Praxisbuch Schulseelsorge 9783666580420, 9783525580424, 9783647580425


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Praxisbuch Schulseelsorge
 9783666580420, 9783525580424, 9783647580425

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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525580424 — ISBN E-Book: 9783647580425

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525580424 — ISBN E-Book: 9783647580425

Hans-Martin Gutmann / Birgit Kuhlmann / Katrin Meuche

Praxisbuch Schulseelsorge Mit Beiträgen von Bärbel Dauber Antje Micheel-Sprenger Özlem Nas Silke Petersen-Bukop Marion Tiburtius Marion Voigtländer Gunda Wohlenberg

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525580424 — ISBN E-Book: 9783647580425

Unseren Kindern Anne, Anouk und Victor

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-58042-4 ISBN 978-3-647-58042-5 (E-Book)

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Druck und Bindung: E Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6

Was ist Seelsorge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Seelsorge geschieht in Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . 13 »Seele« – was ist das? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Seelsorge: Ortsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Seelsorge: Mitteilung von Lebensmut . . . . . . . . . . . . . . 18 Elementare religiöse Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Seelsorge als »In-Ordnung-Bringen« . . . . . . . . . . . . . . 20

2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9

Was ist Schulseelsorge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Seelsorge und Schule, Kirche und Bildung . . . . . . . . . . 22 Schule ist Lebensort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Handlungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Individuen beraten und begleiten . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Arbeit mit Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Schule als Lebensraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Networking . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Evangelische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Plurale Perspektiven Rechtfertigungsverheißung . . . . . . . 29

3. 3.1 3.2 3.3

Dimensionen der Schulseelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Einflussreiche Seelsorgekonzeptionen . . . . . . . . . . . . . 32 Der komplementäre Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Wechselseitige Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

Methoden 4 4.1

Systemische Seelsorge im Arbeitsfeld Schule . . . . . . . . 43 Der systemische Blick in der Schulseelsorge . . . . . . . . . . 43 Inhalt

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4.2. Systemischer Blick und Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 4.3 Grundelemente systemischer Theorie bzw. Beratung und Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 5 5.1 5.2

Das seelsorgliche Kurzgespräch im Arbeitsfeld Schule . . . 59 Anforderungen an die beratende Person . . . . . . . . . . . 59 Das seelsorgliche Gespräch: Steckbrief und Technik . . . . . 64

6 6.1 6.2

Die kollegiale Fallberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

7 7.1 7.2

Schulsozialarbeit und Schulseelsorge im Vergleich . . . . . 80 Was ist »Schulsozialarbeit«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Was unterscheidet Schulsozialarbeit von Schulseelsorge? . . 84

Themen

6 

8 8.1 8.2 8.3 8.4

Interreligiöse Schulseelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Religionsbegriff und interreligiöse Seelsorge . . . . . . . . . 94 Das Seelsorgegespräch mit Einzelnen . . . . . . . . . . . . . 96 Religionsunterricht als Schulseelsorge . . . . . . . . . . . . . 99 Religionssensible Schulkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

9 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6 9.7

Umgang mit Tod und Trauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Gestaltung des Trauerprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Voraussetzungen der Trauerbegleitung . . . . . . . . . . . . . 110 Grundhaltungen der Trauerbegleitung . . . . . . . . . . . . 112 Verständnis vom Tod nach Alter und Entwicklungsstufen . . 114 Trauerphasen und Trauerhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Trauerrituale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Interreligiöse Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

Inhalt

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10 10.1 10.2 10.3

Spiritualität in der Schulseelsorge . . . . . . . . . . . . . . . 134 Biblische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Unser Verständnis von Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . 136 Spirituelle Elemente in der Praxis der Schulseelsorge . . . . 145

11 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5

Vitalität im Schulalltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Stressabbau durch Lebensfreude . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Stay wild statt burn out . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Resilienzfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Übungen zur Stärkung der Vitalität . . . . . . . . . . . . . . 160 Leben als Fragment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

12 Schulkooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 12.1 Schule hat sich verändert und wird sich verändern . . . . . . 171 12.2 Chancen der Kooperation von Schule und Kirche . . . . . . 173 12.3 Was macht die Kirche als Kooperationspartner für Schule attraktiv? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 12.4 Anforderungen an kirchliche Mitarbeiter_innen . . . . . . . 178 12.5 Voraussetzungen für eine gute Kooperation von Kirche und Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

Praxisbeispiele 13 13.1 13.2 13.3 13.4 13.5

Schulseelsorge und Service-Learning /  Lernen durch Engagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Der erste Kontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Das Trainee-Programm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Selbstkompetenztraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Wahlpflichtkurs Service-Learning . . . . . . . . . . . . . . . 186 Service-Learning und Schulseelsorge . . . . . . . . . . . . . . 188

14

Krisenintervention nach einem Suizid . . . . . . . . . . . . 190

15

Spirituelle Impulse im Schulalltag am Beispiel des Japan-Memorials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

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7 

16 16.1 16.2 16.3 16.4

Projekttage »Schönheit« und »Respect!« – Bildungsangebote als schulkooperatives Handlungsfeld . . 196 Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Die Projekttage »Schönheit« und »Respect« . . . . . . . . . . 198 »Mädchentag« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Ausblick und Ermutigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

17 17.1 17.2 17.3 17.4

Die »Stille Pause« als Einstieg in die Schulseelsorge . . . . . 205 Die Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Das Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

18

Mal die Seele baumeln lassen – Schulseelsorge an einem staatlichen Gymnasium . . . . . . 212 18.1 Stärkung der Schülerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 18.2 Stärkung des Kollegiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 19

Wer bin ich – wer bist du? Ein interreligiöses jugendkulturelles Projekt . . . . . . . . . 225

20

Kollegiale Fallberatung in der Ausbildung von Erzieher_innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 20.1 Das Vorgehen bei der Einführung der kollegialen Fallberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 20.2 Kollegiale Fallberatung als Schulseelsorge . . . . . . . . . . . 234 20.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238

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Inhalt

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Vorwort

Für eine Schule mit Leib und Seele – Lehrer_innen und Schüler_innen sehnen sich danach. Viele Kolleg_innen an den Schulen setzen ihre Lebensenergie dafür ein, dass leiblichen und psychischen Dimensionen des Schulalltags immer wieder Rechnung getragen wird. Alle am Schulleben Beteiligten brauchen eine Form des Zusammenlebens und -lernens, die eigene Lebensbedürfnisse wertschätzt und das Gesicht des / der Anderen achtet. Wir brauchen Möglichkeiten, Konflikte zu bearbeiten – auf eine Weise, die Verletzungen vermeidet und die Intentionen der Beteiligten zur Geltung kommen lässt. Wir brauchen Raum für notwendige Trauer und Stille. Wir brauchen Achtsamkeit für uns selbst und unsere Mit­ menschen. Wir brauchen einen Blick dafür, wie die Schule in die Alltagswelten und Kontexte aller Beteiligten eingebunden ist. Und auch dafür, wie Schule unter den Bedingungen der Ganztagsschule immer stärker selbst zum Schauplatz alltäglichen Lebens wird: In der ganzen Lebendigkeit des Lebens, gelingenden und verpassten Lernchancen, glückenden und scheiternden Begegnungen mit sich selbst und mit anderen. Dieses Buch handelt davon, wie die Arbeit der Schulseelsorge zum Gelingen einer solchen Schule beitragen kann. Zur Schreibweise Kompetenz in der Wahrnehmung von und im Umgang mit Vielfalt zu erweitern, ist uns ein wichtiges Anliegen. Vielfältig sind Menschen im Hinblick auf Kulturen, Religionen, körperliche und geistige Begabungen und auch im Bezug auf Geschlechtsidentitäten. Da es mehr Möglichkeiten gibt, Geschlechtsidentitäten zu leben, als die Polarität zwischen den beiden Kategorien »männlich« und »weiblich«, haben wir uns entschieden, dies auch grafisch darzustellen: daher der Unterstrich. Wir danken Dr. Martina Steinkühler für das sorgfältige und hilfreiche Lektorat und ihre Unterstützung. Wir danken Martina Gregory für Vorwort

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ein erstes Korrekturlesen und ihre Anregungen. Und wir danken Birte­ Kokocinski für ihr wunderbares Quartier im Cilento / Italien, in dem wir unsere ersten Kapitel gemeinsam geschrieben und diskutiert haben. Hamburg, im November 2013 Hans-Martin Gutmann × Birgit Kuhlmann × Katrin Meuche

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Vorwort

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Einleitung

Schulseelsorge lebt. Schulseelsorge wird gebraucht, in wachsendem Maße. Seitdem Ganztagsschulen an immer mehr Orten zum Lebensalltag von Schüler_innen genauso wie von Lehrer_innen werden, wird Schulseelsorge zu einem bereichernden Bestandteil der Kultur einer guten Schule. Schulseelsorge ist in manchen Landeskirchen bereits seit vielen Jahren eine lebendige Dimension des Schulalltags, in anderen seit kurzem mit besonderer Intensität. Über die bundesweite Vernetzung von Konzeptentwicklung und Ausbildung hat sich ein gemeinsamer Raum für Diskurse und Reflexionen im Feld Schulseelsorge entwickelt. Unser »Praxisbuch Schulseelsorge« ist lebendiger Teil dieser Entwicklung und gibt der Praxis und Ausbildung von Schulseelsorge zugleich ein spezifisches Profil. Hier werden die Erfahrungen reflektiert und ausgewertet, die seit einigen Jahren im Aufbau und der Durchführung der Ausbildung von Schulseelsorger_innen im Bereich der Nordkirche gewonnen wurden. Wir arbeiten als systemisch orientierte Seelsorger_innen und begründen in diesem Buch in Auseinandersetzung mit der Vielfalt von Seelsorge-Konzeptionen, warum der systemische Seelsorge-Ansatz – und in seinem Feld das seelsorgliche Kurzgespräch – besonders für die Arbeit in der Schulseelsorge geeignet ist. Manche Praxisfelder schulseelsorglicher Arbeit sind seit langem in ihrer Notwendigkeit für die Lebensgewissheit und den Lebensmut von Schüler_innen und Lehrer_innen bekannt. Hier sprechen wir exemplarisch über den Umgang mit Tod und Trauer. An diesem Thema wird besonders deutlich, was wir in diesem Buch auch in anderen Feldern zeigen: Das Schulleben ist heute in den städtischen Metropolen, aber zunehmend auch in ländlichen Regionen durch das Miteinander von Menschen verschiedener religiöser und kultureller Orientierungen bestimmt. Das muss wahrgenommen und in der Praxis der Schulseelsorge zu einer guten GeEinleitung

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stalt gebracht werden – im Umgang mit Tod und Trauer, aber darüber hinaus auch in der Entwicklung von gelingenden Formen für Spiritualität in der Schule. Und wie wichtig das Thema »Vitalität im Schulalltag« als Praxisfeld von Schulseelsorge ist, wird jedem klar sein, der die Vielfalt von Belastungen und Konflikten in der Schule kennt. Das Stichwort »Burnout« ist zum verbreiteten Modewort geworden und bezeichnet ein Bündel von Problemen, die ebenfalls zum Praxisfeld der Schulseelsorge hinzugehören. Schulseelsorger_innen kooperieren mit Menschen ähnlicher und doch charakteristisch spezifischer Ausbildung und Berufsrolle in der Schule. Was Schulseelsorger_innen mit Schulsozialarbeiter_innen verbindet und was sie unterscheidet, wird in diesem Buch ebenso deutlich gemacht wie Kooperationsmöglichkeiten und Unterschiede zur Arbeit der Beratungsdienste an Schulen. Im Raum der Schule ist kollegiale Fallberatung ebenso nötig wie Schulkooperation mit Menschen und Institutionen außerhalb der Schule  – Kirchengemeinden, Moscheen und Synagogen, aber auch Suchberatungsstellen u. a. m. Über all dies informiert das »Praxisbuch Schulseelsorge« konzentriert, anschaulich und anregend zum Weiterdenken und Selbermachen. Aus diesem Grunde haben wir uns auch entschlossen, das Buch mit Praxisbeispielen abzurunden. Kolleg_innen aus der praktischen Arbeit der Schulseelsorge berichten über ihre Tätigkeitsfelder, beispielsweise: Schulseelsorge und Service Learning; Krisenintervention nach einem Suizid; spirituelle Impulse im Schulalltag; und kollegiale Fallberatung in der Ausbildung von Erzieher_innen. Wir wünschen uns, dass dieses Buch dazu beiträgt, dass die Praxis der Schulseelsorge eine Mut machende Begleiterin einer Schule mit Leib und Seele sein kann.

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Einleitung

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1.

Was ist Seelsorge?

Worum geht es in der Seelsorge? Was geschieht in der Seelsorge? Was kann Seelsorge bewirken? Wenn man sich allein in der deutschsprachigen Seelsorgeliteratur umsieht, finden sich eine ganze Reihe von Beschreibungen, Definitionsvorschlägen oder Erklärungen, die alle so oder anders ihren Wert darin finden, bestimmte Dimensionen der Wirklichkeit von Seelsorge zu beleuchten. Es ist nicht sinnvoll, sie gegeneinander zu profilieren. Weil Seelsorgende in ihrer Arbeit handeln, sich verhalten, im Kern eine spezifische Haltung leben, plädieren wir dafür, eingespielte Substantivierungen (z. B. »Begleitung«, »Begegnung«, »Vergewisserung«, »Trost« usw.) möglichst in Verben zu übersetzen und damit Aktionsformen der Seelsorge deutlicher zu machen.

1.1

Seelsorge geschieht in Beziehung1

Wenn Michael Klessmann zur Charakterisierung dieser Beziehung die Stichworte »Begegnung«, »Begleitung« und »Lebensdeutung« in den Mittelpunkt stellt, so sind damit folgende Dimensionen der Seelsorgepraxis umschrieben: –– Seelsorgende begegnen Rat suchenden Menschen in einer Ich-DuRelation, nicht wie einer Sache.2 Sie müssen sich mit ihrer Fremdheit auseinandersetzen: Denn problemlos-selbstverständliches Verstehen eines anderen Menschen ist ein Grenzfall.3 Wahrnehmen eines Frem1 Vgl. Michael Klessmann, Seelsorge, Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens. Ein Lehrbuch. Neukirchen 2008, 35 ff. 2 Klessmann erinnert in diesem Zusammenhang an Martin Buber: Ders., Das dialogische Prinzip. Heidelberg 1965, 284. 3 Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, hg. von Manfred Frank. Frankfurt a.M.1977.

Was ist Seelsorge?

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den als Bereicherung des eigenen Selbst (»Komplementarität«) ist, wenn dies glückt, gelingende Begegnung.4 Wenn Menschen einander begegnen, ist immer beides im Spiel: Differenz und Zusammengehörigkeit, Nähe und Distanz, Verstehen und Missverstehen. –– Seelsorgende können Rat suchende Menschen so begleiten, dass sie für sie Zeit haben, bei ihnen bleiben, ihnen zuhören, sich in sie einzufühlen versuchen, mit ihnen mitfühlen, sie zu verstehen versuchen – ohne ambivalenzfrei in Harmonie und Freundlichkeit aufzugehen. Professionelle Distanz ist ebenso nötig wie Solidarität.5 –– Seelsorgende können Deutungsangebote machen und Ratsuchende darin unterstützen, selbst ihr Leben zu deuten  – wenn in Krisen ein­ gespielt-selbstverständliche Deutungsmuster an der Wirklichkeit zerbrechen und es nötig wird, sich neu zu orientieren. Seelsorgliche Begleitung wird oft dann gesucht, wenn sich Menschen mit Ereignissen konfrontiert sehen, die es nicht erlauben, die Welt und das eigene Leben einfach weiterhin so zu sehen wie bisher: Jemand verliebt sich, ein Kind wird geboren und wirft bisherige Zeitmuster über den Haufen (einschließlich beruflicher Karrierepläne), man muss durch Tod oder Trennung um liebe Menschen trauern oder verliert seinen / ihren Beruf und damit die vertraute soziale Position und dazu gehörende Kontakte usw. Und: Seelsorge »kann  – da liegt ihre besondere Kompetenz  – religiöse Deutungen ins Spiel bringen, die ein begrenztes Thema in den Zu­ sammenhang des ganzen Lebens, seiner Bestimmung und Zielsetzung stellen.«6 In diese Dimension der Seelsorge – Leben deuten – lassen sich verschiedene Gesprächsbeiträge aus der jüngeren Zeit zu Wegen und Zielen von Seelsorge gut einzeichnen: »Sinn vergewissern« (Dietrich Rössler)7; »Lebens­geschichte deuten« (Wilhelm Gräb)8; oder auch »Lebensgewinn 4 Michael Klessmann, a. a. O., 38, in Anknüpfung an Theo Sundermeier. 5 Vgl. Michael Klessmann, a. a. O., 40. 6 Michael Klessmann, a. a. O., 42. 7 Vgl. Dietrich Rössler, Die Vernunft der Religion. München 1976, 39 ff. 8 Vgl. Wilhelm Gräb, Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion. Gütersloh 1998.

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Einleitung

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erlangen durch Kontakt mit dem Lebensgrund« bzw. einer letzten Wirklichkeit (Gerd Theißen).9 Seelsorge findet dort ihren Ort, wo die Rou- Seelsorge findet dort ihren Ort, wo die der Alltagssorge (oft heraustinen der Alltagssorge (oft herausgefordert Routinen gefordert durch einen Konflikt, eine Krise, durch einen Konflikt, eine Krise, ein grund- ein grundstürzendes Ereignis) nicht mehr stürzendes Ereignis) nicht mehr greifen10 und greifen und einzelne in existenzielle Sorge um sich selbst geraten und dabei durch einzelne in existenzielle Sorge um sich selbst die Fürsorge anderer unterstützt werden geraten und dabei durch die Fürsorge anderer müssen. unterstützt werden müssen.11

1.2

»Seele« – was ist das?

In das Verständnis von »Seele«, für die in der Seelsorge »gesorgt« wird, gehen alltäglich-populärkulturelle12 und popularisierte psychoanalytische Dimensionen (das »Es«, die »Triebe«, das »Unbewusste«) ebenso ein wie Traditionssplitter aus griechisch-antiker Tradition (Seele als das das alltägliche Handeln / Verhalten bestimmende Beieinander von Denken, Wollen und Begehren) und aus jüdisch-christlicher Tradition (­ näphäsch – Kehle, Leben, Seele – als das leiblich-seelische Ganze des verletzlichen Lebens).13 Diese ganzheitliche, Leib und Leben einschließende Vorstellung von »Seele« hat in seiner Seelsorge-Konzeption besonders prägnant Eduard Thurneysen vertreten: »Seelsorge ist nicht Sorge um die Seele des 9 Vgl. Gerd Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums. Gütersloh, 2.  Aufl. 2001, 19; hier zit. nach Helmut Weiß, Grundlagen interreligiöser Seelsorge. In: Ders. u. a. (Hg.), Handbuch Interreligiöse Seelsorge. Neukirchen 2010, 77. 10 Vgl. Henning Luther, Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts. Stuttgart 1992, 227; hier zit. nach Michael Klessmann, a. a. O.,32. 11 In muslimischen Familien treten hier, stärker als in christlichen oder konfessions­ losen Familien in Deutschland heute, die Familien und Nachbarschaften ein: Hamideh Mohagheghi, Überlegungen zur interreligiösen Seelsorge aus muslimischer Sicht. In: Helmut Weiße u. a. (Hg.), Handbuch Interreligiöse Seelsorge, a. a. O., 129 ff. 12 In jedem funktionierenden Viertel-nach-Acht-Glücksfilm der privaten Fernsehsender werden Herzen (ähnliche metaphorische Bedeutung wie »Seele: als Personzentrum) gestohlen, gebrochen, verschenkt und gewonnen, letzteres oft verbunden mit einem jetzt endlich auf dem Lande funktionierenden Geschäftsmodell z. B. einer Gastwirtschaft, eines Bäckerladens oder eines Weingutes. 13 Vgl. z. B. Michael Klessmann, a. a. O., 25 ff.

Was ist Seelsorge?

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15 

»Seelsorge ist nicht Sorge um die Seele des Menschen, sondern Sorge um den Menschen als Seele.«

1.3

Menschen, sondern Sorge um den Menschen als Seele.«14

Seelsorge: Ortsbestimmungen

Ort der Seelsorge ist in der Regel der Alltag von Menschen. Eberhard Hauschildt unterstreicht, dass die meisten Seelsorgesituationen nicht darin geschehen, dass Menschen eine Beratungsinstitution oder z. B. auch ein Pfarrhaus aufsuchen. »Die gewöhnlichen, die alltäglichen Gespräche sind viel unspektakulärer. Sie sind viel kürzer: ›zwischen Tür und Angel‹, ›wo ich Sie gerade sehe‹. Sie sind viel unbestimmter: ›Über Gott und die Welt‹, ›auf einen Schwatz‹. Sie sind viel ungeschützter: an der Bushaltestelle, dem Supermarkt, über den Gartenzaun. Ihr Zustandekommen ist viel zufälliger: nach der Sitzung, bei der Bahnfahrt. Diese Gespräche entstehen im Zusammenhang des Alltags; sind der Alltag der Seelsorge.«15 In der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft unterliegt das Verständnis ebenso wie die Praxis von Seelsorge Prozessen von Individualisierung und Pluralisierung. Es gibt zahlreiche verschiedene Subjekte, Konzepte, Formen, Orte von Seelsorge. Und in der pluralisierten kulturellen und religiösen Lage in Deutschland ist Seelsorge zugleich auch als inter­ kulturelle und interreligiöse Seelsorge lebendig.16 Damit wird die christlich-protestantische Reflexion von Seelsorge zu einer spezifischen theologischen Form des Nachdenkens über dieses

Ort der Seelsorge ist in der Regel der Alltag von Menschen.

14 Eduard Thurneysen, Rechtfertigung und Seelsorge. In: Zwischen den Zeiten 6, Mün­ chen 1928, 209. Hier zit. nach: Kristin Merle / Birgit Weyel (Hg.), Seelsorge. Quellen von Schleiermacher bis zur Gegenwart. Tübingen 2009, 117. 15 Eberhardt Hauschildt, »Alltagsseelsorge. Der Alltag der Seelsorge und die Seelsorge im Alltag«. In: Uta Pohl-Patalong u. a. Hg., Seelsorge im Plural. Perspektiven für ein neues Jahrhundert. Hamburg 1999, 8–16, hier: 8. Vgl. auch: Wolfgang Steck, Der Ursprung der Seelsorge in der Alltagswelt. In: Theologische Zeitschrift 43, Basel 1987, 175–183; sowie Albrecht Grözinger, Differenz-Erfahrung. Seelsorge in der multikulturellen Gesellschaft. Waltrop 1995. 16 Vgl. Karl Federschmidt, Klaus Temme, Helmut Weiß u. a. (Hg.), Handbuch Interkulturelle Seelsorge, Neukirchen-Vluyn 2002; sowie: Helmut Weiß, Karl Federschmidt, Klaus Temme (Hg.), Handbuch Interreligiöse Seelsorge. Neukirchen-Vluyn 2010.

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Einleitung

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Praxisfeld, die mit der entsprechenden Reflexion anderer Konfessionen und Religionen ins Gespräch zu bringen ist. Auch in der christlichprotestantischen Tradition finden sich durchaus unterschiedliche, ein­ ander beleuchtende und konturierende Verstehensmöglichkeiten von Seelsorge. Wir geben einige Beispiele: Seelsorge wird verstanden als Verkündigung der Rechtfertigung an den sündigen Menschen (Eduard Thur­ neysen)17; als Glaubenshilfe, die im Schutzbereich des Namens Gottes zur Lebenshilfe werden kann (Helmut Tacke)18 und dabei die Bibel ins Gespräch bringen kann, um Menschen in Kontakt mit ihren Gefühlen zu bringen, Gesprächen eine heilsame Wendung zu geben und Konflikte zu klären (Peter Bukowski).19 Eine umfassende Seelsorgedefinition aus der christlich-protestantischen Tradition findet sich bei Manfred Josuttis: »Seelsorge ist Praxis des Evangeliums in der Form beratender und heilender Lebenshilfe mit dem Ziel der Befreiung des Menschen aus der konkreten Not seiner jeweiligen Lebensverhältnisse … Der Bezug zur biblischen Tradition besteht im Ziel dieser verbalen und / oder aktionalen Begegnung …; Das Evangelium wird erfahrbare Wirklichkeit in der befreienden Wirkung, die evangelische Seelsorge in der Konfrontation mit menschlicher Not, Krankheit, Angst, Unterdrückung und Schuld erreicht bzw. zu erreichen anstrebt.«20 In christlich-protestantischer und insbesondere lutherischer Tradition hat das Stichwort »Trost« zur Charakterisierung von Seelsorge einen wichtigen Stellenwert.21 »Trost« gilt in den Schmalkaldischen Artikeln (1537/38) und damit in einer lutherischen Bekenntnisschrift – neben Predigt und Sakrament  – als ein Kennzeichen für die Wirkungsweise des Evangeliums: »per mutuum colloquium et consolationem fratrum.«22

17 Eduard Thurneysen, Rechtfertigung und Seelsorge, a. a. O. 18 Helmut Tacke, Glaubenshilfe als Lebenshilfe. Probleme und Chancen heutiger Seelsorge, 3. Aufl. Neukirchen-Vluyn 1993. 19 Peter Bukowski, Die Bibel ins Gespräch bringen – Erwägungen zu einer Grundfrage der Seelsorge. Neukirchen 1994. 20 Manfred Josuttis, Die Ziele der seelsorglichen Beratung. In: Ders., Praxis des Evangeliums zwischen Politik und Religion. München 1974, 109 f. 21 Vgl. z. B. Martin Treu, Trost bei Luther. Ein Anstoß für heutige Seelsorge. Pastoraltheologie 73 (März 1984), 91–106. 22 BSLK 449, 14.28.

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Wenn »Brüder«  – wir sagen heute mit weniger Gender-begrenztem Blick: Wenn Geschwister (und als Kinder Gottes sind in dieser Perspektive alle Menschen Geschwister) im Gespräch intensiv aufeinander eingehen und einander trösten, dann geschieht Evangelium. Wobei »Trösten« die emotionale Seite wechselseitigen Unterstützens einschließt, aber nicht darauf begrenzt ist. Bemerkenswert an dieser Kennzeichnung der seelsorglichen Praxis ist, dass sie allen Menschen (und nicht nur den »Professionellen«) zugetraut und zugemutet wird und dass alle hier als gleich wichtig und gleich berechtigt angesehen werden: Wenn das Evangelium geschieht, indem Menschen einander trösten, spielen Hierarchien, berufliche Rollen, Funktionen keine Rolle. Jede_r kann das und jede_r soll das tun.

1.4

Seelsorge: Mitteilung von Lebensmut

Aus dem Blick der aktuellen gesellschaftlichen Wirklichkeit in den Schulen, aber nicht nur hier, wird dieses evangelische Verständnis mit anderen religiösen Traditionen ins Spiel gebracht werden. Seelsorge hat die Chance und die Aufgabe, Lebensgewissheit zuzusagen bzw. Menschen darin zu unterstützen, Lebensgewissheit (wieder) zu gewinnen – wenn Ratsuchende in Krisen und im Abbrechen vertrauter Sicherheiten nicht mehr wissen, wie sie ihr Leben gut führen können – und in besonders harten Einschnitten manchmal nicht mehr sicher sein können, wer sie selbst sind. Seelsorgliche Arbeit kann Ratsuchende darin unterstützen, Lebensmut zu gewinnen oder wieder zu gewinnen.23 Besonders brisant und wichtig ist dies in Situationen, in denen Ratsuchende keinen Kontakt zu ihrem Urvertrauen finden oder unter Bedingungen aufwachsen und leben müssen, die es erschweren oder sogar verunmöglichen, überhaupt Urvertrauen aufzubauen.24 Weil »Lebensgewissheit« kein statischer Zustand, sondern im Suchen bzw. Gewinnen ein Prozess-

Aus dem Blick der aktuellen gesellschaftlichen Wirklichkeit in den Schulen, aber nicht nur hier, wird dieses evangelische Verständnis mit anderen religiösen Traditionen ins Spiel gebracht werden.

23 Vgl. Paul Tillich, Der Mut zum Sein. Steingrüben, Stuttgart 1953. 24 Vgl. Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus. Frankfurt/M. 1973.

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geschehen ist, spricht viel dafür, mit Helmut Weiß von »Lebensvergewisserung als Suchbewegung« statt von »Lebensgewissheit« als Ziel der Seelsorge zu sprechen.25 Auf diesem Weg kann es um Lebensorientierung, um Suche nach Gemeinschaft, nach Befreiung, auch im religiösen Sinne als Suche nach Vergebung und Rechtfertigung gehen; und seelsorgliche Arbeit kann darin bestehen, nicht nur zu begleiten, sondern auch Lebensmut mitzuteilen und als Ermutigung, als »Empowerment« wirksam zu werden.26 Seelsorge kann ihren Mittelpunkt darin finden, Menschen in ihrem Suchen nach guten Wegen und nach Orientierung in Lebenskonflikten zu unterstützen. Hier treffen sich ethische und energetische Dimensionen der Seelsorge. Die Suche nach einem guten, für sich selbst und Andere gelingenden Leben ist – in der Besorgnis, in der Sorge um sich selbst27 – bereits Gegenstand altgriechischer Philosophie, die ebenso wie jüdisch-christliche Traditionen und mit zunehmender Pluralisierung auch weitere religiöse Traditionen heute die geistigen Grundlagen in unserer Gesellschaft mitbestimmt: in Diskursen, Selbstverständigungsmöglichkeiten und Lebenspraktiken.

1.5

Elementare religiöse Praxis

Neben diese philosophisch-ethische Seite tritt in der »energetischen Seelsorge« die Wahrnehmung, dass die Abwendung von zerstörerischen Einflüssen und Orientierungen und Hinwendung zu heilsamen Lebensmöglichkeiten die Kompetenzen von Einzelnen zur Selbstsorge übersteigen

25 Helmut Weiß, Seelsorge – Supervision – Pastoralpsychologie. Neukirchen 2011, 50 ff. 26 Ebd., 56 ff. »Empowerment« ist ein in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zentraler Begriff; in der feministischen Seelsorge ist in ähnlicher Bedeutung der Begriff »Affidamento« wichtig geworden: Brigitte Dorst, Anima und »Affidamento« – das Prin­ zip der Bezogenheit zwischen Frauen. WzM 50 (1998), 257–270; vgl. auch Ursula RiedelPfäfflin und Julia Strecker, Flügel trotz allem. Feministische Seelsorge und Beratung. Konzeption – Methoden – Biographien. Gütersloh 1998. 27 Vgl. Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit Bd.  2, Frank­ furt/M. 1986; vgl. dazu auch: Hans-Martin Gutmann, Und erlöse uns von dem Bösen. Die Chancen der Seelsorge in Zeiten der Krise. Gütersloh 2005, 80 ff.

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können. Seelsorge kann dann auf ausdrücklich religiöse Methoden angewiesen sein.28 Auf dieser basalen Ebene religiöser Lebenspraxis ähneln sich alle Religionen, selbst wenn sie sich in ihren Dogmen, ihren ethischen Weisungen, ihren Erzähltraditionen noch so sehr unterscheiden können: In der Lebenspraxis geht es so oder so darum, Unheil abzuwehren und durch religiöse Praxis Heil zu gewinnen: z. B. durch Beten, Gottesdienst feiern, Segen erbitten und zusagen, an Wendepunkten des Lebens Rituale begehen, Symbole gestalten u. a. m.29

1.6

Seelsorge als »In-Ordnung-Bringen«

Seelsorge arbeitet also mit verschiedenen »Verfahren des In-OrdnungBringens«30. Ein zentrales Verfahren ist und bleibt das Gespräch: »Unter vier Augen«31 oder – besonders in der systemischen Seelsorge – auch mit Familien oder anderen systemischen Beziehungen. Die Haltung der Seelsorgenden ist parteilich – oder im Falle von systemischer Seelsorge auch unter den jeweils aktuell Beteiligten allparteilich – in jedem Falle aber für die Ratsuchenden, nicht für das Funktionieren z. B. am Arbeitsplatz oder von institutionellen bzw. organisatorischen Abläufen. Gegenüber anderen Formen von Handeln, Verhalten und insbesondere Krisenintervention ist Seelsorge tendenziell ungesichert.32 Seelsorgende gehen zwar mit professioneller Distanz, oft auch mit einer methodischen Ausbildung in seelsorgliche Gespräche hinein, haben aber (anders als z. B. bei einem Vortrag, einer Predigt, erst recht einem Polizeieinsatz) keine starre Handlungsabfolge, kein Manuskript, erst recht

28 Vgl. Manfred Josuttis, Segenskräfte. Potentiale einer energetischen Seelsorge. Gütersloh 2000. 29 Vgl. Martin Riesebrodt, Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen. München 2007. 30 Theodor Ahrens, Verfahren des In-Ordnung-Bringens. Seelsorge und Kontrolle in der Verbundenheit der Gruppe. In: Ders.: Vom Charme der Gabe. Theologie interkulturell. Frankfurt/M., 215–237. 31 Vgl. Hans van der Geest, Unter vier Augen. Beispiele gelungener Seelsorge. Zürich, 5. Aufl. 1995. 32 Vgl. Hans-Christoph Piper, Der Hausbesuch des Pfarrers, Göttingen 2. Aufl. 1988, 122 ff., und in weiteren Veröffentlichungen.

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keine Erzwingungsmittel. Ob Seelsorge gelingt, entscheidet sich je und je in dieser Situation und im Zusammenspiel aller aktuell beteiligten Menschen. Gegenüber anderen Formen von Intervention in sozialer Arbeit spricht Kristian Fechtner deshalb auch von »entrüsteter« Seelsorge.33

33 Kristian Fechtner, Sich nicht beruhigen lassen. Seelsorge nach Henning Luther. In: Uta Pohl-Patalong (Hg.), Seelsorge im Plural. Perspektiven für ein neues Jahrhundert. Hamburg 1999, 89–101.

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2.

Was ist Schulseelsorge?

Schulseelsorge nimmt als spezifische Form von Seelsorge auf der einen Seite die Perspektiven der Seelsorge auf, wie sie im ersten Kapitel beschrieben wurden. Zugleich gewinnt sie von ihrem besonderen Ort in der Schule und ihren spezifischen Aufgaben her auch ein eigenes Gesicht. Die Arbeit der Schulseelsorge ist der weiten Öffentlichkeit durch Massenmedien vor allem als Notfallseelsorge bekannt geworden: Nach den Amokläufen an Schulen wie in Erfurt oder Winnenden1 konnten Schulseelsorger_innen in Einzelberatungen ebenso wie in der Gestaltung von Trauergottesdiensten hilfreiche Arbeit leisten in dem Versuch, dort Sprache zu finden, Verzweiflung einen Raum zu geben und Trost­ losigkeit aufzufangen, wo Sprache, Hoffnung und Trost verloren schienen. Schulseelsorge kann in solchen Extremsituationen eine wichtige Hilfe sein. Sie findet über Krisenintervention und Notfallseelsorge hinaus und jenseits spektakulärer Einsätze wichtige Aufgabenfelder im schulischen Alltag.

2.1

Seelsorge und Schule, Kirche und Bildung

Schulseelsorge kann nur sinnvoll gestaltet werden, wenn sie sich nicht in seelsorglichen Gesprächen mit Einzelnen erschöpft. Ihre Wahrnehmung und Praxis muss die gesellschaftlichen und bildungspolitischen Be­dingungen heutiger Schule im Blick haben.2 Schulseelsorge hat indivi1 Vgl. z. B. den Einstieg in die Reflexion über Schulseelsorge an diesen Aufgaben bei Christoph Schneider-Harpprecht, Evangelische Seelsorge im Kontext der öffentlichen Schule – theologische Grundlagen, Ziele und Wege. In: Harmjan Damm / Matthias Spenn (Hg.), Seelsorge in der Schule – Begründungen, Bedingungen, Perspektiven. Schnittstelle Schule, Impulse evangelischer Bildungspraxis 5. Münster 2011, 17.  2 Vgl. Michael Wermke, Schulseelsorge  – eine praktisch-theologische und religionspädagogische Grundlegung. In: Ralf Koerrenz / Michael Wermke (Hg.), Schulseelsorge – ein Handbuch. Göttingen 2008, 26.

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duelle, religionspädagogische und bildungstheoretische Aspekte, die ihr besonderes Gesicht im Schulleben erfahren. Evangelische Schulseelsorge leistet einen spezifisch kirchlichen Beitrag zur Qualitätsentwicklung von Schule.

2.2

Schule ist Lebensort

Schüler_innen erleben in der Schule Grenzen und Spielräume ihrer Lernund Beziehungsfähigkeit und dieses Erleben prägt ihre Identitätswahrnehmung und ihre Möglichkeiten zur Lebensvergewisserung mit besonderer Nachhaltigkeit.3 Schule ist kein in sich geschlossenes System, kein abgegrenzter Kosmos: »Alle Menschen im Raum von Schule tragen ihre außerschulischen Lebenswirklichkeiten in das Schulgeschehen ein – teilweise offensichtlich, teilweise verborgen.«4 Zugleich nimmt mit der flächendeckenden Einführung von Ganztagsschulen für Schüler_innen und Lehrer_innen das Schulleben einen immer größeren Raum in ihrem alltäglichen Beziehungsleben ein. Gute Beziehungen in der Schule sind eine unerlässliche Voraussetzung für das Gelingen von Lernen  – und von Leben. Dafür einen geeigneten Raum zu eröffnen ist eine komplexe und anstrengende Aufgabe: Lehrer_innen »müssen die Balance von Distanz und Nähe, von Förderung und Forderung täglich neu und hundertfach spontan in pädagogisches Handeln umsetzen«5. Die schulpolitischen Entscheidungen der letzten Dekade haben in besonderer Weise deutlich werden lassen, dass Schule nicht nur ein Lernort, sondern neben der Familie auch der wichtigste Lebensraum von Schüler_ innen und Lehrer_innen ist. Mit dieser Entwicklung sind zugleich die Ansprüche aller Beteiligten an Schule gewachsen, diese als einen Raum zu gestalten, in dem Beziehungen gelingen können. »Wie andere Berufsgruppen in der Schule auch, repräsentieren Schulseelsorger_innen in ih-

3 Vgl. Hans-Ulrich Keßler, Katrin Meuche u. a., Broschüre Schulseelsorge in der Nordkirche, 2. Aufl. 2012, 2. 4 Ebd. 5 Ebd.

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rem Dasein und in ihrer Arbeit die Tatsache, dass eine Schule sich dieser Aufgabe bewusst stellt.«6

2.3 Handlungsfelder Harmjan Dam – er koordiniert seit vielen Jahren die Schulseelsorge­arbeit in Hessen – spricht von drei Quellen – Religionspädagogik, Jugendarbeit und Seelsorge7 – sowie vier Handlungsfeldern der Schulseelsorge: –– Individuum (Begleitungs- und Betreuungsgespräche) –– Gruppen (Bildungs- und Freizeitangebote) –– Schule als System (Gestaltung von Schule als Lebensraum) und –– Umfeld (Vernetzung).8 Für alle vier Handlungsfelder brauchen die in der Schulseelsorge arbeitenden Menschen spezifische Kompetenzen, die in Aus- und Fortbildung erworben werden können; als professionelles Handeln braucht Schulseelsorge die Verbindung von Wissen (Inhalten) und Können (methodischen Fähigkeiten) in der Wahrnehmung, Interpretation und möglichen bzw. gebotenen Intervention in spezifischen Situationen.9 Dam nennt als Kompetenzen der Schulseelsorge: Wahrnehmen und Deuten; Beurteilen und Kommunizieren; Teilhaben und Gestalten.

6 Ebd. 7 Zu Möglichkeiten von Kooperation und Abgrenzung von Jugendarbeit, Jugendsozial­ arbeit, Religionsunterricht und Schulseelsorge nehmen wir in diesem Buch Stellung. Vgl. dazu auch: Helmut Demmelhuber, Schulseelsorge und Schulsozialarbeit. In: Michael Wermke (Hg.), Schulseelsorge – ein Handbuch, a. a. O., 55–59; sowie: Harmjan Dam / Lothar Jung-Hankel, Schulseelsorge und schulnahe Jugendarbeit. In: Ebd., 60–70. 8 Harmjan Dam, Welche Kompetenzen werden für Schulseelsorge gebraucht? In: Bernd Schröder (Hg.), Religion im Schulleben. Christliche Präsenz nicht allein im Religionsunterricht. Neukirchen 2006, 37–50. 9 A. a. O., 41. Die Kompetenzorientierung, die seit Jahren große Teile der Schulpädagogik und auch des Religionsunterrichtes bestimmt, ist bei ökonomistischer Verkürzung u.E. zu Recht in Kritik geraten (Vgl. Jochen Krautz, Ware Bildung. Schule und Universität unter dem Diktat der Ökonomie. Kreuzlingen 2007), in der von Harmjan Dam für die Schulseelsorge geforderten Form: in der Verbindung von Inhalten, methodischen Fähigkeiten und Situationswahrnehmung u.E. aber sinnvoll.

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2.4

Individuen beraten und begleiten

Wenn Schulseelsorger_innen Individuen beraten und begleiten, ist es die wichtigste Kompetenz der Schulseelsorger_in, Hilfesignale von Schüler_innen wahrzunehmen und zu deuten. Es geht um genaues Zuhören, aber auch darum, nonverbale Signale wahrnehmen und interpretieren zu können (Mimik, Kopfhaltung, Sitzhaltung, Gang). Meist suchen Schüler_innen keine Sprechstunden auf; Kontakte finden meist nach dem Unterricht, im Flur, im Pausenhof, vor dem Lehrerzimmer oder am Telefon bzw. Handy statt. Schulseelsorger_innen müssen deshalb zu verlässlichen Zeiten im Schulleben sichtbar präsent und auch ins Kerngeschäft der Schule, in den Unterricht oder in der Schule verankerte Projekte eingebunden sein, um überhaupt von Schüler_innen ihrerseits wahrgenommen und angesprochen werden zu können. Anlässe solcher Seelsorgesituationen sind oft schulbezogen (z. B. schlechte Note, Fehlstunde, Unterrichtssituation) oder thematisch angebunden an Unterrichtsthemen (wie z. B. Gewalt, Krieg, Tod und Trauer), oft aber auch Probleme in der Peergroup (fehlende Aner­kennung, sozialer Status, Ausgrenzungserfahrungen), in der Familie (z. B. Trennungskonflikte, Erwerbslosigkeit / Armut mit Konsequenzen für die eigene Lebensführung, z. B. in Wahlmöglichkeiten von Klamotten und Handy), oft auch existenzielle Krisen (Trennung, Verlust, Trauer). Schulseelsorger_innen brauchen in all diesen Konflikten ein gutes Einfühlungsvermögen, sie brauchen die Fähigkeit, Wertschätzung mitzuteilen, Zeit und Raum zu haben und die Bereitschaft, sich in den eigenen Zeitplänen stören zu lassen. »Der Schulseelsorger versucht, die Menschen, die Rat suchen, mit den Augen Gottes zu sehen und zu fragen: Was brauchen sie wirklich?«10 Schulseelsorger_innen brauchen biografische Stärke. Sie brauchen die lebensgeschichtlich erworbene oder auch durch besondere Fortbildungen vertiefte Kompetenz, eigene Konflikte von denen der Ratsuchenden zu unterscheiden und nicht eigene unbearbeitete Krisen mit den Problemen von Schüler_innen zu vermischen. Ziel muss sein, die Ratsuchenden in ihren eigenen Stärken und Ressourcen zu unterstützen. Es geht in 10 Harmjan Dam, a. a. O., 43.

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diesen Seelsorgesituationen nicht darum, tiefe lebensgeschichtliche Hintergründe von Konflikten zu analysieren oder durch »Spiegeln« Tiefendimensionen von Gefühlen aufzufinden, sondern lösungsorientiert und auf die Ressourcen der Ratsuchenden konzentriert zusammen zu arbeiten. Die systemische Orientierung und die Methode des seelsorglichen »Kurzgesprächs« nach Timm E. Lohse, die sich für diese Arbeitsweise besonders eignet, werden wir noch erläutern.

2.5

Arbeit mit Gruppen

In der Arbeit mit Gruppen werden in der Schule vor allem Klassen und Arbeitsgemeinschaften im Blick sein, oft aber auch Cliquen in den Klassen oder auf den Pausenhöfen, zudem auch das Kollegium oder die Schulgemeinschaft insgesamt. Hier brauchen die Schulseelsorger_innen die Fähigkeit wahrzunehmen und zu interpretieren: Was ist dran? Was liegt in der Luft? Welche Konflikte gibt es, um welche Gegenstände drehen sie sich, wie sind die Machtverhältnisse, wie funktionieren Inklusion und Exklusion? Es kann sinnvoll sein, im Religionsunterricht präventiv besonders konfliktbelastete Themen anzusprechen (z. B. Essstörungen, Mobbing / Gewalt, Partnerschaftsprobleme, Tod und Trauer). Konflikte in einzelnen Gruppen werden im Kontext des Schullebens und der Schule als System wahrnehmbar.

2.6

Schule als Lebensraum

Zur Schulseelsorge gehören auch spirituelle Angebote fürs Schulleben: Rituale und Stillephasen, Schulgottesdienste und Andachten, oder auch Reflexions- und Besinnungstage, u. a. m. Teamfähigkeit, Authentizität, auch Deutlichkeit in eigener religiöser Orientierung und Lebenspraxis sind wichtige Qualifikationen in diesem Arbeitsfeld. Schulseelsorger_innen werden sich in ihrem spezifischen Handlungsfeld mit anderen vernetzen, die im sozialen Netz der Schule präsent und engagiert sind: mit Klassenlehrer_innen, Vertrauenslehrer_ 26 

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innen, Suchtbeauftragten, mit dem Schulelternbeirat. »Auch bei der Begleitung von Übergängen wie Einschulung, Schuljahrsende oder Abitur [bzw. Schulabschluss, Anm. der Verf.] kann die Schulseelsorge durch Rituale, Andachten und Gottesdienste einen wichtigen Beitrag zum Schulleben liefern.«11

2.7 Networking Als viertes Handlungsfeld kommt schließlich die Vernetzung mit wichtigen Personen und Institutionen im sozialen Umfeld der Schule für die Arbeit der Schulseelsorge in den Blick12: z. B. Beratungsinstitutionen, soziale und politische Initiativen vor Ort (z. B. Flüchtlingsarbeit oder Suchtberatungsstelle), Orts- oder Krankenhauspfarrer_innen, Imam_innen in einer Moschee vor Ort u. a. m. Schulseelsorger_innen suchen auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes – oder z. B. als muslimische oder jüdische Seelsorgende auf der Grundlage des Menschenbildes ihrer Religion – für und mit Menschen im Raum von Schule nach Möglichkeiten, Beziehungen zu sich selbst und anderen auf guten Wegen wachsen zu lassen.13 Sie sorgen vor und nach, fördern Wahrnehmungsfähigkeiten, unterstützen die Entwicklung neuer Lebensmöglichkeiten und handeln, wo nötig, auch stellvertretend. Sie vermitteln Kontakte zu weiteren Hilfsangeboten und Beratungsstellen. In Krisensituationen, die manchmal aussichtslos scheinen, gestalten sie aus dem Schatz der religiösen Tradition Erzählungen, Symbole oder Rituale, die schützen, stärken und trösten können. 11 Harmjan Dam, a. a. O., 47. 12 Im Feld der Nordkirche und der früheren NEK (Nordelbischen Evangelischen Kirche) beispielsweise sind Schulseelsorger_innen eingebunden in kirchliche Strukturen der Qualitätssicherung und -entwicklung. Das Pädagogisch-Theologische Institut (PTI) der Nordkirche und die Schüler_innenarbeit begleiten die Schulseelsorger_innen in Konventen und durch Supervisionen; im Rahmen schulkooperativer Arbeit beteiligen sich Schulseelsorger_innen an entsprechenden Netzwerken in den Kirchenkreisen. Die Einbindung von Schulseelsorger_innen in die Schulen geschieht durch einen Kontrakt, dessen Inhalte zwischen der Nordkirche und den Bundesländern Hamburg und Schleswig Holstein abgestimmt werden sollen. 13 Vgl. Hans-Ulrich Keßler, Katrin Meuche u. a., Broschüre Schulseelsorge in der Nordkirche. 2. Aufl. 2012, 2 f.

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Schulseelsorge ist – anders als profane Schulberatung – ohne religiösen und theologisch zu reflektierenden Rahmen nicht denkbar. Hier werden aus christlich-evangelischer Perspektive verschiedene Begründungs- und Reflexionsmöglichkeiten entwickelt, die mit anderen religiösen Perspektiven zu vermitteln sind.14 Christoph Schneider-Harpprecht nennt vor allem eine mystagogische und eine bildungspolitisch-diako­nische Be­ gründung.

2.8

Evangelische Perspektiven

In mystagogischer Perspektive liegt der Schwerpunkt in der Arbeit der Schulseelsorge auf Glaubenshilfe zur Lebenshilfe in der besonderen schulischen Situation, auf Kommunikation und Gestaltfindung christlicher Symbolik und Spiritualität  – und ist damit vor allem binnenkirchlich ausgerichtet.15 In der multikulturellen Schulwirklichkeit beinhaltet die mystagogische Perspektive auch die Gestaltung von Symbolik und Spiritualität weiterer Religionen. Auch in diakonischer Orientierung ist Schulseelsorge ein kirchliches Angebot und zeigt Präsenz von Kirche in der Schule. In bildungspolitischdiakonischer Perspektive geht es, so Schneider-Harpprecht, um einen kirchlichen Beitrag in den öffentlich-staatlichen Schulen, um Kindern und Jugendlichen unter den Bedingungen des Schulalltags – zunehmend in Ganztagsschulen – Orientierung durch Angebote in religiöser Sprachfähigkeit, Bewältigung von Krisen, Gestaltung von Symbolen und Ritualen u. a. m. zu eröffnen. In der Tradition von Dietrich Bonhoeffers Forderung nach einer »Kirche für andere« jenseits dogmatisch konzentrierter Selbstbegründung und eines »öffentlichen Christentums« (neben privatem und kirchlichem Christentum) hat die Schulseelsorge Anteil an der Kommunikation des Evangeliums im Alltag der Welt.16 14 Vgl. zum Folgenden: Christoph Schneider-Harpprecht, Evangelische Seelsorge im Kontext der öffentlichen Schule – theologische Grundlagen, Ziele und Wege. In: A. a. O., 17– 31. Die hier vor dem Hintergrund der Evangelischen Landeskirche in Württemberg entwickelten Überlegungen sind darüber hinaus bedeutsam. 15 Christoph Schneider-Harpprecht, a. a. O., 21. 16 In Anknüpfung an Dietrich Rössler und Ernst Lange vgl. Christoph Schneider-Harp­ precht, a. a. O., 20 f.

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»Der Beitrag der [evangelischen, Anm.  der Verf.] Schulseelsorge zur Bildung gründet in der reformatorischen Rechtfertigungsbotschaft, also in der Berufung eines jeden Menschen, das Geschenk der Gnade Gottes, das er in Jesus Christus der Welt und jedem Einzelnen zugewandt hat, anzunehmen, das eigene Leben und die Wirklichkeit der Gesellschaft von daher zu verstehen und als mündiger Christ vor Gott verantwortlich zu leben.«17

Beide Orientierungen müssen sich in Schule in der demokratischen und pluralistischen Gesellschaft in Deutschland bewähren  – ein viel­ dimensionaler und vielschichtiger öffentlicher Raum, der auf allen Ebenen  – Schüler_innen und Lehrer_innen, Verwaltungsangehörige und Mitarbeitenden in Behörden und Ministerien – von Menschen aus verschiedenen Religionen und Konfessionen und auch vielen Konfessions­ losen gemeinsam belebt wird, mit gleichem Recht, ihr Eigenes zur Geltung zu bringen, wenn und solange die Menschenrechte und die Verfassung unseres demokratischen Gemeinwesens geachtet werden.

2.9

Plurale Perspektiven und Rechtfertigungsverheißung

Dennoch geht die theologische Begründung von Schulseelsorge nicht in einer unspezifischen civil religion auf. Schneider-Harpprecht verwendet für die Arbeit der Schulseelsorge die Metaphern des »Zwischenraums« und des »Grenzganges«: Zwischen verschiedenen Institutionen, Lebensbereichen und Rollen, zwischen der Rolle als jemand, der / die Leistungen beurteilt und jemandem, der / die Seelsorge anbietet, zwischen drinnen und draußen – und all dies aus der Perspektive unterschiedlicher religiöser und säkularer Orientierungen.18 Alle sind gefordert und eingeladen, ihr spezifisches Profil zu einer guten Gestalt zu bringen und zugleich Eigenes mit den Perspektiven und Selbstbegründungen und -reflexionen

17 Ebd. 18 Ebd., 24; Schneider-Harpprecht nimmt hier Überlegungen von Heike Zick-Kuchinke auf: Vgl. dies., Schulseelsorge als Grenzgang. In: Evangelischer Oberkirchenrat Stuttgart, Evangelische Schulseelsorge. Ein Projekt der Evangelischen Landeskirche in Württemberg 2007–2010, 19.

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der Anderen in Kontakt zu bringen: im wechselseitigen Nachfragen, Beraten, Anstoßgeben, in Kritik und Kooperation. Im Feld der pluralen Perspektiven und Begründungen von Schulseelsorge wird die evangelische Schulseelsorge ihr eigenes Anliegen zur Gestalt bringen und ins Gespräch mit anderen Traditionen und Orientierungen einbringen. Mit Ingo Reuter19 – und damit aus dem Blick eines Lehrers und Schulseelsorge-Praktikers  – findet evangelische Schulseelsorge ihr spezifisches Gesicht von der Verheißung der Rechtfertigung her. Vor aller individuellen Leistung und Selbstoptimierung in Bildungsprozessen, aber auch über jedes Sich-Durchsetzen in Erfolg und Glück­ streben hinaus kommt Schüler_innen ebenso wie Lehrer_innen die Lebendigkeit und der Reichtum des Lebens als Geschenk Gottes entgegen. Wenn evangelische Schulseelsorge etwas Wenn evangelische Schulseelsorge etwas Un- Unverwechselbares mitzuteilen hat, dann verwechselbares mitzuteilen hat, dann dies: dies: Alle in der Schule lebenden und arbeiAlle in der Schule lebenden und arbeitenden Menschen können sich davon befreit se- tenden Menschen können sich davon befreit hen, sich auf Kosten anderer durchsetzen zu sehen, sich auf Kosten anderer durchsetzen müssen  – und damit befreit, um einander wahrzunehmen, wertzuschätzen, miteinan- zu müssen – und damit befreit, um einander der Solidarität einzuüben. wahrzunehmen, wertzuschätzen, miteinander Solidarität einzuüben. »Meine These ist, dass wir – nicht nur, aber insbesondere im Kontext Schule – eine Seelsorge brauchen, die das Leben als ein verdanktes und nicht geleistetes kommuniziert und die Lebenshypothese von Menschen vom Ungeist der seelisch zerstörerischen Selbstrechtfertigung durch das Erbringen von Konformitätsleistungen zu erlösen vermag.«20

19 Ingo Reuter, Bildungsökonomisierung und Schulseelsorge. In: Evangelische Theologie 68/2008 (Heft 5), 383–400. 20 Ingo Reuter, a. a. O., 387.

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3.

Dimensionen der Schulseelsorge

Die Schulseelsorge nimmt in ihrer Theorie und Praxis Dimensionen aus der allgemeinen Debatte über Seelsorge auf und gewichtet sie in spezifischer, ihren Handlungsfeldern angemessener Weise. Von ihren besonderen Adressat_innen, dem schulischen Lebensumfeld und den Handelnden in diesem Praxisfeld, her legen sich insbesondere die systemische Seelsorge1 und die Methode des Kurzgesprächs nach Timm H.  Lohse2 nahe. Denn in der Schulseelsorge sind alle, die hier kommunizieren, in lebensweltliche Systeme3 eingebunden: Lehrer_innen ebenso wie Schüler_innen in Familien, Peergroups und Institutionen bzw. Organisationen wie Schule und Kirche. Und Seelsorgegespräche in der Schule sind faktisch in aller Regel Kurzgespräche – in der Pause (»Haben Sie einmal fünf Minuten Zeit für mich?«), an der Tür zum Unterrichtsraum, auf dem Weg in die Turnhalle – und es ist unbedingt ernst zu nehmen und auch in der Wahl der Methode für das Seelsorge-Gespräch zu berücksichtigen, wenn Rat suchende Schüler_innen bzw. Kolleg_innen genau diese Form der Kontaktaufnahme wählen. Diese Schwerpunktsetzungen zielen nicht darauf, andere Seelsorgekonzeptionen unwichtig erscheinen zu lassen. Vielmehr setzen wir darauf, weitere Seelsorgekonzepte als Ressourcen zu nutzen, wo sich dies nahelegt. Ein solch kooperatives und an der Wahrnehmung von Ressour1 Vgl. z. B. Isolde Karle, Seelsorge in der Moderne. Eine Kritik der psychoanalytisch orientierten Seelsorgelehre. Neukirchen 1996; Christoph Morgenthaler, Systemische Seelsorge. Stuttgart / Berlin 1999; Christoph Schneider-Harpprecht, Seelsorge als systemische Praxis. In: Wege zum Menschen 55 (2003), 427–443. 2 Timm H. Lohse, Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung. Eine methodische Anleitung. Göttingen 2003, Neuauflage 2013. 3 Die in der Kommunikationstheorie von Jürgen Habermas (Theorie des kommunikativen Handelns. Zwei Bände. Frankfurt/M. 1981) grundlegende Unterscheidung von normativ bestimmter alltäglicher Lebenswelt einerseits und instrumentell-abstraktem System andererseits wird in der aktuellen Diskussion über systemische Seelsorge u.E. zu wenig rezipiert. Faktisch sind die »Systeme« der systemischen Seelsorge eher als Lebenswelten zu verstehen. Wir halten uns jedoch an das eingespielte Sprachspiel – auch deshalb, weil »Systeme« in ihren Grenzen deutlich bestimmbar sind.

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cen auch anderer Konzeptionen orientiertes Seelsorgeverständnis hat sich in jüngerer Zeit zunehmend durchgesetzt.4

3.1

Einflussreiche Seelsorgekonzeptionen

In den wissenschaftlichen Debatten und in der praktischen Arbeit der Seelsorge haben sich im vergangenen Jahrhundert im deutschen Sprachbereich immer wieder theologische Orientierungen und ihnen entsprechende Handlungsoptionen herausgebildet, die für Jahre oder sogar Jahrzehnte vorherrschend wurden und dann durch eine andere Orientierung abgelöst wurden – die sich oft nicht als Ergänzung oder Schwerpunktverschiebung, sondern als Entgegensetzung verstanden haben. Wenn wir zunächst an einige Stationen in der deutschsprachigen Seelsorgediskussion erinnern, dann treffen wir vom Praxisfeld Schulseelsorge her eine Auswahl und konzentrieren uns insbesondere auf diese Gesprächsbeiträge:

3.1.1

Sozial verantwortliche Seelsorge

Es handelt sich hier um eine am empirischen religiösen Leben des Volkes interessierte und sozial orientierte Seelsorge. Beispielsweise hat Otto Baumgarten  – als ein Sprecher der Reformbewegung der Praktischen Theologie um 19005  – angesichts massiver sozialer Probleme im deutschen Kaiserreich die soziale Verantwortung der Seelsorge eingefordert: »Der Seelsorger kann unter einer Arbeiterbevölkerung nur wirken, wird aber auch wirken, wenn er Sympathie hat und bezeigt mit ihren Proletarierempfindungen (…).«6

4 Vgl.: Michael Klessmann, Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens. Ein Lehrbuch. Neukirchen 2008, 49–116. 5 Dieses treffende Stichwort haben Kristin Merle und Birgit Weyel vorgeschlagen, in: Dies. (Hg.), Seelsorge. Quellen von Schleiermacher bis zur Gegenwart. Tübingen 2009, 59 ff. 6 Otto Baumgarten, Der Seelsorger unserer Tage. Leipzig 1891, 29.  Hier zit. nach: Kirstin Merle und Birgit Weyel, a. a. O., 71.

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3.1.2

Analytische Seelsorge

Als in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Psychoanalyse Sigmund Freuds vor allem in Europa und den USA massenhaft rezipiert wurde, hat dies auch die theologische Seelsorgediskussion stark beeinflusst. Beispielsweise hat der Schweizer Pfarrer Oskar Pfister, dessen Standardwerk »Das Christentum und die Angst« von 1944 weit bekannt wurde7, schon 1927 eine »Analytische Seelsorge« veröffentlicht8 und vorgeschlagen, zentrale Wahrnehmungseinstellungen der psychoanalyti­ schen Debatte – z. B. auf das Unbewusste, die Triebe und Triebhemmungen, die Mechanismen der Verdrängung – in die Arbeit der kirchlichen Seelsorge aufzunehmen.

3.1.3

Kerygmatische Seelsorge

Die kerygmatische Seelsorge entsteht seit Beginn des Ersten Welt­k rieges im Zusammenhang einer theologischen Orientierung, die als dialek­ tische Theologie bekannt wurde. Diese entwickelt sich – mit Karl Barth und Eduard Thurneysen als wichtigsten Sprechern – in Protest und Gegenbewegung gegen den Kulturprotestantismus (Anlass ist die Zustimmung eines Großteils der profiliert kulturprotestantischen akademischen Theologie zum Kriegseintritt Deutschlands 1914).Vor allem wegen ihrer Deutlichkeit in der theologischen Orientierung und wegen ihrer Widerständigkeit gegenüber der nationalsozialistischen Ideologie und Gewaltherrschaft ist sie bis weit in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und die theologischen Debatten der frühen Bundesrepublik hinein einflussreich geblieben. Seelsorge wird hier – beispielsweise von Eduard Thurneysen – als Verkündigung an den / die Einzelne_n gesehen: Wie die gottesdienstliche Predigt der versammelten Gemeinde das rechtfertigende Wort Gottes in Gesetz und Evangelium zu ihrem Heil zusagt, so sagt Seelsorge die 7 Oskar Pfister, Das Christentum und die Angst. Eine religionspsychologische, historische und religionshygienische Untersuchung. Zürich 1944. 8 Oskar Pfister, Analytische Seelsorge. Einführung in die praktische Psychoanalyse für Pfarrer und Laien. Göttingen 1927. Hier zit. nach: Kirstin Merle und Birgit Weyel, a. a. O., 95 ff.

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Rechtfertigungsverheißung dem einzelnen Menschen als gerechtfertigtem Sünder zu: »Dieser Mensch, dieser sterbliche, vergängliche Mensch, dieser sündige Mensch wird angeredet vom allmächtigen Gott … Was ist Seelsorge? … Seelsorge ist nicht Sorge um die Seele des Menschen, sondern um den Menschen als Seele. Und wir verstehen darunter: der Mensch wird aufgrund der Rechtfertigung gesehen als der, den Gott anspricht in Christus.«9

3.1.4

Therapeutische Seelsorge

Seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kommt es, angestoßen durch die in diesen Jahren lebendige US-amerikanische Seelsorgebewegung und vor allem zunächst in den Arbeitsfeldern der Krankenhaus- und Telefonseelsorge, zu einer breiten Rezeption humanwissenschaftlicher Therapieansätze in der kirchlichen Seelsorgearbeit. Psychoanalyse und symbolischer Interaktionismus (besonders bei Joachim Scharfenberg10), klientenzentrierte Gesprächstherapie nach Paul Rogers (beispielsweise bei Dietrich Stollberg11, Helga Lemcke12 und Jürgen Ziemer13), Transaktionsanalyse nach Eric Berne14 und Gestalttherapie nach Fritz Perls15 (beispielsweise bei Peter Bukowski, verbunden mit biblischer Seelsorge16) werden in die kirchliche Seelsorgearbeit aufgenommen. Ein zunächst en9 Eduard Thurneysen, Rechtfertigung und Seelsorge. In: Zwischen den Zeiten 6. München 1928, 209. Hier zit. nach: Kirstin Merle und Birgit Weyel, a. a. O., 117. 10 Joachim Scharfenberg., Seelsorge als Gespräch. Zur Theorie und Praxis der seelsorglichen Gesprächsführung. 5. Aufl. Göttingen 1972; ders., Einführung in die Pastoralpsychologie. Göttingen 1985; ders. und Horst Kaempfer, Mit Symbolen leben. Soziologische, psychologische und religiöse Konfliktbearbeitung. Olten / Freiburg i. Br., 1980. 11 Dietrich Stollberg, Wahrnehmen und Annehmen. Seelsorge in Theorie und Praxis. Gütersloh 1978. 12 Helga Lemcke, Personzentrierte Beratung in der Seelsorge. Stuttgart 1995. 13 Jürgen Ziemer, Seelsorgelehre. Eine Einführung in Studium und Praxis. Göttingen, 3. Aufl. 2008. 14 Eric Berne, Spiele der Erwachsenen. Reinbek 1967. 15 Fritz Perls, Gestalt-Therapie. Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung. Gemeinsam mit Ralph F. Hefferline und Paul Goodman, USA 1951, deutsch Stuttgart 1979; vgl. auch: Erving und Miriam Polster, Gestalttherapie. Theorie und Praxis der integrativen Gestalttherapie. 1983. Frankfurt a. M. 1997. 16 Peter Bukowski, Die Bibel ins Gespräch bringen – Erwägungen zu einer Grundfrage der Seelsorge. Neukirchen 1994.

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gagiert geführter Streit über die Vereinbarkeit zwischen biblisch-theo­ logischem Menschenbild und dem der psychotherapeutischen Ansätze hat sich mittlerweile gemäßigt.

3.1.5

Energetische Seelsorge

Manfred Josuttis, der diesen Seelsorge-Ansatz vor allem entwickelt hat, sieht als Bedingung für das Heilwerden eines Menschen – in der Ganzheit seiner körperlich-seelisch-geistigen Realität, aber auch seiner sozialen Lebensverhältnisse – die Wiederherstellung zerbrochener Beziehung. Konfliktbelasteten, in ihren sozialen Beziehungen eingeschränkten und darin krank gewordenen Menschen soll geholfen werden durch die Eröffnung eines »Flusses« von heilsamen Lebensenergien, durch die die zerbrochene Beziehung zu Gott, zu anderen Menschen, aber auch zu sich selber wieder lebendig werden kann. Seelsorger_innen erfüllen in ihrer Tätigkeit über therapeutische Verfahren hinaus transpersonale und transpsychische Rollen17: Nicht allein als hilfreiche Gesprächspartner_innen, nicht allein als Therapeut_innen. Sie werden für ihr Gegenüber zum Christus. Die seelsorgliche Beziehung vermittelt Ratsuchenden Lebensmut. »Ziel einer Seelsorge, die Menschen an die Wirklichkeit des Heiligen heranführt, ist die Einübung zur Kontaktfähigkeit mit dieser Lebensmacht. Menschen werden durch Seelsorge instand gesetzt, mit sich selbst und mit anderen zu kommunizieren, dadurch dass sie einen lebendigen Kontakt zur Lebenskraft Gottes gewinnen.«18

3.1.6

Systemische Seelsorge

Systemische Seelsorge berücksichtigt, dass Menschen immer zugleich als Einzelne und in Beziehungen leben. Menschen leben als Mitglieder in unterschiedlichen Gemeinschaften. In der systemischen Seelsorge werden 17 Manfred Josuttis, Der heilsame Austausch. In: Ders., Die Einführung in das Leben. Gütersloh 1996, 119 ff. Vgl. ders., Segenskräfte – Potentiale einer energetischen Seelsorge. Gütersloh 2000. 18 Manfred Josuttis, Der heilsame Austausch. In: A. a. O., 126.

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Einsichten aufgenommen, wie sie in den letzten vierzig Jahren in der Familientherapie19 und in jüngerer Zeit in der Organisationsberatung20 entwickelt worden sind. Einzelne sind in ihren Orientierungen und Verhaltensweisen nicht nur durch ihre individuelle Lebensgeschichte bestimmt. Sie kommunizieren und interagieren jeweils aktuell, hier und jetzt, z. B. als Teile von Dyaden (Allianzen und Koalitionen, die strategisch-bewusst oder unbewusst gegen andere gerichtet sein können), von Triaden (z. B. Vater-Mutter-Kind), von Familiensystemen, die über mehrere Generationen über verschiedene Orte verteilt durch den gemeinsamen Bezug zur Herkunftsfamilie zu­sammengehalten werden.21 Sie sind in ihren Chancen und Einschränkungen, in ihrem Verhalten, ihren Gefühlen, ihren Möglichkeiten der Lebensvergewisserung durch ihren Ort und ihre Rolle in weiteren lebensweltlichen Systemen bestimmt: in der Schule, in der Kirche bzw. als Mitglieder von Moschee-Vereinen und Synagogen, als abhängig Beschäftigte in ihren jeweiligen Arbeitsverhältnissen, als Selbstständige, als Erwerbslose, eingebunden in Beziehungsnetze von Freundschaften, Peergroups und Nachbarschaften und viele weitere Systeme. All dies bestimmt so oder so die Konflikte, die Durchsetzungschancen, die Möglichkeiten von Lebensvergewisserung. Systemisch arbeitende Seel­ sorger_innen stellen all dies in den Fokus ihrer Wahrnehmungen und Interpretationen, schließen sich temporär an Systeme an, befolgen die Regel der Allparteilichkeit, decken durch ihre Interventionen oft nicht bewusste Regeln von Systemen auf, stärken Ratsuchende in Entdeckung und Inanspruchnahme von Ressourcen und eröffnen gelingendenfalls Änderungsmöglichkeiten problematisch-zerstörerischer Konflikt- und Beziehungsmuster.

19 Vgl. z. B. Helm Stierlin, Von der Psychoanalyse zur Familientherapie. Stuttgart 1975; Salvador Minuchin, Familie und Familientherapie. Theorie und Praxis struktureller Familientherapie. Harvard 1976, Freiburg i. Br. 1977; Eckhard Sperling u. a., Die Mehrgenerationen-Familientherapie. Göttingen 1982. 20 Vgl. z. B. Roswita Königswieser und Martin Hillebrandt, Einführung in die systemische Organisationsberatung. Heidelberg 5. Aufl. 2009. 21 Vgl. Hans Bertram, Familien leben. Neue Wege zur flexiblen Gestaltung von Lebenszeit, Arbeitszeit und Familienzeit. Gütersloh 1997.

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3.2

Der komplementäre Ansatz

Gemeinsam mit Michael Klessmann und weiteren Gesprächsteilnehmer_innen halten wir es für sinnvoll, heute nicht mehr mit einem Gegeneinander von einander widersprechenden Seelsorgekonzeptionen zu rechnen. Sondern wir wollen unterschiedliche Konzepte als Ressourcen wahrnehmen, die für bestimmte Problemhorizonte stark gemacht werden können, während für andere wiederum anders gelagerte Konzeptionen wichtig werden können. Klessmann spricht in diesem Zusammenhang von gleichgewichtig nebeneinander bestehenden »Dimensionen« der Seelsorge: So nennt er die alltägliche, die kerygmatische, die therapeutische, die rituelle, die politisch-gesellschaftliche, sowie die philosophisch-lehrhafte und ethische Dimension der Seelsorge.22 Wir teilen diese Perspektive, ressourcenorientiert und wertschätzend auf Seelsorgetraditionen und aktuelle Überlegungen in der Seelsorgearbeit Acht zu haben. Es geht auch in der Schulseelsorge nicht um die Entgegensetzung von Konzeptionen, sondern um die Wahrnehmung der Dimensionen, die hier so und so zusammenwirken. Für die Praxis der Schulseelsorge benennen wir die Dimensionen etwas anders, als Klessmann dies vorschlägt. Aber auch in unserer Schwerpunktsetzung auf systemische Seelsorge und die Methode des Kurzgesprächs »spielen« weitere Dimensionen – je nach spezifischen Konflikten und beteiligten Personen und Situationen – so oder so »mit«. Von der Arbeit der Schulseelsorge aus sehen wir vor allem diese Dimensionen, die miteinander ins Spiel kommen:

3.2.1

Die Dimension sozialer Verantwortung

Diese Dimension findet in der Schulseelsorge ihren Ort in der Wahrnehmung von Armut, Ausgrenzung und Polarisierung in der Verteilung von Macht und Lebenschancen. In Deutschland hat in dem Jahrzehnt seit der Einführung von »Hartz 4« ein stabil großer Bevölkerungsteil den Zugang zu Erwerbsarbeit bleibend verloren. 22 Michael Klessmann, Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens. Ein Lehrbuch. Neukirchen 2008, 49–116.

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Viele Menschen verdienen trotz Erwerbsarbeit zu wenig zum Leben, viele Kinder und Jugendliche sind arm, die soziale Polarisierung von arm und reich in der Bevölkerung nimmt stetig zu. Armut bedeutet für die Betroffenen Ausschluss zahlreicher Möglichkeiten sozialer und kultureller Partizipation. All dies spiegelt sich in der Schule, vor allem in einzelnen Bildungsgängen der berufsbildenden Schulen sowie in Haupt- und Gesamtschulen (bzw. je nach Bundesland Gemeinschaftsschulen, Stadtteilschulen o. ä.), aber keinesfalls nur hier.

3.2.2 Die Dimension psychotherapeutischer Kompetenzen Diese Dimension hat in der Schulseelsorge ihren Ort in der Wahrnehmung, Interpretation und Intervention von Seelsorgesituationen. Allgemeinwissen über psychotherapeutische Ansätze ist weit verbreitet. Viele Kolleg_innen in den Schulen verfügen über Grundkenntnisse, manche über eine Ausbildung, beispielsweise in Gesprächstherapie, Transaktionsanalyse oder Gestalttherapie. Die grundlegenden Überlegungen von Psychoanalyse und Tiefenpsychologie gehören mittlerweile ebenso zum Allgemeinwissen wie die Einsicht in die Begrenztheit dieser Arbeitsmöglichkeiten, nicht nur im Feld der Schulseelsorge. Wir sehen in diesem vieldimensionalen Strauß von Psychotherapie-Ansätzen  – gestalttheoretisch gesprochen  – den »Hintergrund« oder das »Feld«, das den von uns in den Vordergrund gerückten Ansätzen der Systemischen Seelsorge und des Kurzgesprächs (in der Position als »Figur« oder Gestalt«) Tiefe geben kann.

3.2.3 Die Dimension religiöser und spiritueller Orientierung und Gestaltfindung Hier ist die Tradition der kerygmatischen Seelsorge in heute angemessener Form aufgehoben; sie wird in der Schulseelsorge – mit Schüler_innen verschiedener Religionen und Konfessionen und auch vielen Konfessionslosen – nicht zuerst als »Verkündigung« Gestalt gewinnen, sondern als Gestalten und Zeigen von religiösen Lebensvollzügen, z. B. in Er38 

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zählungen, Symbolen, Stille-Angeboten und Festen / Ritualen; und dies nicht mehr allein aus der Perspektive der evangelisch-christlichen Religion. Alle am Schulleben Beteiligten leben heute in einer multikulturellen und multireligiösen Situation, nicht nur in urbanen Situationen, wie beispielsweise in Hamburg. Dies ist auch in Regionen mit geringem Bevölkerungsanteil an Menschen mit Migrationshintergrund, vermittelt über mediale Öffentlichkeiten, die nicht zu leugnende Wirklichkeit im Lande. –– In der Wahrnehmung des Anderen und Fremden ist, was die Durchsetzung von – In der Wahrnehmung des Anderen und Fremden ist, was die Durchsetzung von Lebensrechten und -chancen angeht, DifLebensrechten und -chancen angeht, Differenzblindheit gefordert, d. h.: Hier sind ferenzblindheit gefordert, d. h.: Hier sind alle gleich zu behandeln. alle gleich zu behandeln. –– In der Wahrnehmung des kulturell und – In der Wahrnehmung des kulturell und religiös Spezifischen dagegen ist Differeligiös Spezifischen dagegen ist Differenzaufmerksamkeit nötig. renzaufmerksamkeit nötig.

3.3

Wechselseitige Inklusion

In der Wahrnehmung von religiöser Differenz treten wir, wie beschrieben, für eine Haltung wechselseitiger Inklusion ein. Hier wird intendiert, Anderes nicht als weniger wahr auszuschließen (»Exklusion«) oder allein nach den Selbstverständlichkeiten der jeweils eigenen Religion wahrzunehmen und zu beurteilen (»Inklusion«), sondern das jeweils Eigene gerade dadurch deutlich zur Wahrnehmung und Gestalt zu bringen, dass das Andere / Fremde aus seinen eigenen Voraussetzungen, Regeln und Versprechen empathisch verstanden und mit dem Eigenen in Kontakt gebracht werden soll. Dem entspricht die Intention, dass sich alle am Schulleben Beteiligten als Subjekte achten, die mit gleichen Rechten und Wahrheitsansprüchen ihr jeweils Eigenes zur Gestalt bringen. In dieser Haltung bringen die an der Schulseelsorge Beteiligten ihre Wahrnehmungen, Interpretationen und Interventionen, aber auch ihre Gestaltungen, z. B. von Ritualen und Festen, ins Schulleben ein, und zwar unabhängig davon, in welcher Form jeweils Religionsunterricht gestaltet wird – ob als »Religionsunterricht für alle«, in dem die Schüler_innen Dimensionen der Schulseelsorge

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unterschiedlicher Religion und Konfession gemeinsam unterrichtet werden, ob als konfessioneller RU, als »Fächergruppe« oder als Lebens- und religionskundlicher Unterricht. Dieser Haltung wechselseitiger Inklusion entspricht auch die Sensibilität dafür, dass in der religiösen Praxis zwischen verschiedenen Religionen viele Vergleichbarkeiten existieren und wertgeschätzt werden können: In Verfahren des In-Ordnung-Bringens, in Abwehr von Unheil und Hinwendung zu bzw. Herbeirufung von Heil.23 In dieser abweisenden und hinführenden Bewegungsrichtung religiöser Praxis ist zugleich die grundlegende Intention energetischer Seelsorge aufgehoben. Vor diesem Hintergrund und in diesem Feld gewinnen Systemische Seelsorge und die Methode des Kurzgesprächs in der Schulseelsorge­ Gestalt.

23 Vgl. in diesem Zusammenhang die grundlegende Untersuchung von Martin Riesebrodt, Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen. München 2007.

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Systemische Seelsorge im Arbeitsfeld Schule

4.1

Der systemische Blick in der Schulseelsorge

Es geht zunächst um eine seelsorgliche Haltung, um eine Wahrnehmungseinstellung der Seelsorgenden. Schulseelsorge teilt hier grundlegende Einsichten systemischer Arbeit, z. B. in Familientherapie und Organisationsberatung. Diese miteinander geteilte Voraussetzung ist: Menschen leben nicht nur als Individuen. Menschen sind in Beziehungen eingebunden. Der systemische Blick in der Seelsorge sieht den Menschen als Wesen, das nicht allein und für sich und in eine Herkunftsgeschichte mit Eltern in frühkindlichen Prägungen verstrickt, sondern in ständigem Austausch mit seiner / ihrer Umwelt lebt. Probleme einzelner Menschen werden deshalb nicht nur lebensgeschichtlich-intrapersonal betrachtet (z. B. als »Ödipuskomplex« oder »narzisstische Störung« usw.), sondern interpersonal. Im Zentrum stehen Beziehungen, innerhalb derer Individuen ihr Leben führen. Das Schicksal eines bettnässenden Kindes wird beispielsweise nicht allein auf frühkindliche Traumata hin befragt, sondern als Hinweis auf Störungen in der familialen Kommunikation angesehen. Identitätskonflikte werden im Kontext gesellschaftlicher Lagen inter­pretiert, beispielsweise lang andauernder Arbeitslosigkeit. Die Depression eines Menschen kann mit überfordernden Arbeitsbedingungen zusammenhängen und so weiter. Der systemische Blick der Seelsorge be- Der systemische Blick der Seelsorge bealso vor allem eine Erweiterung inhaltet also vor allem eine Erweiterung und inhaltet und Ausdifferenzierung des traditionelAusdifferenzierung des traditionellen aufs In- len aufs Individuum zentrierten Blicks der Seelsorge. dividuum zentrierten Blicks der Seelsorge. Vor allem das Fehlen von Partizipationsmöglichkeiten durch Armut, der Ausschluss aus gesellschaftlichen Lebenschancen durch zu geringes Haushaltseinkommen, aber auch kulturelle und religiöse Ausgrenzungen sind wichtige Fragen, die vom systemischen Blick der Seelsorge in Systemische Seelsorge im Arbeitsfeld Schule

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den Fokus gerückt werden. Sie nicht zu beachten, würde in vielen Fällen auch bedeuten, in der seelsorglichen Arbeit an den tatsächlichen Problemen der Menschen vorbeizugehen.1 Der Alltag von Menschen gewinnt sein Gesicht in spezifischen Lebenslagen und in bestimmten Weisen von Lebensführung.

4.1.1 Lebenslagen In die Wahrnehmung von Lebenslagen werden – und diesen Blick teilt die Schulseelsorge mit systemischer Seelsorge in weiteren Feldern gelebten Lebens – z. B. Fragen nach Gender-Zugehörigkeit, nach Lebensalter, Position in familialen und anderen verbindlichen Beziehungen, aber auch nach sozialer, nationaler und religiöser Zugehörigkeit eingehen, vor allem aber auch Fragen nach den Partizipationsmöglichkeiten von Menschen an politischen Entscheidungen und kulturellen Angeboten. Menschen leben ihr Leben als Mann oder Frau, Erwachsene/r oder Kind, als Sozialhilfeempfänger_in, als Floristin oder Friseurin mit bescheidenem oder als Gymnasiallehrerin mit ausreichendem Verdienst, oder auch als Manager_in in einem Großkonzern, deren Alltagsgestaltung stärker von dem Problem bestimmt sein wird, die durch materiellen Reichtum eröffneten Partizipations- und Konsummöglichkeiten im jeweiligen Zeitbudget unterzubringen, als durch finanzielle Grenzen der Freizügigkeit. In der Schulwirklichkeit spiegelt sich diese Situation, die die Schüler_innen mit ihren Herkunftsfamilien, aber oft auch mit den jeweiligen Peergroups teilen, vor allem in Prozessen von Exklusion und Inklusion, in der Verteilung von Anerkennung und Macht, von sozialen Positionen und – im Extremfall – auch in MobbingSystemisch arbeitende Schulseelsorger_ Konflikten gegenüber Mitschüler_innen, die innen achten in ihren Wahrnehmungen, aufgrund ihrer Lebenslage nicht mithalten Interpretationen und Interventionen auf lebenslagenbedingte Konfliktmuster. Sie können. fragen nach dem Zusammenhang von LeSystemisch arbeitende Schulseelsorger_inbenslagen und Beziehungskonstellationen. nen achten in ihren Wahrnehmungen, Inter1 Michael Klessmann, Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des Christlichen Glaubens. Ein Lehrbuch. Neukirchen 2008, 100.

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pretationen und Interventionen auf lebenslagenbedingte Konfliktmuster. Sie fragen nach dem Zusammenhang von Lebenslagen und Beziehungskonstellationen. Sie thematisieren zerstörerische Exklusion und bearbeiten in ihren Interventionen daraus entstehende Konflikte und Krisen, die sich in der Störung von Lebensgewissheit, Lebenslust, Vertrauen zu sich und anderen und Selbstwertverlust ausdrücken können.

4.1.2 Lebensführung Die Frage nach Lebenslagen ist die eine Seite. Die andere Seite ist die Frage, was Menschen aus ihren Lebenslagen machen und machen können (»Lebensführung«). Auch in dieser Fragehaltung hat Schulseelsorge Anteil an Prozessen, die über die Schulwirklichkeit hinausgehen, und spezifiziert sie mit Blick auf die schulische Situation. In der sozialwissenschaftlichen Diskussion über »Alltag« wird deshalb die Wahrnehmung von Lebenslagen durch die Thematisierung der Lebensführung2 erweitert: Menschen sind durch ihre (sozialen, ökonomischen usw.) sozialen Lebenslagen nicht determiniert, sondern entscheidend sind ihre Kompetenzen und ihre Realisierung von Ressourcen, aus denen heraus sie aus dieser Lage ihr Leben gestalten. Erwerbslose beispielsweise müssen ihre kommunikativen Netze und ihr Selbstgefühl unter Bedingungen sozialer Entwichtigung, entleerter Zeit und eingeschränkter finanzieller Möglichkeiten erhalten. Schüler_ innen, die diesen Familien zugehören, werden ihre Beziehungen  – zu Freund_innen, Peers, Cliquen, Lehrer_innen – immer auch so gestalten, dass sie Entwertung und Entwichtigung begegnen und Möglichkeiten suchen, Macht und Lebensgewissheit zu erfahren. Oder: In Familien und unterstützenden Institutionen müssen kleine Kinder und alt gewordene Eltern kommunikativ und materiell, im Falle alt gewordener Eltern oft auch gesundheitlich versorgt werden. Dies 2 Vgl. z. B. Alltägliche Lebensführung. Arrangements zwischen Traditionalität und Modernisierung, hg. von der Projektgruppe ›Alltägliche Lebensführung‹, Red. Werner Kundera und Sylvia Dietmeier. Opladen 1995; sowie: Hans-Georg Soeffner (Hg.), Kultur und Alltag. Soziale Welt Sonderband 6, Göttingen 1988; sowie: Peter A.Berger / Stefan Hradil (Hg.), Lebenslagen – Lebensläufe – Lebensstile. Soziale Welt Sonderband 7. Göttingen 1990.

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wird oft als Aufgabe der Frau in der Familie angesehen, die dafür eigene Lebensperspektiven hintanstellen soll. Diese Beziehungen sind nicht nur durch Liebe, sondern immer auch durch Arbeit bestimmt, oft durch dauerhaft ungleich verteilte Arbeitsverpflichtungen.3 Diese Sorgeverpflichtungen sind in der Regel geschlechtsspezifisch ungleich verteilt. Wer seinen Alltag unter solchen Sorgeverpflichtungen organisieren muss, lebt vollständig anders als jemand, der das nicht tut – und zwar in fast jeder Hinsicht: in Hinsicht auf das Zeitbudget, auf den Umgang mit Geld, auf die Möglichkeit, Beziehungen zu wählen, in Hinblick auch auf die Möglichkeit, zu arbeiten – oder auch einen Roman zu lesen, in eine Kneipe oder ins Kino zu gehen, Freizeit zu verbringen. Schüler_innen, die mit solchen Lebenslagen in ihren Familien konfrontiert sind, werden sich in ihrer Lebensführung mit der Frage auseinandersetzen, wie sie sich gegenüber Rollenzumutungen mit Blick auf Gender- und Generationsgerechtigkeit verhalten, und die Schulseelsorge wird sie darin unterstützen: Wie können sie mit solchen Zumutungen gut umgehen – auf sich selbst und zugleich auf andere Acht haben, nicht rigide, aber, wenn nötig, auch bereit, nötige Konflikte zu führen? Oft sind es gerade die lebenweltlichen Nah-Bereiche der Lebensführung mit geliebten Menschen, Freunden oder auch den Mitgliedern der eigenen oder konkurrierenden bzw. verfeindeten Clique, in denen Konflikte aufbrechen. Nahbeziehungen sind oft von Hoffnungen auf Wärme, Nähe, Vertrauen, Sich-Verlassen-Können bestimmt. Aber sie müssen immer auch in ihren Enttäuschungen, Konflikten, ihren Ambivalenzen wahrgenommen und ertragen werden. Gerade hier entstehen viele Konflikte, die eine seelsorgliche Begleitung nötig machen. Systemische Seelsorge hat Acht auf LebensSystemische Seelsorge hat Acht auf Le- führungsprobleme – und nicht allein Lebensbensführungsprobleme – und nicht allein lagen –, weil Menschen nicht nur als von BeLebenslagen  –, weil Menschen nicht nur als von Bedingungen abhängig ge­sehen dingungen abhängig gesehen werden, sondern werden, sondern als selbsttätig als selbsttätig: nämlich so, dass sie in der Lage sind, gegebene Bedingungen ihres Lebens auf 3 Dieses Problem verstärkt sich durch den Rückbau sozialer Sicherungssysteme. Menschen müssen für andere Menschen sorgen, die nicht für sich selbst sorgen können – kleine Kinder beispielsweise oder alte Menschen.

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eine Weise zu gestalten, die durch diese Bedingungen niemals restlos vorherbestimmt ist.4

4.1.3 Ressourcenorientierung Diese Einsicht beinhaltet für die systemische Seelsorgearbeit vor allem eine Orientierung an Ressourcen. Seelsorger_innen begegnen in ihrer Arbeit oft Menschen, die in für sie nicht mehr lösbare Probleme und Konflikte verstrickt sind, die sich schwach, überfordert und als nicht liebenswert erleben. Seelsorger_innen sollen dieser Realitätswahrnehmung unbedingt ernstnehmen und nicht übergehen. Zugleich sollen sie den Menschen in einer Haltung begegnen, in der sie sie im selben Augenblick als geliebte Kinder Gottes ansehen, mit einem kontrafaktischen Blick der Fülle und dem Reichtum des Geschenks der Zärtlichkeit Gottes für alles Lebendige. Das Konzept der Ermutigung, des »Empowerment«, beinhaltet, Menschen in ihren eigenen Kräften und Stärken anzusprechen, also bei den Potenzialen, die trotz aller Schwierigkeiten in ihnen verborgen sind. Als Faustregel kann gelten: Scheiße in Dünger verwandeln. Mit anderen Worten: »Reframing«.

4.1.4 Reframing Ein wichtiges Thema sind dabei innere Bilder, vor allem Selbstbilder. Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass das menschliche Erleben niemals vollständig spontan geschieht, sondern nach Mustern, die sich lebensgeschichtlich langfristig herausbilden und in aktuellen Beziehungen und Konflikten immer wieder stabilisieren. Das können Selbstbilder sein, die sich über die Beziehungen zu den Eltern aus Kleinkindszeiten, über spätere Konflikte und unzuverlässige Beziehungen verhärten und die um die 4 Vgl. z. B. Hildegard Mogge-Grotjahn, Von der möglichen Wirklichkeit und der wirklichen Möglichkeit. Ein Lob des visionären Pragmatismus. Ev. Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe (Hg.), Gesellschaftliche Herausforderungen und praxisbezogene Lehre …, FS Gottfried Schmidt. Bochum 1995.

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Zuschreibungen kreisen: »Ich bin nichts wert«, »ich kann nichts«, »ich bin nicht liebenswert«. Diese Selbstthematisierungen können sich immer wieder neu aufladen, können sich an Erzählungen binden, in denen sich die betroffenen Menschen selbst immer wieder neu entsprechend diesem Bild stilisieren. Sie können sich in Ritualen verstetigen, in denen die Betroffenen Konflikte vermeiden, Dingen aus dem Weg gehen, die sie fordern würden, bis hin zu Suchtverhalten. All dies kann man als Rahmungen verstehen, als Deutungshorizonte und energetische Strömungen, die dauerhaft sind und aus der Perspektive der Betroffenen vollkommen selbstverständlich erscheinen. Solche Rahmungen können aber verändert werden. Hier ist wieder der systemische Blick sehr hilfreich: Seelsorger_innen werden gut daran tun, immer darauf Acht zu haben, in welchen Beziehungen Menschen leben. Nicht alle diese Beziehungen werden, auch in hoch problematischen Lebensgeschichten, für die Subjekte belastend und zerstörerisch sein. Die Frage danach, wo gute Erfahrungen möglich wurden und werden, wo möglicherweise Verbündete in Konflikten gefunden werden können, ist eine wichtige Perspektive in der Suche nach Ressourcen. Ein wichtiger Schritt im »Reframing« ist, Ratsuchende darauf zu bringen, was sie selbst »davon haben«, sich als wertlos anzusehen. Möglicherweise gewinnen sie an innerer Sicherheit zumindest dadurch, dass sie sich alle Bedürfnisse versagen, alle Risiken scheuen, die sie eingehen müssten, wenn sie sich in ihren Stärken wahrnehmen würden. Auf der anderen Seite können schon kleine Schritte große Befriedigung ermöglichen, wenn in einem sehr begrenzten Fall ein Konflikt riskiert wird, sich die Ratsuchenden etwas zutrauen, einen Streit riskieren, sich erlauben, etwas zu genießen, und so weiter. Je nach Person wird dies etwas Besonderes und Eigentümliches sein. Es muss genau überlegt werden, wie viel die Einzelnen jeweils riskieren mögen. Wichtig ist in jedem Falle, dass die Betroffenen lernen, stärker als bisher auf ihre Körpersignale und auf ihre Präsenz in der Welt der Beziehungen Acht zu haben.

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4.2.

Systemischer Blick und Schule

Der systemische Blick legt sich in der Schulseelsorge deshalb besonders intensiv nahe, weil Schüler_innen und Lehrer_innen sich hier  – unter den Bedingungen von G8 und zunehmend verbreiteten Ganztagsschulen – den ganzen Tag begegnen, ihre Beziehungen gestalten, Koalitionen und Allianzen oder auch Triaden bilden und wieder verlassen bzw. neu mischen, Peergroups suchen oder auch von ihnen ausgeschlossen werden. Eine vor allem auf individuelle Lebensgeschichten konzentrierte Seelsorgearbeit würde an dieser geballten Lebenswirklichkeit vollständig vorbeigehen. Umgekehrt kann es große Wirkungen auf die Wahrnehmung von bisher verschütteten Ressourcen, auf das Reframing zerstörerischer Erfahrungen und Selbstwahrnehmungen haben, wenn durch systemische Interventionen beispielsweise Beziehungsmuster wahrgenommen, Allianzen und Koalitionen thematisiert und eventuell neu strukturiert, die Frage nach nicht wahrgenommenen Ressourcen intensiviert und den in der Schulwirklichkeit gemeinsam lebenden Menschen-in-Beziehung so Chancen eröffnet werden, neu nach Möglichkeit der Lebensvergewisserung zu suchen. Die grundlegende Perspektive des systemischen Blicks in der Seelsorge ist damit beschrieben. Es geht auf der einen Seite um diese Haltung der Seelsorgenden in ihrer Wahrnehmungseinstellung gegenüber Ratsuchenden im Kontext ihrer Beziehungsnetze und ihrer gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit. Zugleich hat sich in der systemischen Beratung und Therapie in jüngerer Zeit ein Ensemble von theoretischen Klärungen und methodischen Techniken entwickelt, das auch in der Arbeit der Schulseelsorge aufgenommen werden kann.

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4.3

Grundelemente systemischer Theorie bzw. Beratung und Therapie

Zum besseren Verständnis der systemischen Arbeitsweise sollen hier einige ausgewählte Grundelemente und Annahmen der systemischen Theorie5 vorgestellt werden: Das systemische Verständnis von »Wirklichkeit«; die Bedeutung kausaler Zusammenhänge; die Rolle der Sprache; das systemische Verständnis von »Problemen«; Systemische Gesprächsführung, Interventionen und Fragetechniken.

4.3.1

Das systemische Verständnis von »Wirklichkeit«

In der systemischen Theorie werden Phänomene, »Dinge«, wie z. B. Probleme, grundsätzlich nicht als etwas angesehen, das es »an sich gibt«, sondern als etwas, das subjektiv vom / von der Betrachter_in erkannt wird. Das heißt nicht, dass es »Realität« an sich nicht gibt, nur wird ihre Wahrnehmung losgelöst von dem erkennenden System, dem / der Betrachter_ in, als müßig und wenig hilfreich eingestuft. In der systemischen Betrachtungsweise geht es also um den konstitutiven Prozess der Wechselwirkung zwischen dem erfahrenden System, z. B. einer Schülerin, und dem zu erfahrenden System6, wie z. B. der Schulklasse. Familiensysteme, Schüler_innen und Lehrer_innen konstruieren sich ihre eigenen Erfahrungswelten. Auf welche Weise sie aktiv Anteil haben an der Konstruktion dieser Erfahrungswelten, ist Kernfrage des Konstruktivismus. Erkennen von »Wirklichkeit« ist das Vornehmen von Unterscheidungen durch das erkennende Subjekt. Auf diese Weise verschaffen sich Subjekte Orientierung in einer unübersichtlichen Welt, entwickeln Konzepte über die Welt, um sinnhaftes Überleben so erst zu ermöglichen. Aber diese Konzepte, die über die Welt entwickelt werden, dürfen nicht mit der Welt »an sich« verwechselt werden. »Wirklichkeit« ist vielmehr das Pro5 Vgl.: Arist von Schlippe / Jochen Schweitzer, Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung 1: Das Grundlagenwissen. Göttingen 1996, 10. Aufl. 2007. 6 A. a. O., 87.

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dukt wirksamer Unterscheidungen.7 Menschen als Individuen ebenso wie soziale Gruppen verständigen sich im Dialog darüber, was sie für wirklich halten: »Systeme konstruieren gemeinsame Wirklichkeiten als Konsens darüber, wie Dinge zu sehen sind.«8

4.3.2 Die Bedeutung kausaler Zusammenhänge Wenn es »Wirklichkeit« losgelöst vom / von der jeweiligen Betrachter_in nicht gibt, und wenn jeder / jede Beteiligte eines Systems gleichzeitig Betrachter_in ist, gewinnen Muster von Beziehungen und Wechselwirkungen an Bedeutung. Die Verhaltensweisen eines einzelnen Menschen sind durch die eines anderen mit bedingt. In der systemischen Theorie wird von der »Rekursivität sozialer Prozesse«9 gesprochen. Handlungen und Reaktionen bedingen sich gegenseitig. Von linear kausalen Zusammenhängen auszugehen, käme hingegen einer unzulässigen Verkürzung gleich. Zu verstehen und einzuordnen sind diese gedanklichen Vorgänge als Bemühungen, die Komplexität von Wirklichkeit zu reduzieren. Jeder Verhaltensbeitrag hat aber sowohl Einfluss auf den / die Handelnde_n selbst als auch auf andere Systembeteiligte. Dieser Prozess, in dem Teile eines Systems wechselwirkend aufeinander einwirken, wird als »zirkulare Kausalität«10 bezeichnet. Im Umgang mit Alltagssituationen und der dinglichen Lebenswelt ist das Denken in Kausalzusammenhängen erfahrungsgemäß sinnvoll. Wenn ich beispielsweise einen Lichtschalter bediene, rechne ich damit, dass das Licht angeht  – und umgekehrt: Wenn plötzlich das Licht angeht, rechne ich damit, dass jemand einen Schalter bedient hat. Geht es jedoch um die Betrachtung sozialer Systeme, sind kausale Zusammenhänge als Erklärungsprinzipien unzureichend. Von einem bettnässenden Kind lässt sich beispielsweise nicht automatisch auf eine gestörte Mutter-Kind-Beziehung als Ursache schließen. Hier geht es vielmehr um 7 A. a. O., 88. 8 A. a. O., 89. 9 A. a. O., 90. 10 Ebd.

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das Erkennen sozialer Interaktionsprozesse, um das Erfassen von Beziehungsmustern und Kommunikationsweisen, die sich wechselseitig bedingen. Ein »Symptom«, das eine Schülerin im Unterricht als Beteiligte am System »Schulklasse« entwickelt, wie z. B. ein auffälliges bzw. störendes Verhalten, ist zunächst als ein Signal zu verstehen. Die Frage nach der Ursache für diese auffälligen Verhaltensbeiträge spielt im systemischen Denken eine untergeordnete Rolle. Vielmehr würde hier der soziale Kontext, in dem dieses Verhalten gezeigt wird, näher beleuchtet werden. Systemische Beratung und Therapie gibt Anstöße, neue Beziehungsmuster zu entwickeln, die Wachstum und Reifung ermöglichen. Sie zielt nicht zuerst auf die Behandlung der Symptome oder deren Ursachen.

4.3.3 Die Rolle der Sprache In der systemischen Theorie wird »Sprache« nicht nur als Kommunikationsmittel, sondern auch als ein »Wahrnehmungsorgan« angesehen. In sozialen Systemen wird über die Sprache das hergestellt, was wir gemeinsam mit anderen als »Wirklichkeit« erleben. So erzeugen z. B. Familienmitglieder im kommunikativen Austausch, also durch ihre Konversation, eine gemeinsame Darstellung der Wirklichkeit. Die Sprache bietet Menschen die Chance über die Art und Weise zu reflektieren, wie sie »Wirklichkeit« konstruieren. Aber der Gebrauch der Sprache führt auch dazu, dass Abstraktionen zu starren Gebilden werden, gewissermaßen verdinglicht werden. Beispiele hierfür liefert die psychologische Fachsprache (das »wahre Selbst«), vor allem auch mit ihren Diagnosen und Zuschreibungen (die »Depression«, das »Mobbingopfer«). Für die systemische Therapie und Beratung ist der Einsatz von »Schlüssel­wörtern« von Bedeutung.11 Wenn sich an Schlüsselwörter neue und ungewohnte Konnotationen anknüpfen lassen, können sie Klient_ innen quasi »sprachspielerisch« anregen, neue Perspektiven der Selbstwahrnehmung einzunehmen und eine Erweiterung ihrer Möglichkeiten 11 A. a. O., 98.

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und Ressourcen zu entwickeln. Ihre Verwendung kann Klient_innen aktivieren, sich gedanklich auf neue assoziative Suchprozesse12 einzulassen. Beispiel Ein älterer Schüler mit Prüfungsängsten beschreibt in einer Beratungssituation sein psychisches Erleben während einer angeleiteten Phantasiereise, in der das Bild eines Schiffes eine zentrale Bedeutung einnahm. Schüler: » Dieses Schiff sah schon komisch aus – irgendwie japanisch!« Beraterin: »Ja – panisch? – Was war daran panisch?«

4.3.4 Systemisches Arbeiten mit Kindern Systemische Beratungsarbeit mit Kindern erfordert ein erweitertes Handwerkszeug, da Kinder ihrem Entwicklungsalter entsprechend oft andere Ausdrucksformen wählen als nur sprachliche. Aufgrund eines begrenzteren Wortschatzes greifen jüngere Kinder mehr auf körpersprachliche Äußerungen zurück. Sie drücken sich über Bewegungen, durch Gesten und Blicke aus und nutzen selbst gern kreative Ausdrucksformen, wie Bilder malen oder das Rollenspiel. Sie sind über Geschichten und Bilder, die an ihrer Fantasie und an ihrer Imaginationsfähigkeit anknüpfen, ansprechbarer als allein über das Gespräch. Die systemische Arbeit mit Kindern nutzt daher kreative Methoden, wie das Erzählen (-­lassen) von Geschichten, den Einsatz oder das Malen von Bildern, den Einsatz von Plüschtieren oder Spielfiguren für Dialoge oder spielerische Sequenzen. Systemisches Arbeiten mit Kindern ist insofern besonders sinnvoll, als ihre Denkweise gut zu der lösungsorientierten Vorgehensweise passt. Wenn Kinder vor Alltagsproblemen stehen, überlegen sie oft nicht lange, sondern gehen nach der »Versuch-und-Irrtum-Methode« vor und probieren einfach aus, was funktioniert und was hilfreich ist. Ursachen­ forschung ist eher nicht im Blick. 12 A. a. O., 98. Von Schlippe / Schweizer verweisen hier beispielsweise auf das Wortspiel »in Streik treten«; vgl. Boscolo / Bertrando u. a., Sprache und Veränderung. Die Verwendung von Schlüsselwörtern in der Therapie. Familiendynamik 18, 1993, 107–124, hier 113 ff.

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4.3.5 Das systemische Verständnis von »Problemen« Alles, was der / die Betroffene als einen »unerwünschten und veränderungsbedürftigen Zustand13 wahrnimmt, gilt in der systemischen Theorie als Problem. Dieser Zustand ist jedoch grundsätzlich veränderbar. Ein Problem ist »jedes Thema einer Kommunikation, die etwas als unerwünscht und veränderbar wertet.«14 Nicht das System, in dem das Problem auftritt oder bemerkt wird, muss sich grundlegend ändern, sondern die Kommunikation über das Problem innerhalb des Systems. Und ein Problem gilt dann als gelöst, wenn der / die Klient_in subjektiv der Meinung ist, dass das Problem gelöst sei. In der lösungsorientierten Kurztherapie (LOKT)15 wird von der Grundannahme ausgegangen, dass Probleme veränderbare und aushandelbare Größen sind, die sozial und gesellschaftlich bedingt sind. Eine weitere Grundannahme besagt, dass Probleme Phänomene sind, die bereits ihren Lösungsansatz beinhalten. Dieses Lösungselement wird als »Ausnahme vom Problem« bezeichnet. Damit ist gemeint, dass Phänomene, wie z. B. »Krankheit« oder »auffälliges Verhalten«, nicht immer gleichermaßen deutlich erkennbar auftreten, sondern dass es immer Phasen bzw. Momente gibt, in denen das Problem weniger intensiv, weniger belastend oder auch gar nicht in Erscheinung tritt. Der soziale Kontext, in dem ein Problem auftritt, ist von Bedeutung. Probleme können auch »nützlich« sein. So kommt es vor, dass mit problematischem Verhalten von schwerwiegenderen Konflikten innerhalb des (Familien-) Systems abgelenkt wird. Vor diesem Hintergrund vernachlässigen die systemische Therapie und Beratung, vor allem die lösungsorientierte Kurztherapie kausale Zusammenhänge zwischen Problemen und ihren möglichen Ursachen. Vielmehr fokussieren sie Lösungselemente, wie z. B. das Erkunden von »Ausnahmen vom Problem«. Die Konzentration auf erste Lösungsschritte führt nicht selten zugleich zur Auflösung des Problems. 13 A. a. O., 103. 14 Kurt Ludewig, Systemische Therapie. Stuttgart 1992, 116, zit. n. von Schlippe / Schweitzer, a. a. O., 103. 15 Therese Steiner / Insoo Kim Berg, Die lösungsorientierte Kurzzeittherapie mit Kindern und Jugendlichen. Heidelberg 5. Aufl. 2011.

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Dieses Verständnis von Problemen impliziert auch eine Haltung Klient_innen gegenüber, die als Expert_innen ihrer eigenen Situation gesehen werden, nämlich als Expert_innen ihres Problems und seiner immanenten Lösungsmöglichkeiten. Von einer Lösung des Problems wird dann gesprochen, wenn ein_e Klient_in sein / ihr formuliertes Ziel erreicht hat.

4.3.6 Systemische Gesprächsführung, Interventionen und Fragetechniken 4.3.6.1 Auftragsklärung

Die systemische Gesprächsführung ist ziel- und lösungsorientiert. Zu Beginn eines Beratungsgesprächs wird der / die Klient_in nach ihrem Ziel (dem »Anliegen«) befragt, um dem Gesprächsverlauf eine Richtung zu geben. Durch diese sogenannte Auftragsklärung lässt sich die beratende Person ein Mandat erteilen, das ihr Orientierung für die Gesprächssteuerung verschafft, aber zugleich auch eine Beschränkung auferlegt. Dieses Mandat wird von ihrer Seite nicht eigenmächtig erweitert oder ergänzt. Beispiel »Angenommen, unser Gespräch ist zu Ende und es war hilfreich für dich, was ist dann anders?«

4.3.6.2 Systemische Fragetechniken Systemisches Fragen ist zukunfts- und res- Systemisches Fragen ist zukunfts- und ressourcenorientiert. Klient_innen werden ange- sourcenorientiert. regt, sich selbst, ihre Möglichkeiten und Ressourcen zu erkunden, die sie jetzt und künftig nutzen können. Auf geschlossene Fragen, reine Informationsfragen und auf Fragen nach Ursachen und Wirkung (»warum«, »wieso«, »weshalb«) wird deshalb weitgehend verzichtet. Solche Fragen führen zu einer Beschreibung von Begründungszusammenhängen und zu Rechtfertigungen des Ist-Zustands. Systemische Seelsorge im Arbeitsfeld Schule

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Stattdessen werden Fragen so formuliert, dass sie Klient_innen zum Nachdenken über sich selbst anregen (Ressourcen) und über konkrete Schritte, die sie aus einer oft als ausweglos empfundenen Situation führen können. Das Ziel systemischen Fragens besteht darin, Problemlösungsprozesse zu initiieren, die etwas hervorbringen, was noch im Verborgenen liegt. Es geht darum, Möglichkeiten zu erkunden statt Befindlichkeiten zu verbalisieren. Beispiele für systemische Fragetechniken16 Ausnahmefragen Bei allen Problemen gibt es Ausnahmen. Solche Ausnahmen sind Zeiten, in denen das Problem hätte auftauchen können, aber nicht in Erscheinung getreten, bzw. weniger intensiv aufgetreten ist oder leichter zu bewältigen war. »Abgesehen von diesem Problem, was läuft bei dir momentan gut?«, »Wann war das Problem zuletzt nicht da?«, »Was war da anders?« Skalierungsfragen Es werden Einschätzungen erfragt, die sich in (Prozent-) Zahlen ausdrücken lassen. »Bei welcher Zahl auf einer Skala von 1 bis 10 würdest du deine Belastung heute einstufen?«  – »Um wie viele Punkte müsste sie sich verändern, so dass du sagen kannst, ich kann gut damit umgehen? Zirkuläres Fragen Diese Art der Befragung richtet sich auf die Bedeutung, die das eigene Verhalten für andere hat. Durch zirkuläre Fragetechnik kann eine Außenperspektive eingenommen werden. Die Entwicklung neuer Sichtweisen wird angeregt, zusätzliche Informationen können gewonnen werden. »Angenommen, dein Freund wäre jetzt hier. Was würde er dazu sagen?« – »Wie würde jemand, der es wirklich gut mit dir meint, beschreiben, was dir geholfen hat?« 16 Vgl. Therese Steiner / Insoo Kim Berg: Handbuch Lösungsorientiertes Arbeiten mit Kindern. Heidelberg 2005, 43 ff..

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Wunderfragen Dieser Fragetypus wurde ursprünglich für Erwachsene entwickelt. Unabhängig von der Art des präsentierten Problems wirkt die Frage wie eine Art Problemüberwindung. Die eigene Lösungsfantasie wird angeregt. Ein Wunder vorzustellen, ermöglicht es, ein Bild zu machen vom Leben, wie es anders aussehen könnte. In klinischen Untersuchungen zeigten Klient_innen durch die physische Erfahrung der Lösungsfantasie Veränderungen in Haltungen und Ausdrucksverhalten. »Stell dir vor, du wachst eines Morgens auf und stellst fest, dass das Problem verschwunden ist. Woran würdest du das erkennen?« – »Wer bemerkt es zuerst?« Bewältigungsfragen Selbst in einer scheinbar noch so ausweglosen Situation wird nach Lösungselementen gesucht, die die Rat suchende Person erfolgreich ausgeführt hat. Was u. U. als unbedeutend betrachtet wird, wird so zu etwas Bedeutsamen erhöht. »Die meisten Jugendlichen in deinem Alter hätten schon lange aufgegeben. Wie schaffst du es, trotzdem durchzuhalten?« – »Wie schaffst du es, mit solch einer schwierigen Zeit fertig zu werden?« – »Was war hilfreich für dich, dass die Situation nicht noch weiter entgleist ist?«

4.3.6.3 Weitere systemische Interventionen Problemlösungsschritte können durch gezielte Interventionen unterschiedliche Richtungen einschlagen. Beispiele Über die Suche nach Abwesenheiten und Ausnahmen vom Problem können – oft kleinschrittig – neue Prozesse / neue Zustände initiiert werden. Problemzustände können positiv umgedeutet werden, indem sie anders bewertet werden (»Reframing«). Problemzustände können in ihrer Unveränderbarkeit akzeptiert werden. Die »Lösung« besteht dann in der Erarbeitung von Umgangsweisen mit dem Unveränderbaren. Systemische Seelsorge im Arbeitsfeld Schule

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In der Arbeit der Schulseelsorge hat sich im Kontext der systemischen Orientierung eine seelsorgliche Methode als besonders wirksam erwiesen. Wir stellen im folgenden Abschnitt diese Methode vor: das »Kurzgespräch« in Seelsorge und Beratung.

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Das seelsorgliche Kurzgespräch im Arbeitsfeld Schule

Wer beispielsweise aus der Arbeit der Telefonseelsorge die Methoden der klientenzentrierten Gesprächsführung nach Paul Rogers gelernt hat, wird vermutlich zunächst erstaunt sein, wenn er der Methode des seelsorglichen Kurzgespräches1 begegnet. Die grundlegenden Dimensionen seelsorglicher Haltung sind durchaus ähnlich – Wertschätzung, Echtheit, empathisches Verstehen. Es geht hier jedoch nicht darum, in Kontakt mit Tiefendimensionen von Konflikten und Gefühlen zu treten. Das Kurzgespräch ist knapp, und es ist ziel- und ressourcenorientiert.

5.1

Anforderungen an die beratende Person

Die Methode des Kurzgesprächs nach Timm H.  Lohse beinhaltet eine Reihe von Aufgaben und Herausforderungen an die beratende Person:

5.1.1

Akzeptanz des von der Ratsuchenden gewählten Ortes und des Zeitpunktes für das Gespräch

Die Eröffnung des Gespräches durch eine Rat suchende Person ist nicht unwichtig. Das Gegenteil ist der Fall: In dieser Gesprächseröffnung manifestiert sich unbewusst, aber nicht zufällig die Wahl genau dieser Ge­ legenheit und genau dieser spezifischen beratenden Person. Der / die Ratsuchende zeigt mit ihrer Gesprächseröffnung »zwischen Tür und Angel«, dass sie genau diese Situation und eben diese Person aufsucht, zu der sie Zutrauen hat. Diesen Umstand zu akzeptieren ist erste Herausforderung 1 Timm H. Lohse, Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung. Eine methodische Anleitung. Göttingen 2003, Neuauflage 2013.

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für den / die Seelsorgende. »Normal« wäre demgegenüber vielleicht eher die Reaktion: Wollen wir einen Termin machen? Wollen wir uns in den Beratungsraum zurückziehen? Der erste Schritt im helfenden Gespräch ist dieser: die günstige Gelegenheit wahrzunehmen und zu akzeptieren. »Ein Kurzgespräch lebt von der günstigen Gelegenheit. Kurzgespräche ergeben sich zufällig oder beiläufig … Die zufällige Begegnung wird für die Anfrage oder Behandlung des Konflikts als günstiger (hilfreicher, erfolgreicher) eingeschätzt als eine Verabredung zu einem Gesprächstermin mit der als beratungsqualifiziert angesehenen Person oder gar eine Verabredung zu einer Gesprächsreihe (psychologische und seelsorgliche Beratung). Im allerersten Augenblick der Begegnung und Kontaktaufnahme ergibt sich eine Atmosphäre, die beiden das Gefühl vermittelt, sich in einem Kairos zu befinden: Der ansprechenden Person erscheint die Gelegenheit günstig, die anzusprechende Person die Richtige und die Lösung des Problems jetzt möglich.«2

5.1.2

Akzeptanz der begrenzten Möglichkeiten und der begrenzten Zeit

Eine wichtige Kompetenz der beratenden Person im seelsorglichen Kurzgespräch ist, sich zu bescheiden und zu begrenzen. Im Kern ist dies eine Haltung der Demut: sich aktiv zu bescheiden und daraus die Kraft zu ziehen für die genaue Wahrnehmung der Sprache, der Formulierungen, die der / die Ratsuchende in ihrer Gesprächseröffnung wählt. Die hier gewählten Worte, Wendungen, Metaphern sind keineswegs beiläufig oder beliebig. Der im gesprächseröffnenden Sprechakt gewählten Sprache kommt vielmehr eine entscheidende Bedeutung zu – und deshalb auch dem ersten kurzen Impuls, mit dem die seelsorgende Person ihrerseits auf die Gesprächseröffnung antwortet.

2 Timm H. Lohse, Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung. Eine methodische Anleitung. Göttingen, 3.Auflage 2008, 21 f.

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5.1.3

Aufmerksames und konzentriertes Zuhören

Es geht darum, aufmerksam Acht zu geben auf das, was die Rat suchende Person als ihr Anliegen formuliert – und welche Worte sie dabei wählt. Die Konzentration auf die Wortwahl ist für den folgenden sprachlichen Impuls unabdingbar wichtig: Gefordert ist, die Signalwörter zu erfassen, in denen der / die Ratsuchende ihren Konflikt zum Ausdruck bringt. Durch diese genaue Rekonstruktion der gebrauchten Wörter und ihres Wiedergebrauchs durch die beratende Person erfährt der / die Ratsuchende Zuwendung und kann sich verstanden fühlen. Weil die Rat suchende Person diese Signalwörter nicht zufällig, sondern bestimmt und genau gewählt hat, geht es für die seelsorgende Person darum, eben diese Signalwörter in ihrer Reaktion wieder aufzugreifen. »Die beratende Person kann und sollte bei ihrer Reaktion möglichst viele »Vokabeln« aus der Aktion der Rat suchenden Person aufnehmen, sie gleichsam beim Wort nehmen. Das bewirkt zweierlei: –– Die Rat suchende Person fühlt sich angenommen, denn sie wird in ihrem Ansinnen nicht korrigiert. –– Die Rat suchende Person wird verstört, denn sie wird aufgefordert, sich zu öffnen, sich zu offenbaren, und dabei die Versprachlichung ihres Anliegens neu zu sortieren. Timm H. Lohse hat in einer neueren Veröffentlichung die hier geforderte Aufmerksamkeit auf die von dem / der Ratsuchenden gewählte Sprache theoretisch reflektiert: »Wenn wir sprechen, wollen wir aus-drücken, was wir in uns mittels aller fünf Sinne wahrnehmen: Ich denke bei mir, ich höre auf meine innere Stimme, ich sehe mit meinem geistigen Auge, ich fühle eine innere Kraft oder Ohnmacht, ich rieche den Verrat, ich schmecke den Tod. Dieser innere Dialog oder Monolog … wird in einer inneren Sprache geführt.«3 Man könnte auch sagen: die »innere Stimme« bringt zum Ausdruck, was sich in der »Tiefenstruktur« einer Person emotional abspielt. »Das Kurzgespräch will die Korrespondenz zwischen der Tiefenstruktur einer Person und der Oberflächenstruktur ihres Ausdrucks ak-

3 Timm H. Lohse, a. a. O., 27.

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tivieren und so die für die Gestaltung der Krise notwendigen autopoetischen Kräfte der ratsuchenden Person mobilisieren.«4

5.1.4

Einhaken und in Bewegung bringen

Traditionellerweise würde die beratenden Person jetzt versuchen, die Probleme des / der Ratsuchenden zu verstehen und ihre Gefühle zu explorieren, ihre Defizite fokussieren und zum Ausdruck zu bringen. Im Kurzgespräch geht es jedoch gerade nicht um eine solche, eher defizitorientierte Haltung. Ziel ist hier, die Möglichkeiten und Ressourcen der Rat suchenden Person zu erkunden, wahrzunehmen und aufzunehmen. Ziel der Gesprächsführung ist zugleich die Verstörung eingespielter innerer Dialoge und so die Aktivierung der Rat suchenden Person. Durch mäeutisches Fragen – wie in der Arbeit einer Hebamme – soll sie zum Nachdenken gebracht und angeregt werden, eigene Ressourcen zu entdecken. Durch den jetzt zu wählenden sprachlichen Impuls soll sie wieder in Bewegung kommen können. Entscheidend ist es, den Punkt zu finden, an dem das Ganze in Bewegung gebracht werden kann: Die beratende Person setzt so an irgendeiner Stelle des Gesamtsystems an, und indem diese eine Stelle in Bewegung kommt, kommt das ganze System in Bewegung. Verantwortung für eigenes Handeln und Verhalten kann so von der Rat suchenden Person selbst wieder übernommen werden.

5.1.5

Symmetrie herstellen

Das Beziehungsmuster im Kurzgespräch zwischen Rat suchender Person und beratender Person wird von der Rat suchenden Person aus als asymmetrische Achse angelegt: Du bist besser, kenntnisreicher, mächtiger als ich selbst. Du weißt, was für mich gut ist, ich aber überhaupt nicht. Du löst mein Problem, und das kann ich gerade nicht. Lohse spricht mit 4 Vgl. Timm H. Lohse, Grundlagen des Kurzgesprächs. Kenntnisse und Fertigkeiten für ein bündiges Beratungsgespräch. Selbstverlag, Books on Demand 2. Aufl. 2012, 27 f.; 30.

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Blick auf diese Asymmetrie von einer »Up-Down-Achse« mit komplementärem Muster: »orientierungslos  – wegweisend; ohnmächtig  – allmächtig; hilfesuchend  – klärend; Opfer  – Retter (usw.) oder einfach: UP – DOWN.«5 Die Rat suchende Person konstruiert in ihrer Gesprächseröffnung immer diese asymmetrische Beziehungsstruktur: Du bist der Retter, du weißt, was für mich gut ist. Die beratende Person steht hier vor der Aufgabe, den Charakter dieser Asymmetrie zu erfassen – und ihr in den eigenen sprachlichen Interventionen gerade nicht zu entsprechen. Zu dieser ersten tritt eine zweite asymmetrische Achse hinzu, die die Rat suchende Person in der Gesprächseröffnung inszeniert: Lohse schlägt vor, sie als »In-Out-Achse« zu benennen. Diese Inszenierung zielt darauf zu zeigen: Die Rat suchende Person steht mittendrin in ihrem Konflikt. Sie allein kennt ihren Leidensdruck. Sie würde am liebsten haarklein und ausführlich erzählen, was sie schon alles unternommen hat  – und was bisher alles nicht geklappt hat, um ihren Konflikt zu lösen. Sie würde am liebsten vom Hundertsten ins Tausendste kommen: Du beratende Person kennst ja all die Tiefen und Untiefen nicht. Kennst nicht die Fallen, nicht die Erfolglosigkeiten, nicht das gesamte Karussell meiner inneren und äußeren Probleme, auf dem ich schon so sehr lange im Kreis herumfahre. Aufgabe der beratenden Person ist hier, eine gegenparadoxale Haltung einzunehmen: Ich helfe dir, aber auf diese Art und Weise kann ich dir nicht helfen. »Die Interaktionen der beratenden Person zielen auf die Überwindung des asymmetrisch-komplementären Beziehungsmusters im Beziehungsfeld des Kurzgesprächs.«6 Die beratende Person stellt sich als Medium zur Verfügung, überlässt aber die Entscheidung der Rat suchenden Person, wie sie das Hilfsangebot für ihre eigenen Kompetenzen und Ressourcen nutzen möchte, ihren Konflikt zu lösen. Ihr Fokus liegt auf der präzisen Gestalt der sprachlichen Äußerungen: Ein sprachliches Anknüpfen, das wirksam ist wie Anker-Werfen und der Rat suchenden Person vermittelt: Ich weiß etwas, was dich wieder in Bewegung bringt. Lohse spricht hier metaphorisch vom Türöffner, vom »Sesam öffne dich«.7 »Mäeutisches«, zur Geburt hel5 Timm H. Lohse, Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung, a. a. O., 31. 6 A. a. O. 34. 7 A. a. O. 45.

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fendes Fragen konzentriert sich genau nicht auf Fragen nach wieso, weshalb und warum – all dies wären Einladungen an die Rat suchende Person, sich wieder auf ihr inneres Konfliktkarussell zu setzen, Ur­sachen zu suchen, Misserfolge bei bisherigen Bearbeitungsversuchen nachzuzeichnen – und eben nicht den Ort aufzusuchen, von dem aus ein Absprung möglich wäre.

5.2

Das seelsorgliche Gespräch: Steckbrief und Technik

5.2.1

Was ist ein zielorientiertes Kurzgespräch?

Das zielorientierte Kurzgespräch ist ein gesteuertes Beratungsgespräch, das einmalig stattfindet und in sich abgeschlossen ist. Wie der Name nahelegt, nimmt es nur kurze Zeit in Anspruch, etwa fünf oder zehn Minuten. Das Kurzgespräch reagiert kurz und knapp auf das Anliegen einer Rat suchenden Person und unterscheidet sich somit von einem Beratungsprozess.8 Aufgrund seiner bewussten Kürze ist es besonders für sogenannte »Tür- und Angelgespräche« im Schulalltag, aber auch für kurze seelsorgliche Gespräche im Gemeindekontext besonders geeignet. Das Kurzgespräch ist ziel- und ressourDas Kurzgespräch ist ziel- und ressourcen­ cenorientiert. Auf die zumeist spontan vororientiert. gebrachte Anfrage eines Rat suchenden Menschen wird im Kurzgespräch methodisch so eingegangen, dass dieser selbst (re-) aktiviert wird, einen ersten Schritt aus seinem »Problemkarussell« herausgehen zu können. Es wird von daher darauf verzichtet, sein »Problem« zu verstehen oder zu analysieren, das hinter der Anfrage verborgen liegt, geschweige denn es zu vertiefen. Dafür sind weder das zeitliche noch das räumliche Setting des Gesprächs geeignet.9 Der Blick wird konsequent auf die Zukunft gerichtet, Defizite werden ausgeblendet. Das zielorientierte Kurzgespräch ist ein gesteuertes Beratungsgespräch, das einmalig stattfindet und in sich abgeschlossen ist

8 In längeren Beratungsgesprächen können einzelne Sequenzen auch nach der Methodik des Kurzgesprächs gestaltet werden. 9 Timm H. Lohse, Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung, a. a. O.,76.

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Die Methodik des Kurzgesprächs geht dabei ressourcenorientiert vor, d. h. es bedient sich der »Kraftquellen«,10 die der Rat suchende Mensch in sich trägt, mit deren Hilfe er in anderen schwierigen Situationen seinen Lebensweg meistern konnte. Es wird davon ausgegangen, dass ein Mensch alles in sich trägt, was er benötigt, um einen Weg aus einer verfahrenen Situation heraus zu finden. Kontakt zu diesen – oft verschütteten  – Ressourcen herzustellen, ist gleichermaßen Weg und Ziel des Kurzgesprächs. Der Blick wird konsequent auf die Zukunft gerichtet, Defizite werden ausgeblendet. Dadurch wird der / die Ratsuchende in seiner Eigenständigkeit gefördert. Die Überzeugung, dass sich persönliche Veränderung in kleinen Schritten vollzieht, ist Leitgedanke des Kurzgesprächs. Oftmals gibt die Hoffnung, dass Veränderung möglich ist, die erforderliche Motivation, sich in Bewegung zu setzen und einen Schritt in eine andere Richtung zu gehen. Diese Sichtweise trägt dazu bei, dass eine tiefere Ergründung des Problems an Bedeutung verliert.

5.2.2 Wie funktioniert das Kurzgespräch? Dem Kurzgespräch liegt eine besondere Struktur zugrunde. Methodisch fokussiert es auf die sprachliche Ebene und greift Formulierungen der Rat suchenden Person auf. Es bedient sich der Sprache als Ausdruck des inneren Dialogs eines Menschen. Jeder Mensch wird von frühester Kindheit an in seinem Spracherwerb geprägt. Durch seine sprachliche Selbstverbalisierung zeigt er ausschnitthaft, wie er sein Anliegen reflektiert. Der sprachliche Ausdruck ist nicht zufällig, sondern Weg weisend für die Bearbeitung eines Problems. Dabei spielen die bereits oben genannten Signalwörter eine wichtige Rolle. Sie zu identifizieren und aufzugreifen ist oft der Schlüssel für den Verlauf des Gesprächs.

10 A. a. O., 105.

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5.2.2.1 Die mäeutische Fragetechnik Die mäeutische Fragetechnik ist Herzstück und Prinzip des zielorientierten Kurzgesprächs und zielt darauf, die Selbsterkundung der Rat suchenden Person anzuregen. Lohse verweist auf die Mäeutik11 des Sokrates, die Fragekunst des »Selbsterkundigens«, also die Fertigkeit, durch Hinterfragen zum Nachdenken anzuregen und so zu mehr (Selbst-) Erkenntnis zu gelangen. Mäeutische Fragen sind also Fragen, die die Rat suchende Person konstruktiv irritieren oder im positiven Sinne »verstören«. Sie regen zum Nachdenken und zur Selbsterforschung an und reaktivieren eigene Ressourcen. Mäeutische Fragen sind offene Fragen, im Unterschied zu geschlossenen Fragen, die ein »Ja« oder »nein« in der Antwort nach sich ziehen. Sie unterscheiden sich auch von reinen Informationsfragen, die lediglich zur Erweiterung der Problembeschreibung führen würden (Vgl. »In-OutAchse«). Mäeutisches Fragen vermeidet auch die Vertiefung eines Problems dadurch, dass auf Fragen nach Ursachen- und Wirkungszusammenhängen (»Warum«, »Wieso«, »Weshalb«) verzichtet wird. Mäeutische Fragen sind stets auf die Zukunft ausgerichtet, können aber mit denselben bekannten Fragewörtern wie Informationsfragen eingeleitet werden, wie z. B.: –– Personale Fragewörter: wer, was, wessen, wem, wen; –– Temporale Fragewörter: wann, bis / seit wann, wie lange –– Lokale Fragewörter: wo, woher, wohin –– Instrumentelle Fragewörter: womit, wodurch –– Finale Fragewörter: wozu –– Modale Fragewörter: wie, wie viele, wie oft Zur Veranschaulichung, wie jemand angeregt werden kann, selber zu mehr Klarheit zu gelangen und gleichzeitig die beratende Person mit weiterführenden Informationen zu versorgen, konstruiert Lohse folgendes Gespräch.

11 Mäeutik (griech.) = »Hebammenkunst«, a. a. O., 75.

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Beispiel –– »Ich habe Probleme …« (gesenkter Kopf, schlaffe Körperhaltung, leise Stimme.) –– »Welche Probleme genau?« (Aufforderung, selbst aktiv zu definieren) –– »Womit haben Sie Probleme?« (Aufforderung, Bezüge herzustellen) –– »Woher wissen Sie, dass Sie Probleme haben?« (Aufforderung, sich zu hinterfragen?) –– »Wie merken Sie ihre Probleme?« (Aufforderung, alle Sinneswahrnehmungen ernst zu nehmen) –– »Was machen die Probleme mit Ihnen?« (Aufforderung, aus dem Statischen ins Dynamische zu wechseln.«12

5.2.2.2 Mimik und Gestik Lohse weist darauf hin, dass es bei der Wahl der jeweiligen W-Frage keinen Königsweg gibt. Vielmehr geht es darum, »Fingerspitzengefühl (wie bei der Geburtshilfe) und eine positive Identifikation mit der Rat suchenden Person«13 zu entwickeln. Dabei spielt der para- und nonverbale Ausdruck, z. B. die Mimik und Gestik eine große Rolle. Durch eine offene und zugewandte Körperhaltung, durch interessierten und einfühlenden Blickkontakt kann der ratsuchenden Person Akzeptanz und Zuwendung signalisiert werden. Ein empathisches Mitgehen ist Voraussetzung dafür, dass sich die Rat suchende Person in einer festgefahrenen Situation überhaupt auf Veränderungsprozesse einlassen kann. Umgekehrt kann der / die Beratende durch die Wahrnehmung des paraverbalen Ausdrucks auf Seiten des Gegenübers weitere hilfreiche Informationen erschließen. Auf eine Verba­ lisierung des Wahrgenommenen sollte jedoch verzichtet werden.

12 Timm H. Lohse, a. a. O., 78. 13 A. a. O., 79.

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5.2.2.3 Stimm- und Tonlage Entscheidende Bedeutung kommt der Stimm- und Tonlage zu, in der die Frage gestellt wird. Im Unterschied zu unseren sonstigen Gewohnheiten hebt sich die Stimme nicht zum Ende der Frage. Im Gegenteil: Der Tonfall senkt sich. Die einzelnen Worte werden ruhig und langsam gesprochen und ganz bewusst betont. Ganz kurze Pausen werden eingefügt, sodass eine besondere Betonung der Frage entsteht. In der mäeutischen Fragetechnik folgen die Fragen nicht »wie aus der Pistole geschossen« auf eine Äußerung der Rat suchenden Person. Bevor eine neue Frage formuliert und ausgesprochen wird, darf ruhig eine Weile inne gehalten werden, Augenblicke vergehen. Ein abwartendes – kurzes – Schweigen kann der nachfolgenden Frage eine besondere Wirkung verleihen.

5.2.2.4 Repräsentanzebenen Kennzeichnend für die mäeutische Fragetechnik ist die Beachtung der sprachlichen Repräsentationsebenen.14 Um sich auf die jeweilige Repräsentationsebene der Rat suchenden Person einzustellen, ist es erforderlich, sich der jeweiligen sprachlichen Bezugsebenen bewusst zu sein und Formulierungen entsprechenden Wortfeldern zuordnen zu können. Wir unterscheiden folgende vier sprachliche Ebenen: –– Die kinästhetische Repräsentationsebene, die äußere und innere Bewegung und des Empfindens zum Ausdruck bringt, z. B.: »Das habe ich voll vor die Wand gefahren!«, »Ich bin zutiefst berührt!« –– Die visuelle Repräsentationsebene, die sprachlich auf die visuelle Sinneswahrnehmung verweist, z. B.: »Da hab’ ich nur noch schwarz gesehen!«, »Ich hab’ keinen Schimmer!« –– Die auditive Repräsentationsebene, die auf das Hören, aber auch auf das Sprechen und das Verstehen (auch Denken und Wissen) verweist, z. B.: »Der hat doch einen Knall!«, »Meine Lehrerin kann mich überhaupt nicht verstehen!« 14 Vgl. Richard Bandler / John Grinder, Metasprache und Psychotherapie. Struktur der Magie I. Paderborn 19948, zit. n. Timm H. Lohse, a. a. O., 69.

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–– Die olfaktorische Repräsentationsebene, die auf das Riechen und Schmecken Bezug nimmt, z. B.: »Mir stinkt’s gewaltig!«, »Das ist ja­ bitter!«

5.2.2.5 Verbalstil Eine weitere sprachliche Besonderheit der mäeutischen Fragetechnik besteht darin, Nominalisierungen aufzulösen und stattdessen Verben und Adjektive in die Formulierung der Fragen mit aufzunehmen. Hintergrund dieser Technik ist die Überlegung, dass Nomina von ihrem Charakter her eher feste Begriffe darstellen und Verdinglichungen benennen, dass die Verwendung von Verben dagegen Lebendigkeit nicht nur in den sprachlichen Ausdruck, sondern auch in die Betrachtungsweise und die Psychodynamik eines Problems bringen können. Beispiel »Das ist alles meine Schuld!« – »Was schulden Sie Ihrem Sohn?« »Ich habe solche Angst vor der nächsten Mathearbeit …«  – »Was genau ängstigt dich?« oder »Was macht dich ängstlich?«

5.2.2.6 Konjunktiv vermeiden Charakteristisch für das Kurzgespräch ist ferner die Vermeidung des Konjunktivs. Im mäeutischen Fragen wird auf den Konjunktiv strikt verzichtet und konsequent durch den Indikativ ersetzt. Hintergrund dieser Technik ist das Ziel, eine Hinführung zum Realistischen zu ermöglichen. Ziel des Kurzgesprächs ist es ja, einen ersten realistischen Schritt heraus aus dem Problemkarussell zu finden. Der Konjunktiv verhaftet dagegen zu sehr im Bereich des unverbindlichen Möglichen. Beispiel »Wenn ich bloß mehr gelernt hätte!« – Nicht: »Was wäre dann, wenn Du mehr gelernt hättest?«, sondern: »Was wird dann sein, wenn du mehr lernst?« Oder: » Wie kannst du es schaffen, mehr zu lernen?« Das seelsorgliche Kurzgespräch im Arbeitsfeld Schule

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5.2.2.7 Schlüsselwörter Zentrale Bedeutung bekommen sogenannte Schlüsselwörter, die es in den Ausführungen der ratsuchenden Person zu erkennen gilt. Sie wahrzunehmen und aufzugreifen, mit ihnen im Verlauf des Kurzgesprächs kreativ zu arbeiten, ist ebenso eine Fertigkeit, die das Kurzgespräch effektiviert. Schlüsselwörter können z. B. bildhafte Ausdrücke sein. Zumeist handelt es sich um auffällige Wörter, die oft zu Beginn einer Problemschilderung auftauchen, oder aber zum Schluss, quasi in der Bedeutung eines Schlusskommentars. Wenn ein Wort oder ein Satzfragment wiederholt wird, kann es sich um ein Schlüsselwort handeln. Beispiel »Ich bekomme einfach den Faden nicht zu fassen!« – »Wie kannst du den Faden aufnehmen?« – Oder: »Wie wirst du den Faden halten?«

5.2.2.8 Ergänzungen Ferner werden im Kurzgespräch Auslassungen und lückenhafte Sätze ergänzt, z. B. bei Vergleichen) sowie Bezüge hergestellt, wenn sie nicht erwähnt werden. Dieses Vorgehen soll ebenso dazu diesen, auf der sprachlichen und somit auch in der inneren Betrachtungsweise zu mehr Klarheit zu gelangen, das innerlich verworrene gedankliche Knäuel zu entwirren. Beispiel –– »Das Ganze ist noch viel schlimmer … !« – »Schlimmer als (was)?« –– »Was wirst du jetzt mit deinem Freund machen?« und nicht allgemein: »Was wirst Du jetzt machen?«, wenn vorher von dem Freund die Rede war.

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5.2.2.9 Systemische Intervention Schließlich bedient sich die Methode des Kurzgesprächs gern der systemischen Intervention, Ausnahmen von der Regel (vgl. Kap. 4.3.6.2. Systemische Fragetechniken) zu erfragen. Wahrzunehmen, dass es in noch so festgefahrenen Situationen Ausnahmen vom Regelhaften gibt, kann konstruktiv verstören und zu neuen Betrachtungsweisen eines Problems anregen. Die Suche nach Ausnahmen kann die Statik einer Sichtweise verändern und Dynamik ins Gespräch bringen. Dabei darf auch das Mittel der Übertreibung angewendet werden. Beispiel –– »Nie schaffe ich das!« – »Wann war es mal anders?« oder: »Angenommen, es war immer so: Gibt es vielleicht nicht doch eine Ausnahme?« –– »Immer ist sie ungerecht zu uns!« – »Immer und ständig? Also in jeder Unterrichtsstunde?«

5.2.3 Die Struktur des Kurzgesprächs Professionell geführte Kurzgespräche haben eine Struktur. Sie werden durch die beratende Person bewusst gesteuert.

5.2.3.1 Erkundung und Selbsterkundung Der erste Teil des Kurzgesprächs widmet sich im Wesentlichen der Erkundung bzw. der Selbsterkundung der ratsuchenden mit der Unterstützung der beratenden Person. Mäeutisches Fragen, die Suche nach Schlüsselwörtern, Auslassungen durch Ergänzungen vervollständigen und Nominalisierungen auflösen: diese Gesprächsführungstechniken können Denkprozesse kreativ verstören und neue gedankliche Lösungsprozesse anregen. Insgesamt tragen sie zur Entschleunigung bei und können die ratsuchende Person ermutigen, erste gedankliche Lösungsschritte zu wagen.

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5.2.3.2 Zielorientierung Im zweiten Teil  des Kurzgesprächs steht dann die Zielorientierung im Mittelpunkt. Beschleunigung ist jetzt geboten. Unter Rückbesinnung auf das Anliegen wird nun zügig das Ziel geformt. Die persönlichen Ressourcen (»Kraftquellen«) werden ausgelotet. Sie bilden Ausgangspunkt und die Grundlage für die Zielformung.

5.2.3.3 Zielformung Die »Problemlösung« wird im Kurzgespräch kleinschrittig angegangen. Sie beginnt mit der Suche nach einem ersten Schritt. Das Ziel muss konkret geformt werden, unabhängig davon, wie groß ein Ziel ist. Die beratende Person macht keine eigenen Zielvorschläge, sondern erkundet lediglich und begleitet den / die Ratsuchende/n bei der Zielfindung. Ziele sollten nach folgenden Kriterien geformt werden: Sie sollten positiv formuliert werden und innerhalb der Möglichkeiten und Ressourcen der ratsuchenden Person als realistisch angesehen werden. Ziele sollten konkret und kleinschrittig gefasst sein. Durch eine Terminierung (»Bis wann …«) werden sie überprüfbar. Insgesamt sind sie umso wirkungsvoller, je motivierender und attraktiver sie für die ratsuchende Person erscheinen. Für die ZielFür die Zielformung bewährt sich die formung bewährt sich die »Smart-Regel«15: »Smart-Regel«: spezifisch, messbar, atspezifisch, messbar, attraktiv, realistisch, tertraktiv, realistisch, terminiert. miniert.

5.2.3.4 Ressourcen erschließen Die sorgfältige Erkundung der zur Verfügung stehenden Ressourcen ist deshalb von Bedeutung, da Veränderungen nur in Verbindung mit ihnen möglich sind. Oftmals erscheinen dem / der Ratsuchenden die Kraftquellen versiegt bzw. ist ihre Wahrnehmung eingeschränkt. Oder 15 Timm H. Lohse, a. a. O.

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aber es fehlt der Realitätsbezug: Lösungswege werden fantasiert oder erträumt, die jedoch unrealistisch sind und das Problem nicht aus der Welt schaffen. »Wenn in einem Kurzgespräch Ziele geformt und Lösungen erarbeitet werden, gehört es zum methodischen Vorgehen der beratenden Person, die Kraftquellen der ratsuchenden Person genau zu erkunden, um nicht fahrlässig zu handeln. Denn verändern kann eine ratsuchende Person in ihrer Lebensweise nur etwas mit dem, was sie hat und kann und wozu sie von sich aus fähig und in der Lage ist.«16 Ressourcen lassen sich in folgende Ka­ tegorien einteilen: Sozial-kommunikative, Ressourcen lassen sich in folgende Kateeinteilen: Sozial-kommunikative, emotionale, kognitive, kreative, körperliche, gorien emotionale, kognitive, kreative, körpermaterielle (finanzielle), spirituell-religiöse, liche, materielle (finanzielle), spirituellweltanschauliche, selbstorganisatorische und religiöse, weltanschauliche, selbstorganisatorische und sonstige Ressourcen. sonstige Ressourcen.

5.2.3.5 Das bündige Ende Der Abschluss eines Kurzgesprächs ist durch Ergebnisorientierung bestimmt. Die Kunst, ein kurzes und knappes Beratungsgespräch zu beenden, liegt darin, das Fragmentarische, das Unvollständige zu akzeptieren. Idealerweise wurde ein konkretes Ziel nach der Smart-Regel geformt. In Tür- und Angelgesprächen sind weder umfassende Lösungen schwerwiegender Konflikte möglich, noch »Weltrettertum« genereller Art. Es geht darum, sich zu bescheiden, die Grenzen dieses Gesprächsangebots zu akzeptieren und unter Rückbezug auf das – oftmals erschlossene – Mandat einen ersten Lösungsschritt aus dem Problemkarussell heraus zu ermöglichen. Eine spezielle Technik, das Gespräch zu beenden, gibt es nicht! Oftmals wird das Gespräch seinem flüchtigen Charakter entsprechend dann von der Rat suchenden Person beendet, wenn sich ein erstes Ergebnis gezeigt hat, wenn etwas in Gang gekommen ist. Das Ende kann dann zu einem bündigen Abschluss werden, wenn sich die / der Beratende auf den

16 A. a. O., 105.

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neuen Lösungsimpuls voll und ganz einlässt, mitschwingt und sich synchron zur Rat suchenden Person verhält. Eigene Aktivität sollte zu diesem Zeitpunkt vermieden werden, um die neu gewonnene Eigenständigkeit des Gegenübers nicht zu behindern. Die Beachtung nonverbaler Signale kann jetzt hilfreich sein: Wenn die Rat suchende Person sich zum Aufbruch bereit macht, verabschiedet sich auch der / die Beratende innerlich vom Gegenüber und dem Gespräch. Ein Händedruck kann als Abschiedsritual außerdem besiegelnde Bedeutung haben.

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Die kollegiale Fallberatung

6.1 Allgemeines Die kollegiale Fallberatung, auch Intervision genannt, ist eine Form von Beratung unter Gleichgestellten, wie z. B. Kolleg_innen, Studierenden oder Jugendgruppenleiter_innen. Kollegiale Beratung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass es in der Gruppe kein Hierarchiegefälle gibt, sondern »Gleichartige« (peers) sich treffen, um ein »Problem«, das in einem Arbeitszusammenhang aufgetreten ist, zu reflektieren und gemeinsam Lösungsschritte zu suchen.1 Zur Problemlösung im systemischen Sinne werden die Ressourcen und Kompetenzen der Gruppe genutzt, d. h. auf das Hinzuziehen einer von außen hinzukommenden Fachkraft, wie es in der Supervision die Regel ist, wird verzichtet. Ein hierarchisches Gefälle vermeiden, bedeutet auch, dass Dienstvorgesetzte nicht zusammen mit ihren Mitarbeiter_innen eine Intervisionsgruppe bilden sollten, ebenso wenig wie (beurteilende) Lehrkräfte mit Studierenden. Damit sich die Gruppenteilnehmenden öffnen können, ist eine vertrauensvolle Atmosphäre und die Übereinkunft der Verschwiegenheit Voraussetzung. Gemäß der systemischen Sichtweise auf Probleme und ihren Lösungsmöglichkeiten wird bei der kollegialen Fallberatung davon ausgegangen, dass der / die »Fallbringende«, unterstützt durch die Gruppenteilnehmer_innen, bereits alle Voraussetzungen mitbringt, um einen ersten Schritt aus einem Problem herauszufinden und es zu lösen. Die Verantwortung und Eigenständigkeit der Gruppe wird so gestärkt, ebenso wie die Wahrnehmung der eigenen Kompetenzen bei den Teilnehmer_innen. Die kollegiale Fallberatung ist vor allem in sozial-pädagogischen und -psychologischen Arbeitsfeldern weit verbreitet. Es gibt verschiedene Verfahren, die sich zwar ähneln, aber in ihren Grundannahmen unterschei1 Vgl. z. B.: Gerhard Spangler, Das Heilbronner Modell. Nürnberg 2005.

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den. Einige beteiligen die ganze Gruppe bei der Lösungsfindung und nutzen die Ressourcen der Gruppe, andere übertragen diese Aufgabe allein der Rat suchenden Person. Die Gruppe hat dann lediglich die Aufgabe der Reflexion und Ideenfindung. Kollegiale Fallberatung wird als Instrument der Personalentwicklung u. a. im Coaching von Führungskräften eingesetzt für feste, regelmäßig tagende Gruppen und kann dann auch der Burn-out-Prophylaxe dienen. In der Weiterbildung Schulseelsorge der Nordkirche wird in diese Methode praxisnah eingeführt, um zum einen den künftigen Schulseelsorger_innen ein weiteres Handwerkszeug für ihre schulseelsorgliche Praxis anzubieten (z. B. als Angebot für Interessierte des Lehrer_innenkollegiums), zum anderen aber auch, um für die Zeit der Weiterbildung und darüber hinaus ein Beratungsangebot zu schaffen, das der Klärung eigener Fragen zur schulseelsorglichen Tätigkeit, wie z. B. der Beratung und Begleitung von Jugendlichen, dient.

6.2 Durchführung Die Durchführung einer kollegialen Fallberatung erfolgt nach einer vorgegebenen Struktur. Für einen Durchlauf wird ein Zeitrahmen von ca. 40 Minuten veranschlagt, wobei die Praxis zeigt, dass die Bearbeitung eines Falls oft auch mehr Zeit in Anspruch nehmen kann.

6.2.1 Moderation Zunächst wird eine Moderation bestimmt. Der / die Moderator_in übernimmt die Aufgabe, bei neu zusammengesetzten Gruppen den Ablauf zu erläutern und ihn dann im weiteren Verlauf zu steuern. Damit ist das »Zeitwächteramt« verbunden, denn die einzelnen Schritte sollen im Verlauf einer Sitzung in einem zeitlich begrenzten Rahmen abgearbeitet werden. Der / die Moderator_in achtet auf die Einhaltung der einzelnen Schritte und die damit verbundenen Regeln. Er / sie interveniert bei Nichteinhaltung der Schrittabfolge oder regelabweichenden Äußerun­ 76 

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gen. Beispielsweise werden häufig schon Lösungsvorschläge genannt, bevor der Schritt der Hypothesenbildung abgeschlossen wurde. Es gelten ferner die allgemein bekannten Kommunikationsregeln (wie z. B. die Formulierung von Ich-Botschaften statt Du-Botschaften oder das Vermeiden von verallgemeinernden Formulierungen),2 auf die zu Beginn einer Gruppenarbeit hingewiesen wird. Aufgabe der / des Moderatorin / Moderators ist es bei Verletzung der Gesprächsregeln zu intervenieren. An der inhaltlichen Beratung und Erarbeitung von Lösungsideen beteiligt er / sie sich hingegen nicht.

6.2.2 Fallauswahl Vor der eigentlichen Beratung findet die Fallauswahl statt. Die Teilnehmenden überlegen und notieren eine Fragestellung bzw. ein Problem, das sie in der letzten Zeit beschäftigt hat. Wichtig ist dabei der Hinweis, dass es »normal« ist, ein Problem zu haben. In einer kurzen Runde benennen alle kurz ihr Anliegen. Die Auswahl erfolgt dann gemeinschaftlich nach den Kriterien der Dringlichkeit und des allgemeinen bzw. geteilten Interesses. Die Methode der kollegialen Fallberatung eignet sich für ein weites Spektrum von Beratungsanliegen. Themen, die auf massive inner­ psychische Konflikte hinweisen, oder gruppendynamische Konflikte innerhalb der Intervisionsgruppe sollten ausgespart werden. Hierfür empfiehlt sich das Hinzuziehen einer professionellen Supervisionsfachkraft, die auch Anliegen der Beziehungsebene klären und das Beratungsverhalten auf einer Metaebene reflektieren kann. Eine kollegiale Beratung kann eine Eine kollegiale Beratung kann eine Supervision nicht ersetzen! Supervision nicht ersetzen!

2 Vgl.: Ruth C. Cohn, Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion. Stuttgart 14. Aufl. 2009.

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6.2.3 Die Phasen der Fallberatung Wenn die Fallauswahl getroffen wurde, beginnt die eigentliche Fallberatung. In der ersten Phase schildert der / die »Fallbringende« die Problemsituation. Im systemischen Sinne der »Auftragsklärung« wird das Anliegen formuliert (»Was genau ist dein Anliegen?«, oder: »Welche Frage möchtest du heute klären?«). Oft ist allein die Schilderung eines Konflikts mit starken Gefühlen bei der fallbringenden Person verbunden. Aber auch die Gruppenteilnehmer_innen reagieren innerlich emotional. Diese Reaktionen können in der zweiten Phase formuliert werden. In der dritten Phase erhalten die Gruppenteilnehmer_innen die Möglichkeit, Verständnisfragen zu klären. Die vierte Phase dient dann der Hypothesenbildung. Während der / die Falleinbringende sich umdreht und aus dem Stuhlkreis rausrückt, beraten die Gruppenteilnehmer_innen über das Gehörte. Sie äußern alles, was ihnen zu dem Gehörten durch den Kopf geht. Sie stellen Vermutungen an über Zusammenhänge und benennen Bedeutsamkeiten. Der / die Fallbringende hört aufmerksam zu, macht sich ggfs. Notizen. Lösungsschritte werden hier noch nicht entwickelt! In der fünften Phase kehrt der / die Falleinbringende zurück in den Stuhlkreis und sortiert das Gehörte. Welche Hypothesen sollen weiter verfolgt werden, welche können vernachlässigt werden? In der sechsten Phase nun können zu den ausgewählten Hypothesen Lösungsideen erarbeitet werden. Wenn die Gruppe an der Lösungsfindung beteiligt wird, kann der / die Fallbringende wieder aus der Gruppe herausrücken, damit er / sie das Gespräch verfolgen kann, nicht aber gleich auf die Beiträge reagieren muss. In der siebten und letzten Phase resümiert der / die Fallbringende den Prozess: Wo steht sie? Was versteht sie anders und welche werden die nächsten Schritte sein? Ein »Blitzlicht« schließlich kann die Beratungssitzung abrunden.

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Ablauf einer kollegialen Fallberatung3 Phase 1 Falldarstellung und Fragestellung (~ 7 min)

Der / die Fallbringende schildert seine Problemsituation. Die anderen hören schweigend zu. Der / die Fallbringende formuliert eine Frage, die beraten werden soll.

Phase 2 Emotionale Reaktion (~ 2 min)

Die Beratenden formulieren spontan ihre emotionalen Reaktionen.

Phase 3 Verständnisfragen (~ 5 min)

Die Beratenden fragen nach, klären Verständnisfragen zur Problemschilderung.

Phase 4 Hypothesen bilden (~ 8 bis 10 min)

Der / die Fallbringende dreht sich um und hört schweigend zu, während die anderen über die geschilderte Situation reden. Sie formulieren Vermutungen / Hypothesen zu möglichen Ursachen und Implikationen des Problems. Ich-Botschaften verwenden, Bewertungen vermeiden, nichts »überstülpen«

Phase 5 Stellungnahme (~ 2 min)

Der / die Fallbringende wählt diejenigen der formulierten Hypothesen aus, die am besten zu passen scheinen.

Phase 6 Lösungsideen (~ 10 min)

Die Beratenden überlegen gemeinsam, welche Lösungsansätze ihnen zu den vom Fallbringenden ausgewählten Hypothesen einfallen.

Phase 7 Reflexion (~ 3 min)

Der / die Fallbringende wendet sich wieder den anderen zu und reflektiert zu den drei ­ Fragen: Wo stehe ich? / Was verstehe ich jetzt anders? / Was werden meine nächsten Schritte sein?

3 Hartmut O. Genz: www.hartmut-genz.de (abgerufen am 31.10.13)

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Schulsozialarbeit und Schulseelsorge im Vergleich

In der Weiterbildung Schulseelsorge in der Nordkirche werden wir regelmäßig von Teilnehmenden befragt, inwieweit sich schulseelsorgliches Engagement in der Schule von dem Anliegen der Schulsozialarbeit unterscheidet. In der Praxis erscheinen die Handlungsformen und Aktivitäten doch z. T. als sehr ähnlich. Um die Spezifika der Schulsozialarbeit konkreter fassen zu können, ist zunächst eine Beschreibung des Ansatzes der »Schulsozialarbeit« hilfreich. Ob und wie dann eine sinnvolle Abgrenzung zu unserem Konzept von Schulseelsorge vorgenommen werden kann, wird im Anschluss daran erläutert.

7.1

Was ist »Schulsozialarbeit«?

»Schulsozialarbeit« ist zunächst ein Sammelbegriff für verschiedene sozialpädagogische Aktivitäten im Raum von Schule. »Schulsozialarbeit«, »schulbezogene Jugendarbeit« und »Jugendsozialarbeit in bzw. an der Schule« sind Begriffe, die in der Praxis grob ähnliche Aktivitäten beschreiben und deshalb in ihren jeweiligen Erscheinungsformen nicht klar voneinander abgegrenzt werden können. Unterscheidungen betreffen im Wesentlichen ihre Entstehungsgeschichte, ihre gesetzliche Verankerung und ihre Gewichtung bezüglich konzeptioneller Ziele und Zielgruppen. Der Begriff »Schulsozialarbeit« fand in der bundesdeutschen Fachdiskussion Mitte der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts zum ersten Mal Erwähnung. Er wurde aus dem Amerikanischen (»school social work«) von Heinz Abels1 übernommen und zur Abgrenzung von außerschulischer Sozialpädagogik eingeführt. 1 Heinz Abels, Schulsozialarbeit. Ein Beitrag zum Ausgleich von Sozialisationsdefiziten. In: Soziale Welt, 28.Jg. 1971, H.3, 347–359, zit. n. Karsten Speck, Qualität und Evaluation in der Schulsozialarbeit. Konzepte, Rahmenbedingungen und Wirkungen. Wiesbaden 2006, 15.

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Im Unterschied zu Skandinavien und zu den angelsächsischen Ländern besteht in Deutschland eine gewachsene Tradition der Trennung von Jugendhilfe und Schule. Bereits mit der Verabschiedung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes von 1922/24 wurde neben der Schule eine eigenständige Jugendhilfe eingeführt und institutionalisiert. Innerhalb von Schule waren für Schüler_innen demnach keine weiteren sozialen Leistungen vorgesehen. Diese grundsätzliche Trennung bewirkte eine unabhängige Entwicklung von Strukturen und pädagogischen Professionen. Jenes Gesetz hatte in seiner Neufassung von 1961 als Gesetz für Jugendwohlfahrt (JWG) bis zur deutschen Vereinigung 1991 Bestand bzw. wurde 1990 in der Bundesrepublik durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) im Sozialgesetzbuch (SGB VIII) ersetzt. In der Bundesrepublik erfolgte ein nach den bildungspolitischen Vorgaben der jeweiligen Bundesländer unterschiedlich gewichteter Aufbau von Schulsozialarbeit in erster Linie durch die Einführung von Gesamtschulen im Zuge der Bildungsreform zu Beginn der 70er Jahre. Zahlreiche Modellprojekte wurden durch das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft finanziell gefördert. Als integraler Bestandteil von Gesamtschulen sollten insbesondere Bildungsbenachteiligungen bei Kindern und Jugendlichen im emanzipatorischen Sinne ausgeglichen werden. Tendenzen der Desintegration wollte man entgegenwirken. In den 80er Jahren wurden viele dieser Projekte nicht weiter finanziert und liefen aus. Nur vereinzelt wurden sozialarbeiterische Projekte an Schulen fortgeführt, vor allem begründet durch besondere Belastungen des Sozialraums. Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik wurden in den einst neuen Bundesländern die Polytechnischen Oberschulen (POS) abgeschafft und nach bundesrepublikanischem Vorbild sowohl eine neue  – gegliederte  – Schullandschaft als auch eine Jugendhilfe aufgebaut. Die Trennung von Schule und Jugendhilfe, aber auch von schulischer und außerschulischer Bildung durch die unterschiedliche gesetzliche Verankerung stellt ein wesentliches Differenzierungsmoment dar: Die Belange der Schule sind auf Länderebene angesiedelt (Schulgesetze, Schulaufsicht, Lehrpläne, Personal), während der außerschulische Bereich der Jugendarbeit und die Kinder- und Jugendhilfe durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) auf Bundesebene geregelt werden. Schulsozialarbeit und Schulseelsorge im Vergleich

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Von Interesse ist in diesem Zusammenhang, dass der Bereich der »Schulsozialarbeit« im Kinder- und Jugendhilfegesetz nicht explizit als Leistungsbereich der Jugendhilfe aufgeführt wird, wohl aber die Jugendarbeit (§ 11 SGB VIII)2 und die Jugendsozialarbeit (§ 13 SGB VIII)3. »Schulsozialarbeit« kann nun entweder als eine spezifische Form der schulbezogenen Jugendarbeit aufgefasst werden, die in § 11 SGB VIII, Abs. 3 konkret benannt wird,4 oder aber als eine spezifische und bezüglich der Zielgruppe weiter gefasste Form der »Jugendsozialarbeit in der Schule«. Denn »Jugendsozialarbeit« stellt eigentlich ein ergänzendes Angebot für eine bestimmte Gruppe von Schüler_innen dar (§ 13 SGB VIII). Ihre Zielgruppe sind sozial benachteiligte junge Menschen mit erhöhtem sozialpädagogischem Unterstützungsbedarf, also nicht alle Schüler_ innen, sondern diejenigen, deren Chancen auf schulischen und sozialen Erfolg durch verschiedene Benachteiligungsfaktoren (Belastungen in den jeweiligen Sozialräumen, wie z. B. Armut, Bildungsbenachteiligung, sprachliche Defizite, Migrationshintergründe)  beeinträchtigt sind. Jugendsozialarbeit zielt hier auf sozialen Ausgleich. In dieser Konstruktion wird also nicht in erster Linie die ganze Schulgemeinschaft als Adressat von Sozialarbeit betrachtet, z. B. um ein positives Schulklima für alle zu schaffen, sondern ausschließlich die Gruppe benachteiligter junger Menschen. Dennoch können Angebote so verstandener Jugendsozialarbeit auch ein Gewinn für die gesamte Schule sein,

2 § 11 (1) SGB VIII: »Jungen Menschen sind die zur Förderung ihrer Entwicklung erforderlichen Angebote der Jugendarbeit zur Verfügung zu stellen. Sie sollen an den Interessen junger Menschen anknüpfen und von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet werden, sie zur Selbstbestimmung befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zu sozialem Engagement anregen und hinführen.« http://www.gesetze-im-internet.de/sgb_8 (abgerufen am 31.10.2013) 3 § 13 (1) SGB VIII: »Jungen Menschen, die zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen oder zur Überwindung individueller Beeinträchtigungen in erhöhtem Maße auf Unterstützung angewiesen sind, sollen im Rahmen der Jugendhilfe sozialpädagogische Hilfen angeboten werden, die ihre schulische und berufliche Ausbildung, Eingliederung in die Arbeitswelt und ihre soziale Integration fördern.« a. a. O. 4 § 11 (3) SGB VIII: »Zu den Schwerpunkten der Jugendarbeit gehören: 1. außerschulische Jugendbildung mit allgemeiner, politischer, sozialer, gesundheitlicher, kultureller, naturkundlicher und technischer Bildung, 2. Jugendarbeit in Sport, Spiel und Geselligkeit, 3. arbeitswelt-, schul- und familienbezogene Jugendarbeit, 4. internationale Jugendarbeit, 5. Kinder- und Jugenderholung, 6. Jugendberatung.« a. a. O.

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zumal wenn sich Lehrer_innen und Jugendsozialarbeiter_innen als Team verstehen.5 Eine veränderte Sicht auf Schule als Lern- und Lebensort von Schüler_ innen und der damit einhergehende Ausbau von Ganztagsschulen Ende der 90er Jahre bzw. Anfang des neuen Jahrtausends intensivierte das Bemühen um eine Kompensierung der negativen Begleiterscheinungen des sozialen Wandels. Im elften Kinder- und Jugendbericht (2002) stehen die wachsende öffentliche Verantwortung und Zuständigkeit für das Aufwachsen der Kinder und die dafür zu schaffenden Rahmenbedingungen im Mittelpunkt.6 Eine Konsequenz war der Ruf nach intensiverer Kooperation von Jugendhilfe und Schule. Sozialpädagogisches Handeln vor Ort sollte nicht erst in besonderen Konflikt- und Problemlagen zum Einsatz kommen, sondern auf gleicher Höhe mit dem Unterrichtsgeschehen den Erziehungs- und Bildungsauftrag von Schule umsetzen. Dieser Grundgedanke wird auch im zwölften Kinder- und Jugendbericht (2005) weiterverfolgt und trägt maßgeblich zur Entwicklung eines neuen Bildungsverständnisses bei. Gewollt ist ein öffentlich verantwortetes System von Bildung, Betreuung und Erziehung, in dem sowohl Schule als auch Jugendhilfe Bildungsverantwortung wahrnehmen und in dem die Schulsozialarbeit gestärkt wird. Einen Versuch, »Schulsozialarbeit« über die unterschiedlichen Akzentuierungen des KJHG hinweg begrifflich zu fassen und somit auch die unterschiedlichen Ansätze zusammenzuführen, unternimmt Karsten Speck mit seiner Definition: »Unter Schulsozialarbeit wird (…) ein Angebot der Jugendhilfe verstanden, bei dem sozialpädagogische Fachkräfte kontinuierlich am Ort Schule tätig sind und mit Lehrkräften auf einer verbindlich vereinbarten und gleichberechtigten Basis zusammenarbeiten, um junge Menschen in ihrer individuellen, sozialen, schulischen und 5 Diese Teamarbeit stellt in der Praxis oftmals jedoch keine Selbstverständlichkeit dar. Damit sich pädagogische Akteur_innen mit ihren unterschiedlichen Zugängen ergänzen können, ist vor allem ein Klima gegenseitiger Wertschätzung, Offenheit und die Bereitschaft zur gemeinsamen Entwicklungsarbeit erforderlich und Basis einer konstruktiven Zusammenarbeit. Gelingendes kooperatives Handeln von JSA und Schule erfordert darüber hinaus Rollenklarheit, professionelle Kompetenz im eigenen Aufgabenbereich und Selbstbewusstsein. 6 http://www.dji.de/bibs/Elfter_Kinder_und_Jugendbericht.pdf.

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beruflichen Entwicklung zu fördern, dazu beizutragen, Bildungsbenachteiligungen zu vermeiden und abzubauen, Erziehungsberechtigte und LehrerInnen bei der Erziehung und dem erzieherischen Kinder- und Jugendschutz zu beraten und zu unterstützen sowie zu einer schülerfreundlichen Umwelt beizutragen. Zu den sozialpädagogischen Angeboten und Hilfen der Schulsozialarbeit gehören insbesondere die Beratung und Begleitung von einzelnen SchülerInnen, die sozialpädagogische Gruppenarbeit, die Zusammenarbeit mit und Beratung der LehrerInnen und Erziehungsberechtigten, offene Gesprächs-, Kontakt- und Freizeitangebote, die Mitwirkung in Unterrichtsprojekten und in schulischen Gremien sowie die Kooperation und Vernetzung mit dem Gemeinwesen.«7 Allgemeine Hausaufgabenbetreuung, Pausenaufsicht und -gestaltung gehören demnach nicht vorrangig in das Aufgabengebiet von Schul- oder Jugendsozialarbeiter_innen. Und doch werden in der Praxis die Zuständigkeiten nicht genau voneinander getrennt. Kontrovers wird in diesem Zusammenhang auch der Einsatz von Schulsozialarbeiter_innen in der Betreuung der Nachmittagsangebote im Rahmen der Ganztagsschule diskutiert. Insgesamt werden vielerorts vorhandene Qualitätsstandards für das Handlungsfeld der Schulsozialarbeit noch unzureichend um­ gesetzt.

7.2

Was unterscheidet Schulsozialarbeit von Schulseelsorge?

Schulseelsorge ist eine Form kirchlicher Arbeit mit Jugendlichen, ist Lebensbegleitung junger Menschen im Lebensraum Schule. Sie bietet darüber hinaus allen am Schulleben beteiligten Menschen Seelsorge an. In der Schulseelsorge geht die Kirche zur Schule und wendet sich den dort Tätigen zu. Sie unterstützt und begleitet Schüler_innen und Lehrer_innen in ihrer jeweiligen Lebenssituation. Sie wendet sich ihnen grundsätzlich akzeptierend zu und sucht gemeinsam mit ihnen die notwendigen psychischen, sozialen, materiellen, kulturellen und religiösen Ressourcen zur Bewältigung ihres Lebens. Sie ist daher oft auch soziales Handeln und kann mit anderen Formen psychosozialer Beratung und Begleitung ver7 Karsten Speck, Qualität und Evaluation in der Schulsozialarbeit. Wiesbaden 2006, 23.

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bunden werden. Sie berät, unterstützt und begleitet in Notfällen, Krisen und ausweglos erscheinenden Lebenssituationen. Dabei greift sie die spirituelle Dimension des Lebens auf.8 Eine integrationsfördernde Absicht hinsichtlich der schulischen und beruflichen Ausbildung heranwachsender Menschen und ihre Eingliederung in die Arbeitswelt sind hingegen nicht erklärtes Ziel schulseelsorglichen Engagements. Evangelische Schulseelsorge hält vielfältige Angebote bereit, z. B.: –– Gespräche zwischen Tür und Angel –– Beratungsgespräche mit Einzelnen –– Spirituelle Impulse und Andachten –– Seelsorgliche Gestaltung von Lebensthemen im Religionsunterricht –– Förderung der schulkooperativen Arbeit im Lebensraum Schule durch Vernetzung mit kirchlichen Formaten, wie z. B. »Tage ethischer Orientierung (TEO)« oder »Klassentagungen der Ev. Schüler_innenarbeit«, aber auch mit Angeboten anderer Religionsgemeinschaften und des Gemeinwesens. Schulseelsorge pflegt Beziehungen in der Schule. Sie zielt auf die sorgende, fürsorgliche, fördernde und unterstützende Gestaltung von Beziehungen zwischen einzelnen, in Gruppen, in der Schulgemeinschaft als »Caring com- Schulseelsorge pflegt Beziehungen in der Sie zielt auf die sorgende, fürmunity«.9 Durch beratendes und begleitendes Schule. sorgliche, fördernde und unterstützende Handeln kann Schulseelsorge dazu beitragen, Gestaltung von Beziehungen zwischen dass sich das System Schule zu einer unterstüt- einzelnen, in Gruppen, in der Schulgemeinschaft als »Caring community«. zenden Schulgemeinschaft entwickelt. Die Angebote der Schulseelsorge (vgl. oben Kapitel 3, Dimensionen der Schulseelsorge) richten sich an alle Interessierten unabhängig von ihrer Konfessions- oder Religionszugehörigkeit. Ihre Teilnahme beruht grundsätzlich auf Freiwilligkeit. »Es geht ihr um einen Beitrag zu einer lebendigen und menschenfreundlichen Schulkultur und um das Eröffnen re8 Vgl.: Christoph Schneider-Harpprecht, »Warum machen wir als Kirche Schulseelsorge? – Theologische Begründungen für ein an Bedeutung zunehmendes kirchliches Handlungsfeld. Vortrag gehalten auf der Bundeskonferenz Schulseelsorge. April 2010 in Kronberg. 9 Christoph Schneider-Harpprecht, Evangelische Schulseelsorge im Kontext der öffentlichen Schule – theologische Grundlagen, Ziele und Wege. In: Harmjan Dam / Matthias Spenn, Seelsorge in der Schule  – Begründungen, Bedingungen, Perspektiven. Münster 2011.

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ligiöser Erlebnis- und Erfahrungsräume«10. Sie nimmt die Vielfalt von Schüler_innen wahr und ist sensibel sowohl im Umgang mit Angehörigen anderer Glaubens- und Religionsgemeinschaften als auch mit nicht religiös gebundenen jungen Menschen bzw. Atheist_innen. Sie öffnet sich dem interreligiösen Dialog. Schulseelsorge als Begleitung in Lebens- und Glaubensfragen wird durch kirchliche Mitarbeiter_innen, Pastor_innen oder Religionslehrkräfte angeboten und richtet sich an alle am Schulleben Beteiligten, also auch an Eltern (vor allem in Grundschulen), insbesondere in Krisen­ zeiten und bei festlichen Anlässen. Durch das sich in einigen Teilen überschneidende Aufgaben- und Handlungsfeld sind Schulseelsorge und Schulsozialarbeit in der Praxis nicht trennscharf zu unterscheiden.11 Angebote und Inhalte von Schulsozialarbeit und Schulseelsorge werden durch Schulleitung bzw. Schulkonferenz mitbestimmt. Idealerweise sind ihre Angebote im sozialen Netz der Schule auf einander abgestimmt.

7.2.1

Unterschiede in der Zielgruppe

Unterschiede konzeptioneller Art betreffen neben der spirituellen Dimension zunächst die Zielgruppe: Während sich die Schulseelsorge an die gesamte Schulgemeinschaft richtet, sind Schüler_innen, vor allem diejenigen mit einem besonderen Bedarf an Unterstützung, Zielgruppe der Schulsozialarbeit (vgl. oben, Kapitel 7.1). Erziehungsberechtigte können bei Bedarf mit einbezogen werden, Lehrkräfte hingegen gehören nicht zum Adressant_innenkreis, sondern arbeiten idealerweise im Team mit Sozialarbeiter_innen zusammen.

10 Helmut Demmelhuber, Schulseelsorge und Schulsozialarbeit. In: Michael Wermke u. a., Schulseelsorge – Ein Handbuch, a. a. O., 58. 11 Ebd.

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7.2.2

Unterschiede in der Trägerschaft

Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal betrifft die Trägerschaft. Angebote der Schulsozialarbeit liegen oft in Verantwortung externer Träger, die eigens für die Schulsozialarbeit Stellen einrichten. Träger können Verbünde, Kommunen oder Städte sein, aber auch Schulträger, und zuweilen auch kirchliche Träger.12 Schulseelsorge innerhalb der Nordkirche ist, wenn sie durch Lehrkräfte angeboten wird, ein im Wesentlichen zusätzliches Engagement und somit ein Angebot in der Schule.13 Schulseelsorge kann aber auch als schulkooperatives Angebot zum Aufgabengebiet von Gemeindediakon_innen und -Pastor_innen gehören. Hier sind Kooperationsverträge zwischen der Schule und der Kirchengemeinde Grundlage der Zusammenarbeit. Sie regeln u. a. die Fragen des zeitlichen Umfangs, Inhalte des Projekts, Dienst- und Fachaufsicht. Das Anliegen der Schulseelsorge wird von kirchlicher Seite durch das Angebot der »Weiterbildung Schulseelsorge«, durch vielfältige Fortbildungsangebote und regionale Vernetzung unterstützt.

7.2.3

Unterschiede in der Verbindlichkeit

Ein drittes wesentliches Unterscheidungsmerkmal stellt die Freiwilligkeit der Teilnahme an schulseelsorglichen Veranstaltungen dar. Die Teilnahme an Maßnahmen der Schulsozialarbeit hingegen ist nicht immer freiwillig. Schüler_innen können zur Teilnahme an Gesprächen oder gruppenpädagogischen Angeboten verpflichtet werden.

12 Es handelt sich oftmals um zeitlich befristete Projektstellen, deren Finanzierung nicht gesichert ist. In Schleswig-Holstein z. B. wurden in den letzten Jahren viele Stellen an Grundschulen geschaffen, die durch Sonderprogramme des Bundes finanziert wurden (ca. 260 (Teilzeit-) Stellen, die aber nicht selten aus Kostengründen mit ausgebildeten Erzieher_innen besetzt wurden). 13 Lehrkräfte können stundenweise für schulseelsorgliche Aktivitäten freigestellt werden. Die Nordkirche beteiligt sich z.Zt. mit einem befristeten Programm an der Finanzierung. Darüber hinaus gibt es rund 20 Stellen für Pastor_innen an Berufsschulen für den Religionsunterricht, die sich z. T. aber auch als Schulseelsorger_innen verstehen.

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Individuelle Beratungsfälle unterliegen oftmals der Dokumentationspflicht. Schulsozialarbeit ist in erster Linie Jugendhilfe und mit den Jugend- und Sozialämtern gut vernetzt. Im Rahmen der Jugendhilfe gibt es nur eine begrenzte Verschwiegenheit.14

7.2.4 Gemeinsamkeiten In Bezug auf ihre Inhalte und Angebote weisen Schulseelsorge und Schulsozialarbeit in der Praxis mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede auf. »Insgesamt bleibt festzuhalten, dass Schulseelsorge und Schulsozialarbeit je nach Ausrichtung, Konzept und personeller Umsetzung Schnittmengen in ihrer konkreten Umsetzung und in ihren Anliegen haben können und daher nicht immer klar voneinander zu trennen sind.«15 Ähnliches gilt auch für das Verhältnis von Schulseelsorge und Beratungslehrkräften. In Bezug auf freiwillige Beratungsangebote gibt es eine große Schnittmenge. Allerdings ist die Aufgabe der Beratungslehrkräfte stärker systemimmanent. Sie werden von der Schulleitung oder anderen Lehrkräften in Konfliktsituationen hinzugezogen und haben bei verordneten Beratungsauflagen den Auftrag, Vereinbarungen mit den Konfliktparteien zu treffen und deren Einhaltung zu überprüfen oder auch disziplinarische Maßnahmen anzubahnen. Ebenso obliegt ihnen die Beratung in Fragen der Schullaufbahn oder des Zugangs zu speziellen Fördermaßnahmen.16 In Bezug auf gemeinschaftsstiftende und präventive Angebote ist dringend eine enge Kooperation angeraten.

14 Bei Pastor_innen gilt die unverbrüchliche Schweigepflicht. Inwiefern die unverbrüchliche Schweigepflicht auch für schulseelsorglich tätige Lehrkräfte und Gemeindepädagog_innen gilt, hängt von den jeweiligen Schulseelsorgeordnungen bzw. von den Vereinbarungen mit dem jeweiligen Bundesland ab. Durch das Seelsorgegeheimnisgesetz, das am 28.10.2009 durch die EKD-Synode beschlossen worden ist, können neben Pfarrer_innen auch andere Personen auf das Seelsorgegeheimnis verpflichtet werden, sofern ihnen ein Seelsorgeauftrag erteilt worden ist. 15 Helmut Demmelhuber, a. a. O., 59. 16 Vgl. z. B. die Aufgabenbeschreibung für Beratungslehrkräfte der Freien und Hansestadt Hamburg vom November 2008; http://li.hamburg.de/contentblob/3625940/data/pdf-auf gabenbeschreibung-bl-2008.pdf

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Idealerweise arbeiten an einer Schule Schulsozialarbeiter_innen, Beratungslehrkräfte, Schulpsychlog_innen und Schulseelsorger_ innen gut aufeinander abgestimmt in allen Aufgabenbereichen zusammen und teilen sich auch die Beratungsarbeit je nach Kompetenz und persönlichem Schwerpunkt. Für das System Schule und alle am Schulleben beteiligten Menschen wäre das der größte Gewinn.

Idealerweise arbeiten an einer Schule Schulsozialarbeiter_innen, Beratungslehr­ kräfte, Schulpsychlog_innen und Schulseelsorger_innen gut aufeinander abgestimmt in allen Aufgabenbereichen zusammen und teilen sich auch die Beratungsarbeit je nach Kompetenz und persönlichem Schwerpunkt. Für das System Schule und alle am Schulleben beteiligten Menschen wäre das der größte Gewinn.

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Interreligiöse Schulseelsorge

Die Schulen in Deutschland spiegeln, deutlicher als viele andere Lebenswelten, die multikulturelle und multireligiöse Situation in unserem Land – jedoch keineswegs überall in der gleichen Intensität. Metropolen wie Berlin, Hamburg oder das Ruhrgebiet sind am stärksten hiervon geprägt, während Lehrer_innenkollegien in manchen ländlichen Regionen vielleicht nur einer Handvoll Schüler_innen mit Migrationshintergrund in einer ganzen Jahrgangsstufe begegnen. Vor diesem Hintergrund ist die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland, die aus einem Zusammenschluss dreier Landes­ kirchen aus der ehemaligen »alten« Bundesrepublik und der ehemaligen DDR heraus entstanden ist, ein für ganz Deutschland interessantes Feld, insofern hier Umgang mit Heterogenität zur entscheidenden Aufgabe wird: In einem riesigen Gebiet zwischen Sylt und Usedom, zwischen der dänischen und der polnischen Grenze liegen Metropolen wie Hamburg und ländliche Regionen wie Vorpommern oder Dithmarschen. In vielen Gebieten der ehemaligen DDR ist »Alltagsatheismus« die stabilste bleibende Erinnerung an die untergegangene realsozialistische Weltanschauung. In Hamburg, der ehemals lutherischen Stadt, ist der evangelische Bevölkerungsanteil auf etwa 30 % zurückgegangen; zugleich sind in Hamburg über hundert Religionsgemeinschaften lebendig. Daneben finden sich im Gebiet der ehemaligen Nordelbischen Kirche Regionen, in denen Evangelisch-Sein noch hohe Selbstverständlichkeit hat. Will Schulseelsorge all diesen Menschen im Lebensraum Schule unabhängig von ihrer religiösen oder weltanschaulichen Orientierung gerecht werden, setzt dies einen reflektierten Umgang mit dem eigenen Religionsbegriff sowie mit interreligiöser Seelsorge voraus. Daher werden wir im Folgenden zunächst unser Religionsverständnis skizzieren und auf bisherige Arbeiten zur interreligiösen Seelsorge verweisen. Interreligiöse Schulseelsorge

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Bezogen auf die verschiedenen Handlungsfelder der Schulseelsorge möchten wir auf folgende Aspekte näher eingehen: das Seelsorgegespräch mit Einzelnen; Religionsunterricht als Schulseelsorge; eine religionssensible Schulkultur1. Die Handlungsfelder »spirituelle Angebote« sowie »Umgang mit Tod und Trauer« hingegen werden hier ausgespart. Sie werden in eigenen Kapiteln umfassend behandelt.

8.1

Religionsbegriff und interreligiöse Seelsorge

Wir verstehen Religion mit Christian Danz »als eine vollzugsgebundene, situationsbezogene Deutung der Wirklichkeit. […] Die Vollzugsgebundenheit der Religion erklärt zunächst, dass es eine Teilnehmer- und eine Außenperspektive auf Religion gibt, die nicht deckungsgleich sind.«2 Menschen deuten alltäglich ihre Wirklichkeit und stellen das Erlebte immer wieder neu in einen Sinnzusammenhang. Besonders in Krisensituationen rückt diese Notwendigkeit ins Bewusstsein. Im Angesicht von Tod und Leid entsteht das Bedürfnis, sich und der Seelsorger_in das eigene Leben noch einmal neu zu erzählen, sich des eigenen Sinnganzen neu zu vergewissern. Wird die Art der Weltdeutung, das Deutungsschema selbst zum Thema, so sprechen wir von Religion. Im Kontext interreligiöser Seelsorge treffen Menschen mit unterschiedlichen Deutungssystemen aufeinander. Solche Situationen erfordern eine hohe Differenzsensibilität. Wie ich mit den Differenzen umgehe, ist abhängig von meinem Religionsverständnis bzw. von dem damit verbundenen Wahrheitsanspruch.

1 Vgl. Gudrun Guttenberger / Harald Schroeter-Wittke (Hg.), Religionssensible Schulkultur. Studien zur Religionspädagogik und Praktischen Theologie Band 4, hg. von Michael Wermke. Jena 2011. 2 Christian Danz, Kontingenzerfahrung, Religion und die christliche Sicht anderer Religionen. In: Helmut Weiß u. a. (Hg.), Handbuch interreligiöse Seelsorge. Neukirchen-Vluyn 2010, 17–28, 21.

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8.1.1

Haltung der Seelsorger_in zum Wahrheitsverständnis der Religionen

Religionstheologisch werden häufig drei Modelle unterschieden: Exklu­ sivismus, Inklusivismus und Pluralismus.3 Diese lassen sich auf Haltungen im Seelsorgegespräch zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen oder Weltanschauungen übertragen. –– Die exklusive Grundhaltung erkennt nur den Deutungsrahmen der eigenen Religion als wahr an. –– Die inklusive Perspektive erkennt auch in der Religion des Gegenübers hilfreiche Sinnangebote – solange sie mit der eigenen Religion zu vereinbaren sind. –– Der Pluralismus geht davon aus, dass alle Religionen sinnvolle und wahre Deutungsmuster bereitstellen, die die gleiche Gültigkeit besitzen. Letzteres scheint auf den ersten Blick für das Seelsorgegespräch und die dafür notwendige wechselseitige Wertschätzung am besten geeignet zu sein. Allerdings wird hier verkannt, dass sich die Seelsorger_in nicht auf einer neutralen Metaebene befindet, sondern selber in einer Religion verankert ist. Daher halten wir eine Haltung, die religionstheologisch als wechselseitiger Inklusivismus bezeichnet wird4, für angemessener. Darunter verstehen wir, dass sich der / die Seelsorger_in der eigenen Positionalität bewusst ist und zugleich die Deutungsmuster der Religion oder Weltanschauung des Gegenübers wertschätzt und als sinnvollen Weg für den / die Gesprächspartner_in unterstützt. Nur so kann es zu einem Dialog kommen, in dem sich beide Seiten auf eine gemeinsame Suchbewegung einlassen, sich voneinander bewegen lassen. Diese Haltung setzt bei den Seelsorgenden sowohl eine Kenntnis der unterschiedlichen religiösen Traditionen voraus als »auch eine hohe Sensibilität für die unterschiedlichen Formen der religiösen Thematisierung von lebensweltlichen Kontingenzen«.5 3 So z. B.: Christian Danz, a. a. O., 24; Perry Schmidt-Leukel, Das Problem divergierender Wahrheitsansprüche im Rahmen einer pluralistischen Religionstheologie: Voraussetzungen zu seiner Lösung. In: Hans-Gerd Schwandt (Hg.), Pluralistische Theologie der Religionen. Eine kritische Sichtung. Frankfurt a. M. 1998, 39–58, besonders 41–43. 4 Vgl. Christian Danz, a. a. O., 25. 5 a. a. O., 28. 

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8.1.2

Interreligiöse Seelsorge und interreligiöser Dialog

Im interreligiösen Dialog reden Menschen nicht über Religion, nicht als von der Religion Distanzierte, sondern: »Da geschieht eine Öffnung auf den Anderen hin und die Bereitschaft, mit ihm in einen Austausch zu treten. In diesem Geben und Nehmen von innersten Überzeugungen und Werten – man kann auch von ›Glaubensschätzen‹ sprechen  – entdeckt man aber auch, dass die Überzeugungen des Anderen einen Wert für mich haben könnten oder gar haben.«6 Aus dem interreligiösen Dialog haben wir gelernt, uns zu positionieren, kenntlich zu sein und zugleich uns hinterfragen zu lassen, religiöse Wahrheitsansprüche nicht als endgültig zu betrachten. Wir haben eine Hermeneutik des wechselseitigen Fragens und Zuhörens entwickelt.7

8.1.3

Interreligiöse Seelsorge und interkulturelle Seelsorge

Aus der interkulturellen Seelsorge haben wir gelernt, unser Gegenüber in seinem kulturellen Kontext wahrzunehmen  – mit den jeweiligen ökonomischen, sozialen, gesellschaftspolitischen und religiösen Bezugssystemen – und jeweils genau nach Bedeutungen von Worten und Taten zu fragen. Als Bedingung für ein gelingendes Gespräch ist hervorgehoben worden, dass das Gegenüber die Möglichkeit haben muss, »sich selbst auszulegen und selbst das Verhalten zu deuten«8, dass wir eigene Wertsysteme nicht aufdrängen und gemeinsam nach tragfähigen Lösungen suchen, die für die Gesprächspartner_in in ihrem Kontext passend sind.

8.2

Das Seelsorgegespräch mit Einzelnen

Interreligiöse Schulseelsorge »geht aus von dem gemeinsamen Interesse an einem gelingenden Zusammenleben in der Schulgemeinschaft und will, dass jeder und jede Einzelne Hilfe zur Gestaltung seines Lebens im 6 Helmut Weiß, Seelsorge – Supervision – Pastoralpsychologie. Neukirchen-Vluyn 2011, 47. 7 a. a. O., 48. 8 a. a. O., 43.

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Rahmen des Wirklichkeitsverständnisses seiner Kultur und Religion bekommt«.9 Dies gilt auch, wenn im System Schule das Seelsorgegespräch zumeist nicht durch explizit religiöse Fragestellungen bestimmt ist. Ich selber (BK) habe neun Jahre als Berufsschulpfarrerin gearbeitet und als solche zahlreiche Gespräche mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen geführt. In den meisten Fällen, in denen sich Schüler_innen an mich gewandt haben, ging es um Konflikte in der Schule, individuelle Gewalterfahrungen oder abhängiges Verhalten oder auch letzteres beides zusammen, da nicht selten ein inhaltlicher Zusammenhang besteht. Ähnliches hören wir auch von anderen Schulseelsorger_innen. Die Teilnehmer_innen unserer Schulseelsorge-Weiterbildungskurse berichten zudem davon, dass sie häufig von der Schulleitung hinzugezogen werden, wenn es um die Gestaltung von Trauerprozessen in der Schule geht – aber dazu an anderer Stelle mehr. Es zeigt sich immer wieder, dass Schüler_ Es zeigt sich immer wieder, dass Schüler_ sich mit ihren Nöten an die Lehrinnen sich mit ihren Nöten an die Lehrkräfte innen kräfte wenden, denen sie vertrauen – unwenden, denen sie vertrauen  – unabhängig abhängig von ihrem religiösen Hintervon ihrem religiösen Hintergrund. Vergleich- grund. bares schildert die Rabbinerin Melinda Michelson-Carr auch aus dem Krankenhauskontext.10 Wenn Menschen die Wahl haben zwischen einer Seelsorger_in der eigenen Religion, mit der sie persönlich und theologisch nicht zusammen kommen, und einer Seelsorger_in aus einer anderen Religion, mit der die Beziehung gelingt, dann wählen viele letztere.11 Die Annahme, dass Personen aus der eigenen Religionsgemeinschaft einem immer am besten dienen könnten, lässt sich nicht halten.12 Manche Menschen wählen sogar bewusst Gesprächspartner_innen, die nicht der eigenen Religion angehören, weil sie sich dort mit ihren Fra9 Christoph Schneider-Harpprecht, Evangelische Seelsorge im Kontext der öffentlichen Schule – theologische Grundlagen, Ziele und Wege. In: Harmjan Dam / Matthias Spenn (Hg.), Seelsorge in der Schule – Begründungen, Bedingungen, Perspektiven. Schnittstelle Schule. Impulse evangelischer Bildungspraxis Band 5. Eine Veröffentlichung des Comenius-Instituts. Münster 2011, 17–31, 29. 10 Vgl. Melinda Michelson-Carr, Begleitung auf spirituellen Reisen. Interreligiöse Seelsorge in britischen Krankenhäusern aus jüdischer Sicht. In: Helmut Weiß u. a. (Hg.), Handbuch interreligiöse Seelsorge. Neukirchen-Vluyn 2010, 366–379. 11 Vgl. a. a. O., 375. 12 Vgl. a. a. O., 374.

Interreligiöse Schulseelsorge

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gen und Zweifeln mitunter besser aufgehoben fühlen oder sie gezielt eine Außenperspektive wünschen. Hinzu kommt, dass Muslim nicht gleich Muslim, Jüdin nicht gleich Jüdin und Christ nicht gleich Christin ist – abgesehen von den vielen weltanschaulichen Facetten und von der Tatsache, dass sich viele Jugendliche ihre Religiosität ohnehin patchworkartig zusammenbasteln. Wir sind mit Melinda Michelson-Carr der »Überzeugung, dass die Lebenswege aller Menschen einzigartig sind: Einzigartig die Erfahrungen, die sie prägen, und wie sie damit umgehen; einzigartig ihre Bedürfnisse; einzigartig die Dinge und Menschen, die ihnen teuer sind und ihnen etwas bedeuten13«. Wertschätzung von Vielfalt halten wir für eine grundlegende Voraussetzung von Schulseelsorge. Auch wenn sich Schüler_innen überwiegend nicht mit explizit religiösen Fragestellungen an uns wenden, muss im Gespräch zwischen Menschen zweier Religionen, Weltanschauungen oder Kulturen dennoch kenntlich bleiben, wer wir sind. Uns sollte bewusst sein, dass unsere Werte- und Deutungssysteme vermutlich unterschiedlich sind. Es gilt, unserem Gegenüber und seiner Weltsicht »kulturell sensibel zu begegnen, das heißt Fremdheit und Differenz wahrzunehmen und auszuhalten, sich trotzdem verstehend an die kulturellen Muster des oder der anderen anzunähern, sich zu bemühen, im Rahmen des Bedeutungssystems, das für den oder die andere plausibel ist, zu intervenieren«.14 Hamideh Mohagheghi weist in ihrem Beitrag zur interreligiösen Seelsorge aus muslimischer Sicht15 darauf hin, dass viele Muslime nicht gewohnt seien, über ihre Probleme zu reden, erst recht nicht vor Menschen aus anderen Kulturkreisen. Die in Deutschland »vertraute Kultur des ›über alles Redens, Analysierens und nach Lösungen Suchens‹ ist für viele unbekannt und kann als Eingriff in intime Lebensbereiche verstanden werden«.16 Achtsamkeit gegenüber anderen Menschen gehört zu den Glaubensprinzipien im Islam und ist im alltäglichen Leben prägend.17 13 a. a. O., 367. 14 Christoph Schneider-Harpprecht, Was ist interkulturelle Seelsorge? Eine praktisch-theologische Grundlegung. In: Helmut Weiß u. a. (Hg.), Handbuch interkulturelle Seelsorge. Neukirchen-Vluyn 2002, 38–62, 51. 15 Hamideh Mohagheghi, Überlegungen zur interreligiösen Seelsorge aus muslimischer Sicht. In: Helmut Weiß u. a. (Hg.), Handbuch interreligiöse Seelsorge. Neukirchen-Vluyn 2010, 129–135. 16 a. a. O., 134. 17 a. a. O., 132.

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Daher gelte in traditionell muslimischen Kulturkreisen die Großfamilie als Garant für Unterstützung in Notlagen. Diese Form der nicht-professionellen Hilfe geschieht im alltäglichen Zusammenleben – ohne große Worte. Unsere interreligiösen Gesprächspartner_innen in Hamburg merken zudem an, dass sich praktizierende Muslime in ihren Notlagen auch oft an die Moschee bzw. den Imam wenden, der dann wiederum innerhalb der Moscheegemeinde nach geeigneten Hilfestellungen sucht und entsprechende Kontakte vermittelt – auch eher im Sinne nachbarschaftlicher als professioneller Hilfe. Meine (BK) Erfahrungen aus der schulischen Seelsorgepraxis bestätigen das einerseits und gehen andererseits zugleich darüber hinaus. Vielleicht ist es eine Frage der Generation? Viele junge Muslime sind durchaus bereit, sehr offen und ausführlich über ihre Nöte zu sprechen – sowohl untereinander als auch gegenüber Lehrkräften und Schulseelsorger_innen, solange sie das Gefühl haben, mit ihrem kulturellen und religiösen Hintergrund wertgeschätzt zu werden. Ebenso wie Hamideh Mohagheghi halten wir es für erstrebenswert, interreligiöse Ausbildungsprogramme zu entwerfen, damit langfristig multireligiöse Teams in der Schulseelsorge tätig werden können.

8.3

Religionsunterricht als Schulseelsorge

8.3.1

BRU als »Prototyp«

Der BRU (Religionsunterricht an Berufsbildenden Schulen) hat sich schon immer als Lebensbegleitung verstanden18 und entspricht damit weitgehend Christoph Schneider-Harpprechts Aufgabenbestimmung interkultureller Seelsorge. Auch haben sich Berufsschulpfarrer_innen von jeher auch als Schulseelsorger_innen verstanden. Dadurch, dass vor allem im Berufsschulbereich in fast allen Bundesländern Religion faktisch im Klassenverband erteilt wird, war hier die Schulseelsorge seit jeher 18 Dieter Stoodt, Die gesellschaftliche Funktion des Religionsunterrichtes. In: Der evange­ lische Erzieher 21, 1969.

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interreligiös ausgerichtet. Aus dem thematischen Kanon des BRU, der in vielen Bundesländern und Bildungsgängen auch die Fragen nach Tod und Sterben, Sinn und Glück, Gewalt und Frieden, Liebe und Partnerschaft, abhängigem Verhalten bzw. Sucht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit usw. beinhaltet, ergeben sich nicht selten entweder im Unterricht selbst oder in direkten Anschlussgesprächen seelsorgliche Situationen. Dies geschieht, wenn Jugendliche im Unterricht von ihren Erfahrungen mit Tod und Sterben erzählen, wenn Gewalterlebnisse zur Sprache kommen, wenn sich die Schüler_innen in ihren Beziehungsnöten öffnen, wenn sie Unterstützung suchen beim Ausweg aus abhängigem Verhalten ihrer selbst oder von Freund_innen oder Angehörigen. Ob diese Situationen als seelsorglich erkannt und benannt werden, hängt auch vom Standpunkt der Lehrkraft bzw. der Schulpfarrer_in ab,19 das heißt, ob sie sich selbst als seelsorglich agierend betrachtet. Das Gleiche gilt auch im Rahmen der Bearbeitung biblischer Geschichten mit ihrer großen symbolischen Kraft. »Wenn im Unterrichtsgeschehen intensive Prozesse der Beschäftigung mit lebensbedeutenden Symbolen stattfinden, dann besteht die begründete Erwartung, dass damit niedrigschwellig eine Bearbeitung der Krisen des Heranwachsens erfolgen kann.«20 Die von Büttner in seinem Artikel zur seelsorglichen Dimension des Religionsunterrichts angeführte »Kontaktstunde«, in der die Gemeindepastor_innen ab und zu den Religionsunterricht übernehmen, gibt es so in der Nordkirche nicht.

8.3.2 Religionsunterricht an anderem Ort Anders verhält es sich mit dem Religionsunterricht an anderem Ort, der in schulkooperativen Projekten im Kontakt mit der benachbarten Kirchengemeinde durchgeführt werden kann.21 Wenn z. B. die Jugendmit19 Vgl. Gerhard Büttner, Die seelsorgliche Dimension des Religionsunterrichts. In: Wilfried Engemann (Hg.), Handbuch der Seelsorge. Grundlagen und Profile. Leipzig 2007, ­508–521. 20 a. a. O., 519. 21 Vgl. exemplarisch das Praxisbeispiel von Marion Voigtländer im letzten Kapitel dieses Buches.

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arbeiter_in einer Gemeinde mit der Religionslehrer_in der benachbarten Schule ein Unterrichtsprojekt plant und dieses in den Jugendräumen der Kirchengemeinde stattfindet, kommt es häufig zu seelsorglichen Situationen. Die neue Umgebung, die ansprechende Gestaltung der Jugendräume, die vertrauensvolle Atmosphäre und die kreative Arbeit an persönlichen Themen tragen ihrerseits dazu bei, dass sich die Jugendlichen öffnen. Für solcherlei Projekte empfehlen wir, in Bezug auf die interreligiöse Zusammensetzung der Klassen, die Eltern vorab möglichst genau zu informieren. In Gegenden / Stadtteilen mit einer muslimischen Jugendarbeit wäre es auch denkbar, ein gemeinsames Unterrichtsprojekt zu entwerfen und einen Tag in die kirchlichen, einen anderen Tag in die Räume der Moscheegemeinde zu gehen. Bei Kooperationen von Kirche, Moschee und Schule ist unbedingt darauf zu achten, nicht mit fertigen Konzepten auf die Schule zuzugehen, sondern an die Schule heranzutreten, um zu ergründen, was die Schüler_ innen brauchen und im Gegenzug anzubieten, was Kirche oder Moschee anbieten können. Hans-Günter Heimbrock wies schon 1996 darauf hin, wie wichtig allein das Zur-Verfügung-Stellen von Zeit und Räumen ist.22 Er empfiehlt den Schulseelsorgenden, in den Lebensalltag von Schule einzutauchen und wahrzunehmen, »was sich im Alltäglichen an existentiellen Bedürfnissen und an Suchbewegungen erkennen lässt, was sich an religiösen Themen und Fragen artikuliert«.23

8.3.3 Mehrtägige Projekte mit Schulklassen Ein weiterer Aspekt, der hier anzufügen ist, obwohl es sich nicht notwendigerweise um Religionslehrkräfte handeln muss, die dieses initiieren, sind die Seelsorgegelegenheiten während der »Tage ethischer Orientierung«24 oder während einer Klassentagung mit der Evangelischen

22 Vgl. Hans-Günter Heimbrock, Evangelische Schulseelsorge auf dem Weg zu »gelebter Religion«. In: Wilhelm Gräb (Hg.), Religionsunterricht jenseits der Kirche? Wie lehren wir die christliche Religion? Neukirchen-Vluyn 1996, 45–68, 56 f. 23 A. a. O., 60. 24 Vgl. http://www.teoinmv.de.

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Schüler_innenarbeit der Nordkirche – zwei gruppenpädagogische Angebote der Nordkirche, die sich an Schulklassen richten. Es werden Lebensthemen bearbeitet, die im Schulalltag häufig zu kurz kommen. Schüler_innen erhalten während dieser mehrtägigen Veranstaltungen außerhalb der Schule Raum, sich selbst, die Mitschüler_ innen und Lehrer_innen besser kennen zu lernen und so die Klassengemeinschaft zu stärken und gleichzeitig Fragen nach dem Sinn und den Perspektiven des Lebens zum Thema zu machen. Ziel dieser schulkooperativen Angebote ist es, junge Menschen darin zu bestärken, für sich und die Gemeinschaft Verantwortung zu übernehmen. Sie werden von Teams aus extra dafür ausgebildeten ehrenamtlichen Mitarbeiter_innen (Klassentagungen) bzw. von Teams aus Religionslehrkräften und ehrenamtlichen Mitarbeiter_innen (TEO) geleitet. Die Methoden und Inhalte sind auf die jeweiligen Altersgruppen abgestimmt. Konkrete Inhalte können z. B. sein: »Klassengemeinschaft fördern« (bei Klassentagungen), »Gut streiten lernen«, »Liebe, Freundschaft, Sexualität«, »Fit fürs Leben« (TEO classic) oder »protect privacy«­ (Medienpädagogik). Während dieser Veranstaltungen bieten sich immer auch Seelsorgegelegenheiten, wenn sich Teilnehmer_innen mit ihren Anliegen an die Leitungspersonen wenden. Wenn es um persönliche Themen (z. B. innerfamiliäre Konflikte, Liebeskummer) oder existenzielle Fragen geht, können sie in Einzelgesprächen am Rande des Gruppengeschehens vertraulich bearbeitet werden. Dadurch, dass der Altersunterschied zwischen den Teilnehmer_innen und den zumeist studentischen Teamer_innen (bei Klassentagungen) nicht groß ist, können rasch Distanz abgebaut und Vertrauen gefasst werden. Die Zugehörigkeit zu Religionsgemeinschaften bzw. die Nicht-Zugehörigkeit rücken dabei eher in den Hintergrund. Eine wertschätzende und achtungsvolle Haltung den Jugendlichen gegenüber ist von größerer Bedeutung.

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8.4

Religionssensible Schulkultur

Wir verstehen Schulseelsorge als einen Beitrag zur Qualitätsentwicklung von Schule. Evangelische Schulseelsorger_innen eröffnen im Lebensraum Schule Möglichkeiten, Beziehungen zu sich selbst und zu anderen Menschen auf gute Weise gedeihen zu lassen. Sie tragen bei zur Verständigung und Wertschätzung untereinander und besonders auch im Hinblick auf alle Bereiche des schulischen Lebens, die in religiöser Hinsicht von Bedeutung sind. Je mehr Schule zur Ganztagsschule wird, umso deutlicher tritt hervor, dass alle Menschen auch ihre außerschulischen Lebenswirklichkeiten in das Schulgeschehen eintragen.25 Dazu gehört auch ihre religiöse, weltanschauliche und kulturelle Gebundenheit.

8.4.1

Religiöse Feste und Bräuche

Zu einer Schulkultur, die sich religionssensibel versteht, gehört an erster Stelle die Berücksichtigung wichtiger religiöser Feiertage und Gebräuche – wenn nicht sogar Angebote zur Gestaltung und Reflexion religiöser Feiertage und Gebräuche. An vielen Schulen, die sich durchaus der staatlichen Neutralitätspflicht sehr bewusst sind, gehören Adventskranz und Weihnachtsfeier selbstverständlich zum Repertoire. Wo schon Schulseelsorger_innen im Einsatz sind, beteiligen diese sich häufig an der Durchführung. Unseres Erachtens wäre es zudem die Aufgabe einer inter­ religiös reflektierten und engagierten evangelischen Schulseelsorger_in, dafür Sorge zu tragen, dass auch wichtige Feiertage und Gebräuche weiterer Religionen im Schulalltag Gestalt finden. Hierbei geht es nicht darum, als Christ_in religiöse Riten anderen Bekenntnisses durchzuführen (das sollte auf jeden Fall unterbleiben!), sondern vielmehr den Schüler_innen Gelegenheit zu geben, sich auch mit ihrer religiösen Gebundenheit an der Schule beheimatet zu fühlen und 25 Vgl. Hans-Ulrich Keßler, Katrin Meuche u. a., Schulseelsorge in der Nordkirche. Ein Weiterbildungsangebot der Arbeitsstelle für schulkooperative Arbeit in Verantwortung der Evangelischen Schüler_innenarbeit und des Pädagogisch-Theologischen Instituts der Nordkirche, aktualisierte Fassung Hamburg 2012 URL: http://pti.nordkirche.de/fix/files/ doc/Brosch%FCre_Schulseelsorge.4.pdf.

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somit auch den Eltern gegenüber zum Ausdruck zu bringen, dass ihre jeweilige Religion die gleiche Anerkennung und Beachtung erfährt wie das Christentum. Hamideh Mohagheghi weist in ihrem Beitrag zur religionssensiblen Schulkultur26 darauf hin, wie wichtig dies besonders für muslimische Familien ist. »In einer Minderheitsposition legt man mehr Wert auf mitgebrachte Religion und Kultur und hat Angst, die eigene Kultur und Religion aufgeben zu müssen.«27 In einer Situation, in der sich eine wachsende Anzahl von Muslimen ins Abseits gedrängt und nicht anerkannt fühlt,28 bedürfe es einer Anerkennungspolitik und eines gesamtgesellschaftlichen Engagements. Dazu gehört u. a., den Muslimen bzw. den Religionen überhaupt einen würdigen Platz in der Schule einzuräumen, denn der Lernort für das Zusammenleben von Menschen ist die Schule. Wenn der Islam nicht nur im Zusammenhang mit problematischen Fragestellungen thematisiert wird, werden sich muslimische Eltern stärker eingeladen fühlen, – auch trotz z. T. bestehender Sprachbarrieren – sich mehr in der Schule zu engagieren. »Die Teilhabe im alltäglichen Leben in einer Gesellschaft hängt größtenteils ab von dem Gefühl der Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, in der man lebt.«29 Insofern ließe sich die Einführung einer religionssensiblen Schulkultur durchaus als vertrauensbildende Maßnahme bezeichnen.

8.4.2 Aktiv positive Religionsfreiheit umsetzen In diesem Sinne (und nicht nur in diesem) halten wir es für angemessen, wenn sich evangelische Schulseelsorge für eine positive Religionsfreiheit einsetzt und z. B. im Kollegium / gegenüber der Schulleitung dafür eintritt, dass hohe Feiertage aller Religionen geachtet werden30 und dass das Fas26 Hamideh Mohagheghi, Religionssensible Schulkultur aus der Sicht muslimischer Familien. In: Gudrun Guttenberger / Harald Schroeter-Wittke (Hg.), Religionssensible Schulkultur. A. a. O., 307–314. 27 a. a. O., 308. 28 a. a. O., 311. 29 A. a. O., 308. 30 Vgl. Moussa Al-Hassan Diaw / Bülent Uçar, Religiöse Vielfalt als Chance für einen toleranten Umgang mit religiöser Praxis an staatlichen Schulen. In: Gudrun Guttenberger / Harald Schroeter-Wittke (Hg.), Religionssensible Schulkultur. A. a. O., 315–322.

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ten der Schüler_innen, die sich dafür entschieden haben, akzeptiert und wertgeschätzt wird. Schließlich ist die erste Teilnahme am Ramadanfasten mit Beginn der Pubertät ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur religiösen Mündigkeit.31 Zugleich verweist Hamideh Mohagheghi allerdings auch auf ein Beispiel interreligiöser Sensibilität, indem sie den Brief eines Lehrers zitiert, der sehr wertschätzend und um das Wohl seiner jungen Schüler_innen besorgt an die muslimischen Eltern appelliert, ihre Kinder vor der Pubertät während der Schulzeit vom Fasten auszunehmen.32

8.4.3 Beispiele für interreligiöse Achtsamkeit Evangelische Schulseelsorge könnte sich im Sinne einer interreligiös sensiblen Schulkultur auch dafür einsetzen, alle zwei bis drei Jahre ein Fastenprojekt zu initiieren, mal zur christlichen Fastenzeit, mal im Ramadan oder im Zeitfenster des Fastens einer weiteren Religion. Hier ließe sich das Erkunden der Fastengebräuche der verschiedenen Religionen verbinden mit einem sozialen Engagement, wie es im Ursprung des Fastens mit intendiert ist. Es gilt unter Berücksichtigung der negativen Religionsfreiheit darauf zu achten, dass sich auch Schüler_innen ohne religiöse Bindung angemessen beteiligen können. Hilfreiche Ideen dazu lassen sich häufig in den Themen der jeweiligen Fastenaktion finden oder z. B. in dem christlichen Fastenkalender des Vereins »Andere Zeiten«. Die Achtung hoher religiöser Feiertage als Ausdruck einer religionssensiblen Schulkultur könnte z. B. so aussehen, dass Angehörige aller Religionen an einem hohen Feiertag ihrer jeweiligen Religion vom Unterricht befreit werden können und dass darüber sowohl im Kollegium als auch Eltern und Schüler_innen gegenüber angemessen informiert wird. Hilfreich wäre hier eine Broschüre auf Landesebene, die über die jeweiligen Feiertage und die z. T. jährlich wechselnden Termine Auskunft gibt33. 31 Vgl. Tuba Isik-Yigit / Muna Tatari, Kindheitskonzepte in islamischer Perspektive  – Ein Streifzug. In: Gudrun Guttenberger / Harald Schroeter-Wittke (Hg.), Religionssensible Schulkultur. A. a. O., 243–259, 249. 32 Vgl. Hamideh Mohagheghi, a. a. O., 313. 33 Vgl.: http://www.hamburg.de/feiertage-islam oder http://www.hamburg.de/feiertage-judentum etc. Diese Seiten geben einen hervorragenden Überblick über die Feiertage verschiedener Religionen und ihre Bedeutung, verfasst von Expert_innen der jeweiligen

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Schön wäre es zudem, wenn es schulintern kleine Glückwunsch­ karten (vergleichbar den christlichen Weihnachtsgrußkarten) gäbe, die den Schüler_innen an diesen Tagen überreicht werden, oder wenn zumindest die Klassenlehrer_in entsprechende Glückwünsche aussprechen würde; so z. B. zum Fest des Fastenbrechens: »Ich wünsche euch ein friedliches und gesegnetes Ramadan-Fest.« Die Schulseelsorge könnte sich dafür verantwortlich zeigen, eben solche Glückwunschkarten zu gestalten. Zu diesem Fest ließe sich auch ein Brief an Eltern und Schüler_innen verfassen. Beispiel Liebe muslimische Schülerinnen und Schüler, liebe Eltern, der Fastenmonat Ramadan ist nun zu Ende. Wir möchten euch und Ihnen zum Fest herzliche Grüße und Glückwünsche übersenden. Möge es ein fröhliches Fest sein, an dem Sie voller Freude und Dankbarkeit genießen können, dass die meisten von uns nicht in der Angst um das tägliche Brot leben müssen. Wir leben in einem Wohlstand, in dem wir wählen können, was und wie viel wir essen. Die Zeit des Fastens lässt uns mitfühlen und teilen mit denen, die nicht wählen können. Möge es ein gesegnetes und friedliches Fest sein! Mit den besten Grüßen und Wünschen …34

Außerdem sollte die schulische Jahresplanung auf diese Tage insofern Rücksicht nehmen, dass hier weder schulische Großveranstaltungen stattfinden noch Klassenarbeiten geschrieben werden.35 Im Sinne einer religionssensiblen Schulkultur wäre es zudem, religiöse Feiern zu Beginn und Ende eines Schuljahres anzubieten, ebenso wie eine Kultur des bewussten Umgangs mit Krankheit, Tod und Trauer zu etablieren; aber dazu jeweils in den Kapiteln »Spiritualität« und »Umgang mit Tod und Trauer« mehr.

Religion, und Schüler_innenkommentare zu den einzelnen Feiertagen, wie sie in ihren Familien gefeiert werden bzw. was sie ihnen bedeuten. 34 Diese Anregung verdanke ich meiner Freundin und Kollegin Birgit Krenz-Kaynak, die einen vergleichbaren Brief als Krankenhausseelsorgerin verfasst hat. 35 So z. B. die Johannisschule in Osnabrück; vgl. Winfried Verburg, Juden, Christen und Muslime machen gemeinsam Schule  – Rahmenkonzept für eine trialogische Grundschule. In: Gudrun Guttenberger / Harald Schroeter-Wittke (Hg.), a. a. O., 323–333, 330.

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Umgang mit Tod und Trauer

Von den vielen möglichen Themen der Schulseelsorge werden wir nur dieses ausführlich aufgreifen und bearbeiten. Denn der Umgang mit Tod und Trauer ist mehr als alles andere ein spezifisches Thema der Schulseelsorge. Zu allen weiteren Beratungsthemen des Jugendalters, wie z. B. Mobbing, abhängiges Verhalten, sexualisierte Gewalt usw. und zum Umgang damit in der Schule gibt es an anderer Stelle hinreichend und qualifizierte Literatur. Im Februar dieses Jahres bin ich (BK) an ein Gymnasium in SchleswigHolstein eingeladen worden, um einen Workshop zum Thema »Trauerprozesse in der Schule begleiten« anzubieten. Die Schule hatte sich entschlossen, einen Schulentwicklungstag dem Thema »Wenn Tod und Trauer in die Schule kommen« zu widmen, weil es in jüngster Zeit mehrere Todesfälle zu beklagen gab. Es entstand das Bedürfnis, sich einmal in Ruhe und ausführlich damit zu befassen und gemeinsam zu beraten, wie in einer solchen Situation angemessen zu verfahren sei. Dies bezog sich auf verschiedene Ebenen: den Umgang mit der Klasse, aus deren Mitte eine Schüler_in verstorben ist, den Umgang mit Geschwisterkindern, den Kontakt mit den Eltern, welche Aufgaben der Schulleitung zu kommen, wie das Kollegium informiert wird und wie eine Erinnerungskultur gepflegt werden kann, die signalisiert: Bei uns gerät keine_r in Vergessenheit. Wir halten dies für einen großartigen Weg, sich als Schulgemeinschaft dieser Aufgabe anzunehmen, sich auf die Suche nach einer angemessenen Trauerkultur zu machen und dadurch einen wichtigen Schritt zur Qualitätsentwicklung von Schule zu gehen.

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9.1

Gestaltung des Trauerprozesses

Für die Aufgabe der Gestaltung des Trauerprozesses ist zunächst wichtig zu klären, welche Umstände zum Tod geführt haben. Es macht einen großen Unterschied, ob Unfall, Verbrechen, Krankheit oder Suizid die Todesursache sind. Schulleitung und Lehrkräfte müssen unterschiedlich auf das Informationsbedürfnis des Kollegiums, der Klassen und u. U. der Öffentlichkeit reagieren.

9.1.1

Sicherheit geben

In jedem Fall führt der frühzeitige Tod eines jungen Menschen zu großer Verunsicherung bei den Schüler_innen. Mehr noch als durch den Tod älterer Menschen werden ihr Weltbild und ihre Lebensgewissheit durch das Verlassen der Generationenabfolge erschüttert. Daher ist es vor allem wichtig, Sicherheit zu vermitteln und die Grundbedürfnisse zu befrie­ digen. Das bedeutet in der Schule: –– Ich informiere kurz und genau über das, was geschehen ist. Abgesehen davon, dass klare Information zum Sicherheitsgefühl beiträgt, ver­ hindert ein gleicher Wissensstand in der Klasse auch die Entstehung von Gerüchten. –– Ich sorge für einen ruhigen Raum. –– Ich sage den Schüler_innen: Ich bin jetzt für euch da und habe jetzt Zeit für euch. Ich bin bei euch. Ihr seid nicht allein. –– Falls der Bedarf besteht, sorge ich für etwas zu essen und zu trinken (z. B. Gläser aus dem Lehrerzimmer für Wasser aus dem Hahn oder Snacks o. ä. aus der Schulkantine). –– Ich gebe Gelegenheit, über Trauer, Angst, Wut und weitere Gefühle zu reden oder auch zu schweigen. Manchmal kann es hilfreich sein und die Sprachfähigkeit der Kinder und Jugendlichen stärken, wenn ich zunächst selber der Trauer Ausdruck verleihe. –– Ich ermögliche Selbstwirksamkeit; d. h. ich lasse die Kinder und Jugend­ lichen so viel wie möglich selber entscheiden und aktiv werden. –– Ich beziehe die Ressourcen des Klassenverbandes mit ein, so dass sich 108 

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die Schüler_innen gegenseitig unterstützen können und unterein­ander verbunden wissen. –– Ich eröffne Hoffnung und verweise auf das, was trotz allem gut ist. Für die Schule als Gesamtsystem ist es notwendig, schon präventiv Krisenteams1 zu bilden, Verantwortlichkeiten zu regeln und Verfahrensabläufe festzulegen. Uns sind Schulen bekannt, die in Krisensituationen auf jeden Fall die Schulseelsorger_in freistellen, ihren Unterricht vertreten und sie als zweite Lehrkraft in die Klasse gehen lassen. Andere Schulen ziehen in ähnlicher Weise die Klassenlehrer_in hinzu.

9.1.2

Einbindung der Schule als System

In jedem Fall ist es sinnvoll, dass die Schulleitung einen Brief verfasst,2 in dem die Schulgemeinschaft informiert wird, was geschehen ist, und der zugleich zum Ausdruck bringt, dass die Schule um diesen Menschen trauert. Dadurch wird nicht nur der verstorbenen Person und ihren Angehörigen Wertschätzung zuteil, sondern auch alle anderen Beteiligten der Schulgemeinschaft können wahrnehmen, dass niemand einfach unbemerkt verschwindet. Jede_r Einzelne ist wichtig und hinterlässt eine Lücke! Außerdem sollte genau überlegt werden, wer im Einzelfall in die Trauerbegleitung und Ritualgestaltung mit einbezogen werden muss: Nur die Klasse, aus deren Mitte ein_e Schüler_in oder ein_e Lehrer_in gestorben ist, oder evtl. auch Klassen von Geschwisterkindern, Klassenlehrer_in, 1 Zu solchen Krisenteams sollten auf jeden Fall ein Mitglied der Schulleitung, eine Beratungslehrkraft, die Schulseelsorger_in und soweit vorhanden auch Schulsozialarbeiter_in und Schulpsycholog_in gehören. Auch Hausmeister_in und Sekretariat sind einzubinden, weil bei dem einen die genauesten Kenntnisse über den aktuellen Gebäudezustand (z. B. auch Kenntnis möglicher Fluchtwege) vorhanden sind und bei der anderen in der Regel alle Kommunikationswünsche von außerhalb der Schule eintreffen. Die Presseverantwortlichkeit ist ebenfalls im Vorwege festzulegen. 2 Hierfür gibt es Formulierungsvorschläge in verschiedenen Krisenordnern; so z. B. in: Krisenordner. Handlungsleitfaden für Hamburger Schulen. Hg. vom Landesinstitut für Lehrer­bildung und Schulentwicklung. Hamburg 2. Aufl. 2010, 62 f. »Wenn der Notfall eintritt«. Handbuch für den Umgang mit Tod und anderen Krisen in der Schule. Hg. von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und dem Katholischen Schulkommissariat in Bayern. 4. Aufl. 2008, Kap. 5, 25–27.

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das gesamte Kollegium, Beratungslehrer_in, Schulleitung, Krisenteam, Schulseelsorger_in? Unter Umständen kann es auch sinnvoll sein, externe Unterstützung hinzuzuziehen: Seelsorger_innen der verschiedenen Religionen, Beratungsstellen, psychologische Dienste oder für die Beratung bei der Gestaltung des Trauerprozesses das Pädagogisch-Theologische Institut oder die Evangelische Schüler_innenarbeit. Falls der Tod in oder vor der Schule eintritt, kann in den ersten 24 Stunden über die Feuerwehr auch die Notfallseelsorge gerufen werden.

9.2

Voraussetzungen der Trauerbegleitung

Um sich auf die Trauerbegleitung von Kindern und Jugendlichen einlassen und diese segensreich gestalten zu können, ist es notwendig, sich zuvor mit dem eigenen Erleben von Tod, Abschied und Trauer auseinandergesetzt zu haben. Daher nehmen wir uns in der Weiterbildung Schulseelsorge im Rahmen des Moduls zur Krisenintervention Zeit, um mit folgenden systemischen Fragen zur Selbstklärung zu arbeiten:3 Systemische Krisenbewältigung – Fragen zur Selbstklärung 1. Einzelarbeit –– Welche Erfahrungen mit Abschieden von Bezugspersonen, mit Beziehungsverlusten durch Tod habe ich in meinem Leben gesammelt (in der Kindheit, im Jugendalter, als Erwachsene) und wie bin ich damit umgegangen? –– Wie hat sich der Verlust / wie haben sich die Verluste auf mein Leben ausgewirkt? –– Wer oder was hat mir geholfen, den Verlust zu bewältigen (z. B. Menschen, Rituale, Überzeugungen, Glaube etc.)? –– (Evtl. »Trostbild« malen) 2. Austausch in Dreier-Gruppen

3 Anregungen zu diesem Arbeitsblatt haben wir u. a. entnommen aus: Petra RechenbergWinter / Esther Fischinger, Kursbuch systemische Trauerbegleitung. Göttingen 2.  Aufl. 2010 (beiliegende CD,41 und 47).

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3. Wechsel der Kleingruppen Gespräch zu Fragen des Umgangs mit Tod und Trauer in geschlechtshomogenen Gruppen –– Wie war das Trauerverhalten in meiner Herkunftsfamilie? Was wurde zugelassen, was verdrängt? –– Wer hat mir ein positives Beispiel vermittelt? Wodurch? Wann war das? –– Wo haben mir diese Vorgaben genützt, wo haben sie mich behindert? –– Was ist heute für mich als Frau / Mann bei Verlusten besonders hinderlich bzw. hilfreich? Weitere Fragen –– Was veranlasst mich, in Krisensituationen zu helfen, andere Menschen in leidvollen Situationen zu begleiten? –– Welche persönlichen Erwartungen verbinde ich mit meinem Engagement? –– Und welche vermuteten Erwartungen anderer möchte ich erfüllen? –– Welche persönliche Bedeutung hat das Helfen für mich? –– Wo liegt mein persönlicher Gewinn? –– Welche Sichtweise habe ich auf »Trauer« und »Leid«? –– Traue ich anderen den Umgang mit ihrem Leid zu? –– Wie erlebe ich die mir verliehene Macht / Überlegenheit in der Begleitung anderer Menschen? –– Fühle ich mich qualifiziert? –– Was stützt mich in meinem (Arbeits-)Leben? Was verleiht mir Hoffnung und Sinn? –– Wie belastbar bin ich (aktuell)? 4. Austausch und »Letzte-Worte-Runde« im Plenum

Zudem sollte sich die Schulseelsorger_in zu Beginn der Trauerbegleitung so umfassend wie möglich darüber informiert haben, was die genauen Umstände des Todes waren, welche Religionszugehörigkeit die oder der Verstorbene hatte und wie die Trauernden selbst religiös oder weltanschaulich gebunden sind. Es ist wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, was die eigenen »Trostbilder« sind, und über ein gewisses Repertoire der tröstlichen VorstellunUmgang mit Tod und Trauer

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gen der verschiedenen Religionen zu verfügen. Dabei ist darauf zu achten, sich zurückzunehmen und zugleich auf Fragen authentisch zu antworten – in dem Bewusstsein, dass das Gegenüber seinen eigenen Weg finden muss. Ich kann als Seelsorger_in, wenn ich darum gebeten werde, von dem erzählen, was mich trägt und tröstet, und kann ebenso darlegen, dass es auch andere Hoffnungsbilder gibt, die für andere Menschen ebenso tragend und tröstend sein können. Ein schöner Gedanke, der auch für religiös nicht gebundene Menschen tröstlich sein kann, ist z. B. der, dass Menschen ihre Verstorbenen in ihren Herzen und Gedanken lebendig halten können; dass sie zugehörig bleiben, auch wenn die Trauernden ihnen einen neuen Platz zuweisen müssen.

9.3

Grundhaltungen der Trauerbegleitung

Für die Trauerbegleitung sind folgende Grundhaltungen wichtig:4

9.3.1 Annehmend Das heißt: den Trauernden mit ihren je individuellen Trauerreaktionen Wertschätzung, Respekt und Akzeptanz entgegenbringen; sich Zeit nehmen; Gelegenheit geben, den Tod zu realisieren; Sicherheit und Angenommensein vermitteln; für die Trauernden und ihre Bedürfnisse da sein; Schmerz und Tränen aushalten (nicht wegwischen).

9.3.2 Verstehend Das heißt: aktiv zuhören; Anerkennung des Verlustes äußern (auch und vielleicht auch gerade dann, wenn kein gutes Verhältnis zum Verstorbenen gegeben war); Schweigen aushalten; Gespür für Nähe- und Distanzbedürfnis des Gegenübers entwickeln (manchmal besteht Sehnsucht 4 Vgl. Monika Specht-Tomann / Doris Tropper, Zeit zu trauern. Kinder und Erwachsene verstehen und begleiten. Düsseldorf 2001, 224 ff.

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nach Körperkontakt,5 manchmal wird dieser gerade abgewehrt); Bedürfnis nach Alleinsein, nach Rückzug wahrnehmen und wertschätzen; Zeit geben, sich zu orientieren, den Gefühlen Ausdruck zu geben; der Trauer Sprache verleihen; Sprachfähigkeit üben, auch »negative« Gefühle wie Wut und Schuld ansprechen.

9.3.3 Authentisch Das heißt: klare offene Antworten auf Fragen nach den Umständen des Todes (bei Suizid allerdings nicht alle Einzelheiten!); eigene Unsicherheiten zugeben; einfache (dem Gegenüber angemessene) Antworten in Bezug auf die eigenen Vorstellungen vom Tod und dem, was danach kommt, geben; alle Angebote, die ich mache, müssen auch zu mir passen – ich muss mit mir im Einklang bleiben können.

9.3.4 Ermutigend Das heißt: Rituale zur Gestaltung der Trauer und des Abschiedes anbieten; zum Ausdruck von Gefühlen ermutigen; zu Erinnerungen an­ regen (Fotos, Brief an Verstorbenen verfassen lassen [gemeinsame Erlebnisse, »an die ich mich gern erinnere«; »was ich dir unbedingt noch sagen möchte«], Tagebuch u. ä.); auch »unkonventionelle« Trauerbedürfnisse oder Aktivitäten unterstützen, die das Bedürfnis nach (zwischenzeitiger) Rückkehr zum Alltag signalisieren (Teilnahme an einer Feier, Tanzstunde; Kinobesuch o. ä.); Erinnerung an eigene Ressourcen im Umgang mit Verlusten fördern; zur Achtsamkeit und Wahrnehmung von Erfreulichem anregen. Im Sinne der eigenen Ressourcenerhaltung sollten die in der Trauerbegleitung tätigen Lehrer_innen, Pastor_innen und Diakon_innen / Gemeindepädagog_innen für ihre eigene Entlastung sorgen, indem sie z. B. 5 Im Kontext Schule ist allerdings mit Körperkontakt besonders sensibel umzugehen, da immer die Gefahr besteht, als übergriffig erlebt zu werden.

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Supervision in Anspruch nehmen, sich bewusst eine besonders schöne Freizeitgestaltung gönnen oder für etwas sorgen, das ihnen entspricht und gut tut.

9.4

Verständnis vom Tod nach Alter und Entwicklungsstufen

Um auf Kinder und Jugendliche angemessen eingehen zu können, ist es wichtig zu wissen, welches Verständnis vom Tod entwicklungspsychologisch und altersgemäß zu erwarten ist und welche Bedürfnisse dem jeweiligen Alter entsprechen. Im Vorschulalter halten Kinder den Tod nicht für etwas Endgültiges.6 Sie verstehen ihn ähnlich anderer Verlusterfahrungen (z. B. bei Abschieden) als etwas Vorübergehendes. Aufgrund ihres magischen Denkens verbinden sich mit dem endgültigen Wegbleiben von geliebten Menschen häufig Schuldgefühle, als wären sie selber durch ihr Verhalten oder ihre Gedanken Schuld an diesem Ereignis. Im Grundschulalter zeigt sich ein zunehmend realistischer Zugang zur Welt, der begleitet wird von großer Neugierde auf alles, was neu und interessant ist. Dazu gehört auch der Tod. Tot-Sein wird verstanden als »nicht mehr essen, nicht mehr atmen, keinen Herzschlag haben … erstarren«7. Kinder im Grundschulalter stellen häufig viele detaillierte Fragen zu Sterben und Tod und möchten sehr genau wissen, wie sich alles zugetragen hat. Der Tod wird immer mehr auch in seiner Endgültigkeit begriffen. »Trotz eines häufig sehr unemotionalen Verhaltens bei der Erfahrung von Tod, nehmen die Kinder sehr stark ihre eigenen Gefühle wahr. Trauer, Wut oder auch Schuldgefühle sind sehr ausgeprägt, ohne dass diese oftmals in Worte gefasst werden können. Manchmal entwickeln die Kinder auch große Angst, dass sie selbst sterben müssen.«8 6 Vgl. Monika Specht-Tomann / Doris Tropper, Wir nehmen jetzt Abschied. Kinder und Jugendliche begegnen Sterben und Tod. Düsseldorf 2. Aufl. 2002, 60 ff. 7 A. a. O., 75. 8 Harald Trampert, Kinder und Jugendliche und die Frage nach dem Tod und Sterben aus entwicklungspsychologischer Sicht. In: »Wenn der Notfall eintritt«. Handbuch für den Umgang mit Tod und anderen Krisen in der Schule. A. a. O., Kap 6, 23.

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Im Jugendalter nähert sich die Vorstellung vom Tod dem erwachsenen Todesverständnis an. Zugleich gewinnen philosophische und religiöse Überlegungen und besonders die Frage nach dem Sinn enorm an Bedeutung. Insgesamt ist das Verlusterleben für Jugendliche besonders konfliktträchtig, denn sie leben – und bewältigen Beziehungsverluste – »im Spannungsbogen von Verselbständigungsprozessen und Zugehörigkeitssehnsüchten«9. Auf der einen Seite sind sie altersgemäß in der Loslösung vom Elternhaus begriffen, auf der anderen Seite verstärkt insbesondere der Tod eines nahen Angehörigen das Gefühl des Angewiesen-Seins auf den familialen Kontext. Nicht selten kommt in dieser Situation hinzu, dass das familiäre Bezugssystem seinerseits mit einem erhöhten Anspruch auf Anwesenheit und Zusammenhalt reagiert.10 Zur Bewältigung ihrer Trauer ist Jugendlichen auch der Erfahrungsaustausch mit Gleichaltrigen wichtig, um Verstörung, Wut, Trauer sowie Fragen nach dem Sinn des (Weiter-) Lebens zu thematisieren und sich gegenseitig zu trösten. Dabei können Chatrooms und virtuelle Kondolenzbücher eine Rolle spielen; aber »auch ein gemeinsame(r) Diskothekenbesuch aller Freunde und ein ›rituelles Besäufnis am Steg‹ zu Ehren des Klassenkameraden können als Trauerleistung ›dechiffriert‹ und anerkannt werden«11. Auch bei der Bewältigung von Trauer suchen Jugendliche die Abgrenzung von der Erwachsenenwelt und greifen mitunter zu unkonventionellen Mitteln oder gehen selbstgefährdende Wege, um gegen den Tod zu rebellieren oder gegen den Trend der raschen Rückkehr in den Alltag zu protestieren. Andere wiederum entdecken kreative und lebensförderliche Wege der Trauerbewältigung für sich. »Trauererfahrungen in diesem Alter können einschneidend den Lebensweg verändern (Schulabbruch, Wunsch nach einem Auslandsaufenthalt, Entstehen neuer Berufswünsche).«12

9 Petra Rechenberg-Winter / Esther Fischinger, Kursbuch systemische Trauerbegleitung. Göttingen 2. Aufl. 2010, 82. 10 Vgl. ebd. 11 Ebd. 12 A. a. O., 83.

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9.5

Trauerphasen und Trauerhaus

Wir möchten die Trauerphasen nach Yorick Spiegel,13 wie sie ähnlich auch von Monika Specht-Tomann und Doris Tropper14 aufgegriffen worden sind, nur in aller Kürze skizzieren, um dann etwas ausführlicher auf das Trauerhaus-Modell einzugehen, weil wir Letzteres für hilfreicher halten bei der Begleitung von Kindern und Jugendlichen. Vorweg ist für alle Trauerphasenmodelle festzuhalten, dass sie zwar wichtig für die Begleitenden sind, aber die Trauernden selbst dadurch aber auf keinen Fall festgelegt oder in ihrer Trauer behindert werden dürfen.

9.5.1

Die Trauerphasen nach Yorick Spiegel

Phase des Schocks, des Nicht-wahr-haben-Wollens Sie ist häufig verbunden mit einem Zusammenbruch (innerlich leise oder lautes Klagen und Weinen) oder einem Gefühl der Leere und Starre. Aufgaben der Trauerbegleitung: Den Trauernden nicht allein lassen, Empathie, Zusammenbruch oder Starre aushalten. Kontrollierte Phase Sie ist häufig verbunden mit großer Selbstkontrolle, der Organisation der Beerdigung, einem Gefühl der Verlorenheit, der Verletzlichkeit und des Misstrauens. Aufgaben der Trauerbegleitung: Unterstützung bei der Organisation der Beerdigung, alltägliche Abläufe sichern, Gereiztheit aushalten, zuhören (auch dem, was nicht gesagt wird). Phase der Regression Sie ist häufig verbunden mit großer Emotionalität, Rückgriff auf frühe Bewältigungsmechanismen, veränderten Ess- und Trinkgewohnheiten, großer Zurückgezogenheit, starken Gefühlen von Angst, Wut, Schuld,

13 Vgl. Yorick Spiegel, Der Prozess des Trauerns. Analyse und Beratung. München, 7. Aufl. 1989. 14 Vgl. Monika Specht-Tomann / Doris Tropper, Wir nehmen jetzt Abschied. Kinder und Jugendliche begegnen Sterben und Tod. Düsseldorf 2. Aufl. 2002, 37–39.

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Traurigkeit und Hilflosigkeit. Aufgaben der Trauerbegleitung: Kontakt halten, geduldig sein, zuhören, trösten, Erinnerungen teilen, Emotionen zulassen und mittragen. Phase der Annahme, der Zuwendung zum Leben Sie ist häufig verbunden mit der Anerkennung des Verlustes und der Wiedergewinnung eines neuen Selbst- und Weltbezugs. Aufgaben der Trauerbegleitung: die eigene Rolle als Trauerbegleiter_in loslassen, neuen Weltbezug unterstützen und zugleich sensibel für Rückfälle bleiben. Auch wenn sowohl Spiegel als auch Specht-Tomann und Tropper darauf hinweisen, dass Trauerbewältigung nicht kontinuierlich und jeder Trauerprozess anders verläuft, suggeriert dieses Phasenmodell doch einen linearen Verlauf der Trauer, der weder bei Erwachsenen noch bei Kindern und Jugendlichen (dort noch viel weniger) gegeben ist. Wer schon häufiger Trauernde begleitet hat, weiß, dass diese durchaus zwischen den verschiedenen Phasen der Trauer hin- und hergehen;15 glaubt man, das Schlimmste sei überwunden, kann es plötzlich zu einem starken Umschwung in die Regression kommen. Oder mitten in der kontrollierten Phase gibt es einen Zusammenbruch oder umgekehrt kommt es in der regressiven Phase zu einem außerordentlich kontrollierten Teil mit sehr geregelten alltäglichen Vollzügen.

9.5.2 Das Trauerhaus Der Münchener römisch-katholische Pastoralreferent und Notfallseelsorger Ulrich Keller16 sieht das Potenzial von Phasenmodellen der Trauer darin, Chaos zu ordnen und Klarheit und Orientierung zu schaffen. Auf der anderen Seite teilt Keller mit weiteren Trauerforscher_innen die Einsicht, dass Phasenmodelle der Realität und Komplexität von Trauer nicht 15 Vgl. Jorgos Canacakis, Ich sehe deine Tränen. Trauern, Klagen, Leben können. 16. Aufl. Stuttgart 2000. Canacakis spricht von einem »transzyklischen« Modell der Trauerarbeit; »trans« im Sinne von überschreiten, »zyklisch« im Sinne von einer kreisförmigen sich wiederholenden Struktur von Trauerphasen. 16 Ulrich Keller, Krise im Kontext von Trauer. In: funktionelle Entspannung. Beiträge zur Theorie und Praxis. Heft 33, Mai 2006, 6–27.

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wirklich standhalten.17 Er schlägt demgegenüber die Metapher eines »Trauerhauses« vor. Das Bild eines Trauerhauses mit verschiedenen Räumen macht anschaulich, wie Trauernde zwischen verschiedenen Gemütszuständen wie zwischen verschiedenen »Räumen« hin- und herwechseln. Sie gestalten verschiedene Intensitäten und Gesichter ihrer Trauer selbst. Trauerbegleitung soll die Trauernden selber ihren Trauerprozess bestimmen lassen und sie nicht drängen. »Gib der Trauer einen Raum, dann werden andere Räume frei.«18 Die Metapher des »Trauerhauses« öffnet Vorstellungsräume. Ein Haus ist umgrenzt und trennt einen Innen- von einem Außenraum. Eine Schwelle ist zu überschreiten. Schwellen verlangsamen Beziehungs­ aufnahmen. Gerade in der medialen Kultur, in der übergangslos von einem Ort zum anderen gezappt werden kann, ist Verlangsamung in Trauerprozessen heilsam. Innen gibt es verschiedene Räume, zwischen denen Trauernde hinund hergehen können: einen Raum der Ruhe und einen Raum des Klagens. Einen Raum, sich zu begegnen, und einen Raum, mit sich allein zu sein im Angesicht des Todes. Einen Raum des körperlichen Erstarrens und einen Raum des sich gegenseitig Berührens, In-den-Arm-Nehmens und Tröstens. Einen Raum der Sprachlosigkeit und einen Raum des Gebets. Besonders Kinder und Jugendliche haben sehr oft das Bedürfnis, von einem Raum in einen anderen zu gehen; sie wechseln z. T. sehr sprunghaft und häufig zwischen den verschiedenen Gemütszuständen hin und her. Das Bild vom Haus mit verschiedenen Räumen trägt der Realität Rechnung, dass auch Trauernde niemals nur eine einzige seelische Wirklichkeit haben. Keller elementarisiert die Vielfalt der Räume im Trauerhaus auf diese zwei: einen Raum der Freude und einen Raum des Leids. Zum Raum der Freude gehören: Hoffnung, Macht, Aktivität, Eigenheit, Bewahrungsbedürftigkeit. Trauernde verfügen auch in ihrem Schmerz über Ressourcen – Beziehungen, Erinnerungen, Hoffnungen –, die es ihnen erlauben, 17 Ebd., 11. 18 Ebd., 10.

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den Raum des Leids temporär zu verlassen und im »Raum der Freude« nach und nach Lebensmut zu finden. Zum Raum des Leids gehören: Hoffnungslosigkeit, Ohnmacht, Passivität, Fremdheit, Behandlungsbedürftigkeit. Auch in ihn werden Trauernde immer wieder zurückkehren müssen. Zwischen beiden Räumen liegt ein Raum von Spiritualität.19 Als Zwischenraum macht er den Übergang zwischen dem Raum der Freude und dem Raum des Leids möglich. Er entlastet den / die Trauernde_n davon, den Übergang aktiv und aus eigener Kraft selbst zu schaffen. Der Zwischenraum ist Raum erlaubter Passivität, sich dem Leben als Geschenk zu öffnen: eine Ressource, wieder zur eigenen Kraft und Hoffnung zu finden. Hier findet Trauer ihre Zeit – Trauer braucht Warten. Hier findet Trauer einen Raum, wieder zu Atem zu kommen, in heilsamer Passivität »geatmet zu werden«, selber gefunden zu werden. Das Trauerhaus hat ein Fundament: Was ist das Tragende, Bleibende, Würdevolle, Wertvolle und Kostbare für mein Leben?20 Trauer sucht und braucht das Gewohnte. Wie ein Haus auf einem Fundament gründet, gründet auch Trauer auf Beziehung. Es gibt keine Trauer ohne Beziehung – sonst täte ein Verlust nicht so weh. Und: Das Trauerhaus ist umgrenzt durch Dach, Boden und Mauern, sein eingehegter Raum verbindet Zeiten – Vergangenheit, Gegenwart, Hoffnung auf Zukunft. Die Aufgabe der Trauerbegleitung kann im Modell des »Trauer­hauses« so beschrieben werden: Trauerbegleiter_innen sind Hüter_innen des Zwischenraums. Sie entwickeln Gespür dafür, in welchem Raum ihres Trauerhauses Trauernde gerade sind: Sind sie offen, den Raum zu wechseln, Ressourcen wahrzunehmen? Trauerbegleiter_innen können den spirituellen Zwischenraum stärken. Sie können feinfühlig Angebote machen, diesen Raum zu »möblieren«: mit Ritualen, Erzählungen, Symbolen, vielleicht mit Gebeten. Trauerbegleitung hat darauf zu achten, dass alle Türen offen bleiben und Wandlung / Bewegung möglich ist.

19 Ebd., 24. 20 Ebd., 14.

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9.6 Trauerrituale Im Folgenden werden wir eine Fülle von Ritualen und Methoden21 vorstellen, die sich für die Trauerbegleitung in der Schule eignen. Nach einigen Vorbemerkungen werden wir eine grobe Unterteilung vornehmen: in Rituale, die eher für einzelne Personen geeignet sind, andere, die sich für die Trauerarbeit in der Klassengemeinschaft eignen, und wiederum andere, die sich für eine Schule als Gesamtsystem anbieten. Dabei ist zu bedenken, dass die Unterschiede nicht trennscharf sind, viele Angebote für Einzelne sich auch als Einzelarbeit in der Klassengemeinschaft durchführen lassen oder Rituale im Klassenzimmer sich – je nachdem, wer auf welche Weise gestorben ist – auch für das Lehrerzimmer oder die Schulgemeinschaft eignen. Bei Angeboten / Ritualen, die für einen bestimmten Zeitraum eingerichtet werden, wie z. B. das Auslegen eines Kondolenzbuches, das Gestalten eines Trauergartens im Klassenraum oder das Aufstellen einer Kerze am Platz des Verstorbenen, ist unbedingt darauf zu achten, schon zu Beginn anzusagen, wie lange das Angebot bestehen soll und was dann damit geschehen wird. Das ist wichtig für die Gestaltung des Trauerprozesses und bietet einen sicheren Rahmen gegen das gefühlte Chaos der Trauer.

9.6.1

Methoden und Rituale für Einzelne

–– Einen Brief an die / den Verstorbene_n verfassen: »Woran ich mich gern erinnere«; »Was ich dir unbedingt noch sagen möchte« o.ä.; diese Briefe könnten im Anschluss rituell verbrannt oder als Beigabe zum Grab verwendet werden. –– Tagebuch schreiben. –– Bilder malen: entweder zum Ausdruck der eigenen Gefühle oder für die verstorbene Person; es kann dann entweder aufgehängt oder als Beigabe zum Grab verwendet werden. 21 Vergleichbare Sammlungen finden sich z. T. auch in den verschiedenen Krisenordnern einiger Bundesländer, so z. B. der Länder Hamburg und Schleswig-Holstein.

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–– Ein Trostbüchlein22 gestalten: tröstliche Verse, Gedichte, Comics, Mandalas, Bilder hineinschreiben oder malen; das, was gut tut, für mich sammeln. –– Gestalten einer »Memory-Box«23, einer Erinnerungsschachtel: In einem »geschmückten«, mit Stoffen oder Materialien aus der Natur ausgelegtem Schuhkarton verschiedene Dinge sammeln, die mich an den Verstorbenen erinnern; diese können auch symbolhaft sein. –– Steine beschriften mit Klagen oder eigenem Schmerz oder als Ausdruck von Wut o. ä.; diese können dann entweder Platz finden in einem kleinen Trauergarten,24 in der Memory-Box – oder auch nach einiger Zeit vergraben werden. –– »Sorgenpüppchen« basteln (mithilfe eines Plüschdrahtes oder Pfeifenreinigers und einer Perle)25: Nach einer indianischen Legende führt es zu einem befreiten Schlaf, wenn man die eigenen Sorgen und Nöte einem Sorgenpüppchen anvertraut und dieses dann über Nacht unter das Kopfkissen legt. –– Je nach Todesumständen den Ort des Geschehens aufsuchen und sich dazu eine Begleitperson mitnehmen. –– An der Beerdigung teilnehmen.

9.6.2 Methoden und Rituale für die Klasse: –– Einen Stuhlkreis bilden, die Mitte mit einem dunklen Tuch, einer Kerze und nach Bedarf mit verschiedenen weiteren Gegenständen wie z. B. einem in Holz geschnitzten Engel26, einer Feder, Steinen etc. ge22 Aus feiner bunter Wellpappe und ein bis zwei weißen DIN-A3-Papierbögen ein 7- bzw. 14-seitiges DIN A 6 Heft selber gestalten (Bastelanleitung auf der Homepage des PTI der Nordkirche) oder ein kleines optisch ansprechendes Heft kaufen. 23 Diese Methode ist angelehnt an die Arbeit mit Aidskranken. Vgl.: Christina Stucky, Tresore der Erinnerung. Aidskranke gestalten ein persönliches Vermächtnis für ihre Familie und Freunde. In: Der Überblick. Zeitschrift für ökumenische Begegnung und internationale Zusammenarbeit 2/2005, hg. von Konrad von Bonin u. a.. Bonn 2005. 24 Siehe unter »Methoden und Rituale für die Klasse«. 25 Vgl. Grundschule Religion, Heft Nr. 4, 3. Quartal 2003 »Trauern und Trösten«, hg. von der Kallmeyerschen Verlagsbuchhandlung und Dietlind Fischer in Verbindung mit Susanne von Braunmühl u. a.; Bastelanleitung ebd. oder auf der homepage des PTI der Nordkirche. 26 Wie sie für den Notfallkoffer der Schulseelsorge des Kirchenkreises Mecklenburg angefertigt worden sind. Vgl. Schulseelsorge Mecklenburg (www.begleitend.de).

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stalten und der Klasse Gelegenheit geben, ihre Eindrücke und Gefühle in Worte zu fassen. –– Eine Schale für mehrere Kerzen bzw. Teelichte in die Mitte des Stuhlkreises oder auf den Platz der Verstorbenen stellen und die Klasse ermutigen, ein Licht für die verstorbene Mitschüler_in zu entzünden und – wenn sie möchten – einen Wunsch für dieselbe oder eine Erinnerung an sie zu äußern. –– Gestaltung des Platzes (in der Klasse oder im Lehrerzimmer) der / des Verstorbenen mit etwas für sie oder ihn Typischem, einem Foto, einer Blume, einer Kerze, einem Gedicht, einem Psalm o.ä. –– Einen Trauergarten gestalten: Auf einem großen Karton oder einer Holzplatte werden Erde, Moos, Sand oder Gras gelegt; ein Stein oder Kreuz wird mit dem Namen des / der Toten beschriftet. Zur weiteren Gestaltung werden Holz, große und kleine Steine, kleine Kacheln, Blumen, Zweige, Korken, Figuren, Autos, kleine Bälle, Gegenstände aus einem Spielzeug-Geschäft bereitgestellt oder die Kinder bringen eigene Erinnerungsgegenstände mit. –– Samen säen: In diesem Trauergarten oder im Schulgarten können Samen oder Blumenzwiebeln gesät werden  – als Zeichen der Hoffnung und Symbol für die Auferstehung oder für den Kreislauf des Lebens. –– Schmetterlinge gestalten: in einer Schule in Schleswig-Holstein haben die Schüler_innen eines Kunstkurses mit ihrem Lehrer für eine verstorbene Mitschülerin verschiedene Schmetterlinge gestaltet und im »Schulgarten« an einem Baumstamm befestigt. Dieses Symbol stand in engem Zusammenhang mit der Schülerin. –– Über Tod und Trauer reden mithilfe von Bilderbüchern, Liedern oder aktuellen Songtexten. –– Eine Trauerkarte an die Hinterbliebenen verfassen und unter­schreiben. –– Mit Gas gefüllte Luftballons (aus Sicherheitsgründen eine Geneh­ migung einholen!) aufsteigen lassen und mit guten Wünschen für den Verstorbenen verbinden, die entweder nur gedacht oder auch geäußert oder, auf Karten notiert, an den Luftballons befestigt werden können. –– Große Schale mit Wasser und Papiertränen (die mit Klagen beschriftet werden können) vor einem großen Plakat mit Fotos vom Verstorbe122 

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nen (das zudem mit guten Wünschen für den Verstorbenen versehen werden kann – auf vorbereiteten kleinen Zetteln in Flammen-, Blattoder Wellenform).

9.6.3 Methoden und Rituale für die Schulgemeinschaft –– Einen Raum der Trauer einrichten. –– Ein Kondolenzbuch auslegen. –– Eine Trauerfeier gestalten. –– Eine Gedenkminute einlegen. –– Einen Brief der Schulleitung an alle Klassen und bei jüngeren Kindern auch an die Eltern anregen. –– Schwarze Schleifen an Treppengeländern oder am Schulzaun anbringen. –– Eine Gedenkwand einrichten – mit der Möglichkeit, eigene Wünsche, Gedanken und Gefühle hinzuzufügen. –– Eine Klagemauer aus Ytong-Steinen27: In Anlehnung an die Klagemauer in Jerusalem wird der Schulgemeinschaft Gelegenheit gegeben, ihre Klagen oder Bitten auf kleine Zettel zu schreiben und diese in die Klagemauer zu stecken. Zum Abbau der Klagemauer wäre eine Andacht denkbar, in der diese Klagen und Bitten vor Gott gebracht werden. Dies ließe sich rituell verbinden mit einer Verbrennung der kleinen Zettel. –– Für eine Schulgemeinschaft ist es hilfreich, einen Notfallkoffer28 mit Kerzen, Feuerzeug, Bildern, Texten, CDs, Taschentüchern, Papier, Stiften, Symbolen, Kuscheltieren u. Ä. bereitzustellen, der für alle im Notfall zugänglich ist.

27 Vgl. Sascha Hölken, …und deshalb bin ich da! In: Almut Künkel / Evelyn Schneider (Hg.), Projekt Reader Schulseelsorge. Loccum 2010, 46–48, 48. 28 Ein Notfallkoffer kann entweder selber zusammengestellt und gepackt oder fertig bestellt werden, z. B. bei der Schulseelsorge Mecklenburg (www.begleitend.de), die dieses Angebot für die Nordkirche und darüber hinaus zur Verfügung stellt.

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9.7

Interreligiöse Aspekte

Beispiel aus der Schulseelsorge In Hamburg ist vor einigen Jahren ein kleiner muslimischer Junge zu Beginn seiner Grundschulzeit überfahren worden. Er erlag noch am Unfallort seinen schweren Verletzungen. Der Unfallfahrer hatte einen christlich-säkularen Hintergrund. Sein Sohn und der Bruder des Verstorbenen besuchten dieselbe Grundschule. Schon am Unfallort kam es neben der Trauer auch zu heftigen Auseinandersetzungen und Schuldvorwürfen, so dass Notfallseelsorge und Rettungskräfte zugleich auch mit der Streitschlichtung befasst waren. Wenn ein solcher Unfall einen ganzen Stadtteil erschüttert, hat das auch Auswirkungen auf den Schulfrieden. Im Rahmen der Schulseelsorge ist daher u. a. eine Trauer-Andacht zum Abschied von dem verstorbenen Jungen vorbereitet worden, in der sowohl der zuständige Imam als auch die Gemeindepastorin mitgewirkt haben: Die Pastorin hat dabei für die trauernden Hinterbliebenen gebetet, der Imam für den Unfallfahrer und seine Familie. Obwohl von den eingeladenen trauernden Hinterbliebenen nur ein entfernter Verwandter gekommen ist und von der Familie des Unfallverursachers niemand anwesend war, hat sich die versöhnende Botschaft dieser Andacht doch ausgebreitet und zur Befriedung des Schullebens und des Stadtteils beigetragen.

Wer als Schulseelsorger_in in der Schule Angebote für Trauerbegleitung macht, wird damit rechnen können, dass die Schüler_innen Angebote zur Trauerbegleitung kennen, vielleicht auch miterlebt haben. Auch durch massenwirksame Kinofilme oder Nachrichten über Beerdigungen populärer Persönlichkeiten oder über soziale Netzwerke im Internet werden Schüler_innen mit dem Thema Bestattung in Kontakt gekommen sein. Eine ganze Reihe von Schüler_innen wird an nicht religiös gebundenen Trauerfeiern teilgenommen haben, wie sie von Bestattungsredner_innen gestaltet werden, die Bestattungsinstitute heute in der Regel anbieten. Viele Schüler_innen werden als trauernde Hinterbliebene auch an ausdrücklich religiösen Trauerfeiern teilgenommen haben: an einem christlichen Bestattungsgottesdienst oder an einer Trauerfeier ihrer Religion – 124 

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wichtige Kontexte, auf die sich auch die Arbeit der Schulseelsorge in diesem Feld beziehen kann. Beispielhaft nennen wir hier jüdische, mus­ limische und evangelisch-christliche Bestattungsrituale.

9.7.1

Tod und Trauer im Judentum

Nach jüdischem Glauben hat der Tod keine eigenständige Macht. Gott ist Herr über Leben und Tod. Er ruft den Menschen wie alles Leben ins Dasein und er ruft sie aus dem Dasein wieder heraus. Die Seele ist dem Menschen von Gott nur geliehen. Die Menschen sollen diese Gabe des Lebens annehmen, in Lebensfreude genauso wie in ihrer Arbeit. Sie sollen sich nicht in Todesfurcht verzehren, aber bereit sein, sich abberufen zu lassen.29 Sie sollen sich gegenseitig beistehen, wenn es heißt, vom Leben Abschied zu nehmen. Sterbende sollen nicht allein gelassen werden, Schmerzen sollen gelindert werden, Trauer soll ausgehalten und geteilt werden. Der Sterbende wird in der Stunde seines Todes aufgefordert, seine Sünden zu bereuen und das Bekenntnis zu Gott zu sprechen: »Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.« (5 Mose 6,4 f.) Wenn er / sie in der Lage ist, soll der / die Sterbende das Sündenbekenntnis nachsprechen, das ihm ein_e Begleiter_ in vorspricht: »Ich bekenne vor dir, Herr, mein und meiner Väter Gott, dass meine Wiederherstellung und mein Tod in deiner Hand sind … Und wenn du meinen Tod beschlossen hast, so nimm meinen Tod für eine Sühne an für alle meine Sünden, die ich getan, für alle Schuld, die auf mir lastet, und für meine Schuld, die ich vor dir mein ganzes Leben lang begangen habe … Lass mich des himmlischen Eden würdig, der künftigen Welt teilhaftig werden, auf dass ich den Lohn finde, der den Gerechten aufbewahrt ist … Du willst nicht des Sünders Tod, sondern dass er sich belehre und lebe.«30 Das Standardwerk des von den Nazis ermordeten Rabbiners S. Ph. de Vries, »Jüdische Riten und Symbole«, aus den zwanziger Jahren gilt als 29 Vgl. Georg Schwikart, Tod und Trauer in den Weltreligionen. Gütersloh 1999, 33. 30 A. a. O., 41.

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gute Einführung in die jüdische Trauerpraxis,31 auch wenn die hier aufgeführten Bräuche und Rituale aus der jüdisch-orthodoxen Überlieferung nicht überall und nicht vollständig gefeiert werden.32 Charakteristisch sind die einzuhaltenden Trauerzeiten: die Trauerwoche, die dreißig Tage und das Trauerjahr. Hinzu kommt das jährliche Gedenken am Todestag des / der Verstorbenen. »Die jüdisch-orthodoxe Tradition stellt trauernden Menschen einen eindeutigen, klaren Rahmen zur Verfügung, in dem Trauerprozesse ablaufen können. Innerhalb dieses Rahmens findet eine ständige Rückbindung an biblische und nachbiblische jüdische Schrifttraditionen statt.«33 So hilft das Gebet des Kaddisch (= Heiligung), die Realität des Todes und die Trauer um den Verlust mit der Hoffnung auf Gott und mit der Einstimmung in seinen Willen zu versöhnen. Das Kaddisch ist Lobpreis Gottes in der Hoffnung auf und Bitte um das Kommen seines Reiches. Es ist zentrales Gebet in der jüdischen Trauerpraxis: »Erhoben und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die er nach seinem Willen erschaffen, und sein Reich erstehe in eurem Leben und in euren Tagen und dem Leben des ganzen Hauses Israel schnell und in naher Zeit, sprechet Amen!«34 Das Ritual der Beerdigung soll am Todestag selbst oder am Tag darauf stattfinden. Es wird von einer Beerdigungsbruderschaft ausgerichtet, die es in den meisten jüdischen Gemeinden gibt35: Frauen und Männer, die sich um die Toten kümmern, sie waschen, kleiden, einsargen und bestatten. Nach der rituellen Waschung wird der / die Tote mit einem Totenhemd aus weißem Leinen bekleidet, das zu Lebzeiten bereits zum Neujahrsfest, zu Jom Kippur und am Sederabend getragen wird. Die weiße Farbe des Hemdes symbolisiert Reinheit und Würde. Es ist für alle gleich, reich und arm, im Tod werden soziale Unterschiede zwischen den Menschen unerheblich. Die Mitglieder der Beerdigungsbruderschaft sind darin kompetent, alle rituellen und religiösen Vorschriften in dieser riskanten Passage zu 31 S. Ph. De Vries, Jüdische Riten und Symbole. 1927/1932. Reinbek 1990. 32 Vgl. zum folgenden Thomas Schollas, Trauer im Judentum. In: Ursula Gast u. a., Trauma und Trauer. Impulse aus christlicher Spiritualität und Neurobiologie. Stuttgart 2009, 137 ff. 33 Thomas Schollas, a. a. O., 138. 34 Zit. nach ebd. 35 Vgl. Georg Schwikart, a. a. O., 42.

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beachten. Denn sie nehmen den höchsten Grad ritueller Unreinheit auf sich, die im Kontakt mit den Toten entsteht. Denn Nachkommen der Priesterklasse ist der direkte Kontakt mit dem Leichnam verboten. Den Toten gilt der rituelle Zuspruch der versammelten Gemeinde: »Gott tröste euch inmitten aller übrigen Trauernden Zions und Jerusalems«. Weitere rituelle Handlungen und Gesten können sich anschließen: Ausreißen und Hinter-sich-Werfen von Gras; Waschen der Hände bei Verlassen des Friedhofs. Während der Trauerwoche (Shiva = sieben) gehen die engsten Verwandten des / der Verstorbenen nicht aus dem Haus, sie sitzen auf dem Boden, tragen keine Schuhe. »Ehemann, Ehefrau, Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Bruder, Schwester. Das sind die, die miteinander die Shiva einhalten müssen, sie sind die ganze Woche sitzend dabei. Die ganze Woche sitzt man auf niedrigen Hockern, von morgens bis abends, um unsere Erniedrigung zu zeigen … Durch die Verlassenheit, durch die Trauer ist man in Demut gebeugt außer am Sabbat. Da sitzt man am Tisch und es wird am Tisch gegessen.«36 Nachbarn besuchen sie, es wird gemeinsam gebetet. Am Sabbat sind die Trauerriten aufgehoben. Nach dem Morgengebet des siebten Tages stehen die Trauernden vom Boden auf. Mit der Zusage von Jes 60,2037 entlässt der Ritualleiter die Gemeinde der Trauernden aus ihrer Trauerverpflichtung. Um Vater und Mutter wird ein Jahr lang getrauert. »Ich habe mich nach dem Tod meines Vaters auch ein Jahr nicht geschminkt, mir nichts Neues zum Anziehen gekauft und keine Einladungen zu Feiern oder öffentlichen Veranstaltungen angenommen. Man zieht sich zurück.«38 Um andere Angehörige wird dreißig Tage getrauert. Gebet, Schrift, Rituale helfen, Trauer zum Ausdruck zu bringen und zu gestalten. Das Kaddisch stellt mit seinem Lobpreis von Gottes umfassender Wirklichkeit und Bundeszusage einen symbolischen Raum der 36 Rachel Bendavid-Kursten, Interview in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Dialog der Religionen und Weltanschauungen. Herausforderung an die Demokratie. Bonn 2003, 107. 37 Deine Sonne wird nicht mehr untergehen und dein Mond nicht den Schein verlieren; denn der Herr wird dein ewiges Licht sein, und die Tage deines Leidens sollen ein Ende haben. (Jes 60,20). 38 Dies. in: A. a. O., 109.

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Trauer und Hoffnung zur Verfügung, in den sich das Schicksal des / der Verstorbenen ebenso wie aller weiteren Menschen einzeichnen lässt. Die Gemeinschaft trägt die Trauernden, vermittelt Sicherheit und Zugehörigkeit. Es werden neue Sinnangebote mitgeteilt: Das Tun des Gerechten (Zedaka) als Wegweisung ins weitere Leben. Schmerz wird angenommen und symbolisch zum Ausdruck gebracht. Beispielsweise zeigt der Riss in der Kleidung den unwiederbringlichen Verlust beim Tode der Eltern. Trauer darf über die Zeit hin wiederkehren, über das Trauerjahr hinaus – die Jahreserinnerung an Trauertagen gibt dem Raum. Rituale und symbolische Traditionen bzw. Erzähltraditionen zielen darauf, das Gefühl von Verbundenheit zu bestärken: mit den Verstorbenen, mit den Angehörigen und Freunden, mit der Gemeinde, mit ganz Israel und mit seinem Gott. Die Bestattungsform im Judentum ist immer die Erdbestattung. Trauernde legen auf den Grabsteinen kleine Steine ab, in früheren Zeiten um zu verhindern, dass Tiere die Toten ausgraben. »Heute ist es ein Zeichen dafür, dass wir die Toten nicht vergessen und zeigt auch eine gewisse Anzahl von Besuchern.«39

9.7.2

Tod und Trauer im Islam

Im Islam gibt es entsprechend den verschiedenen Richtungen verschiedene Weisen zu trauern.40 Im orthodoxen sunnitischen Islam hält man sich mit Äußerungen von Klage zurück, während es im schiitischen Islam und im Volksislam oft zu intensiven Äußerungen von Trauer kommt. Die meisten in Deutschland lebenden Muslime und Musliminnen gehören dem sunnitischen Islam zu. Ein großer Teil der in Deutschland lebenden türkischstämmigen Muslime wird nach dem Tode binnen weniger Stunden in die Türkei überführt und dort beerdigt.

39 A. a. O., 112. 40 Klaus Onnasch, Trauer im Islam. In: Ursula Gast u. a., 142 ff.

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Ein Beispiel Die in Hamburg lebende türkischstämmige Bestatterin Vildane Abdelatif, die solche Überführungen anbietet, organisiert nur in etwa drei von zehn Fällen die Beerdigung auf den großen Hamburger Friedhöfen Ohlsdorf oder Öjendorf.41 Beide Friedhöfe haben besondere Felder für muslimische Verstorbene eingerichtet sowie Räume für die rituelle Waschung.

Wenn jemand aus der türkischen Gemeinde im Sterben liegt, spricht sich dies schnell herum. Angehörige und Freund_innen, Nachbarn und Kolleg_innen können sich in einem Entschuldungsritual verabschieden: Sie betreten kurz das Sterbezimmer und sagen: »Helal, ich vergebe dir.« Und man bittet den / die Sterbende ebenfalls um Vergebung. So ist wechselseitig Abschied möglich, ohne von Verschuldungsvorstellungen belastet zu sein.42 Üblich ist, dass sich Familien und Freunde mehrmals treffen, um gemeinsam zu trauern und im Koran zu lesen. Im Moment des Todes sprechen Freunde und Verwandte dem / der Sterbenden die Shahadah, das Glaubensbekenntnis vor oder flüstern es ihm / ihr ins Ohr, so dass er / sie ruhig hinübergehen kann. Unmittelbar nach dem Eintritt des Todes wird die 36. Sure (Yasin) rezitiert und so darum gebetet, dass Gott die Toten belebe. So wird der Schrecken des Todes im Zusammenhang von Gottes schöpferischem Handeln aufgehoben. »Es wird in die Trompete geblasen, und gleich eilen sie aus den Grüften zu ihrem Herrn. Sie sagen: ›Wehe uns! Wer hat uns von unserem Todesschlaf auferweckt?‹ Das ist es, was der Barmherzige versprochen hat … Es genügt ein einziger Schrei, und schon werden sie alle bei uns (zum Gericht) vorgeführt. Und (zu ihnen wird gesagt:) ›Heute wird niemand Unrecht getan. Und euch wird nur das vergolten, was ihr (in eurem Erdenleben) begangen (getan) habt. Die Insassen des Paradieses sind heut beschäftigt und lassen es sich dabei wohl sein. Sie und ihre Gattinnen liegen im Schatten (behaglich) auf 41 Renate Giesler, »Ich möchte in der Türkei begraben sein.« Die türkischstämmige Bestatterin Vildane Abdelatif arbeitet in Hamburg. In: Der Überblick 2/2003, 35. 42 Gerdien Jonker, Mit dem Tod vor Augen. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Dialog der Religionen und Weltanschauungen. Herausforderung an die Demokratie. Bonn 2003, 40. Vgl. dazu auch: Christoph Elsas, Sterben im islamischen Kulturkreis und Sterbebegleitung für Muslime in Deutschland. In: Ders. (Hg.), Sterben, Tod und Trauer in den Religionen und Kulturen der Welt. Band 1. 3. Auflage Berlin 2010, 332.

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Ruhe­betten und haben (köstliche) Früchte (zu essen) und (alles) wonach sie verlangen.« (Sure 36, 51 ff.)43 Die Bestattung folgt sobald als möglich. Der / die Tote wird gewaschen und so rituell gereinigt, der Leichnam wird in ein Leichentuch gewickelt. Das Totengebet wird in der Moschee oder auch auf dem Gräberfeld gehalten. Es wird ein Bittgebet für den / die Verstorbene_n gesprochen, dass Gott sich seiner / ihrer erbarmen und ihn / sie bewahren möge. Im Anschluss an das Totengebet stellt der Imam an die Anwesenden die Frage, ob sie ihre Ansprüche an den Toten als endgültig abgegolten erklären und ihn bzw. sie damit schuldenfrei aus der Gemeinschaft der Lebenden entlassen – dies gilt für finanzielle Schulden und auch für nicht gelöste Konflikte. Im Namen der / des Verstorbenen erklärt der Imam sodann, dass auch von seiner / ihrer Seite aus alle Verpflichtungen abgegolten und aufgelöst sind. Darauf wird der / die Tote auf einer Bahre von Männern zum Grab getragen. Frauen können sich am Trauerzug beteiligen, halten aber Abstand. Die muslimischen Gräber sind nach Mekka hin ausgerichtet. Der Kopf des Verstorbenen wird zur Heiligen Stadt hin gebettet. Es wird die »Bismillah« gesprochen (»im Namen Gottes des Erbarmers, des Barmherzigen«). Die Anwesenden werfen Erde auf das Grab. Die Grabstätte wird meist schlicht gestaltet, bisweilen mit Versen aus dem Koran geziert. Oft wird der Glaube an die Auferstehung mitgeteilt: »Sag: Gott (allein) macht euch lebendig und lässt euch hierauf sterben. Und er versammelt euch hierauf zum Tag der Auferstehung, an dem nicht zu zweifeln ist. Aber die meisten Menschen wissen nicht Bescheid.« (Sure 45, Vers 26) Es gibt im Volksislam besondere Trauerzeiten. Der dritte bis fünfte und der vierzigste Tag nach dem Tode werden als Gedenktage des / der Verstorbenen gestaltet: Angehörige und Freunde versammeln sich im Haus des / der Verstorbenen. Es werden Koranverse rezitiert, insbesondere Sure 36. Die Lieblingsspeise des Verstorbenen wird angeboten, sie wird allerdings nicht im Hause des Toten, sondern von Nachbarn gekocht. Manchmal findet eine solche Feier auch am ersten Jahrestag nach dem Tode statt. Weitere Trauerzeiten sind die großen islamischen Feste:

43 Zit. nach: Der Koran. Übersetzung von Rudi Paret. Stuttgart 4. Aufl 1985, 310.

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das Opferfest und das Fest des Fastenbrechens am Ende des Ramadan. In den verschiedenen Richtungen des Islam gibt es zudem unterschiedliche Traditionen, Geschichten und Rituale, in denen sich die Trauernden in ihrer Trauer einfinden und ihr eine Gestalt geben können, so dass durch Trauer und Schmerz hindurch eine Bewegung zu Lösung und Befreiung beginnen kann.

9.7.3

Tod und Trauer im evangelischen Christentum

Wenn ein Mensch stirbt, werden (wie in anderen Religionen ähnlich) viele Schritte nötig, die nicht ausdrücklich religiöse sind: Kontaktaufnahme mit einem Bestattungsinstitut, mit Familienangehörigen, Verwandten und Freunden; Anzeige des Todes in einer Tageszeitung und zunehmend auch über die sozialen Netzwerke des Internet. Wenn die Hinterbliebenen einen Bestattungsgottesdienst wünschen, wird ihnen der Kontakt zur / zum Gemeindepastor_in vermittelt oder sie nehmen selbst Kontakt auf. Als Gesamtritual folgt die evangelische Bestattung der Struktur eines Weges44 mit drei Stationen: der Abholung bzw. der Aussegnung zu Hause (sie wird in vielen Alten- und Pflegeheimen, aber auch zunehmend wieder in Gemeinden gefeiert); dem Bestattungsgottesdienst in der Kirche, und der Bestattungshandlung am Grab. An vielen Orten kann aus technischen und zeitlichen Gründen diese dreigliedrige Prozession nicht vollständig begangen werden.

9.7.3.1 Die Aussegnung Im Mittelpunkt der ersten Station, der Aussegnung im Altenheim oder in der Wohnung des / der Verstorbenen, steht der Valet-Segen, den der / die Pastor_in zur / zum Toten gewandt spricht. Der Segen des dreieini44 Vgl. dazu auch: Sigrid Glockzin-Bever, Bestattung in der heutigen Gesellschaft als christliches Ritual. Eine evangelische Perspektive. In: Christoph Elsas (Hg.), Sterben, Tod und Trauer in den Religionen und Kulturen der Welt, a. a. O., 319.

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gen Gottes wird ausdrücklich dem / der Verstorbenen zugesagt: »Unser Herr Jesus Christus sei … vor dir, dass er dich leite und führe zur ewigen Heimat«.

9.7.3.2 Der Bestattungsgottesdienst An der zweiten Station des Trauerwegs, dem Bestattungsgottesdienst in der Kirche, werden in Gebeten, Liedern, in der Predigt und auch in von den Hinterbliebenen selbst gestalteten Sprech- oder Zeichenhandlungen diese Schritte begangen: –– Schuldgefühle und Hilflosigkeit benennen, –– Vergebung erbitten und zusagen, –– Danken und Abschied nehmen. Schuldgefühle gegenüber der / dem Verstorbenen können ausgesprochen werden – in Gebeten, aber auch in der Predigt –, Vergebung kann erbeten und im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes zugesagt werden. Dank für gelebtes Leben kann ebenso ausgesprochen werden wie Abschied von den Möglichkeiten alltäglicher Begegnung. Nach Gebet und Predigt wird ein Abschied gesprochen, in dem Vergebung erbeten und zugesagt wird: »Wir nehmen Abschied von … Wer sie / ihn geliebt hat, trage diese Liebe und Achtung weiter. Wen sie / er geliebt hat, danke ihr / ihm alle Liebe. Wer ihr / ihm etwas schuldig geblieben ist an Liebe in Worten und Taten, bitte Gott um Vergebung. Und wem sie / er wehgetan haben sollte, verzeihe ihr / ihm, wie Gott uns vergibt, wenn wir ihn darum bitten. So nehmen wir Abschied mit Dank und im Frieden. Amen.« Folgende Themen haben ebenfalls ihren Ort im Bestattungsgottesdienst: –– Klagen und Protestieren: Der Tod vernichtet Lebensmöglichkeiten, trennt Liebende, entfaltet zerstörerische Macht. Emotionen von Wut, Hass und Verzweiflung können zum Ausdruck gebracht werden und in biblischen Texten wie den Psalmen, Klageliedern, dem Hiobbuch eine Resonanz und eine Ausdrucksmöglichkeit finden. –– Gedenken – Entdecken und Erzählen: An die Lebensgeschichte des  /  der Verstorbenen kann in der Bestattungspredigt erinnert werden. Den 132 

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Hinterbliebenen und dem / der Verstorbenen soll die Rechtfertigungsverheißung so zugesagt werden, dass sie ihr Leben in seiner gesamten Ambivalenz annehmen und gut sein lassen können. –– Segen und Verheißung der Auferstehung: Hinterbliebenen und Verstorbenen werden Liebe, Befreiung von Schuld und die Rechtfertigung Gottes zugesagt, so dass sie sich ohne Angst dem Tod, aber auch dem verheißenen neuen Leben öffnen können.

9.7.3.3 Abschied am Grab An der dritten Station der Prozession, am Grab, werden die Realität des Todes und der Abschied durch die Formel und begleitende Gesten wahrnehmbar gemacht: » … legen wir ihren / seinen Leib in Gottes Acker. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staube. Wir geben sie / ihn in Gottes Hand.« Mit der biblischen Lesung 1 Korinther 15 wird dann die Verheißung der Auferstehung von den Toten zugesagt: »Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich … Wir geben sie in Gottes Hand. Jesus Christus wird sie auferwecken. Er sei ihr gnädig im Gericht und lasse sie / ihn die ewige Herrlichkeit schauen. Friede sei mit ihr / ihm.« Nach dem Bestattungsgottesdienst können rituelle und symbolische Schritte des Gedenkens gestaltet werden  – wie Abkündigungen von Verstorbenen im Gemeindegottesdienst, Totensonntag und Volkstrauertag, Karfreitag und Passionsandachten, Gedenkgottesdienste. Die gottesdienstlichen Formen der evangelischen Bestattung und folgende Gedenkrituale können als symbolische und rituelle Zugänge zu der Wirklichkeit in Gottes Gegenwart gestaltet werden, der Lebende und Tote gemeinsam zugehören.

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Spiritualität in der Schulseelsorge

Spiritualität hat Konjunktur. Es gibt zur Zeit einen nahezu unüberschaubaren Markt von Angeboten zu Spiritualität: Bücher, Meditationskurse, Atemtrainings, Klosteraufenthalte, Internetseiten und vieles mehr. Einübung in Spiritualität findet Eingang in Organisations- und Personalentwicklung, Führungskräfteentwicklung, »Change-Management«, AkutIntervention bei Stressgefährdung, existenziell-spirituellen Krisen und zur Burnoutprävention.1 Eine Professorin für Praktische Theologie beispielsweise preist »Spiritualität als Wirtschaftsfaktor der Zukunft«: »Ein effektives Unternehmen der Zukunft ist (…) geprägt vom Einbeziehen der seelischen Bedürfnisse der Mitarbeiter (…) Aus betriebswirtschaftlicher Perspektive erzeugt Persönlichkeitsentwicklung durch Spiritua­ lität ›Human- und Sozialkapital‹ (…) Aus betriebswirtschaftlicher Sicht wäre es für die Evangelische Kirche der Zukunft sinnvoll, auf die Persönlichkeitsentwicklung ihres Managements und ihrer Mitarbeitenden durch Spiritualität zu setzen.«2 Und der US-amerikanische Gewährsmann des Programms der »GfK« (gewaltfreien Kommunikation), Marshall B. Rosen­berg, sieht in der Spiritualität die Wurzel für eine neue, gewaltfreie Gesellschaftlichkeit: »Gewaltfreie Kommunikation entwickelt sich aus meinem Versuch, mir über diese ›geliebte göttliche Energie‹ bewusst zu werden und wie ich mich mit ihr verbinden kann.«3

1 Vgl. z. B. die Internetseiten des in diesem Feld sehr rührigen Kölner Psychotherapeuten und Theologen Heribert Fischedick: www.fischedick-consulting.com. 2 Sabine Bobert, Megatrend Spiritualität: Unterwegs zu einer Spiritualität der Moderne  – auch in der Volkskirche? In: Bernd-Michael Haese, Uta Pohl-Patalong (Hrsg.), Volkskirche weiterdenken. Zukunftsperspektiven der Kirche in einer religiös pluralen Gesellschaft. Stuttgart u. a. 2010, 201–210. 3 Marshall B. Rosenberg, Lebendige Spiritualität. Gedanken über die spirituellen Grundlagen der Gewaltfreien Kommunikation. Paderborn 2009, 11.

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10.1

Biblische Quellen

Was bedeutet das Wort »Spiritualität«? Sehen wir zunächst auf die biblische Perspektive. Mit dem Adjektiv »spiritualis« (spiritus = Geist) wird das griechische »pneumatikos« übersetzt: den Geist Gottes betreffend /  die Geistkraft betreffend. Das griechische »pneuma« ist die Übersetzung von »ruach« (hebr.). In der Bibel wird die Geistkraft fundamental mit Vitalität, Lebensenergie, Leben spendender Kraft assoziiert, beispielsweise: –– 1 Mose 1,2: lebendige Schöpferkraft, Schaffensenergie –– Mose 2,7: »Atem, der lebendig macht«. Spiritualität heißt in dieser Perspektive: Dadurch, dass ich mich mit meinem Atem und dem Atem der Geistkraft verbinde, spüre ich, dass ich lebe und dass mein Leben mit dem der Anderen verbunden ist. –– Als Kraft, die Zerrissenes, Zerstörtes wieder zusammenfügt und belebt (Ez 37,1–10). Spiritualität heißt in dieser Perspektive: Stück für Stück mich und mein Leben wieder zusammensetzen (lassen) und lebendig werden. –– Als Kraft, die Kommunikation und Verständigung ermöglicht und beflügelt (Apg 2,1–13). Spiritualität heißt in dieser Perspektive: Barrieren überwinden können, erstarrte Muster aufheben können, mutig auf andere zugehen, verstehen, verstanden werden.4 Der hoffende, der spirituelle Mensch ist ein Reisender, weil er sich nie mit dem zufrieden gibt, was ist, weil er auf der Suche ist nach gelingendem Leben und tiefem Glück / Heil für alle. »Die Sehnsucht entsteht, wo der Mensch erkennt, dass er mehr braucht, als er hat«5 und als er durch Besitztümer erlangen kann. Fulbert Steffensky spricht von zwei Wünschen, die dieser Sehnsucht innewohnen: »Der eine Wunsch: nach Ganzheit und Heil, nach einem unzerstückelten Leben, der andere Wunsch ist der nach Gott, nach Einigung mit dem Abgrund des Lebens und des Todes. In welchen Formen der Hunger nach Spiritualität auch auftaucht –

4 Diese Gedanken sind dem unveröffentlichten Manuskript »Spiritualität entwickeln – ein Weg zu den Quellen meiner Kraft« meiner Kollegin Britta Hemshorn de Sánchez ent­ nommen. 5 Fulbert Steffensky: Schwarzbrot-Spiritualität. Stuttgart 2005, 11.

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zugrunde liegen diese beiden Momente: der Wunsch nach Ganzheit und der Wunsch nach Vereinigung.«6

10.2

Unser Verständnis von Spiritualität

Wir finden Spiritualität für die Arbeit der Schulseelsorge wichtig und notwendig. Wenn wir eine Haltung der Spiritualität in der Schulseelsorge entfalten und wenn wir mit spirituellen Methoden arbeiten wollen, scheinen uns in diesem »Mega-Trend« einige Klarstellungen und Differenzierungen hilfreich. Sie können dabei helfen, Größenfantasien zu vermeiden und zu fragen, welche Gestalt Spiritualität in der Schulseelsorge haben kann.

10.2.1 Spiritualität kann man nicht machen Spirituelle Lebenspraxis steht in der Ambivalenz, auf der einen Seite geübt werden zu müssen von Menschen, die sich hier einleben und engagieren wollen, auf der anderen Seite aber in ihrem Ergebnis kein Erfolg menschlichen Machens und Bewirkens zu sein. Im Gegenteil: Spiritualität ist Einübung in Passivität, in die grundlegende Haltung gegenüber dem Leben, dass ich mir das existenziell Wichtige nicht selbst beschaffen oder erwirken, sondern nur schenken lassen kann. Mit dem römisch-katholischen Praktischen Theologen Rolf Zerfaß: Sich diesem Geschehen zu öffnen, verdankt sich einer inneren Gelöstheit, wie sie dem Spiel und dem Schlaf eigen ist.7 Spiritualität üben heißt, sich dem Spielraum des Geistes Gottes zu öffnen. Der Geist weht in uns, wie er will, und hat gerade dort die größten Chancen, wo wir uns nicht starr auf eigene Konzepte und eingeübte Logikregeln stützen, sondern offen sind für das, was aus der Tiefe aufsteigt. Dies ist der Grund, warum in­

6 A. a. O., 12. 7 Vgl. Rolf Zerfaß, Grundkurs Predigt, Bd. 1: Spruchpredigt. Düsseldorf, 2. Aufl. 1989, 64. Was Zerfaß hier für ein Sich-Öffnen in der Kreativität des Predigens beschreibt, gilt für spirituelle Haltung überhaupt.

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allen Meditationsformen das innere Loslassen eine zentrale Rolle spielt: Es geht um die Öffnung für das Sprechen des Geistes. Mit Fulbert Steffensky sehen wir: »Es gibt Dinge, die man nicht erwerben kann durch Suchen, durch Selbststeigerung und durch Selbstintensivierung. Man kann sich nicht selbst beabsichtigen, ohne sich zu verfehlen (…) Wir brauchen uns nicht selber zu bezeugen, eine der großen Lebensentlastungen. Wir brauchen uns nicht selber zu suchen; denn wir sind gefunden, ehe wir suchen. Das gibt unserem Leben Spiel und befreit uns von allen Zwängen der Selbstbeabsichtigung.«8

10.2.2 Spiritualität heißt nicht Innerlichkeit Spiritualität bedeutet auch Achtsamkeit für Spiritualität bedeutet auch Achtsamkeit die Not des Anderen, heißt soziale Verdie Not des Anderen, heißt soziale Verantwor- für antwortung. tung. In christlicher Perspektive hat vor allem Fulbert Steffensky immer wieder auf diese Grundrichtung spiritueller Lebenspraxis aufmerksam gemacht. Es geht hier um eine Haltung, die sich in der Offenheit und Bereitschaft zeigt, sich herausfordern zu lassen durch das, was bedrängte und gefährdete Mitlebende aktuell brauchen. Zwischen Gebet, Zeitungslektüre, Internetnutzung, Kinobesuch, verpflichtendem Engagement in begrenzten Arbeitszusammenhängen vor Ort entwickelt sich eine Spiritualität, die die Vertiefung eigener Subjektivität einschließt, aber darin keineswegs aufgeht. Mit den Worten von Fulbert Steffensky: »Es gibt einen Unterschied zwischen beabsichtigter und geschenkter Erfahrung. Wir treffen die geschenkte Erfahrung in dem Lied von Paul Gerhardt ›Geh aus, mein Herz‹. Die Mystiker sagen es ähnlich: Gang us dir us! Geh aus! Aber nicht in ferne und sensationelle Sphären. Sei ein gegenwärtiger Mensch, und du wirst den Gesang des Lebens vernehmen. (…) Was also ist eine spirituelle Erfahrung? Sie ist keine Selbsterfahrung, sie ist eher Selbstvergessenheit (…) Spiritualität ist gebildete Aufmerksamkeit.«9

8 Fulbert Steffensky, Schwarzbrot-Spiritualität, a. a. O., 14. 9 A. a. O., 13 f., 18 ff.

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Spiritualität eröffnet die Erfahrungsmöglichkeit, über die Innerlichkeit des Einzelnen gerade hinauszugehen: »Ich brauche nicht nur ich zu sein, wenn ich bete, wenn ich singe oder wenn ich meinen Glauben formuliere (…) Das bedeutet Kirche: mehr sein können als einsames Subjekt; mehr glauben können, als man glaubt.«10 Eine biblische Erinnerung kann hier eine Spur weisen. Mt 25,40: »Wahrhaftig, ich sage euch, alles, was ihr für eines dieser meiner geringsten Geschwister getan habt, habt ihr für mich getan.« Spirituelle Erfahrung ist die Erfahrung Gottes im Mitmenschen, im Hungernden, im Elenden so wie im Glücklichen. Spiritualität ist keine Entweltlichung, sondern geht auf die Straße »und sieht, was dem Leben geschenkt ist und was ihm angetan wird.«11 Religiöse Spiritualität und Aufmerksamkeit im alltäglichen Leben sind zwei Seiten einer Medaille. Lasse ich mich von den Schmerzen und Freuden meiner Mitmenschen berühren?12 Die Verbindung von Spiritualität und Verantwortungsübernahme für Andere, gerade für die bedrohten und bedrängen Mitkreaturen, ist ebenso wie im Christentum auch in den anderen Religionen selbstverständlich und verbindlich, im Judentum und Islam ebenso wie im Buddhismus, und ebenso auch in afrikanischen, melanesischen oder indianischen Kulturen, in denen die Wechselseitigkeit der Gabentauschverpflichtung zwischen allen Lebendigen und zwischen den Göttern und Menschen grundlegend ist.

10.2.3 Spiritualität kommt ohne Üben nicht aus Diesen Zug teilt die spirituelle mit jeder anderen ernsthaften Lebenspraxis, ob im Sport, in der Musik, in jeder Form von Bildung und Berufstätigkeit. Immer ist es das Wiederholen, das immer neue Üben, das Vo­ raussetzung ist für Sich-Eingewöhnen, Zugehörigkeit und Gelingen. Mit Fulbert Steffensky: »Sei streng mit dir selber! Mache deine Gestimmtheit und deine augenblicklichen Bedürfnisse nicht zum Maßstab deines Handelns! (…) Die Beachtung von Zeiten, Orten und Methoden reinigt das 10 Fulbert Steffensky, Der alltägliche Charme des Glaubens. Würzburg 2002, 98. 11 Fulbert Steffensky: Schwarzbrotspiritualität, S. 19. 12 Vgl. ebd.

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Herz (…) Rechne nicht damit, dass dein Vorhaben ein Seelenbad ist! Es ist Arbeit – labor! –, manchmal schön und erfüllend, oft langweilig und trocken (…) Meditieren, Beten, Lesen sind Bildungsvorgänge. Bildung ist ein langfristiges Unternehmen (…)«13

10.2.4 Spiritualität heißt: Den Augenblick wahrnehmen und achten Nicht den Blick halten lassen von dem, was ich mir im Alltag vorgenommen habe, was ich plane, was ich erreichen will. Sich offen und wahrnehmungsfähig halten für das Unvorhergesehene, für das, was mein Planen und Wollen unterbricht. Offen sein für den Augenblick, in dem mir das Leben in seiner Fülle entgegenkommt. Der buddhistische Lehrmeister Thich Nhat Hanh erinnert daran: »Unsere wahre Heimat ist der gegenwärtige Augenblick. Im gegenwärtigen Augenblick zu leben ist ein Wunder. Auf dem Wasser zu schreiten ist es nicht. Das Wunder besteht vielmehr darin, im gegenwärtigen Augenblick über die grüne Erde zu gehen, den Frieden und die Schönheit zu kosten, die genau jetzt zur Verfügung stehen. Frieden ist überall um uns herum … Haben wir erst einmal gelernt, mit diesem Frieden in Berührung zu kommen, werden wir geheilt und gewandelt. Es ist keine Sache des Glaubens; es ist eine Sache der Übung.«14 Die Traditionen von Mystiker_innen aus allen Religionen, von jüdischen Kabbalisten, muslimischen Sufis, christlichen Mystiker_innen bieten einen reichen Schatz an Einsichten und Methoden, sich aus der Alltags-Zeit mit ihren Einbindungen in die Zwänge von Erfolg, Macht­ sicherung, Gelderwerb und Selbstdurchsetzung zu befreien hin zur Wahrnehmung des Augenblicks, der gefüllten Zeit, in der ich der Lebendigkeit und Zärtlichkeit des Lebens innewerden kann.15 13 A. a. O., 20 ff. Mit dem evolutionstheoretisch interessierten Biologen Rupert Sheldrake ist zudem über die religiöse Lebenspraxis hinaus zu lernen, dass die Entstehung und Vererbung von biologischen Formen als Ergebnis kumulativer, sich immer wiederholender und aufbauender morphologischer Felder zu verstehen ist. Vgl. Rupert Sheldrake, Das Gedächtnis der Natur. Das Geheimnis der Entstehung der Formen in der Natur. Frankfurt a. M. 1990. 14 Thich Nhat Hanh, Das Glück einen Baum zu umarmen. 7.Aufl. 1997, 7 f. 15 Vgl. dazu auch: Dorothee Sölle, Mystik und Widerstand. Du stilles Geschrei. Hamburg 1997.

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10.2.5 Spiritualität ist nicht nur »geistig«, sondern immer auch leiblich Auch diese Einsicht und Lebenspraxis teilen die verschiedenen Religionen miteinander. Eine besondere Konzentration liegt hier auf dem Atmen. Wie im körperlichen Ausatmen und Einatmen schädliche Stoffe entsorgt und heilsame Lebensenergien dem Leib zugeführt werden, so geschieht dies mit besonderer Konzentration auch in leiblicher spiritueller Übungspraxis. In lutherisch-christlicher Tradition soll der Mensch täglich seinen »alten Adam ersäufen«, soll wie beim Ausatmen und Einatmen von seiner beziehungsunfähigen Selbstbezogenheit freiwerden  – für die lebendige Beziehung zu Gott, zu den anderen Menschen und sich selbst. Ähnlich wird in der christlich-orthodoxen Tradition des Herzensgebets jeder Atemzug zum Gebet, in dem der / die Betende von zerstörerischen Mächten und Einbindungen frei wird und sich der heilsamen Lebensmacht Gottes zuwendet. Beispiel Thich Nhat Hanh empfiehlt als Übung für die Schulung der Achtsamkeit diese Atemübung: Einatmend weiß ich, dass ich einatme Ausatmend weiß ich, dass ich ausatme. Ein / aus. Einatmend sehe ich mich selbst als Blume. Ausatmend fühle ich mich frisch. Blume / frisch. Einatmend sehe ich mich selbst als weiten Raum Ausatmend fühle ich mich frei. Raum / frei. »Atmen ist das beste Mittel, um Unglücklichsein, Aufregung, Furcht und Ärger Einhalt zu gebieten.«16 16 Thich Nhat Hanh, Das Glück einen Baum zu umarmen, a. a. O., 19 ff.

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10.2.6 Beten Beten ist in allen Religionen die zentrale spirituelle Übungspraxis, um den Kontakt mit Gott, mit dem Grund und Geheimnis, mit der heilsamen Energie des Lebens zu leben. Aus christlicher Perspektive schlägt Fulbert Steffensky vor: »Beten und Meditieren sind kein Nachdenken. Das sind Stellen hoher Passivität. Man sieht die Bilder eines Psalm oder eines Bibelverses und lässt sie behutsam bei sich verweilen. Meditieren und Beten heißt frei werden vom Jagen, Beabsichtigen und Fassen. Man will nichts außer kommen lassen, was kommen will (…). Fange bei deinem Versuch nicht irgendwie an, sondern baue dir eine kleine, sich wiederholende Liturgie. Beginne z. B. mit einer Formel (›Herr, öffne meine Lippen‹), mit einer Geste (der Bekreuzigung der Lippen), lass einen oder mehrere Psalmen folgen! Lies einen Bibelabschnitt! Halte eine stille Zeit ein! Schließe mit dem Vater Unser oder einer Schlussformel. Psalmen und Lesungen sollen vor deiner Meditation feststehen.«17

Auch hier kann an eine biblische Spur in einer Weisung Jesu erinnert werden. Mt 6,6: »Wenn du betest, geh in dein Kämmerlein …«: Es geht beim Beten niemals darum, vor anderen gut dazustehen, niemals darum, sichtbar und kontrollierbar religiöse Normen zu erfüllen. Spirituell lebendige Menschen beten für sich selbst, authentisch ernsthaft, medial offen für Gottes Geist, der ihnen begegnen will. Sie beten nicht, um vor anderen zu bestehen. »Jesus ruft zu einer authentischen Frömmigkeit auf. Er bestärkt uns geradezu bei dieser Suche nach eigener echter Spiritualität!«18 Aber wir Wir sind zugleich auf Gemeinschaft angeauf eine gemeinsame Sprache, um sind zugleich auf Gemeinschaft angewiesen, wiesen, uns zu verständigen; dazu können wir auf auf eine gemeinsame Sprache, um uns zu ver- die reichhaltigen Schätze der religiösen ständigen; dazu können wir auf die reichhalti- Traditionen zurückgreifen. gen Schätze der religiösen Traditionen zurückgreifen.

17 Fulbert Steffensky, Schwarzbrot-Spiritualität, a. a. O., 20 ff. 18 Gerhard Borné, Lass Dich berühren. Spirituelle Betrachtungen. Darmstadt 2010, 185.

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10.2.7 Erzählen Von der biblischen Erzähltradition her wird erfahrbar, dass Spiritualität nicht »Beheimatung« in einem Eigenen meint, das besser wäre als andere Weisen, vom Grund und Geheimnis des Lebens zu erzählen, sondern Begegnung mit Gott als der unserem Leben gegenüber heilsam anderen, begründenden und tragenden Lebensmacht. Was der Baseler Praktische Theologe Albrecht Grözinger für die Wahrnehmung der biblischen Erzähltradition anregt19, gilt in der gegenwärtigen modernen Gesellschaft in ähnlicher Weise auch für die Erzähltraditionen der anderen Religionen. »Die Individualisierung der Lebenswelten legt dem einzelnen Menschen ein immer größeres Maß an Interpretation- und Integrationsleistungen auf. Das heißt: das eigene Leben muss Tag für Tag ein Stück weit ›erfunden‹ werden, wobei die Grammatik, um dieses Leben lesen und buchstabieren zu können, gleich mit erfunden werden muss. Für diese Erfindung bedarf es jedoch eines Reservoirs an Geschichten, mittels derer die Menschen ihrer selbst ansichtig werden können (…) Dem geschichtenbedürftigen Menschen sind die Groß-Erzählungen verloren gegangen. Der geschichtenbedürftige Mensch (…) muss sich auf die Suche begeben nach neuen tragfähigen Geschichten. Exakt an dieser Stelle stehen Theologie und kirchliche Praxis vor einer neuen Aufgabe. Nicht mehr als Vertreter einer Groß-Erzählung (…), wohl aber als ›Platzhalter‹ des Geschichtenbestandes der biblischen Überlieferung und der Erfahrungsgeschichte des Glaubens.«

10.2.7.1 In Metaphern und Symbolen sprechen und gestalten Die Sprache der Spiritualität ist keine technisch-instrumentelle Sprache, mit der ich in die Wirklichkeit interessegelenkt eingreifen kann. Die Sprache der Spiritualität ist bildlich. Sie ist poetisch. Sie weist über sich 19 Albrecht Grözinger, Das Amt der Erinnerung. Überlegungen zum künftigen Profil des Berufs der Pfarrerinnen und Pfarrer. In: Ders., Ist die Kirche noch zu retten? Anstiftungen für das Christentum in postmoderner Gesellschaft. Gütersloh 1998.

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hinaus. Sie verwendet Metaphern und Symbole, um sich einer Wirklichkeit zu öffnen, die durch eine instrumentelle Sprache nicht zugänglich wäre.20 Was ist ein Symbol? Paul Tillich hat in Was ist ein Symbol? Paul Tillich hat in berühmten Text »Das religiöse einem berühmten Text »Das religiöse Sym- einem Symbol« (1928) diese Merkmale von Symbol« (1928)21 diese Merkmale von Symbolen bolen angesprochen: Uneigentlichkeit angesprochen: Uneigentlichkeit (das Symbol (das Symbol meint nicht sich selbst, sondern weist über sich auf ein Symboli­siertes meint nicht sich selbst, sondern weist über sich hinaus); Anschaulichkeit (im Symbol wird auf ein Symboli­siertes hinaus22); Anschaulich- etwas Unanschauliches anschau­lich, hier wird etwas Ungegenständ­ liches gegenkeit (im Symbol wird etwas Unanschauliches ständlich); Selbstmächtigkeit (hier liegt anschau­lich, hier wird etwas Ungegenständ­ zugleich die Qualität, die das »Symbol« vom Zeichen« unter­ scheidet: Ein Symliches gegenständlich); Selbstmächtigkeit (hier bol hat, im Gegensatz zum Zeichen, »eine liegt zugleich die Qualität, die das »Symbol« ihm selbst innewoh­nende Macht«); und Anerkanntheit (ein Symbol hat seinen vom Zeichen« unter­scheidet: Ein Symbol hat, sozialen Ort, hat Bedeutung in einer speim Gegensatz zum Zeichen, »eine ihm selbst zifischen so­zialen Gemeinschaft; umgekehrt kann ein Symbol »sterben«, wenn es innewohnende Macht«23); und Anerkanntheit diese Anerkanntheit einbüßt). (ein Symbol hat seinen sozialen Ort, hat Bedeutung in einer spezifischen so­zialen Gemeinschaft; umgekehrt kann ein Symbol »sterben«, wenn es diese Anerkanntheit einbüßt). Das Symbol weist über sich selbst hinaus auf das Unbedingte. Karolin Küpper-Popp, die über die Symbole und Rituale in der Hospizarbeit nachdenkt24, nennt im Weiterdenken Tillichs diese Kennzeichen:­ Symbole –– stiften Gemeinschaft, –– verbinden das Sichtbare und das Unsichtbare, –– sind vieldeutig und geheimnisvoll. Symbole tragen in sich, was sie versinnbildlichen, sie verdichten die Wirklichkeit, die sie offenbaren, vermitteln Sinn durch das Ansprechen 20 Vgl. Paul Ricoeur, Das Symbol gibt zu denken. In: Ders., Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II (1960). 2. Aufl. Freibung und München 1988, 395–406. 21 Paul Tillich, Das religiöse Symbol, 1928, zit. nach: GW Bd.5, 196 ff. 22 Im Unterschied zu nichtreligiösen Symbolen, die im Allgemeinen auf etwas Bedingtes verweisen, verweisen die religiösen Symbole auf das Unbedingte. Vgl. a. a. O. 197. 23 A. a. O., 196. 24 Karolin Küpper-Popp, Menschen brauchen Symbole und Rituale. In: Dies. und Ida Lamp (Hg.), Rituale und Symbole in der Hospizarbeit. Gütersloh 2010, 14 ff.

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der Sinne. Es ist deutlich: Nicht nur Worte und Sätze, auch Gesten, gespielte Szenen, inszenierte Dinge und Gegenstände u. a. m. können in diesem Sinne zu Symbolen werden.

10.2.7.2 Rituale wahrnehmen und inszenieren Man kann Rituale verstehen als »Symbole in Aktion«.25 Man könnte sich den Zusammenhang zwischen beidem auch so deutlich machen: Symbole sind Rituale im Raum, Rituale dagegen Symbole in der Zeit. Dies gilt aber nur für besondere, nämlich für religiöse Rituale. Es gibt auch zahllose alltägliche Rituale ohne oder mit nur geringem Symbolbezug: dies sind wiederholte stabile Handlungssequenzen von Einzelnen oder in Beziehungen im sozialen Raum. Alltagsrituale können völlig inhaltsarm und lapidar sein: die morgendliche Sequenz von Aufstehen, Duschen, Fönen, Zähneputzen, Anziehen beispielsweise läuft in der Regel in immer wiederkehrenden Bewegungsabläufen und Zeitmustern ab. Oder: Bei Begrüßungen auf dem Schulflur werden in der Regel sparsame Gesten und Wortwechsel getauscht; wer auf die Frage »Na, wie isses?« mit einer langen Erzählung antwortete, würde dieses Ritual gerade sprengen. In ihrer Stabilität, Wiederkehr und Voraussehbarkeit vermitteln Alltagsrituale Verlässlichkeit in Selbstverhältnissen von Einzelnen ebenso wie in zwischenmenschlichen Beziehungen. Religiöse Rituale, in denen Erzählungen aus einer spezifischen Religionstradition und die Inszenierung von Symbolen im Mittelpunkt stehen, werden vor allem nötig in lebensgeschichtlichen Übergangssituationen und Krisen, beispielsweise zu Beginn einer neuen Beziehung, in der Trennung von geliebten Menschen oder Aktivitäten, im Verlassen einer bisherigen Alterskohorte, zu Beginn eines neuen beruflichen Lebensabschnitts, im Übergang von der beruflichen Lebensphase zu Erwerbslosigkeit oder Rente und vieles mehr. Für manche dieser Übergangskrisen bieten christliche Kirchen und in ihrer Weise auch die anderen Religionsgemeinschaften »Passagerituale«

25 A. a. O., 20.

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an, z. B. einen Gottesdienst anlässlich einer Eheschließung; bei anderen Übergängen, wie z. B. einer Trennung / Scheidung, wären solche Angebote ähnlich nötig, fehlen aber weithin. Übergangsrituale sind in der Regel dreiphasig: Abgrenzung und Trennung vom alten sozialen Zustand, der jetzt verlassen wird; »liminale« Phase (=Schwellensituation); Angliederung an einen neuen sozialen Zustand.26 Viele Rituale, und zwar insbesondere Passagerituale, beinhalten einen ausdrücklichen Bezug auf die Erzählungen und Symbole einer spezifischen Religionstradition und gewinnen durch ihre Inszenierung hier und jetzt ihre Wirkung, Bedeutung und Macht.

10.3

Spirituelle Elemente in der Praxis der Schulseelsorge

Spiritualität in der Schulseelsorge arbeitet im Raum dieser vielfältigen Möglichkeiten und Differenzierungen. Sie wird sie in der besonderen Situation von Schule, die von Schulpflicht und weltanschaulicher Neutralität geprägt ist, allerdings elementarisieren.

10.3.1 Elementarisierung Hierfür ist es sinnvoll, Formen von Spiritualität danach zu ordnen, ob sie eher »kontemplative« Aspekte der Lebensführung oder »aktive« Aspekte befördern. Folgende Liste kann die Lebendigkeit, den Wert und die Gestalt von Spiritualität in der Schulseelsorge deutlich machen.

26 Vgl. Arnold van Gennep, Übergangsriten. Frankfurt / New York 1986 (franz. Original 1909); sowie Victor Turner, Das Liminale und das Liminoide in Spiel, ›Fluss‹ und Ritual. Ein Essay zur vergleichenden Symbologie. In: Ders., Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt / New York 1989, 28 ff.

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10.3.1.1 Kontemplative Aspekte –– innehalten, zur Besinnung kommen, sich sammeln; –– in Verbindung kommen mit sich selbst, mit der Welt und Gott, dem Göttlichen, dem Transzendenten, dem, was über unseren Alltag hinaus weist; kurz: in Kontakt mit dem Wesentlichen kommen; –– sich inspirieren lassen, sich öffnen für das Wesentliche; –– sich als angenommen erfahren und als verbunden mit den anderen, mit Gott und der Welt; –– Stärkung erfahren; –– der Seele ein Zuhause geben; –– der geistlichen Dimension des Lebens nachspüren; –– den göttlichen Funken in sich wahrnehmen und ihm Raum geben; –– Kraft tanken für ein Leben in Gemeinschaft und den verantwortungsvollen Umgang mit sich, den Mitmenschen und der Welt; –– Verantwortung übernehmen; –– dem nachspüren, was uns trägt im Leben; –– einen Ort des Dankens, Lobens, Bittens und Klagens finden, aufsuchen und / oder gestalten; –– der Sehnsucht nach dem gelobten Land Raum geben; –– der Hoffnung auf gelingendes Leben einen Ort geben, wo sie wachsen und gedeihen kann; »Wer nicht von Sinnen werden möchte, muss zur Besinnung kommen«.27 Sich Einüben in Spiritualität bedeutet immer auch: Entschleunigung, Unterbrechung des Alltags!

10.3.1.2 Aktive Aspekte –– leben aus dem Geist (Paulus, Luther) –– Achtsamkeit einüben –– Liebesfähigkeit üben 27 Reiner Andreas Neuschäfer, Das brennt mir auf der Seele. Anregungen für eine seelsorgliche Schulkultur. Göttingen 2007.

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–– Mut zum Guten entwickeln –– das Leben ausrichten an Gottes Verheißungen und teilnehmen an seinem Engagement für eine bewohnbare Erde und gelingendes Zusammenleben.28

10.3.2 Konkretisierung Nun bleibt die Frage, welche Rituale und welche Formen von Spiritualität sich für den Lebensraum Schule eignen. Da dieser zu weltanschaulicher Neutralität verpflichtet ist, muss die Teilnahme an religiösen Angeboten freiwillig sein. Wir möchten unterscheiden zwischen religiösen Formen im engeren Sinne (Andachten, Gottesdienste, Gebet, Trauerfeier bei Tod und Trauer), religiösen Formen im weiteren Sinne (Stilleübungen, Angebote zum Innehalten) und anderen Ritualen, die auch zur schulseelsorglichen Kultur beitragen.

10.3.2.1 Religiöse Formen im engeren Sinn Andachten und Gottesdienste haben in der Schule in der Regel einen konkreten Anlass. Sie werden zu Beginn oder Abschluss des Schuljahres gefeiert, in der Advents- oder vorösterlichen Passionszeit, zu Erntedank oder Weihnachten, im Trauerfall oder anlässlich einer größeren Katastrophe (vgl. z. B. das Atomunglück von Fukushima). Viele dieser Angebote orientieren sich bislang fast ausschließlich an dem christlichen Festkalender und sind daher zwar in der Regel offen für Schüler_innen und Lehrer_innen aller Religionen, aber nicht interreligiös gestaltet. An einigen Schulen wird allerdings versucht, während der Fastenzeit auch interreligiöse Andachten anzubieten, da das Fasten die Religionen miteinander verbindet. In der Regel finden diese jedoch nicht während des muslimischen Fastenmonats Ramadan statt, sondern in der voröster28 Vgl. Klara Butting: Hier bin ich. Unterwegs zu einer biblischen Spiritualität. Uelzen 2011, 7 f.

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lichen Zeit. Hier wäre es ein gutes Zeichen, – besonders an Schulen mit vielen muslimischen Schüler_innen (aber nicht nur da) – im jährlichen oder zweijährlichen Wechsel entsprechende Angebote auch während des Ramadan vorzuhalten. Gegenwärtig wird an verschiedenen gesellschaftlichen Orten des interreligiösen Dialogs engagiert debattiert, ob es Möglichkeiten und angemessene Formen eines interreligiösen Gebetes gibt – oder ob es für die Deutlichkeit und zugleich die Gastfreundschaft einer Religion ein besserer Weg ist, Angehörige der anderen Religion zu einem religiös spezifischen Gottesdienst einzuladen, also beispielsweise Menschen muslimischen Glaubens zur Teilnahme an einem christlichen Gottesdienst. In der Schule stellt sich diese Frage beispielsweise bei Gottesdiensten bzw. Gebeten zum Schuljahresanfang oder -ende. In der Arbeit der Schulseelsorge gibt es für beide Möglichkeiten gute Gründe. Die Gestaltung eines rein christlichen Gottesdienstes oder eines muslimischen Gebetes kann leichter in die jeweils vertrauten Formen und Traditionen eingebunden werden29 und lädt gerade durch die Deutlichkeit des jeweils Eigenen dazu ein, dass sich Angehörige der anderen Religion bei einer Teilnahme nicht vereinnahmt fühlen müssen. Dabei muss beachtet werden, dass in den gewählten Texten und liturgischen Elementen z. B. eines christlichen Gottesdienstes nicht ungewollt Traditionen und Sprach­formen einfließen, die die Anderen ausgrenzen und verletzen können.30 Für die Gestaltung eines interreligiösen Gebetes an der Schule kann sprechen, dass die Gottesdienste bzw. das Gebet der Religionen, deren zugehörige Schüler_innen an dieser besonderen Schule in einer Minderheitenposition sind, von den Angehörigen der Mehrheitsreligion zu wenig wahrgenommen werden könnten oder gar nicht erst stattfinden aufgrund der geringen Anzahl der zu vermutenden Teilnehmenden. Ein 29 Dass dies pragmatisch der weniger aufwändige und zeitintensive Weg ist, ist angesichts der Belastungen des Schulalltages keineswegs unwichtig. 30 Vgl. in diesem Zusammenhang Albrecht Grözingers Forderung nach einem »gastfreundlichen« Gottesdienst und einer gastfreundlichen Predigt. Vgl. ders., Toleranz und Leidenschaft. Über das Predigen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gütersloh 2004; für die Gestaltung von Gottesdiensten in der Schule s. auch: Bernd Schröder (Hg.), Religion im Schulleben. Christliche Präsenz nicht allein im Religionsunterricht. Neukirchen 2006, 131ff; für die Gestaltung von christlichen Andachten s. auch: Katharina Gralla, Andachten mit Kindern und Jugendlichen in Schule und Gemeinde. Göttingen 2011.

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gemeinsames Gebet kann dann wirklich zu einer Einladung werden, dass sich alle Schüler_innen und Lehrer_innen einer Schule versammeln, um gemeinsam die »Passage« des Schuljahrbeginns oder -abschlusses zu begehen und Hoffnungen wie Ängste, Gelungenes wie Gescheitertes vor Gott zu bringen und im Gebet so oder so gut sein zu lassen.

10.3.2.2 Religiöse Formen im weiteren Sinn Religiöse Formen im weiteren Sinne haben diese Schwierigkeiten der Alternative einer spezifischen oder gemeinsamen Gestaltung zwischen den verschiedenen Religionen nicht. Wir möchten einige Formen vorstellen: Stilleübungen für Schüler_innen: Einige Schulseelsorger_innen bieten in der Pause oder nach der Schule einen Raum der Stille an; dies kann unterschiedlich gestaltet sein. –– Manche geben einen kurzen geistigen Impuls – im Sinne eines Koans, Weisheitsspruchs, Bibel- oder Koranverses – und leiten kurz zu einer Atemübung oder Meditation an. –– Manche gestalten einfach einen Raum mit Matten bzw. Decken zum Hinlegen, Kerzen bzw. warmem Licht, leiser Musik, Bilderbüchern oder meditativen Texten (je nach Alter) und etwas zum Malen (z. B. Mandalas). –– Andere wiederum halten lediglich einen Raum mit warmem Teppichboden und gestalteter Mitte bereit. Wo dies angeboten wird, ist in der Regel der Zuspruch groß und auch die Rückmeldung der Lehrkräfte positiv. Manche Schulen sind zudem dazu übergegangen, im Rahmen der Nachmittagsangebote oder des Sports oder als eigenes Unterrichtsfach Yoga für Kinder anzubieten.31 Stille Pausen im Lehrerzimmer: In einer abgetrennten Ecke des Lehrerzimmers oder sogar einem kleinen eigenen Raum wird ein Tisch gestaltet – vielleicht mit gemütlichen Stühlen oder Sesseln daneben –, der zum Verweilen und Innehalten einlädt: mit einem Sinnspruch und / oder 31 So. z. B. die Grundschule Hoheluft in Hamburg. Vgl.: Yoga an der Grundschule Hoheluft (rtl regional).

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einem Symbol, z. B. einer Kugel, die unendlich langsam von einem Ende zum anderen Ende des Tisches rollt, wenn sie kurz angestoßen wird. Ähnliches halten Schulseelsorger_innen z. T. auch in der Adventszeit vor, dann mit adventlichem Schmuck, einem Nasch-Teller und einer adventlich-besinnlichen Geschichte o. ä.32 Die Erfahrungen unserer Weiterbildungsteilnehmenden mit solchen Angeboten sind sehr gut. Auch wenn ihnen besonders zu Beginn oft Skepsis entgegengebracht wird, sind am Ende die Rückmeldungen in der Regel überwältigend positiv. Lehrer-Gesundheitstage: Diese Angebote finden sich immer häufiger; sie können im Sinne spiritueller Erfahrungsmöglichkeit von der Schulseelsorger_in gestaltet werden (im nahe liegenden Gemeindehaus oder einem angenehmen Tagungshausambiente); sie werden an manchen Schulen auch von den Sportlehrer_innen vorbereitet, die körperliche Betätigungsfelder verbinden mit Wahrnehmungsübungen, Yoga etc.

10.3.3 Weitere Elemente Zu alledem möchten wir auch vorschlagen, sich als Schulseelsorger_innen dafür einzusetzen, dass Rituale, wie Geburtstagkarten, Gruß­karten an erkrankte Kolleg_innen und das begleitende Wahrnehmen von krisenhaften Übergängen (Tod, Trauer, Verluste, Abschied), zum selbstverständlichen Bestandteil einer schulischen Wertschätzungskultur werden. Und auch an Übergängen, die nicht krisenhaft sind, haben Rituale Sinn: z. B. zu Beginn oder am Ende einer Schulstunde33, einer Schulwoche34, eines Schuljahres. Rituale entlasten, geben Struktur und Halt und haben eine sozial-integrative Funktion.35

32 Anregungen finden sich immer wieder neu im Adventskalender des »Andere Zeiten« e. V. 33 Vgl. Gabriele Bußmann / Marietheres Eggersmann-Büning, Kreative Unterbrechung II. Praktische Anregungen und Zumutungen für die Kunst, die Gunst des Augenblicks zu nutzen. Münster 2005 oder Ludwig Rendle, Stille-Übungen als Rituale zum Stundenbeginn. In: Ders.(Hg.), Ganzheitliche Methoden im Religionsunterricht. München 3. Aufl. 2010, 37–49. 34 Das kann z. B. ein Austausch im Stuhlkreis sein, der sich besonders bei Schüler_innen aus belasteten Lebenssituationen als hilfreich bewährt hat. 35 Vgl. Christiane Bundschuh u. a., Rituale im Kreis des Lebens. Verstehen – gestalten – erleben. Ostfildern 2004, 40.

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Vitalität im Schulalltag

Schulseelsorgende sind häufig stark beansprucht. Neben ihrer gewohnten Tätigkeit im Unterricht oder in der Gemeinde werden sie herausgefordert, oft auch spontan auf Notlagen und aktuelle Anfragen, die an sie herangetragen werden, zu reagieren. Daher ist es unerlässlich, die eigene Vitalität und Lebensenergie zu stärken bzw. zu bewahren. Denn wenn wir selber ausgepowert und kraftlos sind, können wir anderen keine Stütze und kein Trost sein. Bernhard von Clairvaux hat dies sehr schön und bildhaft zum Ausdruck gebracht: »Wenn du vernünftig bist, erweise dich als »Wenn du vernünftig bist, erweise dich Schale und nicht als Kanal, der fast Schale und nicht als Kanal, der fast gleichzeitig als gleichzeitig empfängt und weitergibt, wähempfängt und weitergibt, während jene war- rend jene wartet, bis sie gefüllt ist. Auf tet, bis sie gefüllt ist. Auf diese Weise gibt sie diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter. Lerne das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Scha- auch du, nur aus der Fülle auszugießen, den weiter. Lerne auch du, nur aus der Fülle und habe nicht den Wunsch, freigiebiger zu sein als Gott. Die Schale ahmt die auszugießen, und habe nicht den Wunsch, Quelle nach. Erst wenn sie mit Wasser gefreigiebiger zu sein als Gott. Die Schale ahmt sättigt ist, strömt sie zum Fluss, wird sie zur See. Du tue das Gleiche! Zuerst anfüldie Quelle nach. Erst wenn sie mit Wasser ge- len und dann ausgießen. Die gütige und sättigt ist, strömt sie zum Fluss, wird sie zur kluge Liebe ist gewohnt überzuströmen, nicht auszuströmen. Ich möchte nicht See. Du tue das Gleiche! Zuerst anfüllen und reich werden, wenn du dabei leer wirst. dann ausgießen. Die gütige und kluge Liebe Wenn du nämlich mit dir selber schlecht umgehst, wem bist du dann gut? Wenn du ist gewohnt überzuströmen, nicht auszuströ- kannst, hilf mir aus deiner Fülle; wenn men. Ich möchte nicht reich werden, wenn du nicht, schone dich.« dabei leer wirst. Wenn du nämlich mit dir selber schlecht umgehst, wem bist du dann gut? Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle; wenn nicht, schone dich.«1 Darin klingt die Notwendigkeit an, mit den eigenen Ressourcen zu haushalten, für die eigene Resilienz zu sorgen. Es ist eine Ermutigung zu 1 Bernhard von Clairvaux, zitiert nach: Der andere Advent 2012/13, hg. von Andere Zeiten e. V. Hamburg 2012.

Vitalität im Schulalltag

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eigener Spiritualität. Eine Ermutigung, sich erfüllen zu lassen, liebevoller mit sich selber umzugehen und dadurch auch dem Gegenüber liebevoller begegnen zu können. Doch hinter dem Stichwort »Vitalität im Schulalltag« verbirgt sich für uns nicht nur die Sorge um die eigene Vitalität, sondern auch um die Vitalität des Kollegiums und der Schüler_innen. Daher werden wir auf folgende Aspekte ausführlicher eingehen: Stressabbau durch Lebensfreude; Burnout bei Lehrer_innen; Resilienzfaktoren; Übungen zur Stärkung der Vitalität und Leben als Fragment.

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Stressabbau durch Lebensfreude2

Wie wir mit den Belastungen des Arbeitsalltags fertig werden, hängt nicht nur von der Dauer und Intensität der Belastungen ab, sondern auch von unseren Ressourcen. Ingrid Lange-Schmid und Rudolf Kretschmann nennen die Wahrnehmung von Lebensfreuden als eine der wichtigsten Ressourcen und regen zur Selbsterkundung an: »Wie können Sie es einrichten, –– den Tag mit dem guten Gefühl zu beenden, trotz vieler Arbeit auch Schönes gestaltet zu haben? –– vernachlässigte vormals befriedigende Kontakte zu guten Freunden, Kollegen, Familienangehörigen wieder zu aktivieren? –– und auch: mehrmals hintereinander ausgiebig auszuschlafen?«3 Zu den grundlegenden Verfahren der Stressreduzierung gehört es, sich Zeit zu nehmen für die schönen Dinge des Lebens und diese als solche überhaupt erst wahrzunehmen. Zunächst ist also zu ergründen, was für mich persönlich zur Steigerung der Lebensfreude beiträgt: Kino? Treffen mit Freund_innen? Sport? Meditation? Cappuccino in meinem Lieblingscafé? Gutes Essen? Sinnliche Erregung? Spaziergang? Alsdann muss ich mir überlegen, wie 2 Ingrid Lange-Schmid / Rudolf Kretschmann, Stressabbau durch Lebensfreude. In: Rudolf Kretschmann (Hg.), Stressmanagement für Lehrerinnen und Lehrer. Ein Trainingsbuch mit Kopiervorlagen. Weinheim und Basel 2. Aufl. 2001, 107–110. 3 A. a. O., 107.

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ich die freudvollen Aspekte achtsamer wür- Zunächst ist also zu ergründen, was für persönlich zur Steigerung der Ledigen kann. Im Dankgebet? Als Tagebuch- mich bensfreude beiträgt: Kino? Treffen mit notiz? Als abendliches Erzählritual? Wie ge- Freund_innen? Sport? Meditation? Caplingt es mir, die kleinen Geschenke des Lebens puccino in meinem Lieblingscafé? Gutes Essen? Sinnliche Erregung? Spaziergang? zu würdigen? Alsdann muss ich mir überlegen, wie ich Die buddhistische Meditationslehrerin Syl- die freudvollen Aspekte achtsamer würdigen kann. Im Dankgebet? Als Tagebuchvia Wetzel macht darauf aufmerksam, dass notiz? Als abendliches Erzählritual? Wie die Ursache der Freude nicht in dem liegt, was gelingt es mir, die kleinen Geschenke des Lebens zu würdigen? uns gefällt: »Die tiefere Ursache der Freude ist nicht in der Tasse Kaffee oder dem Glas grünen Tee zu finden. Sie liegt nicht in dem roten Klatschmohn oder dem Klang der Musik, nicht in den liebevoll schauenden Augen oder der Hand, die uns berührt. Wenn wir die äußeren Anlässe der Freude zu sehr betonen, dann vergessen wir, dass die wahre Ursache der Freude in uns selbst zu finden ist – in unserer Fähigkeit, wach zu sein, wahrzunehmen und Freude zu empfinden. Freude entsteht, wenn wir für einen Augen­blick die Aufmerksamkeit ganz auf das richten, was geschieht. Freude ist Gegenwärtigkeit.«4 Die Fähigkeit, Freude wahrnehmen zu können, muss trainiert werden. Die neuere Hirnforschung hat herausgefunden, dass sich das menschliche Gehirn bis ins hohe Alter hinein nutzungsabhängig verändert. Der Neurobiologe Gerald Hüther hält fest: »Diejenigen Verschaltungen, die wir besonders häufig und besonders erfolgreich aktivieren, um uns in der Welt zurechtzufinden, werden immer stärker ausgebaut, und diejenigen, die wir dazu nicht oder nur sehr selten einsetzen, bleiben entweder so, wie sie sind, oder beginnen allmählich zu verkümmern.«5 Viele Menschen haben in ihrer biografischen Geschichte eher gelernt, sich auf das zu fokussieren, was nicht gelingt; diese Wahrnehmungs­ bahnen sind ausgebaute Straßen in unserem Gehirn, die schneller und leichter wieder begangen werden als neue, die eher Trampelpfaden gleichen. Das Wahrnehmen positiver Emotionen muss dagegen oft regelrecht eingeübt und regelmäßig trainiert werden, damit diese Fähigkeit auch unter Stress zur Verfügung steht. 4 Sylvia Wetzel, Leichter leben. Praktische Meditationen zum Umgang mit Gefühlen. Berlin 2002, 151. 5 Gerald Hüther, Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Göttingen, 2.  Aufl. 2001, 85.

Vitalität im Schulalltag

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Dieses Wissen nutzen wir in der Schulseelsorge zur Stärkung der eigenen Vitalität, aber auch um Ideen zu entwickeln, die Vitalität des Kolle­ giums und der Schüler_innen zu fördern.

11.2

Stay wild statt burn out6

Um als Schulseelsorger_in sinnvolle Angebote für die Vitalität der Kolleg_innen machen zu können, brauche ich Wissen um die Vitalitäts­ risiken. Viele Lehrer_innen sind durch ihre engagierte Arbeit gefährdet, erschöpft und ausgebrannt zu werden. Oft laufen gerade Menschen in sozialen Berufen Gefahr, ein Burnout zu erleiden. Sie setzen sich bis an ihre Kraftgrenzen ein für Menschen, die ihnen anvertraut sind. Häufig ist die Wirksamkeit ihrer Arbeit nicht unmittelbar erkennbar. Kommunikativ sind sie so übersättigt, dass für Kontaktpflege im privaten Freizeitbereich oft die Lust und Bereitschaft fehlt. Folgende Belastungsfaktoren werden von Lehrer_innen als besonders gravierend benannt7: das Gefühl mangelnder Wertschätzung; schwierige Klassensituation und das Gefühl, damit allein Folgende Belastungsfaktoren werden von gelassen zu sein; mangelnde Kompetenz von Lehrer_innen als besonders gravierend Führungspersonen; angespanntes Klima im benannt: das Gefühl mangelnder Wertschätzung; schwierige Klassensituation Kollegium; das Fehlen von Entlastungsstunund das Gefühl, damit allein gelassen den; keine Erholungsmöglichkeit in den Pauzu sein; mangelnde Kompetenz von Führungspersonen; angespanntes Klima im sen; Konflikte mit einzelnen Schüler_innen Kollegium; das Fehlen von Entlastungs- oder Lehrer_innen; zu große Klassen; Gewalt stunden; keine Erholungsmöglichkeit in den Pausen; Konflikte mit einzelnen Schü­ an der Schule; Veränderungen im Schulsystem. ler_innen oder Lehrer_innen; zu große Es ist allerdings festzuhalten, dass die berufKlassen; Gewalt an der Schule; Verändelichen Stressfaktoren allein nicht zu einem Burrungen im Schulsystem. nout führen, sondern dass weitere Belastungen im privaten sozialen Umfeld und im Selbst hinzukommen.8 »Die Belastungen von Alltag und Beruf werden uns z. B. weniger anhaben können 6 So der Titel eines Buches, das vom Seelsorgeausschuss der VELKD erarbeitet worden ist: Susanne Breit-Keßler / Norbert Dennerlein (Hg.), Stay wild statt burn out. Leben im Gleichgewicht. Gütersloh 2009. 7 Vgl. Wolfgang Hagemann, Burnout bei Lehrern. Ursachen, Hilfen, Therapien. München 2009, 14 f. 8 Vgl. Hagemann, 22.

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–– bei einer guten körperlichen Verfassung, d. h. bei guter Gesundheit, –– wenn wir über ein unterstützendes soziales Umfeld verfügen, –– bei einer guten Fähigkeit, Arbeit und Regeneration angemessen auszubalancieren, –– bei einer optimistisch-realistischen Einstellung zum Leben, d. h. wenn wir es uns gestatten, Lebensfreude bewusst wahrzunehmen.«9 Bis zu einem Burnout ist es ein jahrelanger Weg. Viele Kennzeichen können schon frühzeitig wahrgenommen werden. Burnout ist eine Krankheit, die körperliche, psychische und soziale Aspekte hat. Es ist ein tiefgreifender Erschöpfungszustand, der einhergeht mit dem Verlust der Lebensfreude, der sozialen Kontaktfähigkeit und der körperlichen Belastbarkeit sowie der Verunsicherung des eigenen Selbstverständnisses – bis hin zur Desorientierung.10 Hinzu kommt die Angst, nicht anerkannt zu sein; negative Gefühle werden nicht beachtet und chronische Müdigkeit wird verdrängt.11 Wolfgang Hagemann, Leiter einer Klinik für Psychosomatik, Psychiatrie und Psychotherapie, benennt folgende körperliche Anzeichen von Burnout: Schwindel, Herzrhythmusstörungen, Hörsturz, Magenbeschwerden, Neurodermitis, vermehrtes Schwitzen, insbesondere nachts, erhöhte Infektanfälligkeit u. v. m.12 Auch das geistig-intellektuelle Vermögen wird beeinträchtigt: durch Konzentrationsstörungen, Entscheidungsunfähigkeit, Erinnerungsschwierigkeiten, Interesse- und Leistungsverlust.13 Emotional kann Burnout u. a. zu Folgendem führen: zu innerem Rückzug mit vermehrtem Misstrauen, Depression, verminderter Motivation, Verlust von Selbstvertrauen, Verlust von Lebensfreude und Kreativität, Gefühl der inneren Leere.14 Die eigene »Wahrnehmung, Interaktion und Kommunikation können gestört sein, Beziehungen werden nicht mehr als sicherer Ort erlebt. (…) Im Burnout fällt es dem Betroffenen schwer, seine eigene emotionale Befindlichkeit achtsam im Blick zu behalten und 9 Ingrid Lange-Schmid / Rudolf Kretschmann, 107. 10 Vgl. Hagemann, 51 f. 11 Ebd. 12 Vgl. a. a. O., 53. 13 Ebd. 14 A. a. O., 54.

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in Bezug zu seinem Handeln zu setzen.«15 Das kann zu völlig unangemessenen Reaktionen führen, z. B. zu einem tränenreichen Zusammenbruch in der Klasse oder zum Anschreien einer Kolleg_in. Falls ein_e Kolleg_in ein Burnout erleidet, ist dringend therapeutische Unterstützung angeraten. Die Chancen der Schulseelsorge liegen eher im präventiven Bereich; sie könnte Folgendes anbieten: –– Übungen zur Selbstwahrnehmung in einem eigens dafür gestalteten Raum; –– kollegiale Fallberatung zur Bearbeitung von Konflikten und anderen schwierigen Situationen; –– stille Pausen; –– Zeiten zum Innehalten; –– die Stimme erheben für das Gestalten von freudvollen Zeiten innerhalb und außerhalb der Schule; –– Sprachrohr sein für vitale Bedürfnisse des Kollegiums und der Schüler_innen; –– Mediation in Konflikten; –– spirituelle Angebote; –– Initiative ergreifen zur Gestaltung der Schule als Lebensraum, in dem gelingende Beziehungen einen hohen Stellenwert haben; –– Mitwirkung an Gesundheitstagen für Lehrer_innen (und ebensolchen für Schüler_innen); –– Förderung der Teamkultur; –– Übungen zum Stressmanagement16.

11.3 Resilienzfaktoren Resilienz bedeutet Widerstandskraft, die Fähigkeit eines Menschen, mit schwerwiegenden Belastungen umzugehen. Dies bezieht sich sowohl auf eine gesunde Entwicklung trotz vieler Risikofaktoren als auch auf die Be-

15 A. a. O., 56. 16 Viele hilfreiche Ideen sind zu finden in: Rudolf Kretschmann (Hg.), Stressmanagement für Lehrerinnen und Lehrer. Ein Trainingsbuch mit Kopiervorlagen. Weinheim und Basel 2. Aufl. 2001.

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ständigkeit von Kompetenz angesichts hoher Stressfaktoren als auch auf die Erholung von traumatischen Erlebnissen.17 Als Grundlage der Resilienzforschung kann die Langzeitstudie von Emmy Werner und Ruth Smith18 bezeichnet werden. Sie haben alle 698 Kinder des Geburtsjahrgangs 1955 der Kauai-Inseln (Hawaii) im Alter von 1, 2, 10, 18, 32 und 40 Jahren untersucht, um zu ergründen, welche Faktoren zu einer gelingenden und welche zu einer gefährdeten Entwicklung führen. Auch in Deutschland wurden inzwischen verschiedene Studien zur Erforschung von Resilienzfaktoren durchgeführt.19 Wir möchten an dieser Stelle nur einige der für uns relevanten und im Schulalltag zu berücksichtigenden Ergebnisse herausstellen. Dabei gilt unsere besondere Aufmerksamkeit den in großer Übereinstimmung ermittelten Schutzfaktoren.20 Im persönlichen Bereich sind das u. a.: –– Problemlösefähigkeiten, –– Überzeugung von der eigenen Selbstwirksamkeit, –– hohes Selbstwertgefühl, –– Empathie-, Kooperations- und Kontaktfähigkeit, –– Verantwortungsübernahme, –– schulisches Engagement, –– Glaube / Spiritualität, –– Planungskompetenz, –– Kreativität, –– körperliche Gesundheitsressourcen.21 Das bedeutet für die Schulseelsorge, dass wir – wenn wir zur gelingenden Entwicklung der uns anvertrauten Schüler_innen entscheidend bei17 Vgl. Corinna Wustmann, Resilienz. Widerstandskraft von Kindern in Tageseinrichtungen fördern. Weinheim, Basel 2004, 18 f. 18 Vgl. Emmy E. Werner / Ruth S.  Smith, Vulnerable but invincible: A longitudinal study of resilient children and youth. New York 1989 oder Emmy E. Werner, Entwicklung zwischen Risiko und Resilienz; in: Günther Opp / Michael Fingerle (Hg.), Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz. München 3. Aufl. 2008, 20–31. 19 Ein knapper Überblick findet sich bei: Friedrich Lösel / Doris Bender, Von generellen Schutzfaktoren zu spezifischen protektiven Prozessen: Konzeptuelle Grundlagen und Ergebnisse der Resilienzforschung; in: Günther Opp / Michael Fingerle (Hg.), Was Kinder stärkt, a. a. O., 57–78. 20 Eine umfassende Übersicht gibt Corinna Wustmann, a. a. O., 115 f. 21 Vgl. ebd.

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tragen möchten – Lehrkräfte dahingehend begleiten und qualifizieren müssen, dass sie den Schüler_innen den Erwerb der oben genannten Kompetenzen nicht nur ermöglichen, sondern sie auch dazu ermutigen. Schutzfaktoren im sozialen Bereich bzw. der Schule sind u. a.: –– »Klare, transparente und konsistente Regeln und Strukturen –– Wertschätzendes Klima –– (…) angemessener Leistungsstandard –– Positive Verstärkung der Leistungen und Anstrengungsbereitschaft des Kindes –– Positive Peer-Kontakte / positive Freundschaftsbeziehungen –– Förderung der Basiskompetenzen (Resilienzfaktoren [im persönlichen Bereich, Anm. der Verf.]) –– Zusammenarbeit mit dem Elternhaus und anderen sozialen Institutionen«22 –– Kompetente und fürsorgliche Erwachsene außerhalb der Familie, z. B. Lehrer_innen.

Das bedeutet für die Schulseelsorge, dass wir – wenn wir zur gelingenden Entwicklung der uns anvertrauten Schüler_innen entscheidend beitragen möchten  – Lehrkräfte dahingehend begleiten und qualifizieren müssen, dass sie den Schüler_innen den Erwerb der oben genannten Kompetenzen nicht nur ermöglichen, sondern sie auch dazu ermutigen.

Dies bedeutet für die Schulseelsorge, sich auch für Strukturen zu engagieren, die diese Schutzfaktoren fördern. Ein positives Schulklima und eine Schulkultur, die zum Gelingen konflikthafter Prozesse beiträgt, haben starke Auswirkungen auf das Wohlbefinden und die Lernleistung von Kindern und Jugendlichen.23 »Schulische Erfahrungen können selbstwertstützende, aber auch selbstwertschädigende Wirkungen haben (…) Es konnte gezeigt werden, dass

Dies bedeutet für die Schulseelsorge, sich auch für Strukturen zu engagieren, die diese Schutzfaktoren fördern. Ein positives Schulklima und eine Schulkultur, die zum Gelingen konflikthafter Prozesse beiträgt, haben starke Auswirkungen auf das Wohlbefinden und die Lernleistung von Kindern und Jugendlichen.

22 Ebd. 23 Vgl. Günther Opp, Schule – Chance oder Risiko? In: Ders. / Michael Fingerle (Hg.), Was Kinder stärkt, a. a. O., 227–244, 229 ff. Der Neurobiologe Gerald Hüther stellt heraus, dass jede Art von Verunsicherung, von Angst und Druck und die Erfahrung sozialer Ausgrenzung dazu beitragen, dass das Gehirn nichts Neues dazu lernen und verankern kann. Was Kinder und Jugendliche dagegen mehr als alles andere brauchen, um das Durcheinander im Kopf zu lösen, sind vertrauensvolle zugewandte und zuverlässige Beziehungen. Vgl. Gerald Hüther, Resilienz im Spiegel entwicklungsneurologischer Erkenntnisse; in: Günther Opp / Michael Fingerle (Hg.), Was Kinder stärkt, a. a. O., 45–56, 52.

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die Schulkultur Einfluss auf die mentale Gesundheit der Schüler hat und Entwicklungsrisiken (z. B. Rauschmittelkonsum, gewaltförmiges Ver­ halten) beeinflusst.«24 Die Qualität sozialer Beziehungen in der Schule ist von zentraler Bedeutung für die schulische Laufbahn; dies gilt besonders für Schüler_innen, die in belasteten Verhältnissen aufwachsen. Für diese »kann die Schule zu einer strukturierten Gegenwelt zu dem alltäglichen Chaos werden, das sie in ihren angestammten Lebenswelten erleben«25. Dabei spielen die Beziehungen zu den Lehrkräften und die zu den Gleichaltrigen gleichermaßen eine große Rolle. Schulseelsorge, die sowohl das Gedeihen Schulseelsorge, die sowohl das Gedeihen Einzelnen als auch die Prävention des Einzelnen als auch die Prävention von Ge- des von Gewalt und Rauschmittelkonsum im walt und Rauschmittelkonsum im Auge hat, Auge hat, macht es sich folglich zur Aufmacht es sich folglich zur Aufgabe, Kolleg_in- gabe, Kolleg_innen darin zu unterstüt­zen, positive Beziehungen zu ihren Klassen nen darin zu unterstützen, positive Beziehun- aufzubauen und an einer vertrauensvolgen zu ihren Klassen aufzubauen und an einer len Atmosphäre in den Klassen zu arbeiten – hin zu einer »caring community«. vertrauens­vollen Atmosphäre in den Klassen zu arbeiten – hin zu einer »caring community«. So könnte der in verschiedenen Studien belegten »Krise der Fürsorge« an unseren Schulen begegnet werden. Befragte Schüler_innen wünschen sich fürsorgliche, empathische, gerechte und fachkompetente Lehrkräfte. Auf der anderen Seite »kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Lehrerinnen und Lehrer nicht nur die Bedeutung von kognitiven Instruktionsprozessen tendenziell überschätzen, sondern gleich­ zeitig ihre potentiellen Möglichkeiten, als signifikante Andere das Leben ihrer Schülerinnen und Schüler positiv zu beeinflussen, systematisch unterschätzen«26. Zum Schluss verweisen wir noch einmal ausdrücklich auf die persönliche Ressource »Glaube / Spiritualität«. Emmy E. Werner schreibt dazu: »Eine religiöse Überzeugung ist ebenfalls ein Schutzfaktor im Leben von Risikokindern. Sie gibt den widerstandsfähigen Jungen und Mädchen Stabilität, das Gefühl, dass ihr Leben Sinn und Bedeutung hat und den Glauben, dass sich trotz Not und Schmerzen die Dinge am Ende richten 24 A. a. O., 231. 25 A. a. O., 230. 26 A. a. O., 235.

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werden. Diese Überzeugung spielte eine große Rolle im Leben der japanischen, hawaiischen und philippinischen Kinder in Kauai, ganz gleich, ob sie Buddhisten, Mormonen, Katholiken oder Protestanten waren. Auch als sie erwachsen waren, war ein solcher Glaube immer noch ein wichtiger Schutzfaktor in ihrem Leben.«27 Insgesamt ist festzuhalten, dass Resilienz prozesshaft ist und sich nur in der Konfrontation mit schwer belastenden Situationen erweisen kann. »Resilienz bedeutet das ›Trotz allem‹, die Bewältigungsleistung des Individuums und die Überwindung von problematischen Entwicklungsbedingungen.«28

11.4

Übungen zur Stärkung der Vitalität

Viele der folgenden Anregungen und Übungen sind sowohl für die Schulseelsorgenden selbst als auch für das Kollegium und die Schüler_innen geeignet. Manches muss je nach Zielgruppe etwas modifiziert werden.

11.4.1 Übung zur bewussten Wahrnehmung der schönen und freudvollen Seiten des Lebens Ich stecke morgens zehn Bohnen oder getrocknete (Kicher-) Erbsen in meine rechte Hosentasche. Jedes Mal, wenn mir etwas gelungen ist oder ich etwas Schönes erlebt habe, lasse ich eine Erbse in die linke Hosentasche wandern.

27 Emmy E. Werner, Entwicklung…, a. a. O., 24. 28 Ulrike Mattke, Resilienz und Religion. In: Gudrun Guttenberger / Harald SchroeterWittke (Hg.), Religionssensible Schulkultur. Studien zur Religionspädagogik und Praktischen Theologie Band 4, hg. von Michael Wermke. Jena 2011, 201–209, 201.

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11.4.2 Der Baum meiner Stärken29 Viele Menschen sind im Alltag eher auf das fokussiert, was nicht gelingt. Sich dagegen der eigenen Stärken bewusst zu werden und dieses im Malen oder Schreiben zu verankern, fördert die Vitalität. Anleitung: Stell dir vor, du gehst einen Weg entlang und siehst vor dir einen besonderen Baum. Es ist dein ganz persönlicher Baum. In ihm sind alle deine Fähigkeiten und Stärken enthalten. Sieh ihn dir genau an: Was sind die Wurzeln, was die Blätter, was die Früchte? Male ihn mit Wachsmalkreiden auf ein großes Blatt Papier. Die einzelnen Stärken kannst du wie Wurzeln, Blätter und Früchte in den Baum malen oder schreiben. Variation: »Mit einer kurzen Entspannungsübung vorweg kann die Übung auch als gelenkte Phantasie durchgeführt werden und dadurch eine größere Intensität erreichen. In vertrauteren Gruppen kann diese Übung in Kleingruppen vertieft werden durch Rückmeldung von anderen.«30

11.4.3 In 7-Jahres-Schritten zu den Quellen meiner Kraft (Biografiearbeit) Im ersten Schritt unterteile ich meine Biografie in 7-Jahres-Schritte und notiere meine Erfahrungen und Entwicklungen in Bezug auf Religiosität und Beratungserfahrungen (aktiv oder passiv). Im zweiten Schritt finde ich eine Überschrift oder einen Titel für jeden einzelnen 7-Jahres-Schritt in meinem Leben und schaue mir die letzten drei Jahre besonders an.

29 Vgl. Koppelsberger Spielekartei. Spiele, Übungen und Methoden für Klassentagungen, Seminare und Jugendarbeit, hg. von der Ev. Schüler_innenarbeit der Nordkirche, 3. Aufl. 2009, H08. 30 Ebd.

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Im dritten Schritt frage ich mich selbst: –– Was für Potenzen stecken in den Überschriften? –– Welche Fähigkeiten kommen zum Ausdruck? –– Was ist der rote Faden? Im vierten Schritt sehe ich noch genauer hin: –– Wo kann ich meine Potenzen und Energien einsetzen? –– Was hindert mich daran? –– Wie komme ich in Kontakt mit meinen Energien und Potenzen? –– Wie kann ich das Wachstum dieser Energien und Potenzen fördern? Im fünften Schritt tausche ich mich in einer Kleingruppe mit 2–3 weiteren Personen meines Vertrauens aus; anschließend Plenum.

11.4.4 Entspannung im Alltag Um immer mal wieder mitten im Arbeitsalltag kurze Entspannungssequenzen zu ermöglichen, überlege ich mir in entspanntem Zustand – eventuell mit Hilfe von Freund_innen  – 20 Mini-Aktivitäten, die mir guttun. Anschließend notieren ich 10 Favoriten auf ein Mini-Leporello31, das ich immer bei mir trage (im Portemonnaie oder in der Hosen­tasche). Für die körperliche Ausgeglichenheit ist Bewegung unerlässlich. Manche brauchen einen Sport zum Auspowern, andere einen Spaziergang, wieder andere gezielte gymnastische Übungen wie Rückengymnastik o. ä.; wichtig ist bei allem die Regelmäßigkeit – am besten und verlässlichsten sind feste Zeiten und Tage dafür. Sowohl für den Körper als auch für die Selbstwahrnehmung eignet sich Yoga. Sinnvoll zum Einstieg ist die Teilnahme an einem Yogakurs in der Nähe. Es gibt aber auch Bücher mit Anleitungen auf CD und bildhaften Darstellungen der Übungen.32 An manchen Schulen gibt es inzwischen sowohl Yogakurse für Lehrer_innen als auch für Schüler_innen. Dabei 31 Ein langer Papier- oder Kartonstreifen, der wie eine Ziehharmonika gefaltet wird. Vorlage eines Arbeitsblatts unter www.v-r.de bei der Nennung dieses Titels. 32 So z. B. Anna Trökes, Yoga. Mehr Energie und Ruhe. München 2002.

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ist unbedingt auf angemessen ausgebildete Yoga-Lehrer_innen zu achten. Weitere Vorschläge: –– Techniken wie autogenes Training oder progressive Muskelentspannung erlernen. –– Sich körperliche Wohltaten organisieren: Massagen, Sauna, u. v. m. –– Außergewöhnliche Ausflüge unternehmen (einen Tag ans Meer oder in die Berge oder an einen See) oder die gewohnten Pfade bei Spaziergängen verlassen. Das Entdecken von Neuem trägt enorm zur Vita­ lisierung bei.

11.4.5 Atemmeditation In unserer Weiterbildung Schulseelsorge leiten wir Atemmeditationen in unterschiedlichen Kontexten an. Sie können am Abend der Entspannung dienen, am Morgen der Sammlung und Konzentrationssteigerung oder auch eine spirituelle Übung sein. Zwei beispielhafte Anleitungen folgen, aber wir möchten dazu ermutigen, selber frei damit umzugehen und je nach Gruppe und Situation zu variieren. Beispiel Am Anfang steht immer die Einladung, eine bequeme Körperhaltung zu finden – im Sitzen oder Liegen – und wir leiten meditative Übungen immer im Singular und mit »du« an. Wenn du magst, schließe die Augen … nimm wahr, wie dein Kontakt zum Boden ist … mit welchen Stellen deines Körpers berührst du den Boden? … er trägt dich … und nun nimm wahr, dass du atmest … es geht dabei nicht um richtig oder falsch … nimm einfach wahr, wie der Atem in dich hineinfließt und auch wieder herausströmt …(einige Atemzüge abwarten) … nimm wahr, wie sich beim Einatmen ganz leicht die Nasenflügel bewegen … wie sich der Brustkorb sanft hebt und wieder senkt …wie sich auch der Bauchraum mit Atem füllt und wie der Atem wieder entweicht … vielleicht nimmst du auch wahr, dass sich deine Seiten etwas weiten, wenn der Atem in sie hineinströmt … es ist ein Nehmen und Geben … die Luft zum Atmen ist uns geschenkt und wir geben sie wieder ab … und nun nimm noch einige Atemzüge wahr, wie der Atem durch dich hindurch Vitalität im Schulalltag

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strömt und wieder herausfließt … und dann nimm wahr, wie dein Körper Kontakt zum Boden hat … nun komm mit deiner Aufmerksamkeit zurück in den Raum …

Im Rahmen unserer Weiterbildung gönnen wir uns eine Einheit zum spirituellen Erleben in einer Kirche. In diesem Zusammenhang leiten wir eine Atemmeditation im Stehen an, in der wir u. a. durch den Scheitelpunkt einatmen (Verbindung zum Himmel) und durch die Füße ausatmen (Verbindung zur Erde). Im Anschluss an eine solche Atemmeditation lassen sich gelenkte Phantasiereisen33 oder Imaginationen34 anleiten, um bestimmte Aspekte von Vitalität zu fokussieren. Besonders schön und kräftigend wird oft die Baumübung von Luise Reddemann35 erlebt: Beispiel … stell dir nun eine Landschaft vor, in der du dich wohlfühlst und wo du dich gerne aufhältst … das kann auch eine erfundene Landschaft sein … und nun stell dir irgendwo in dieser Landschaft einen Baum vor, zu dem du gerne hingehen möchtest … und nun geh zu diesem Baum und nimm Kontakt mit ihm auf … schau ihn dir genau an … vielleicht magst du ihn berühren … nimm seinen Stamm wahr … wie riecht er? … nimm wahr, wie der Stamm sich verzweigt … die Äste … hat er Blätter oder Nadeln? …trägt er Früchte? … nimm ihn genau wahr … und wenn du magst, lehne dich an den Baum und spüre ihn … wenn es dir angenehm ist, stell dir vor, du wirst eins mit dem Baum … dann kannst du als Baum erleben, was es bedeutet, Wurzeln zu haben, die sich in die Erde verzweigen und von dort Nahrung aufzunehmen … du erlebst, Blätter zu haben, die das Sonnenlicht aufneh33 Vgl. Else Müller, Du spürst unter deinen Füßen das Gras. Autogenes Training in Phantasie- und Märchenreisen. Frankfurt a. M. 1983 oder Gerda und Rüdiger Maschwitz, Geistliches Leben wagen – Gemeinsam meditieren. Ein Arbeits- und Übungsbuch. Offenbach 1994 oder Gerda und Rüdiger Maschwitz, Phantasiereisen zum Sinn des Lebens. Anregungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. München, 6.  Aufl. 2006 oder Sylvia Wetzel, Leichter leben. Praktische Meditationen zum Umgang mit Gefühlen. Berlin 2002. 34 Vgl. Luise Reddemann, Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren. Stuttgart 15. Aufl. 2010. 35 Vgl. a. a. O., 49 f. (nach einer Idee von Phyllis Krystal, Die inneren Fesseln sprengen. Befreiung von falschen Sicherheiten. Olten 1989).

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men … wenn du nicht mit dem Baum verschmelzen magst, betrachte ihn einfach – mit seinen Blättern und Wurzeln …womit möchtest du jetzt genährt werden, versorgt werden? … ist es körperliche Nahrung, emotionale Nahrung, geistige Nahrung, spirituelle Nahrung? … was genau ist es? … stell dir vor, dass du diese Nahrung jetzt erhältst …erlaube dir die Erfahrung, dass diese Nahrung jetzt zu dir kommt … und dass du dadurch wächst … und nun löse dich wieder von deinem Baum … du kannst jederzeit dorthin zurück kehren, um dich mit seiner Hilfe zu erinnern, dass du mit allem, was du gerne hättest, genährt werden kannst … verabschiede dich nun von deinem Baum und bedanke dich für seine Unterstützung … und nun atme noch einige Male tief ein und aus und kehre dann mit deiner Aufmerksamkeit in diesen Raum zurück.

11.4.6 Achtsamkeitsübungen Eine mögliche Form der Achtsamkeitsübung ist eine erweiterte Form der oben beschriebenen Atemmeditation. Nach einer kurzen Wahrnehmung des Atems und der Atembewegungen des Körpers leiten wir eine Reise durch den Körper an. Dies lässt sich vielfältig variieren: Manchmal wählen wir die Formulierung »gehe mit deiner Aufmerksamkeit zu«, manchmal »atme in … hinein«; mal verbinden wir es jeweils mit der Frage »Wie fühlt sich das an?«; mal verbinden wir ein Bild wie die wärmende Sonne oder fließendes Licht / Energie mit unserer Anleitung; mal wandern wir von den Füßen in den Kopf (erhält eher die Aufmerksamkeit), mal vom Scheitel zu den Füßen (entspannt noch stärker). Beispiel … atme nun in deinen rechten Fuß … wie fühlt er sich an? … atme beim nächsten Atemzug in deine rechte Wade … Knie … Oberschenkel …Hüfte … atme nun in deinen linken Fuß … Wade … Knie … Oberschenkel …Hüfte … atme nun in deinen Bauchraum … Brustkorb … rechte Hand … Unterarm … Ellbogen … Oberarm … Schulter …linke Hand …Unterarm … Ellbogen … Oberarm … Schulter … atme nun beim nächsten Atemzug in deinen Nacken … in deinen Kiefer … lass ihn locker …in deine Stirn …in deinen Scheitelpunkt … und nun nimm noch einige Atemzüge wahr, wie der Atem durch Vitalität im Schulalltag

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dich hindurch strömt und wieder herausfließt … und dann nimm wahr, wie dein Körper Kontakt zum Boden hat … nun komm mit deiner Aufmerksamkeit zurück in den Raum …

Die buddhistische Meditationslehrerin Sylvia Wetzel verbindet die Atemmeditation mit einem Dank: Beim Einatmen sagen wir »Danke fürs Leben« oder einfach »Danke«; beim Ausatmen sagen wir »Ja zum Leben« oder einfach »Ja«.36

11.5.7 Bibelworte meditieren Es ist hilfreich, sich eine persönliche Sammlung von Bibelversen und ähnlichen Sprüchen anzulegen. Diese können der eigenen Meditation dienen; sie können aber auch in der Arbeit mit Gruppen verwendet werden. Dazu werden sie großformatig ausgedruckt und auf dem Boden ausgelegt. Beispiele –– Sei getrost und unverzagt –– Gott ist mit dir in allem, was du tust. –– Gott ist die Liebe. –– Gott segne und behüte dich. –– Du bist bei mir. –– Du hast mich bei meinem Namen gerufen. Ich bin dein. –– Die Liebe ist stark wie der Tod. –– Meine Seele ist stille zu Gott. –– Schweige und höre. Neige deines Herzens Ohr. Suche den Frieden. –– Deine Schuld ist dir vergeben. –– Gönne dich dir selbst. (B. von Clairvaux) –– Gott ist die Liebe; wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. 36 Vgl. Sylvia Wetzel, a. a. O., 25. Hier und bei Thich Nhat Hanh finden sich eine Vielzahl von weiteren Achtsamkeitsübungen und Atemmeditationen. In Bezug auf die Wertschätzung von Achtsamkeit können wir aus der buddhistischen Tradition viel lernen – ohne das Eigene aufgeben zu müssen.

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–– Fürchte dich nicht. Denn ich bin mit dir, und niemand soll sich unter­ stehen, dir zu schaden. –– Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte. –– Da erkannte ich, dass es unter den Menschen nichts Besseres gibt, als sich zu erfreuen und sich’s gut ergehen zu lassen: Dass jemand bei all seiner Mühe isst und trinkt und Schönes schaut – eine Gabe Gottes ist’s! –– Bei dir ist die Quelle des Lebens. –– Aber die auf Gott hoffen, gewinnen neue Kraft, sie steigen auf mit Flügeln wie Adler. –– Barmherzig und gnädig ist Gott, geduldig und von großer Güte.

11.5.8 Pausen einlegen Dorothee Sölle empfiehlt – im Sinn des dritten Gebots: »Du sollst dich selbst unterbrechen. / Zwischen Arbeit und Konsumieren / soll Stille sein und Freude, / zwischen Aufräumen und Vorbereiten / sollst du es in dir singen hören, / Gottes altes Lied von den sechs Tagen und dem einen, der anders ist. ( … )«37 Fulbert Steffensky hat in seinem Buch »Schwarzbrot-Spiritualität« eine kleine Liste von Regeln aufgestellt, die diejenigen beherzigen sollen, die sich in Spiritualität einüben.38 Auch als evangelischer Theologe beherzigt er dabei, was er als früherer römisch-katholischer Abt des Klosters­ Maria Laach in Herz und Sinne aufgenommen hat und in seiner Lebensführung weiter übt. Steffensky schlägt vor, sich ein bescheidenes Vorhaben zu wählen, das im Tagesablauf seinen verbindlichen Platz einnimmt: Am Abend oder am Morgen in Ruhe einen Psalm beten oder sich einige Minuten für eine Lesung freihalten. »Wenn dies nicht möglich ist, liegt es nicht an der Hektik oder der Überlast unseres Berufes, sondern daran, dass wir falsch leben.« Gut ist, sich dafür eine feste Zeit im Tagesablauf zu wählen, die immer beachtet wird: Denn regelmäßig beachtete Zeitrhythmen geben ein Zu37 Dorothee Sölle, Der siebte Tag ist heilig, in: Dies. / Luise Schottroff, Den Himmel erden. Eine ökofeministische Annäherung an die Bibel. München 1996, 89. 38 Fulbert Steffensky, Schwarzbrot-Spiritualität, 20 ff.

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hause – ebenso wie ein fester Ort, der für diese Übungen immer wieder aufgesucht wird, beispielsweise ein gemütlicher Stuhl in einem ruhigen Raum der Wohnung. Denn es besteht eine Resonanz zwischen äußerem Raum und dem inneren Raum der Seele. Steffensky plädiert dafür, bei den Spiritualitätsübungen streng mit sich zu sein. Es geht nicht um Stimmungen und Augenblicksbedürfnisse: »Rechne nicht damit, dass dein Vorhaben ein Seelenbad ist! Es ist Arbeit – labor! –, manchmal schön und erfüllend, oft langweilig und trocken. Das Gefühl innerer Erfülltheit rechtfertigt die Sache nicht, das Gefühl innerer Leere verurteilt sie nicht. Meditieren, Beten, Lesen sind Bildungsvorgänge. Bildung ist ein langfristiges Unternehmen […]. Sei nicht auf Erfüllung aus, sei vielmehr dankbar für geglückte Halbheit! Es gibt Ganzheitszwänge, die unsere Handlungen lähmen und uns entmutigen«. Beten und Meditieren sind Lebens-Zeiten hoher Passivität. Wer betet, übt eine Haltung ein, in der er / sie sich von eigener Aktivität, von Erfolgsorientierung frei werden lässt. Die Bilder eines Psalms oder eines Bibelverses helfen dabei, wenn der / die Betende ihnen in seiner / ihrer Seele Raum gibt und sie dort verweilen lässt. »Man will nichts außer kommen lassen, was kommen will.« Gut ist, für diese Meditations-Zeiten eine wiederkehrende kleine »Liturgie« einzuhalten: »Beginne z. B. mit einer Formel (Herr, öffne meine Lippen), mit einer Geste (der Bekreuzigung der Lippen), lass einen oder mehrere Psalmen folgen! Lies einen Bibelabschnitt! Halte eine stille Zeit ein! Schließe mit dem Vater Unser oder einer Schlussformel.« Psalmen und Lesungen sollen vor der Meditation feststehen und nicht erst noch zusammengesucht werden müssen. Gut ist, Psalmverse und Bibelverse aus dem Schatz der Tradition auswendig zu lernen: Das hilft dazu, dass sich die Seele in diese Bilder einstimmen kann. »Sie sind außerdem die Notsprache, wenn einem das Leben die Sprache verschlägt.« Wer an einem Tag nicht beten kann, soll sich doch diese Zeit freihalten und sie nicht mit anderen Aktivitäten füllen. Wichtig ist auch: Es geht nicht um angestrengte Rigidität. »Zwinge dich nicht zu Gesammeltheit! Wie fast alle Unternehmungen ist auch diese kleine brüchig, da soll uns der Humor über dem Misslingen nicht verloren gehen (…).«39 39 Ebd.

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11.5

Leben als Fragment

In allen Vitalitätsübungen, die in diesem Kapitel beschrieben wurden, ist es nicht das Ziel, alles richtig zu machen. Es geht nicht um Erfolg und Ganzheit. Es geht um geschenkte Zeit, der sich der / die Übende in einer Haltung öffnen kann, die eigene Begrenztheit zu spüren und zu akzeptieren  – weil Ganzheit und vollständiges Erfülltsein keine heilsamen menschlichen Lebensziele sind. Hier kann der Gedanke des Marburger Praktischen Theologe Henning Luther eine Hilfe sein, Leben als Fragment anzuerkennen – und dies nicht als Scheitern anzusehen, sondern als lebenserleichternde Zustimmung zu einer Grundgegebenheit unseres Lebendigseins. Das unverwechselbare Gesicht einer menschlichen Lebensgeschichte, ihre Individualität zeigt sich gerade in der Differenz zu dem, was zur Vorstellung der Folgerichtigkeit, der Kohärenz und Kontinuität passt.40 Die Individualität eines Menschen kann sich darin zeigen, dass er / sie den Erwartungen der anderen eigene Lebensentwürfe entgegensetzt, angesichts von Brüchen, Versagungen und Verzerrungen in der eigenen Lebensgeschichte nicht verzagt, sondern neue Möglichkeiten entwirft. In einem Wort: die Begrenzt­heit des Lebens als Chance für das eigene Leben akzeptiert. Leben ist immer Fragment. Dies für sich selbst anzunehmen ist in heilsamer Weise eine Folge davon, dass ich mich als begrenzten und sterblichen Menschen wahrnehmen und anerkennen kann.41 Luther weist auch auf das Zerstörerische von übergroßen Ganzheits-Sehnsüchten hin: Das Ideal erreichbarer vollständiger Identität würde den Verzicht auf Trauer (und die Verdrängung von Schuld- und Versagungserfahrungen), den Verzicht auf Hoffnung (auf überraschende Aufbrüche gegenüber den Erstarrungen des Selbstbildes) und den Verzicht auf Liebe (in der die Begegnung mit dem / der anderen als Chance eigener Veränderung wahrgenommen wird)  einschließen. Die Wuppertaler Praktische Theologin 40 Henning Luther, Das unruhige Herz. Über implizite Zusammenhänge zwi­schen Autobiographie, Subjektivität und Religion. 1990. zit. nach: Ders., Religion und Alltag. Stuttgart 1992, 128 f. 41 Henning Luther, Identität und Fragment. Praktisch-theologische Über­legungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen. 1985. zit. nach: A. a. O., 1992, 168.

Vitalität im Schulalltag

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Andrea Bieler nimmt diesen Gedanken auf: »Das eigentümlich Christliche scheint mir nun darin zu liegen, davor zu bewahren, die prinzipielle Fragmentarität von Ich-Identität zu leugnen oder zu verdrängen. Glauben hieße dann, als Fragment leben und lieben zu können.«42

42 Andrea Bieler, Leben als Fragment? Eine Leitkategorie für die Praktische Theologie im 21. Jahrhundert. Antrittsvorlesung am 1.2.2013. Unveröffentlichtes Manuskript. Wuppertal 2013.

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12 Schulkooperation

Ein Anliegen der Weiterbildung Schulseelsorge besteht darin, schulkooperatives Handeln und in diesem Feld Projektentwicklung zu initiieren. Praxisbeispiele sind gefragt. Dieses Ziel, Schulkooperation zu fördern und ins Bewusstsein zu rufen, ist in der Konzeption der Weiterbildung Schulseelsorge verankert. Umgesetzt wird es dadurch, dass durch die Professionen übergreifende Zusammensetzung (Lehrkräfte / Gemeindepädagog_innen / Pastor_innen) Mitarbeiter_innen sowohl aus Gemeinden als auch aus dem System Schule sich des Themas »Schulseelsorge« annehmen, aus unterschiedlichen Perspektiven Projekte an Schulen entwickeln und ihre Vorhaben zur Diskussion stellen bzw. hinterfragen lassen. Die Perspektiven aus dem jeweils anderen System kennenzulernen, eigene Sichtweisen zu hinterfragen, sich gemeinsam auf Reflexionsprozesse einzulassen, all dies schafft eine Basis für gemeinschaftliches schulkooperatives Denken und Handeln. Hier liegen Aufgaben und Chancen, die für das Gelingen der Arbeit unmittelbar wichtig sind.

12.1

Schule hat sich verändert und wird sich verändern

Die Wirklichkeit von Lernen und Arbeiten an der Schule hat sich verändert. Dies wird vor allem sichtbar an der Ganztagsschule und am achtjährigen Gymnasium (G8). Bedeutsam ist der Paradigmenwechsel von einer input- zu einer outcome-Orientierung, d. h. die Steuerung des Bildungswesens erfolgt nicht mehr über detaillierte Vorgaben, sondern über Evaluation von Unterrichtsergebnissen, die am Kompetenzerwerb orientiert sind. Es geht also um die Frage, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten Kinder und Jugendliche erworben haben sollen, wenn sie die Schule besucht haben. Noch Schulkooperation

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sind nicht alle Herausforderungen kreativen Lösungen zugeführt. Handlungsbedarf besteht etwa bei folgenden Themen: –– Inklusion von Schüler_innen mit erhöhtem Förderungsbedarf ist mittlerweile ein zentrales bildungspolitisches Leitbild, das von den politischen Führungen in die Schulen hineingetragen wird. Entscheidend für das Gelingen ist, dass entsprechende Mittel für zusätzliche Fachkräfte an den Schulen (für Co-Teaching mit spezifisch ausgebildeten Lehrpersonen und Sozialpädagog_innen) in Schulklassen mit einem Anteil an Schüler_innen mit erhöhtem Förderungsbedarf bereitgestellt werden. Die bildungspolitisch sinnvolle Richtungsentscheidung führt nur dann nicht zu einer zerstörerischen Überforderung von Lehrer_innen und ganzen Schulsystemen, wenn entsprechende finanz­ politische Entscheidungen damit einhergehen. –– Der Ausbau der Schulen zu Ganztagsschulen und die Verschränkung schulischen Lernens mit Betreuungsangeboten am Nachmittag be­ deutet eine verstärkte Öffnung hin zu außerschulischen Lernorten, hin zu Kooperationspartner_innen, mit denen auf der Basis von vereinbarten Qualitätsstandards eine ganztägige Betreuung umgesetzt wird. –– Und: Dadurch, dass sich die Anteile freier und unverplanter Zeit im Leben von schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen drastisch verringern, müssen Bildungs- und Betreuungseinrichtungen sich gleichermaßen ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stellen, junge Menschen an der Gestaltung zu beteiligen und Partizipation zu ermöglichen. –– Dadurch, dass diese ehemals freien, unverplanten Zeitanteile im Alltagsleben in den Schultag hinein verlagert werden, ist die Ganztagsschule Ort für umfassende Bildungs- und Lebensgestaltung. Durch die Notwendigkeit der Kooperation können hier Lern- und Praxisfelder eröffnet werden für eine umfassende Bildung, die neben der Organisation von intellektuellen Lernprozessen auch die sozialen und beziehungsrelevanten Kompetenzen stärker in den Mittelpunkt stellt und gleichzeitig Übernahme von sozialer und gesellschaftlicher Verantwortung einübt.

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12.2

Chancen der Kooperation von Schule und Kirche

Das Stichwort »Schulkooperation« schließt in einer multireligiösen und pluralen Gesellschaft nicht nur die Kirchen, sondern perspektivisch auch andere Religionsgemeinschaften ein. In Ansätzen einer bereits Gestalt gewinnenden Kooperation von Schulen und Kirchen lassen sich Chancen für schulkooperative Arbeit wie folgt beschreiben. Gerade in Zeiten knapper Ressourcen ist zu überlegen, wie Schule und außerschulische Bildungspartner_innen zusammenarbeiten können, um die Bedingungen des Aufwachsens für Kinder und Jugendliche zu verbessern. Schulkooperative Arbeit bietet die Chance auf eine anregungsreiche und intensive Betreuung von Kindern und Jugendlichen. Dies gilt von Anfang an: für die pädagogischen Schwerpunkte vorschulischer Förderung und für die Begleitung von jungen Menschen und ihren Familien. Beispielsweise wird der Tag der Einschulung in den Familien oft als wichtige Passage in einen neuen Lebensabschnitt erlebt. Eine religiöse Feier, ein Einschulungsgottesdienst kann hohen Stellenwert bei Kindern, Jugendlichen, Eltern, Erzieher_innen und Lehrkräften gewinnen. An diese Erfahrung kann angeknüpft werden durch gemeinsam gestaltete Gottesdienste und durch religiöse Feiern zu besonderen Anlässen des Schuljahres. Weitere Angebote des Gemeindelebens können hinzukommen: Der Kontakt zur Schule bietet auch Möglichkeiten, Kinder mit ihren Eltern und Jugendliche zu Veranstaltungen und Angeboten einzuladen und ihnen die Menschen bekannt zu machen, die hinter diesen An­geboten stehen. Auch kann zu Lehrer_innen und anderen an der Schule tätigen Personen Kontakt hergestellt werden, die sich anderweitig nicht mit kirchlichen Angeboten auseinandersetzen würden und im kirchlichen Gemeindeleben nicht vorkommen. Diese Gelegenheiten werden längst auch von anderen Bildungsträgern genutzt, mit denen Schulen ohnehin schon kooperieren, z. B. von Sportvereinen. In den Schulen kommen unter den Bedingungen der Ganztagsschule viele verschiedene (junge)  Menschen zusammen, die hier z. T. viel Zeit ihres Lebens verbringen. Ihnen kann der Sinn stiftende Horizont von Religion und Spiritualität hilfreich sein für die Gestaltung und Bewäl­tigung ihres Lebens, etwa durch Beratungs- und Begleitungsangebote, religiöse Schulkooperation

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Feiern und Seelsorge, aber auch durch ein gestaltetes Schulleben oder durch gemeinsame Projekte im Gemeinwesen. Eine gelungene Kooperation bietet über die Vor- und Grundschulzeit hinaus gemeinsame Anlaufpunkte im Lebensumfeld, um Kontakte zu Gleichaltrigen außerhalb der Schule herzustellen, diese Beziehungen zu gestalten und zu intensivieren. Diese lebensgeschichtlich wichtigen Beziehungen können besser und dauerhafter Gestalt gewinnen. »In jedem Fall geht es darum, durch Vernetzung und Kooperation ein für die einzelnen Kinder und Jugendlichen zu gewährleistendes Gesamtangebot zu ermöglichen, das über bloß punktuelle Begegnungen in Schule und Gemeinde hinausgeht.«1 Der schul- und schulartübergreifende Aspekt der kirchlichen Jugendarbeit hat hierbei herausragende Bedeutung für die gesamtgesell­ schaftliche Aufgabe, Kinder und Jugendliche auf eine Welt der Vielfalt – geprägt durch Toleranz und Solidarität  – vorzubereiten. Jugendliche lernen, Freiräume zu gestalten. Sie lernen, in geschützten Räumen Verantwortung zu übernehmen – beispielsweise als Teamer_innen im Konfirmand_innenunterricht oder als Jugendgruppenleiter_innen. Sie lernen, Konflikte zu lösen und miteinander wertschätzend umzugehen, insbesondere wenn unterschiedliche Meinungen und Interessen ausbalanciert werden müssen. Insbesondere von kirchlicher Jugendarbeit können Impulse ausgehen für das Einbeziehen von Kindern und Jugendlichen bei der Mitgestaltung der ganztägigen Bildung und Betreuung.2 Was brauchen junge Menschen, wenn sie einen großen Teil  ihrer Lebenszeit in einer Ganztagsschule verbringen? Und wie ist ihre Sichtweise auf Schule als »Ganztagsveranstaltung«? Partizipation mit Kindern und Jugendlichen einzuüben und hilfreiche Strukturen hierfür zu entwickeln, ist eine Aufgabe kirchlicher Mitarbeiter_innen in der Jugendarbeit, die auch für die Gestaltung von Ganztagsschulen an Bedeutung gewinnen kann. 1 EKD: »Kirche und Bildung. Herausforderungen, Grundsätze und Perspektiven evange­ lischer Bildungsverantwortung und kirchlichen Bildungshandelns«. Hannover 2009, 65. 2 »Kinder und Jugendliche sind in allen Belangen, die ihre Lebenswelt in der Kirche betreffen, an der Entscheidungsfindung in angemessener und altersgerechter Form zu beteiligen.« Art. 12 der Verfassung der Ev.-Luth. Kirche in Norddeutschland. In: Kirchliches Amtsblatt vom 27.5.2012. Kiel, 6.

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Ein weiterer gemeinsamer Nutzen kann darin bestehen, dass Jugendliche als ehrenamtliche Mitarbeiter_innen für kirchliche und schulische Aufgaben gewonnen und qualifiziert werden können, z. B. im Wahlpflichtbereich für die Übernahme pädagogischer Aufgaben in Schule und Gemeinde. Ihren Kompetenzerwerb können sich Jugendliche zertifizieren lassen (z. B. durch den Erwerb einer Jugendleitercard). Kirchliche Mitarbeiter_innen erleben umgekehrt einen Kompetenzzuwachs für ihre Arbeit dadurch, dass sie Kinder und Jugendliche in ihrer Rolle als Schüler_innen erleben, d. h. sie erfahren die Lebenslage »Schülerin / Schüler« am Ort der Schule. Für Lehrkräfte kann es hilfreich sein, sich mit pädagogischen Expert_innen anderer Profession zusammenzuschließen und sich über ihre Praxis auszutauschen und gemeinsam zu reflektieren. Unterschiedliche Sichtweisen und Zugänge zu pädagogischen Fragestellungen können die pädagogische Arbeit bereichern. In schulkooperativer Arbeit übernimmt die Kirche Bildungsverantwortung im Raum Schule. Und angesichts zunehmender ethnischer, kultureller und religiöser Differenzierung in unserer Gesellschaft und in den Schulen werden zunehmend weitere Religionsgemeinschaften in diesen Prozess einbezogen werden. Durch die Kooperation mit der Schule hat die Kirche die Gelegenheit, Religion als Dimension der Lebenspraxis im Kontext Schule über den Religionsunterricht hinaus zu praktizieren und erfahrbar zu machen. Die Bildung einer Kooperationsgemeinschaft Schule-Kirche durch »grenzüberschreitende« Kreativität fördert das Bildungsverständnis der Kirche und von einzelnen Kirchengemeinden vor Ort in ihrer Rolle als Akteure von Bildungsprozessen. Die Kirche kann praktisch zeigen, dass sie sich bemüht, ihrer protestantischen Bildungsverantwortung gerecht zu werden, indem sie bei der Gestaltung von Bildungsprozessen junger Menschen mitwirkt und so ihr Engagement für das Gelingen von Bildungsprozessen einbringt. Eine Gemeinde, die sich in schulkooperativer Arbeit engagiert, kann lernen, die Schule und die hier lernenden und lehrenden Menschen in ihrer Vielfalt in den Blick zu nehmen. Die Schule gehört mit zur Gemeinde und kann im Leben der Gemeinde eine wichtige Rolle spielen  – auch wenn diese Menschen formal nicht Kirchenmitglieder sind. Schulkooperation

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12.3

Was macht die Kirche als Kooperationspartner für Schule attraktiv?

Durch Kooperationen erhält Schule Kontakt zu wichtigen außerschulischen Lernorten und somit durch die Interaktionsräume innerhalb einer Region eine wichtige Ergänzung. Kirche und Schule verfolgen ähnliche pädagogische Grundsätze. Als Zentren in einem Stadtteil können sie wichtige »Knoten« im Kommunikationsnetz eines Gemeinwesens bilden. Kirchliche Mitarbeiter_innen mit ihren sozialpädagogischen Kompetenzen können auf vielfältige Weise unterstützend mitwirken:

12.3.1 Unterrichtsgestaltung und Ganztagsbildung Die Zusammenarbeit mit der Kirche eröffnet der Schule den Zugang zu weiteren außerschulischen Bildungsorten und zu Akteur_innenen in ihrem örtlichen Umfeld. Kirchliche Mitarbeiter_innen können zusätzliche Impulse, Themen und auch Methodenvielfalt in den Schulalltag einbringen. Themen des Religionsunterrichts, aber auch anderer Fächer lassen sich mitgestalten, wenn z. B. Fragen von Ethik, Orientierung, Sinn oder Konfliktaustragung bearbeitet werden. Sie können nachmittägliche Ganztagsangebote oder Projekttage in vielfältigen Lernarrangements (mit-) gestalten, und so das schulische Angebot bereichern und Lehrkräfte entlasten (siehe auch den Beitrag von M. Voigtländer).

12.3.2 Gestaltung von Nachmittagsangeboten und Freizeitbetreuung Die kirchliche Jugendarbeit kompensierte immer schon nicht vorhandene öffentliche Kinder- und Jugendeinrichtungen (z. B. Jugendtreffs). In vielen Kirchengemeinden und übergemeindlichen Arbeitszusammenhängen gibt es Expert_innen für anspruchsvolle Freizeitgestaltung, deren Angebote im Rahmen nachmittäglicher Betreuungsangebote Kindern und Jugendlichen ermöglichen, eine sinnvolle Gestaltung unterrichtsfreier Zeit zu erleben, mit anderen kreativ zu werden und gemeinsam 176 

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Spaß zu haben. Gemeinsam verantwortete Projekte, z. B. der Jugendtreff im Stadtteil, könnten als Bindeglied vor allem in der beginnenden Jugendphase für junge Menschen an Bedeutung gewinnen.

12.3.3 Außerschulische Lernorte Die Zusammenarbeit mit einer Gemeinde ermöglicht der Schule den Zugang zu Feldern, in denen soziales Engagement möglich wird (siehe den Beitrag von G. Wohlenberg). Lernen durch Engagement kann als »Dienst« für die Gemeinde bzw. Gemeinschaft im Stadtteil gesehen werden.

12.3.4 Mitgestaltung des Schullebens und der Schulkultur Spirituelle Dimensionen des Alltagslebens können entdeckt und gestaltet werden. Kirchliche Mitarbeiter_innen können konstruktiv und lebensbegleitend helfen – in besonderen Krisensituationen wie z. B. beim Umgang mit Tod und Trauer, aber auch bei der Gestaltung von Übergängen und besonderen Anlässen im Schuljahr, die Fragen nach Sinn und Orientierung beinhalten.

12.3.5 Organisatorischer und logistischer Nutzen Nicht nur in strukturschwachen Gebieten verschaffen Kooperationen auch praktische Entlastungen durch die (wechselseitige)  Nutzung von Räumen und Infrastruktur (z. B. Fahrzeuge, Zelte). Wenn in Gemeinden geeignete Räume zur Verfügung stehen, können hier Neigungs- und Freizeitgruppen ebenso wie schulische Arbeitsgemeinschaften stattfinden. Angebote der kirchlichen Jugendarbeit können umgekehrt zum Bestandteil des Nachmittagsangebots der offenen Ganztagsschule werden.

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12.4

Anforderungen an kirchliche Mitarbeiter_innen

Schulkooperatives Arbeiten verändert das traditionelle Tätigkeitsfeld kirchlicher Mitarbeiter_innen. In Kooperationsprojekten übernehmen sie eine Brückenfunktion zwischen der »Zwangsgemeinschaft Schule« und der Kirchengemeinde mit ihren auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen zugeschnittenen freiwilligen Angeboten.3 Die Gestaltung einer Kooperation zwischen Schule und Kirche wird von subjektiven Erfahrungen und Erinnerungen der eigenen Kindheit und Jugend auf beiden Seiten – der kirchlichen Mitarbeiter_innen ebenso wie der der Lehrkräfte – mitbestimmt. Die Erfahrungen mit Schule und Kirche prägen das Verhältnis zu den Institutionen, ganz gleich ob sie beglückender oder abschreckender Art gewesen sind.4 Diese Erfahrungen können die Kontaktaufnahme erschweren oder ein Erkundungsinteresse gar nicht erst entstehen lassen. Gemeindepädagog_innen und und Diakon_innen können im Raum der Schulen ihre besonderen Kompetenzen einsetzen, Lebensfragen auf religiöse und spirituelle Bedürfnisse hin zu deuten. Sie haben solche Kompetenzen in ihrer Ausbildung erworben und / oder entwickeln in aktuellen Arbeitsvollzügen besondere Zugänge zu jugendlichen Lebenswelten. Besser als andere Berufsgruppen können Besser als andere Berufsgruppen können Gemeindepädagog_innen und Diakon_innen Gemeindepädagog_innen und Diakon_ Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen innen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen als religiöse und spirituelle als religiöse und spirituelle Bedürfnisse wahrBedürfnisse wahrnehmen und in ihren nehmen und in ihren Ausdrucksformen reliAusdrucksformen religiöse Sprachen und giöse Sprachen und Symbole erkennen. Symbole erkennen. Nötig ist in einer multireligiösen Gesellschaft und Schullandschaft zugleich, die kulturelle und auch interreligiöse Dialogfähigkeit zu intensivieren, Fremdes als fremd wahrzunehmen, das Eigene hinterfragen zu lassen und zugleich im Kontakt mit dem Anderen sprachfähig zu werden. 3 Christoph Künkel: Wenn die Schule für Kinder und Jugendliche zum Lebensort wird. Veränderungen für das Berufsbild kirchlicher Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. In: Ute Beyer-Henneberger (Hg.): Wenn die Schule zum Lebensort wird – Herausforderungen für die Gestaltung der Konfirmandenarbeit. Arbeitshilfen KU. RPI Loccum 2004, 47. 4 Ebd.

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Die Teilnahme an kirchlichen Angeboten in der Schule sollte grundsätzlich auf Freiwilligkeit basiert sein. Es ist gut, sich der »Abstimmung mit den Füßen« auszusetzen. Das Erleben von Konkurrenz durch andere Bildungsanbieter kann der Verbesserung des eigenen Angebots und der Notwendigkeit von Profilierung dienen. Hilfreich sind Zielgruppenanalysen: Welche Milieus spreche ich mit meinem Angebot an bzw. möchte ich ansprechen? Umgekehrt müssen Diakon_innen und Gemeindepädagog_innen die Frage klären, welche bisherigen Arbeitsfelder sie aufgeben können, um die zusätzlichen Aufgaben in der Schule sinnvoll erfüllen zu können. Dies ist nicht nur eine lebensgeschichtlich jeweils bedeutsame, sondern auch eine grundsätzliche Frage nach der Entwicklung von konzeptionsund zielorientierter Arbeitsweise. Wenn die Arbeit regelmäßig evaluiert wird, lassen sich Prioritäten benennen und verschieben. Wie die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in einer Gemeinde gestaltet bzw. zielgruppenorientiert umgestaltet werden kann, ist von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich. Dazu bedarf es der Begleitung und Unterstützung durch Fachaufsicht. An manchen Orten haben sich Gemeinden auf die Zielgruppen von Kindern und Jugendlichen hin spezialisiert. Die Einrichtung von Jugendkirchen in der Nähe von Schulzentren ist Ausdruck solcher Schwerpunktsetzung.

12.5

Voraussetzungen für eine gute Kooperation von Kirche und Schule

Grundlage einer erfolgreichen Kooperation ist eine gute Kommunikation. Schulische und kirchliche Akteure müssen Raum haben, um sich zu begegnen, sich kennenzulernen, sich auszutauschen. Dies ist nicht erst bei der Durchführung eines konkreten Projektes wichtig, sondern bereits bei seiner Entwicklung bzw. Anbahnung. Für ein Gelingen sind klare Absprachen nötig zwischen Schulleitungen bzw. Koordinator_innen und den in der Schule präsenten kirchlichen Mitarbeiter_innen. Unabdingbar ist eine akzeptierende Haltung gegenüber den besonderen Aufgaben, Inhalte und Methoden der beteiligten Systeme und der spezifischen professionellen Kompetenzen. Auf beiden Seiten muss ProSchulkooperation

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jektentwicklungskompetenz in den Feldern Planung und Zielklärung bestehen. Eine schriftliche Dokumentation von Absprachen und vereinbarten Schritten bis hin zur Evaluation ist für die Reflexion der Zusammenarbeit sinnvoll. Folgende Gelingensbedingungen sind Grundlage einer erfolgreichen Kooperation: –– Kommunikation auf Augenhöhe –– Verbindlichkeit und Transparenz –– Verlässliche Planung und Durchführung –– Verbindliche Kooperationsverträge für die Zusammenarbeit. Kooperationsverträge enthalten Aussagen über –– Verantwortliche –– Inhalte und Ziele des Projektes –– Einbindung in die Schulabläufe (z. B. Konferenzen) –– finanzielle Regelungen (z. B. Honorarvereinbarungen) –– organisatorische Fragen (z. B. Hausordnung, Rechte und Pflichten) –– Verfahren bei Konflikten (z. B. Ansprechpersonen) –– Evtl. Mitgestaltungsmöglichkeiten von Schüler_innen Schulkooperative Arbeit ist eine komplexe Herausforderung. Diakon_ innen und Pastor_innen, die vor Ort in Schulen mitarbeiten, benötigen Unterstützung. Sie dürfen bei der Entwicklung schulkooperativer Arbeit nicht allein gelassen werden. Es bedarf einer Qualifizierung hinsichtlich konzeptionellen Arbeitens und einer unterstützenden Begleitung bei der Umsetzung (Coaching), um diese vielschichtigen Aufgaben zu bewältigen.

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Praxisbeispiele

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Schulseelsorge und Service-Learning /  Lernen durch Engagement Gunda Wohlenberg

Die Idee des »Service-Learning« stammt aus Nordamerika. Dabei wird freiwillige, ehrenamtliche Tätigkeit (service)  außerhalb der Schule mit schulischem Lernen (learning) verknüpft. In Deutschland spricht man auch von »Lernen durch Engagement« an Schulen.1 Schüler_innen engagieren sich im sozialen, ökologischen, politischen oder kulturellen Bereich, tun etwas für das Gemeinwesen und sammeln für sich selbst Erfahrungen in zivilgesellschaftlichen Kontakten und demokratischer Kultur. Sie engagieren sich dabei nicht losgelöst von der Schule, sondern als Teil von Unterricht und verbunden mit fachlichem Lernen. Bildungsund Lehrpläne geben hierfür Raum. Dies führt zu einer Veränderung der Lernkultur: Schüler_innen lernen, Wissen und Kompetenzen praktisch anzuwenden. Zugleich kann die Relevanz schulischen Lernens in Praxisfeldern außerhalb der Schule überprüft, bewährt oder auch verändert werden. Durch das »Service-Learning« wird gesellschaftliches Engagement von Jugendlichen im Schulalltag verankert und mit Unterrichtsinhalten verbunden. Die Erfahrungen, die die Schüler_innen bei ihrem Engagement für Andere machen, werden im Unterricht aufgegriffen, reflektiert und mit Lerninhalten verknüpft. Dabei erfahren die Jugendlichen, dass es für sie Gewinn bringend ist, sich für die Gemeinschaft einzusetzen. Sie trainieren soziale und demokratische Kompetenzen und können das in der Praxis erworbene Wissen und ihre Erfahrungen im Unterricht einfließen lassen. So wird Unterricht praxisnah und handlungsorientiert. Im »Ler-

1 Anne Seifert, Sandra Zentner, Franziska Nagy, Praxisbuch Service-Learning. ›Lernen durch Engagement‹ an Schulen. Weinheim und Basel 2012.

Schulseelsorge und Service-Learning

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nen durch Engagement« gewinnt schulkooperative Arbeit auf schüler_innenorientierte Weise Gestalt. In diesem Zusammenhang wird neben »Service Learning« und »Lernen durch Engagement« auch das Stichwort »Trainee« verwendet.2 In der freien Wirtschaft bezeichnet dieses Stichwort Programme, in denen Personen, zumeist junge angehende Führungskräfte, in der Ausübung ihres Jobs spezifisch gefördert und geschult und dabei von Mentor_innen begleitet werden. Im Bereich kirchlicher Arbeit werden unter diesem Stichwort Bildungsprozesse gefördert, die zugleich praxisorientiert und auf die Bildung von Kompetenzen und Verantwortlichkeit von Jugendlichen konzentriert sind. »Ein Trainee-Kurs bietet Jugendlichen verschiedene Formen, Methoden und Erfahrungen. Die Bildungsinhalte setzen in hohem Maße an der Lebenswelt der Jugendlichen an. Damit gestalten sie ihre eigene Bildung entscheidend mit (…) Ein Trainee-Kurs aktiviert sowohl im Kursgeschehen als auch in der Praxisphase zur Übernahme von Verantwortung.«3 Was im folgenden Projektbericht als Beispiel schulkooperativer Arbeit zwischen protestantischer Kirche und Schule entwickelt wird, kann perspektivisch in analoger Weise auch in der Kooperation zwischen anderen Religionsgemeinschaften und Schulen lebendig werden.

13.1

Der erste Kontakt

Vor etwa einem Jahr befasste sich das Kollegium unserer Schule mit der Planung des Wahlpflichtunterrichts (WPU) für den kommenden 7. Jahrgang. Um Anregungen dafür zu erhalten, ließ ich mir das WPU-Angebot der Satruper Gemeinschaftsschule Struensee zuschicken. Dabei fiel mein Augenmerk zum ersten Mal auf das Fach »Service-Learning«.

2 Vgl.: Sybille Kalmbach / Jürgen Kehrberger (Hg.), Das TRAINEE-Programm – Kompetenzen trainieren, Jugendliche gewinnen, Engagement fördern. Stuttgart 2011; www.lernendurch-engagement.de; www.trainee-portal.de. 3 Sybille Kambach / Jürgen Kehrberger (Hg.), Das TRAINEE-Programm, a. a. O., 19 f.

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Praxisbeispiele

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13.2

Das Trainee-Programm

Im Dezember 2011 erhielt ich von unserer Kirchengemeinde die Anfrage, ob ich als Vertretung für die erkrankte Pastorin an einer Trainee-Freizeit teilnehmen könnte. Die Kirchengemeinde Borby bietet für Jugendliche nach der Konfirmation eine einjährige Trainee-Ausbildung an. Dies ist ein erlebnis- und praxisorientierter Kurs, um »Teamer_in« (Jugendgruppenleiter_in) zu werden. Während regelmäßiger Treffen und Praktika erwerben die Jugendlichen wichtige Impulse zur Persönlichkeitsentwicklung und zur Schulung bestimmter Fähigkeiten. Nicht nur Kompetenzen und Funktionen werden geschult, sondern es geht auch um persönliche Auseinandersetzung mit Glaubensfragen, Wertevermittlung, Grund­ orientierung, soziale Verantwortung sowie Begleitung in existenziellen und insbesondere religiösen Fragen. Dabei werden personale, soziale und auch fachliche Kompetenzen erlangt und gleichzeitig Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein, Engagement und Verantwortungsbereitschaft gestärkt. Ziel des Trainee-Programms ist, dass die Jugendlichen ihre eigene Persönlichkeitsentwicklung wahrnehmen und reflektieren lernen. Sie denken über ihr Leben nach, setzen sich mit ihren Interessen, Eigenschaften und Stärken auseinander und entwickeln Ziele und Ideen für die Zukunft. In der Praxis schulen sie mit Einsätzen in der Gemeinde ihre soziale Verantwortung. Durch praktisches Erproben des Gelernten, Auswertung der Teamarbeit, selbständiges Planen und Durchführen von Projekten werden Theorie und Praxis eng verwoben. Während der Arbeit mit den Trainees war ich davon beeindruckt, wie motiviert und selbstbewusst die Jugendlichen Dinge anpackten und wie sehr sie durch die gemeinsame Kurserfahrung zusammenwuchsen. Ich begleitete diese Gruppe noch bis zum offiziellen Abschluss im März.

13.3 Selbstkompetenztraining Inspiriert durch die Arbeit mit den Trainees, plante ich im Rahmen der schulischen Projektwoche Anfang Februar 2012 ein Selbstkompetenztraining mit meiner 7. Klasse. Zu diesem Zweck gestaltete ich einen Vormittag im Borbyer Gemeindehaus. Im ersten Teil habe ich mit erlebnisSchulseelsorge und Service-Learning

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pädagogischen Spielen gearbeitet, mit Wahrnehmungsübungen und dem zeichnerischen Darstellen des bisherigen Lebens der Schüler_innen als Flusslandschaft und anschließender Reflexion. Nach einem gemeinsamen Frühstück ging es im zweiten Teil  dieser Arbeitseinheit um die Auseinandersetzung mit eigenen Fähigkeiten, Interessen und Stärken. Selbst- und Fremdeinschätzung wurden reflektiert, um so mögliche eigene Ziele für die Zukunft formulieren zu können. Dieser außerschulische Vormittag (Ablauf im digitalen Zusatzmaterial zu diesem Band) gab der Gruppe Raum, Themen zu bearbeiten, die für das persönliche und soziale Lernen in einer Gruppe wichtig sind und gleichzeitig die Klassengemeinschaft stärken. Die Gestaltung dieses Tages ermutigte mich, die Planung des Wahlpflichtunterricht- bzw. Wahlpflichtkurs-Faches »Service-Learning« weiter voranzutreiben. So erfolgte Anfang März ein Treffen mit zwei Kolleginnen der Satruper Gemeinschaftsschule, die schon seit ca. zehn Jahren das Fach »Service-Learning« an ihrer Schule anbieten. Sie berichteten von ihren vielfältigen Erfahrungen, gaben praktische Hilfen und zeigten erarbeitete Beispiele, wie die Entwicklung von Fotos, Filmen, Mappen, Plakaten usw. Diese Informationen erwiesen sich für meine eigene Planung als überaus hilfreich. Aus den gesammelten Ideen und Erfahrungen fasse ich nun folgende Durchführung für unsere Schule ins Auge:

13.4

Wahlpflichtkurs Service-Learning

Für das kommende Schuljahr plane ich einen zweistündigen Wahlpflichtkurs »Service-Learning« für den 9. Jahrgang anzubieten. In der ersten Phase (von Schuljahresbeginn bis zu den Herbstferien) werden sich die Jugendlichen mit ihren Stärken und Interessen ausein­ andersetzen, und zwar sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdwahrnehmung. Dabei sollen sie überlegen, auf welche Weise sie sich für andere Menschen aktiv einsetzen können. Ein weiteres Ziel ist es, ihre eigene Teamfähigkeit zu stärken. Die Gemeinschaft in der Gruppe bildet einen wichtigen Rückhalt für Selbstvertrauen, Ideenfindung und Reflexion. In einer zweiten Phase (nach den Herbstferien) erkunden die Schüler_ innen als »Gemeinde-Detektive« ihre Ortsgemeinde  – sie decken posi186 

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tive und negative Aspekte in diesem Lebens- und Arbeitszusammenhang auf, dokumentieren und präsentieren sie. Interviews mit Repräsentanten örtlicher Einrichtungen, wie dem Bürgermeister, der Erzieherin, dem Jugendpfleger, dem Pastor u. a. werden geführt, um zu klären, wo Engagement sinnvoll und erwünscht wäre. Bei ihren Erkundungen erfahren die Schüler_innen, an welchen Stellen ihre Hilfe gebraucht wird, und konzipieren ihre ersten Projektideen. In der dritten Phase (nach den Herbstferien bis zum Schulhalbjahresende) geht es um die Projektplanung. Hier liegt der Schwerpunkt auf der Ausarbeitung von Projekttätigkeiten, die von den Schüler_innen realistisch geleistet werden können. Bei der Projektentwicklung wird im Unterricht gemeinsam erarbeitet, welche Inhalte und Kompetenzen für das jeweilige Vorhaben vermittelt und später verwirklicht werden sollen. Die Schüler_innen bilden Projektteams (2 bis 3 Schüler_innen), in denen sie ihre Projektidee konkretisieren und einen »Projektfahrplan« erstellen. Beispiele –– Schüler_innen werden Lesepaten für Grundschüler_innen, lesen einmal wöchentlich mit den Kindern und helfen ihnen, Texte zu verstehen und selbst zu schreiben. –– Schüler_innen besuchen einmal pro Woche einen alten Menschen im Seniorenheim. –– Schüler_innen gestalten eine Homepage z. B. für die Kirchengemeinde. –– Schüler_innen bieten im Kindergarten eine Spielgruppe an.

In der 4. Phase (im 2. Schulhalbjahr) – der Praxisphase – geht es um die Projektdurchführung. Die Schüler_innen stellen ihre Projektideen den außerschulischen Institutionen vor und treffen mit der jeweiligen Einsatzstelle eine Kooperationsvereinbarung. Einmal pro Woche für mindestens 90 Minuten führen sie ihre Projekte eigenverantwortlich durch. Dabei werden sie regelmäßig von der Lehrkraft hospitiert, führen ein Projekttagebuch und gestalten über die Gesamtdauer des Praxiseinsatzes eine Projektdokumentation. In der Schule kommen die Schüler_innen alle vierzehn Tage zusammen, um ihren Wissensstand zu bearbeiten und gemeinsam ihre Tätigkeiten zu reflektieren. Schulseelsorge und Service-Learning

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Nach Abschluss der Praxistätigkeit stehen am Ende des Schuljahres die Gesamtreflexion und Evaluation der Schüler_innenprojekte an. In einer gemeinsamen Abschlussfeier, zu der alle beteiligten Institutionen, die Eltern, sowie einige Schüler_innen und Lehrer eingeladen werden, zeigen die Schüler_innen Präsentationen ihrer Projekte. Anschließend erhalten sie ein Zertifikat über ihre ehrenamtliche Arbeit. Dieses werden sie später ihren Bewerbungsunterlagen für eine Ausbildungsstelle zufügen können. Der Kurs »Service-Learning« setzt sich dabei folgende Ziele: –– die Schule ins außerschulische Umfeld öffnen; –– das Miteinander der Jugendlichen inner- und außerhalb der Schule verbessern; –– die Fähigkeit der Schüler_innen entwickeln, gesellschaftliche Problemlagen in ihrem Umfeld wahrzunehmen, zu analysieren und problemlösend zu handeln; –– Selbstvertrauen, Frustrationstoleranz und Empathiefähigkeit bei den Schüler_innen stärken. Dabei sollen folgende Qualitätsstandards eingehalten werden: –– Die Projekte des »Service-Learning« reagieren auf einen realen Bedarf; die Schüler_innen übernehmen eine verantwortungsvolle und nützliche Aufgabe. –– »Service-Learning« ist Teil des Unterrichts und das Engagement wird mit Unterrichtsinhalten verknüpft. –– Es findet eine regelmäßige und geplante Reflexion der Erfahrungen der Schüler_innen statt. –– Das praktische Engagement der Schüler_innen wird außerhalb der Schule durchgeführt.

13.5

Service-Learning und Schulseelsorge

Auf der Basis christlicher Grundwerte und eines christlichen Menschenbildes (und analog dazu auch auf der Basis der Wertorientierungen der muslimischen, jüdischen und weiterer Religionen) übernehmen Jugendliche beim »Service-Learning« soziale Verantwortung. Sie entwickeln 188 

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die Fähigkeit, sich für die Gemeinschaft einzusetzen. Sie erhalten einen anderen Blick für sich und ihre Umwelt. Zu sehen, dass ihre Arbeit anderen nützt, bildet für sie eine unschätzbar wichtige und persönlichkeitsstärkende Erfahrung. Religiöse Verbundenheit – z. B. in christlicher Orientierung – bekommt ein Gesicht und wird auf diese Weise sichtbar und erlebbar. »Lernen durch Engagement« eröffnet Praxisfelder schulkooperativer Arbeit, z. B. durch die Verknüpfung von Schule und Kirche durch Hospitationen in Einrichtungen der Kirche, Diakonie und anderer »kirchlicher Orte«, wie z. B. einer Initiativgruppe für Flüchtlinge, einem pädagogischtheologischen Institut oder einem Konfirmand_innenferienseminar. Das »Service-Learning« ermöglicht eine produktive und nachhaltige Gruppendynamik, die die Atmosphäre in den Kursen und im Ge­ samtsystem Schule beeinflussen kann. Erfolgserlebnisse, wertschätzendes Feedback und positive Gruppenprozesse verstärken die Anfangsmotivation der Schüler_innen während des Kurses. Partnerschaftliches und teamorientiertes Lernen fördert Selbstvertrauen. Die Schubkraft engagierter Jugendlicher könnte Schule von »unten her« verändern. Diese Form der schulbezogenen Jugendarbeit schafft möglicherweise eine Offenheit für weitere Projekte, wie z. B. Tage der Orientierung, Jugendgottesdienste, TEO-Tage (»Tage ethischer Orientierung«), Klassen­ tagungsangebote, o.ä. Auf diese Weise können spirituelle und religiöse Dimensionen in den Schulalltag integriert werden. Persönlich hoffe ich, mir mit diesem Projekt eine vertrauensvolle Beziehung zu den Jugendlichen aufbauen zu können. Es werden sich möglicherweise Gesprächsanlässe ergeben, die eine seelsorgliche Begleitung bei persönlichen Problemen ermöglichen. Nach einem Probedurchlauf des Wahlpflichtkurses »Service-­Learning« muss überlegt werden, ob dieser Kurs möglicherweise in das Fach Religion integriert werden soll. So könnte im 9. Schuljahr Religion als »Service-Learning« angeboten werden. Allerdings könnten dann andere Themen des Lehrplans Religion nicht behandelt werden.

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Krisenintervention nach einem Suizid Marion Tiburtius

In der Nähe unserer Schule befindet sich die S-Bahnhaltestelle Pinneberg-Thesdorf. Dort ist auch eine Bushaltestelle, von der aus die Schüler_ innen unserer Schule nach Hause fahren. Zwei Hochhäuser und einige niedrigere Wohnhäuser mit einfachen Wohnungen und einige Geschäfte bilden das Zentrum von Pinneberg-Thesdorf. Am 1. April gegen 12 Uhr mittags beging ein Mann Selbstmord, indem er sich von einem der Hochhäuser stürzte. Gerade in diesem Augenblick kamen etliche unserer Schüler_innen vorbei, die mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause fahren wollten. Sie wurden Augenzeugen dieses Suizids. Einige rannten davon, einige sahen von der Hochbrücke über die S-Bahn aus den Mann am Boden liegen und beobachteten, wie Polizei und Rettungswagen kamen. Eine Pastorin als Notfallseelsorgerin wurde auch gerufen. Sie kam an, als man den Mann schon fortgebracht und die Blutspuren entfernt hatte. Sie hatte keine Gelegenheit mehr, mit den betroffenen Schüler_innen zu sprechen. Am Montagmorgen waren viele Schüler_innen noch ganz durcheinander. Sie hatten zwar die Möglichkeit gehabt, ihren Eltern das Erlebte zu schildern und sich vom allerersten Schreck zu erholen, aber am Montag trafen sie wieder mit ihren Mitschüler_innen zusammen und hatten das Bedürfnis, sich mit ihnen auszutauschen. Viele waren immer noch sehr schockiert und konnten sich nicht auf das Thema des Tages (es war eine Art Projektwoche) konzentrieren. Mein Bestreben, Schulseelsorgerin zu werden, war bisher nur wenigen meiner Kolleg_innen bekannt. Durch diesen Vorfall jedoch war mein erster Einsatz notwendig geworden. Der pädagogische Koordinator unserer Schule und seine Klassenlehrerkollegin schickten mir sechs Mädchen ihrer 7. Klasse, die gern ein Gespräch mit mir führen wollten. 190 

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Wir setzten uns in einen kleinen, gemütlichen Raum im Pavillon der Sozialpädagogen. Drei der Mädchen erzählten aufgeregt, was sie gesehen und wie sie reagiert hatten. Zwei andere Mädchen weinten und konnten nicht über das Erlebte sprechen, wurden aber von ihren Mitschülerinnen getröstet. Meine Aufgabe in diesem Gespräch habe ich darin gesehen, den Mädchen aufmerksam zuzuhören und sie aussprechen zu lassen, was ihnen alles durch den Kopf ging. Es erstaunte mich, wie differenziert und vielseitig sie über das Erlebte reden konnten: Über ihren entsetzlichen Schock und ihr Gelähmtsein, dass sie nicht hinsehen wollten und es doch taten, dass sie weglaufen wollten und doch blieben, dass sie ihre Eltern anriefen und nicht sagen konnten, was los war, dass sie später eine Wut auf den Mann hatten, dass er ihnen das angetan hatte, dass sie die Befürchtung hätten, das Erlebte würde sie in ihrem Leistungsvermögen in der Schule beeinträchtigen, dass sie durch das Erlebte irgendwie zusammengehörten und vieles mehr. Als sie mit ihren Schilderungen zu Ende gekommen waren (nach ca. 1 ½ Stunden), verspürten sie einen Bärenhunger. Einige hatten seit dem Abend vorher nichts mehr gegessen. Wir gingen also in die Mensa und aßen gemeinsam zu Mittag. Dies tat den Mädchen sichtlich gut und sie wurden wieder etwas fröhlicher. Als Nächstes fassten sie den Entschluss, zu der Schreckensstelle zurückzugehen. Ich sollte sie dabei begleiten. Je näher wir kamen, desto mehr erinnerten sie sich, worüber sie gerade geredet und wie sie die Tat anfänglich wahrgenommen hatten. Sie verweilten ca. 20 Minuten an der Stelle, schauten alles genau an, gingen hin und her, nahmen sich gegenseitig in die Arme und bildeten zum Schluss einen Kreis, indem sie sich alle umarmten und mich mit einschlossen. Sie sagten: »Wir gehören jetzt zusammen.« Danach gingen wir wieder zur Schule, die Schülerinnen bedankten sich bei mir und wir gingen auseinander. Wir hatten den ganzen Vormittag miteinander verbracht. Ihren Klassenlehrern erzählten die Mädchen hinterher, es hätte ihnen gut getan, was wir miteinander gemacht haben. Ich habe vor, mich jetzt, nach über einem Monat, noch einmal mit den sechs Mädchen zu treffen und sie zu fragen, wie es ihnen seither ergangen ist. Krisenintervention nach einem Suizid

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Im Nachhinein denke ich, ich hätte in dem Moment, als sich alle sechs Schülerinnen im Kreis im Arm hielten und mich mit einbezogen, ein Gebet sprechen sollen, etwa in folgender Art: »Lieber Gott, wir sind erschüttert über das, was wir hier mit ansehen mussten. Wir haben auch jetzt noch die Bilder vor Augen. Wir müssen immer daran denken und können uns nur schwer dem Schulalltag zuwenden. Wir sind auch wütend, weil jemand auf so schreckliche Weise in unser Leben eingegriffen hat und uns einen Schreck versetzt hat, den wir nie wieder vergessen werden. Wir können nicht schlafen und fragen uns immerzu, warum sich der Mann das Leben genommen hat. Wir bitten dich: Nimm diesen Mann zu dir und lass ihn bei dir den Frieden finden. Hilf uns, das Erlebte zu verarbeiten und auch unseren Frieden wiederzufinden.« So oder ähnlich könnte ich es aber immer noch bei einem erneuten Treffen mit den Mädchen machen, das würde ich spontan entscheiden. Seelsorgeanlässe dieser Art gab es und kann es immer wieder an einer Schule geben. Ende 2009 starb eine Schülerin der 8. Klasse an einer Herzkrankheit und hinterließ ihre Zwillingsschwester. Diese kam am Tag nach dem Tode ihrer Schwester zur Schule und nahm am Unterricht teil. Der damalige Schulleiter ging damals in die Klasse und überbrachte den Mitschüler_innen die Todesnachricht. Es war unmöglich, zur Tagesordnung überzugehen. Damals war ich noch nicht Schulseelsorgerin, aber jetzt würde ich es als meine Aufgabe betrachten, die Schüler_innen durch hilfreiche spirituelle Angebote seelsorglich zu betreuen (Kerzen anzünden, Gedenktisch errichten, Briefe an die Verstorbene schreiben, Blumenschmuck organisieren usw.) und die Klassenlehrer_innen in dieser Angelegenheit hilfreich zu unterstützen. Auch um die Zwillings­schwester muss man sich weiterhin seelsorglich kümmern.

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Spirituelle Impulse im Schulalltag am Beispiel des Japan-Memorials Silke Petersen-Bukop

»Wenn Raum, Zeit und Personen stimmen und alle drei Orte gleichzeitig zusammentreffen, dann ist die Chance für eine gelingende und intensiv erfahrbare Spiritualität in und um Schule am Größten.«1

2011 erschütterte ein Tsunami mit katastrophalen Folgen für Japan die ganze Welt. Die furchtbaren Nachrichten und die vielen Bilder aus dem japanischen Krisengebiet bestürzten Schüler_innen und Kolleg_innen. Die Flut der Informationen erschien mir als Erwachsenem schon kaum aushaltbar. Durch die Allgegenwart unserer mächtigen Medienwelt fühlte ich mich völlig überfordert. Wie würden die vielen emotional bedrückenden Bilder von unseren Schüler_innen aufgenommen werden? Wie konnten wir unserer Trauer, unserem Mitgefühl und auch der wachsenden Angst begegnen und Möglichkeiten zum Austausch geben? In meinen Religionsstunden, aber auch in den Klassen, in denen ich nicht als Religionslehrerin arbeitete, bot ich den Schüler_innen die Möglichkeit zum Gespräch. Wie schon bei anderen ähnlichen Vorfällen war in vielen Klassen noch kein Gespräch geführt worden. Es zeigte sich mir dabei deutlich, dass viele Kolleg_innen selber solchen Ereignissen, die uns tief berühren, sprachlos gegenüberstehen. Im Gespräch mit den Klassen war mir klar, dass die Schüler_innen, gleich welchen Alters, unterschiedliche Angebote erhalten mussten, um mit ihren Wahrnehmungen umzugehen. Ich bot ihnen in Gruppen Möglichkeiten zum ruhigen Gespräch, zum Gestalten mit Farbe oder zum kreativen Schreiben. In der darauf folgen1 Helmut Demmelhuber, Räume, Zeiten und Personen als »Orte der Spiritualität« in und um Schule. In: Harmjan Dam / Stefanie Daube (Hg.), Die Mitte suchen. Spiritualität in und um Schule. Darmstadt 2009, 96–99, 97.

Spirituelle Impulse im Schulalltag

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den Phase ließ ich die Schüler_innen Plakate gestalten, auf denen sie ihre Gedanken und Emotionen in Satzergänzung (»Meine Gedanken sind bei …«; »Ich habe Angst, dass …«; »Ich wünsche den Menschen in Japan, dass …«) verschriftlichen konnten. Dies bot sehr viele Gesprächsanlässe, die mit großer Ernsthaftigkeit und Betroffenheit aufgegriffen wurden. Von den Schüler_innen meiner eigenen Klasse, eines 6.  Gemeinschaftsschuljahrgangs, wurde der Wunsch geäußert, diese Plakate mit den anderen Schüler_innen zu teilen. Im Kunstunterricht gab ich dann die Aufgabe an meine Schüler_innen ab und sie gestalteten gemeinsam den Plan für ein »Japan-Memorial«. Sie organisierten Stellwände, Tücher aus dem Textilbereich, die zur Japan-Fahne genäht wurden, hängten ihre und viele leere Plakate auf die Seitenwände des Triptychons.2 Eine schlichte Säule aus massivem Eichenholz wurde mit drei Teelichtern bestückt. Die Japan-Wand, wie die Schüler_innen sie nannten, wurde mittig im großen Hauptgeschoss des Schulgebäudes platziert, so dass alle daran teilhaben konnten. Von da an wurde die Wand mit den bereitgestellten Stiften von anderen Schüler_innen intensiv genutzt. In jeder Pause standen Schüler_innen allein oder in Gruppen davor, um zu lesen oder eigene Gedanken dazu zu schreiben. Unpassende Kommentare wurden mit großer Entrüstung von meinen Schüler_innen im Unterricht thematisiert. Meine Religionskollegin ergänzte die Lichter um die Schilder »Glaube«, »Liebe« und »Hoffnung«. Von Kolleg_innen erfuhr ich, dass sie die Japan-Wand als Anlass nahmen, um außerhalb des Klassenzimmers über die Katastrophe zu sprechen. Kraniche wurden gebastelt und hingen am Triptychon. Auch die Hausmeister der Schule stellten eine Laterne dazu. Mir zeigt die große Akzeptanz, dass durch das Triptychon eine Gelegenheit zum Innehalten und eine Möglichkeit des Ausdrucks geschaffen wurde, die ich als Seelsorge im gestalteten Lebensraum verstehe. In der Kreativität und eben auch außerhalb des Klassenraumes konnten Gefühle auf vielfältige Weise zum Ausdruck gebracht werden. Eine wichtige Dimension dieser Arbeitsform ist die Entschleunigung. Im Schulalltag kann sich oft der Eindruck verfestigen, dass vielem nicht in der Tiefe und mit der nötigen Muße begegnet wird. Hierzu braucht es 2 Drei Stellwände, aufgestellt wie ein dreiteiliges Altarbild – und eine Holzstele dazwischen.

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Raum, im zeitlichen wie lokalen Sinn. Um diesen Bedürfnissen aller an Schule Beteiligten gerecht zu werden, muss ein Schulklima gepflegt werden, das die Entschleunigung in ihren verschiedensten Formen ermöglicht. Entschleunigung schafft einen Moment der Wahrnehmung der eigenen Befindlichkeit, sensibilisiert für die Bedürfnisse des Körpers  – beispielsweise nach Ruhe, einem Moment der Stille in einem unruhigen Lernbetrieb. Aber viel wichtiger erscheint der seelische Aspekt – wahrnehmen, wie man sich in sich selbst fühlt, was einen bewegt und eventuell nicht zur Ruhe kommen lässt. Gefühle wahrnehmen und artikulieren. Auch in der Begegnung mit der Katastrophe von Fukushima hat erst die Atmosphäre von Entschleunigung einen Austausch zwischen Schüler_ innen verschiedenster Altersstufen ermöglicht. Es gilt, in der Schule eine Kultur der Beratung wachsen zu lassen und zu pflegen. Das setzt voraus, dass man sich im Vertrauen an einen Menschen wenden kann, dass man in der Schule auch einfach nur »Mensch« sein darf – mit Liebeskummer, Elternärger, Ausgeschlossenheit, im Sichunverstanden-Fühlen. Im Kontext und in Zusammenarbeit mit anderen Beratungsangeboten in der Schule hat Schulseelsorge die Chance, einen ganzheitlichen Ansatz der Wahrnehmung und Begleitung zu entwickeln. Neben dem Netzwerk, das eine Stadt oder Kommune in Hilfssituationen bietet und an das ich weiterleiten und verweisen kann, und neben der Zeit für Gespräche, Zeit zum Zuhören, Zeit für Schüler_innen, Eltern, Kolleg_innen, geht es mir auch um die spirituelle Ausgestaltung des Lebensraumes Schule. Dies setze ich in Zusammenarbeit mit meinen Schüler_innen um. Ein »Raum der Stille«? Viele Monate des Suchens und Gesprächeführens vergehen, aber dann gelingt es doch, in dem beengten Schulgebäude einen Raum zu finden. Nun wird im nächsten Schuljahr eine »Stille Pause« während der Mittagsfreizeit in der gebundenen Ganztagsschule im Angebot sein.

Spirituelle Impulse im Schulalltag

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Projekttage »Schönheit« und »Respekt!« – Bildungsangebote als schulkooperatives Handlungsfeld Marion Voigtländer

»… in die weite Welt hinein, Stock und Hut steh’n ihm gut, ist gar wohlgemuth«

Der Text dieses alten bekannten Kinderlieds beschreibt Erfahrungen von menschlicher Nähe, von Aufbruch und Abschied, von Trennung und Wiederfinden, von der Suche nach Geborgenheit. In ihm finden sich die Entwicklungsschritte wieder, die jedes Kind und jeder Jugendliche in seinem Leben durchläuft. »Im Lied vom ›Hänschen klein‹, das hinaus in die Welt geht, heißt es: Es würde mit ›Stock und Hut wohlgemuth‹ wandern, voller Vertrauen in seinen Körper, in seine Fähigkeit, sich auf andere einzulassen, und bereit, soziale Kontakte zur Mitwelt zu knüpfen. Aber das ist nur die ›halbe Miete‹. Der ›Stock‹ und der ›Hut‹ haben spirituelle Qualitäten, symbolisieren den Kontakt zu einem höheren geistigen Wesen, das phantastische Kräfte und magische Energien bereitstellt. Der Stock gibt Halt – ›dein Stecken und Stab trösten mich‹, heißt es im Psalm 23. Und man könnte hinzufügen, führen mich, weisen Wege, öffnen Perspektiven, … Kinder, die sich aufmachen in die Welt, brauchen und wollen den Hut, benötigen ›Behütung‹. Es gibt ›behütende Sprüche‹: ›Du schaffst es!‹ ›Du packst das!‹, begleitet von einem – ob nun ausgesprochen oder nicht – ›Gott begleitet dich und steht dir bei!‹… Kinder und Heranwachsende … brauchen Ermutigung, eine lebhafte, die Grenzen der Realität überschreitende Kreativität, sie brauchen den Glauben an das Göttliche als Kraft und jede Menge Lachen und Humor.«1 1 Anselm Grün / Jan-Uwe Rogge, Kinder fragen nach Gott. Reinbek 2011, 65 f.

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Nach meinem Verständnis spiegeln sich in dem, was »Stock und Hut« ausmachen, verschiedene Aspekte der Schulseelsorge wieder. Ich sehe in ihr die Lebens- und Glaubensbegleitung von Kindern und Jugendlichen in der Spannbreite von –– Bildungsangeboten, Lern- und Handlungsfeldern neben dem Schulsystem, die sie ermutigen, »in die weite Welt hinein« zu gehen, ihren Platz in der Gesellschaft wahrzunehmen, –– der individuellen Zuwendung zum einzelnen Schüler / zur einzelnen Schülerin, und das –– besonders in Konflikt- und Krisensituationen, um »behütet«, getröstet und gestärkt die Situation zu durchleben.

16.1 Voraussetzungen Ich arbeite auf einer 100 %-Stelle als Gemeindepädagogin für die Kinderund Jugendarbeit in der ev.-luth. Kirchengemeinde Hamburg-Schnelsen. Im Gebiet der Kirchengemeinde befinden sich eine Stadtteilschule und vier Grundschulen, zwei davon in unmittelbarer Nähe bzw. direkt gegenüber vom Gemeindehaus. Im Laufe meiner langjährigen Tätigkeit hat sich der Kontakt zu den Schulen immer mehr verstärkt, so dass ich jetzt regelmäßig verschiedene schulkooperative Projekte durchführe: –– Einschulungsgottesdienste für Klasse 1 –– Erntedankgottesdienste für Klasse 1 und 2, –– Reformationstag für Klasse 4 –– Gedenkveranstaltung für die Kinder vom Bullenhuser Damm.2 Im Laufe der Entwicklung zur erweiterten Nachmittagsbetreuung in den Schulen wurden meine kirchlichen Kindergruppen in das Wahlangebot für die Schüler_innen mit aufgenommen. Zur Stadtteilschule bestand bisher kein Kontakt. Das hat sich durch meine Ausbildung zur Schulseelsorgerin verändert. Im Koordinierungsrat, einem Stadtteilgremium aller Vertreter_innen aus dem Kinder- und 2 Die Gedenkstätte Bullenhuser Damm erinnert seit 1980 an 20 jüdische Kinder, die vor ihrer Ermordung zu medizinischen Experimenten im Konzentrationslager Neuengamme missbraucht worden waren, und an die vier Häftlinge, die sie betreut hatten.

Projekttage »Schönheit« und »Respekt!«

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Jugendbereich einschließlich der Schulen, habe ich von meiner Ausbildung erzählt und mein Interesse signalisiert, die Zusammenarbeit mit den Schulen zu verstärken. Dies wurde von einem Beratungslehrer aufgenommen und wir haben ein Planungstreffen vereinbart, in dem ich die Möglichkeit einer Projektwoche vorschlug.3 Nach Absprachen mit der Schulleitung der Stadtteilschule haben wir uns darauf geeinigt, zunächst nur zwei Projekttage als »Pilotprojekt« durchzuführen: »Schönheit« und »Respekt«.

16.2

Die Projekttage »Schönheit« und »Respekt«

Die beiden Projekttage wurden am 25. und 26.4.2012 in den Räumen des Gemeindehauses durchgeführt. Außer mir waren ein Pastorenkollege und drei Lehrkräfte mit 23 Schüler_innen einer Integrationsklasse im 6. Jahrgang beteiligt. Beide Tage kann ich als gelungen bezeichnen und stichwortartig benennen, was mir positiv aufgefallen ist: Der Raumwechsel vom Ort Schule zur Kirchengemeinde hat sich bewährt. Die Räume konnten vorweg besonders gestaltet werden (Dekoration mit Spiegeln, Spiegelfolie, Plakaten zum Thema, gestaltete Mitte, Getränke-Ecke). Es standen alle Räume des Gemeindehauses zur Verfügung. Dadurch konnte in Kleingruppen gearbeitet werden. Räume bekamen Sonderfunktionen, wie z. B. Foto- oder Filmstudio und Ver­ kleidungs- und Schminkraum. Für die Pausen standen verschiedene Angebote zur Wahl: Trampolinspringen im Garten, Teestube als ruhiger Rückzugsort, Spieleraum mit Kicker, Billard und Tischtennis und – das Highlight der Schüler_innen – der Toberaum, ein an den Wänden gepolsterter Raum gefüllt mit unzähligen Kissen. Fast die gesamte Klasse hielt sich darin auf. 3 Während der Außentagung der hauptamtlichen Mitarbeitenden in der Kinder- und Jugendarbeit des Kirchenkreises HH-West / Südholstein hat eine kleine Arbeitsgruppe »Schulkooperation praktisch« entwickelt. Aus einer umfangreichen Ideensammlung für mögliche schulkooperative Projekte haben wir uns für eine Projektwoche »Ich … völlig losgelöst?« entschieden und für die fünf Tage Schwerpunkte festgelegt: 1. Tag – Wer bin ich?; 2. Tag – Bin ich schön?; 3. Tag – Was ist mir wichtig?; 4. Tag – Woran glaubst du?; 5. Tag – Respekt!« Für die gesamte Woche haben wir eine Materialkiste erstellt, die im Kirchenkreis zum Ausleihen bereitgestellt wird.

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Es war gut, zwei Tage hintereinander die Klasse zu sehen. Die Atmosphäre am zweiten Tag war wesentlich lockerer, ich kannte etliche Schüler_innen mit Namen, es fanden viel mehr Gespräche zwischendurch statt. Die Vorbehalte einzelner Schüler_innen, was sie wohl in »Kirche« erwarten mag, waren am ersten Tag noch zu spüren. Zwei Jungen verweigerten anfangs die Mitarbeit, ein muslimischer Junge wollte zuerst nicht einmal seinen Rucksack ablegen. Dieser Junge kam den folgenden Tag »aus Versehen« eine halbe Stunde zu früh und fragte, ob er hier schon spielen könne. Auch am Nachmittag kamen drei Jungen ins Gemeindehaus und fragten, ob sie den Toberaum nutzen könnten. Am zweiten Projekttag haben sich schließlich alle Schüler_innen beteiligt. Bestärkt haben mich die positiven Äußerungen in der Feedback-Runde; besonders hoben die Schüler_innen die kreativen Teile, wie Verkleiden, Stylen, Fotoshooting, Filmen, hervor – und das Austoben zwischendurch! Ich war auch mit dem inhaltlichen Niveau der beiden Tage sehr zufrieden. Angesichts etwa der heiklen Frage »Bin ich schön?« konnten die Schüler_innen erkennen, dass Lebensfreude, ihr Ausdruck, ihre Besonderheiten, ihr Lächeln etc. sie schön werden lassen. Die Gründung einer »Respekt-Partei« wurde umgesetzt, ein Logo entworfen und zwei Webespots gedreht. Erleichtert hat die Durchführung der Projekttage, dass die Lehrerin und die beiden Lehrer sich engagiert eingebracht haben. Nach dem zweiten Tag haben sie es bedauert, nicht doch noch mehr Tage mit mir geplant zu haben. Sehr positiv finde ich es, dass durch die beiden Projekttage eine Weiterarbeit in der Schule angeregt wurde. Die Fotos werden zu einer noch zu erarbeitenden Ausstellung mitgenommen, die Werbespots in der Schule gezeigt, das Partei-Logo fertig gestellt. Das Ergebnis wird mir als Mail zugeschickt. Und: Die Schüler_innen möchten in der Schule einen »Toberaum« einrichten und lieferten gleich erste Vorschläge. Gefreut habe ich mich über den guten Kontakt zu den Schüler_innen, die sich jetzt trauen, »einfach so« ins Gemeindehaus zu kommen. Interessierte wissen jetzt auch, wer hinter dem Angebot des Konfirmandenunterrichts steht. In einer Pausenzeit konnte ich die von mir angebotene Konfirmandenzeit vorstellen und ein Stück »Evangelisch-Sein« mit einbringen. Projekttage »Schönheit« und »Respekt!«

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16.3 »Mädchentag« Zu Beginn des darauffolgenden Schuljahres erreichte mich von der Lehrerin, die an diesem Projekt teilgenommen hatte, die Anfrage, ob ich sie bei der Durchführung eines »Mädchentags« zum Thema »Umgang mit Konflikten« unterstützen könne.

16.3.1 Vorüberlegungen Als ich mich nach den konkreten Zielen eines solchen Mädchentags erkundigte, erhielt ich von der Lehrerin folgende Beschreibung: »Als wir mit der Klasse darüber gesprochen haben, warum die Schüler_innen an der Schule sind und was ihnen hier wichtig ist (warum bin ich hier, was will ich von der Schule?), haben die Mädchen fast alle den Punkt ›Freude finden, Freunde treffen‹ genannt. Sie scheinen sich hier wohlzufühlen, weil sie ihre Freunde hier haben. Die Mädchen können das Positive an der Schule benennen und negative Aspekte, wie Lernen, zu viele Arbeiten und Hausaufgaben usw., zurückstellen – das scheinen sie hinzunehmen und sich damit zu arrangieren. Ihre Ziele sind die gleichen wie die der Jungen: Etwas lernen, einen guten Schulabschluss machen, um einen guten Beruf machen zu können …« Die Idee des »Mädchentages« ist es also, diesen positiven Aspekt, »Freudinnen treffen, mit Freundinnen etwas machen«, zu verstärken. Dafür ist ein fairer und respektvoller Umgang miteinander wichtig. Interessen, Vorlieben und Meinungen werden auch einmal unterschiedlich sein, und wenn die Mädchen dann nicht respektvoll und fair miteinander umgehen, sondern sich als Opfer von »Angriffen« erleben müssen, dann werden sie sich nicht mehr wohl an der Schule fühlen, vielleicht gar nicht mehr kommen mögen und irgendwann nicht mehr gut lernen und all die vielen Aufgaben, Arbeiten und Hausaufgaben meistern können. Damit war das Thema umrissen; folgende Fragen würden zur Sprache kommen: Wie wirke ich auf andere Mädchen? Welche äußerlichen Eigenschaften sind mir bzw. den anderen wichtig? Welche inneren Eigenschaften? Wie behandle ich die anderen? Wie behandeln sie mich? Wie möchte ich gern behandelt werden? Wer ist meine (beste) Freundin? 200 

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Wessen (beste) Freundin bin ich? Wer ist mit wem befreundet? Wer mag sich gegenseitig? Wer mag sich gar nicht? Was, wenn »Zickenalarm« ist? Wie gehen wir mit Konflikten um? Wir überlegten uns, mit Ganzkörperumrissen zu beginnen, in die Eigenschaften der »Wunsch-Freundin« hineingeschrieben werden könnten (innen und außen!). Von da aus wollten wir auf Handlungsmöglichkeiten im Konfliktfall kommen: Wenn’s in der Freundschaft kriselt, nicht so klappt usw. Das wären Themen für Rollenspiele. Als Ergebnis des Tages hätte ich gern einen Vertrag der Mädchengruppe über ihren Umgang miteinander. Ich frage mich auch, welche Konflikte schon in der Gruppe schlummern und dann hochkommen und wie »neutral« wir bleiben sollten, oder ob es auch um die Mädchen und deren Konflikte persönlich gehen darf / soll?

16.3.2 Material Und dies ist das Anspiel, mit dem es nach dem Einstieg mit den Ganzkörperumrissen weiterging: Beispiel Maja: Hallo Luisa, wollen wir am Wochenende mal wieder einen richtig tollen Mädelsabend machen? Ich leihe eine DVD aus und kaufe Chips und Getränke. Bringst du noch Schokolade mit? Luisa: Ja, toll, da hab ich auch richtig Lust drauf! Was hältst du davon, wenn ich auch bei dir übernachte? Maja: Ja, gern, ich frage meine Mutter, ob das ok ist. Dann können wir die ganze Nacht über zusammen quatschen. Ich muss dir unbedingt von Lars erzählen, der aus der Parallelklasse, den finde ich irgendwie süß. Luisa: Hey, du bist verliebt, was? Ich bin so froh, dass wir seit Jahren die besten Freundinnen sind und uns alles erzählen können. Maja: Ja, wir kennen uns immerhin schon seit der Grundschule. Zwei Wochen später: Luisa: Unsere DVD-Übernachtungsaktion war super. Willst du nächstes Wochenende mal zu mir kommen? Projekttage »Schönheit« und »Respekt!«

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Maja: Ja, nee, ich weiß noch nicht. Clara hat mich gestern gefragt, ob ich Samstag mit ihr zusammen in die Stadt fahren möchte, sie will sich neue Klamotten kaufen und ich soll sie dabei beraten. Die hat doch selber so einen coolen Style, da kann ich doch eher was abgucken. Ich könnte auch mal wieder ein paar neue Outfits gebrauchen. Luisa: Was hast du denn auf einmal mit Clara zu tun? Sonst sagst du doch immer, sie will mit ihren ständig neuen Sachen nur angeben. Maja: Ja, dachte ich bisher auch. Aber als ich mich mit ihr in der Pause mal länger unterhalten habe, fand ich sie eigentlich ganz nett. Sie hat einfach einen super Modegeschmack und genug Geld, um sich so toll zu stylen. Sie hat mir auch angeboten, dass sie mich mal komplett anders schminken und mir die Haare machen kann. Luisa: Was soll denn daran toll sein, so aufgebrezelt herum zu laufen. Die will doch nur Jungs anmachen. Pass bloß auf, dass sie sich nicht an Lars ran macht …

16.3.3 Weiterarbeit In Dreier- oder Vierer-Gruppen sollten die Mädchen überlegen, wie sich der Konflikt weiter entwickeln könnte, und ein mögliches Ende vorspielen. Dabei kamen die Aspekte Eifersucht / Neid, unterschiedliche Interessen, Ausschließlichkeit von Freundschaften, Veränderungen / Entwicklungen zum Tragen. Es war wichtig, die Ergebnisse nicht auf einer rationalen Ebene zu reflektieren, sondern, soweit es möglich war, das eigene Erleben der Mädchen, ihre Gefühle, mit einzubeziehen und dabei auch Konflikte, die in der Klasse bestanden, zu thematisieren. Das Vertrauen untereinander und zu uns und die Abwesenheit der Jungen schuf ihnen den nötigen Raum. Die Festschreibung des respektvollen Umgangs miteinander in einem Vertrag wurde an diesem Mädchentag nicht umgesetzt. Aus meiner Sicht war dies auch nicht das entscheidende Ergebnis. Vielmehr sehe ich es als gelungen an, wenn die Mädchen darin ermutigt worden sind, Konflikte anzusprechen und ihre eigenen Gefühle zu benennen. Somit werden Schuldzuweisungen reduziert und um mehr Verständnis für die eigenen 202 

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Empfindungen geworben. Sie nehmen sich selbst wichtig genug, sehen sich nicht als »Opfer«, sondern wirken an der Gestaltung von Beziehungen mit. Weiterhin lernen sie aber auch zu akzeptieren, dass Beziehungen Entwicklungen und Veränderungen unterworfen sind und sie darüber nicht allein verfügen können.

16.4

Ausblick und Ermutigung

Und was hat das alles mit dem Glauben, mit Kirche zu tun? Was bringt es für die Gemeinde, sich für Schule zu engagieren? Wie kann Kirche sich in ihrem Selbstverständnis bei Schulkooperationen treu bleiben, ohne Kinder / Jugendliche anderer Kulturen und Religionen auszuschließen? Sowohl die Schule als auch die Kirche nehmen einen Erziehungs- und Bildungsauftrag wahr. Es geht um die Persönlichkeit und Würde jedes Menschen oder theologisch gesprochen um die Ebenbildlichkeit jedes Individuums mit Gott: »Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde« (1 Mose 1,27). Auf dem Hintergrund dieser Achtsamkeit vor dem Ebenbild Gottes im Gegenüber können wir als Kirche / Gemeinde die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen fördern, gemeinschaftliches Lernen unterstützen, Achtung vor sich und anderen einüben, eine positive Schulkultur stärken und den / die Einzelne/n in der persönlichen Situation wahrnehmen. Als Schulseelsorgerin übernehme ich in der kooperativen Zusammenarbeit mit Schulen anteilig die Verantwortung für die »Seele« der einzelnen Schülerinnen und Schüler und für ein Umfeld, in dem ein gutes Zusammenleben gelingen kann. Das christliche Menschenbild prägt mein pädagogisches Handeln, ohne dass ich es ausdrücklich in jeder pädagogischen Situation konkret benennen muss. Ich biete den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit eines zusätzlichen Gegenübers außerhalb ihres Schulsystems. Kirche und Gemeinde erhält somit durch den persönlichen Kontakt zu mir ein »Gesicht«, mit dem sie ihre Erfahrungen der gemeinsam erlebten Projekte verbinden. Die Hemmschwelle, den für viele un­ bekannten Bereich »Kirche / Gemeinde« zu betreten, wird verkleinert und lädt sie zu weiteren möglichen Begegnungen, wie z. B. zur Konfirmandenzeit, ein. Projekttage »Schönheit« und »Respekt!«

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Ergänzend zum Schulsystem, das durch die zeitliche Ausweitung für viele Schülerinnen und Schüler zu einem Stressfaktor wird, können wir zusätzlich Angebote und Räume schaffen, in denen Kinder und Jugendliche bestärkt werden, sich »in die weite Welt hinein« zu wagen, d. h. ihren persönlichen Lebensweg zu gehen und sich dabei unterstützt, begleitet und »behütet« zu fühlen.

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17

Die »Stille Pause« als Einstieg in die Schulseelsorge Bärbel Dauber

17.1

Die Ausgangssituation

17.1.1 Der Stadtteil Der Stadtteil, in dem das Konzept entwickelt und umgesetzt wurde, ist ein »gemischter« oder besser: ein vielfältiger Stadtteil. In einigen Straßenzügen (Quartieren) leben Menschen der Mittelschicht in Einfamilienhäusern, Eigentumswohnungen mit einem relativ guten Einkommen. In direkter Nachbarschaft gibt es aber auch den sozialen Wohnungsbau und damit Menschen, die aus verschiedenen Ländern kommen, Menschen mit sehr geringem Einkommen, verschiedenste Religionen und Kulturen. Zu den Problemen des Stadtteils gehören Armut, Arbeitslosigkeit und alle Fragen des Zusammenlebens. Der Stadtteil hat keine Mitte, keinen Ort, um sich zu treffen und ein Stadtteilleben zu entwickeln.

17.1.2 Die Kirchengemeinde Die Kirchengemeinde hat in diesem sozial vielfältigen Bereich ein Gemeindezentrum, »Campus«, eröffnet, das den Gemeindegliedern, aber auch allen Nachbarn Raum geben soll, sich zu treffen, sich kennenzulernen, sich gegenseitig bei den verschiedensten Problemen und Schwierigkeiten zu unterstützen. Diese Arbeit spricht unterschiedliche Generationen an und versucht, Alt und Jung ressourcenorientiert miteinander zu verbinden. Ein Prinzip dieses Gemeindekonzeptes ist es, dass Kirche in den Alltag der Menschen kommt. Das bedeutet für die Kinder- und Jugendarbeit, Die »Stille Pause« als Einstieg in die Schulseelsorge

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dass Kirche auch in den Schulen präsent ist und direkt vor Ort ein offenes Ohr für die Kinder und Jugendlichen hat.

17.1.3 Die Schule Das Konzept des »Stille-Raumes« wurde zunächst zusammen mit einer Grundschule entwickelt. Die Schule hat 260 Kinder von der Vorschule bis zur Klasse 4 und liegt ca. 300 m von dem Gemeindezentrum entfernt. Die Vielfalt, aber auch die schwierigen Aufgaben des Stadtteils spiegeln sich in der Schule wieder. Die Schüler_innen kommen aus sehr unterschiedlichen Familien mit verschiedenen Kulturen, verschiedenem Bildungsstand, unterschiedlichen Muttersprachen und unterschiedlichsten sozialen Strukturen. Es treffen sich in der Schule verschiedene Religionen, Kinder ohne Bindung an irgendeine Religion. Unser Angebot an der Schule soll allen diesen Kindern offen stehen, aber trotzdem erkennbar von der Kirche angeboten werden. Die Grundschule ist auf dem Weg, eine offene Ganztagsschule zu werden und damit auf der Suche nach Kooperationspartnern, neuen Ansätzen und Konzepten. Es gab über viele Jahre einen lockeren Kontakt zwischen der Grundschule und der Kirchengemeinde, weil Schüler_nnen den Hort des evangelischen Kindergartens besuchten und es so einige Berührungspunkte gab. Seit drei Jahren gibt es eine neue Fachlehrerin für Religion, die gemeinsam mit der stellvertretenden Schulleitung die Initiative ergriff und die Kirchengemeinde um eine engere Kooperation bat. So hat sich in den letzten Jahren ein festes Angebot in der Kirche entwickelt: –– Die zweiten Klassen schmücken vor dem Erntedankfest die Kirche und arbeiten dort am Thema Erntedank. –– Die dritten Klassen kommen zur Kirchenbesichtigung. –– Die vierten Klassen nehmen seit zwei Jahren an den Reformationsspielen teil. Ab diesem Jahr werden die ersten Klassen kurz vor den Ferien die Kirche besuchen und alle Fragen stellen können, die ihnen zur Kirche in den Sinn kommen. 206 

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Letzteres hat sich aus den Erfahrungen ergeben, dass viele Schüler_innen der Klasse 2 das erste Mal überhaupt eine Kirche betreten und viele Fragen stellen, so dass es in der Regel lange dauert, bis man zum eigentlichen Thema »Erntedank« kommen kann. Für all diese Angebote kommen die Klassen mit den Lehrer_innen in die Lutherkirche. Außerdem finden seit zwei Jahren halbjährliche Gespräche zwischen der Fachlehrerin Religion, der stellvertretenden Schulleitung, einem Pastor und mir als Campusleitung statt, um Termine zu koordinieren, sich gegenseitig über Aktivitäten zu informieren usw.

17.2

Das Projekt

Der nächste Schritt war es dann, an der Schule präsent zu sein mit einem Angebot, das nicht zum Unterricht gehört, aber dem Wunsch entspricht, für die Kinder mit ihren Sorgen da zu sein – unabhängig von Konfession und religiöser Überzeugung. Die Schulleitung wollte ein Angebot der Stille und Entspannung und so entwickelten wir die »Stille Pause«. Die Kirchengemeinde stellte mich für einen Vormittag pro Woche frei, den ich an der Schule verbringe. Das Kern-Angebot sollte in den zwei großen Pausen stattfinden (einmal 25 Minuten, einmal 20 Minuten). Es sollte ein Raum sein, der mit einer Mitte (Tuch, Kerzen, Blumen, Steinen …) gestaltet werden kann, mit Kissen oder Matten. Der Raum muss gemütlich sein und zur Entspannung einladen. Es sollte Musik im Hintergrund laufen und ein Angebot für die Kinder, die sich still beschäftigen wollen (Ideen: malen, kneten, Bücher ansehen). Die Pause sollte strukturiert werden mit Traumreisen, eventuell Vorlesen, angeleiteter Massage. Gerechnet wurde mit ca. 20 Kindern. Das Angebot sollte für die Kinder sein, die in den Pausen einen Rückzugsraum brauchen, eventuell ausgegrenzt sind, sich in den Pausen nicht wohl fühlen oder einfach etwas Ruhe suchen. Die Schule stellte in den Pausen einen geeigneten Raum zur Verfügung: Groß genug, nicht möbliert, etwas abseits vom Pausentrubel, mit Vorhängen gegen neugierige Blicke geschützt. Der Nachteil des Raumes: Die »Stille Pause« als Einstieg in die Schulseelsorge

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Vor der ersten großen Pause ist er belegt. Das bedeutet, der Raum kann nicht vorbereitet werden, da er erst genutzt werden kann, wenn die Schüler_innen bereits da sind. Das bedeutet, dass die Gestaltungselemente schnell aufgebaut sein müssen und die Pause mit Unruhe beginnt, die dann mit einem Ritual oder einer Einleitung in die Bereitschaft zu Ruhe und Stille umgewandelt werden muss. Unter diesen Vorgaben nahm das Projekt Gestalt an: Alle Utensilien sind auf einem Handwagen verstaut, der am Anfang der Pause in den Raum gefahren wird. –– Alle Kinder, die da sind, helfen unter Anweisung mit: Einige ziehen die Vorhänge zu, einige gestalten die Mitte mit Tüchern, Dekomaterial, Kerzen und Blumen, andere Kinder legen die Bilderbücher auf die Stufen an der einen Seite des Raumes. –– Eine Kindergruppe legt die Malvorlagen hin und verteilt die Buntstifte auf einem großen Tisch. –– Dann nehmen sich alle ihre Isomatten und Unterlagen und suchen sich einen Platz. –– Wenn alles vorbereitet ist, werden die Kerzen angezündet, die Musik angeschaltet mit der vorherigen Ansage, dass jetzt die Stille beginnt. Die Vorüberlegungen trafen allerdings nicht alle zu. Vor allem hatten wir die Zahl der Nutzer_innen falsch eingeschätzt: Es waren von Anfang an zwischen 40 bis 60 Schüler_innen im Raum. Höhepunkt war die Teilnahme von 80 Kindern. Mit dieser Menge Kinder ist eine Traumreise, gegenseitige Massage und Ähnliches nicht möglich. Gleichzeitig äußerten die Kinder ausdrücklich, dass sie kein Programm wie Vorlesen oder Erzählen oder irgendeine Anleitung wünschen. Sie wollen nur liegen, Musik hören, schlafen, lesen oder malen. Meine Aufgabe als Anleiterin ist es, immer wieder an die Stille zu erinnern und am Tisch zu sitzen und Stifte zu spitzen. Ab und zu kommen dann Kinder zu mir und erzählen leise, worüber sie sich freuen, was sie beschäftigt, was für Bilder sie sich für das nächste Mal wünschen, für wen sie Bilder gemalt haben. Es gibt im Raum immer einen großen Karton, in dem die Isomatten gelagert werden. Dieser Karton ist bei den Kindern sehr begehrt. Sie sitzen hier drinnen, manchmal mit einer Matte über sich und sind so ganz in sich geborgen. 208 

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Am Ende der zweiten Pause werden kleine Mitnehmsel verteilt (Muscheln, Steine, bunte Glasscherben, Murmeln, irgendetwas, um ein Stück Stille mitnehmen zu können). Manchmal sitzen Kinder im Raum der Stille, die im Anschluss eine Arbeit schreiben. Sie nehmen die Steine und die anderen Mitnehmsel als Glücksbringer mit. Auch dieses Ritual haben wir inzwischen ein wenig verändert: Da die vielen Kinder zu lange brauchten, um sich etwas auszusuchen, kamen sie zu spät in den Unterricht. Jetzt liegen die Mitnehmsel am Anfang der zweiten Pause in Schalen und die Kinder suchen sich etwas aus, wenn sie reinkommen. Kurz vor Schluss der Pause werden die Mitnehmsel weggeräumt. So kommen alle wieder pünktlich in die Klassen. Für mich, für die Schulleitung und auch für das Kollegium war es eine große Überraschung, dass so viele Kinder den Raum nutzen. Die Schulleitung ist stolz auf das Angebot und berichtete auf Schulleiterkonferenzen darüber. Das Lehrerkollegium hat inzwischen beschlossen, auf der Terrasse beim Lehrerzimmer Liegestühle aufzustellen, da auch sie gern ein bisschen Ruhe haben wollen.

17.3 Ausblick Da das Projekt so gut angenommen wird, soll die »Stille Pause« auf jeden Fall ein fester Bestandteil des Schulangebotes werden. In einem auswertenden Gespräch wurde angeregt, einen eigenen Raum der Stille anzubieten. Im Rahmen der Umgestaltung der Schule zur offenen Ganztagsschule werden neue Räume zur Verfügung stehen. Einer davon soll der Raum der Stille werden. Der Raum könnte besser und behaglicher eingerichtet werden und eventuell tatsächlich auch für andere Formen der Ruhe, wie autogenes Training, Traumreisen etc., genutzt werden. Man kann andere Inhalte und Angebote vorbereiten und so Denkanstöße geben, sich noch besser um Seelen zu sorgen. Bis dahin wird das Kollegium darüber informiert, dass an den Donnerstagen auch zwischen den Pausen während des Unterrichts einzelne Schüler_innen in den Ruheraum gehen können, wenn sie das Bedürfnis danach haben oder dem Unterricht nicht mehr folgen können. Die Beobachtung, dass es Kinder im Ruheraum gibt, die sich völlig in Die »Stille Pause« als Einstieg in die Schulseelsorge

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sich zurückziehen (Jacke über dem Kopf, ganz verkrochen in Isomatten eingerollt) oder durch Kommentare anderer Kinder beim Reinkommen als unerwünscht stigmatisiert werden mit: »Was willst du denn hier?«, »Da kommt die dumme …«, führt zu dem Angebot, dass ich diese Kinder ansprechen und sie zu einem Gespräch im Anschluss an die Pause einladen darf, wenn diese es wollen. Die Kirchengemeinde hat sich aus den Erfahrungen mit diesem Projekt entschlossen, der Grundschule eine Kooperation anzubieten bei der Entwicklung der Ganztagsschule, um so in der Schule präsent und für die Schüler_innen ansprechbar zu sein. Die Kirchengemeinde hat sich in dieser Frage wieder einen Schritt weiter geöffnet und ihren Status in der Schule aber auch im gesamten Stadtteil verändert.

17.4 Auswertung Die »Stille Pause« ist inzwischen fest im Schulalltag etabliert. Nach wie vor kommen 40 bis 70 Kinder in den Pausen. Parallel haben wir im Gemeindezentrum eine Lebensmittelausgabe eröffnet und weitere Familienprogramme installiert, so dass die Gemeinde im Stadtteil bekannt ist und einen guten Ruf genießt, auch bei muslimischen Familien. Aus der Arbeit mit den Familien haben wir Einblick in die Verhältnisse zu Hause und werden daher verstärkt von der Schule auf einzelne Kinder angesprochen. Der Kontakt zu den Kindern ist gut und es gibt tatsächlich Kinder, die sich öffnen und von ihren Sorgen erzählen. Die »Stille Pause« soll in der künftigen Ganztagsschule ein zusätzliches festes Mittagsangebot werden neben zahlreichen Sportangeboten. Vor allem die Eltern setzen sich sehr dafür ein, weil sie merken, dass neben Sport und Toben auch die Ruhe für die Kinder sehr wichtig ist. Zusätzlich bieten wir an einem Nachmittag pro Woche einen Nachmittag auf dem Luther-Campus-Gelände an, der ebenfalls in der Anmeldung von vielen Kindern gewählt wurde. So werden wir auch in der künftigen Ganztagsschule den Kontakt zu Familien und Kindern im Stadtteil halten können und für die, die es nutzen möchten, vor Ort sein. Inzwischen möchte auch die Stadtteilschule mit uns kooperieren. Hier werden wir ab August die »Stille Pause« einmal pro Woche in der Mit210 

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tagspause anbieten und der Konfirmandenunterricht wird in das Nachmittagsangebot der Neigungskurse integriert. Als Verbindungsstück zwischen »Stiller Pause« und Konfirmandenunterricht ist eine offene Form der Jugendarbeit in Kooperation mit der Schule im Gemeindehaus denkbar. Ähnlich wie in der Grundschule könnten als ein offenes Gruppenangebot Fünft-Klässler ins Lutherhaus kommen und nach eigenen Interessen »ihren« Nachmittag gestalten (kochen, basteln, toben …). Diese Gruppe bleibt über die Jahrgänge zusammen und die neu anfangenden fünften Klassen bilden eine neue Gruppe. Die älteren Schüler_innen können die Juleica1 machen und die Jüngeren betreuen. Das wäre eine moderne Form der Jugendarbeit in Räumen der Kirche während des Schulalltags mit Themen wie »Mobbing«, »Respekt«, »Glaube«, »Werte« … In einem Stadtteil wie unserem ist dieser Zwischenschritt hilfreich, da es längst nicht mehr selbstverständlich ist, Kirchenmitglied zu sein. Und Kirche ist nicht mehr die selbstverständliche Begleiterin von Geburt, Taufe, Konfirmation durchs Leben bis zum Tod, sondern sie ist vielen unbekannt und fremd. Daher braucht es in solchen Stadtteilen offene, niedrigschwellige Angebote auch in der Jugendarbeit, will man mit der Konfirmandenarbeit nicht nur die traditionell christlichen Familien, sozusagen die »Insider« erreichen. Die Umsetzung dieses Konzeptes der Schulkooperation, das erweiterbar ist bis hin zu Ferienbetreuung und Freizeiten, wäre wichtig, um die Kinder und Jugendlichen im Schulalltag als Seelsorger_innen begleiten zu können. Die Jugendlichen leben in einem Umbruch mit vielen Sorgen und Schwierigkeiten. Sie sind auf der Suche und brauchen Menschen in verschiedenen Kontexten, die zu Gesprächen und zur Auseinandersetzung bereit sind, aber auch nicht nur aus dem kirchlichen Kontext.

1 JuLeiCa: Jugendgruppen-LeiterCard.

Die »Stille Pause« als Einstieg in die Schulseelsorge

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Mal die Seele baumeln lassen – Schulseelsorge an einem staatlichen Gymnasium Antje Micheel-Sprenger

Ich schildere vier Projekte, die meine Schulseelsorgearbeit am Lübecker Carl-Jacob-Burckhardt-Gymnasium ausmachen. Dabei lege ich neben der Arbeit mit Schüler_innen einen besonderen Schwerpunkt auf die Unterstützung des Lehrerkollegiums.

18.1

Stärkung der Schülerschaft

Neben dem Angebot beratender und begleitender Gespräche in der Schulseelsorgearbeit wird an unserer Schule ein Andachtsmodell in Form einer spirituellen Pausenstärkung durchgeführt, das ich seit einigen Jahren gemeinsam mit einer katholischen Religionskollegin gestalte. Wir nennen diese Pausenandacht »Zeit zum Durchatmen«. Diese kleine Unterbrechung des schulischen Ablaufs macht den Verlauf des Kirchenjahres bewusster, gibt Anlass, den Glauben zu reflektieren und im Segen den Zuspruch Gottes zu erfahren.

18.1.1 Pausenandacht »Zeit zum Durchatmen« Die »Zeit zum Durchatmen« wird zweimal im Jahr, in der Passions- und in der Adventszeit, angeboten. Sie findet einmal wöchentlich in den vier Wochen vor den Osterferien und vor den Weihnachtsferien statt. Die Werbung geschieht mittels verschiedener bunter Plakate, die im Schulgebäude aufgehängt werden, und durch Kolleg_innen, die gebeten werden, ihre Klassen zu informieren. Im Wesentlichen kommen Schüler_in212 

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nen der Jahrgangsstufen 5 bis 7, auch einzelne Kolleg_innen, gleichwohl die Pausenandacht für alle Altersstufen offen ist. In der Regel nehmen etwa zwanzig Personen teil. Die Andacht findet in der ersten großen Pause (15 min.) im Lernraum der Schule statt. Zu beachten ist, dass der Veranstaltungsraum an einem zentralen Ort innerhalb des Schulgebäudes oder Schulzentrums liegt, damit er von vielen zügig erreicht werden kann. Darüber hinaus muss er groß genug sein, um einen adäquaten Stuhlkreis stellen zu können. Für die nötige Stille bzw. Konzentrationsfähigkeit ist es wichtig, dass der Raum in ruhiger Umgebung liegt und je nach Einsatz der Medien evtl. auch verdunkelt werden kann. Im Allgemeinen wird die Andacht im wöchentlichen Wechsel von meiner Kollegin oder mir vorbereitet und durchgeführt. Eine Adventsandacht haben auch zwei Schüler_innen aus einem Religionskurs der Oberstufe selbstständig und mit gutem Erfolg geleitet. Diese Möglichkeit ist im Sinne der Schulgemeinschaft bei entsprechenden zeitlichen Ressourcen unbedingt auszubauen. Einige Wochen vor Beginn der jeweiligen Andachtsreihe tauschen meine Kollegin und ich uns über die Themen und die Reihenfolge aus. Themen der Passionszeit waren bisher u. a. Weg, Kreuz, Vertrauen, Angst, Wachstum und Leben, in der Adventszeit z. B. Warten, Freude, Licht, Engel und Feste Bestandteile sind Musik zu Beginn Lied oder CD), eine Lesung Wünsche. Feste Bestandteile sind Musik zu (gemeinsames oder Erzählung als Impuls, eine handBeginn (gemeinsames Lied oder CD), eine Le- lungsorientierte Sequenz und der gemeinsung oder Erzählung als Impuls, eine hand- same Segensschlusskreis am Ende. lungsorientierte Sequenz und der gemeinsame Segensschlusskreis am Ende. Dazu gehört auch die »gestaltete Mitte« innerhalb des Stuhlkreises, die mit einem Tuch in der entsprechenden liturgischen Farbe, einem Holzkreuz, einer Kerze und jahreszeitlichem Blumen- bzw. Tannenschmuck versehen wird.

Mal die Seele baumeln lassen

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Beispiel Pausenandacht in der Passionszeit zum Thema »Angst« Musik Auszug aus J. S. Bachs »Matthäus-Passion« (CD-Player) Mitte In der »gestalteten« Mitte liegen neben den genannten Gegenständen Karten mit Psalmworten gegen die Angst: »Du tröstest mich in Angst.« (Psalm 4,2); »Der Herr hört mein Weinen.« (Psalm 6,9); »Deine Hand hält mich fest.« (Psalm 63,9); »Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.« (Psalm 139,5) Begrüßung Einführung »Es ist die Zeit der Passion. Von Aschermittwoch bis Ostern gehen wir dem Leidensweg Jesu nach. In diesen sieben Wochen erinnern wir an die letzten Lebenswochen Jesu auf der Erde, Wochen voller Angst und Tränen. Auf diesem Weg begegnet uns viel Leid: z. B. die Angst der Jüngerinnen und Jünger, Jesus zu verlieren, die Schmerzen Jesu bei der Kreuzigung, seine Klage, die Tränen vieler Menschen, die um ihn weinen. Die Menschen wissen nicht, was kommen wird und haben Angst. Jeder und jede von uns kennt auch solche Zeiten: Tage, an denen wir traurig sind, wenn wir Ärger in der Familie – mit Eltern oder Geschwistern – haben, wenn es Probleme in der Schule gibt oder auch Angst vor Enttäuschungen und Verletzungen. Oft ist unsere Seele dabei schwer belastet. In der Bibel erzählen Menschen in einigen Psalmen, das sind Lieder und Gebete, von ihren Nöten und Zweifeln, so auch im Psalm 13.« Psalm 13 lesen oder im Wechsel sprechen; Überleitung: Wenn wir, wie die Psalmbeter, unsere Ängste und Klagen vor Gott bringen, vertrauen wir darauf, dass Gott uns zuhört und unsere Sorgen annimmt. Gestaltung einer Klagemauer Stabile Pappe, vorbereitete Zettel in Form von Bausteinen, Stifte, Klebestifte, meditative Musik; die Schüler_innen werden aufgefordert, pro Bau214 

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stein eine Klage aufzuschreiben: Etwas, das persönlich belastet in der Schule oder zu Hause, Sorgen um Freund_innen, Mitschüler_innen, Familie, Tiere, Menschen in anderen Ländern, Katastrophengebieten usw.; Aufkleben der Bausteine Überleitung »Jesus hat all unsere Sorgen und Ängste mit an das Kreuz genommen, damit wir frei werden. Wir vertrauen darauf, dass er unsere Belastungen mitträgt und an unserer Seite ist. So lesen wir jetzt nacheinander einzelne Bausteine der Klagemauer vor und bitten nach jeder dritten Klage Jesus um Hilfe mit dem Liedruf: »Herr, erbarme dich« (EG 178.11).« Gemeinsamer Schlusskreis mit Segen (z. B. einem irischen Segenswunsch).

Beispiel Pausenandacht in der Adventszeit zum Thema » Licht« Gemeinsames Lied »Tragt in die Welt nun ein Licht« (EG 539) Begrüßung Einführung »In vielen Häusern spielen Kerzen in der Adventszeit eine besondere Rolle. Einige von euch haben sicher zu Hause einen Adventskranz, an dem Sonntag für Sonntag eine weitere Kerze entzündet wird. Bei anderen gibt es vielleicht ein mit Tannenzweigen und Kerzen gestaltetes Gesteck und wieder andere haben eine elektrische Weihnachtsbeleuchtung in den Fenstern oder im Garten. Allen aber ist gemeinsam, dass wir in dieser dunklen Jahreszeit Sehnsucht nach einem leuchtenden und wärmenden Licht haben, das uns fröhlich macht und eine Botschaft der Hoffnung in die Dunkelheit sendet. Licht kann dabei sehr unterschiedliche Bedeutungen haben.« Assoziationskette zu »Licht« Jede_r nennt nacheinander einen Begriff, der persönlich mit »Licht« assoziiert wird (1–2 Runden): z. B. » Helligkeit, Energie, Sonnenschein, Dunkelheit…« Mal die Seele baumeln lassen

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Lesung der Geschichte »Zündholz zur Kerze« »Es kam der Tag, da sagte das Zündholz zur Kerze: ›Ich habe den Auftrag, dich anzuzünden.‹ – ›Oh nein‹, erschrak die Kerze, »nur das nicht. Wenn ich brenne, sind meine Tage gezählt. Niemand wird mehr meine Schönheit bewundern.‹ – Das Zündholz fragte: ›Aber willst du denn ein Leben lang kalt und hart bleiben, ohne zuvor gelebt zu haben?‹ – ›Aber brennen tut doch weh und zehrt an meinen Kräften‹, flüsterte die Kerze unsicher und voller Angst. ›Es ist wahr‹, entgegnete das Zündholz. ›Aber das ist doch das Geheimnis unserer Berufung: Wir sind berufen, Licht zu sein. Was ich tun kann, ist wenig. Zünde ich dich aber nicht an, so verpasse ich den Sinn meines Lebens. Ich bin dafür da, Feuer zu entfachen. Du bist eine Kerze. Du sollst für andere leuchten und Wärme schenken. Alles, was du an Schmerz und Leid und Kraft hingibst, wird verwandelt in Licht. Du gehst nicht verloren, wenn du dich verzehrst. Andere werden dein Licht weitertragen. Nur wenn du dich versagst, wirst du sterben.‹ Da spitzte die Kerze ihren Docht und sprach voller Erwartung: ›Ich bitte dich, zünde mich an!‹« (Verfasser unbekannt) Teelichte anzünden Alle Teilnehmenden entzünden jeweils ein Teelicht an der Kerze in der gestalteten Mitte. Dann wird das jeweilige Teelicht dem rechten Sitznachbarn bzw. der Sitznachbarin mit den Worten »Ich schenke dir ein Licht, damit …« gereicht und der Satz individuell mit einem Wunsch ergänzt. Gemeinsamer Schlusskreis mit Segen

18.2

Stärkung des Kollegiums

Einen großen Raum in meiner schulseelsorglichen Arbeit nimmt der Austausch mit den Kolleg_innen ein. Immer wieder erfahre ich in den Gesprächen im Lehrerzimmer, wie sehr sie unter Konflikten im Alltag, Überbelastung und mangelnder Wertschätzung ihrer Arbeit leiden. Die stetig steigenden curricularen und administrativen Anforderungen führen dazu, dass viele Lehrkräfte nicht mehr in befriedigendem Maße ihrer Kerntätigkeit, Vorbereitung und Durchführung des Un216 

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terrichts, nachgehen können. Überbelastungen und Frustrationen sind die Folge. Zum anderen spürt man bei einem Besuch in einer unbekannten Schule sehr schnell, welcher Geist im Kollegium und auch in der Schul­ leitung weht. Ein Schulklima, das von gegenseitigem Respekt und Toleranz zeugen soll, bedarf meiner Beobachtung nach als Erstes einer Lehrerschaft, die dieses im eigenen Miteinander vorlebt. Kinder und Jugendliche lernen am Vorbild und überprüfen sehr genau, welchen Umgang Lehrkräfte untereinander und mit Schüler_innen pflegen. Dabei spielen die Authentizität und menschlich zugewandte Haltung des einzelnen Lehrers bzw. Lehrerin eine entscheidende Rolle. Ein wertschätzender und respektvoller Umgang der Lehrerschaft untereinander wirkt sich nicht nur nachhaltig auf die Schülerschaft, sondern auch auf das gesamte Klima der Schule aus. Gleichzeitig bildet das soziale Miteinander einer Schule die Voraussetzung für den Lernerfolg. Schulseelsorge kann erheblich dazu beitragen, die Atmosphäre und gegenseitige Akzeptanz im Kollegium zu verbessern, wie auch politisch verantwortete Strukturveränderungen ertragen helfen. Sie kann Impulse zur Empathie geben und immer wieder kleine Nischen oder Oasen im Alltag bieten, die Kraft, Energie und Wärme spenden, wenn die Belastungen zu stark werden. Nach meiner Erfahrung kann schon ein erster Schritt im Sinne von Schulseelsorge eine positive Veränderung des Klimas im Lehrerzimmer bewirken. Ich habe vor einigen Jahren begonnen, neben Glückwunschund Trauerkarten bei besonderen Ereignissen, Genesungskarten für Kolleg_innen, Sekretärinnen und Hausmeister zu schreiben, wenn diese einen Krankenhaus- oder Kuraufenthalt haben bzw. länger erkrankt sind. Die Karte wird drei Tage im Lehrerzimmer an zentraler Stelle ausgelegt, damit möglichst viele aus dem Kollegium unterschreiben können und dann mit einem kleinen Präsent überbracht oder versendet. Oft erhält das Kollegium darauf eine Danksagung, die dann wiederum aushängt. Diese Idee kommt bei den Betroffenen sehr gut an (»Es tut so gut, dass ihr an mich gedacht habt«) und ist dem kollegialen Bewusstsein äußerst zuträglich. So habe ich u. a. auch anlässlich des Amoklaufs von WinnenMal die Seele baumeln lassen

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den (neben Briefen und Bildern unserer Schülerschaft) einen Kondolenzbrief an das dortige Kollegium aufgesetzt und im Lehrerzimmer zum Unterschreiben ausgelegt. In allen Fällen sind die Kolleg_innen dankbar, dass sie auf diesem Wege die Möglichkeit erhalten, Anteilnahme und Mitgefühl ausdrücken und der Hilflosigkeit aktiv begegnen zu können, wenn die Worte fehlen. Diese positiven Erfahrungen und viele Einzelgespräche mit Kolleg_innen machen mir deutlich, dass Schulseelsorge auch hier eine wichtige Aufgabe im diakonischen Sinne übernehmen kann. Im Folgenden stelle ich, ausgehend von der oben geschilderten Haltung, einige Projekte vor, die ich an meiner Schule, neben der Kollegialen Fallberatung, für das Kollegium initiiert habe und durchführe.

18.2.1 Adventstisch im Lehrerzimmer Gerade in den Wochen vor Weihnachten ist der Schulalltag sehr hektisch. Viele Klassenarbeiten und Klausuren müssen vorbereitet und korrigiert werden, weil in der Regel unmittelbar nach den Weihnachtsferien Zeugnisnoten eingetragen werden müssen. Daneben finden an den Schulen in dieser Zeit vermehrt Konferenzen statt. Deshalb findet man an weiterführenden Schulen in der Adventszeit wenig Muße und anders als an vielen Grundschulen keine Möglichkeit für adventliche Rituale. Umso mehr ist aber den Lehrkräften in der schulischen und privaten Geschäftigkeit der Wunsch nach Ruhe und Besinnung anzumerken. Deshalb wollte ich im Lehrerzimmer einen Ort schaffen, der zum Innehalten einlädt und den Blick auf die kommende Weihnachtszeit und ihre Botschaft lenkt. So entstand die Idee eines Adventstisches im Lehrerzimmer. Die Einladung an das Kollegium formulierte ich wie folgt: »Liebe Kolleg_innen! Einen Moment innehalten, ein wenig zur Ruhe kommen im hektischen Alltag, Sehnsucht wagen – dazu möchte ich euch in den Adventswochen mit einigen Impulsen herzlich einladen.« Darauf suchte ich im Lehrerzimmer nach einem Platz, der zentral, aber auch weit genug weg von ablenkenden Elementen, wie etwa dem Informationsbrett oder dem Stundenplan, sein sollte. In der Mittelachse des Lehrerzimmers, von beiden Türen einsehbar, stelle ich nun nach dem 218 

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1. Adventssonntag vor der Holzverkleidung eines Regals ein kleines quadratisches Pult von 1,10 m Höhe auf. Darauf lege ich roten Stoff, ein hohes Glas- Darauf lege ich roten Stoff, ein hohes mit einer dicken Kerze windlicht mit einer dicken Kerze (Feuer- Glaswindlicht (Feuerschutz beachten!) und eine Blume schutz beachten!) und eine Blume (Amaryllis, (Amaryllis, Schneebeere o. Ä.), etwas Schneebeere o. Ä.), etwas Tanne sowie einen Tanne sowie einen hölzernen Kartenhalter. In diesen Kartenhalter kommt hölzernen Kartenhalter. In diesen Kartenhal- jeweils ein kurzer Text. Dieses Setting ter kommt jeweils ein kurzer Text. Dieses Set- bildet die Grundlage für die gesamte Adventszeit. Die Kerze wird morgens vor ting bildet die Grundlage für die gesamte Ad- der ersten Stunde angezündet und nach ventszeit. Die Kerze wird morgens vor der verlässlicher Absprache mit einigen Kolleg_innen gegen 15.30 Uhr gelöscht. ersten Stunde angezündet und nach verlässlicher Absprache mit einigen Kolleg_innen gegen 15.30 Uhr gelöscht. Zwei- bis dreimal pro Woche setze ich einen neuen Impuls, indem ich einen neuen Text in Form einer Karte, eines Comics, Gedichts oder Spruchs aufstelle und dazu passende Utensilien ergänze. Ich wählte bisher Themen wie »Wünsche«, »Licht«, »Nikolaus«, »Sterne«, »Plätzchenduft«, »Ruhe«, »Zeit«, »Jahreslosung« usw. und ergänzte die Texte u. a. mit Seifenblasen, Gute-Laune-Drops, Schoko-Nikoläusen, Strohsternen, Plätzchen, Magneten zu »Mach mal Sonntag«, Sanduhr, Tannenzapfen, Tee, Nüssen. Es bereitet mir viel Freude, Ideen für den Adventstisch zu entwickeln und die vielen positiven Reaktionen der Kolleg_innen aus allen Fachbereichen haben mich dabei bestärkt. So erlebe ich die Adventszeit in der Schule auch für mich persönlich als Bereicherung. Nach den Weihnachtsferien höre ich im Lehrerzimmer häufiger den Satz: »Schade, dass der ­Adventstisch nicht mehr da ist!« Auf ähnliche Weise kann auch in der Passionszeit ein Tisch im Lehrerzimmer gestaltet werden. Das jeweilige Motto der Fastenaktion der evangelischen Kirche »7 Wochen ohne« bietet sich als Thema an. Ich habe bisher den entsprechenden Fastenkalender mit passenden Texten und Zitaten im Lehrerzimmer aufgehängt.

Mal die Seele baumeln lassen

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18.2.2 Lehrergesundheitstag In den letzten Jahren spielen Gesundheitsthemen, wie Stärkung der Resilienz und Work-Life-Balance zur Bewältigung des beruflichen Alltags, eine immer wichtigere Rolle. Lehrer_innen sind durch strukturelle Veränderungen wie Umstellung auf den Ganztagsbetrieb, Verkürzung des gymnasialen Bildungsgangs auf acht Jahre, veränderte Schulformen und Fachcurricula deutlich mehr belastet als in früheren Jahren. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu fragen: Welche hilfreichen Entlastungsmechanismen gibt es für den Lehreralltag, was kann unterstützend wirken? Auf einem gemeinsamen Fortbildungs- und Präventionstag zur Lehrergesundheit können Entlastungsstrategien vorgestellt und erprobt werden. Eine sinnvolle Aufgabe von Schulseelsorge kann es sein, durch die Planung und Organisation einer solchen Veranstaltung Empathie für das Wohlergehen des Kollegiums zu zeigen. Vor diesem Hintergrund führte ich an meiner Schule einen schulinternen Fortbildungstag zum Erhalt der Lehrergesundheit durch. Nach Abstimmung mit der Schulleitung und dem örtlichen Personalrat und dem Beschluss der Schulkonferenz konnte ich mit der Ausgestaltung beginnen. Unter schulseelsorglichen Gesichtspunkten waren zwei Dinge für mich elementar: Der Tag sollte, anders als bisher, außerhalb der Schule stattfinden, um neuen Gedanken Raum zu geben. Im Schulgebäude kann sich das Kollegium nicht bedingungslos öffnen, da alle Belastungen einer Lehrkraft mit diesem Ort verbunden sind. Bei vorherigen Fortbildungen wurden Pausen oft dazu genutzt, andere schulinterne Aufgaben schnell zwischendurch zu erledigen. Zum anderen wollte ich dieses Thema auch mit einem spirituellen Zugang verknüpfen. Ich nahm Kontakt mit dem IQSH (Lehrerfortbildungsinstitut) auf und fragte Kolleg_innen, die in den letzten Jahren neu an unsere Schule gekommen waren, ob sie bereits Ähnliches an anderen Schulen erlebt hatten. Beides erwies sich als sehr fruchtbar, sodass ich relativ zügig sehr qualifizierte Referentinnen für vier Workshops gewinnen konnte (Stressmanagement, Work-Life-Balance, Selbst- und Zeitmanagement, »Refreshing – Fit am Arbeitsplatz«). Die Finanzierung erfolgte mit der Unterstützung des Lehrerfortbildungsinstituts und einem Eigenbeitrag der Kolleg_innen. 220 

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Durch persönliche Kontakte konnte ich auf Gerade bei der Suche nach externen Tabietet es sich häudas Gemeindehaus einer evangelischen Kirche gungsmöglichkeiten fig an, auf Gemeindehäuser umliegender in der Nähe zurückgreifen, das auch logistisch Kirchengemeinden zurückzugreifen. für die Teilnehmerzahl in der Größe unseres Kollegiums (70 Personen) ausgerichtet ist. Gerade bei der Suche nach externen Tagungsmöglichkeiten bietet es sich häufig an, auf Gemeinde­ häuser umliegender Kirchengemeinden zurückzugreifen. Ich bat einen der örtlichen Pastoren als Hausherrn, das Kollegium mit einer gemeinsamen Andacht auf diesen Tag einzustimmen. In unserer Schule wäre ein solcher Tagungsbeginn nicht möglich gewesen, weil sich viele Kolleg_innen, die nicht kirchlich sozialisiert sind, vereinnahmt gefühlt hätten. Im evangelischen Gemeindehaus haben sich alle Kolleg_innen darauf eingelassen. Nach dem gemeinsamen Lied »Gott gab uns Atem, damit wir leben« (EG 432) haben wir gemeinsam Psalm 31 gesprochen und in einer Körperübung einzelnen Versen inhaltlich nachgespürt. Beim späteren Feedback zu dieser Fortbildung gab es ausschließlich positive Stimmen zur Wahl des Themas und des Veranstaltungsortes. Einige Kolleg_innen plädierten aber dafür, die Andacht zukünftig als fakultatives Angebot einzusetzen, da sie der Kirche gegenüber sehr distanziert seien. So könnte man dem Kollegium z. B. die Teilnahme freistellen und diese dem offiziellen Fortbildungsteil voranstellen. Neben dem Kennenlernen hilfreicher Strategien zur individuellen Bewältigung des Schulalltages haben wir am Ende des Tages im Plenum gemeinsam Entlastungsmöglichkeiten für unser Kollegium entwickelt. An unserer Schule gehört dazu auch die Kollegiale Fallberatung unter meiner Verantwortung als Schulseelsorgerin.

18.2.3 Gottesdienst für das Kollegium zum Schuljahresende In vielen Schulen werden zum Beginn oder Ende des Schuljahres gemeinsame Schulgottesdienste durchgeführt. An meiner Schule gibt es diese Tradition bisher nicht, aber aus den Ideen zur Stärkung des Kollegiums ist der weitergehende Impuls entstanden, am Schuljahresende einen Gottesdienst für Lehrer und Lehrerinnen sowie weitere Mitarbeitende an der Mal die Seele baumeln lassen

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Schule anzubieten. Häufig klagen die Kolleg_innen gerade am Schul­ jahresende über die enorme Belastung im Schulalltag und manche retten sich geradezu über die letzten Wochen des Schuljahres. Hier ist es gut, bewusst eine Zäsur zu setzen und den Übergang in die Zeit der Sommerferien rituell zu begleiten. Anders als in einem gemeinsamen Schulgottesdienst liegt der Fokus dieses Gottesdienstes viel mehr darauf, sich von den Ansprüchen und Belastungen des vergangenen Schuljahres zu verabschieden, aber auch dankbar auf Gelungenes zu schauen und beides auf dem Weg in die Ferien hinter sich zu lassen. Diesen Übergang bewusst wahrzunehmen und den Blick auf die »schulfreie« Zeit zu lenken, kann wesentlich zur Entspannung und seelischen Stärkung beitragen. Um einen größeren Kreis anzusprechen, habe ich dafür Kontakt mit den Schulleitungen vier weiterer benachbarter Schulen und dem örtlichen Pastor aufgenommen. Der Gottesdienst findet zur Mittagszeit am vorletzten Schultag unter dem Thema: »Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde« (Prediger 3) statt. Die Einladungen werden in Form von Plakaten an den einzelnen Schulen ausgehängt und in verschiedenen Konferenzen bekanntgegeben. Beispiel Ablauf der Veranstaltung zum Schuljahresende Ankommen ab 12.30 Stehtische, Getränke stehen bereit, entspannte Musik Beginn des Gottesdienstes (12.50 Uhr) Trinitarisches Votum Lied

»Let it be« (Beatles) Gebet Lied »Was keiner wagt« (Konstantin Wecker) 222 

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AT-Lesung: Prediger 3 Ansprache Aktion Aufteilung der Kirche in sechs Stationen, die in freier Reihenfolge und Auswahl besucht werden können. 1. Geschenkraum, in dem Texte / Gedichte / Aphorismen / Karten / Segenssprüche zum Lesen, Pflücken und Mitnehmen an einer Wäscheleine hängen. 2. Klagemauer, an die Gebetsanliegen / Fürbitten geheftet werden können, die am Ende des Gottesdienstes im Gebet aufgenommen werden. 3. Schale der Dankbarkeit, in die Erinnerungen und Fürbitten gelegt werden können, die am Ende des Gottesdienstes im Gebet aufgenommen werden. 4. Ort der Stille, an dem Kerzen angezündet und aufgestellt werden können, die alles das in sich aufnehmen, was in dem Schuljahr geschehen ist, ohne dass es im Unterricht Platz hatte (eigene Sorgen, Freuden …). Die Kerzen können auch für das stehen, was nicht in Worte zu fassen ist. 5. Segensraum, an dem jede/r persönlich gesalbt und / oder gesegnet werden kann. Möglichkeit zum »johanneischen Abendmahl«: Es stehen Wasser, Seife und Handtücher bereit, um sich die Füße waschen zu lassen. Lied »Gott gab uns Atem« (EG 432) Fürbittgebet Aufnahme der Bitten und Dankesworte aus den Stationen Vater unser Segen Lied »Möge die Straße« (Irisches Segenslied) Mal die Seele baumeln lassen

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Nach dem Gottesdienst … besteht an den Stehtischen bei einem kleinen Imbiss noch Gelegenheit zum Kennenlernen und Austausch.

Neben diesen genannten Aktionen runden jahreszeitliche Entspan­ nungsangebote die schulseelsorglichen Angebote an meiner Schule ab. Unter dem Motto »Entspannt ins Wochenende starten« entstand ein vierstündiges Angebot am Freitagnachmittag mit einem Waldspaziergang, gemeinsamem Kaffeetrinken und einem abschließenden Aufenthalt im Heilklima einer Salzoase. Daneben plane ich an einem Samstag im Herbst einen Pilgertag durchzuführen. Ein Teil der Strecke wird schweigend zurückgelegt, zwischendurch wird es verschiedene spirituelle Impulse und Fragestellungen für das Gespräch auf einigen Wegabschnitten geben. Es wäre schön, wenn meine Anregungen helfen und Mut machen können, neben individueller Begleitung Schulseelsorge auch als Instrument zur Stärkung der Schüler_innen- und Lehrer_innenschaft einzusetzen. Schulseelsorge ist eine starke und wärmende Schulter für alle am Schulleben Beteiligten.

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Wer bin ich – wer bist du? Ein interreligiöses jugendkulturelles Projekt1 Özlem Nas

(Dieses Projekt ist nicht im Kontext von Schulseelsorge entstanden, könnte dort aber genauso seinen Platz haben.) In einem Land, das durch Pluralität geprägt ist, ist der positive Umgang mit Heterogenität unter Jugendlichen eine Herausforderung, der wir uns stellen. Ein friedliches Miteinander von Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft bedarf der Begegnung und des Austausches. Bei dem Projekt »Wer bin ich? Wer bist du?« geht es nicht nur um die Begegnung von überwiegend deutsch- und türkischstämmigen Jugendlichen im selben Land, sondern insbesondere um die Begegnung und den Austausch im Herkunftsland der türkischstämmigen Jugendlichen. Die Evangelische Kirchengemeinde St. Georg / Borgfelde, die Islamische Gemeinde Centrum Moschee e. V., die Katholische Studierenden Jugend (KSJ) und der Christliche Verein Junger Menschen zu Hamburg e. V. (CVJM) haben sich im Stadtteil St. Georg mit dem Ziel zusammengetan, eine interkulturelle Jugendbegegnung zwischen Christen und Muslimen in Hamburg-St. Georg sowie in der Türkei zu ermöglichen. Das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen Glaubens-, Lebens- und Alltagsbildern ist in Hamburg Normalität. Aber es findet wenig direkter Austausch statt. Nun wächst in unserer Stadt die vierte Generation der so genannten Gastarbeiterfamilien heran mit einer mehr oder weniger starken Identifikation mit dem Mutterland ihrer (Ur-) Großväter und (Ur-)Großmütter. Was bedeuten für diese Generation die Türkei und der muslimische Glaube? Was bedeutet es für die Chris1 http://www.centrum-moschee.de/index.php?option=com_content&view=article&id=212: wer-bin-ich-wer-bist-du-interkulturelle-jugendbegegnung

Wer bin ich – wer bist du?

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ten in unserer Gesellschaft, Seite an Seite mit Menschen zu leben, die den Ramadan feiern, ein Kopftuch tragen und den Sommer stets mit ihren Eltern in der Türkei verbringen? Für jeden Einzelnen ist das innerhalb seiner Welt eine Normalität, aber für Außenstehende oft ungewöhnlich. Die hier vorgestellte interkulturelle Reise wurde gemeinsam von engagierten Muslimen und Christen geplant und in den Hamburger Herbstferien 2010 durchgeführt. Die Beteiligung von Muslimen und Christen bietet dabei die besondere Gelegenheit, das gegenwärtig gesellschaftsund sicherheitspolitisch außerordentlich wichtige Thema Religion in seiner vielfältigen Bedeutung für den Alltag der Menschen zu erleben und zwischen kulturellen, regionalen, ländlichen und städtischen Besonderheiten zu unterscheiden. Bei der Auswahl der Reiseroute und der Kontakte wurde auf eine größtmögliche Vielfalt ländlicher und städtischer Lebenssituationen geachtet. Da alle Kooperationspartner über nur geringe Eigenmittel verfügten und wir diese Reise auch für Jugendliche anbieten wollten, die aus einkommensschwachen Familien kommen, waren wir auf Unterstützung angewiesen. Wir haben den Teilnahmebeitrag für die Jugendlichen so gering wie möglich gehalten. Sie bezahlten de facto nur den Flug. Kosten für Verpflegung, Unterkunft, Transportmittel, Eintrittsgelder, Reiseversicherung u. a. eventuell entstehenden Kosten wurden durch Spendengelder und finanzielle Beteiligung der jeweiligen Institutionen getragen. Der Mangel an ausreichenden Finanzen führte dazu, dass zunächst nicht sicher war, ob wir die Reise überhaupt durchführen könnten. Die bereits für 2009 geplante Reise konnte durch eine Spende schließlich im Herbst 2010 durchführt werden. Dreißig Jugendliche im Alter zwischen 16 bis 26 Jahren, die mehrheitlich deutscher und türkischer, aber auch italienischer, palästinensischer u. a. Herkunft waren, wurden von sechs Betreuern aus den o. g. Einrichtungen begleitet. Die einzelnen Stationen waren Istanbul, Konya, Kappadokien, Antakya und Adana. Die Reise ging mit An- und Abfahrt insgesamt über zwölf Tage. Im Einzelnen haben wir darauf geachtet, insbesondere Schnittstellen zwischen muslimischer Religion und säkularem Leben 226 

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sowie die zwischen christlichen Gemeinden und muslimisch geprägter Mehrheitsgesellschaft aufzusuchen. Neben dem exemplarischen Kennenlernen der Türkei in Gegenwart und Geschichte haben wir uns intensiv um den Austausch mit Gesprächspartnern aus den verschiedenen Regionen und Bereichen (Religion, Politik, Gesellschaft) sowie vor allem um den internen Gruppenaustausch über das gemeinsam Erlebte bemüht. Die Begegnungen mit verschiedenen Akteuren in den von uns besuchten Städten sowie die Diskussionen unter den Jugendlichen führten zu einem intensiven Erfahrungs- und Erkenntnisgewinn und machten den eigentlichen Gewinn der Reise aus. Bei einem Gespräch mit einem türkischen Priester in einer katholischen Kirche in Antakya stellte z. B. eine christliche Teilnehmerin die Frage, wann der Priester vom Islam zum Christentum konvertiert sei, woraufhin der Priester antwortet, dass die Christen seit 2000 Jahren in der Türkei lebten und er Türke sowie Christ sei. Ein weiterer Teilnehmer äußerte bei unserem späteren Gruppengespräch, dass er uns Muslimen in Deutschland nicht geglaubt hätte, wenn wir ihm etwas über türkische nichtkonvertierte Christen erzählt hätten. Weitere Begegnungen gab es mit einem stellvertretenden Bürgermeister, mit verschiedenen Imamen, Priestern, Pastoren, Klosterschwestern, Musikern, Religionsattachées, Lehrern, einer Verantwortlichen des Goethe-Instituts in Istanbul und vielen anderen. Die Jugendlichen tauschten sich untereinander über die verschiedensten Fragen aus (»Warum heiraten Musliminnen nur muslimische Männer?«, »Gilt das für alle Muslime?«, »Welche Unterschiede gibt es?« Oder aber: »Was bedeutet Trinität?«, »Warum dürfen katholische Priester nicht heiraten?« und vieles mehr), besuchten religiöse wie kulturelle Stätten, gingen zusammen aus und machten sich Gedanken über ihre eigenen Vorstellungen von Religion, Kultur und Pluralität. Fragen, wie: »Woher kommt ihr eigentlich und woher kommen wir?«, »Was wird bei euch gegessen, wie und was feiert ihr?«, »Was ist euch wichtig? Wie ticken die Uhren in eurem Land?«, »Wie schaut es aus, wenn der Strom ausfällt?«, »Wie gehen wir gemeinsam mit Abmachungen und Zeit um?«, »Was versteht ihr unter eurer Religion und wie lebt ihr sie?«, »Was verstehen wir unter unserer Religion und wie leben wir sie?« »Essen alle Muslime nur islamisch geschlachtetes Fleisch?« usw., wurden gestellt und diskutiert. Wer bin ich – wer bist du?

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Selbst die Busfahrt von Istanbul nach Konya wurde interaktiv gestaltet, es wurde gesungen, gerappt, es wurden Koranverse rezitiert, Fragen gestellt und beantwortet. Gemeinsames und Trennendes wurde deutlicher und durch die vielfältigen Begegnungen wurde der Horizont der Teilnehmer in besonderer Form erweitert, z. B. wurde in Konya ein Besuch bei den »Tanzenden Derwischen« durchgeführt und dabei deutlich, dass die Derwische gar nicht tanzen, sondern meditieren. In Antakya wurde im Hotel eine Podiumsdiskussion mit Vertretern des Judentums, Christentums und des Islams sowie eines Deutsch-Türkischen Vereins aus Antakya organisiert, an dem die einzelnen Religionsvertreter die Bedeutung von Respekt und Toleranz hervorhoben und die Jugendlichen als Botschafter des friedlichen Miteinanders in Deutschland ansprachen. Den Jugendlichen wurde nahegelegt, die Dinge, die sie in der Türkei gesehen und erlebt haben, nach Deutschland weiterzutragen. Wir sind davon überzeugt, dass diese Form des interkulturellen Austausches unter den Bedingungen einer gemeinsamen Reise in die Herkunftskultur des stärksten Migrantenanteils unserer Gesellschaft ein besonders effektiver friedenspolitisch wirksamer Ansatz ist und ein innovativer Weg, Begegnung und Austausch mit hoher Qualität und hohem Lerneffekt zu erzielen. Als Initiatoren dieser Reise ist uns insbesondere die Nachhaltigkeit wichtig. Bei den Teilnehmer_innen handelte es sich weitestgehend um in der Jugendarbeit der beteiligten Organisationen engagierte Jugendliche, die als Multiplikator_innen das Erfahrene, Erlebte und Erlernte an andere Jugendliche weitergeben sollen. Am 23. Januar 2011 wurde eine gemeinsam mit den Jugendlichen erarbeitete Dokumentation der Reise im Kino vorgeführt. Der CVJM hat eine eigene Kamera für diesen Zweck mitgebracht und es ist ein Film entstanden. Eine Fotoausstellung ist auch Teil des Programms. Diese Initiative wurde durch eine intensive Vorarbeit in vielen Treffen vorbereitet und soll durch eine intensive Nacharbeit der beteiligten Jugendlichen begleitet werden. Dabei können wir auf die langjährigen Erfahrungen der Jugendabteilungen der einzelnen Träger zurückgreifen. Das Projekt hat Modell- und Vorbildcharakter. Die Projekterfahrungen werden in geeigneter Weise anderen Bildungsträgern zur Verfügung gestellt. Für die beteiligten Jugendlichen sehen wir hier eine besondere 228 

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Chance, die Reiseergebnisse produktiv zu verarbeiten und den Dialog auf unterschiedlichen Ebenen fortzusetzen. Wir möchten hiermit ein klares öffentliches Signal für den Sinn von interkultureller Verständigung in der Zuwanderungsgesellschaft setzen mit dem Ziel, die vorhandene kulturelle und religiöse Vielfalt als einen inspirierenden Reichtum kennenzulernen. Die Initiatoren sind sich darüber einig, dass sie sich für die Fortsetzung dieses Projektes einsetzen wollen, um auch anderen Jugendlichen diese überzeugende Möglichkeit zur besseren Verständigung von Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft zu eröffnen. Der Aspekt, dass auch Jugendliche aus finanzschwachen Haushalten mitfahren können, ist uns wichtig. Die Teilnahme interessierter und engagierter Jugendlicher sollte nicht an den Finanzen scheitern. Des Weiteren möchten die Institutionen nach dieser fruchtbaren Zusammenarbeit auch an weiteren Projekten gemeinsam arbeiten. Dieses Multiplikationsprojekt mit bereits aktiven Mitgliedern der Jugendabteilungen hat auch das Ziel, den jungen Menschen eine Öffnung ihres Horizontes mit lokalem Bezug zu ermöglichen. Die ehrenamtliche Tätigkeit der Jugendabteilungen der einzelnen Träger kann durch dieses Projekt qualitativ dadurch verbessert werden, dass die Teilnehmer_innen die Vorteile unserer vielfältigen Gesellschaft mit in ihre Arbeit einfließen lassen können.

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Kollegiale Fallberatung in der Ausbildung von Erzieher_innen

Angehende Erzieher_innen werden im Rahmen ihrer Praktika der Fachschulausbildung sehr schnell mit der Komplexität von Herausforderungen und Problemfällen in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern konfrontiert. Beziehungsgestaltung mit Kindern und Jugendlichen, erziehungspartnerschaftliche Zusammenarbeit mit Eltern, Teamarbeit zwischen pädagogischem Fachpersonal und den Praktikant_innen und manchmal auch ein unterschiedlicher Erwartungshorizont der Lehrkräfte einer Fachschule und der Mitarbeiter_innen einer Praxiseinrichtung an das Praktikum: All diese Bereiche können Fragen und Probleme aufwerfen, die es sich zur Vorbereitung auf den Erzieher_innenberuf zu lösen lohnt. Ein noch so großes Fachwissen, ein vielfältiges Methodenrepertoire, eine hohe Sozial- und Selbstkompetenz und eine angemessene pädagogische Grundhaltung reichen für eine zielführende Lösung schwieriger Herausforderungen oft nicht aus, wenn der Lösungsversuch im »stillen Kämmerlein« stattfindet. Zu groß ist die Gefahr, dass eine Praktikant_ in versucht, bekannte Bezugspunkte im Denken, die schon oft geholfen haben, heranzuziehen. Oder aber sie versucht unbeirrt, mit der von ihr favorisierten Fachtheorie, die schon oft passend war, an das Problem heranzutreten. Einen Schritt aus den bekannten Problemlösemustern herauszutreten und andere soziale und fachliche Perspektiven mit­ einzubeziehen, das ist einfacher mit Menschen, die durch ihre zeitlich parallel verlaufenden Praktika z. T. ähnliche, z. T. aber auch andere oder sogar gegensätzliche Erfahrungen machen und die in der Regel ein großes pädagogisches Interesse haben. Dem trägt die kollegiale Fallberatung von Praktikumsherausforderungen im Klassenverband (in der Regel in Kleingruppen) Rechnung. Der Kleingruppenaustausch über im Praktikum aufgetauchte Herausforderungen kann nicht nur der betroffenen Praktikant_in helfen, Orientierungsschwierigkeiten zu überwinden – sie macht für viele beteiligte 230 

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Schüler_innen den Wert eines sozialen Unterstützungsteams deutlich. Trotzdem setzt die Methode der kollegialen Fallberatung die Praktikant_ in nicht unter einen lösungsbezogenen Konsensdruck, vielmehr behält sie die Führung und bleibt in Kenntnis der realen Situation Expert_in über ihre Praktikumsherausforderungen. Im Folgenden möchte ich zunächst einen Fall schildern, in einem zweiten Schritt dann danach fragen, welche schulseelsorglichen Qualitäten sich in der Implementierung kollegialer Fallberatung zur Praktikumsauswertung in der Erzieher_innenausbildung entdecken lassen. Wenn ich den Ablauf der kollegialen Fallberatung schildere, so nicht mittels abstrakter, methodischer Reflexionen, sondern anhand einer Durchführungsbeschreibung mit gelegentlichen methodischen Anmerkungen.

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Das Vorgehen bei der Einführung der kollegialen Fallberatung

Eine Befindlichkeitsrunde, in der die Schüler_innen sich dazu äußern sollten, welche persönlichen und praktikumsbezogenen Aspekte bei ihnen »obenauf liegen«, bildete den klassischen Einstieg eines Schultages, zu dem die Schüler_innen nach den ersten vier Wochen eines zehnwöchigen Praktikums zusammentrafen. Befindlichkeitsrunden in der Ausbildung sind kein Selbstzweck, schon gar nicht sollen sie beliebige »schön-dass-wir-alle-mal-über-alles-geredet-haben«-Kommunikationsstrukturen verstärken. Neben ihrem gruppenpädagogischen Wert können sie auch Impulse für fachliche Auseinandersetzungen bieten. An diesem Tag sollte es um den Einstieg in die kollegiale Fallberatung gehen. Meine Bitte, in dieser Befindlichkeitsrunde von einem Highlight und einer schwierigen Situation während der ersten Praktikumswochen zu berichten, führte zur Skizzierung von etwa zehn subjektiv als problematisch eingeordneten Situationen. Einige waren mittlerweile schon zur Zufriedenheit gelöst, aber andere stellten für die entsprechenden Schüler_ innen immer noch eine große Belastung dar. Ich erläuterte, dass wir mit den noch nicht gelösten Problemfällen nach der Methode der kollegialen Fallberatung weiterarbeiten würden. Allerdings fragte ich an dieser Stelle noch nicht, wer bereit sei, ihr Problem dafür in den Mittelpunkt zu stellen. Kollegiale Fallberatung in der Ausbildung von Erzieher_innen

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Zunächst war es wichtig, die Methode ausführlich theoretisch darzustellen; ich erläuterte diese mit Anmerkungen zu den Funktionen der einzelnen Schritte. Die diskussions- und problematisierungsfreudigen Schüler_innen stellten einige kritische Rückfragen: »Können wir nicht einfach so über die Probleme reden?! – Was soll diese enge Struktur?!? – Wozu die engen Zeitvorgaben für die einzelnen Schritte?« – Diese grundsätzliche Tendenz zeigt, wie wichtig es für die initiierende Person ist, die Relevanz und Funktion der klaren Strukturiertheit transparent machen und deren Sinnhaftigkeit begründen zu können. Vier Personen waren nach der Erläuterung bereit, ihren Fall mittels der kollegialen Fall­beratung zu bearbeiten; diejenigen drei davon, die ihren Fall als besonders dringlich einstuften, sollten an diesem Tag die Gelegenheit dazu bekommen. Der erste Fall wurde im Gesamtplenum mit fast zwanzig anwesenden Schüler_innen thematisiert und von mir als Lehrer moderiert, um mit der Methode ein Stück vertraut zu machen. Nach einem positiven Feedback der falleinbringenden Schülerin und der Klasse wurden die beiden übrigen Fälle in Achtergruppen bearbeitet. Mein – in dieser Phase anwesender – Teamkollege und ich ordneten sich jeweils einer Gruppe zu; die Moderation übernahm jetzt aber jeweils eine Schülerin. Beide Gruppen arbeiteten im Folgenden ähnlich, die Lehrkräfte haben bei diesen ersten Durchführungen als Hintergrundmoderatoren unterstützend die kollegiale Fallberatung begleitet. Im Folgenden beschränke ich mich auf die Skizzierung des Falles in der von mir begleiteten Gruppe. Hier zeigte die Problemschilderung der falleinbringenden Schülerin folgende Situation: Sie absolvierte als eine von drei Praktikantinnen unterschiedlicher Fachschulen ihr Praktikum in einer Kindertagesstätte und schilderte Probleme mit ihrer Praxisanleiterin, die auf die häufigen kritischen Nachfragen zum Sinn verschiedener pädagogischer Handlungsweisen aus Sicht der Praktikantin zunehmend abweisend und gereizt reagierte. Die fachlichen Nachfragen seien als Arroganz und unangemessene Besserwisserei betrachtet worden. Der Versuch eines Klärungsgespräches mit einer weiteren pädagogischen Mitarbeiterin und der betroffenen Praxisanleiterin verschlimmerte die Situation. Das Ganze mündete darin, dass der Praktikantin durch ihre Anleiterin Gespräche mit den anderen Praktikantinnen verboten wurden, da diese 232 

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einen schlechten Einfluss auf jene haben könne. Für die Schülerin stellte sich die Frage: Soll ich den Praktikumsplatz wechseln oder gibt es noch Wege, ein einigermaßen entspanntes und sinnvolles Praktikum in dieser Einrichtung zu absolvieren? Die emotionale Reaktion auf den geschilderten Fall war bei den allermeisten Gruppenmitgliedern deutlich ausgeprägt. Als akute Gefühle, die beim Zuhören auftauchten, wurden Fassungslosigkeit, Wut, Trauer und Resignation genannt. Bei einigen wurden aber auch Kampf und Streitlust geweckt. Offensichtlich hätten die Schüler_innen in dieser Phase gern ihrer Entrüstung noch viel mehr Raum gegeben (und wie ich vermute) sich dabei gegenseitig hochgeschaukelt. Die moderierende Schülerin achtete aber sehr klar auf die Zeitvorgabe (2 Min.) und leitete dann zur nächsten Phase – den Verständnisfragen – über, in der vor allem Nachfragen zum Verlauf des schon vorgenommenen Klärungsversuchs gestellt wurden. Die Phase der Hypothesenbildung brachte eine Flut an Gedanken und Spekulationen über mögliche Ursachen des Problems hervor. Die allermeisten davon kreisten um mögliche innerpsychische Probleme der Anleiterin und mögliche prinzipielle Unzufriedenheiten mit ihrer persönlichen Arbeitssituation. Eine Schülerin sprach zudem die Möglichkeit an, dass die Praktikantin ihre Anleiterin an jemanden erinnern könnte, mit dem schlechte Erfahrungen gemacht wurden. Dass die Anleiterin vielleicht einfach eine stark von der Vorstellung der Praktikantin abweichende Sicht auf die Rolle einer Praktikantin haben könnte, wurde als weitere Hypothese genannt. Die moderierende Schülerin hatte es in dieser Phase schwer, einige Beratende daran zu hindern, eigene Erfahrungen unreflektiert auf diese Situation zu übertragen. Einem der Schüler erschien die Sache vollkommen deutlich. So sei das bei ihm auch gewesen, erklärte er selbstsicher. Er gab an, die Situation zu durchschauen und die richtige Lösung zu kennen. Aufgrund der sich verändernden Körperhaltung und -spannung der falleinbringenden Schülerin lag die Vermutung nahe, dass diese eher direktiven »Lösungs-Ratschläge« zum inneren Rückzug der Schülerin führten, ggfs. sogar als grenzverletzend wahrgenommen werden könnten. Damit wäre die durch die in der Phase der emotionalen Reaktion gewonnene Offenheit vielleicht blockiert – möglicherweise auch für ungewohnte Ursachenforschung oder auch spätere konstruktiv-irritierende Kollegiale Fallberatung in der Ausbildung von Erzieher_innen

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Lösungsansätze, die weiterführen könnten. Hier nahm ich als Lehrer meine hintergrundmoderierende Rolle wahr und machte nochmal die Funktion und die Zielrichtung dieser Phase deutlich. In ihrer Stellungnahme zu den geäußerten Hypothesen griff die falleinbringende Schülerin den Aspekt auf, dass sie mit ihrem Verhalten des häufigen Nachfragens die Anleiterin irritiert haben könnte. Beim dann folgenden gemeinsamen Ringen um Lösungsansätze wurden mehrere Ideen ausgelotet. Zwei Schülerinnen favorisierten eindeutig den Wechsel in eine andere Kindergartengruppe mit einer anderen Anleiterin. Vor allem aber kristallisierte sich die Idee heraus, der Anleiterin einen Brief zu schreiben, um die hohe Impulsivität und Emotionalität der Gespräche zu umgehen. Ausführlich wurde darüber diskutiert, welcher Grundtenor dieser Brief haben könne; auffallend war, dass einige Beratende ihr in der bisherigen Erzieher_innenausbildung gewonnenes Wissen über konstruktive Kommunikation (»den anderen das Gesicht wahren lassen – Ich Botschaften – bewusster Umgang mit Kommunikationsebenen im Sinne Schulz von Thuns«) einbrachten, um es für diesen Fall und dessen Lösung nutzbar zu machen. In der abschließenden Reflexion der falleinbringenden Schülerin bedankte sich diese bei ihren Mitschüler_innen; sie äußerte, dass sie überrascht wäre von den vielen konkreten Lösungsansätzen, sich erst mal etwas sortieren müsse, aber sehr vermutlich in den nächsten Tagen einen Brief an ihre Anleiterin schreiben würde.

20.2 Kollegiale Fallberatung als Schulseelsorge Der Verlauf der kollegialen Fallberatung zeigt zunächst einmal: Sie ist in einer Erzieher_innen-Mittelstufe für die Beteiligten Gewinn bringend und ein Beitrag zur Professionalisierung angehender Erzieher_innen. Die Schwierigkeiten, die bei den Beratenden und der moderierenden Schülerin aufgetaucht sind, deuten nicht auf eine generelle Überforderung hin. Lösungserfahrungen nicht vorschnell zu übertragen und in der Phase der emotionalen Reaktion keine emotional aufgeladenen Ratschläge zu erteilen (Zitat: »Mich macht das rasend!!! An deiner Stelle würde ich einer dermaßen schwierigen Anleiterin Lebewohl sagen!«): Das war für einige 234 

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Beratende allerdings schwierig und machte auch die Moderation zu einer Herausforderung. Hierbei müssen auch die vertiefenden Nachfragen der Beratenden und die sich ggfs. im »Problemkarussel« drehende Darstellung der Falleinbringenden von der Moderation sinnvoll ausgelotet werden. Dies macht diese theoretisch so einfach zu erfassende Methode eben doch anspruchsvoll, weshalb sie Training braucht, damit sie die Kompetenzen der Auszubildenden stärkt. Im Folgenden gehe ich auf Spurensuche nach den schulseelsorglichen Qualitäten, die sich in der Durchführung gezeigt haben.

20.2.1 Solidarisches Ausbrechen aus erlebter Hilflosigkeit Vor Beginn der Fallberatung fühlte sich die falleinbringende Schülerin sehr hilflos. In der Äußerung: »Ich kann machen, was ich will; das bringt doch alles nichts!« verdichtete sich diese Hilflosigkeit. Die am Ende favorisierte Lösung, die im Schreiben eines Briefes an ihre Anleiterin bestand, hat nun beileibe keine spektakulären Züge, eigentlich ist so ein Schritt naheliegend. Aber das Naheliegende kann in die Ferne rücken, wenn ich meiner Verzweiflung zu nahe bin. Wenn das Nicht-Gelingen in meinem Denken und Fühlen der zentrale Ausgangspunkt ist, kann dies lähmend sein. Die Gespräche, die die Schülerin zuvor in ihrem Freundeskreis geführt hatte, halfen ihr nicht, die Lähmung zu reduzieren. Sie tat nur weniger weh durch den erfahrenen Schutz und Trost. Während der Fallberatung konnte die Schülerin jedoch erfahren, was Kollegialität von Mitschüler_innen, die sich ebenfalls im Praktikum befinden, im besten Sinne ausmacht: emotionale Zugewandtheit und Unterstützungsbereitschaft vor einem ähnlichen Erfahrungshorizont, der beides zulässt, Nähe und Distanz. Im Freundeskreis zeigte sich eher eine »offene Betroffenheit« der Freund_innen, die das Bestehende bestehen lässt; im gemeinsamen Ringen um Hypothesen und Lösungen während der Fallberatung dagegen herrschte die Atmosphäre einer »betroffenen Offenheit«, die Aktivität und neue Denkrichtungen anregte. Als die moderierende Schülerin die betroffene Schülerin am Ende der Lösungsphase nach ihrem Befinden befragte, sagte diese zunächst  – bevor sie den o. g. Lösungsansatz aufgriff – »Ihr habt so viele gute MögKollegiale Fallberatung in der Ausbildung von Erzieher_innen

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lichkeiten angesprochen, die ich mir vorstellen kann und die mir helfen könnten!« Welch ein Kontrast zu dem hilflosen Eingangsstatement der Schülerin!

20.2.2 Entlastung und Annahme Der Aspekt der Entlastung wurde in der gesamten kollegialen Fallberatung sehr deutlich; ich gehe hier aber nur auf die Phase der emotionalen Reaktionen ein, denn diese Phase, in der die Schüler_innen ihre emotionale Betroffenheit schildern, könnte man ja auch als Störfaktor für eine gradlinige Lösungsorientierung ansehen. Ich habe sie dagegen als für den weiteren Prozess sehr wichtig empfunden; die Entrüstung, Wut und Traurigkeit der Mitschüler_innen tat der Betroffenen offensichtlich gut; ob das Sprichwort »geteiltes Leid ist halbes Leid« zutrifft, hängt sehr von den Umständen ab; die Umstände in der kurzen zweiminütigen Phase, die explizit Raum für Emotionales bot, führten meiner Einschätzung nach zu deutlich entspannteren Gesichtszügen der Betroffenen und zweimal musste sie lachen. Gerade die nicht um Objektivität bemühten Ausdrucksformen des Mitgefühls und die Vehemenz der emotionalen Reaktionen nahmen ihr offensichtlich ein Stück Last von den Schultern: »Ihr habt mir gezeigt, dass ich nicht spinne, wenn ich mich so wahnsinnig ärgere und frustriert bin«, äußerte die Schülerin am Ende der Fallberatung. Mich erinnert die Wirkung dieser Phase an das Prinzip der auf Kleinstkinder bezogenen Bindungsforschung: Erst wenn die tief verinnerlichte Erwartung an Schutz, Trost und Nähe erfüllt ist, kann ein Kleinstkind entspannt die Welt erkunden und sich auf Unbekanntes neugierig einlassen. Last von den Schultern nehmen, Angenommen-Sein und Annehmen, unabhängig von Fehlern und Leistungsschwächen, Verstanden-Werden und das Bemühen um Verstehen beim anderen wahrzunehmen, Getragen zu werden: Diese so stark im christlichen Menschenbild verankerte Grundhaltung findet ihren Ausdruck nicht immer im Moderaten und Harmonischen, sondern manchmal auch im Raum geballter Emotio­ nalität; zumindest gilt dies, wenn die Emotionalität – wie bei der kollegialen Fallberatung  – in einem prinzipiell konstruktiven, zugewandten 236 

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und lösungsorientierten Rahmen eingebettet ist und die anderen Phasen neben der Annahme auch Raum für vielleicht als verwirrend oder ungewohnt empfundene Analyse- und Lösungsideen bieten.

20.2.3 Ermutigungen und Zuspruch »Normalerweise spreche ich Probleme mit meinen Mitmenschen sehr schnell und deutlich an; ich glaube, manchmal komme ich dabei etwas zickig und arrogant an, aber es wirkt«, äußerte die falleinbringende Schülerin bei der Problemschilderung. In der Phase der Hypothesenbildung fragte sich eine Mitschülerin, ob das schnelle und häufige Ansprechen von Problemen nicht gerade das sein könnte, was die Anleiterin ver­unsicherte: »Vielleicht braucht die mehr Zeit und fühlt sich dadurch überfordert.« Obwohl die anderen Mitschüler_innen diese Hypothese nicht weiter aufgriffen und gänzlich andere Vermutungen über Ursachen des Problems anstellten, bewertete die Falleinbringende in ihrer Stellungnahme gerade diese Hypothese als hilfreich. Im weiteren Verlauf entwickelte sich daraus die Idee des weiter verfolgten Lösungsansatzes. Sich von Angst oder innerer Spannung, die manchmal die Begleiterscheinung neuer Wege ist, nicht regieren zu lassen und auszuweichen, dazu braucht es Mut, Ermutigung und Zuspruch. Die Erfahrung des gemeinsamen Ringens um Lösungsideen, zu wissen, es gibt Menschen, die mich verstehen wollen und mir für meinen Prozess alles Gute wünschen, hat bei der Falleinbringenden scheinbar die Angst davor, einen neuen Weg auszuprobieren, gemildert. »Eigentlich hasse ich es, Briefe zu schreiben, aber ich glaube, das tut gut; ich traue mich das mal.« Im schlichten »ich-trau-mich-das-mal« spiegelt sich die Bereitschaft, der Angst nicht allzu großen Raum zu geben und Unvertrautes auszuprobieren und zu wagen. Dass ich dieses »ich-trau-mich-jetzt« als Ausdruck von erlebtem Zuspruch und Ermutigung nicht überinterpretiert habe, wurde mir sehr deutlich, als ich die Schülerin einige Wochen später fragte, ob sie den Brief tatsächlich geschrieben habe; Sie antwortete: »Ja, aber ohne die kollegiale Fallberatung hätte ich dies niemals getan.« Es braucht Mut, sich Meinungen anzuhören, neue Sichtweisen aufzunehmen und mit den eigenen abzugleichen. Die kollegiale Fallberatung Kollegiale Fallberatung in der Ausbildung von Erzieher_innen

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kann dieses ermöglichen, indem sie die »Schuhe« – die Perspektiven – anderer anbietet, ohne in diesen »gehen« zu müssen; Es wird möglich, die Mehrdimensionalität einer Herausforderung zu erfassen, ohne den Druck, sich einer Richtung anzupassen. Denn welche Aspekte und Ideen die Falleinbringende letztlich aufnimmt, entscheidet sie für sich allein – ohne Rechtfertigungsnotwendigkeit gegenüber den anderen. Nur ohne diesen Druck kann Ermutigung wirklich wirken. Es kann die Schwierigkeit auftreten, dass die »Beratenden« der Gruppe gern im Anschluss noch ihren Sichtweisen besonderen Ausdruck verleihen möchten. Deshalb sollte explizit durch die unterstützende Moderatorenrolle des Lehrers transparent gemacht werden, dass im Anschluss der »Fall« nicht »zerredet« wird. Es zeigt sich, dass Training und häufigere Durchführung von kollegialen Fallberatungen auch den Schüler_innen letztlich deutlich macht, dass ein »Nachhaken« im Anschluss nicht hilfreich ist und oft die Entmutigung und Überforderung der falleinbringenden Schüler_innen wieder in den Vordergrund rücken kann.

20.3 Fazit Übrigens zeigte der Brief kaum Wirkung auf das Verhalten der Anleiterin; Wirkung zeigte eher der danach erfolgte Gruppenwechsel. Kollegiale Fallberatung ist kein Zaubermittel, um Probleme in beruflichen Situationen der angehenden Erzieher_innen zu lösen. Sie fördert aus der Perspektive der Falleinbringenden aber dennoch wichtige Klärungsprozesse. Solidarisches Ausbrechen aus erlebter Hilflosigkeit, Entlastung, Angenommensein, Verstehen und Verstanden werden, sowie Ermutigung und Zuspruch: Diese schulseelsorglichen Qualitäten, die mir in der hier beschriebenen kollegialen Fallberatung einer Erzieher_innenklasse begegnet sind, habe ich ausschließlich aus der Perspektive der Fall­ einbringenden beleuchtet. Wenn wir im Klassenverband die Methode reflektieren, wird aber sehr deutlich, dass die meisten Schüler_innen die kollegiale Fallberatung auch für die Klassengemeinschaft und die eigenen beruflichen Erfahrun238 

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gen als wertvoll ansehen. Der eingangs angesprochene gemeinsame Erfahrungshintergrund der Rolle einer Praktikantin einer sozialpädagogischen Einrichtung führt dazu, dass durch die kollegiale Fallberatung bei vielen wichtige Impulse für das eigene Verhalten in der Praxis gesetzt werden. Ich freue mich, dass meine Schüler_innen die kollegiale Fallberatung so engagiert mit Leben gefüllt haben und diese als hilfreich und sinnvoll bewerten. Besonders freut mich das Vorhaben einer Schülerin, vorzuschlagen, die kollegiale Fallberatung in ihrer Einrichtung einzuführen. Obwohl diese »nur« in der Praktikantenrolle ist, befindet sich dies nun in der Umsetzung. In mir weckt das die Hoffnung, dass Erzieher_innen, die in ihrer Ausbildung diese Methode kennenlernen, als Multiplikator_ innen der kollegialen Fallberatung auftreten können.

Kollegiale Fallberatung in der Ausbildung von Erzieher_innen

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Sterben, Tod und Trauer in der Schule Reiner Andreas Neuschäfer Das brennt mir auf der Seele Anregungen für eine seelsorgliche Schulkultur 2007. 96 Seiten, mit 16 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-61596-6 eBook ISBN 978-3-647-61596-7

Stephanie Witt-Loers Sterben, Tod und Trauer in der Schule Eine Orientierungshilfe mit Kopiervorlagen

Stephanie Witt-Loers Trauernde Jugendliche in der Schule 2012. 136 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-77008-5 eBook ISBN 978-3-647-77008-6

Der Themenbereich Sterben, Tod und Trauer findet in der Schule viel zu wenig Beachtung. In der Ausbildung kommt das Thema nicht vor, im Alltag jedoch immer wieder. Tritt der Krisenfall ein, sind Menschen oft überfordert und handlungsunfähig. Damit dies nicht so bleibt, zeigt die Autorin Möglichkeiten auf, wie man sich gegenüber trauernden Jugendlichen in der Schule verhalten kann.

2009. 96 Seiten, mit 8 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-58009-7 eBook ISBN 978-3-647-58009-8

Jürgen Ziemer Seelsorgelehre

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Eine Einführung für Studium und Praxis 3. Auflage 2009. 360 Seiten ISBN 978-3-8385-2147-3

Michael Wermke / Ralf Koerrenz (Hg.) Schulseelsorge – Ein Handbuch 2008. 288 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-61613-0

Vandenhoeck & Ruprecht www.v-r.de

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