannst du sagen, als Landsknecht und rein formale Existenz, die du bist. Bei mir ist das was andres, ich bin Zivilist, ich bin gewissermaßen verantwortlich. Und mich regt es auf, solche Konfusion zu sehen, wie daß der eine die internationale Weltrepublik predigt und den Krieg grundsätzlich verabscheut, dabei aber so patriotisch ist, daß er partout die Brennergrenze verlangt und dafür einen Zivilisationskrieg führen will, – und daß der andere den Staat für Teufelswerk hält und von der allgemeinen Vereinigung am Horizont flötet, aber im nächsten Augenblick das Recht des natürlichen Instinktes verteidigt und sich über Friedenskonferenzen lustig macht. Unbedingt müssen wir hingehen, um klug daraus zu werden. Du sagst zwar, wir sollen hier nicht klüger werden, sondern gesünder. Aber das muß sich vereinigen lassen, Mann, und wenn du das nicht glaubst, dann treibst du Weltentzweiung, und sowas zu treiben, ist immer ein großer Fehler, will ich dir mal bemerken.“ (S. 583 f.)
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Nicht nur, dass Hans Castorp hier seinen Vetter ausdrücklich als „Landsknecht“ bezeichnet, ist von Belang für die Charakteristik von dessen Erscheinung während der spiritistischen Sitzung. Bedeutsam im Hinblick auf die Verbindung zwischen beiden Szenen des Romans ist auch die psychische Stimmung, unter deren Einfluss er seinen Vetter in den zitierten Sätzen mit dem entsprechenden Titel versieht. Verräterisch in dieser Hinsicht ist der ausgesprochen herrische Ton, den Hans Castorps Rede am Ende seiner Worte mit einem Mal annimmt – ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, sich ausnehmend höflich auszudrücken. Die ziemlich burschikose Anrede „Mann“ wie die auftrumpfende Formel „will ich dir mal bemerken“ fallen unverkennbar aus seinem üblichen Sprachgebrauch heraus. Hans Castorp ist offenkundig verletzt; und diese Beleidigung erklärt sich aus den Worten Joachim Ziemßens, auf die er verärgert reagiert. Denn, so hatte sein Vetter bemerkt, jegliche Meinungen seien ohnehin gleichgültig, es komme darauf an, „ein rechter Kerl“ zu sein und „seinen Dienst“ zu tun. Durch dieses Plädoyer des Militärs für fraglose Dienstfertigkeit fühlt sich der Zivilist Castorp offensichtlich in seinem Mannesstolz herausgefordert, hat er doch zu befürchten, kein „rechter Kerl“ zu sein, wenn ihn die Konfusion der streitbaren Intellektuellen so nachhaltig beschäftigt. Also kehrt er den starken Mann heraus und schlägt selbst einen ungewohnt salopp-militärischen Ton an, um seinen Vetter eines Besseren zu belehren. (Kaum erstaunlich, vielmehr höchst verräterisch, dass er dabei seinen Vetter ausgerechnet als „Mann“ apostrophiert.) Dass der pflichtbewusste Soldat in dieser Replik ebenfalls – ein wenig archaisierend – zum Landsknecht erklärt wird, gibt dessen Lob der Gehorsamsbereitschaft allerdings nicht allein eine kaum zu überhörende pejorative Note. Hans Castorp zitiert mit diesem Begriff vielmehr – und er zitiert seinerseits jemanden, der für ihn so etwas wie eine Autorität ist: Settembrini. Abgründigerweise ist auch der intellektuell höchst interessierte Hans Castorp insoweit durchaus nicht frei von einer Art Dienstbereitschaft. Im selben Gespräch, dessen unklares Ergebnis den Protagonisten des Romans so bekümmert, hatte der italienische Zivilisationsliterat, nicht ohne Joachim Ziemßen dabei ausdrücklich zu erwähnen, sämtliche aus der Geschichte bekannte Soldaten zu Landsknechten befördert: „Die soldatische Existenz – ich sage das, ohne unserm Leutnant zu nahe treten zu wollen – ist geistig indiskutabel, denn sie ist rein formal, an und für sich ohne Inhalt, der Grundtypus des Soldaten ist der Landsknecht, der sich für diese oder auch jene Sache anwerben ließ, – kurzum, es gab den Soldaten der spanischen Gegenreformation, den Soldaten der Revolutionsheere, den napoleonischen, den Garibaldis, es gibt den preußischen. Lassen Sie mich über den Soldaten reden, wenn ich weiß, wofür er sich schlägt!“ (S. 572)
Hans Castorps von Settembrini übernommene Charakteristik seines Cousins als eines Landsknechts aber führt zur Séance bei Dr. Krokowski und dessen dortiger
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Erscheinung zurück. Sie bringt nämlich die Möglichkeit – freilich nur die Möglichkeit – ins Spiel, dass sich Hans Castorp seinen Vetter während der Séance in solcher Aufmachung nur vorstellt. Wäre dem so, dann brächte dessen imaginäre Ausstattung mit dem bewussten Helm gewiss nicht nur eine Reminiszenz an die ehrerbietigen Besucher am Totenbett des verstorbenen Soldaten zur Geltung. Sie böte zugleich noch immer eine kleine postume Revanche für die ihm unbewusst zugefügte Verletzung, die er selbst über den Tod seines Vetters hinaus nicht vergessen – weil nicht ganz verwunden – hätte. Das Erscheinungsbild des Vetters, den Hans Castorp während der spiritistischen Sitzung erblickt – oder zu erblicken meint –, lässt sich also in vielen seiner Details auf zuvor in diesem Roman Erzähltes zurückführen. Es kann sich deshalb durchaus um nicht mehr als eine Vorstellung handeln, die der Protagonist von dessen Geschichte aus verschiedenen Erinnerungsstücken zusammenbaut. Wie wir sahen, zeichnen sich bei deren Rekonstruktion zugleich verschiedene Motivationen ab, die zu erklären vermögen, warum er sich seinen Vetter gerade in dieser Weise vorstellt. Doch all diese Erklärungen bleiben bloße Möglichkeiten. Auch sie sind das Ergebnis einer Deutung, einer Herstellung von Zusammenhängen, die denkbar, vielleicht sogar plausibel sind – und die doch bloße Potentialitäten bleiben. Damit aber hat die Hypothese der Tatsächlichkeit von Joachims Erscheinen bei der Séance dieselbe Grundlage und damit auch dieselbe Wahrscheinlichkeit wie die Möglichkeit seines leibhaftigen Auftretens in Folge einer übernatürlichen Wirkung spiritistischer Übungen. Denn auch diese Möglichkeit findet ja vor allem durch eine Deutung ihre Stütze: durch die potentielle Identifikation von Joachims Kopfbedeckung als Helm der Wehrmacht im bevorstehenden Krieg. Ihn vermochte sich noch niemand im Augenblick der ‘fragwürdigsten’ Ereignisse in Dr. Krokowskis Behandlungsraum vorzustellen,17 und so böte er in der Tat ein schlagkräftiges Argument für die Wirklichkeit der Erscheinung des verstorbenen Vetters. Doch die Identität dieses Helms ist keineswegs gewiss. An diesem Objekt
17 Natürlich steckt in dieser Lokalisierung der spiritistischen Séance im Behandlungszimmer des alter ego Dr. Freuds im Zauberberg auch eine – mehr oder minder versteckte – Spitze gegen die Psychoanalyse. Denn sie stellt unweigerlich eine Verbindung zwischen beidem her – sie suggeriert einen Zusammenhang, der sich freilich in doppelter Richtung lesen lässt: Zum einen besagt er, dass die Psychoanalyse selbst womöglich nichts anderes als ebenfalls ‘Fragwürdigstes’ betreibt und sich von irgendwelchem ‘Hokuspokus’ nicht recht unterscheiden lässt. Zum anderen aber lässt sich diese Verbindung auch solchermaßen verstehen, dass die Wahrnehmung des Toten ihrerseits nur ein Effekt von solchen Ursachen ist, deren Aufdeckung die Psychoanalyse sich widmet. Beispiele für diese Lesart haben wir in unserer Interpretation der einschlägigen Passagen aus dem hier untersuchten Unterkapitel bereits angetroffen.
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überkreuzen sich widerstreitende, ihrerseits allesamt schlüssige, aber nicht miteinander zu vereinbarende Interpretationen seiner Identität. Ob der verstorbene Joachim Ziemßen also während der Séance in Dr. Krokowskis Behandlungsraum aus einem Reich der Toten tatsächlich erscheint oder ob der Eindruck seiner Erscheinung auf einem Zusammenspiel verschiedener Faktoren beruht, die eine imaginäre Vergegenwärtigung seiner Person als deren faktische Anwesenheit begreifen lassen, bleibt unaufhebbar unentscheidbar. Es ist durchaus möglich. Aber es ist keineswegs gewiss. In dieser Potentialität der Wirklichkeit des Irrationalen, dessen Tatsächlichkeit sich in der untersuchten narrativen Szene des Zauberbergs selbst für das ‘Fragwürdigste’ nicht ausschließen lässt, erscheint wie in Gestalt eines Negativabdrucks die universelle ontologische Skepsis der Moderne, die allem Rationalen seine metaphysische Grundlosigkeit bescheinigt. Denn worin besteht diese – wesentlich auf die Philosophie Immanuel Kants zurückgehende – Skepsis? Sie besagt ja, dass die Dinge den Prinzipien der Vernunft nur für uns entsprechen, es mithin nicht gewiss sein kann, dass sie selbst ‘an sich’ derselben Logik gehorchen. Dies kann, muss aber nicht der Fall sein. Und aus der zweiten dieser beiden Möglichkeiten folgt, dass die Dinge selbst gegebenenfalls nach ganz anderen Prinzipien als denen der Vernunft konstituiert sind. Nur sind – oder wären – diese Prinzipien uns nicht zugänglich, weshalb wir nicht sagen können, ob es sich so verhält. Eben diese Möglichkeit einer Wirklichkeit jenseits unserer Vernunft setzt die Séance am Zauberberg in Szene. Sie gewinnt dadurch einen gleichsam metatheoretischen Charakter, macht sie doch anhand eines konkreten Phänomens die impliziten metaphysischen Prämissen (resp. deren Konsequenzen) des Denkens der Moderne kenntlich. Und so führt sie eine Erscheinung vor, von der nicht sicher ist, ob sie in der Wiederkehr eines Verstorbenen besteht oder auf einer bloßen Vorstellung dieses Toten beruht, weil die Gründe für die eine wie die andere Annahme gleichermaßen schlüssig sind. Anderes als unsere Vernunftgründe aber gibt es nicht, um darüber zu befinden; und eben sie sind nicht in der Lage, eine Entscheidung zwischen beiden Alternativen herbeizuführen. So kommt es, dass sich in dieser Unentscheidbarkeit die Ungewissheit spiegelt, ob es eine Wirklichkeit jenseits der Grenzen unserer Vernunft gibt. In genau diesem Sinn bleibt die Erscheinung Joachims – aus welchem Jenseits der Toten auch immer – eine Möglichkeit, von der nicht mit Gewissheit zu sagen ist, ob es sie gibt. Es ist im Übrigen keineswegs auszuschließen, sondern höchst wahrscheinlich, dass diese stillschweigenden metaphysischen Prämissen – sozusagen der dunkle Untergrund des Rationalitätskonzepts der Moderne – sehr bewusst anhand einer Erscheinung zum Vorschein gebracht werden. Denn eben dies ist auch der Terminus, den Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft als Gegen-
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begriff zum Ding an sich zur Bezeichnung genau dessen benutzt, was unserer vernünftigen Erkenntnis zugänglich ist. Und so machte Thomas Mann im Zauberberg die Konsequenzen einer solchen Beschränkung der Vernunft auf die (bloße) Erscheinung anhand einer potentiell übernatürlichen Erscheinung kenntlich, die die Grenzen des vernünftigerweise Denkbaren provozierend sprengt. Denn er gibt auf diese Weise zu verstehen, dass etwas, das sich durchaus mit Hilfe von Vernunftgründen erklären läßt, womöglich auch auf einer Logik gründet, die sich diesen rationalen Prinzipien entzieht. Wenn ich davon gesprochen habe, dass diese – metatheoretische – Szene im Zauberberg die ontologischen Prämissen des Denkens der Moderne wie in einem Negativabdruck präsentiert, dann deshalb, weil sie deren Prinzipien gewissermaßen umkehrt. Denn der Erzähler berichtet etwas als tatsächlich, was nach den Maßgaben unseres Denkens und seiner Wirklichkeitskriterien gerade unmöglich zu sein scheint. Er erzählt dies aber zugleich solchermaßen, dass Zweifel an der Tatsächlichkeit einer übernatürlichen Erscheinung aufkommen, weil nicht auszuschließen ist, dass sich das beschriebene Phänomen auch einer rationalen Erklärung fügt. Dies kehrt die Prinzipien des modernen Denkens insoweit um, als sie das genaue Gegenteil erwarten ließen: den Bericht über ein Phänomen, das vernünftigen Prinzipen gehorcht, von dem allerdings nicht auszuschließen ist, dass es auf irrationalen Ursachen beruht. Doch indem Thomas Mann gerade umgekehrt verfährt, bringt er zum Vorschein, was es (auch) bedeutet, wenn die Vernunft die Geltung ihrer Prinzipien nur für eine Erscheinung beanspruchen kann. Denn es könnte sein, dass wir unter diesen Prämissen ein außerrationales Phänomen ebenfalls nur mit vernünftigen Prinzipien zu erklären versuchten.
3 Episteme und Zivilisation Gegen Ende des Zauberbergs radikalisiert Thomas Mann also sein analytisches Erzählen bis hin zu einer Problematisierung elementarer Annahmen der Moderne über den Charakter unserer Wirklichkeit. Diese Labilisierung ihrer epistemischen Grundlagen aber verschränkt er ganz am Ende des Romans mit jener Verrohung der Zivilisation, bei der das Szenarium des Todes vom Einzelschicksal im alpinen Sanatorium zum Massensterben auf den Schlachtfeldern des Großen Krieges wechselt und dort die Zivilisation im wahrsten Sinne des Wortes im Schlamm versinken lässt: Da ist unser Bekannter, da ist Hans Castorp! Schon ganz von weitem haben wir ihn erkannt an seinem Bärtchen, das er sich am Schlechten Russentisch hat stehen lassen. Er glüht durchnäßt, wie alle. Er läuft mit ackerschweren Füßen, das Spießgewehr in hängender
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Faust. Seht, er tritt einem ausgefallenen Kameraden auf die Hand, – tritt diese Hand mit seinem Nagelstiefel tief in den schlammigen, mit Splitterzweigen bedeckten Grund hinein. Er ist es trotzdem. (S. 1083 f.)
Die Verrohung gehört zu den Folgen des Krieges, der die Kulturlandschaft der Felder nicht anders als die Umgangsformen der Menschen zerstört. Doch welchen Stellenwert hat diese Zerstörung kultureller Ordnung? Kommt hier der originäre Gegensatz, ja Antagonismus von Natur und Kultur zum Vorschein, den diesmal die (rohe) Natur für sich selbst entscheidet? Er stürzt. Nein, er hat sich platt hingeworfen, da ein Höllenhund anheult, ein großes Brisanzgeschoß, ein ekelhafter Zuckerhut des Abgrunds. Er liegt, das Gesicht im kühlen Kot, die Beine gespreizt, die Füße gedreht, die Absätze erdwärts. Das Produkt einer verwilderten Wissenschaft, geladen mit dem Schlimmsten, fährt dreißig Schritte schräg vor ihm wie der Teufel selbst tief in den Grund, zerplatzt dort unten mit gräßlicher Obergewalt und reißt einen haushohen Springbrunnen von Erdreich, Feuer, Eisen, Blei und zerstückeltem Menschentum in die Lüfte empor. (S. 1084)
Als „das Produkt einer verwilderten Wissenschaft“ wird die hochmoderne Waffentechnik bezeichnet, die an dieser mörderischen Front zum Einsatz kommt. Das scheint noch einmal darauf zu deuten, dass die Ordnungen der Kultur von den Kräften einer ihr äußerlichen Natur um ihr Eigenstes gebracht werden. Doch im Kontext des Zauberbergs ist diese Lesart keineswegs die einzig denkbare: Sie müssen hindurch, die dreitausend fiebernden Knaben, sie müssen als Nachschub mit ihren Bajonetten den Sturm auf die Gräben vor und hinter der Hügelzeile, auf die brennenden Dörfer entscheiden. (S. 1082)
Die Mobilisierung äußerster Kräfte im Kampf um das eigene Überleben wird begleitet von demselben Symptom, das auch die im Sanatorium kurierte Krankheit zeigt. Auch der Krieg, so suggeriert diese Korrespondenz, ist nur eine der Erscheinungsformen gesteigerten Lebens. Und je höher seine Steigerung in ‘hochzivilisierten’ Lebensformen hinaufwächst, je brutaler fällt die Selbstzerstörung aus, die sich die Errungenschaften einer „verwilderten Wissenschaft“ zu Nutze zu machen versteht, ja zu diesem Zweck eigens ersonnen hat. Sie selbst ist schließlich Teil dieser Hochkultur. Gleichwohl gibt ihre Verwilderung auch den natürlichen Grund – oder besser: den biologischen Trieb – zu erkennen, der auch ihr Vernichtungspotential als ein Erzeugnis des Lebens erscheinen lässt. Denn die Wildheit ist ihrerseits eine Erscheinung des Lebens. So gegensätzlich die Welt des Zauberbergs und das ‘Flachland der Heimsuchung’ sich ausnehmen, im Todestrieb gesteigerten Lebens sind sie sich – metaphysisch oder präziser
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noch: lebensmetaphysisch betrachtet – bemerkenswert ähnlich. Die zu äußerster Zivilisiertheit getriebene Hochkultur der Moderne erscheint auf diese Weise nur als das komplementäre Gegenstück jenes schier unendlichen Zerstörungspotentials, das sie gleichermaßen birgt. Und diese paradoxe Komplementarität zwischen den Kräften der Zivilisation und den Mächten ihrer Vernichtung findet ihre strukturelle Entsprechung im Konzept moderner Rationalität, dessen ungeheure Produktivität mit einem metaphysischen Abgrund einhergeht. Analyse steht im Zauberberg nicht nur etymologisch im Bund mit Auflösung und folglich Zerstörung. Ihre Verbindung gehört vielmehr zur Erkundung des Verhältnisses von Rationalität und Leben, die der Zauberberg systematisch betreibt. Und so zählt denn auch die Vernunft des Menschen zu den Strukturen der Komplexität, die die organische von der anorganischen Natur trennt. Die Komplexität des Lebens erweitert die Möglichkeiten der Natur beträchtlich. Aber sie ist erkauft um den Preis des Todes. Die „verwilderte Wissenschaft“ der Kriegstechnik bringt diese tiefe Ambiguität auch der Vernunft des Menschen zum Vorschein, die die Hochzivilisation ebenso wie die Instrumente ihrer Zerstörung hervorbringt. So gehört diese Vernunft selbst in den natürlichen Kreislauf von Leben und Tod. Auch die Zergliederung der Welt als die Wirkung einer erzählerischen Darstellung, die die Konstruktion ihrer Geschichte mit der analytischen Zergliederung in ihre Bestandteile kurzschließt, ist ein Spiegel dieser tiefen Ambivalenz der Vernunft. Sie gehört einer gleichen Ordnung des Lebens wie die hochzivilisierte todgeweihte Welt des Sanatoriums zu, die den einfachen jungen Menschen zu seiner weltabgewandten, ja welt- und willensverneinenden Suche nach den Grundlagen des Lebens aufbrechen lässt. Thomas Manns analytisches Erzählen, das die Darstellung im Zauberberg zugleich mit der Zergliederung in die Bestandteile des Dargestellten verbindet und solchermaßen Konstruktion und Auflösung unauflöslich miteinander verschränkt, treibt das analytische Moment, das jeder Prädikation innewohnt, zu einer äußersten Radikalität. Weil seine fiktionale Rede die Muster der Prädikation nicht für die Vermittlung faktischer Informationen einsetzt, gewinnt sie die Möglichkeit, ihre strukturellen Verfahren anderen Zwecken zuzuführen. In diesem Sinn verwandelt sie den analytischen Zug aller Prädikation in ein Instrument der Analyse von Sprache und Welt. Wenn sprachliche Sätze Sachverhalte behaupten, indem sie diese in ihre Komponenten zerlegen, um deren Zusammenhang als eine Tatsache festzustellen, dann wendet der Zauberberg dieses analytische Moment der Prädikation zugleich in eine Strategie der Zergliederung der Welt um, die die Strukturen der Wirklichkeit und ihrer sprachlichen Bearbeitung sichtbar zu machen vermag.
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Verzeichnis der zitierten Literatur Crestey, Muriel Berthou, „La Ville-de-Montereau“, in: Flaubert, Arts/Images/Représentation, 2014, https://journals.openedition.org/flaubert/2178 (zuletzt abgerufen: 09.09.2020). Jakobson, Roman, „Linguistics and Poetics“, in: Thomas A. Sebeok (Hrsg.), Style in Language, Cambridge, MA: MIT Press, 1960, S. 350–377. Kablitz, Andreas, „Literatur, Fiktion und Erzähler nebst einem Nachruf auf den Erzähler“, in: Irina Rajewski/Ulrike Schneider (Hrsg.), Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht. Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag, Stuttgart: Steiner, 2008, S. 13–44. Kablitz, Andreas, Der Zauberberg. Die Zergliederung der Welt, Heidelberg: Winter, 2017. Kablitz, Andreas, „Autoréférentialité. Quelques remarques à propos de la définition structuraliste du discours poétique“, in: Ludwig Jäger/Andreas Kablitz (Hrsg.), Structuralisme. Ferdinand de Saussure et l’épistémè structuraliste, Berlin/Boston: de Gruyter, 2020 (im Erscheinen). Krämer, Sybille, „ Sagen und Zeigen. Sechs Perspektiven, in denen das Diskursive und das Ikonische in der Sprache konvergieren“; in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 3 (2003), S. 509–519. Mann, Thomas, Der Zauberberg, hrsg. und textkritisch durchgesehen von Michael Neumann (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 5.1), Frankfurt/M.: Fischer, 2002. Ogden, Charles Kay/Ivor Armstrong Richards, The Meaning of Meaning. A Study of the Influence of Language upon Thought and of the Science of Symbolism, New York: Harcourt, 1923. Saussure, Ferdinand de, Cours de linguistique générale, édition critique préparée par Tullio de Mauro, Paris: Payot, 1975. Wittgenstein, Ludwig, Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1984.
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Chils Prädikation. Ein Kommentar zu Charles Goodwins Co-Operative Action 1 Korpus und Methode Seit ungefähr 50 Jahren besitzen die Sozial- und Textwissenschaften ein Korpus von Aufzeichnungen und Transkriptionen, dessen methodische Bearbeitung der Komplexität mündlicher Sprache gerecht werden will und diese Komplexität zum kompromisslosen Gegenstand einer empirischen Rekonstruktion gemacht hat. Mündliche Sprache und Interaktion haben sich in der Bearbeitung dieses Korpus als vielschichtiger als jeder schriftliche Text erwiesen, und zwar nicht nur bezogen auf all das, was sich an einer mündlichen Interaktion nicht verschriftlichen lässt, sondern auch qualitativ, d. h. durch den unmissverständlichen Nachweis einer fortlaufenden Reflexivität improvisierter Subtilitäten aus gleichermaßen improvisierten Wechselwirkungen, die schriftlich niedergelegten Texten grundsätzlich fehlt und deren Fehlen durch sehr viel gröbere sprachliche Mittel kompensiert wird. Was die Theorie der Prädikation, aber auch der Referenz, der Deixis, der Quantifikation, ja aller klassischen sprachphilosophischen Themen betrifft, stehen wir dank der Herstellung und Interpretation von audiovisuellen Sequenzanalysen (im Folgenden „AV-Sequenzanalysen“ genannt) meines Erachtens vor einer ganz neuen Situation, die erst einmal bewältigt werden müsste und von großen Teilen der Philosophie und der Textwissenschaften bislang nicht erkannt oder anerkannt worden ist. Sicher, man könnte sagen, dass es in der AV-Sequenzanalyse nur um die alltägliche Prädikation, Referenz, Deixis, Quantifikation usw. geht und dass die Unvollkommenheiten des mündlichen Alltags schlechte Ratgeber zur Erforschung logischer und grammatischer Phänomene sind, dass Logik und Grammatik mit ihren textimmanenten Verfahren gut zurechtgekommen sind und dass auch die AV-Sequenzanalysen auf schriftliche Abstraktionen angewiesen sind, nämlich auf Transkriptionen und deren Kodifizierung. Aber eine solche Aussage kann den Ertrag der Erforschung von logischen, grammatischen und rhetorischen Alltäglichkeiten nicht mehr schmälern. Die AVSequenzanalyse kontrolliert die Interpretierbarkeit durch den ständigen methodischen Wechsel zwischen Reversibilität und Irreversibilität: durch den Bezug auf ein einziges dokumentiertes Ereignis oder eine Serie von Ereignissen, durch Vorspulen und Zurückspulen, durch die reversible Zeit und den kontrastiven Raum der Sequenzen, durch kooperativ erstellte Transkriptionen und Zeichnungen, https://doi.org/10.1515/9783110715514-005
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durch kooperative Tätigkeiten des Nachsprechens und Besprechens, durch Vergleiche zwischen statischen und in Bewegung befindlichen Bildern und Texten. Unverkennbar sind all dies Tätigkeiten, die den technischen Möglichkeiten des Umgangs mit audiovisuellen Aufzeichnungen entspringen und vor dem Tonfilm nicht möglich waren. Trotzdem handelte es sich in der Entstehung der AV-Sequenzanalyse nicht einfach um einen technologischen Medienumbruch. Schließlich stammt der Tonfilm als mögliches Analyseinstrument aus den 1920erJahren, und es gab keinen Grund, warum man ihn bis in die 1960er-Jahre nicht zur linguistischen oder soziologischen Sequenzanalyse nutzen konnte oder wollte. Eine wissenschaftliche Verzögerung von 40 Jahren verweist darauf, dass es keine linguistischen oder sprachphilosophischen Fragestellungen gab, von denen man erwartete, dass sie durch Filmanalysen besser beantwortet werden würden. Es brauchte 40 Jahre und im engeren Sinne noch einmal 15 Jahre, von 1955 bis 1970, bis auch die Frage nach den Fragen, auf die AV-Sequenzanalysen eine Antwort sein konnten, gestellt und beantwortet werden konnte. Das jahrzehntelange Fehlen einer AV-Sequenzanalyse und der zögerliche Erfolg in Sprachtheorie, Sozialtheorie und Sprachphilosophie seit den 1960erJahren verweisen wie vielleicht nichts anderes darauf, dass Begriffe ohne Anschauung ebenso blind bleiben wie Anschauung ohne Begriffe. Aus diesem Grund widmet sich mein Beitrag sowohl einem kurzen Transkript als auch der Begriffsarbeit eines der zweifelsohne wichtigsten Theoretikers und Praktikers der AV-Sequenzanalyse, nämlich Charles Goodwins 2017 erschienenem Buch Co-Operative Action, das durch Goodwins Tod im Jahr darauf zugleich eine Art Vermächtnis geworden ist.1 Mein Augenmerk gilt dabei unter anderem einem Lieblings beispiel Goodwins – „Chils Schnee vom Jahr davor“ –, um zu demonstrieren, wie die Anschaulichkeit eines einfachen empirischen Beispiels die Begrifflichkeit der klassischen Textwissenschaften herausfordert und zur Disposition stellt. Wenn eine Sprachtheorie Aussagen über mündliche Gespräche, mündliche Interaktion oder mündliche Sprache macht, kann der erfundene oder beliebig aufgegriffene grammatische Beispielsatz nicht mehr als Grundlage sprachphilosophischer oder sprachtheoretischer Fragestellungen dienen. In der Sprachphilosophie und Sprachtheorie ist die Umstellung auf AV-Sequenzen allerdings bisher nicht erfolgt, und das erzeugt mittlerweile eine gewisse Schieflage. Eine theoretische Betrachtung, die sich nicht mehr an isolierten Sätzen, Aussagen und fragmentarisierten schriftlichen Formulierungen abarbeitet, sondern am nachhaltig interpretierten Alltagsgespräch mehr oder weniger schlagfertiger Sprecher in jeder
1 Vgl. Charles Goodwin, Co-Operative Action, Cambridge: Cambridge University Press, 2017.
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beliebigen Sprache der Welt, hat sich trotz der Pioniertaten von Harvey Sacks2 und Charles Goodwin nur an den Rändern zwischen Philosophie, Linguistik, Soziologie und Ethnologie entwickeln können. Berge von Literatur wurden über die Schwierigkeiten geschrieben, den isolierten Satz „Der König von Frankreich ist kahlköpfig“ logisch-grammatisch angemessen zu verstehen, unter der Voraussetzung, dass es zwar diesen Satz, nicht aber einen entsprechenden König gibt. Ein ähnlich umfangreiches Korpus, das sich der Analyse eines einzigen echten natürlich-sprachig dokumentierten Satzes widmet, scheint zu fehlen. Dass ein solches Korpus möglich und sinnvoll ist, werde ich im Folgenden zu demonstrieren versuchen.
2 Charles Goodwins Co-Operative Action Weil Goodwins Buch vermutlich auch in Zukunft nur von Spezialisten gelesen werden wird, aber von allen an sprachtheoretischen Fragen Interessierten gelesen werden sollte, gebe ich eine kurze Zusammenfassung, damit der systematische Zusammenhang des empirischen Beispiels deutlicher wird. Auch wenn das eher ungewöhnlich ist, beginne ich mit einer kritischen Prüfung von Goodwins zentralem Begriff und gehe erst dann zu den sprachtheoretischen Ergebnissen über, die ich für unverzichtbar halte.3 Goodwins Buch ist ein ehrgeiziger Entwurf, und das gilt insbesondere für den Titel. Schließlich soll der Begriff „co-operative action“ das auf den Punkt bringen, was den Menschen zum Menschen bzw. zum homo sapiens sapiens macht, genauer gesagt, nicht nur zum sozialisierten und sozialisierenden Wesen, zum zoon politikon, sondern zugleich zum homo faber, vielleicht sogar zum homo ludens. Angesichts eines solchen Vorhabens hat es wenig Sinn, Skepsis anzumelden; man kann nur hinschauen, ob es gelungen ist, und das braucht seine Zeit, denn die Präsentation der theoretischen und empirischen Ergebnisse ist ziemlich verschachtelt. Das liegt zum einen daran, dass in Goodwins Buch um die zwanzig Aufsätze zusammengefügt wurden, nach weiteren Vorarbeiten, die bereits eine theoretische Aussage und meist mehrere empirische Demonstrationen kombinierten. Zum anderen liegt dies an der Entscheidung, einen neuen Begriff zu lancieren, der zugleich als Wortspiel funk-
2 Harvey Sacks, Lectures on Conversation, Oxford: Blackwell, 1992. 3 Eine ausführlichere Diskussion des Buches findet sich im „Book Review Symposium Charles Goodwin“ der Zeitschrift Media in Action. Interdisciplinary Journal on Cooperative Media 1 (2018), S. 171–244.
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tionieren soll, denn „co-operative“ soll nicht dasselbe sein wie „cooperative“, sondern zumindest dreierlei Aspekte zusammenspannen: (i.) dass hier „ko-operativ“ operiert wird, also: dass Operationen auf andere Operationen einwirken, auf denen sie aufbauen und denen sie zum Teil ihr Material entnehmen; (ii.) dass durch diese Operationen kumulative Effekte erzeugt werden, die erst einmal in der fortlaufenden Situation auf eine ihren Teilnehmern verständliche Weise weitertransformiert werden können; (iii.) dass eben diese Effekte indes zugleich als Lernprozess oder als stabilisiertes Artefakt auch über diese Situation hinaus wirksam werden können. Diese „co-operation“ schließt eine ‘normale’ Bedeutung oder Betrachtung eines kooperativen Ablaufs allerdings durchaus mit ein: dass wir uns im Laufe einer Interaktion wechselseitig helfen und zu unserem gegenseitigen Wohl agieren, indem wir uns in ko-operativen Abläufen assistieren und zuarbeiten. Goodwins „ko-operativ“ ist daher auch „kooperativ“, und zwar in jedem bisherigen und traditionellen Sinne. Das Wort versucht daher in einen Bindestrich zu meißeln, was die besondere menschliche Fertigkeit der wechselseitigen Hilfestellung auszeichnet und den Menschen gegenüber anderen Tieren auszeichnet, ohne die bisherige Grundbedeutung zu negieren. Eine solche Wortschöpfung, wenn sie gelingt, verlangt mindestens eine Generation von erläuternden Fußnoten. Jacques Derridas „différance“4 kommt einem in den Sinn: Hat es sich wirklich gelohnt, eine mit sich selbst „differierende“ Differenz einzuführen, ein sich selbst verschiebendes und aufschiebendes „Differieren“, das zugleich unhörbar und gut lesbar sein sollte? Sicher, man kann auf diese Weise die Begriffsgeschichte erobern oder sie supplementieren, vielleicht auch nur verwirren. Wie ist es mit der von Goodwin eingeführten Differenz? Hätte es für die Bestimmung der „co-operative action“ Goodwins nicht genügt, festzuhalten, dass die kooperativen Fähigkeiten des homo sapiens sapiens „co-operative“ im Sinne der drei oben erwähnten Differenzierungen sind, statt zu betonen: „co-operative action is not the same as what evolutionary biologists, anthropologists, and psychologists investigate as cooperation“5? Ist das spieltheoretische Verständnis von „cooperation“ tatsächlich so dominant, dass man es als allgemeinen Tenor der Forschungsliteratur voraussetzen kann? Ist die von Goodwin zitierte Definition von Robert Boyd und Peter Richerson – „costly behavior performed
4 Vgl. Jacques Derrida, „Die différance“, in: ders., Die différance. Ausgewählte Texte, mit einer Einleitung hrsg. von Peter Engelmann, Stuttgart: Reclam, 2004, S. 110–149. 5 Goodwin, Co-Operative Action, S. 432.
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by one individual that increases the payoff of others“6 – wirklich die Standardbedeutung? Vielleicht war die Theorielage tatsächlich so einseitig, als Goodwin in den 1970er- und 1980er-Jahren zu seiner empirischen und theoretischen Argonautenreise aufbrach – jetzt ist das Vergangenheit. Die spieltheoretische Prägung des Begriffs der „cooperation“ erlebt seit Jahren eine stetig zunehmende Kritik, und die Fragestellung Goodwins, wie „Kooperation“ und lehr- bzw. lernbare „Kultur“ zusammenhängen, bestimmt mittlerweile nicht nur die Forschung, sondern auch den Begriff. Zumindest eine ganze Reihe von Evolutionsbiologen, Anthropologen, Ethnologen und Psychologen beschäftigt sich mit der von Goodwin charakterisierten „co-operative action“, und dies nicht zuletzt dank einer Auseinandersetzung mit Goodwin und der von ihm konsultierten Literatur. Es lässt sich einwenden, dass Goodwins Betonung des „ko-operativen“ sprachlichen Geschehens sich von allen anderen Forschungen unterscheidet, weil es nur durch sie gelingt, den Begriff von seiner auf Individuen abgestellten, aber „altruistischen“ Prägung abzugrenzen. Aber zum einen gibt es in der sozialanthropologischen Forschungsliteratur – die sich zu ihrem Glück von der Spieltheorie nicht beirren ließ – eine lange Tradition, die darauf verweist, dass „Kooperation“ auch unter Bedingungen der Rivalität vonstatten geht, ja, dass ein Janusgesicht aus Kooperation und Rivalität sehr stabile soziale Arrangements und ganze Gesellschaften hervorgebracht hat. Und zum anderen verweisen Goodwins Ausführungen durchaus auf die altruistische Konstitution jeder menschlichen Interaktion, und zwar auch im Sinne der von ihm zitierten Definition eines „costly behavior“: Wir assistieren und helfen einander, wir korrigieren einander, um uns zu assistieren, und ohne diese ständige wechselseitige Assistenz wüssten wir überhaupt nicht zu sprechen und zu handeln. Vielleicht gibt es keine aufregendere Versammlung von Beispielen für altruistisches Verhalten als Goodwins Buch. Es bleibt daher nur noch die von Goodwin betonte „akkumulierende“ Dimension der menschlichen „Ko-Operation“, um seinen Begriff vom „normalen“ Begriff der Kooperation zu unterscheiden. Und hier wäre die theoretische Aussage Goodwins schlicht und ergreifend die folgende: Menschliche „Kooperation“ ist „KoOperation“, sie verwendet die Abläufe und Bestandteile der eigenen und fremden „Operationen“ fortlaufend als ihr Baumaterial. Menschliche „Ko-Operation“ definiert das, was menschliche „Kooperation“ ausmacht.
6 Robert Boyd/Peter Richerson, „Culture and the Evolution of Human Cooperation“, in: Philosophical Transactions of the Royal Society 364 (2009), S. 3281–3288, hier: S. 3281. – Zitiert nach Goodwin, Co-Operative Action, S. 5.
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Aber dazu bedarf es keines neuen Begriffs. Betrachten wir eine andere Definition der menschlichen „Kooperation“, und zwar die Siegener: „die wechselseitige Verfertigung gemeinsamer Ziele, Mittel oder Abläufe“7, dann stellen wir fest, dass sie all das umfasst, was Goodwin in den Mittelpunkt stellt. Die Mittel und die Abläufe werden wechselseitig verfertigt, d. h. sie sind ko-operativ, indem man auf und mit den Operationen des Anderen operiert. Dabei entstehen gemeinsame Abläufe und Mittel, zumindest situativ geteilte gemeinsame Abläufe und Mittel. Jede von Goodwin vorgestellte AV-Sequenzdemonstration zeigt genau das: „eine wechselseitige Verfertigung gemeinsamer Ziele, Mittel oder Abläufe“, und zwar auch dort, wo dieses ko-operative Geschehen in einen Konflikt und einen Streit führt oder diese Mittel zum Schaden oder zum Nutzen des Gegners zweckentfremdet werden – denn in beiden Fällen bewegen sich die Beteiligten in einem gemeinsamen, von ihnen gemeinsam in Szene gesetzten Geschehen, und sie verwenden ad hoc geschaffene gemeinsame „öffentliche“ Mittel, ja, sie einigen sich sogar auf gemeinsame Ziele (z. B. darauf, sich zu streiten). Damit ist nicht gesagt, dass sich Goodwins Insistieren auf dem Unterschied von „cooperation“ und „co-operation“ nicht gelohnt hätte. Schließlich ist es Goodwin mit diesem Buch wie keinem anderen zuvor gelungen, das besondere sprachliche Können einer indexikalischen und inkrementellen Verfertigung aller sprachlichen Parameter zu demonstrieren, und zwar so, dass man nach seiner Lektüre weiß, dass in der alltäglichen Sprache, also in der Alltagssprache, nichts anderes als das stattfindet. Goodwin hat Recht: Jede menschliche und sprachliche Kooperation ist „co-operation“. Aber eben deshalb macht es wenig Sinn, diese These als Entdeckung eines ganz neuen Phänomenbereichs zu verstehen oder zu verkaufen. Die Grundaussage bleibt die gleiche: Menschliche „Co-Operation“ ist die besondere Form der „cooperation“ des homo sapiens sapiens. Der Titel von Goodwins Buch könnte daher auch lauten: „Human Cooperative Action“.
3 Die Fragestellung einer Konstitutionsanalyse Ist es Goodwin gelungen, das zu definieren, was den Menschen zum Menschen macht? Ich bin davon überzeugt, dass es ihm besser gelungen ist als allen bisheri-
7 Erhard Schüttpelz/Christian Meyer, „Ein Glossar zur Praxistheorie. Siegener Version“, in: Navigationen – Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften 17 (2017), S. 155–163.
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gen Interaktionstheoretikern und dass eine adäquate anthropologische Beschreibung des Menschen ohne eine solche Interaktionstheorie nicht möglich ist. 2013 hat Goodwin in einem Aufsatz die „ko-operative“ Struktur der menschlichen Handlungen vorgestellt und dabei den Aufbau seines späteren Buchs zum Teil vorweggenommen.8 Der Aufsatz tat dies in folgender Reihenfolge: 1. „Structure-preserving transformations on a public substrate“ 2. „The laminated organization of human action“ 3. „The accumulative power of the laminated structure of human action“ 4. „Co-operative transformation zones“ 5. „Human tools“ 6. „Building epistemically competent actors through co-operative action“ (einschließlich „professional vision“) Im Vergleich zum Aufsatz ist die Monografie sehr viel ausführlicher (20 Seiten gegenüber 500), sie beginnt aber mit den gleichen Beispielen und Begriffen. Dies gilt insbesondere für den Vergleich der sprachlichen Zusammenfügung fortlaufender heterogener Bestandteile, ihrer „Lamination“, mit materiellen Werkzeugen der Steinzeit, die ebenfalls und zum Teil ganz wörtlich „laminiert“, also zusammengeklebt, wurden. Dieses Bauprinzip, dieses „akkumulierende Moment“ zweier Bestandteile eines zusammengesetzten Artefakts steht am Anfang, und die Herausbildung spezialisierter „Akteure“ am Ende, im Aufsatz wie im Buch. Nur die „co-operative transformation zones“ spielen in der Monografie kaum noch eine Rolle, sie werden zweimal erwähnt und können daher terminologisch allem Anschein nach vernachlässigt werden. Trotzdem enthält der Aufsatz das Buch in nuce, denn die Reihenfolge der Kapitel führt ebenfalls vom ersten Beispiel des Aufsatzes bis zur Darstellung der „professional vision“. Wie begründet Goodwin selbst die Reihenfolge der Darlegungen seines Buches? Er tut es im Prinzip zweimal hintereinander, zuerst ganz summarisch,9 dann Kapitel für Kapitel.10 Beim ersten Mal geht es um die Phänomenbereiche, die vom Begriff der Ko-Operation betroffen seien; Goodwin nennt drei: Sprache, Sozialität und die Schaffung technisch versierter Akteure, anders gesagt: Sprache, Sozialität und „skill“. Die ausführlichere Kapitelgliederung wird von Goodwin ganz grob insbesondere mit folgenden Stichwörtern erläutert:
8 Vgl. Charles Goodwin, „The Co-operative, Transformative Organization of Human Action and Knowledge“, in: Journal of Pragmatics 46 (2013), S. 8–23. 9 Vgl. Goodwin, Co-Operative Action, S. 9–12. 10 Vgl. ebd., S. 12–17.
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– Sprache und Sozialisation – sprachlicher Einbezug der Umwelt und Antizipation des wechselseitigen Geschehens – Einbezug vergangener und abwesender Personen, auch in Gestalt von Dingen, sowie die Fähigkeit zur Pädagogik (für die Zukunft) – und abschließend: die Herausbildung besonderer Akteure und ihres besonderen Wissens. Bei der Lektüre des Buches stellt sich heraus, dass diese Aufteilung von Goodwin nicht durchgehalten werden kann, allein deshalb, weil er immer dieselben Beispiele verwendet, und so „spätere“ Kategorien bereits frühzeitig zur Sprache kommen oder zumindest durch ihre Beispiele bereits früher im Raum der Argumentation stehen. Ein Lieblingsbeispiel Goodwins für „professional vision“ ist etwa das pädagogische Verhalten von Archäologen bei der Ausgrabung, aber diese Archäologen treten bereits im ersten Drittel des Buches in Erscheinung und nicht erst am Ende, wenn es um „professional vision“ geht. Ähnlich verhält es sich mit den anderen von Goodwin verwendeten und definierten Kategorien und Beispielen. Eine lineare Anordnung aller Aspekte der „co-operative action“ ist vermutlich auch gar nicht möglich. Deshalb liegt dem Buch zwar ein systematischer Ansatz zugrunde, aber lesbar wird es eher als eine Art Kaleidoskop, in dem systematische Fragestellungen und aufschlussreiche Beispiele eine Serie von immer neuen Kombinationen eingehen. Wir sollten daher weniger fragen, ob es Goodwin gelungen ist, eine systematische Reihenfolge durchzuhalten, als vielmehr danach, welche systematische Reihenfolge ihm vorschwebte. Einmal ganz philosophisch gefragt: Ist die von Goodwin vorgestellte Reihenfolge als Konstitutionsanalyse oder zur Vorbereitung einer Konstitutionsanalyse geeignet? Wie plausibel sind die Übergänge der systematischen Darstellung? Gibt es Lücken oder Brüche? Ich versuche, die Kernthesen des Buchs zu paraphrasieren, weniger mit eigenen Worten, sondern „ko-operativ“ im Sinne Goodwins, also mit einem Gemisch aus alten und neuen Worten. Ich beziehe mich hier vor allem auf seine Ankündigung der Kapitel, und weniger auf die Kapitel selbst, in denen sich eine Verschachtelung der Darstellung durchsetzt, durch die im Prinzip keine Reihenfolge mehr vorgeschrieben ist. Gehen wir noch einmal von der „Sprache“ über die „menschliche Sozialität“ zur „Schaffung kreativer, geschulter Teilnehmer“:11 – Sprachliche Interaktion und sprachlich gestaltete Interaktion, Interaktion und Sprache sind nicht nur kooperativ, sondern vor allem ko-operativ, d. h.
11 Vgl. Goodwin, Co-Operative Action, S. 9–17.
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sprachliche Interaktion stellt ihren Teilnehmern „öffentliche“ Ressourcen zur Verfügung, die sich im Verlauf der Interaktion zusammenfügen lassen und auf diese Weise auch fortlaufend „akkumulieren“. – Die Zusammenfügungen der sprachlichen Interaktion basieren auf einer Kompositionalität, die sich durch gegenseitige Hilfestellungen auszeichnet und insbesondere durch viele kleine Störungen fortlaufend re- und dekomponiert wird. Die Kompositionalität der Sprache wird ko-operativ hervorgebracht, und zwar insbesondere durch diese Eigenschaften einer fortlaufenden Assistierbarkeit und Korrigierbarkeit. Nur das, was von anderen Teilnehmern korrigiert und als korrekturbedürftig erkannt werden kann, ist auch als sprachliche (lexikalische, syntaktische, prosodische, morphologische, pragmatische) ‘Einheit’ zu erkennen und zu behandeln. – Auf diese Weise bewohnen wir nicht nur die Sprache der anderen, sondern auch einen Teil ihrer Gedanken, nämlich das, was wir von einer Interaktion antizipieren können. Die wechselseitig noch in Verfertigung begriffenen sprachlichen Handlungen, Intentionen und Bedeutungen, die wir korrigieren können, können wir auch antizipieren; und alles, was wir antizipieren können, das können wir auch mitdenken, mitfühlen und mitbehandeln. Im Gegenzug werden wir von solchen Antizipationen mitgedacht, mitgefühlt und mitbehandelt – körperlich, geistig und sprachlich. Diese sprachlichen Vorgänge bilden daher zugleich die elementare Sozialität der Interaktion und eine „verteilte Kognition“ („distributed cognition“) im Sinne von Edwin Hutchins12 (einer wichtigen Inspirationsquelle für Goodwins Forschungen). – Wir bewohnen durch die gemeinsame und wechselseitig gestaltete Sprache nicht nur eine gemeinsam hervorgebrachte Sozialität und ihre „verteilte Kognition“, sondern auch ihre nicht-sprachliche Umwelt – mit Dingen, die wir besprechen, verwenden und modifizieren. Auch diese Dinge sind Teil der Sprache, durch ihren Einbezug als Sprache und sogar als Sprache-überSprache. Sprache macht nicht an den Grenzen zu den Dingen halt, denn auch diese bewohnen wir sprachlich. Wir können auf Dinge zeigen und eine gemeinsame Aufmerksamkeit auf sie richten – während wir sie besprechen, werden sie dann ebenso sprachlich sein wie unsere Worte. Wir können Dinge gemeinsam bearbeiten und dabei besprechen oder zuhören, wie andere das tun. Wir können unsere Worte, Bedeutungen und Intentionen durch das Zeigen auf Dinge klären – dann sind diese Dinge nicht nur Teil einer Sprache, sondern auch einer „Sprache über Sprache“.
12 Edwin Hutchins, Cognition in the Wild, Cambridge, MA: MIT Press, 1995.
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– Wir leben in der Sprache nicht nur mit Anwesenden, sondern durch die verwendeten Dinge gerade auch mit Abwesenden, die eben noch hier waren, die vorher hier waren, die vor langer Zeit hier oder anderswo waren und den Raum mit eingerichtet haben, also mit Vergangenen und mit Vorläufern. Hier fällt die Wechselseitigkeit zum Teil aus, aber wir antizipieren auch die zukünftigen Bewohner eines Raums, die in unserer Abwesenheit tätig sein werden, und richten uns immer wieder auf sie ein. Und wir sind fähig, unser Wissen durch seine Lern- und Lehrbarkeit für die Zukunft zu präparieren, zumal wir selbst durch eine solche Lehr- und Lernbarkeit – sprich: durch eine ‘Pädagogik’ – in vielen speziellen Fertigkeiten unterrichtet wurden. – Eine solche Pädagogik lässt modifizierte Personen, ein modifiziertes Wissen und ein entsprechendes Können gleichzeitig entstehen. Gibt es ein allgemeines Wissen und Können, das alle einbezieht, und ein besonderes Wissen, das besondere Personen schafft? Im Kulturvergleich und zwischen zwei Sprachen gibt es diesen Unterschied nicht, und innerhalb einer Kultur entstehen viele einzelne Spezialisierungen und zum Teil auch Professionalisierungen, die sich durch ein besonderes Wissen und Können auszeichnen. – Dieses Wissen und Können ist für andere Teilnehmer auch beim Zuschauen oder Zuhören unsichtbar und unhörbar. Es ist zwar ebenso ‘öffentlich’ wie das, was wir gemeinsam wahrnehmen und bearbeiten, aber nur für besonders ausgebildete Personen, und auch das nur während ihrer jeweiligen Zusammenarbeit. Aber dieses Wissen ist seinem Potenzial nach ebenso stabil wie ein allgemeiner verbreitetes Wissen und Können. Im professionalisierten Wissen und Können stoßen wir daher auf Eigenschaften, die Wissen und Können auch anderswo auszeichnen. Richtiges kooperatives Verhalten und richtiges Wissen verbinden sich hier mit der Herausbildung einer bestimmten Persönlichkeit. Auf diesem Wege hat Goodwins Darstellung einen großen Teil der Sprachtheorie, der elementaren Sozialtheorie und einen Teil der Kognitionstheorie aufgegriffen: – Grammatische Struktur, Prosodie, Gesten, Lexeme, Sprechakte (wenn man sie so nennen will) und insgesamt: die Kompositionalität und Dekomponierbarkeit, die Korrigierbarkeit und Antizipierbarkeit der Sprache – Interaktion, kooperatives Verhalten, Spezialisierung, Institutionen (zumindest in Gestalt der „Vorläufer“), Interaktion mit Anwesenden und Abwesenden, Materialität der Sozialbeziehungen – Antizipieren, den Geist der anderen bewohnen, zusammen antizipieren, korrigieren, gemeinsame und nicht-gemeinsame kognitive Tätigkeiten ausüben (erkennen, memorieren, fühlen usw.)
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Nun fallen diese drei Dimensionen aber nicht auseinander, sondern in Goodwins Darstellung fortlaufend zusammen. Ist die didaktische Reihenfolge somit auch eine konstitutionsanalytische? Vielleicht – zumindest kann man sie so lesen: – Ko-operatives sprachliches Verhalten ist auf die Reparierbarkeit der Interaktion angewiesen und erzeugt sie durch seine ständige Imperfektion auch selbst. Kompositionalität und Reparierbarkeit fallen in einer solchen Perspektive zusammen, d. h. nur das, was durch andere repariert und ergänzt werden kann, ist auch so gegliedert, dass es als Kompositionalität für andere erkennbar wird. Die Reparierbarkeit erzeugt Antizipationen, die gemeinsam eingelöst oder wechselseitig aufgelöst werden können. In Form der Reparierbarkeit und der Antizipation bezieht sich jede Ko-Operation auf die Vergangenheit und Zukunft des Interaktionsablaufs. – Vergangenheit und Zukunft werden prinzipiell doppelt wirksam: in der Situation durch die bereits erwähnten Grundoperationen der Interaktion (der Antizipation und Reparierbarkeit) und durch den Einbezug von Vergangenheit und Zukunft mithilfe anonymisierter Verallgemeinerungen. Die Vermittlung zwischen den Situationen und den anonymen Verallgemeinerungen wird praktisch gelernt und variiert in ganz verschiedenen Anwendungsfeldern. – Daher beinhaltet die Vermittlung zwischen Situationen und anonymen Verallgemeinerungen durch Spezialisierung bewirkte inkludierende Praktiken, aber auch Exklusionen und Exklusivität. Die Fragestellung der „co-operative action“ hat hier ihr Gegenteil erreicht: den Ausschluss von Unwissenden und Unbefugten, die Begründung der Nicht-Kooperation durch ‘Professionalität’. Diese Rekonstruktion geht weit über Goodwin hinaus. Sie sollte vor allem als ein Konsistenztest betrachtet werden: Ja, Charles Goodwins Reihenfolge der Darlegung ist ausgezeichnet und enthält eine passende Gliederung, die unter Umständen auch als Konstutionsanalyse dienen könnte oder ihr zumindest nicht im Wege steht. Damit, so könnte man sagen, ist der Begriff der „co-operative action“ abgearbeitet: Er beginnt mit einer echten konstitutionstheoretischen Einsicht (zur kooperativen „Kompositionalität“ aller sprachlichen Äußerungen) und endet mit dem Zusammenfall von Kooperation und Nicht-Kooperation, von Gruppeninklusion und Exklusivität. Zumindest lässt sich an diesen – notgedrungen etwas grob geratenen – Stichworten ablesen, dass Goodwin lange an der Frage gearbeitet hat, welcher der Parameter welchen anderen zur Erläuterung voraussetzt oder aus pädagogischen Gründen voraussetzen sollte. Der Aufbau folgt alles in allem, und das ist vielleicht doch weniger überraschend, einem allmählichen Übergang von den hic et nunc gebildeten und fortlaufend zur Verfügung gestellten Ressourcen der Interaktion
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(den kompositionalen, den laminierten und den materiellen Ressourcen) über den Einbezug der Zukunft und der abwesend-anwesenden Vergangenheit bis hin zu den beruflichen Spezialisierungen. Wobei man hinzusetzen muss, dass jede kooperative Interaktion fortlaufend ihre eigene indexikalische Vergangenheit bzw. Zukunft erzeugt, mit ihren je eigenen Erinnerungen und Antizipationen, und dass wir zumindest innerhalb einer Situation eine ganze Reihe gemeinsamer Erfahrungen machen, auf die wir ‘inkrementell’ zurückgreifen, d. h. durch Bezüge, die außerhalb der Situation unverständlich bleiben und nicht mehr aufgegriffen werden.
4 Chils Prädikation Ob das eine Konstitutionsanalyse ist oder zumindest in Teilen enthält, mögen spätere Interpreten anhand einer feinteiligeren Analyse entscheiden. Es bleibt ein imposanter Entwurf, zumal dann, wenn man ihn als einen ganz und gar empirisch abgesicherten Durchgang durch die aufgeworfenen Fragestellungen liest. Einige Übergänge scheinen angesichts des Programms etwas zu abrupt; und die Übergänge sind insgesamt nicht gleichgewichtig begründet. Bei der Einführung der nicht-anwesenden und unter Umständen nicht mehr lebenden ‘Vorläufer’ schreibt Goodwin im Prinzip nur, dass es sie gibt und dass sie (durch Medien, Materialien, materielle Arrangements) einbezogen sind. Außerdem macht er in einem eigenen Kommentar deutlich, dass er keinen Unterschied zwischen vergangenen Vorfahren und abwesenden Zeitgenossen machen will, kurz: dass es ihm (im Gegensatz zu Schütz) nur um die „abwesende Anwesenheit“ anderer Personen geht.13 Dieser Ad-hoc-Gebrauch mag für Goodwins Zwecke einer Interaktionsanalyse hinreichen; eine konstitutionsanalytische Begründung sieht jedoch anders aus. Die Schwierigkeiten ließen sich vermehren, was die Prägnanz der bereits skizzierten Einsichten indes nicht schmälert. Goodwins Monografie lässt uns die Freiheit, das Material noch einmal anders anzuordnen und auch die Begriffe und systematischen Einsichten anders zu gewichten. Mir geht es im Folgenden noch einmal um das Thema der kooperativen Natur des Titels und des homo sapiens sapiens. Ich hatte bereits erwähnt, dass das Buch auch „Human Cooperative Action“ heißen könnte; ein anderer möglicher Titel lautet „Cooperative Language“. Denn in der Tat ist dies eines der großartigsten sprachtheoretischen Bücher seit Karl
13 Vgl. Goodwin, Co-Operative Action, S. 250.
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Bühlers Sprachtheorie,14 und ich wünschte, diese Tatsache würde auch im Titel oder zumindest im Untertitel von Goodwins Monografie erscheinen, etwa durch folgenden Wunschtitel: Human Cooperative Action: How language lets us inhabit each other’s bodies and minds. Was lernen wir nun aus diesem Buch über Sprache? Eben das: wie wir wechselseitig durch sprachliche Interaktion die Körper und Gedanken anderer Menschen bewohnen. Und insbesondere für die Sprachtheorie ist es bedauerlich, dass Goodwin in seiner Betonung des ‘akkumulativen’ Charakters der menschlichen Interaktion den ‘altruistischen’ Charakter eben dieser Eigenschaft abschwächen wollte. Beide gehören nämlich unverbrüchlich zusammen, das eine erklärt das andere. Man muss Goodwin nur lesen, um darauf zu stoßen, dass jede „co-operative action“ auf eine wechselseitige Möglichkeit der Hilfestellung angewiesen bleibt, auf eine wechselseitige und damit ebenso ‘öffentlich’ sichtbare wie hörbare Assistierbarkeit. Vielleicht – um diese Tatsache noch deutlicher zuzu spitzen – kann man sagen, dass ‘Sprache’ nichts anderes ist als menschlicher ‘Altruismus’, oder im Gegenzug, dass sich der ‘Altruismus’ des Menschen zuerst und zuletzt in seiner ‘Sprachlichkeit’ verwirklicht.15 Die bekannten sprachlichen Möglichkeiten des ‘Turn-Taking’ und des ‘Repair’ bilden dabei nur einen Ausschnitt innerhalb eines umfassenderen Bereichs der Kooperation: dem der wechselseitigen körperlichen und sprach ilfestellung, der ‘Assistierbarkeit’. Diese Assistierbarkeit wird unter lichen H anderem ermöglicht durch die von Goodwin behandelte wechselseitige Antizipation der nächsten Spielzüge, die sich aus ihrer Sequenzialität speist. In besonders ‘schweren Fällen’ können Grundprinzipien der Assistierbarkeit besonders forciert werden, etwa die allgemeine Maxime eines kooperativen Geschehens: „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. Allerdings wird diese Maxime nicht als ‘Kategorischer Imperativ’, sondern im Rahmen der jeweiligen praktischen Umstände (Zeitnot, Kenntnisstand, bisheriger Verlauf einer Interaktion) wirksam. Die Reparierbarkeit richtet sich dabei, wie von Goodwin zu Recht betont, stets auf die (inkrementelle) ‘Kompositionalität’ eines Geschehens. Nur das Reparierbare kann kompositional sein. Selbst in Situationen, in denen einer der Interaktionspartner aphasisch ist, kann diese Assistierbarkeit sicherstellen, dass er als kompetenter Gesprächspart-
14 Vgl. Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena: Gustav Fischer, 1934. 15 Hier und im Folgenden verwende ich längere Passagen aus einem Manuskript, das von mir zusammen mit Christian Meyer geschrieben wurde; für die Fehler, die sich aus der Verwendung ergeben haben können, bin alleine ich (E. S.) verantwortlich.
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Abb. 1: Modifizierte Transkription einer kooperativen Verfertigung eines Redezugs, erstellt nach: Goodwin, Co-Operative Action, S. 69, Abb. 5.1.
ner erfolgreich an Interaktionen teilnehmen kann. Charles Goodwin hat dies in zahlreichen Texten herausgearbeitet, vor allem in seinem Paradebeispiel für „cooperative action“, das sowohl den bereits erwähnten Aufsatz von 2013 als auch sein Buch eröffnet, wo es gleich mehrfach ausführlich diskutiert wird. Goodwins Vater Chil, der aufgrund eines Schlaganfalls nur noch „Ja“, „Nein“ und „Di“ sagen kann, lenkt über seine Gesten Goodwins Ehefrau, Marjorie Harness Goodwin, genannt Candy, die Chils Beiträgen ihre Stimme leiht. Auf ihre Äußerung, dass es bei Chil in diesem Jahr nicht viel geschneit habe (Z. 1), im letzten Jahr jedoch schon (Z. 10), korrigiert sie Chil durch ein „°yeah- No No. No:.“, das er mit einer Geste seiner linken Hand spezifiziert. In dieser Geste vollzieht er eine Schrittbewegung, indem mit seiner Hand einen Halbkreis von einer Stelle zur anderen ausführt (Abb. 1). Trotz seines stark reduzierten Sprachvermögens ist Chil dazu in der Lage, einen Redezug in der Konversation zu leisten, der sowohl komplex als auch präzise ist: Im Gegensatz zu dem, was Candy ursprünglich in Z. 10 vorgeschlagen hat, war es nicht „letztes Jahr“, sondern „vorletztes Jahr“, als es viel Schnee gab. Chils Jas und Neins haben eine so starke indexikalische Komponente, dass sie es ihm erlauben, sie als Ressource für die detaillierte Strukturierung von Candys Äußerung zu verwenden und seine gestisch explizierten Korrekturen in diese zu integrieren. So ist (in der AV-Aufzeichnung) in Z. 13 zu hören, wie er genau dem, was Candy in Z. 12 gesagt hat, widerspricht und dem, was sie in Z. 14 sagt, zustimmt. Es lohnt sich, Goodwin zu zitieren und ihn dann noch einmal zu paraphrasieren, auch um seine terminologischen Fügungen auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen. Seine besten terminologischen Einfälle sind meist selbst wie eines der von ihm besprochenen Steinwerkzeuge: aus mehreren Bestandteilen laminiert und zu einer spezialisierten Schlagfertigkeit verbunden.
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In diesem Fall lautet sein terminologischer Vorschlag „Indexical Incorporation“16. Erläutert wird er wie folgt: By interrupting Candy’s „In the last year“ before it has even reached completion, Chil vividly marks precisely that talk as what his „No No. No:.“ is emphatically objecting to. By using proximity in this way he refers to Candy’s talk indexically. Indexical incorporation is among Chil’s most powerful meaning-making resources. His operations on Candy’s talk […] create a path […] through which what Candy said, including her use of rich language to state a specific proposition, can flow into Chil’s utterance. Through indexical incorporation Chil’s tiny lexicon can be used to create utterances with rich semantics, and to state varied, complex propositions. It is the key to his ability to reuse accumulatively for his own purposes complex resources created by others. The practices being examined here are clearly relevant to Volosinov’s arguments about how in reporting another’s speech we simultaneously provide a new commentary on it, to Goffman’s deconstruction of the speaker in „Footing“ and to the Bakhtinian argument that the dialogic organization of language and culture is made possible by our capacity to rent and reanimate the voices of those who preceded us. There are, however, some crucial differences. The practices being examined here are not restricted to reported speech, or intertextual use of another’s language, but emerge as a pervasive feature of the generic indexical organization of language and action.17
Wie lassen sich diese Ausführungen zur „indexikalischen Inkorporation“ auf die oben gegebene Zusammenfassung des Buchs beziehen? „Indexikalische Inkorporation“ ist ein Ad-Hoc-Begriff für das Vermögen, das soeben – oder sogar noch laufende, also ‘währenddessen’ – Gesagte in die eigene Äußerung einzubeziehen oder aber im Gegenzug sich so in eine fremde Äußerung einzuklinken, dass diese dabei gleichzeitig kommentiert und modifiziert und eine frühere eigene Äußerung zusammen mit dem gemeinsamen Wissen der Beteiligten vervollständigt wird. Die hierfür erforderliche „Deixis“ oder „Indexikalität“ verläuft quer zu den von Bühler sortierten Arten18 (Deixis im anwesenden Raum; pronominale Deixis zum sprachlichen Rückbezug; Deixis am Phantasma), denn sie bezieht sich gleichzeitig auf Abwesendes oder Vorgestelltes, auf eine vorausgegangene sprachliche Einheit und auf den anwesenden Raum, der metaphorisch dafür genutzt wird, um eine Geste des „Überspringens“ zu improvisieren oder aus dem Hut zu zaubern (das „Überspringen“ soll bedeuten, dass es ein Jahr früher gewesen ist, dass ein Jahr übersprungen werden muss). Aber auch die von Goodwin am Ende des Buches noch einmal bemühten drei Zeichenklassen
16 Goodwin, Co-Operative Action, S. 73. 17 Goodwin, Co-Operative Action, S. 73 f. 18 Vgl. Bühler, Sprachtheorie, Kapitel II.
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von Charles Sanders Peirce werden gleichzeitig durch Chil aktiviert: „No“ ist ein reguläres englisches Wort, aber die Geste ist gleichermaßen ikonisch wie indexikalisch. Jede Analyse gesprochener Sprache führt in diese ausweglose Komplexität der Darstellung: alles, was in der sprachlichen Interaktion geschieht, fraktalisiert und unterläuft die viel zu groben semiotischen und grammatischen Kategorien, die ja bekanntlich nicht der Welt der AV-Sequenzanalysen entstammen, sondern der Welt der schriftlichen und selbsterfundenen Beispiele. Wir bräuchten daher ganz neue Kategorien und können Goodwin dankbar sein, dass er dutzende solcher Anläufe genommen hat, das sprach- und interaktionstheoretische Vokabular zu ergänzen. Ob die „indexikalische Inkorporation“ dem terminologischen Test der Zeit standhalten wird, wissen wir nicht. Versuchen wir daher lieber, die Terminologie in ganzen Sätzen zu paraphrasieren: Sprachliche Interaktion erweist sich hier wie anderswo als ein sich ständig entfaltender Prozess der wechselseitigen Verfertigung; und diese Verfertigung setzt das soeben Geschehene nicht nur voraus, sondern gibt ihm eine neue Verwendung, eine neue Bedeutung, und zwar auf eine in keinem bisherigen Repertoire vorgesehene Weise. Sobald mehrere Personen sich zusammen einer sprachlichen oder sprachlich besprochenen Aufgabe widmen, etwa der Rekonstruktion einer Geschichte oder (wie in diesem Fall) einer vergangenen Episode, kommen verschiedene Ressourcen zum Einsatz, deren wechselseitige Hilfestellung zu überraschenden ‘Erläuterungskombinationen’ (meine Ad-Hoc-Paraphrase für Goodwins „indexical incorporation“) führen. Diese „ko-operative“ Verfertigung aus fortlaufend akkumulierten und wieder verschwindenden, weil an den Moment gebundenen Bestandteilen und Kombinationen ist zugleich eine wechselseitige Hilfestellung, die auch in ihrem Fehlen dort besonders stark auffällt, wo die Ressourcen asymmetrisch verteilt sind und dennoch überbrückt und durch ihre Neubildung – wie im Beispiel von Chil und Candy – zum Teil auch ausgeglichen werden.
5 Textwissenschaft und Improvisation Das klassische textwissenschaftliche Repertoire der Logik, Grammatik und Rhetorik kommt hier an seine Grenzen, und es lohnt sich, diese Grenzen genauer zu benennen. Um diesen einen kurzen Wortwechsel zwischen Chil und Candy zu erläutern, müsste man den gesamten Apparat der logischen, grammatischen und rhetorischen Terminologie heranziehen, und käme dann doch nur zur Einsicht, dass die ko-operative Konstitution des Geschehens eine Improvisation gewesen
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ist, die sich keinem der aufgerufenen logischen, grammatischen oder rhetorischen Schemata verdankt: – Logisch betrachtet, ist die Prädikation schon im Raum, sie wird mit einer Referenz versehen; diese Kombination wird allerdings verneint, worauf in die ‘Argumentstelle’ der Prädikation (wie in einer mathematischen Funktion: ‘Fx’) ein anderes Argument eingesetzt wird, dies aber durch eine improvisierte (rhetorische) Figuration: „Es hat dieses Jahr nicht so stark geschneit. Aber letztes Jahr. Nein, nicht letztes Jahr, sondern das Jahr davor.“ Aber es gibt keine reguläre Übersetzbarkeit oder ‘Abbildbarkeit’ zwischen diesen extrapolierten (einer logischen Form unterworfenen) Sätzen und den tatsächlichen Fragmenten des Dialogs. Diese Abbildbarkeit müsste die grammatische Strukturierung sicherstellen. Und für diese gilt: – Grammatisch betrachtet, wird der ‘vollständige Satz’ von allen Beteiligten erst nach und nach zusammengestückelt und bleibt in jeder Fassung ‘elliptisch’; außerdem changiert der Aussagemodus zwischen Frage, Konditionalbehauptung und Behauptung (bzw. Korrektur, d. h. einer Kommentierung fremder Äußerungen). Der ‘vollständige Satz’ ist nirgendwo formuliert, sondern lässt sich nur erschließen; er wird aber von den Beteiligten gemeinsam gebildet und anscheinend auch gemeinsam verstanden: „Chil antwortete, dass es nicht letztes Jahr war, sondern das Jahr davor“. So könnte eine Zusammenfassung für Außenstehende lauten. Was Chil gesagt hat, war aber nur „No No. No:.“ – mit einer Begleitung dieser Worte durch eine Handgeste des Überspringens. Hat er auf eine Frage geantwortet oder in eine Aussage interveniert? Auch das ist Interpretationssache. Nirgendwo hat ein ‘vollständiger Satz’ stattgefunden; gleichwohl haben ‘diesen Satz’ alle Anwesenden verstanden oder im Nachhinein ‘retrozipiert’, so wie sie auch die ganze Zeit einen möglichen Aussagesatz mit Prädikation und Referenz antizipiert haben. Aber weil Chils Verneinung und Richtigstellung improvisiert wurde, kann dem ‘retrozipierten’ Aussagesatz keine Planung und kein Satzschema zugrunde gelegen haben, das alle Beteiligten schon vorher ‘im Kopf hatten’ oder auf das sie sich eingestellt hatten. – Rhetorisch gesehen, war die Geste des Überspringens der entscheidende Clou; es handelte sich um eine figurative Aufforderung, „ein Jahr zu addieren“, oder genauer: „ein Jahr zu überspringen, um auf das richtige Jahr zu kommen“. Aber nur im Kontext dieses Wortwechsels bedeutete diese Geste eine solche Aufforderung; es handelte sich nicht um eine konventionelle Möglichkeit der Aufforderung zur Re-Datierung. Nur in diesem Zusammenhang, dafür aber allem Anschein nach auf eindeutige Weise, bedeutet die Geste: „Es war (ein Jahr) davor.“ Und erst durch diese Improvisation entsteht zugleich die logi-
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sche und grammatische Form der zusammengestückelten bzw. ‘retrozipierten’ Aussagen, Äußerungen und Interaktionsabläufe. Das heißt, die logische und die grammatische Form entsteht durch ein improvisiertes rhetorischfiguratives Mittel, das weder in der Logik noch in der Grammatik vorgesehen war, aber ohne Weiteres sofort einleuchtete. Mit dem rhetorischen Fachausdruck: durch eine Katachrese. Das klassische textwissenschaftliche Repertoire der logischen, grammatischen und rhetorischen Terminologie und terminologischen Zuschreibungen bewährt sich auf diese Weise. Vermutlich hat es sich bei der Interpretation mündlicher Sprache immer nur so und nicht anders bewährt: indem es angesichts von Chils Improvisation ebenfalls zur Improvisation gezwungen wird, wie in jeder einschlägigen Literaturinterpretation und wie in jeder einschlägigen AV-Sequenzanalyse. Die interpretierende Improvisation, die wir bei Chil und seinen Angehörigen beobachten können, erstreckt sich auch auf die Verwendungen der logischen, grammatischen und rhetorischen Terminologie und deren Anwender. Die Analyse gesprochener Sprache ist allem Anschein nach eine teilnehmende Beobachtung: Wir müssen die Tatbestände noch einmal bilden, die ein Sprachereignis ausmachen, und dazu verwenden wir die Schematisierungen, die uns in Grammatik und Logik angeboten werden, ebenfalls in Form einer Improvisation, nicht in Form einer Ableitung. Die Schematisierungen, die wir bilden, um ein Sprachereignis zu interpretieren, sind sehr viel weniger fixiert als die Schemata, die wir hierfür zugrunde legen, und sobald wir es mit einer rhetorischen Figur zu tun haben, kann sich die Interpretation zu einer Improvisation entwickeln, die ebenso ereignishaft und unvorhergesehen verläuft wie das Interpretierte. Wir denken vielleicht, wir würden einen Bestand fester Schemata heranziehen, um ein einmaliges Sprachereignis zu erklären, aber auf diesem Wege bilden wir ein weiteres einmaliges Sprachereignis, das im Repertoire nicht vorgesehen war, und verwandeln dafür alles, was vorher stabil erschien, in einen Teil dieser transitorischen und improvisierten Welt. Diese Tatbestände sind aus der Literaturinterpretation gut bekannt und gehören in diesem Sinne zum Repertoire der Textwissenschaften. Aber die mündliche Sprache erweist sich als subtiler als die schriftlich verfasste Literatur, und zwar aufgrund ihrer kooperativen Verfassung: Wir haben es mit einem Geschehen zu tun, in dem nicht nur die logischen, grammatischen und rhetorischen Attributionen improvisiert werden müssen und eine improvisierende Interpretation verlangen, sondern in der auch die Personen auf eine ganz andere Weise verflochten sind, als dies in Schriftstücken gemeinhin vorausgesetzt wird. Aus dieser Einsicht in die wechselseitige Konstitution des „ko-operativen“ und „kooperativen“ Handelns können für die Sprachtheorie Schlussfolgerungen
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in einer schwachen und einer starken Version gezogen werden. Die schwache Version besagt, dass die natürlichsprachige ‘Grammatikalität’ und ihre (grammatische, logische, rhetorische) Kompositionalität an demonstrierbare Korrigierbarkeiten und ‘Repairs’ gebunden sind und ohne wechselseitige Korrigierbarkeit keine ‘Regeln’ existieren können. Die starke Version der Schlussfolgerung geht einen Schritt weiter und besagt, dass die natürlichsprachige ‘Grammatikalität’ nichts als eine (sprachlich thematisierbare) Manifestation der wechselseitigen Korrigierbarkeit sprachlicher Praktiken und der wechselseitigen Hilfestellung von Praktiken überhaupt sei. Das vorangegangene Beispiel zeigt zugleich, dass sprachliche Interaktion, sprachlich gesteuerte Interaktion und sprachlich besprochene Interaktion nur nominell auseinanderzuhalten sind. Anders gesagt: Sprache und Interaktion sind nur nominell unterscheidbar – eine Erkenntnis, die es einer zukünftigen Sozialtheorie und Sprachtheorie nicht unbedingt leichter machen wird. Wie Goodwin demonstriert, sind menschliche Praktiken zugleich besprochene Praktiken, und sie bleiben fortlaufend besprochene Praktiken. Jede sprachlich gestaltete oder mitgestaltete Interaktion entwickelt eine doppelte ‘Gegenständlichkeit’, ein fortlaufendes doppeltes ‘Gegenständlichwerden’ der Sprache. Sie entwickelt eine Übergängigkeit zwischen Sprache und sprachbezogener Welt, zum einen insbesondere durch Zeigegesten, durch Deixis, durch „environmentally coupled gestures“ und durch Veranschaulichungen des „So“ („genau so sah das aus“, „ungefähr so wie hier“), und zum anderen durch die fortlaufende Rückbezüglichkeit und Reinterpretation der verhandelten sprachlichen Größen, kurz: durch die Übergängigkeit zwischen Sprache und Sprachbesprechung. Insgesamt gilt: Jede Sprachbesprechung macht die Sprache zu ihrem eigenen Gegenstand und damit zu ihrem eigenen Medium. Manifestationen dieser sprachlichen Eigenschaft sind insbesondere das Zitieren und Kommentieren, die Zitierbarkeit und Kommentierbarkeit jeder Äußerung. Zitierbarkeit und Explizierbarkeit treten dabei, wie bei Chil und Candy und in allen Beispielen Goodwins, nicht zur laufenden Äußerung hinzu, sondern sind Eigenschaften des laufenden Vollzugs selbst: In der Interaktion werden alle Äußerungen fortlaufend und itierbarkeit wechselseitig zitierbar und explizierbar gemacht und gehalten. Die Z und Explizierbarkeit steht dabei im Verlauf des Geschehens ständig zur Disposition. Denn auch die Personen- und Handlungszuschreibungen werden in der mündlichen Interaktion improvisiert und können daher weder im Alltag noch in seiner AV-Sequenzanalyse durch die Zuweisung von Sprechakten und deren Inhaber geklärt werden. Harold Garfinkel und Harvey Sacks haben bereits vor 50 Jahren ein Beispiel dafür gegeben, dass der Vorgang der alltagshermeneutischen Deutung sprachlicher Vorgänge ganz grundlegend aus Umdeutungen und ‘Vertuschungen’ besteht:
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Die Bestätigung eines Ereignisses, das man eigentlich nicht beabsichtigt hatte, illustriert eine Praktik, mittels derer eine Eindeutigkeit innerhalb eines Konversationsablaufs entdeckt wird, wobei das Interessante darin zu sehen ist, daß die Eindeutigkeit dadurch hergestellt wird, daß man die Unterschiede in der zeitlichen Abfolge der Herstellung des Ereignisses und der Darstellung des hergestellten Ereignisses ausnützt. Das Verfahren läuft wie folgt: Man unterhält sich mit einer anderen Person. Die Person lacht. Man ist momentan überrascht, da man nicht beabsichtigt hatte, einen Scherz zu machen. Wenn man die Person lachen hört, lächelt man selbst zurück, um dem Lachen der anderen Person das Merkmal zu verleihen, daß sein [sic!] Lachen den eigenen Witz entdeckte, aber man verbirgt die Tatsache, daß die andere Person, als sie lachte, einem selbst die Gelegenheit verschaffte, ‚einen Gewinn zu verbuchen‘, den man eigentlich nicht angestrebt hatte.19
Je genauer man den Alltag durch AV-Sequenzanalysen beobachtet, desto mehr stößt man auf Situationen, in denen Ereignisse vorausgesetzt werden, die gar nicht stattgefunden haben – mitsamt Handlungszuschreibungen, die nachweislich falsch sind, aber retrospektiv zur Voraussetzung für weitere Handlungszuschreibungen gemacht werden. Eine ganze Dimension der wechselseitigen Zuschreibung und Zurechnung wird sichtbar: man könnte sie die wechselseitige ‘Retrozeption’ nennen (was ich oben bereits getan habe und hiermit retrospektiv legitimiere), das Pendant zur wechselseitigen ‘Antizipation’ des Geschehens. Weil wir unaufhörlich damit beschäftigt sind, die Äußerungen der anderen zu antizipieren und mitunter sogar zu korrigieren, bevor sie geschehen sind, sind wir auch so gut darin, das soeben Geschehene oder noch laufende Geschehen zu ‘retrozipieren’ und dadurch die Handlungsgrenzen zwischen den Beteiligten fortlaufend zu verwischen und neu zu verteilen. Zitierbarkeit wird auf diese Weise vorausgesetzt, aber sie wird auch neu verteilt; sie wird antizipiert, aber auch retrospektiv umverteilt, verwischt und vertuscht. Vielleicht verstehen wir dadurch zugleich besser, was bei einer grammatischen, rhetorischen und logischen Analyse mündlicher Sprache und ihrer Transkripte geschieht: In diesen Fällen ‘retrozipieren’ die Sprachbeobachter mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln und weisen die zugrunde gelegten Schemata zugleich als mögliche ‘Antizipationen‘ eines analogen Geschehens aus, das sie selbst in Szene setzen. Wenn man genauer hinschaut, stellt man, wie oben dokumentiert, fest, dass der Verlauf einer solchen Zuweisung von Schemata und ihren Regeln nicht in Form einer schemageleiteten Antizipation gelingen kann. Die grammatischen, rhetorischen und logischen Beobachter improvisieren ebenso
19 Harold Garfinkel/Harvey Sacks, „Über formale Strukturen praktischer Handlungen“, in: Elmar Weingarten/Fritz Sack/Jim Schenkein (Hrsg.), Ethnomethodologie. Beiträge zur Soziologie des Alltagslebens, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 21979, S. 130–176, hier: S. 171.
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wie Chil und seine Zuhörer und Zuschauer. Grammatische Kommentierungen der Alltagssprache und retrospektive Umverteilungen und Verwischungen eines sprachlichen Geschehens sind sprachtheoretisch gesehen von gleicher Machart, und daher funktionieren sie auch gleichermaßen gut und gleichermaßen auf ihre Anlässe beschränkt. Diese Einsicht ist keineswegs als Kritik gemeint. Wenn Alltagssprache und Wissenschaftssprache auf dieselben Mittel der Antizipation und Retrozeption angewiesen bleiben, geht es darum, diese Mittel genauer zu bestimmen, ohne sie aus der Wissenschaft zu verbannen oder sie zu beschönigen. Im Gegenteil, nur durch diese Gemeinsamkeit wird wiederum klarer, worin die Nachvollziehbarkeit und Kompositionalität sprachlicher Vorgänge besteht. Goodwin verweist bei seiner oben zitierten Kommentierung Chils und Candys zur Erläuterung dieser Sachlage auf die grundlegende Kennzeichnung Volosinovs, allerdings ohne sie zu zitieren: „Die ‚fremde Rede‘, das ist die Rede in der Rede, die Äußerung in der Äußerung, doch gleichzeitig ist es auch die Rede von der Rede, die Äußerung über die Äußerung“.20 Jede Äußerung muss damit rechnen, durch ihre Zitierbarkeit kommentierbar zu werden, also Gegenstand eines möglichen Kommentars oder einer anderen Weiterverwendung zu werden. Die Zitierbarkeit, die Kommentierbarkeit (auch durch ein kurzes Einhaken oder eine anders betonte Wiederholung), die gegenseitige Instrumentalisierung oder ‘Zweckentfremdung’, die Kombinierbarkeit und die wechselseitige Korrigierbarkeit, sie sind allesamt aus demselben Holz geschnitzt. Das alles, könnte man sagen, sind auch die Eigenschaften von ‘Texten’: dass sie zitierbar sind, kommentierbar, für andere Zwecke instrumentalisierbar, korrigierbar und kooperativ verwendbar. Und vielleicht ist das ein erstes Ergebnis der Epoche der AV-Sequenzanalysen: dass es nichts in der Sprache gibt, keine Parameter, keine ‘Einheiten’, keine Wiederholung und keine Improvisation, nichts, das nicht in einem ganz elementaren Sinne für alle Beteiligten schon ‘Text’ ist und als ‘Text’ entsteht: zitierbar, kommentierbar, für andere Zwecke instrumentalisierbar und korrigierbar. Der schriftliche Text ist nicht deswegen ein Text, weil es in der mündlichen Sprache schon ‘Texte’ gibt, die wie schriftliche Texte auch wiederholbar, zitierbar und reproduzierbar sind, sondern weil es in der mündlichen Sprache nichts gibt, das kein ‘Text’ werden kann – wenn auch in Gestalt einer Zitierfähigkeit, Korrigierbarkeit und Improvisationsfähigkeit, die alle schriftlichen Formen durch ihre Komplexität übertrifft. Ein Grund mehr, wie
20 Valentin N. Volosinov, Marxismus und Sprachphilosophie. Grundlegende Probleme der soziologischen Methode in der Sprachwissenschaft, hrsg. und eingeleitet von Samuel M. Weber, Berlin 1975, S. 178 (Hervorhebungen von mir, E. S.).
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Charles Goodwin an einer Terminologie zu arbeiten, die dieser Sachlage eines Tages gerecht werden könnte.
Verzeichnis der zitierten Literatur Boyd, Robert/Peter Richerson, „Culture and the Evolution of Human Cooperation“, in: Philosophical Transactions of the Royal Society 364 (2009), S. 3281–3288. Bühler, Karl, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena: Gustav Fischer, 1934. Derrida, Jacques, „Die différance“, in: ders., Die différance. Ausgewählte Texte, mit einer Einleitung hrsg. von Peter Engelmann, Stuttgart: Reclam, 2004, S. 110–149. Garfinkel, Harold/Harvey Sacks, „Über formale Strukturen praktischer Handlungen“, in: Elmar Weingarten/Fritz Sack/Jim Schenkein (Hrsg.), Ethnomethodologie. Beiträge zur Soziologie des Alltagslebens, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 21979, S. 130–176. Goodwin, Charles, „The Co-operative, Transformative Organization of Human Action and Knowledge“, in: Journal of Pragmatics 46 (2013), S. 8–23. Goodwin, Charles, Co-Operative Action, Cambridge: Cambridge University Press, 2017. Hutchins, Edwin, Cognition in the Wild, Cambridge, MA: MIT Press, 1995. Schüttpelz, Erhard/Christian Meyer, „Ein Glossar zur Praxistheorie. Siegener Version“, in: Navigationen – Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften 17 (2017), S. 155–163. Volosinov, Valentin N., Marxismus und Sprachphilosophie. Grundlegende Probleme der soziologischen Methode in der Sprachwissenschaft, hrsg. und eingeleitet von Samuel M. Weber, Frankfurt/Berlin/Wien: Ullstein, 1975.
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Prädikation? Information? Diakrise? Zur Funktion und inneren Struktur der minimalen Äußerung zwischen Semantik, Syntax und Pragmatik 1 T ì katà tinós: Syntax, Semantik oder Pragmatik? Der Begriff der Prädikation ist wohl einer der vielfältigsten und vieldeutigsten Begriffe in der langen Geschichte der europäischen Sprachreflexion; dementsprechend divers ist das Verständnis der zuzuordnenden Alternativ-, Komplementär- und Teilbegriffe, wie Prädikat, Subjekt, Argument, Referenz etc. Die allgemeinste Bestimmung von Prädikation ist „die Zuordnung einer bestimmten Eigenschaft zum Träger dieser Eigenschaft“. Dies ist die Formulierung, mit der zu dem Kolloquium eingeladen wurde, das Anlass für diesen Beitrag war, mit der Intention, in dieser Struktur das konstituierende Element zu finden, das den sprachlichen Text von allen anderen semiotischen Gebilden unterscheidet, die man in der Vergangenheit ebenfalls als Text hat beschreiben wollen. Allerdings birgt diese Bestimmung in ihrer Allgemeinheit nicht nur eine gewisse Zirkularität (die beiden Elemente ‘einem Träger zugeordnete Eigenschaft’ und ‘Träger dieser Eigenschaft’ verweisen jeweils aufeinander), sondern sie lässt auch die übliche, bei allen semiotischen Objekten gegebene Frage offen, welcher Aspekt hierbei gemeint ist – die materielle Realität des Zeichens, seine abstrakte ‘Form’ bzw. die formale Operation, die damit verbunden ist, die kommunikative Operation oder der kognitive Effekt? Mehrere dieser Ebenen sind bereits bei Aristoteles im Spiel, wenn er ónoma und rhêma (üblicherweise interpretiert im Sinne der syntaktischen Kategorien Nomen und Verb) als zunächst reine Elemente der phásis („Äußerung“) einführt, an anderer Stelle das rhêma als ein „von etwas anderem gesagtes Zeichen“ (kath’ hetéru legoménōn sēmeîon) definiert; erst hierdurch wird aus der Äußerung eine apóphasis, ein „Urteil“, in dem, ebenso allgemein und in ähnlich geschlossener Gegenseitigkeit wie im obigen Zitat, die beiden Elemente nur aus einander (tì katà tinós, „etwas über etwas“) abgeleitet sind.1 Dabei sei ‘Zirkularität’
1 Begriffe übernommen aus Perí hermeneías, Kap. 3, 5. Die ‘Zirkularität’ ist noch stärker ausgeprägt im Begriffspaar kategorúmenon/hypokeímenon („das von etwas Ausgesagte“ und „das, https://doi.org/10.1515/9783110715514-006
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hier nicht im Sinne einer defekten Definitionslage verstanden: tatsächlich ist die Gegenseitigkeit nicht völlig geschlossen; denn zum einen ist ja in den beiden Pronomina jeweils auch eine Referenz auf etwas außerhalb der Prädikation Liegendes gegeben; zudem wird unterstellt, dass durch die Zusammenfügung zweier Elemente die phásis zur apóphasis wird, modern ausgedrückt: dass die Äußerung, der lokutionäre Akt, wie John Austin sagen würde, zum illokutionären Akt wird, somit einen Bezug zum Sprecher und zur ‘Welt’ bekommt: Mit der Illokution, zumindest im grundlegenden Fall der Assertion, legt sich der Sprecher auf einen gewissen Zustand der von ihm besprochenen ‘Welt’ fest, wonach die prädizierte Eigenschaft dem benannten Gegenstand in dieser ‘Welt’ tatsächlich anhaftet. Es zeigt sich hier schon, dass die verschiedenen semiotischen Ebenen der syntaktischen Form (so zumindest hat man Aristoteles’ Unterscheidung von ónoma und rhêma gelesen), der Semantik bzw. Referenz (darauf verweisen die Pronomina tí und tinós) und der Pragmatik (nämlich in der apóphasis oder Aussage) vorhanden sind. Es ist hier nicht der Ort, die mehr als zweitausendjährige Geschichte der Figur des tì katà tinós und ihre verschiedenen Interpretationen nachzuzeichnen.2 Selbst die erfolgreichste terminologische Version, das Paar Subjekt/Prädikat, bleibt durch die Geschichte hindurch unscharf bezüglich der Frage, inwiefern damit syntaktische Entitäten (etwa Substantive im Nominativ bzw. finit konjugierte Verben), inwiefern deren übliche semantische Korrelate (Gegenstände, Eigenschaften, Vorgänge, Relationen), inwieweit solche pragmatischen Operationen wie das Äußern eines Urteils über die Welt gemeint sind. Wenn es denn die Aufgabe einer formalen sprachlichen Struktur wie dem finitverbalen Satz ist, mittels seines semantischen Gehaltes etwas über die ‘Welt’ zu sagen, also ein ‘Urteil’ zu fällen, so mag es für den Philosophen offenbleiben, ob er diese pragmatische Operation als solche anspricht oder mittels der sie ermöglichenden semantischen oder syntaktischen Operation. Diese semiotische Frage interessiert eher die Linguistik. Ich werde in der Folge zu zeigen versuchen, dass jede dieser Ebenen etwas besitzt, das in die Idee von der Prädikation eingegangen ist; bzw.
was dieser Aussage zugrunde liegt“, so vor allem in Aristoteles’ Kategorien). Diese gelten als das terminologische Vorbild des Begriffspaars Subjekt/Prädikat; allerdings sind gerade sie wohl eher als ontologische denn als grammatische oder sprachpragmatische Begriffe zu verstehen – vgl. Rudolf Rehn, „Subjekt/Prädikat I. Antike“, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel: Schwabe, 1998, S. 433–437, hier: S. 433 f. 2 Einige Hinweise, auch zur mittelalterlichen Geschichte dieser Idee, finden sich bei Manfred Krifka/Renate Musan, „Information structure: overview and linguistic issues“, in: dies. (Hrsg.), The Expression of Information Structure, Berlin/Boston: de Gruyter, 2012, S. 1–43, hier: S. 26.
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dass die Frage, wie die elementare Äußerung strukturiert ist, für jede dieser Ebenen getrennt zu betrachten ist.
2 Prädikation – Urteil – Assertion Auch unter philosophischer Perspektive ist allerdings zu fragen, ob die Verknüpfung eines Prädikats mit einem potentiellen Eigenschaftsträger oder die Verknüpfung zweier Argumente durch einen relationalen Ausdruck notwendig mit dem Geltungsanspruch zusammenfällt, dass diese Zuweisung auch zutrifft. Neben Sätzen wie Das Auto ist rot gibt es ja auch Ausdrücke wie dass/ob/falls das Auto rot ist oder das rote Auto, in denen das Zutreffen der Eigenschaft nur als Möglichkeit, als Bedingung, eventuell sogar als Nicht-Gegebenes ins Auge gefasst, nicht jedoch behauptet wird. Am klarsten und folgenreichsten hat Gottlob Frege in seinem Vorschlag zu einer Begriffsschrift diesem Unterschied Rechnung getragen durch die Unterscheidung zwischen reiner Vorstellungsverbindung und Urteil.3 Das Urteil wird formal dargestellt durch einen senkrechten Strich, der eine ganze, einfache oder komplexe Aussage in den Skopus nimmt; seine sprachliche Realisierung ist die Behauptung.4 Innerhalb der Vorstellungsverbindung oder des Gedankens setzt Frege, anstelle der dyadischen Struktur Subjekt/Prädikat, die Kombination von Funktion und Argument an, formal dargestellt in der allgemeinen Form Φ (A). Die Funktion ist die Grundform für jeglichen semantischen Gehalt, nicht nur von Sätzen wie das Auto ist rot, sondern auch von Referenzausdrücken wie das rote Auto in Ausdrücken wie: ich sehe das rote Auto. Damit ist das semantische Strukturelement Funktion/Argument grundsätzlich losgelöst von der syntaktischen Struktur Verb/Nominalausdruck, auch wenn diese letztere die natürlichste, quasi die ikonische Form zur sprachlichen Umsetzung der ersteren ist. Vor allem aber ist die semantische Operation ‘Zuweisung einer Eigenschaft’ getrennt von der pragmatischen Operation ‘Behauptung einer Gegebenheit’. Die Idee der Urteilskomponente als abgetrennt von der im Urteil enthaltenen Sachverhaltsbeschreibung wird weitergeführt im Begriff der Illokution (Austin) und am klarsten ausbuchstabiert in John Searles Unterscheidung zwischen popositionalem Akt und illokutionärem Akt: Während der propositionale
3 Gottlob Frege, Begriffsschrift, eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens, Halle: Nebert, 1879, S. 1 f. 4 Vgl. hierzu Gottlob Frege, „Der Gedanke. Eine logische Untersuchung“, in: Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealismus 2 (1918–1919), S. 58–77, hier: S. 63.
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Akt einen Sachverhalt beschreibt, besteht der illokutionäre Akt darin, diesen entweder zu erfragen oder einzufordern (‘direktiv’), zu behaupten (‘assertiv’), sprachlich ins Werk zu setzen (‘deklarativ’) oder anderweitig ins Auge zu fassen.5
3 Subjekt/Prädikat versus Argument/Funktion: Dyade oder Hierarchie? Frege ist sich bewusst darüber, dass mit der Trennung von Sachverhaltsbeschreibung und Urteilscharakter die klassische Dichotomie von Subjekt und Prädikat obsolet ist, und er lehnt eine solche Scheidung explizit ab.6 Insgesamt erscheint die Äußerung nicht mehr als eine zweigeteilte Struktur; vielmehr konstituiert sich die der Illokution unterliegende7 Proposition als eine rekursiv aus FunktionArgument-Strukturen aufgebaute Einbettungshierarchie. Mehr noch: Die Funktion-Argument-Struktur ist per se nicht dyadisch aufgebaut; vielmehr kann man sich auch relationale Prädikate vorstellen, die mehr als ein Argument nehmen, so etwa die Bedeutung des Verbs geben mit den drei Argumenten der gebenden Person, der empfangenden Person und des Übergabeobjekts. Somit ist bei Frege nicht nur der Zusammenfall von Prädikation und ‘Wahrheit’ bzw. Behauptung aufgehoben, sondern auch die der Subjekt-Prädikat-Figur innewohnende ‘zirkuläre’ Dyadik aufgegeben, auch wenn die Funktion-Argument-Struktur natürlich weiterhin mit den Beschreibungselementen Eigenschaft – Eigenschaftsträger kompatibel ist. Paradoxerweise fällt ausgerechnet Searle hinter beide Errungenschaften wieder teilweise zurück, wenn er den propositionalen Akt aufgliedert in die zwei Teil-Sprechakte der Referenz und der Prädikation: Nicht nur, dass Searle hier
5 Vgl. John L. Austin, How to do Things with Words, Oxford: Clarendon, 1962, S. 98 et passim; John R. Searle, Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge: Cambridge University Press, 1969. 6 Vgl. Frege, Begriffsschrift, S. 2–4. 7 „Unterliegend“ spielt bewusst auf den aristotelischen Terminus hypokeímenon an; und man könnte eine dyadische Struktur in der Gegenüberstellung von Proposition und Illokution sehen. Allerdings liegt der entscheidende Unterschied zur Annahme einer Subjekt-Prädikat-Struktur darin, dass die Illokution per definitionem kein Prädikat enthält. Tatsächlich dürfte der Zusammenfall von im Verb-Lexem enthaltenen Prädikaten und im finiten Verb enthaltenen illokutionären Signalen der intuitive Grund für die traditionelle Konfusion der semantisch-propositionalen Operation ‘Eigenschaftszuweisung’ mit der pragmatischen Operation ‘Urteil’ und deren beider Identifikation mit der grammatischen Kategorie des finiten Verbs unter dem Term Prädikat sein.
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die Prädikation erneut mit der „Wahrheit“ in Verbindung bringt;8 er suggeriert in zahlreichen Formulierungen auch wieder den dyadischen Aufbau der Aussage, etwa wenn er schreibt: „[…] in definitely referring the speaker picks out or identifies some particular object which he then goes on to say something about.“9 Mit solchen Formulierungen, insbesondere auch mit dem hier einfließenden Verweis auf den äußeren, zeitlich-linearen Ablauf des Sprechakts („which he then goes on to say“), bleibt unklar, wie die Funktion eventueller weiterer Referenzterme bzw. weiterer Nominalausdrücke im Satz zu beschreiben ist. Letztere Frage ist auch ein klassisches Problem der syntaktisch verstandenen Subjekt-Prädikat-Dyade: Diese krankt nicht allein am – in der traditionellen Grammatikschreibung üblichen – Oszillieren zwischen semantischer und strukturell-formaler Betrachtung, sondern eben auch daran, dass der Status der nichtsubjektivischen Nominalausdrücke unklar bleibt: Sind sie Teile des Prädikats? Und wenn nicht: Was sind sie dann? In der Syntaxtheorie des 20. Jahrhunderts standen sich zwei grundsätzliche Sichtweisen gegenüber: Während die Dependenzgrammatik das finite Verb als Zentrum des jeweiligen Teilsatzes ansah und die Nominalausdrücke (Subjekt, Direktes Objekt, Indirektes Objekt und ggf. weitere) jeweils als gleichberechtigte Aktanten oder Argumente einstufte,10 perpetuierte die Generative Grammatik in ihrer ursprünglichen Form durch die Ausgangsregeln S > NP + VP, VP > V + NP die traditionelle Subjekt-Prädikat-Dyade, wobei die Objekt-Ausdrücke als Teil des Prädikats erscheinen. Erst durch das sogenannte X-bar-Schema und die Theorie der Theta-Rollen wurde die Zentralität des Verbs, das durch sein Lexem die Zahl, Form, semantische Klasse und relationale Bedeutung aller argumentalen Nominalausdrücke im Satz bestimmt, auch im generativen Paradigma eingeführt.11 Beide Theorien erkennen dabei aber auch
8 „To predicate an expression ‚Pʻ of an object ‚Rʻ is to raise the question of the truth of the predicate expression of the object referred to“ (Searle, Speech Acts, S. 124). 9 Ebd., S. 81. Die terminologische Option Searles ist in noch einer dritten Hinsicht unglücklich, insofern sie den Begriff der Referenz auf eine bestimmte Verwendung von (definiten) Nominalausdrücken reduziert, wohingegen der übliche Gebrauch des Terminus Referenz auch den ‘Weltbezug’ anderer sprachlicher Einheiten meint, insbesondere den von Propositionen. Searle deutet alle diese Problematiken selbst an, ohne allerdings Konsequenzen daraus zu ziehen. Vgl. Daniel Jacob, „Reference in Linguistics“, in: Monika Fludernik/Marie-Laure Ryan (Hrsg.), Narrative Factuality. A Handbook, Berlin/Boston: de Gruyter, 2020, S. 267–285, hier: S. 270–272. Vgl. kritisch zu Searle auch den Beitrag von Ludwig Jäger in diesem Band. 10 Damit überträgt die Dependenzgrammatik die Frege’sche Funktion-Argument-Sichtweise von der Semantik direkt auf die syntaktische Struktur. Ignoriert sind hier die ‘Adjunkte’ (‘Ergänzungen’, ‘Zirkumstanten’), d. h. diejenigen Nominalausdrücke, die nicht vom Verb-Lexem vorgesehen sind und die das Problem noch weiter verkomplizieren. 11 Vgl. besonders Noam Chomsky, Lectures on Government and Binding, Dordrecht: Foris, 1981.
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an, dass eines der syntaktischen ‘Argumente’ einen besonderen Status besitzt (Erstaktant in der Dependenzgrammatik, Externes Argument in der Generativen Grammatik),12 der sich in der linearen Stellung (im Normalfall am Satzanfang), der morphologischen Markierung (0-Markierung am Nomen, Kongruenzmarkierung am Verb), der Obligatorik und in den privilegierten anaphorischen Bezügen innerhalb des Satzes sowie zum vorausgehenden oder nachfolgenden Kontext zeigt.13 All dies sind Eigenschaften, die die Intuition vom ‘Subjekt’ als (einzigem) ‘Satzgegenstand’ stützen. Die Diskussion hat bis hierher gezeigt, dass zu trennen ist zwischen: – der Ebene der semantisch-propositionalen Sachverhaltsbeschreibung (Benennung von Eigenschaften zu und Relationen zwischen Argumenten zum Zweck des Referierens auf Entitäten oder des Ins-Auge-Fassens von Sachverhalten), – der Pragmatik des Behauptens von Sachverhalten, was Bezüge zur ‘Welt’ (Existenz von Entitäten und Vorliegen von Gegebenheiten) und zwischen den Kommunikationspartnern (Behauptung als Geltungsanspruch) impliziert, – der Ebene der Syntax, die eine je einzelsprachliche, formale Umsetzung der vor-genannten Operationen zur Aufgabe hat.14 Während die Ebene der Sachverhaltsbeschreibung besser ohne Rückgriff auf eine dyadische Struktur zu beschreiben ist, lassen sich für die Pragmatik des Weltbezugs immerhin zwei grundlegende Operationen (das Bezugnehmen und das Behaupten) feststellen, die aber nicht unbedingt in paarweiser Wechselwirkung stehen müssen. Insofern scheint es zunächst auch nicht sinnvoll, die Syntax, deren Zweck ja die semiotische Umsetzung der anderen Ebenen ist, in eine dyadische Struktur zu pressen. Es ist allerdings weiter zu fragen, wo die suggestive Zweiteilung in Satzgegenstand und Satzaussage ihren funktionalen Sitz hat.
12 Klassisch sind Lucien Tesnière, Eléments de syntaxe structurale, Paris: Klincksieck, 1959, S. 102–109, und Edwin Williams, „Predication“, in: Linguistic Inquiry 11 (1980), S. 203–238. 13 Edward Keenan, „Towards a Universal Definition of ‚Subject‘“, in: Charles Li/Sandra A. Thompson (Hrsg.), Subject and Topic, New York u. a.: Academic Press, 1976, S. 303–333. 14 Nur erwähnt sei hier, dass diese Ebene selbst wieder mehrfach semiotisch geschichtet ist, wo materielle Entitäten (Phoneme/Morphe, Betonung, lineare Positionen) für abstraktere morpho-syntaktische Entitäten und Klassen (Morpheme, syntaktische Kategorien und Funktionen) stehen bzw. sie markieren.
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4 Die diskursive Dimension: Informationsstruktur Ebenso wie die genannten Syntax-Ansätze stellt auch Frege die Kategorie des Subjekts nicht völlig in Abrede, sondern lässt sie gelten als besonders herausgehobenen Nominalausdruck: Die Stelle des Subjects in der Wortreihe hat für die Sprache die Bedeutung einer ausgezeichneten Stelle, an die man dasjenige bringt, worauf man die Aufmerksamkeit des Hörers besonders hinlenken will. Dies kann beispielsweise den Zweck haben, eine Beziehung dieses Urtheils zu andern anzudeuten, und dadurch dem Hörer die Auffassung des ganzen Zusammenhanges zu erleichtern.15
Frege verweist hier auf die interaktionale und die kontextuelle Dimension der Verteilung von Informationseinheiten auf den Satz. Bereits im 19. Jahrhundert haben Hermann Paul und Georg von der Gabelentz eine weitere Ebene ausgemacht, auf der man die Dyade Subjekt/Prädikat hat finden wollen: Sie stellen der grammatischen Subjekt-Prädikat-Dyade das Begriffspaar des psychologischen Subjekts bzw. Prädikats gegenüber. Die Notwendigkeit dieser Unterscheidung manifestiert sich da, wo – intuitiv gesprochen – das grammatische Subjekt gerade nicht den ‘Satzgegenstand’ zu liefern scheint, sondern dieser durch andere Satzteile repräsentiert ist, etwa in dem Satz: (1) Die Entscheidung über die Amtsenthebung trifft der Senat. Hier würde man intuitiv den Verbalkomplex einschließlich des Direkten Objekts und des Präpositionalausdrucks (Die Entscheidung über die Amtsenthebung trifft) als den Gegenstand ansehen, den Subjektausdruck der Senat hingegen als die hierüber gemachte Aussage; damit erscheint das grammatische Subjekt als ‘psychologisches Prädikat’. Um das flagrante terminologische Paradoxon zu vermeiden, wurden in der Folge andere Terminologien wie Thema – Rhema, thème – propos oder topic – comment populär.16 Gerade die terminologische Konfusion aber verweist darauf, dass das grammatische Subjekt mit seinen oben schon benannten besonderen grammatischen Eigenschaften die ideale (prototypische) syntaktische
15 Frege, Begriffsschrift, S. 3. 16 Überblick und Referenzen u. a. bei Andreas Dufter/Daniel Jacob, „Introduction“, in: dies. (Hrsg.), Focus and Background in Romance Languages, Amsterdam/Philadelphia: Benjamins, 2009, S. 1–18, sowie bei Krifka/Musan, „Information structure“, S. 26 f.
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Umsetzung des Themas, Topiks oder psychologischen Subjekts ist,17 wohingegen das obige Beispiel (1) den unprototypischen Sonderfall darstellt. Es geht somit um die Verteilung von Informationseinheiten auf die strukturellen und linearen Positionen des Satzes: der Verbalkomplex steht am Satzanfang und bekommt dort die Thematizität oder Topikalität zugewiesen, die normalerweise dem grammatischen Subjekt zukommen würde, wenn dieses nicht durch Inversion an das Satzende verschoben und damit zum Rhema, propos, Kommentar oder auch zum Fokus befördert wäre. Man sieht hier, dass das grammatische Subjekt zwar prototypisch, aber eben nicht essentiell das Topik des Satzes ausdrückt. Auch diese prototypikalische Gegebenheit dürfte ein Grund für die jahrtausendealte kurzschlusshafte Gleichsetzung der grammatischen mit der informationsstrukturellen Kategorie sein, von der auch die terminologische Doppelung grammatisches vs. psychologisches Subjekt/Prädikat zeugt. Allerdings scheint diese Dimension mit dem Wort ‘psychologisch’ schlecht beschrieben. Das obige Frege-Zitat benennt sehr klarsichtig, worum es hier geht: um „Lenkung der Aufmerksamkeit“ und um die „Beziehung des Urteils zu anderen“. Es geht also einerseits um die interaktionale Steuerung des Kommunikationsprozesses, andererseits um die Einbettung der elementaren Äußerung in den situationellen und sprachlichen Kontext. Beides könnte man im weitesten Sinne als diskursive Prozesse ansehen; und die Informationsstruktur gilt üblicherweise als die Schnittstelle zwischen der Syntax und dem Diskurs, als der Mechanismus, mittels dessen der Satz sich in den Diskurs einbettet.18 Es erscheint somit, als sei die Informationsstruktur der eigentliche Ort der dyadischen Struktur ‘Satzgegenstand und Satzaussage’. Allerdings wird in der heutigen Literatur wiederum mit komplexeren Darstellungen gearbeitet, die sich nicht auf ein einfaches Begriffspaar wie Thema/Rhema, Topik/Kommentar oder gegebene/neue Information reduzieren lassen. So besteht heute weitgehender Konsens darüber, dass zur Beschreibung der Informationsstruktur mindestens zwei Ebenen zu unterscheiden seien: Zum einen eine eher kognitive Ebene, für die man das Begriffspaar Topik/ Kommentar beibehalten hat. Manfred Krifka und Renate Musan bestimmen Topik
17 In manchen Grammatikansätzen wird das Subjekt deshalb auch als ein grammatikalisiertes Topik angesehen, d. h. die Eigenschaften des grammatischen Subjekts werden als formalisierte Strategien der Topik-Markierung interpretiert. Vgl. u. a. die Beiträge in Charles Li/Sandra A. Thompson (Hrsg.), Subject and Topic, New York u. a.: Academic Press, 1976. 18 Diskurs meint hier das, wohinein eine Äußerung sich einfügt und woran sie sich anpasst: dies schließt neben dem sprachlichen Vor-Geschehen auch das sonstige situative und interaktionale Geschehen sowie die Personen der Kommunikationsbeteiligten, deren Wissen, deren gemeinsame Erfahrung und gegenseitige Annahmen voneinander ein.
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als „the entity or set of entities under which the information expressed in the comment constituent should be stored in the common ground content“19. Die Bemühungen, Topik zu definieren, sind vielfältig; nicht selten wird dabei auf Begriffe rekurriert, die noch wesentlich metaphorischer sind als „stored“ und „common ground“ im obigen Zitat, etwa Begriffe wie anchor, link oder das gerne bemühte Bild von der file card, wonach ein Teil des Satzes gewissermaßen einen Karteikarten-Reiter benennt im gemeinsamen Wissensnetz der Kommunikanten; der Rest des Satzes entspricht der Information, die auf der Karteikarte steht.20 In Beispiel (1) ist sicherlich die Amtsenthebung als ein Teil des Topiks anzusehen, der Senat als ein Teil des Kommentars. Schwieriger ist, zu klären, ob man die Information der Elemente die Entscheidung trifft dem Topik oder dem Kommentar zuweisen soll. Es ist klar, dass dies davon abhängt, wie weiträumig man den Kontext betrachtet, und auch davon, welche Prosodie man dem Satz unterlegt.21 Bei aller Definitionsnot ist aber evident, dass diese ‘Aboutness’-Unterscheidung zu trennen ist von einer anderen Unterscheidung, nämlich der zwischen Fokus und Hintergrund. Nach einer vielzitierten Definition ist Fokus „the semantic component of a pragmatically structured proposition whereby the assertion differs from the presupposition”22. Der Satz (1) ist typisch für einen Kontext, in dem bereits von der Amtsenthebung die Rede war und die Frage im Raum steht, wer die Entscheidung darüber trifft. Diesen präsupponierten Anteil des Satzes oder Hintergrund benennen die entsprechenden Satzglieder Die Entscheidung für die Amtsenthebung trifft. Hingegen nennt die Komponente der Senat die Information, die den Satz ‘wahr’ macht, die Bedingung, unter der der Satz tatsächlich assertierbar ist: (1) ist ‘falsch’, wenn ein anderer Akteur (z. B. der oberste Gerichtshof oder das Repräsentantenhaus) die Entscheidung trifft, wohingegen die Frage, ob der Senat noch anderes zu entscheiden hat (nämlich sehr vieles…), ob er bei der Amtsenthebung noch eine andere Rolle hat (z. B. sie einzuleiten oder vorzubereiten), von dem Satz nicht berührt und eine solche Tatsache mit dem Satz auch nicht ausgeschlossen wird.
19 Krifka/Musan, „Information structure“, S. 28. 20 Vgl. ebd. 21 Über die Probleme, Topik genau zu definieren und im konkreten Äußerungsbeispiel zuzuordnen, informiert eindrücklich Craige Roberts, „Topics“, in: Claudia Maienborn/Klaus von Heusinger/Paul Portner (Hrsg.), Semantics. An International Handbook of Natural Language Meaning, Bd. 2, Berlin/Boston: de Gruyter, 2011, S. 1908–1934, die sogar die Universalität von Topik in Frage stellt. 22 Knud Lambrecht, Information Structure and Sentence Form, Cambridge: Cambridge University Press, 1994, S. 213.
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Es ist eine allgemein akzeptierte Ansicht, dass die Funktion von Fokus darin liegt, aus einer Reihe von alternativen Items das zutreffende zu identifizieren. Die Alternativen-Bezogenheit von Fokus hat in der Linguistik zur Ausarbeitung der sogenannten Alternativen-Semantik geführt, wo neben dem ordinary semantic value einer sprachlichen Form deren focus semantic value postuliert wird, in dem die Alternativen enthalten sind. Allerdings hat der Begründer dieser Theorie selbst festgestellt, dass die Alternativen, genau besehen, nicht einfach ein Teil der Semantik des Fokus-Elementes oder des entsprechenden Satzes sind, sondern dass sie eine vorerwähnte oder eine kontextuell oder situationell inferierte Information darstellen.23 Bezogen auf (1) heißt das: Unter den möglichen Alternativen für den Senat sind nicht irgendwelche beliebigen Referenten wie die Biene Maja oder der Papst zu finden, sondern solche, die der Kontext oder das Weltwissen als tatsächlich in Frage kommend in den Raum stellt (z. B. andere Verfassungsorgane wie das Repräsentantenhaus oder der Oberste Gerichtshof). Wie dargestellt, werden die Scheidung der Information in Topik und Kommentar und diejenige in Fokus und Hintergrund als zwei im Prinzip voneinander unterschiedene Prozesse angesehen, die unter dem Schlagwort Informationsstruktur subsumierbar sind. Schematisch dargestellt: Die Entscheidung über
die Amtsenthebung
Kommentar
Topik Hintergrund
trifft
der Senat Kommentar Fokus
23 „[…] focus interpretation introduces a variable which, like other free variables, needs to find an antecedent or be given a pragmatically constructed value“ (Mats Rooth, „Focus“, in: Shalom Lappin/Chris Fox [Hrsg.], Handbook of Contemporary Semantic Theory, Oxford: Blackwell, 1996, S. 1271–1298, hier: S. 1279). Anderenfalls wäre nicht erklärbar, was die Menge der Alternativen und damit den ‘focus semantic value’ eingrenzt gegenüber der Unendlichkeit von möglichen Ausdrücken bzw. Inhalten, die an die Stelle des fokalisierten Elements treten könnten. Wenig klärend scheinen hier gelegentliche Formulierungen, wonach Fokus im Satz eine Menge von Alternativen ‘induziere’. Ein Satz mit Fokus wird im Normalfall nur geäußert, wenn die Alternativen bereits im Raum stehen. Zu dieser Diskussion vgl. Malte Rosemeyer/Daniel Jacob/Lars Koniecny, „Clefts for focus and clefts for topic“ (Arbeitstitel), in: Davide Garassino/Daniel Jacob (Hrsg.), When Data Challenges Theory. Non-prototypical, Unexpected and Paradoxical Evidence in the Field of Information Structure, Amsterdam/Philadelphia: Benjamins (in Vorbereitung). Zur Interaktion von Fokus, Alternativenmengen und Kontext vgl. David Beaver et al., „Questions Under Discussion: Where Information Structure Meets Projective Content“, in: Annual Review of Linguistics (2017), S. 265–284.
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Gemeinsam ist beiden Unterscheidungen, dass sie die Bedeutung eines Satzes als eine Kette von propositionaler Information behandeln, innerhalb derer jeweils ein Element einen Sonderstatus besitzt (das Topik als das Element, zu dem die Information gegeben wird, und der Fokus als das Element, von dem die Assertion der Information abhängig gemacht wird). Man könnte das obige Schema auch so vereinfachen: Die Entscheidung über
die Amtsenthebung Topik
trifft
der Senat Fokus
Eine solche Sichtweise relativiert wiederum die Dyadik, die in den genannten Begriffspaaren suggeriert wird. Selbst wenn man, wie oben schon angedeutet, das Topik syntaktisch breiter (d. h. extensionalsemantisch enger) ansetzt und nicht allgemein die Amtsent hebung, sondern den Entscheidungsprozess darüber als Topik ansieht, lässt sich zeigen, dass Topik und Fokus verschiedenen Dimensionen angehören, insofern sich Topikalität und Fokalität einer Informationseinheit keineswegs ausschließen: man denke sich Satz (1) als Teil einer längeren Äußerung: (2) Eingeleitet wird das Verfahren durchs Repräsentantenhaus; die Entscheidung über die Amtsenthebung trifft der Senat. Hier zeigt sich, dass Fokus, definiert als Auswahl derjenigen Alternative, die über die ‘Wahrheit’/Assertierbarkeit des Satzes entscheidet, nicht unbedingt auf eine einzelne Komponente beschränkt ist, sondern dass andere Elemente, wie in unserem Beispiel das jeweils am Satzanfang herausgestellte Element (eingeleitet wird/die Entscheidung trifft), ebenfalls darüber entscheiden, ob der Satz ‘wahr’ oder ‘unwahr’ ist, und dass diese Entscheidung ebenfalls auf einer Alternativenmenge beruht. Die Aussage, dass der Senat zuständig ist, ist ‘wahr’, wenn es um die Entscheidung geht; sie ist falsch, wenn es um die Einleitung des Verfahrens geht. Man hat diese Art von sekundärem Fokus auch als „Rahmensetzung“, „De limitation“ oder „Kontrast-Topik“ bezeichnet.24
24 Zu Unterschieden zwischen den drei Begriffen vgl. Krifka/Musan, „Information structure“, S. 31–34.
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Damit ergibt sich folgendes Schema: Die Entscheidung über Topik Fokus (Rahmensetzung)
die Amtsenthebung
trifft
der Senat Kommentar Fokus
Unabhängig davon, wie breit man nun das Topik ansetzt (in diesem Fall ist die syntaktisch weitere Auffassung gewählt), wird klar, dass die Scheidung nach Hintergrund/Fokus im Prinzip orthogonal zu der Unterscheidung Topik/Kommentar liegt, auch wenn natürlich für den Hintergrund wie für das Topik gleichermaßen gilt, dass sie auf den Kontext Bezug nehmen und dass ihre Konstitution davon abhängt, welches genau die kontextuell aufgeworfene Frage ist, auf die der betrachtete Satz antwortet (womit wir zu den von Frege genannten Kriterien, der „Beziehung des Urteils zu anderen“ und der „Auffassung des gesamten Zusammenhangs“, zurückkehren).
5 Alternativen, Common Ground, Question Under Discussion Aus dem bisher Gesagten sollte klar geworden sein, dass es aussichtslos, weil widersinnig ist, den ‘Satzgegenstand’ unabhängig vom diskursiven Kontext bestimmen zu wollen. In der Literatur zur Informationsstruktur besteht Konsens, dass die Äußerung eines Satzes als der Versuch zur kooperativen (im Sinne von H. Paul Grice) Bearbeitung eines common ground, d. h. eines von Sprecher und Hörer „geteilten“ Bestands an Annahmen über die ‘Welt’ ist.25 Die doppelten Anführungszeichen sollen darauf hinweisen, dass der in diesem Zusammenhang gängige Term „geteilt“ („shared“) natürlich nur als eine Metapher zu verstehen ist: ein gemeinsamer Bestand an Wissen über die ‘Welt’ kann natürlich, genau betrachtet, nur darin bestehen, dass alle Kommunikationsbeteiligten davon ausgehen, dass ein analoger Bestand an Annahmen über die ‘Welt’ auch bei anderen Kommunikationsbeteiligten vorhanden ist.26 Die einfachen Anführungszeichen 25 Vgl. Krifka/Musan, „Information structure“, mit weiteren Referenzen. Als Begründer des Begriffs gilt Robert Stalnaker; ein Klassiker, der die Vielfalt und Komplexität des Konzepts entfaltet, ist Herbert Clark, Using Language, Cambridge: Cambridge University Press, 1996, § 4. 26 Am klarsten wird diese Einsicht über Kommunikation von der Systemtheorie im Stile von Maturana/Varela oder Luhmann vertreten, und es wäre sicherlich ein lohnendes Unterfangen, die
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sollen besagen, dass auch der Ausdruck ‘Welt’ in diesem Artikel bisher nur in vorläufiger Weise verwendet wurde: gemeint ist mit ‘Welt’, ganz im Sinne des Tractatus von Wittgenstein, die Projektion eines Bestandes von für gültig gehaltenen Annahmen über einen Bereich, über dessen ontische Gegebenheit nicht mehr gesagt zu werden braucht, als dass jeder Kommunikant ihn für gegeben ansieht und diese Ansicht auch dem oder den Kommunikationspartner(n) unterstellt. Damit sind auch die einfachen Anführungszeichen geklärt, mit denen in diesem Artikel die Termini ‘wahr’/‘Wahrheit’ markiert sind: Damit gemeint ist der „Geltungsanspruch“,27 genauer, der Anspruch, dass eine Annahme für alle Kommunikanten als Teil des common ground zu akzeptieren sei. Wenn ein Sprecher eine Proposition assertiert, muss der Gesprächspartner diese Äußerung entweder zurückweisen oder sie als Teil des common ground akzeptieren – und damit auch alle Schlussfolgerungen, die sich konventionell oder logisch daraus ergeben. Ebenfalls aus dem Griceʼschen Kooperationsprinzip ergibt sich, dass eine Äußerung grundsätzlich relevant sein sollte, d. h. dass sie ein Informationsbedürfnis befriedigen sollte, das der Sprecher beim Hörer unterstellt. Die Annahme, dass Äußerungen im Alltagsdiskurs am besten zu beschreiben sind als Antworten auf eine Frage, die nicht notwendigerweise im Diskurs explizit geäußert sein muss, die sich aber aus dem situationellen und diskursiven Geschehen und seiner Einbettung in allgemeine Annahmen über die ‘Welt’ und über die Ziele der Kommunizierenden ableiten lässt, ist nicht neu; der am weitesten entwickelte Ansatz zur Formalisierung dieses Prozesses ist die Theorie zur Question Under Discussion.28 Erst eine solche Formalisierung erlaubt es, systematisch die inferenziellen Zwischenschritte zu erklären, auf denen die diskursive Kohärenz zwischen verschiedenen Äußerungen eines Diskurses oder Textes selbst dann beruht, wenn diese
Theorien von Common Ground und Question under Discussion einmal konsequent dieser systemtheoretischen Grundannahme zu unterziehen. Ebenso wären die von sprachpsychologischer, -pädagogischer und neurowissenschaftlicher Seite unter den Schlagworten theory of mind und joint attention angestellten Reflexionen und Ergebnisse hier anzuschließen. Vgl. z. B. die Beiträge in Naomi Eilan et al. (Hrsg.), Joint Attention: Communication and Other Minds. Issues in Philosophy and Psychology, Oxford: Oxford University Press, 2005. 27 Vgl. z. B. Jürgen Habermas, „Wahrheitstheorien“, in: Helmut Fahrenbach (Hrsg.), Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag, Pfullingen: Neske, 1973, S. 165–211. 28 Für einen sehr schnellen Überblick über die Bedeutung dieses Ansatzes für die Analyse der Informationsstruktur sowie für weitere Referenzen, auch zur Historie des Konzepts, vgl. Beaver et al., „Questions Under Discussion: Where Information Structure Meets Projective Content“, in: Annual Review of Linguistics (2017), S. 265–284. Als klassisch gelten die Beiträge von Wolfgang Klein und Christiane von Stutterheim, vgl. z. B. dies., „Quaestio und referentielle Bewegung in Erzählungen“, in: Linguistische Berichte 109 (1987), S. 163–183, wo diese Annahme sogar auf Erzähltexte angewandt wird.
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oberflächlich oder lexikalisch nicht aufeinander Bezug zu nehmen scheinen. Sie ist auch notwendig, um zu erklären, wie es zur Verrechnung von Regel- und Ad-hoc-Wissen, von allgemeinsten Annahmen über Logik oder über die Empirie der Welt und des Lebens mit den im Diskurs unmittelbar zu klärenden Fragen kommt. Konkret analysiert die Theorie der Question Under Discussion die ‘inquiry strategy’, nach der eine bestimmte Ausgangsfrage (etwa die, wie das Amtsenthebungsverfahren ausgehen wird) in vorläufige Teil- oder Anschlussfragen überführt wird (z. B. in die Frage, wer in dem Verfahren entscheidet; was wiederum die Frage generiert, wer das Entscheidungsgremium politisch kontrolliert, etc.). Eine sprachliche Intervention wird immer dann notwendig, wenn der Verrechnungsapparat mehrere mögliche Antworten auf eine Frage generiert (wie z. B. die Frage, ob die Entscheidung über das Impeachment beim Senat, beim Repräsentantenhaus oder beim Obersten Gerichtshof liegt), wenn es also gilt, sich über die zutreffende der alternativen Annahmen zu verständigen. Die oben in Abschnitt 4 präsentierte Sichtweise bringt Fokus einerseits mit Alternativen, andererseits mit Assertion in Zusammenhang. Nun ist die Assertion, verstanden als ‘Wahrheits-’ oder Geltungsanspruch, nicht anwendbar auf einen Teil der Proposition, nämlich den Fokus, sondern immer nur auf die Proposition in toto: in (1) wird ja nicht der Senat assertiert, sondern die Tatsache, dass der Senat die Entscheidung über die Amtsenthebung hat. Die Alternative besteht somit, genau besehen, nicht in einer Liste von Individuenreferenten (Senat, Repräsentantenhaus, Oberstes Gericht), die an der Leerstelle einer Proposition einzusetzen sind, sondern in einer Liste von Propositionen (‘der Senat entscheidet über die Amtsenthebung’, ‘das Repräsentantenhaus entscheidet über die Amtsenthebung’, ‘der Oberste Gerichtshof entscheidet über die Amtsenthebung’, …).29 Das, was diesen Propositionen gemeinsam ist, macht den Hintergrund des geäußerten Satzes aus, wohingegen der Fokus genau den Teil ausmacht, der die assertierte Proposition gegenüber allen anderen Propositionen kennzeichnet. Der Effekt des geäußerten Satzes ist, alle alternativen Propositionen aus dem common ground zu entfernen. Mit Blick auf solche Prozesse, die weniger in der Übertragung von Information als in der Reorganisation des common ground bestehen, hat Manfred Krifka den Begriff des common ground management dem des common ground content gegenübergestellt.30
29 Genaugenommen ist die Liste der alternativen Annahmen noch länger, denn sie umfasst, wie oben dargestellt, auch noch die zur Debatte stehenden Teilprozesse der Amtsenthebung (entscheiden vs. einleiten), wovon hier abstrahiert wurde. 30 Vgl. u. a. Krifka/Musan, „Information structure“, S. 4.
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Vor diesem Hintergrund aber erscheint auch die Vorstellung, eine Äußerung konstituiere sich aus einer Kette von zu übertragender propositionaler Information – eine Annahme, auf der ja jede Aufteilung der Äußerung in Satzgegenstand und Satzaussage aufsetzt –, in anderem Licht: Wie gesehen, besteht der kommunikative Effekt eines geäußerten, einen Fokus enthaltenden Satzes nicht in der Übertragung von propositionaler Information, sondern in der Elimination von ‘falscher’, d. h. als nicht im common ground haltbar angesehener Information, sowie im Beibehalten solcher Information, die ebenfalls bereits im common ground enthalten ist und dort auch bleiben darf. Überspitzt formuliert: Die Kommunikation und ihr Informationswert bestehen eher in der Vernichtung als in der Anhäufung propositionaler Information.31
6 Weiterführende Überlegung: Diakrise als kommunikative Aufgabe Der zuletzt beschriebene Prozess setzt eine Theorie von common ground voraus, die auch einander ausschließende Annahmen zulässt: Ein wichtiger Teil von Alltagskommunikation besteht darin, solche Inkompatibilitäten, die sich entweder direkt aus widersprüchlichem Input (z. B. zwischen diskursiver und situationeller Information) oder aus dem Abgleich zwischen Input und vorhandenen Annahmen bzw. der Verrechnung der jeweils daraus zu ziehenden Folgerungen ergeben können, zu beseitigen. Dan Sperber und Deirdre Wilson haben im Rahmen ihrer Relevance Theory32 sehr klar herausgearbeitet, dass die sprachlichen Äußerungen nur eine Quelle für die im Diskurs verhandelte propositionale Information sind – neben der nicht-sprachlichen kontextuellen Information, vor allem aber neben dem permanenten Verrechnungsprozess, in dem aus der Kombination von extern wahrgenommenem Wissen und Hintergrundwissen neue Schlussfolgerungen gezogen werden; es ist dies ein Prozess, der, im Sinne der Annahme eines common ground, durchaus als interaktiver Prozess angesehen werden kann. Um es mit den Worten eines weiteren Klassikers, Karl Bühler, zu sagen:
31 Vgl. Craige Roberts, „Context in Dynamic Interpretation“, in: Laurence R. Horn/Gregory Ward (Hrsg.), The Handbook of Pragmatics, Malden: Blackwell, 2004, S. 197–220, hier: S. 208: „Drawing on Stalnakerʼs notion of COMMON GROUND and the related CONTEXT SET (i. e. the set of worlds in which all the propositions in CG are true), we can say that our goal is to reduce the context set to a singleton, the actual world.“ 32 Dan Sperber/Deirdre Wilson, Relevance. Communication and Cognition, Oxford: Blackwell, 1986.
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Daß es auch einen restlos stummen seelischen Verkehr zwischen Menschen gibt und daß in ihm nur dann und wann einmal ein Lautzeichen wie eine Insel im Meer auftauchen kann, dies Faktum ist es, von dem man ausgehen muß.33
Bühler führt dieses Bild an anderer Stelle noch weiter: Sprachinseln tauchen im Meere des schweigenden aber eindeutigen Verkehrs an solchen Stellen auf, wo eine Differenzierung, eine Diakrise, eine Entscheidung zwischen mehreren Möglichkeiten getroffen werden soll und bequem durch ein eingestreutes Wort getroffen werden kann.34
Bühler antizipiert hier auch ein weiteres Präzept des Griceʼschen Modells, nämlich die Maxime der Quantität, die bei Grice natürlich nicht als Bequemlichkeitseffekt, sondern als Teil des allgemeinen Kooperationsprinzips gesehen wird. Tatsächlich lässt sich im dialogischen Alltagsdiskurs beobachten, dass die gegebene Information auf das Minimum (und manchmal sogar darüber hinaus) reduziert wird, das nötig ist, um einerseits den Anschluss an die gegebene question under discussion herzustellen bzw. die Überführung in eine andere Frage zu signalisieren und andererseits die Selektion der im common ground aufrechtzuerhaltenden Alternative sicherzustellen. Eine solche Strategie, den Diskurs auf ein Minimum von ‘diakritischen’ Informationen zum Zwecke der Selektion von im common ground auffindbaren Entitäten und Annahmen zu beschränken, scheint empirisch gut nachweisbar; sie erklärt insbesondere auch das im Alltagsdiskurs ubiquitäre Auftreten von Ellipsen, Holophrasen, Passe-Partoutoder Vikar-Wörtern und ähnlichen Strategien zur Minderung des semantischen Gehalts des Gesagten. Nur als Frage sei hier die Überlegung in den Raum gestellt, ob die Beschreibung des Alltagsdiskurses als Abfolge von diakritischen Operationen nicht auch Anknüpfungspunkte zu dem saussureanisch-strukturalistischen Differenz-Begriff bietet: Diesen, bei Saussure systembezogenen und paradigmatisch verstandenen, Begriff gälte es diskursiv-syntagmatisch umzudeuten: Wörter und Morpheme sind nicht, wie der Strukturalismus annahm, paradigmatisch durch ihre minimale semantische Differenz untereinander zu beschreiben („dans la langue il n’y a que des différences“35), sondern durch ihre Eignung, im Diskurs diakritische Unterscheidungen herbeizuführen und bestimmte, häufig
33 Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena: Fischer 1934, S. 88. 34 Ebd., S. 156. 35 Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique générale, publié par Charles Bally et Albert Sechehaye, Paris: Payot, 1972 [1916], S. 166.
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auftauchende Alternativen voneinander zu scheiden (wie z. B. die Klärung bestimmter Zeitreferenzen durch Tempusmorpheme, bestimmter Nähe-Relationen durch Pronomina oder bestimmter Bewegungsmuster durch Bewegungsverben). Inwieweit dies auch Anschlussmöglichkeiten zu poststrukturalistischen, ebenfalls diskursiv-syntagmatisch verstandenen Differenz-Begriffen bei Niklas Luhmann oder Jacques Derrida bietet, muss an dieser Stelle offen bleiben. Zum Abschluss dieser Überlegungen muss jedoch der traditionellen Idee der sprachlichen Äußerung als Medium zur Übertragung propositionaler Information wieder zu ihrem Recht verholfen werden: Natürlich kann eine solche Funktionsweise, speziell für schriftliche Texte (um die es ja in diesem Sammelband vornehmlich geht), aber auch im Alltagsdiskurs, überhaupt nicht abgestritten werden. Ein Satz wie (3) Gestern Nachmittag hat der Senat der Vereinigten Staaten den von der Demokratischen Partei eingebrachten Antrag auf Amtsenthebung des Präsidenten mit der Stimmenmehrheit der Republikanischen Partei abgelehnt. ist nicht nur grammatisch perfekt, sondern auch semantisch verständlich, pragmatisch adäquat und empirisch belegbar, wenn auch vielleicht nicht in einer Diskursform, die wir ‘spontan und alltäglich’ nennen würden. Es ist auch nicht zu bestreiten, dass es in einem solchen Satz darum geht, die Information, die in den zahlreichen Prädikaten enthalten ist, in den Wissensbestand der Rezipienten einzuspeisen.36 In einem mündlich-spontanten Alltagsdiskurs würde man vielleicht eher eine inkrementelle sukzessive Addition von Einzel-Prädikationen erwarten: (4) Der US-Senat hat die Amtsenthebung abgelehnt; das war gestern Nachmittag; der Antrag kam von der Demokratischen Partei; aber im Senat haben die Republikaner die Mehrheit. In einer solchen Abfolge von kleineren, jeweils für sich assertierten Propositionen lässt sich auch die Abfolge von verschiedenen, aus einander abgeleiteten questions under discussion mit ihren jeweils kleineren Alternativen-Bereichen, aus denen der jeweilige Satz auswählt, wiedererkennen, die natürlich auch im Falle 36 Die Literatur zur Informationsstruktur spricht in diesen Fällen von ‘breitem Fokus’, ‘Informationsfokus’ etc. (vgl. Krifka/Musan, „Information structure“, S. 19, bzw. Dufter/Jacob, „Introduction“, S. 7), wobei die innere Widersprüchlichkeit dieser Begriffe kein Zufall ist. Tatsächlich lässt sich bei diesem Diskursmodus eher die Begrifflichkeit Topik/Kommentar anwenden als die von Hintergrund und Fokus.
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von (3) das Verständnis sichern muss. Unabhängig davon, ob der Diskurs wie in Beispiel (3) lautet oder wie in (4): kohärent interpretierbar und für alle Kommunikanten verständlich wird er nur, wenn das bei allen vorhandene Hintergrundwissen aktiviert wird, dass ein solches Verfahren in Vorbereitung war bzw. die entsprechende Entscheidung anstand, dass der Präsident der Republikanischen Partei angehört und vieles mehr. Wie meistens dürfte die Lösung im ‘Sowohl-als-auch’ liegen: Man kann unterschiedliche Diskurse auf einem Spektrum ansiedeln, das sich zwischen den Extremen eines reinen common ground management und eines rein ‘mitteilenden’ Diskurses aufspannt und innerhalb dessen unterschiedliche Diskursformen jeweils unterschiedlich an beiden Strategien partizipieren. Es versteht sich, dass narrative Diskurse hier eher auf der Seite der mitteilenden Strategie stehen, wobei sich natürlich auch das Erzählen (selbst das fiktionale) an einer Abfolge von sich sukzessiv auftuenden und aus einander ableitenden Fragen orientiert. Zudem können unterschiedliche Erzählstile bzw. -ästhetiken durchaus darin bestehen, die Abfolge der questions under discussion in bestimmter Weise zu steuern, die Leser-Erwartungen bezüglich solcher Fragen eher zu bedienen oder zu enttäuschen oder den Lesern Sprünge im Ablauf dieser questions under discussion zuzumuten, die es nachzuvollziehen gilt.
7 Fazit In der Geschichte der Sprachreflexion oszilliert der Begriff der Prädikation zwischen verschiedenen Ebenen des sprachlichen Geschehens; dies lässt sich so erklären, dass es die Aufgabe der Syntax (also der grammatisch-formalen Struktur der Sprache) ist, den Kommunikanten Sprechakte (also pragmatische Operationen) zu ermöglichen, die Sachverhaltsbeschreibungen (also semantische Gebilde) zum Gegenstand haben. Auf keiner dieser Ebenen findet man die dyadische Gegenüberstellung Gegenstand einer Aussage vs. Aussage über diesen Gegenstand in Reinform; unterschiedlich ist zudem, inwieweit diese prädikative Zuordnung mit der Idee der ‘Wahrheit’ oder des Geltungsanspruches einer Aussage verknüpft wird. Die semantische Ebene ist am besten beschreibbar in Form einer FunktionArgument-Struktur, wo sich zwar zwei grundsätzliche Struktur-Positionen ergeben (eben Prädikat und Argument), die sich aber im Fall relationaler Prädikate auch als mehrgliedrige Struktur realisieren kann. Zudem liegt die Funktion-ArgumentStruktur nicht nur dem Verb und seinen nominalen Ergänzungen zu Grunde, sondern jeglichem semantisch gehaltvollen Ausdruck, sodass in der elementaren
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Äußerung meist mehrere rekursiv-hierarchisch geschachtelte Funktion-Argument-Strukturen gegeben sind. Auf der pragmatischen Ebene ist zunächst die Assertion von der Proposition (oder dem komplexen propositionalen Gefüge) zu trennen, auf die sie angewendet wird: Auch hier könnte man eine dyadische Struktur erkennen, wobei die Assertion aber per definitionem kein Prädikat enthält. Vor allem aber ist die Assertion, als die Operation, die den Geltungsanspruch markiert, zwar logisch bezogen auf die eingebettete Proposition in toto; wenn man allerdings den Diskurs untersucht im Sinne eines common ground management, wird man zwei unterschiedliche Operationen identifizieren (zusammengefasst unter dem Etikett der Informationsstruktur): zum einen die Bezugnahme auf bzw. die genaue Bestimmung einer question under discussion (Topik bzw. Hintergrund), zum anderen die besondere Hervorhebung derjenigen Information, die diejenige Alternative kennzeichnet, welche im common ground aufrechtzuerhalten ist (Fokus), von der somit die Assertierbarkeit abhängig gemacht wird. In der Literatur zur Informationsstruktur wird dies in Form von zwei dichotomischen Scheidungen (Topik/Kommentar und Hintergrund/Fokus) beschrieben, wobei es auch hier darum geht, innerhalb der Kette der gegebenen Informationen jeweils ein minimales Element (das Topik bzw. den Fokus) sprachlich auszuweisen. Die syntaktisch-formale Ebene hat, wie gesagt, die Aufgabe, die semantischen und die pragmatischen Operationen sprachlich umzusetzen. Dazu hat sie sich die geeigneten Werkzeuge, nämlich Kategorien wie Nominalphrasen, finite und infinite Verbformen, Adjektive und Adverbien, geschaffen, die allerdings immer nur prototypisch solche Operationen wie referenzielle Bezugnahme, kontextuelle Bezugnahme, Anfügen von Prädikaten an einen Referenzausdruck, Assertion etc. ausdrücken und wo solche funktionalen Zuordnungen durch weitere Operationen (wie Wortartenderivation, Passivierung, Um- und Herausstellung syntaktischer Komponenten etc.) abgewandelt werden können. Es überrascht nicht, dass manche grammatische Strukturen (etwa das Prinzip der Valenz oder der Theta-Rollen) eher den Bedürfnissen nach Darstellung einer semantischen Funktion-Argument-Struktur Rechnung tragen, andere (wie die Herausbildung eines Sonderstatus für das grammatische Subjekt) eher den Anforderungen der pragmatisch-informationsstrukturellen Ebene. Die jahrtausendealte Konfusion der unterschiedlichen Operationen in einer binären Subjekt-Prädikat-Dichotomie dürfte zum einen in der grundsätzlichen Schwierigkeit begründet sein, die pragmatischen und semantischen Operationen von den formalen Operationen zu trennen, mittels derer sie durchgeführt werden; vor allem aber dürfte dieser Kurzschluss auch in der konkreten grammatischen Struktur unserer europäischen Sprachen begründet liegen, in denen das finite Verb mehrere Aufgaben gleichzeitig hat, nämlich einerseits durch seinen lexe-
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matischen Inhalt die Zuordnung von (semantischen) Prädikaten prominent auszudrücken, andererseits durch die finite Verbalmorphologie die Illokution und deren modale oder sonstigen Modifikationen zu vermitteln. Die Einteilung des Satzes, als elementare diskursive Äußerung, in einen Satzgegenstand und eine Satzaussage geht davon aus, dass der Satz eine Kette von zu übermittelnder Information enthält, die in die beiden Teilfunktionen aufzugliedern ist. Es gibt jedoch auch Diskursmodi – die vermutlich den Standardfall alltäglichen Sprachgebrauchs darstellen –, in denen die Kommunikation weniger in der Übermittlung von propositionaler Information besteht als darin, bereits im common ground vorhandene Information entweder zu eliminieren oder zu ratifizieren (Diakrise). Auch dieser Modus erfordert allerdings eine zwei- oder mehrschrittige Operation, in der zunächst die question under discussion zu sichern ist (u. a. durch Benennung bestimmter Referenten: Topik) und dann, gegebenenfalls in mehreren Schritten, die Benennung des Merkmals oder der Merkmale erfolgt, die die zu ratifizierende Annahme im common ground markieren (Fokus). Das Grice’sche Quantitätsprinzip erfordert, dass beide Operationen sich auf die kleinstmögliche Informationsmenge beschränken, die für deren Gelingen notwendig ist. Offen bleiben soll an dieser Stelle die Frage, ob die Wiederkehr der Figur des tì katà tinós auf verschiedenen Ebenen des diskursiven Geschehens, die hier semio tisch und kommunikationstheoretisch analysiert wurden, eine noch tiefere anthropologische Grundlage hat, etwa in Form einer neuronalen Disposition kognitiver Prozesse, die sich in zwei Schritte gliedert: den Schritt eines Abgleichs mit gegebenen Bedingungen einerseits sowie andererseits den sukzessiven Schritt einer dadurch motivierten Reaktion. Nur angedeutet sei hier, dass es durchaus sprachliche Hinweise darauf gibt, dass alle oben aufgeführten Unterscheidungen auf eine solche konditionale ‘Wenn-dann’-Struktur reduzierbar sind.
Verzeichnis der zitierten Literatur Austin, John, How to do things with Words, Oxford: Clarendon, 1962. Beaver, David et al., „Questions Under Discussion: Where Information Structure Meets Projective Content“, in: Annual Review of Linguistics (2017), S. 265–284. Chomsky, Noam, Lectures on Government and Binding, Dordrecht: Foris, 1981. Clark, Herbert, Using Language, Cambridge: Cambridge University Press, 1996. Dufter, Andreas/Daniel Jacob, „Introduction“, in: dies. (Hrsg.), Focus and Background in Romance Languages, Amsterdam/Philadelphia: Benjamins, 2009, S. 1–18. Eilan, Naomi et al. (Hrsg.), Joint Attention: Communication and Other Minds. Issues in Philosophy and Psychology, Oxford: Oxford University Press, 2005.
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Ist Prädikation ein Sprechakt? Anmerkungen zu Searles Theorie der Bedeutung 1 Exposition des Themas: Die ReferenzPrädikations-Asymmetrie Die Titelfrage der hier vorgelegten kleinen Abhandlung – „Ist Prädikation ein Sprechakt?“ – wurde durch ein Buch angeregt, in dem der Zusammenhang von „Prädikation und Bedeutung“ eine zentrale Rolle spielt: John R. Searles sprachphilosophischen Essay Sprechakte.1 Searle hat die Titelfrage, die er selbst für eine erörterungswürdige Frage hält,2 zunächst insofern positiv beantwortet, als er sie in die Frage umformuliert: „Was ist nun das Wesen des Sprechaktes der Prädikation?“3 Er billigt also in dieser Fassung der Frage der Prädikation zumindest indirekt einen Sprechaktstatus zu – wenn dieser auch, wie sich zeigen wird, in bestimmter Hinsicht restringiert ist. Da Prädikation als Teilakt immer gemeinsam mit dem weiteren Teilakt Referenz im Rahmen vollständiger Sprechakte auftritt, stellt sich natürlich sofort die Frage nach dem Selbständigkeitsstatus des Mitspielers Referenz. Bemerkenswerterweise scheint Searle die parallele Frage, ob Referenz ein Sprechakt sei, für gar nicht befragungswürdig zu halten. Die einschlägigen Kapitel 2.3 und 4 seines Essays behandeln „Referenz als Sprechakt“4 und gehen also offensichtlich davon aus, dass der Sprechaktstatus für Referenz (im Gegensatz zur befragungswürdigen Prädikation) fraglos gegeben sei.5 Referenz stellt also für den sprachanalytischen Philosophen einen uneingeschränkt ‘selbständigen Sprechakt’ dar, während von einem ‘Sprechakt der Prädikation’ nur unter bestimmten eingeschränkten Bedingun-
1 John R. Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, übers. von R. und R. Wiggershaus, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1971. 2 Das Kap. 5.6 behandelt die Frage „Ist die Prädikation ein Sprechakt?“. Vgl. Searle, Sprechakte, S. 186–189. 3 Ebd., S. 187. 4 Vgl. ebd., S. 44–48 und S. 114–149 (Hervorhebung von mir, L. J.). 5 Zur Referenz als uneingeschränkt „selbständiger Sprechakt“ vgl. ebd., S. 188, ebenso S. 44–48, S. 114–149; zum „Sprechakt der Prädikation“ vgl. ebd., S. 42, S. 189, sowie zu seinen Einschränkungsbedingungen vgl. ebd., S. 42 und S. 189–194. https://doi.org/10.1515/9783110715514-007
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gen die Rede sein kann. Es ist diese Asymmetrie, die im Folgenden näher erörtert werden soll. Searle verhandelt das Problem von Referenz und Prädikation im Zusammenhang seiner theoretischen Konzeptualisierung des Begriffes Sprechakt, der als Oberbegriff drei Arten von Akten6 umfasst7, die immer zugleich8 vollzogen werden müssen, wenn man Sprechakte vollzieht: den Äußerungsakt, der „einfach in der Äußerung von Wortreihen [besteht]“9, den propositionalen Akt, der sich aus Referenz und Prädikation zusammensetzt (und der im Fokus unserer Überlegungen stehen wird), sowie den illokutionären Akt. Dieser letztere fungiert gleichsam als Handlungsrahmen der beiden anderen Arten von Akten. Obgleich nun Referenz und Prädikation nur Teile des propositionalen Aktes sind und diesen gemeinsam konstituieren, betrachtet Searle sie gleichwohl ebenfalls als Akte: Sowohl das referierende Herausgreifen und Identifizieren eines bestimmten Objektes durch hinweisende Ausdrücke (Referenz)10 als auch das Verwenden von prädizierenden Ausdrücken, durch die dem Referenzobjekt Eigenschaften zugeschrieben werden (Prädikation),11 stellen für Searle ‘Akte’ dar, die er „Akt der Prädikation“ bzw. „Akt der Referenz“ nennt.12 Die Funktion des propositionalen Aktes insgesamt, in dem also Referenz und Prädikation zusammengeführt sind, besteht dann darin, zu ‘verweisen’.13 Vermittels des propositionalen Aktes verweist ein Sprecher auf einen Gegenstand, indem er ihn „herausgreift oder identifiziert“ und „in bezug auf den er dann etwas sagt […].“14 Wichtig für unsere weitere Erörterung des Verhältnisses von Referenz und Prädikation ist hier der zeitliche Indikator „dann“; mit ihm signalisiert Searle, dass die Identifikation des Gegenstandes abgeschlossen sein muss, wenn die Prädikation beginnt,
6 Vgl. ebd., S. 40. Searle fügt den drei Aktarten im Anschluss an Austin eine vierte hinzu, den „perlokutionären Akt“ (ebd., S. 42), der aber weniger der Entfaltung seines eigenen theoretischen Ansatzes dient; er wird vielmehr vor allem im Kontext seiner Kritik des Griceʼschen Bedeutungsbegriffs erörtert. Vgl. ebd., S. 68–78. 7 Vgl. ebd., S. 40. 8 Es ist, wie Searle feststellt, „für den Vollzug eines illokutionären Aktes charakteristisch, daß man gleichzeitig ebenfalls propositionale und Äußerungsakte vollzieht“ (ebd., S. 40; Hervorhebung von mir, L. J.). 9 Ebd., S. 41. 10 Vgl. ebd., S. 44–48, S. 114, S. 121, S. 126 f. 11 Searle spricht hier in der Auseinandersetzung mit Frege davon, dass sich „als richtige Beschreibung der Prädikation“ ergebe, „daß der Prädikatsausdruck gebraucht wird, um eine Eigenschaft zuzuschreiben“ (ebd., S. 157; vgl. ebenso ebd., S. 43 f., S. 150–159). 12 Ebd., S. 42. 13 Searle spricht deshalb auch vom „propositionalen Akt des Verweisens“ (ebd., S. 128). 14 Ebd., S. 128 (Hervorhebung von mir, L. J.).
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bzw. dass die den Gegenstand identifizierende Referenz ein von der Prädikation unabhängiger (ihr vorausliegender) Vorgang ist: „Um einen Ausdruck von einem Gegenstand prädizieren zu können, muß der Sprecher erfolgreich auf den betreffenden Gegenstand hingewiesen haben“.15 Die Referenz ist also in gewissem Sinne der Prädikation (zeitlich und logisch) vorgeordnet. Dies ist das Problem, das uns zentral beschäftigen wird. Wie oben bereits angedeutet wurde, ist es ein wesentliches Moment der Searle’schen Theorie, dass der propositionale Akt und seine Teilhandlungen Referieren und Prädizieren nur im Rahmen jeweils übergreifender Sprechhandlungen (also illokutionärer Akte wie aussagen, warnen, entschuldigen, tadeln, versprechen etc.) vollzogen werden können. „Propositionale Akte können nicht selbständig vorkommen;16 d. h., man kann nicht nur hinweisen und prädizieren, ohne eine Behauptung aufzustellen, eine Frage zu stellen oder irgendeinen anderen illokutionären Akt zu vollziehen.“17 Allein illokutionäre Akte sind „vollständige[…] Sprechakte“18. Wir können also festhalten: In einem gewissen Sinne sind sowohl Referenz als auch Prädikation Akte, freilich aber solche, die grundsätzlich illokutionär gerahmt sein müssen. In den Äußerungen der Sätze „Sokrates ist weise“, „Ist Sokrates weise?“, „Sokrates sei weise!“ wird jeweils in einem Referenzakt ‘Sokrates’ herausgegriffen und von ihm wird ‘dann’ in feststellender, fragender und auffordernder Form ‘weise-sein’ prädiziert19 – oder wie Searle auch formuliert, es wird in allen diesen illokutionären Akten „die Frage des Zutreffens von ‚weise‘ auf Sokrates zur Sprache [gebracht]“20. Während nun Searle davon ausgeht, dass in Beispielen wie dem genannten sowohl Referenz
15 Ebd., S. 193 (Hervorhebung von mir, L. J.). 16 Diese Feststellung steht natürlich in einem Gegensatz zu der Behauptung Searles, auch Referenz sei ein „selbständiger Sprechakt“ (ebd., S. 188). Offensichtlich wird die Selbstständigkeit des Sprechaktes der Referenz, wie sich noch zeigen wird, vor allem im Hinblick auf die spezifische Unselbständigkeit der Prädikation betont (vgl. ebd., S. 186–189); unabhängig von dieser Ungleichgewichtigkeit sind aber beide, Referenz und Prädikation, unselbständig im Hinblick auf den illokutionären Akt: „Wir unterscheiden Referenz und Prädikation von vollständigen Sprechakten wie Behaupten, Fragen, Befehlen usw.“ (ebd., S. 39). Die gleichzeitige Rede von der Selbständigkeit und der Unselbständigkeit des Sprechaktes der Referenz ist auffällig und befragungswürdig. 17 Ebd., S. 42 f.; vgl. auch ebd., S. 238: „[…] ein propositionaler Akt [kann] nur als Teil eines illokutionären Aktes, niemals aber selbständig vorkommen […].“ 18 Ebd., S. 39. 19 „So kann man […] von demjenigen, der behauptet, Sokrates sei weise, von demjenigen, der fragt, ob er weise sei, und von demjenigen, der ihn auffordert, weise zu sein, sagen, er bringe die Frage des Weise-seins von Sokrates zur Sprache“ (ebd., S. 190). 20 Ebd., S. 190.
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als auch Prädikation Aktqualität haben – freilich immer im Rahmen der illokutionären Akte feststellen, fragen und auffordern –, endet die Gleichgewichtigkeit von Referenz und Prädikation bei der weiteren Frage, ob es sich bei beiden Teilakten um selbständige Sprechakte handele. Während Searle dem Akt der Referenz die Qualität der Selbständigkeit ausdrücklich zubilligt,21 spricht er sie der Prädikation ausdrücklich ab. Die beiden Elemente des propositionalen Aktes haben insofern hinsichtlich ihrer Selbständigkeit einen ungleichen Status. Während die Prädikation – so Searle – „niemals selbständig, sondern immer nur in der einen oder anderen illokutionären Form vor[kommt]“ und insofern „im Unterschied zur Referenz, kein selbständiger Akt“ ist,22 gilt für die Referenz, dass sie „[…] stets unabhängig [ist] von der illokutionären Rolle“ und genau aus diesem Grund als „ein selbständiger Sprechakt“ aufgefasst werden kann.23 Unabhängig davon, ob wir es bei dem Sprechakt, in dessen Rahmen der referentielle Akt jeweils vollzogen wird, mit einer Feststellung, mit einer Frage oder mit einer Aufforderung zu tun haben – er bleibt von den Wechseln der illokutionären Rolle grundsätzlich unberührt. Die Referenz ist also, in welchem Sprechhandlungstyp auch immer sie auftritt, im Verhältnis zu ihrem jeweiligen illokutionären Rahmen autonom, weil sie – so etwa in unserem Sokrates-Beispiel – immer in gleicher Weise und unabhängig von den verschiedenen illokutionären Rollen auf ‘Sokrates’ Bezug nimmt, während Entsprechendes für die Prädikation nicht zutrifft: ‘die Frage’ – so formuliert Searle – des ‘Weise-seins von Sokrates’ kann nämlich nur in verschiedenen illokutionären Perspektivierungen ‘zur Sprache kommen’ – und nicht unabhängig von diesen. Diese „Frage [also die des Weise-seins von Sokrates] wird nur im Vollzug des einen oder anderen illokutionären Aktes zur Sprache gebracht. […] Man kann die Frage nicht zur Sprache bringen, ohne sie in der einen oder anderen Form zur Sprache zu bringen – fragend, behauptend, versprechend usw.“24 Für die Prädikation gilt deshalb, anders als für die Referenz, dass sie hinsichtlich des Inhalts, den sie ‘angibt’, „vollständig durch die illokutionäre Rolle der Äußerung bestimmt“ wird,25 dass sie – so Searle weiter – „ein Akt ist, der nicht selbständig, sondern nur als Teil eines illokutionären Aktes vorkommen kann.“26
21 Vgl. ebd., S. 188; auf die Widersprüchlichkeit dieser Zusprechung wurde oben bereits hingewiesen (vgl. Anm. 16). 22 Ebd., S. 188; er stellt kategorisch fest, „daß die Prädikation in einem sehr entscheidenden Sinne überhaupt keinen selbständigen Sprechakt darstellt […]“ (S. 187). 23 Ebd., S. 188 (Hervorhebung von mir, L. J.). 24 Ebd., S. 190. 25 Ebd., S. 192. 26 Ebd., S. 190.
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Es ist dieses für die Argumentation, die Searle vorträgt, sowohl auffällige als auch zentrale Postulat einer, innerhalb des propositionalen Aktes bestehenden, Asymmetrie zwischen der Autonomie der Referenz und der Unselbständigkeit der Prädikation, das im Folgenden hinsichtlich einiger der epistemologischen und sprachtheoretischen Gründe diskutiert werden soll, die ihm zugrunde liegen und die Searle bewogen haben könnten, Referenz und Prädikation im Rahmen des propositionalen Aktes so ungleichgewichtig operieren zu lassen. Zugleich wäre es möglich, dass sich die Erörterung des Searle’schen Asymmetrie-Postulats auch als aufschlussreich für die Frage nach dem Zusammenhang von Prädikation und Bedeutung erwiese. Denn natürlich hat das Searle’sche Postulat von der Vorgängigkeit des Referentiellen vor dem Prädikativen Folgen für die Bedeutungstheorie. Im Folgenden soll nun zunächst versucht werden, Searles Argumentation, natürlich nur in sehr skizzenhafter Form, in das historische Diskursfeld zu stellen, vor dessen Hintergrund seine Asymmetrie-These sich entfaltet. Dabei sollen einige argumentative Anschlussstellen etwa bei Husserl, Frege und Austin markiert werden. Daran anschließend werden im Lichte von Befunden der sprachanalytischen Philosophie27 (etwa bei Tugendhat und Brandom) einige sprachtheoretische Implikationen kritisch diskutiert und näher beleuchtet, die Searles Programm zugrunde liegen. Insgesamt werde ich versuchen, Argumente dafür anzuführen, dass die Referenz kein autonomer Sprechakt ist, sondern dass vielmehr, wie Tugendhat gezeigt hat, beide Teilakte des propositionalen Aktes zueinander in einem Verhältnis der Komplementarität stehen.28
27 Man könnte natürlich fragen, ob nicht die Position Searles selbst als sprachanalytische angesehen werden muss. Searle scheint sich aber spätestens seit seiner Bewusstseinsphilosophie aus dem sprachanalytischen Paradigma verabschiedet zu haben (vgl. etwa John R. Searle, Die Wiederentdeckung des Geistes, übers. von Harvey P. Gavagai, München: Artemis & Winkler, 1993). Es geht nun nicht mehr darum, die Philosophie des Geistes sprachanalytisch zu reformulieren, sondern umgekehrt darum, die Sprachphilosophie „zu einem Zweig der Philosophie des Geistes“ zu machen (ebd., S. 9). Vgl. hierzu Kemmerlings These, Searle habe sich vom analytischen Mainstream losgelöst: Andreas Kemmerling, „Von der Sprache zum Bewußtsein – John R. Searle löst sich vom analytischen Mainstream“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 48 (1994), Nr. 5, S. 432–438. 28 Vgl. Ernst Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1976, S. 367. Tugendhat zeigt hier, dass einerseits der singuläre Terminus ‘wesensmäßig ergänzungsbedürftig’ ist durch eine „mittels eines Prädikats vollzogene Charakterisierungshandlung“, ebenso wie umgekehrt in einer ‘komplementären’ Bewegung das Prädikat „eines Ergänzungsausdrucks [bedarf], mit dem angegeben wird, was es ist (welcher Gegenstand) und d. h. welches von allen, was durch das Prädikat klassifiziert wird“.
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2 Zum historischen Horizont der Searle’schen Bedeutungstheorie Searle hat in der 1969 erschienenen Aufsatzsammlung Expression and Meaning seinen Begriff von Bedeutung ausgehend von einer zentralen Unterscheidung entwickelt, der Unterscheidung „zwischen dem, was ein Sprecher meint, und dem, was ein Satz bedeutet“29. In seinem Essay Sprechakttheorie formuliert er: Die Laute und Zeichen, die zum Vollzug eines illokutionären Aktes verwendet werden, haben Bedeutung, und der, der sie verwendet, meint etwas mit ihnen. Für den Vorgang des Sprechens ist charakteristisch, daß man mit dem, was man sagt, etwas meint; und was man sagt, die Kette von Lauten, die man von sich gibt, ist dadurch charakterisiert, daß sie eine Bedeutung hat.30
Searle greift nun die hier von ihm vorgenommene Distinktion von äußern, bedeuten und meinen in der begrifflichen Trias von Äußerungsakt, propositionaler Akt, der wesentlich als Ort der Bedeutung fungiert, sowie illokutionärer Akt auf, eine Trias, die in gewissem Sinne, wenn auch in terminologisch modifizierter Form, an seinen Lehrer Austin und dessen Theorie der Sprechakte anschließt. Austin seinerseits hatte zunächst vorgeschlagen, eine Klasse aussagenbezogener (konstatierender) Äußerungen von einer zweiten Klasse handlungsbezogener (performativer) Äußerungen zu unterscheiden. Er hatte dann aber, aufgrund von Entdeckungen wie etwa der, dass eine konstatierende Aussage ebenso den Vollzug eines performativen Aktes darstellen kann (wie Befehlen oder Warnen),31 eingeräumt, dass seine Unterscheidung zwischen performativen Äußerungen und konstatierenden Aussagen „tatsächlich zusammenbricht“32. Wenn aber konstatierende Äußerungen Handlungen sind und umgekehrt Performativa konstatierende Anteile haben können, lässt sich die Unterscheidung der beiden Äußerungsklassen nicht aufrechterhalten. An ihre Stelle setzt Austin deshalb das Konzept des Sprechaktes, in dem die Momente der Performativität und der Konstativität als Konstituenten einer jeden Sprechhandlung ausgemacht werden: Er plädiert nun dafür, sprachliche Fälle zu betrachten, „in denen etwas
29 John R. Searle, Ausdruck und Bedeutung. Untersuchungen zur Sprechakttheorie, übers. von Andreas Kemmerling, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1982, S. 160. 30 Searle, Sprechakte, S. 68. 31 Vgl. John L. Austin, Wort und Bedeutung. Philosophische Aufsätze, übers. von Joachim Schulte, München: List, 1975, S. 267. 32 Ebd., S. 267.
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Sagen dieses oder jenes Tun bedeutet“33, um schließlich festzustellen: „Und eine Sache, die sich aus diesem Vorgehen ergibt, ist, daß es außer der in der Vergangenheit sehr viel untersuchten Frage der Bedeutung bestimmter Äußerungen eine weitere und davon verschiedene Fragestellung gibt, die sich auf die Kraft (force) [bzw. Rolle] einer Äußerung […] bezieht.“34 In der 12. Sitzung seiner berühmten Vorlesung „How to do things with Words“ resümiert er dann: „Letzten Endes gibt es nur ein wirkliches Ding, um dessen Klärung wir uns bemühen, und das ist der gesamte Sprechakt in der gesamten Redesituation.“35 Die Unterscheidung von Sagen und Meinen, von Konstatieren und Handeln ist nun eine, die nicht mehr verschiedene Klassen von Äußerungen charakterisiert, sondern die dann – im Anschluss an Austin – bei Searle als propositionaler Gehalt und als illokutionäre Kraft bzw. illokutionäre Rolle in die Struktur des Sprechaktes einwandert. Bedeutsam an dieser Denkentwicklung bei Austin und Searle sind die folgenden, für die Bedeutungstheorie, die an die Sprechhandlungstheorie anschließt, grundlegenden theoretischen Erträge: einmal die Einsicht, dass die Sprache in semantischer Hinsicht nicht mehr darauf reduziert werden kann, Sachverhalte festzustellen, sondern dass ihr konstitutiv eine Handlungsdimension eignet, die in der illokutionären Kraft, d. h. in den illokutionären Rollen von Sprechakten zum Ausdruck kommt; und zum zweiten die ebenso wesentliche Einsicht, dass sich das Bedeutungsproblem von seiner traditionellen Bindung an (je einzelne) sprachliche Ausdrücke lösen und in das Feld des Zusammenhanges von Referenz und Prädikation – und das heißt: in das Feld des Propositionalen – einrücken muss. Austin formuliert diesen Sachverhalt so: Natürlich, man kann beispielsweise ganz richtig sagen, daß man in einem Lexikon ‚die Bedeutung eines Wortes nachschlägt‘. Trotzdem hat es den Anschein, daß der Sinn, in dem ein Wort oder ein Ausdruck ‚Bedeutung hat‘, von dem Sinn abgeleitet ist, in dem ein Satz
33 Ebd., S. 267 (Hervorhebung von mir, L. J.). 34 Ebd., S. 267. 35 Hier zitiert nach der deutschen Ausgabe: John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, deutsche Bearbeitung von Eike von Savigny, Stuttgart: Reclam, 2002, S. 166. Austin unterscheidet nun einen lokutionären, illokutionären und perlokutionären Akt, wobei für unseren Diskussionszusammenhang nur die beiden ersten von Belang sind. Der lokutionäre Akt setzt sich seinerseits zusammen aus dem phonetischen (= Lautäußerung), phatischen (= grammatische Konstruktion) und rhetischen Akt, der etwa dem Searle’schen propositionalen Akt entspricht und der die beiden Konstituenten reference (wovon die Rede ist) und sense (was darüber gesagt wird) enthält. Hierin entspricht er etwa der Searle’schen Unterscheidung von Referenz und Prädikation. Vgl. etwa ebd., S. 108 f. „Sense und Reference“ ist im Übrigen der Titel der Dissertationsschrift, aus der Searles Essay Sprechakte hervorgegangen ist (vgl. Searle, Sprechakte, S. 7).
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‚eine Bedeutung hat‘. Sagen, daß ein Wort oder ein Ausdruck ‚eine Bedeutung hat‘, heißt sagen, daß es Sätze, in denen es vorkommt, gibt, die ‚Bedeutung haben‘.36
Und hieraus folgt, so Austin: „[…] die Bedeutung des Wortes oder des Ausdrucks kennen heißt die Bedeutungen der Sätze kennen, in denen es vorkommt“.37 Ähnlich wie Austin stellt auch Searle fest, „daß Sätze, und nicht Wörter, verwendet werden, um etwas zu sagen.“38 Searle bindet also wie Austin, auch wenn er der traditionellen Bedeutungstheorie des aristotelischen Paradigmas noch darin verhaftet bleibt, dass er die Referenz vor der Prädikation priorisiert, Bedeutung an den propositionalen Gehalt in seiner referentiell-prädikativen Struktur. Bedeutung kann also nicht in lexikalischen Solitären auftreten. Die beiden skizzierten semantiktheoretischen Erträge der Sprechhandlungstheorie, einmal die Unterscheidung von Satzmodus (Illokution) und Satzinhalt (propositionaler Gehalt) und die hiermit verknüpfte handlungstheoretische Ergänzung der Bedeutungsidee39 sowie zum zweiten die Lösung des Bedeutungsbegriffs von Einzelausdrücken und die Propositionalisierung der Semantik, werden nicht unwesentlich aus einem logischen, phänomenologischen sowie sprachanalytischen Diskursraum gespeist, in dem Autoren wie etwa Edmund Husserl, Anton Marty, Franz Brentano, Gottlob Frege und Ludwig Wittgenstein wesentliche Grundlagen für die Genese der Sprechhandlungstheorie gelegt haben (ohne dass diese sich dieses Einflusses immer gänzlich bewusst gewesen zu sein scheint).40 So verdankt etwa die für die Sprechhandlungstheorie charakteristische Unterscheidung von Satzmodus und Satzinhalt einiges der Fregeʼschen Unterscheidung von Behauptungssatz und behauptender
36 Austin, Wort und Bedeutung, S. 12. 37 Ebd. 38 Searle, Sprechakte, S. 43. Searle bezieht sich hier auf Freges Diktum, dass Wörter nur etwas im Zusammenhang des Satzes bedeuten. 39 Die Untersuchung der Bedeutung von Sätzen und die des Vollzugs von Sprechakten sind für Searle „nicht zwei prinzipiell verschiedene semantische Untersuchungen“ (ebd., S. 32): „Da jeder Satz, der Bedeutung hat, aufgrund seiner Bedeutung verwendet werden kann, um einen bestimmten Sprechakt […] zu vollziehen, und da jeder mögliche Sprechakt im Prinzip exakt als Satz […] formuliert werden kann […], handelt es sich bei der Untersuchung der Bedeutung von Sätzen und bei der Untersuchung von Sprechakten nicht um zwei voneinander unabhängige Untersuchungen, sondern um eine Untersuchung unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten“ (ebd., S. 33). 40 Das betrifft etwa die Rolle, die Brentano für den Searle’schen Intentionsbegriff gehabt hat. Von den genannten Philosophen erhalten nur Frege und Wittgenstein größere Aufmerksamkeit durch Searle.
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Kraft,41 letzteres ein Terminus, von dem sich Austin offensichtlich für die Gewinnung seines Begriffs der illokutionären Kraft (force) anregen ließ. Ebenso antizipiert etwa Husserls Unterscheidung von Inhalt und Aktqualität42 die Searle’sche Differenzierung von propositionalem und illokutionärem Akt. In den Logischen Untersuchungen bemerkt Husserl: „Wir erinnern an die übliche Rede, daß derselbe Inhalt das eine Mal Inhalt einer bloßen Vorstellung, das andere Mal eines Urteils, wieder in anderen Fällen Inhalt einer Frage, eines Zweifels, eines Wunsches und dergleichen sein kann.“43 In Fällen wie diesen wird – so Husserl – ‘ein und derselbe Inhalt’ in verschiedenen ‘psychischen Habitus’44 prozessiert: Wer sich vorstellt, es gebe auf dem Mars intelligente Wesen, stellt dasselbe vor, wie derjenige, der aussagt, es gibt auf dem Mars intelligente Wesen, und abermals wie derjenige, der fragt, gibt es auf dem Mars intelligente Wesen? Oder wie derjenige, der wünscht, möge es doch auf dem Mars intelligente Wesen geben!45
Searles sprechakttheoretische Annahme, ein identischer propositionaler Gehalt, z. B. dass Sam raucht, müsse von den verschiedenen, als Behauptung (Sam raucht gewohnheitsmäßig), Frage (Raucht Sam gewohnheitsmäßig?), Befehl (Sam, rauch gewohnheitsmäßig!) bzw. Wunsch (Würde Sam doch gewohnheitsmäßig rauchen!) auftretenden illokutionären Akten46 unterschieden werden, zeigt also deutliche Spuren einer intellektuellen Patenschaft Husserls. Und auch für das zweite Moment, das der Propositionalisierung der Semantik, war für Austin und Searle insbesondere der von Frege in den Grundlagen der Arithmetik geäußerte Satz zentral: „Nur im Zusammenhang eines Satzes bedeuten Wörter etwas“47, wobei Frege sich hier seinerseits an Kant anschließt, der es – worauf Brandom hinweist – ablehnt, dass die Bedeutungshaltigkeit von Begriffen „unabhängig von
41 Vgl. Gottlob Frege, „Ausführungen über Sinn und Bedeutung“ (1892–1895), in: ders., Schriften zur Logik und Sprachphilosophie. Aus dem Nachlaß, mit Einleitung, Anmerkungen, Bibliographie und Register hrsg. von Gottfried Gabriel, Hamburg: Meiner, 1971, S. 25–34; vgl. im selben Band außerdem: S. 139; vgl. ebenso S. 74 und S. 88 f. 42 Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen II, 1: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Tübingen: Niemeyer, 51968, S. 412. 43 Ebd., S. 412; vgl. auch ebd., S. 367. 44 Vgl. ebd., S. 66. 45 Ebd., S. 412. 46 Vgl. Searle, Sprechakte, S. 39. 47 Gottlob Frege, Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl, Breslau: Verlag Wilhelm Koebner, 1884, S. 73. Auf diesen Satz nimmt Searle freilich – wie auf Frege insgesamt – verschiedentlich Bezug. Vgl. etwa Searle, Sprechakte, S. 43, S. 147 (Fußnote).
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und vor der Bedeutungshaltigkeit von Urteilen erfaßt werden könne“48: „Ein Begriff ist [für Kant] nichts anderes als ein Prädikat eines möglichen Urteils, und deshalb gilt: ‚Von diesen Begriffen kann nun der Verstand keinen anderen Gebrauch machen, als daß er dadurch urteilt.‘“49 In gewissem Sinne treten hier bereits bei Kant die beiden zentralen Momente der skizzierten theoriehistorischen Bewegung des Bedeutungsproblems – das Handlungsmoment, das Moment also des Urteilens, und das Moment des Satzzusammenhangs, also das Moment der Vorrangigkeit des Urteils vor dem Begriff – in einen konzeptionellen Konnex.
3 Searle und der pragmatische Vorrang des Propositionalen Dass bedeutende Reste einer älteren repräsentationstheoretischen Semantik bei Searle nicht wirklich getilgt sind, zeigt sich daran, dass er in seiner Bedeutungstheorie dem Postulat der Propositionalität der Semantik, also der Vorrangigkeit der Satzbedeutung vor der einzelner Ausdrücke,50 insofern nicht wirklich durchgreifend zur Geltung verhilft, als er im propositionalen Akt die Referenz, was er der Prädikation nicht zugesteht, mit einem autonomen Status versieht. ‘Subsententiale Ausdrücke’51 wie ‘singuläre hinweisende Ausdrücke’, die „als paradigmatische Fälle der Referenz“ dazu verwendet werden, „um auf ihre Bezugsobjekte hinzuweisen“52, können diese Leistung als ‘selbständige Sprechakte’53, also unabhängig vom Satzzusammenhang, erbringen, während dies für die ‘unselbständige’ Prädikation54 nicht gilt. Diese Asymmetrie zeigt sich auch darin, dass – wie Searle formuliert – „ich […] erfolgreich auf etwas verweisen [kann], selbst wenn meine
48 Vgl. Robert Brandom, Begründen und Begreifen. Eine Einführung in den Inferentialismus, übers. von Eva Gilmer, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001, S. 208. 49 Ebd., S. 208 f. Brandom zitiert hier Kants Kritik der reinen Vernunft, A69/B93. 50 Vgl. Brandom, Begründen und Begreifen, S. 208: Brandom spricht hier mit Blick auf Kants Postulat der Priorität des Urteils vor den Begriffen von Kants „Anerkennung des Vorrangs des Propositionalen“. Vgl. auch ebd., S. 164: „Für die vorkantische Tradition war es ausgemacht, daß die richtige semantische Erklärungsreihenfolge mit einer Lehre von den Begriffen […] anfängt, deren Bedeutungsgeladenheit unabhängig von und vor den Urteilen erfaßt werden kann.“ 51 Vgl. ebd., S. 164 f. 52 Searle, Sprechakte, S. 158. 53 Vgl. ebd., S. 114–149; vgl. hierzu auch oben Abschnitt 1. 54 Vgl. ebd., S. 186–195, hier: S. 190. Siehe auch hierzu oben Abschnitt 1.
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Äußerung als ganze verworren ist.“55 Obgleich sich Searle also explizit und zustimmend auf Freges Diktum bezieht,56 bleibt er doch letztlich bei dem stehen, was Brandom eine „repräsentationale semantische Erklärungsstrategie“57 nennt, d. h. bei einer Strategie, in der die Referenz ihrem Bezugnahmegeschäft unabhängig von der Prädikation nachgehen kann, während die Prädikation ihrerseits auf die vorgängige und autonome Referenz angewiesen bleibt. Die Referenzpriorisierung hält partial an einer Semantik fest, die Bezugnahmeoperationen mit solitären Zeichenausdrücken gegenüber den satzsemantischen und handlungssemantischen Dimensionen des Sprechaktes autonomisiert. Searle steht dabei mit seiner These von der Vorgängigkeit der Referenz vor der Prädikation in einer langen philosophischen Tradition. Sie lässt sich bis auf die aristotelische Theorie des prädikativen Urteils und seiner Zweigliedrigkeit zurückführen. Aristoteles unterscheide, so fasst Husserl dessen Position zusammen, „[…] ein Zugrundeliegendes […], worüber etwas ausgesagt wird, und das, was von ihm ausgesagt wird: […] Jeder Aussagesatz muß aus diesen beiden Gliedern bestehen. Darin liegt: jedes Urteilen setzt voraus, daß ein Gegenstand vorliegt, uns vorgegeben, worüber ausgesagt wird.“58 Nicht nur haben also im Gefolge der aristotelischen Tradition Sätze hier keinen ‘explanatorischen Vorrang vor subsententialen Ausdruckskategorien wie singulären Termini und Prädikaten’,59 sondern es ist auch diese Tradition, die bis zu Frege und Husserl reicht, aus der sich Searles Postulierung der Vorrangigkeit und Autonomie des Referentiellen vor dem abhängigen Prädikativen herleitet. So folgt Searle Frege darin, dass im ‘singulären Urteil’ der Eigenname für den ‘abgeschlossenen’ und der prädikative Teil für den ‘ungesättigten Teil des Gedankens’ steht.60 Der referentielle Teil des Satzes ‘vergegenwärtigt’ seinen Gegenstand bereits und ist insofern ‘in sich abgeschlossen’, ehe er prädikativ ergänzt wird, während der prädikative Ausdruck als ‘ergänzungsbedürftiger’ oder ‘ungesättigter’ Ausdruck ‘gleichsam in der Luft hängt und erst dadurch Boden unter die Füße bekommt, daß er auf einen bestimmten Gegenstand bezogen wird’.61 Searles Sprechhandlungstheorie folgt also in ihrer theoretischen Situierung des Verhältnisses von Referenz und Prädikation der in
55 Ebd., S. 147. 56 Vgl. oben Anm. 47. 57 Robert Brandom, Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung, übers. von Eva Gilmer und Hermann Vetter, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2000, S. 125. 58 Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, redigiert und hrsg. von Ludwig Landgrebe, Hamburg: Meiner, 1972, S. 4 f. 59 Vgl. Brandom, Begründen und Begreifen, S. 164. 60 Vgl. Frege, „Ausführungen über Sinn und Bedeutung“, S. 77. 61 Vgl. Wilhelm Kamlah/Paul Lorenzen, Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens, Mannheim: Bibliographisches Institut, 1967, S. 32.
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der aristotelischen Tradition entstandenen Idee des prädikativen Urteils. Referenz ist für ihn sowohl epistemologisch als auch als Teil der Sprechhandlung insgesamt autark. Die Handlung des referentiellen Bezugnehmens auf das Bezugsobjekt kann auch dann als autonomer Teil der gesamten Sprechhandlung gelingen, wenn diese insgesamt ‘verworren’ ist. Sie bleibt insofern – anders als die Prädikation – gegenüber dem Satz- und Urteilszusammenhang unabhängig. Searle verletzt, obgleich er sich in der Frage der ‘Vorrangigkeit des Propositionalen’ an Frege anzuschließen scheint, eben dieses Prinzip, d. h. – wie Brandom formuliert – das Prinzip, dass die Kategorie des Satzes „einen gewissen explanatorischen Vorrang vor subsententialen Ausdruckskategorien, etwa singulären Termini und Prädikaten“, hat.62 Ohne diesen Satzrahmen wäre – wie etwa Tugendhat gezeigt hat – der isolierte referentielle Bezug auf ein Referenzobjekt gar nicht möglich: „Eine vom Satzkontext losgelöste Bezugnahme auf einen Gegenstand gibt es nicht.“63 Während man „zufolge der traditionellen Semantik ein Zeichen […] versteht, wenn man weiß, wofür es steht, versteht man nach der sprachanalytischen Auffassung ein Zeichen – auch ein Zeichen, das für einen Gegenstand steht – wenn man jemandem, der es nicht versteht, seine Verwendungsweise erklären könnte.“64 Wittgenstein hat diesen Gedanken so formuliert: „Die Bedeutung eines Wortes ist das, was die Erklärung der Bedeutung erklärt.“65
4 Searles externer Realismus Wenn man nach den Gründen fragt, die für Searles Festhalten an einer letztlich repräsentationalen Sprachidee66 verantwortlich sein könnten, stößt man sehr bald auf sein epistemologisches Programm eines externen Realismus.67 In seinem
62 Brandom, Begründen und Begreifen, S. 164 (Hervorhebungen von mir, L. J.). 63 Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, S. 498. 64 Ebd., S. 498. 65 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1967, § 560. Vgl. ebenso ders., Das Blaue Buch. Eine philosophische Betrachtung (Das Braune Buch), hrsg. von Rush Rhees, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1980, S. 15–21, S. 52. 66 Vgl. zum Begriff der Repräsentation und zur Kritik des „repräsentationalen Sumpfes“: Brandom, Begründen und Begreifen, S. 20. 67 Dieser Abschnitt 4 greift auf Überlegungen zurück, die ich bereits an anderer Stelle darlegen konnte. Vgl. Ludwig Jäger, „‚Outthereness‘. Über das Problem des Wirklichkeitsbezugs von Zeichen“, in: Ekkehard Felder/Andreas Gardt (Hrsg.), Wirklichkeit oder Konstruktion? Sprachtheoretische und interdisziplinäre Aspekte einer brisanten Alternative, Berlin/Boston: de Gruyter, 2018, S. 301–323, hier: S. 301–306.
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1998 erschienenen Buch Geist, Sprache und Gesellschaft, dem er den Untertitel Philosophie in der wirklichen Welt gab, beklagt er den Niedergang dessen, was er die „Aufklärungsvision“ der westlichen Zivilisation nennt.68 Die lange gehegte Überzeugung – so Searles Charakterisierung dieser Vision –, dass das Universum vollständig verständlich sei und wir deshalb zu einem systematischen Verständnis seiner Natur gelangen könnten, dass es „eine wirkliche Welt“ gebe, „die von allen unseren Repräsentationen, von all unsern Gedanken, Gefühlen, Meinungen, Sprachen, Diskursen, Texten usw. total und absolut unabhängig“ sei,69 habe in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durch eine Reihe von intellektuellen Entwicklungen eine tiefgreifende Erschütterung erfahren: Zu diesen Entwicklungen zählt er etwa Einsteins Relativitätstheorie, die unsere fundamentalsten Annahmen über Raum und Zeit, über Materie und Energie in Frage gestellt habe, Freuds Psychoanalyse, die als Evidenz für die Unmöglichkeit eines rationalen Bewusstseins verstanden worden sei, sowie schließlich – als vielleicht entscheidendste intellektuelle Infragestellung des realistischen Weltbildes – die Heisenbergʼsche Quantenmechanik, die – so Searle – zu zeigen schien, „daß die materielle Wirklichkeit auf ihrer fundamentalsten Ebene indeterministisch ist und daß der Beobachter durch den Beobachtungsvorgang selbst die von ihm beobachtete Wirklichkeit teilweise mitschafft.“70 Searle beklagt hier eine grundlegende Irritation des ‘realistischen Weltbildes’, die Popper in seiner Logik der Forschung mit Blick auf Heisenberg so formuliert hatte: Noch immer entzieht die Natur in raffinierter Weise gewisse, in der Theorie auftretende Größen unserer Beobachtung. Das hängt mit den von Heisenberg aufgestellten sogenannten Unbestimmtheitsrelationen zusammen. […] Jede physikalische Messung beruht auf einem Energieaustausch zwischen dem zu messenden Objekt und dem Meßapparat (eventuell dem Beobachter) […]. Der Energieaustausch wird den Zustand des Objekts verändern, so daß dieser nach der Messung ein anderer sein wird als vorher.71
Searle selbst – auf dessen Versuche der argumentativen Zurückweisung der von ihm als postmodern angesehenen Attacken auf die ‘Aufklärung’ ich hier nicht näher eingehen kann – vervollständigt seine ihn „trübsinnig stimmende Liste“72 der Verfallssymptome der westlichen ‘Aufklärungsvision’ durch Kuhns und Feyer
68 John R. Searle, Geist, Sprache und Gesellschaft. Philosophie in der wirklichen Welt, übers. von Harvey P. Gavagai, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001, S. 10. 69 Ebd., S. 24. 70 Ebd., S. 10 f. 71 Vgl. hierzu etwa Karl Popper, Logik der Forschung, Tübingen: Mohr 51973, S. 167–172, hier: S. 169. 72 Searle, Geist, Sprache und Gesellschaft, S. 12.
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abends Hypothese der Beobachtungsabhängigkeit jeweiliger ‘Wirklichkeiten’ von den Forschungsparadigmen, in denen sie untersucht werden,73 sowie schließlich durch die, so Searle, von ‘einigen Anthropologen’ konstatierte ‘Kulturrelativität’ der Rationalität. Searle hält – im Rahmen dessen, was er „externen Realismus“ nennt – nichts von dieser Entmachtung des ‘Weltbildes der Aufklärung’: Um meine Karten gleich von Anfang an auf den Tisch zu legen: Ich teile die Aufklärungsvision. Ich denke, daß das Universum völlig unabhängig vom menschlichen Geist existiert und daß wir – im Rahmen von Grenzen, die durch unsere evolutionäre Ausstattung gesetzt sind – dazu gelangen können, die Natur des Universums zu begreifen.74
Insbesondere scheint es ihm grundsätzlich möglich zu sein, durch sprachliche und andere Darstellungssysteme problemlos und unmittelbar auf „eine geistunabhängige Wirklichkeit“75 Bezug zu nehmen und sie als solche zu erkennen. Er konstatiert lakonisch: „Ich glaube nicht, daß es irgendeinen Sinn hat, nach der Rechtfertigung für die Auffassung zu fragen, daß die Dinge der Welt unabhängig von unseren Repräsentationen so sind, wie sie sind […].“76 Es liegt auf der Hand, daß wir diesen externen Realismus Searles als die epistemologische Grundlage für seine Auszeichnung der Referenz als Bezugnahmeorgan auf das Wirkliche und ihre Priorisierung vor der Prädikation ansehen müssen. Es scheint mir deshalb fruchtbar zu sein, Searles sprechakttheoretische Idee der Referenz und seinen externen Realismus mit einigen Argumenten der sprachanalytischen Philosophie ins Gespräch bringen.
73 Vgl. Thomas Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, übers. von Kurt Simon, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1973, S. 151–180; ‘Paradigmenwechsel’ der ‘normalwissenschaftlichen Tätigkeit’ sind für Kuhn nicht nur mit der Einführung neuer Theorien, sondern auch mit „Wandlungen des Weltbildes“ verbunden: „Es ist fast, als wäre die gelehrte Gemeinschaft plötzlich auf einen anderen Planeten versetzt worden, wo vertraute Gegenstände in einem neuen Licht erscheinen und auch unbekannte sich hinzugesellen. […] Paradigmenwechsel veranlassen die Wissenschaftler tatsächlich, die Welt ihres Forschungsbereichs anders zu betrachten. […] Was in der Welt des Wissenschaftlers vor der Revolution Enten waren, sind nachher Kaninchen.“ (Ebd., S. 151) Wir können – so Kuhn – sagen, „daß die Wissenschaftler nach einer Revolution in einer anderen Welt arbeiten.“ (Ebd., S. 180). 74 Searle, Geist, Sprache und Gesellschaft, S. 12. 75 Ebd., S. 39. 76 Ebd., S. 45.
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5 Die sprachanalytische Kritik der subsententialen Referenz-Idee Der sprachanalytische Ansatz77 geht von der erkenntnistheoretischen Prämisse aus, „daß wir keinen epistemischen Zugang zu den Phänomenen haben, der unabhängig von Sätzen ist.“78 Die Phänomene – so Peter Bieri – sind uns nicht „zunächst unabhängig von allen Beschreibungen“79 und vorgängig zu diesen gegeben. Sie enthüllen sich nicht als sie selbst, wenn wir die jeweiligen Beschreibungen „einklammern“80, weil sie mit diesen Beschreibungen epistemologisch verwoben sind. Die sogenannte sprachanalytische Wende der Philosophie führt also mit dieser zentralen Annahme zu einer Aufwertung der Rolle der Sprache bzw. semiologischer Ordnungen und Systeme überhaupt, eine Aufwertung freilich, die bereits für den sprachphilosophischen Diskurs des frühen 19. Jahrhunderts charakteristisch war, der Sprache von einem – wie Kant formuliert hatte – „custos“, einem ‘abbildenden Werkzeug’ des Denkens81 zu einem – so Wilhelm von Humboldt – „bildenden Organ des Gedanken“82, zu einem wirklichkeitskonstitutiven Medium hatte werden lassen. ‘Bezeichnen’ heißt deshalb für Humboldt nicht, auf ein vom Zeichenprozess unabhängiges, vorgängig zu Bezeichnendes, ein Signifikat, Bezug zu nehmen, es ‘abzubilden’, zu ‘repräsentieren’, sondern es wird vielmehr als ein semiologisches Verfahren verstanden, durch das „erst das Entstehen des zu Bezeichnenden vor dem Geiste“ vollendet wird.83 Die Idee der Referenz kann nur dann epistemologisch überzeugend ausgeführt werden,
77 Zu den Gründen, warum Searle hier nicht selbst dem sprachanalytischen Ansatz zugerechnet wird, vgl. oben Anm. 27. 78 Peter Bieri, „Generelle Einführung“, in: ders. (Hrsg.), Analytische Philosophie des Geistes, Meisenheim: Hain, 1981, S. 1–28, hier: S. 14. 79 Ebd., S. 14 80 Ebd., S. 14. 81 Für Kant fungieren sprachliche Zeichen lediglich als Instrumente der reproduzierenden Einbildungskraft, die dadurch bestimmt sind, dass sie – wie Humboldt formuliert – „etwas, das früher da ist, nachzubilden“ streben (Wilhelm von Humboldt, Ansichten über Ästhetik und Literatur. Briefe an Christian Gottfried Körner, hrsg. von F. Jonas, Berlin: B. Behr’s Verlag, 1880, S. 27). Sprachliche Zeichen sind ‘Charakterismen’, die „den Begriff nur als Wächter (custos)“ begleiten, „um ihn gelegentlich zu reproduzieren“ (Immanuel Kant, Anthropologie, in: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 10, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1959, S. 497). 82 Vgl. Wilhelm von Humboldt, Gesammelte Schriften, Bd. 5, hrsg. von Albert Leitzmann, Berlin: B. Behr’s Verlag, 1906, S. 374; ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, hrsg. von Albert Leitzmann, Berlin: B. Behr’s Verlag, 1907, S. 53. 83 Humboldt, Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 436.
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wenn – wie Brandom feststellt – jener „repräsentationale Sumpf“ ausgetrocknet wird, in dem das Referenzproblem lange situiert war.84 Ein Kern dieses „Sumpfes“ besteht in dem, was Putnam das „aristotelische Schema“ nennt, ein Schema, das sich – so Putnam – „als erstaunlich strapazierfähig erwiesen hat“: „Sobald wir ein Wort oder sonst ein ‚Zeichen‘ verstehen, verknüpfen wir das Wort nach diesem Schema mit einem ‚Begriff‘, und dieser Begriff bestimmt, worauf sich das Wort bezieht“85, wobei Wort und Begriff die Gegenstände der Bezugnahme immer schon als unterschiedene in der Welt vorfinden. Nun lässt sich aber, wie Brandom gezeigt hat, das Problem des „semantischen Gehaltvollseins“ sprachlicher Zeichen „im Rahmen eines Bezeichnungsparadigmas […], also nach dem Modell der Relation zwischen einem Namen und dem von ihm Benannten“86 – eben dies ist das Modell, dem auch Searles Konzeptualisierung der Referenz folgt –, nicht angemessen behandeln: „Denn nur kraft dessen, was man nachfolgend mit dem durch einen Namen Herausgegriffenen tun kann – was man dann darüber sagen kann –, ist diese Relation eine semantische Relation“87. Der sprachexterne referentielle Bezug wird erst dadurch semantisch gehaltvoll, dass er in den sprachinternen Horizont sprachlich-diskursiver Folgehandlungen, in soziale und sprachliche Praktiken,88 eingebettet wird. Die Referenzgeste allein, durch die ein
84 Vgl. Brandom, Begründen und Begreifen, S. 20. Brandom hält diesen „Sumpf“ unberechtigterweise für einen, der „mehr oder weniger Saussurescher Provenienz“ (ebd., S. 20) sei. Selbst im Cours, erst recht aber in den Notes von Saussures eigener Hand ist die Zeichen-Idee Saussures dezidiert gegen das repräsentationalistische Paradigma gewendet. Vgl. hierzu und zu Saussures Referenz-Begriff Ludwig Jäger, Ferdinand de Saussure zur Einführung, Hamburg: Junius, 2010, S. 140–163. 85 Hilary Putnam, Repräsentation und Realität, übers. von Joachim Schulte, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1999, S. 52. Vgl. ebenso ders., Vernunft, Wahrheit und Geschichte, übers. von Joachim Schulte, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1982, S. 85. 86 Vgl. hierzu auch Saussure: Der „Grund der Sprache [langage] [wird] nicht von Namen gebildet […].“ (Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie. Notizen aus dem Nachlaß. Texte, Briefe und Dokumente, gesammelt, übersetzt und eingeleitet von Johannes Fehr, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1997, S. 337 f.) Der „Eindruck, der von einem materiellen Gegenstand herrührt, [kann] selbst niemals auch nur eine einzige sprachliche Kategorie hervorbringen“ (ders., Wissenschaft der Sprache. Neue Texte aus dem Nachlaß, hrsg. und mit einer Einleitung versehen von Ludwig Jäger, übers. und textkritisch bearbeitet von Elisabeth Birk und Mareike Buss, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003, S. 143). Die Wirklichkeit im Sinne einer vorsprachlichen Region ist nicht bestimmend für das, was den Zeichen an semantisch-referentieller Kraft innewohnt. Es gibt für Saussure keine präsemiologische Welt distinkter Gegenstände und Sachverhalte, keine „Gegebenheit der bezeichneten Objekte“ (ders., Linguistik und Semiologie, S. 338). Vgl. hierzu Jäger, Ferdinand de Saussure zur Einführung, S. 143. 87 Brandom, Begründen und Begreifen, S. 207. 88 Vgl. Brandom, Expressive Vernunft, S. 219.
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Sachverhalt oder ein Gegenstand aus einem größeren Ensemble herausgegriffen und adressiert wird, genügt nicht, um Bedeutung zu generieren, zumal deshalb nicht, weil die Identität und die Distinktivität von Referenzgegenständen ohne die Möglichkeit, sie durch sprachliche Prädikate unterscheidbar zu machen, nicht gegeben wäre. Erst prädizierende Unterscheidungshandlungen konstituieren die Gegenstände, auf die die Referenz Bezug nehmen kann. ‘Gegenstände’ sind in einer sehr wesentlichen Hinsicht etwas, auf das Prädikate zutreffen oder nicht zutreffen können.89 Ohne prädikative, klassifizierende und charakterisierende Handlungen, also unabhängig vom „Prädikatenkontext“90, haben Gegenstände gar keine referenzfähige Identität.91 Ein referentieller Akt der Weltbezugnahme ist nur unter der Bedingung seiner inferentiellen92 Rahmung möglich. Anders gesagt: Die Fähigkeit von Subjekten, mit Zeichen auf Gegenstände einer transsemiotischen Welt Bezug zu nehmen, muss – so Brandom – in Begriffen der Fähigkeit erklärt werden, mit Zeichen auf Zeichen Bezug zu nehmen.93 Die Fähigkeit, mit ‘singulären hinweisenden Ausdrücken’94 auf Gegenstände, Sachverhalte und Ereignisse Bezug zu nehmen, setzt die Fähigkeit voraus, solche Bezugnahmen in diskursiven Verfahren, in denen Zeichen auf Zeichen Bezug nehmen, zu thematisieren, zu begründen, zu erläutern, zu kommentieren, zu bestreiten oder in Frage zu stellen. Wenn die Gegenstände, auf die vermittels singulärer Ausdrücke Bezug genommen wird, wie Tugendhat gezeigt hat, in grundlegender Weise etwas Klassifizierbares sind und wenn sie
89 Vgl. Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, S. 340: Die Redeweise, „daß, wie es allgemein heißt, […] ein singulärer Terminus ‚für‘ einen Gegenstand ‚steht‘, [kann nicht] unabhängig davon geklärt werden […], daß er etwas ist, worauf Prädikate zutreffen bzw. nicht zutreffen können.“ 90 Vgl. ebd., S. 340. 91 Singuläre Termini sind – wie Tugendhat formuliert – „unselbständige Ausdrücke“. Singuläre Ausdrücke „sind wesensmäßig durch Prädikate ergänzungsbedürftige Ausdrücke“, während ein „Gegenstand wesensmäßig etwas Klassifizierbares ist“ (ebd., S. 338). Singuläre Ausdrücke sind also für sich nicht zu Referenzleistungen in der Lage. Sie sind, wie Tugendhat ausführt, durch eine „wesensmäßige Ergänzungsbedürftigkeit“ bestimmt, nämlich durch die Leistung des Prädikats als eines „Klassifikationsausdruckes“ (vgl. ebd., S. 40, S. 331, S. 367). Der Gegenstandsbezug kann also nicht unabhängig von dem gesamten Satzzusammenhang gelingen: „Eine vom Satzkontext losgelöste Bezugnahme auf einen Gegenstand gibt es nicht“ (ebd., S. 498). 92 Ich verwende den Terminus ‘inferentiell’ hier im Anschluss an Brandoms Begriffsgebrauch. 93 Vgl. auch F. Grant Johnson, Referenz und Intersubjektivität. Ein Beitrag zur philosophischen Sprachpragmatik, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1976, S. 28: „Die außersprachliche Wirklichkeit ist durch die Bezugnahme auf die sprachliche Erfahrung der Kommunizierenden vermittelt.“ 94 Vgl. Searle, Sprechakte, S. 158: „Die paradigmatischen Fälle der Referenz sind solche, in denen singuläre hinweisende Ausdrücke verwendet werden, um auf ihre Bezugsobjekte hinzuweisen.“
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insofern Klassifikationsleistungen der Prädikate voraussetzen,95 ist offensichtlich, dass ihre Identität nicht ontologisch begründet ist, sondern dass sie sich vielmehr aus den Klassifizierungs- und Charakterisierungsleistungen der Prädikate herleitet, die auf sie als durch singuläre Termini jeweils herausgegriffene Gegenstände angewendet werden.96 Es ist also naheliegend, dass diese durch Klassifikations- und Charakterisierungsleistungen bewirkten Identitätsbestimmungen der Gegenstände prinzipiell fragil sind und zum Gegenstand diskursiver Aushandlungsprozesse werden können.97 Zugleich ist aber auch klar, dass es die Identität der Gegenstände möglicher Referenz unabhängig von klassifizierenden Charakterisierungen der Referenzobjekte durch Prädikate nicht gibt. Referieren scheint also immer nur im Rahmen ganzer Aussagen (und nicht subsentential durch singuläre hinweisende Ausdrücke) möglich zu sein, wobei das Führwahrhalten dieser Aussagen und das mit ihnen einhergehende Charakterisieren der Referenzgegenstände grundsätzlich immer aushandlungsbedürftig werden kann. Referieren scheint also eng an Transkribieren98 gebunden zu sein.99 Die referentielle Semantik sprachlicher Zeichen ist das gleichsam sedimentierte100 (und
95 Vgl. oben Anm. 91. 96 Vgl. Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, S. 182 f.: „Indem wir ein Prädikat auf einige Gegenstände anwenden und auf andere nicht, klassifizieren wir damit alle diejenigen Gegenstände, auf die wir es anwenden, und unterscheiden sie damit zugleich von denjenigen, auf die wir es nicht anwenden. Wenn wir ein Prädikat auf einen Gegenstand anwenden, so deklarieren wir ihn als solchen, der so ist wie die anderen Gegenstände, auf die wir das Prädikat anwenden, und nicht so, wie die, auf die wir es nicht anwenden, und d. h. wir charakterisieren ihn als einen solchen. Die Charakterisierungsfunktion besteht im Klassifizieren-und-Unterscheiden.“ 97 Vgl. Brandom, Begründen und Begreifen, S. 207–212. Vgl. außerdem ders., Expressive Vernunft, S. 399 f.: „Die für uns charakteristische Verstandesfähigkeit ist ein Status, der im Rahmen einer Struktur wechselseitigen Anerkennens gewonnen wird […]. Der spezifisch diskursive Charakter dieser normativen sozialen Struktur […] besteht in der inferentiellen Gliederung dieser Anerkennungspraktiken. Wir sind diejenigen, die Gründe für das, was wir sagen und tun, geben und verlangen.“ 98 Vgl. hierzu etwa Ludwig Jäger, „Transkription“, in: Christina Bartz et al. (Hrsg.), Handbuch der Mediologie. Signaturen des Medialen, München: Fink, 2012, S. 306–315, und die weitere dort angegebene Literatur zum Transkriptionsproblem. 99 „Es reicht einfach nicht, bloß einen Gegenstand oder einen möglichen Sachverhalt herauszugreifen. Man muß darüber hinaus etwas über den Gegenstand sagen, man muß behaupten, daß der Sachverhalt besteht oder eine Tatsache ist.“ (Brandom, Begründen und Begreifen, S. 207 f.) 100 Semantische Gehalte von Begriffen enthalten, wie Brandom formuliert, ‘implizite inferentielle Festlegungen’, die unter bestimmten Bedingungen explizit gemacht und ‘für Anfechtungen verletzlich gemacht’ werden können sollten. Brandom leitet hiervon eine kommunikationsethische Maxime ab: „Wenn man die im Gehalt implizit enthaltene inferentielle Festlegung als eine
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insofern immer ‘störbare’101) Ergebnis diskursiver Gebrauchsgeschichten dieser Zeichen im Horizont prädizierender Sprachhandlungen. Zeichen erhalten ihren referentiellen Inhalt aus ihrer inferentiellen Verwobenheit, d. h. dadurch, dass sie als Zeichen auf andere Zeichen bezogen sein müssen. Die semantische Aufladung der Zeichen kommt – wie Saussure formuliert – immer „von der Seite“102. Und es ist diese ‘aparte’ Semantisierungsbewegung, die in ihrem Kern als eine prädizierende Bewegung verstanden werden kann. Singuläre Ausdrücke können für sich nicht referieren; sie ‘sind wesensmäßig ergänzungsbedürftig durch Prädikate’.103 Wenn man so will, setzt die referentielle Fähigkeit zur extralinguistischen Bezugnahme von Zeichen auf eine ‘sprachexterne’ Welt das Vermögen zu intralinguistischer Bezugnahme von Zeichen auf Zeichen – und das heißt – eine inferentielle Kompetenz voraus. Brandom hat diesen Gedanken einer ‘aparten Semantik’ in seinem Holismus-Theorem formuliert. Es ist – so Brandom – „nicht möglich, überhaupt irgendwelche Begriffe zu haben, wenn man nicht viele hat“104. Von Inferentialismus zu reden, heißt also immer zugleich davon zu reden, dass Inferenzen im Horizont holistischer semantischer Netzwerke operieren, die in multiplen Formen von den Sprechern einer Sprache auserzählt werden. ‘Inferieren’ und inferentielles Bezugnehmen muss sich dabei nicht auf den Raum von Begründungsdiskursen im engeren Sinne beschränken. Es kann sich auch auf andere, nichtlogische Formen der Bezugnahme von Zeichen auf Zeichen wie übersetzen, erläutern, paraphrasieren, erklären, explizieren, zitieren etc. beziehen, d. h. auf inferentielle Bezugnahmeformen, die die Rolle von Möglichkeitsbedingungen referentieller Akte übernehmen. Inferieren heißt also, in jenen semantischen Netzwerken zu mäandern, in deren semantischer Umgebung referentielle Bezugnahmen verortet
explizite Behauptung formuliert, so bringt man sie als eine ans Licht, die sich wie jede andere behauptende Äußerung Anfechtungen und Rechtfertigungsforderungen zu stellen hat“ (Brandom, Begründen und Begreifen, S. 97). 101 Vgl. zum Begriff der Störung Ludwig Jäger, „Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen“, in: Sybille Krämer (Hrsg.), Performativität und Medialität. München: Fink, 2004, S. 35–73. 102 Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique générale. Édition critique par Rudolf Engler, tome 2: Appendice. Notes de F. de Saussure sur la linguistique générale, fascicule 4, Wiesbaden: Harrassowitz, 21990, S. 18, N 7, 3293.5. (Im Folgenden zitiert als EC[N].) 103 Vgl. Anm. 91. 104 Brandom, Begründen und Begreifen, S. 28; vgl. auch ebd., S. 45: „Jeder Inferentialismus ist einer bestimmten Art von semantischem Holismus verpflichtet […]. Denn wenn der von jedem einzelnen Satz oder jedem Wort ausgedrückte begriffliche Gehalt so verstanden wird, daß er wesentlich aus seinen inferentiellen Relationen […] besteht oder durch seine inferentiellen Relationen […] gegliedert wird, dann muß man viele solcher Gehalte begreifen, um überhaupt einen zu begreifen.“
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sein müssen. Der propositionale Gehalt von Begriffen und Behauptungen oder, wenn man so will, die Sphäre der Semantik kann nicht – wie dies der Searle’sche ‘externe Realismus’ versucht – an eine wie auch immer gedachte prädiskursive, ‘ontologische’ Gegenstandswelt zurückgebunden werden. Sie muss vielmehr in einem Raum zeichenvermittelter Diskursivität verankert sein, in dem und durch den die Bezugnahmen auf eine außersprachliche Wirklichkeit erst möglich werden.105 Die Welt möglicher Referenz verdankt sich in ihrer Distinktivität und semantischen Strukturiertheit dem diskursiven Spiel und dem referentiellen Reichtum prädizierender Narrativität. Sprachen sind insofern – wie bereits Saussure deutlich gemacht hat – keine Repräsentationswerkzeuge für vorsprachliche Dingwelten, sondern vielmehr semiologische Verfahren, die es allererst ermöglichen, Unterscheidungen in präsemiologische Wirklichkeiten einzuschreiben. Referenzielle Akte (ohne Inferenz) sind deshalb, anders als dies Searle in seiner Sprechhandlungstheorie vor dem Hintergrund seines ‘externen Realismus’ vertritt, keine autonomen Sprechakte. Insofern ist auch eine Priorisierung der Referenz, d. h. eine Priorisierung des Herausgreifens von Gegenständen aus dem Universum der Gegenstandswelt vor den prädikativen Akten, durch die ihnen Eigenschaften zugeschrieben werden, durch die sie ‘klassifiziert’ werden, nicht zulässig. Referenz ist für sich kein selbständiger Akt, auf den die Prädikation als unselbständige, logisch abhängige Handlung bezogen bliebe.106 Die für das Herausgreifen von Gegenständen im referentiellen Akt notwendige Unterscheidbarkeit107 der Gegenstände beruht auf je verschiedenen Clustern von Prädikaten, durch die erst Gegenstände als distinkte Gegenstände bestimmt sind. Die in Prädizierungen verwendeten Prädikate sind in inferentielle Netzwerke eingewoben, deren Bestand von der fortwährenden diskursiven Aktivität der Sprachsubjekte abhängt, die sich in ihnen bewegen. Ohne die Distinktionsleistungen des semiologischen Systems wären Gegenstände gar keine unter-
105 Das Verfügen über begriffliche Gehalte, das eine zentrale Voraussetzung der Bezugnahme auf transsemiotische Sachverhalte darstellt, ist, so Brandom, eine „sprachliche Angelegenheit, nicht in dem Sinn, daß man sprechen muß, um es zu tun, sondern in dem Sinn, daß man ein Mitspieler im wesentlich sprachlichen Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen sein muß, um [zum Verfügen über begriffliche Gehalte] in der Lage zu sein.“ (Brandom, Expressive Vernunft, S. 26) Brandom geht hier davon aus, „daß die Eigenschaft, über propositionale Gehalte zu verfügen, anhand der Praktiken des Lieferns und Forderns von Gründen zu verstehen [ist]. Eine zentrale Behauptung lautet, daß diese Praktiken als soziale Praktiken zu verstehen sind – ja als sprachliche.“ (ebd., S. 219) 106 Vgl. hierzu insgesamt Searle, Sprechakte, S. 44–48 sowie S. 114–149, S. 150–194. 107 Vgl. hierzu Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, S. 182 f.
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scheidbaren Entitäten. Ohne prädikative Bestimmung wären Referenzobjekte als Objekte möglicher Bezugnahme nicht identifizierbar. Ihre Distinktivität verdankt sich semiologischen und nicht ontologischen Gründen. Ehe es also Zeichensubjekten möglich ist, mit Zeichen auf die Welt zu referieren, muss das Spiel der Bezugnahme von Zeichen auf Zeichen möglich sein, müssen die Bedeutungen von Zeichen in dem Sinne verfügbar sein, dass ihre Vernetzung mit anderen Zeichen im System einer Sprache aufgerufen, also das semantische Netzwissen108 bei Bedarf in Um- und Überschreibungen, in inferentiellen Bezugnahmehandlungen auserzählt werden kann. Semantiken gründen sich also epistemologisch nicht in einem Reich symbolfreier Kognition oder einer ontologischen Ordnung der ‘Welt selbst’. Ihre Funktion kann sich nicht darin erschöpfen, Weisen bereitzustellen, in denen eine prämediale (‘ontologische’) Welt dargestellt, abgebildet, gespiegelt zu werden vermag. Sie sind vielmehr an das Vermögen geknüpft, in jenen semiologischen Netzwerken inferentiell – oder, wenn man so will, prädikativ – entfaltet zu werden, die referentiellen Akten ihr innersprachliches Fundament geben.
Verzeichnis der zitierten Literatur Austin, John L., Wort und Bedeutung. Philosophische Aufsätze, übers. von Joachim Schulte, München: List, 1975. Austin, John L., Zur Theorie der Sprechakte, deutsche Bearbeitung von Eike von Savigny, Stuttgart: Reclam, 2002. Bieri, Peter, „Generelle Einführung“, in: ders. (Hrsg.), Analytische Philosophie des Geistes, Meisenheim: Hain 1981, S. 1–28. Brandom, Robert B., Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung, übers. von Eva Gilmer und Hermann Vetter, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2000. Brandom, Robert B., Begründen und Begreifen. Eine Einführung in den Inferentialismus, übers. von Eva Gilmer, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001. Frege, Gottlob, „Ausführungen über Sinn und Bedeutung“ (1892–1895), in: ders., Schriften zur Logik und Sprachphilosophie. Aus dem Nachlaß, mit Einleitung, Anmerkungen, Bibliographie und Register hrsg. von Gottfried Gabriel, Hamburg: Meiner, 1971, S. 25–34. Frege, Gottlob, Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl, Breslau: Verlag Wilhelm Koebner, 1884.
108 Vgl. hierzu Saussures Theoriefragment „Notes Item“, in dem er die Netzverwobenheit sprachlicher Zeichen theoretisch entfaltet: Saussure, EC(N), S. 35–41, N 15.1-19, 3306–3324. Vgl. hierzu Ludwig Jäger, „Der saussuresche Begriff des Aposème als Grundlagenbegriff einer hermeneutischen Semiologie“, in: Ludwig Jäger/Christian Stetter (Hrsg.), Zeichen und Verstehen. Akten des Aachener Saussure-Kolloquiums 1983, Aachen: Rader, 1986, S. 7–33; ders., Ferdinand de Saussure zur Einführung, S. 144–150, S. 154–163.
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Ludwig Jäger
Humboldt, Wilhelm von, Ansichten über Ästhetik und Literatur. Briefe an Christian Gottfried Körner, hrsg. von F. Jonas, Berlin: B. Behr’s Verlag, 1880. Humboldt, Wilhelm von, Gesammelte Schriften, Bd. 5, hrsg. von Albert Leitzmann, Berlin: B. Behr’s Verlag, 1906. Humboldt, Wilhelm von, Gesammelte Schriften, Bd. 7, hrsg. von Albert Leitzmann, Berlin: B. Behr’s Verlag, 1907. Husserl, Edmund, Logische Untersuchungen II, 1: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Tübingen: Niemeyer, 51968. Husserl, Edmund, Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, redigiert und hrsg. von Ludwig Landgrebe, Hamburg: Meiner, 1972. Jäger, Ludwig, „Der saussuresche Begriff des Aposème als Grundlagenbegriff einer hermeneutischen Semiologie“, in: Ludwig Jäger/Christian Stetter (Hrsg.), Zeichen und Verstehen. Akten des Aachener Saussure-Kolloquiums 1983, Aachen: Rader, 1986, S. 7–33. Jäger, Ludwig, „Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen“, in: Sybille Krämer (Hrsg.), Performativität und Medialität, München: Fink, 2004, S. 35–73. Jäger, Ludwig, Ferdinand de Saussure zur Einführung, Hamburg: Junius, 2010. Jäger, Ludwig, „Transkription“, in: Christina Bartz et al. (Hrsg.), Handbuch der Mediologie. Signaturen des Medialen, München: Fink, 2012, S. 306–315. Jäger, Ludwig, „‚Outthereness’. Über das Problem des Wirklichkeitsbezugs von Zeichen“, in: Ekkehard Felder/Andreas Gardt (Hrsg.), Wirklichkeit oder Konstruktion? Sprachtheoretische und interdisziplinäre Aspekte einer brisanten Alternative, Berlin/Boston: de Gruyter, 2018, S. 301–323. Johnson, F. Grant, Referenz und Intersubjektivität. Ein Beitrag zur philosophischen Sprachpragmatik, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1976. Kamlah, Wilhelm/Paul Lorenzen, Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens, Mannheim: Bibliographisches Institut, 1967. Kant, Immanuel, Anthropologie, in: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 10, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1959. Kemmerling, Andreas, „Von der Sprache zum Bewußtsein – John R. Searle löst sich vom analytischen Mainstream“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 48 (1994), Nr. 5, S. 432–438. Kuhn, Thomas S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, übers. von Kurt Simon, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1973. Popper, Karl, Logik der Forschung, Tübingen: Mohr, 51973. Putnam, Hilary, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, übers. von Joachim Schulte, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1982. Putnam, Hilary, Repräsentation und Realität, übers. von Joachim Schulte, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1999. Saussure, Ferdinand de, Cours de linguistique générale. Édition critique par Rudolf Engler, tome 2: Appendice. Notes de F. de Saussure sur la linguistique générale, fascicule 4, Wiesbaden: Harrassowitz, 21990. Saussure, Ferdinand de, Linguistik und Semiologie. Notizen aus dem Nachlaß. Texte, Briefe und Dokumente, gesammelt, übersetzt und eingeleitet von Johannes Fehr, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1997. Saussure Ferdinand de, Wissenschaft der Sprache. Neue Texte aus dem Nachlaß, hrsg. und mit einer Einleitung versehen von Ludwig Jäger, übers. und textkritisch bearbeitet von Elisabeth Birk und Mareike Buss, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003.
Ist Prädikation ein Sprechakt? Anmerkungen zu Searles Theorie der Bedeutung
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Searle, John R., Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, übers. von R. und R. Wiggershaus, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1971. Searle, John R., Ausdruck und Bedeutung. Untersuchungen zur Sprechakttheorie, übers. von Andreas Kemmerling, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1982. Searle, John R., Die Wiederentdeckung des Geistes, übers. von Harvey P. Gavagai, München: Artemis und Winkler, 1993. Searle, John R., Geist, Sprache und Gesellschaft. Philosophie in der wirklichen Welt, übers. von Harvey P. Gavagai, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001. Tugendhat, Ernst, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1976. Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1967. Wittgenstein, Ludwig, Das Blaue Buch. Eine philosophische Betrachtung (Das Braune Buch), hrsg. von Rush Rhees, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1980.
Biobibliographische Informationen zu den Herausgebern und Autor/innen Andreas Haug ist Inhaber des Lehrstuhls für Musik des vorneuzeitlichen Europa am Institut für Musikforschung der Universität Würzburg. Er hatte Professuren in Trondheim und Erlangen sowie Gastprofessuren in Basel, Wien und Eugene/OR (USA) inne. Schwerpunkte seiner Forschungen bilden die Musikgeschichte der Spätantike und der Karolingerzeit sowie das einstimmige Lied im europäischen Mittelalter. Er war Senior Fellow des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) in Wien. Zusammen mit dem Inhaber des Würzburger Lehrstuhls für Künstliche Intelligenz, Frank Puppe, leitet er das Langzeitprojekt Corpus monodicum der Mainzer Akademie der Wissenschaften, in dem eine digitale Online-Edition der einstimmigen Musik des lateinischen Mittelalters erarbeitet wird. Ausgewählte Publikationen: mit Andreas Dorschel (Hrsg.), Vom Preis des Fortschritts. Gewinn und Verlust in der Musikgeschichte (= Studien zur Wertungsforschung, Bd. 49), Wien/London/New York: Universal Edition, 2008; „Ways of Singing Hexameter in Tenth-Century Europe“, in: Michael Scott Cuthbert/Sean Gallagher/Christoph Wolff (Hrsg.), City, Chant, and the Topography of Early Music. In Honor of Thomas Forest Kelly (= Harvard Publications in Music, Bd. 23), Cambridge, MA: Harvard University Press, 2013, S. 207–228; „Medialitäten des Gotteswortes. Die vokale Performanz sakraler Texte in den Buchreligionen des Mittelalters“, in: Klaus Oschema/Ludger Lieb/Johannes Heil (Hrsg.), Abrahams Erbe. Konkurrenz, Konflikt und Koexistenz der Religionen im europäischen Mittelalter, Berlin/Boston: de Gruyter, 2015, S. 187–196. Daniel Jacob ist nach Stationen in München und Köln seit 2007 Professor für Romanische Philologie mit dem Schwerpunkt Französische und Spanische Sprachwissenschaft an der Universität Freiburg. Er studierte Romanistik, Geographie und zeitweise Klassische Philologie in Heidelberg, wo er 1987 in Romanischer Philologie promoviert wurde. Die Habilitation erfolgte 1994 an der Universität Freiburg. Von 2012 bis 2020 war Jacob stellvertretender Sprecher des DFG-Fachkollegiums 104 (Sprachwissenschaft). Aktuell fungiert er unter anderem als Vorsitzender des Vorstands des Frankreichzentrums der Universität Freiburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Pragmatik-Syntax-Schnittstelle, die spanische Sprachgeschichte sowie die Bezüge zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft. Ausgewählte Publikationen: mit Johannes Kabatek (Hrsg.), Lengua medieval y tradiciones discursivas en la Península Ibérica: descripción gramatical – prag-
https://doi.org/10.1515/9783110715514-008
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mática histórica – metodología (= Lingüística Iberoamericana, Bd. 12), Frankfurt a. M./Madrid: Vervuert/Iberoamericana, 2001; mit Andreas Dufter (Hrsg.), Focus and Background in Romance Languages (= Studies in Language Companion Series, Bd. 112), Amsterdam/Philadelphia: Benjamins, 2009; mit Monika Fludernik (Hrsg.), Linguistics and Literary Studies (= linguae & litterae. Publications of the School of Language and Literature of the Freiburg Institute for Advanced Studies, Bd. 31), Berlin/Boston: de Gruyter, 2014; „Reference in Linguistics”, in: Monika Fludernik/Marie-Laure Ryan (Hrsg.), Narrative Factuality. A Handbook, Berlin/ Boston: de Gruyter, 2019, S. 267–285. Ludwig Jäger hatte von 1982 bis 2011 den Lehrstuhl für Deutsche Philologie an der RWTH Aachen inne. Von 2002 bis 2009 war er Geschäftsführender Direktor des SFB/FK 427 „Medien und kulturelle Kommunikation“ (Aachen, Bonn, Köln). Ferner ist er Mitglied des Hochschulrats der Justus-Liebig-Universität Gießen sowie des Arbeitskreises „Text und Textlichkeit“ der Fritz Thyssen Stiftung. Ausgewählte Publikationen: mit Werner Holly/Peter Krapp/Samuel Weber/ Simone Heekeren (Hrsg.), Language – Culture – Communication. An International Handbook of Linguistics as Cultural Study, Berlin/Boston: de Gruyter, 2016; „Ästhetik und Semiologie. Die Emanzipation des ,Aisthetischen‘ in den Zeichenideen Kants, Humboldts und Hegels“, in: Poetica 49 (2017/2018), S. 233–255; „‚Fremdheit‘ und ‚Eigensinn‘. Übersetzen und Verstehen bei Humboldt und Schleiermacher“, in: Scientia Poetica 20 (2019), H. 1, S. 123–147; „Audioliteralität: zur akroamatischen Dimension des Literalen“, in: Natalie Binczek/Uwe Wirth (Hrsg.), Handbuch Literatur und Audiokultur, Berlin/Boston: de Gruyter, 2020, S. 61–84. Andreas Kablitz ist seit 1994 Professor für Romanische Philologie und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln, wo er zugleich als Direktor des Petrarca‐Instituts fungiert. Er ist Träger des Leibniz-Preises der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der Fritz Thyssen Stiftung. Darüber hinaus ist er korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften sowie ordentliches Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Im Jahr 2010 ernannte ihn der italienische Staatspräsident zum Commendatore dellʼOrdine della Stella della Solidarietà Italiana. Seit 2017 leitet er zusammen mit Christoph Markschies und Peter Strohschneider den Arbeitskreis „Text und Textlichkeit“ der Fritz Thyssen Stiftung. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der italienischen und französischen Literatur des Mittelalters und der Literatur der europäischen Renaissance sowie dem Roman des 19. Jahrhunderts. Außerdem beschäftigt er sich mit Literaturtheorie als Kulturtheorie, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Zeit-
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lichkeits- und Raumkonzepten sowie Konzepten der Verkörperung und Theatralität. Ausgewählte Publikationen: Kunst des Möglichen. Theorie der Literatur, Freiburg/Br.: Rombach, 2012; Der Zauberberg: Die Zergliederung der Welt, Heidelberg: Winter, 2017; Ist die Neuzeit legitim? Der Ursprung neuzeitlichen Naturverständnisses und die italienische Literatur des 14. Jahrhunderts (Dante – Boccaccio), Basel: Schwabe, 2019. Charlotte Klonk ist Professorin am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie hat in Hamburg und Cambridge Kunstgeschichte studiert, war von 1993 bis 1995 Junior Research Fellow am College Christ Church in Oxford und anschließend Lecturer am History of Art Department der University of Warwick. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt seit ihrer Doktorarbeit an der University of Cambridge auf der neueren und neuesten Kunst- und Bildgeschichte vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Ausgewählte Publikationen: Science and the Perception of Nature, New Haven/ London: Yale University Press, 1998; Spaces of Experience: Art Gallery Interiors from 1800 to 2000, New Haven/London: Yale University Press, 2009; mit Michael Hatt, Art History: A Critical Introduction to its Methods, Manchester: Manchester University Press, 2006; Terror. Wenn Bilder zu Waffen werden, Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag, 2017. Christoph Markschies ist Professor für Ältere Kirchengeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und seit Oktober 2020 Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Von 2006 bis 2010 war er Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin, darüber hinaus ist er Mitglied in diversen wissenschaftlichen Vereinigungen und Gremien, so zum Beispiel der Academia Europaea und der Fritz Thyssen Stiftung, wo er seit 2015 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats ist. 2001 wurde ihm der Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft verliehen, 2017 wurde er zudem mit dem Bundesverdienstkreuz und der Ehrendoktorwürde der päpstlichen Lateran-Universität in Rom geehrt. Zusammen mit Andreas Kablitz und Peter Strohschneider leitet er seit 2017 den Arbeitskreis „Text und Textlichkeit“ der Fritz Thyssen Stiftung. Sein Forschungsinteresse gilt dem antiken Christentum mit besonderem Schwerpunkt auf der Geistes- und Ideengeschichte, den marginalisierten Bewegungen der Mehrheitskirche (Gnosis und Montanismus) sowie der Transformation der (platonischen) Philosophie in der christlichen Theologie und Körpergeschichte. Ausgewählte Publikationen: Die Gnosis, München: Beck, 42018; Gottes Körper: Jüdische, christliche und pagane Gottesvorstellungen in der Antike, München:
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Beck, 2016; Das antike Christentum: Frömmigkeit, Lebensformen, Institutionen, München: Beck, 22012. Erhard Schüttpelz ist seit 2005 Professor für Medientheorie an der Universität Siegen. Er studierte in Hannover, Exeter, Bonn, Oxford und Köln Germanistik, Anglistik und Ethnologie. An die Promotion in Germanistik an der Universität Bonn im Jahr 1999 schloss sich 2003 die Habilitation in Neuerer Deutscher Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz an. Seit 2017 ist Erhard Schüttpelz Mitglied des Arbeitskreises „Text und Textlichkeit“ der Fritz Thyssen Stiftung. Seine Forschungsschwerpunkte bilden die postkoloniale Literatur- und Mediengeschichte der globalisierten Moderne, die Wissenschaftsgeschichte der Medientheorie und Ethnologie sowie die Sprach- und Medientheorie der Rhetorik. Ausgewählte Publikationen: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie 1870–1960, München: Fink, 2005; mit Gerd Kneer/Marcus Schroer (Hrsg.), Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2008; mit Tristan Thielmann (Hrsg.), AkteurMedien-Theorie, Bielefeld: transcript, 2013. Hans-Georg Soeffner ist emeritierter Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Konstanz, Permanent Fellow und Vorstandsmitglied am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen. Von 2007 bis 2011 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) und Senior Fellow im Exzellenzcluster der Universität Münster. Seit 2010 ist Hans-Georg Soeffner Senior Fellow im Käte Hamburger Kolleg „Recht als Kultur“ und seit 2013 Senior Advisor am Forum Internationale Wissenschaft (FIW) der Universität Bonn, wo er seit 2020 auch eine Seniorprofessur wahrnimmt. Hans-Georg Soeffner ist Mitglied des Arbeitskreises „Text und Textlichkeit“ der Fritz Thyssen Stiftung und darüber hinaus Mitglied zahlreicher Wissenschaftsgremien, so zum Beispiel des Beirates des „Center for German Studies“ an der Hebrew University Jerusalem sowie des Beirates des „Center for German and European Studies“ an der Universität Haifa. Ausgewählte Publikationen: Symbolische Formung. Eine Soziologie des Symbols und des Rituals, Weilerswist: Velbrück, 2010; „Religion und Kultur des Individuums. 12 Thesen“, in: Peter A. Berger/Klaus Hock/Thomas Klie (Hrsg.), Religionshybride. Religion in posttraditionalen Kontexten, Wiesbaden: Springer VS, 2013, S. 285–304; „Fragiler Pluralismus“, in: Hans-Georg Soeffner/Thea D. Boldt (Hrsg.), Fragiler Pluralismus, Wiesbaden: Springer VS, 2014, S. 207–224; „Zen und der ‚kategorische Konjunktiv‘“; in: Michael Müller/Jürgen Raab/HansGeorg Soeffner (Hrsg.), Grenzen der Bildinterpretation, Wiesbaden: Springer VS, 2014, S. 55–75; Bild- und Sehwelten. Visueller Erkenntnisstil und Hermeneutik des Sehens, Weinheim/Basel: Beltz Juventa, 2020.
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Peter Strohschneider ist emeritierter Professor für Germanistische Mediävistik an der LMU München. Von 2006–2011 war er Vorsitzender des Wissenschaftsrates, von 2013–2019 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Er ist Mitglied mehrerer nationaler und internationaler Gremien und Akademien (darunter Bayerische Akademie der Wissenschaften, Leopoldina, Academia Europaea) und war unter anderem auch Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Fritz Thyssen Stiftung. Gemeinsam mit Andreas Kablitz und Christoph Markschies leitet er seit 2017 den Arbeitskreis „Text und Textlichkeit“ der Fritz Thyssen Stiftung. Seine Arbeitsschwerpunkte sind (neben der Entwicklung des Wissenschaftssystems) die Kulturwissenschaftliche Mediävistik, die Theorie des vormodernen Textes sowie Erzählliteratur und Lieddichtung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Ausgewählte Publikationen: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, Berlin/New York: de Gruyter, 2009 (als Hrsg.); Höfische Textgeschichten. Über Selbstentwürfe vormoderner Literatur, Heidelberg: Winter, 2014; Versuch über die Universität. Selbstbezug und Fremdbezug der Wissenschaften, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz, 2015; Reden 2013–2019. Eine Auswahl, Bonn: DFG, 2019; Zumutungen. Wissenschaft in Zeiten von Populismus, Moralisierung und Szientokratie, Hamburg: kursbuch.edi tion, 2020.
Register Adenauer, Konrad 78–80, 87, 90 Adorno, Theodor W. 5–7, 11, 14, 43 f. Alkuin 24 f., 39 Aristoteles 149 f., 181 Atkinson, Charles M. 1, 19 Augustinus 22 Austin, John L. X, 150 f., 172, 175–179 Beaugrande, Robert de 12 Bieri, Peter 185 Bierwisch, Manfred 13 Bismarck, Otto von 75 Boehm, Gottfried 93 Boethius (Anicius Manlius Severinus Boethius) 25 f. Boetticher, Karl Heinrich von 75 Boyd, Robert 130 Brandom, Robert B. 175, 179–182, 186–190 Brentano, Franz 178 Brunel, Isambard Kingdom 62 Bühler, Karl 139, 141, 163 f. Bulganin, Nikolai 78 Carroll, Lewis 64 Cassiodor (Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus Senator) 22 Castiglione, Baldesar 69 Cézanne, Paul 64 Chruschtschow, Nikita 78 Cicero (Marcus Tullius Cicero) 69 Constable, John 63 Danuser, Helmut 8 Darwin, Charles 68–70, 77, 80, 86 Derrida, Jacques 130, 165 Donat (Aelius Donatus) 23 f. Dressler, Wolfgang 12 Earlom, Richard 57 Eibl-Eibesfeldt, Irenäus 68, 77 Einstein, Albert 183 Ekman, Paul 68, 80 https://doi.org/10.1515/9783110715514-009
Feyerabend, Paul 183 f. Flaubert, Gustave 103 Franziskus (Papst), bürgerlich Jorge Mario Bergoglio 88–90 Frege, Gottlob IX, XII, XIII, 52 f., 57, 64, 151 f., 155 f., 160, 172, 175, 178 f., 181 f. Freud, Sigmund 108, 120, 183 Friedrich, Caspar David 63 Gabelentz, Georg von der 155 Gage, John 58, 60 Garfinkel, Harold 145 Gellée, Claude (genannt Lorrain) 56 f. Goethe, Johann Wolfgang von 59 f. Goffman, Erving 67, 69 Goodman, Nelson 9, 11, 43 f. Goodwin, Charles XI, 128–142, 145, 147 f. Grice, H. Paul 160 f., 164, 168, 172 Heinzer, Felix 25 Heisenberg, Werner 183 Hinrichsen, Hans-Joachim 5 Hoare, Richard Colt (Sir) 57 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 55 Hrabanus Maurus (Rabanus) 22 Humboldt, Wilhelm von 185 Husserl, Edmund 91, 175, 178 f., 181 Hutchins, Edwin 135 Imdahl, Max 91 Isidor von Sevilla 38 Jäger, Ludwig 1, 18, 42 Jakobson, Roman 105 Johannes Paul II. (Papst), bürgerlich Karol Józef Wojtyła 88, 90 Johannes XXIII. (Papst), bürgerlich Angelo Guiseppe Roncalli 90 Kablitz, Andreas 51 Kant, Immanuel 121, 179 f., 185 Kemmerling, Andreas 175 Knobloch, Clemens 8 Krifka, Manfred 156, 162
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Register
Kristeller, Paul Oskar 16 Kuhn, Thomas 183 f. Kurz, Gerhard 8 Langer, Susanne K. 92 Leicester, John (Sir) 58 Lessing, Gotthold Ephraim 69 Lorenz, Konrad 68 f. Luhmann, Niklas 160, 165 Magee, John M. 25 Mann, Thomas XI f., 102–106, 110, 112, 118, 122, 124 Marrou, Henri Irénée 22 Marty, Anton 178 Maturana, Umberto 160 Mead, George Herbert XIII, 68, 70 f., 77 Meyer, Christian 139 Monet, Claude 64 Musan, Renate 156 Newton, Isaac (Sir) 58 f. Nietzsche, Friedrich 17, 69 Northcote, John 58, 61 Ovid (Publius Ovidius Naso) 57 Panofsky, Erwin 51 Paul, Hermann 155 Platon 30 Popper, Karl R. 183 Previsic, Boris 13 Priscian (Priscianus Caesariensis) 23 f., 39 Putnam, Hilary 186
Queneau, Raymond 64 Raab, Jürgen 91 Reckow, Fritz 15 Richerson, Peter 130 Riemann, Hugo 4 Russell, Bertrand 53 Sacks, Harvey 129, 145 Saussure, Ferdinand de 9, 92, 98, 164, 186, 189 f. Schiller, Friedrich von 69, 75 Schmid, Carlo 79 Schütz, Alfred 91, 94 Searle, John R. X, 151–153, 171–186, 190 Siddhartha Gautama (Buddha) 92 Stalnaker, Robert 160 Stierle, Karlheinz 13 Thomson, James 54 f., 58 Thürlemann, Felix 51 Troncarelli, Fabio 25 Tugendhat, Ernst 175, 182, 187 Turner, Joseph Mallord William XIII, 54–63 Varela, Francisco J. 160 Victorinus (Gaius Marius Victorinus) 23 f., 39 Volosinov, Valentin N. 147 Wilson, Richard 54 Wittgenstein, Ludwig 53, 98, 161, 178, 182 Wundt, Wilhelm 68–70, 86