Praxisbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik [1 ed.] 9783666408533, 9783525408537


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Praxisbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik [1 ed.]
 9783666408533, 9783525408537

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Stephan Gingelmaier / Holger Kirsch (Hg.)

Praxisbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik

Stephan Gingelmaier / Holger Kirsch (Hg.)

Praxisbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik Mit 13 Abbildungen und 2 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Tanor/shutterstock.com Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-40853-3

Inhalt

Zum Geleit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Epistemologische Anmerkungen zur Bedeutung der Mentalisierung für die Pädagogik Manfred Gerspach Praxisbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik – eine Hinführung . . . . . . 19 Stephan Gingelmaier und Holger Kirsch Teil I – Theorie des Mentalisierens für pädagogische Felder Einführung in das Konzept der Mentalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Axel Ramberg und Tobias Nolte Mentalisieren als Einflussfaktor auf pädagogische Professionalität – konzeptionelle Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Nicola-Hans Schwarzer Mentalisieren in (pädagogischen) Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Stephan Gingelmaier und Lorena Asseburg Muss Strafe sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Über einen mentalisierenden Umgang mit Konflikten und Grenzverletzungen in der Pädagogik Stephan Gingelmaier und Holger Kirsch »Sie spielen wieder mit mir!« Mentalisieren im Kontext der Peergruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Günther Opp

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Teil II – F  älle des konkreten Mentalisierens in pädagogischen Feldern    Erstes Feld: Mentalisieren in der Frühpädagogik Die mentalisierungsbasierte Begleitung einer Eingewöhnung in die Kita 109 Anke Lowin Kindheit in prekärer Lebenslage – die Relevanz von Resilienz und Mentalisierung in der Frühpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Josephin Louisa Scholz    Zweites Feld: Mentalisieren in der Schule Die Feentür . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Ein Beispiel einer alltäglichen mentalisierungsanregend-didaktischen Idee für die Schule Stephan Gingelmaier und Stefanie Gingelmaier Max, ein Rabauke? Mentalisieren von Beziehungsdynamik im Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Tillmann F. Kreuzer und Agnes Turner »Wenn der Eisberg ins Wanken gerät« – Mentalisierungsförderung im Lernhilfekontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Noëlle Behringer und Lisa Weichel Gelingen und Scheitern des Mentalisierens im sonderpädagogischen Arbeitsfeld einer Förderschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Jochen Willerscheidt »Lasst uns über psychische Gesundheit sprechen« – Schulpraxisbericht eines mentalisierungsbasierten Präventionsprogramms . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Nicola-Hans Schwarzer und Elena Johanna Koch    Drittes Feld: Mentalisieren in der Sozialen Arbeit Mentalisierungsprozesse im Kontext der stationären Kinder- und Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Theoretische Rahmung und reflektierende Überlegungen zu exemplarischen Alltagssituationen Noëlle Behringer

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Inhalt

Mentalisieren auf mehreren Ebenen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Zum Fall einer exemplarischen Maßnahmenkarriere in der Kinder- und Jugendhilfe Andrea Dlugosch und Melanie Henter »Immer Ärger mit der Hausordnung« – Mentalisieren im Kontext einer vollstationären Mutter-Kind-Einrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Christiane Wiggeshoff und Annika Junker    Viertes Feld: Supervision und Beratung in der Pädagogik Beziehungsdynamiken eines Familiensystems mentalisieren: Pädagogische Frühförderung als Paarberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Stephan Gingelmaier »Manchmal habe ich das Gefühl, die Kinder kommen vom Regen in die Traufe« – Mentalisierungsprozesse in der Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Agnes Turner Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

Inhalt

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Zum Geleit Epistemologische Anmerkungen zur Bedeutung der Mentalisierung für die Pädagogik Manfred Gerspach

Eigentlich hat alles mit Winnicotts Vorstellung vom potenziellen Raum begon­ nen. Mit seinem Entwurf dieses Bildes hat er veranschaulicht, dass Entwicklung nicht im einzelnen Subjekt, sondern zwischen den Subjekten vonstattengeht. Winnicott beschäftigte die Frage, wie aus einem völlig abhängigen und seiner Umgebung ausgelieferten Säugling nach und nach ein erwachsener Mensch wird, der die Realität nicht mehr als eine Bedrohung empfindet (Winnicott, 1965; ­Leuzinger-Bohleber u. Lebiger-Vogel, 2016, S. 46). Diese frühe Entwicklungsphase stellte er sich als eine Mutter-Kind-Einheit vor, wobei der potenzielle Raum die fließende Grenze zwischen jenen beiden Akteuren und folglich die innere psychische Realität wie die wirkliche, äußere Welt im selben Moment repräsentiert. Konkret hatte Winnicott die Situation zwischen der Mutter und ihrem Kind im Auge, die in einer gelingenden gemeinsamen Interaktion diesen Raum beleben. Die Mutter versteht die Befindlichkeit ihres Kindes sowie die Signale, die es aussendet, und antwortet darauf. Das heißt, sie misst den Ent-Äußerungen des Kindes eine Bedeutung bei und lädt es somit ein, selbst Bedeutungen zu generieren. Indessen sei hier unbedingt auf die aktive Mitgestaltung des Säuglings an der wechselseitigen Beziehung verwiesen (von Klitzing, 2002, S. 883; Dornes, 2005, S. 80; von Lüpke, 2010, S. 5). In diesem dialogischen Wechselspiel erahnt das Kind nämlich umgekehrt, dass bestimmten sprachlichen und auch nichtsprachlichen Botschaften von Vater und Mutter ebenfalls eine spezifische Bedeutung innewohnt. Geht der Vater z. B. mit seiner eineinhalbjährigen Tochter in den Zoo und ist das Kind enttäuscht, dass das große Krokodil nicht mehr da ist, so wird ihr der Vater sein Wissen anbieten, dass es nach Dänemark gebracht worden ist. Fragt man das Kind später, wo das große Krokodil denn hingekommen sei, so wird es antworten: »Dänemark.« Das Mädchen bemerkt, wie tiefgründig diese Antwort offenbar ist, und erwirbt eine erste Vorstellung von Dänemark, von einem Land also, von dem es bis dahin noch nie etwas gehört hat, das aber augenscheinlich so bedeutsam ist, dass man das Krokodil dorthin verschickt hat (Stark, 2009, S. 693). 9

Dem allen geht die Erfahrung des Kindes voraus, zu lernen, im Beisein der Mutter allein zu sein (Winnicott, 1965/1990, S. 36 ff.). Die Mutter ist mit anderen Dingen befasst, wendet sich aber ihrem Kind zu, wenn die Not es verlangt. Eine gute Mutter stellt also eine paradoxe Situation her: Sie signalisiert ihre emotionale Nichtverfügbarkeit, bleibt aber dennoch verfügbar (Paulsen, 1998, S. 165). Auf diese Weise ist das Kind sicher, dass es auf sein primäres Objekt zurückgreifen kann, falls unlustvolle Spannungszustände zu groß werden. Somit erlebt es ein Gefühl von Selbstwirksamkeit, sich im Beisein der Mutter eigenaktiv behelfen zu können, und erfährt zugleich die Anspannung als auszuhaltenden und zu regulierenden Gemütszustand. In Anlehnung an Piaget könnte man auch sagen, dass dies der Beginn der Intelligenz ist (Piaget, 1936/1975, 1995). In seinem Kommentar zu Piagets Sorbonne-­ Vorlesungen (Piaget, 1995) erkennt Leber in der Gewahrwerdung der Getrenntheit den Dreh- und Angelpunkt dieses qualitativen Entwicklungssprungs. Sie beinhaltet den Vollzug einer affektiven und kognitiven Dezentrierung, um wahrzunehmen und zu akzeptieren, nicht im Mittelpunkt von allem zu stehen (Leber, 1995, S. 164). An anderer Stelle bezeichnet er das Aufgebenkönnen des »Ur-­Egozentrismus« gegen Ende des ersten Lebensjahres als herausragendes Kennzeichen dieser Vorgänge. Die Wandlung des egozentrischen Standpunktes gibt die basale Voraussetzung für die einfachsten kognitiven Denkvorgänge ab (Leber, 1990, S. 281). Schon hier erhalten wir – und zwar im Rahmen eines genuin pädagogischen Diskurses – erste Hinweise auf die Tragweite der erst viel später untersuchten Mentalisierungsprozesse, die eingebunden sind in ein enges Geflecht aus Beziehungsmomenten, Affektregulierung und kognitivem Erwachen. In diesem Augenblick entwickelt das ganz junge Kind eine Ahnung von der Gewichtigkeit, die die Mutter als äußeres, von ihm getrenntes Objekt für es hat, und verinnerlicht schließlich diese sich wiederholenden Erfahrungen mit ihr im Sinne des Aufbaus einer stabilen inneren Welt von Selbst- und Objektrepräsentanzen. Um im Fortgang der jetzt einsetzenden Autonomieentwicklung, die auf der wachsenden Akzeptanz aufruht, die Trennung vom mütterlichen Objekt zu erkennen wie anzuerkennen, benötigt das Kind zunächst ein Übergangsobjekt – wie etwa den Zipfel einer Decke beim Einschlafen. Diese Decke ist nicht, aber sie bedeutet die Brust der Mutter. Das Übergangsobjekt ist das erste Nichtobjekt des Kindes und stellt die Brücke zwischen innen und außen her (Winnicott, 1965/1990, S. 126). Aber es wird vom Kind nicht gefunden, sondern ins Leben gerufen: »Das Kleinkind erschafft das Objekt, aber das Objekt war bereits vorher da […]« (Winnicott, 1971/1993, S. 15 ff.; s. auch Ludwig-­ Körner, 2014, S. 89 ff.; Gerspach, 2018, S. 38 ff.). 10

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Das Gelingen dieses Vorgangs ist davon abhängig, dass die Mutter zunächst die narzisstischen Omnipotenzfantasien ihres Kindes intuitiv versteht und bestärkt und ihm also die Illusion bestätigt, das Objekt geschaffen zu haben. Erst darüber werden das Erkalten dieser Fantasien und der Aufbau realistischerer Vorstellungen möglich. Von nun an vermag das Kind immer besser allein zurechtzukommen. Der potenzielle Raum ist also ein Raum, in dem fundamentale Potenzen wachsen. Mit anderen Worten: Weil ihm von der Mutter im potenziellen Raum symbolische Bedeutungen über die wechselseitige Interaktion und die Beschaffenheit der inneren und äußeren Realität zur Verfügung gestellt werden, beginnt das Kind zu mentalisieren. Von nun an wird »Dänemark« möglich. Zunächst hat die Mutter eine geradezu unrealistische Vorstellung vom mentalen Können ihres Säuglings. Sie fantasiert ihn als denkendes Wesen und schreibt ihm eine Absicht seines Handelns zu, was er zunächst als diffuse Botschaft wahrnimmt, und doch vermittelt sie ihm auf diesem Wege die bedeutende Gewissheit: »Sie denkt mich, also bin ich.« Somit wird das Erkennen seines eigenen Bewusstseins antizipiert und dessen Entwicklung in Gang gesetzt. Voraussetzung für das Gelingen dieser Prozesse ist, dass die Spiegelung der Affekte des Kindes im Sinne eines sozialen Biofeedbacks durch die Eltern zu dessen gelingender Affektregulierung führt. Dies gilt insbesondere für das Schicksal der negativ eingefärbten Affekte, die es zu containen gilt (von Klitzing, 2002, S. 883). Die Weiterentwicklung der frühen Psychoanalyse als einer monologischen Psychologie hin zur Objektbeziehungspsychologie als einer ­interaktionellen Psychologie wurde mittlerweile durch vielfältige und ausgereifte empirische Erkenntnisse aus der Bindungs-, Säuglings- und Affektforschung ergänzt, bereichert und in Teilen modifiziert. Auf diesem Wege wurde der Stellenwert des gegenseitigen interaktionellen Austauschs in seiner ganzen Tragweite für die gedeihliche Entwicklung des Kindes greifbar. Beginnend mit der Rêverie, also der träumerischen Bezogenheit der Mutter zum Kind (Bion, 1965/1992; Halmer, 2012, S. 6), verläuft dieser gesamte Prozess zu großen Teilen unbewusst. An diesem Punkt zeigt sich die Anschlussfähigkeit an die Pädagogik. Wenn wir verstehen, dass Erziehung in erster Linie Beziehung ist, wird die Einführung von reifen Symbolisierungs- und Reflexionsfähigkeiten auf dieser Schiene sichtbar. Am Anfang steht also: Die Mutter mentalisiert ihr Kind, und daraufhin beginnt es zu mentalisieren. Im Fortgang der Entwicklung müssen verschiedene Stadien in aufsteigender Reihenfolge durchlaufen werden. Zunächst ist das Kind davon überzeugt, dass seine innere Welt und die Innenwelt anderer Personen der äußeren Realität entsprechen – es befindet sich im Modus der psychischen Äquivalenz. Ins Spiel vertieft, beginnt es aber bald, mit der Realität zu experimentieren, und begreift Zum Geleit

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allmählich, dass sein inneres Erleben die äußere Realität nicht widerspiegelt. Im Spiel kommt der Teufel aus der Wand, aber weil das Kind weiß, dass es ihn nicht gibt, kann es dies spielerisch zur Darstellung bringen. Allerdings erlebt es auch seine Gedanken so, als wären sie Realität: »Der Gedanke an ein Krokodil unter dem Bett hat eine ähnlich ängstigende Wirkung wie ein wirkliches Krokodil […]. Im Spiel werden Gedanken und Gefühle von der Wirklichkeit abgekoppelt und sind dann irreal, im Äquivalenzmodus sind sie überreal« (Dornes, 2006, S. 528 ff.). Mit dem Erwerb des Als-ob-Modus gewinnen symbolische Bedeutungen zunehmend an Gewicht. Anfangs werden beide Modi noch für gleichwertig erachtet, und dem Kind will dieser logische Widerspruch noch nicht aufgehen. Im Alter von etwa vier Jahren werden sie dann beide integriert. Das Kind erkennt nun die Zusammenhänge zwischen innerer und äußerer Realität, aber auch, dass es gravierende Unterschiede gibt. Ab diesem Zeitpunkt können wir von einer ausgeprägten Fähigkeit zum Mentalisieren sprechen. Den Abschluss bildet in nachfolgenden Epochen der Erwerb der Fähigkeit zum Nachdenken. Damit dies alles gelingen mag, benötigt das Kind von Anbeginn an einfühlsame Eltern, die imstande sind, seine vielfältigen psychischen Zustände zu reflektieren. Allen, Fonagy und Bateman (2011) haben die verschieden ausgereiften Ebenen der Fähigkeit zu mentalisieren bzw. zu reflektieren differenziert beschrieben, wobei sie bei einem aktiven, feindseligen Widerstand gegen Denken überhaupt beginnen und mit einer außergewöhnlich guten Reflexionskompetenz – »verbunden mit einer unbeirrbar reflexiven Haltung« – enden (Allen et al., 2011 S. 85; s. auch Gerspach, 2018, S. 77 ff.). Dass das Abstraktionsvermögen zu wachsen vermag, bedingt den Vollzug der Abkehr vom Konkreten. Seine differenzierte Ausformung ist an die von Empathie getränkte Qualität der frühen Beziehung gebunden. Einzig sichere primäre Elternobjekte, die nach und nach als stabile Repräsentanzen verinnerlicht werden, garantieren diesen Schritt. Nur dann erfolgt der Übergang zur Ebene der Metakognition, über das Gedachte und Erlebte eingehend nachdenken zu können. Was aber, wenn unter unzureichenden Sozialisationsbedingungen diese Schritte der Reifung gar nicht zu gehen sind, weil die basalen Voraussetzungen einer gelingenden Affektregulierung dafür fehlen? Katzenbach (2004) zeigt auf, wie eine tiefe Verunsicherung des Selbst, die aus unzureichenden frühkindlichen Beziehungserfahrungen mit den Eltern herrührt und den Aufbau solider Mentalisierungskompetenzen nachhaltig verhindert, im schulischen Kontext neuer Lernsituationen ständig zu unkontrollierbaren Stressreaktionen führt. Demnach beeinträchtigen gravierende emotionale Probleme Kinder in ihrer kogni12

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tiven Entwicklung dann besonders nachhaltig, wenn sie mit der Aufgabe eines strukturellen Umlernens und der Reorganisation ihres Wissens und Könnens konfrontiert sind. Diese Situation erscheint ihnen wie eine maßlose Herausforderung, die eine nicht mehr beherrschbare Stressreaktion auslöst und die Gefahr ihrer völligen Dekompensation mit sich bringt (Hüther, 1997/2016, S. 76; Katzenbach, 2004, S. 92 ff.). Solchen Kindern wurde aufgrund brüchiger und inkonsistenter früher Beziehungserfahrungen der Erwerb der Fähigkeit vorenthalten, »ihre eigenen Emotionen und die ihrer Mitmenschen differenzierter wahrzunehmen, zu interpretieren und auch komplexer zusammenzusetzen« (Gerspach, 2009, S. 197). So blieb ihnen der reflektierte Zugang zu den eigenen Affekten versperrt, denen sie sich stattdessen nach wie vor hilflos ausgeliefert sehen (Katzenbach, 2006, S. 95). Die Aufgabe einer psychoanalytisch orientierten Pädagogik ist es hernach, nachträglich empathische Beziehungsangebote zu entwerfen, die zunächst einmal die bislang fehlende Affektregulation möglich machen. Erst in einem zweiten Schritt wird sich die Neugier auf schulische Sachthemen freisetzen lassen. Spätestens an diesem Punkt zeigt sich die große Bedeutung einer mentalisierenden Haltung für die Erziehungswissenschaften. Bereits Horkheimer und Adorno haben die »Genese der Dummheit« in äußeren widrigen Lebensumständen verankert. Danach ist das Wahrzeichen der Intelli­genz das »Fühlhorn der Schnecke ›mit dem tastenden Gesicht‹« (Horkheimer u. Adorno, 1944/1969, S. 274). Vor einem Hindernis wird dies jedoch sogleich in die »schützende Hut des Körpers zurückgezogen« und wagt sich erst zaghaft wieder hervor. Solch erster tastender Blick ist immer leicht zu brechen, und das endgültig verscheuchte Tier wird scheu und dumm: »Die Unterdrückung der Möglichkeiten durch unmittelbaren Widerstand der umgebenden Natur ist nach innen fortgesetzt, durch die Verkümmerung der Organe durch den Schrecken.« Übertragen wir dieses Gleichnis auf die kindliche Entwicklung, so wird deutlich: »Dummheit ist ein Wundmal« (Horkheimer u. Adorno, 1944/1969, S. 274). Aus heutiger Sicht ließe sich damit formulieren: Sie ist das Fanal misslungener Mentalisierung. Bei aller begründeten Euphorie, die die Rezeption der Mentalisierung in klinischen wie außerklinischen Feldern im Schnittpunkt von Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychologie und nicht zuletzt Pädagogik ausgelöst hat, so seien doch drei mögliche Untiefen in den Blick genommen:

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1  Die Untiefe der kognitiven Vereinseitigung Die aktuelle Theoriedebatte ist sehr stark auf das Thema Mentalisierung ausgerichtet, und die darin aufscheinende Verbindung von kognitiven, affektiven und Beziehungsaspekten stellt eine wertvolle und unabdingbare Bereicherung der ursprünglichen kognitionstheoretischen Sicht im Sinne der Theory of Mind dar. Allerdings nimmt diese ursprüngliche Referenztheorie bis heute keinerlei Bezug zum triebhaften Unbewussten, was sich jetzt auch auf unserem angestammten Terrain auszuwirken droht (Stark, 2009, S. 652 ff.). Bleibt nämlich Mentalisierung zu sehr an dieser Tradition orientiert, fällt sie womöglich einer kognitionslastigen Verkürzung zum Opfer. Das Subjekt der Psychoanalyse ist jedoch nicht bis ins Letzte bestimmbar, »da das Unbewusste etwas ist, was man wirklich nicht weiß« (Langnickel u. Link, 2018, S. 126 ff.). Insofern ist die Befürchtung nicht von der Hand zu weisen, sich zu sehr von diesem Paradigma zu distanzieren. Auch Schultz-Venrath (2013) bezeichnet das Triebmodell und die Annahme eines dynamischen Unbewussten als Kennzeichen der Psychoanalyse, wobei er gleichwohl die Nähe des Mentalisierungsmodells zu psychoanalytischen Intersubjektivitätskonzepten betont. Wenn hernach ausreichend berücksichtigt wird, dass die biografische Entwicklung des Selbst »als körperoder leibgebundene – intersubjektive – Kommunikation« beginnt, und das metakognitive Vermögen zum Lesen von Gedanken und Handlungen anderer nicht zugunsten einer affektentleerten Symbolisierungsfähigkeit überdehnt wird, bleibt das Modell anschlussfähig (Schultz-Venrath, 2013, S. 56 ff.). Als Resümee lässt sich das Problem einer erkenntnistheoretischen Verkürzung, die zu falschen Schlussfolgerungen verleitet, trotzdem wie folgt festmachen: »Das Unbewusste bestimmt das Bewusstsein stärker als umgekehrt« (Roth, 2019, S. 26). Insofern ist jedes Mentalisierungskonzept zwingend ans Affektleben zu binden.

2 Die Untiefe der Verengung auf eine dyadische Mutter-Kind-Figur Den ursprünglichen Vorstellungen von Mentalisierung war eine enge Fokussierung auf die frühe Mutter-Kind-Dyade zu eigen. Insbesondere der Rolle des Vaters ging dabei etwas Essenzielles verloren – wie nicht zuletzt das »Dänemark«-Beispiel veranschaulicht. Empirische Studien belegen sehr wohl den Stellenwert triadischer Beziehungen für die Entwicklung des Kindes von Geburt an (von Klitzing, 2002; Heberle, 2006, S. 36 f.). Jenseits des innerfamilialen Triangulierungsmoments von Vater, Mutter und Kind wäre zudem den ver14

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schiedenen Gruppenaspekten die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Aus gruppenanalytischer Sicht empfiehlt Schultz-Venrath (2013) ein Gruppensetting, weil dort keine dyadische, sondern eine polydyadische Spiegelung des individuellen Erlebens stattfinde und die assoziative kommunikative Spirale zwischen den Gruppenteilnehmerinnen1 dem Einzelnen helfe, das Unaussprechliche auszusprechen und über das Mentalisieren schließlich zu symbolisieren (SchultzVenrath, 2013, S. 220). Bezogen auf die pädagogische Arbeit mit (schwierigen) Kindern und Jugendlichen rät Hechler eine mentalisierungsbasierte Gruppenanalyse als pädagogisches Förderangebot an (Hechler, 2013, S. 326 ff.; Langnickel u. Link 2018, S. 128). Und da Pädagogik gemeinhin als Gruppengeschehen gestaltet ist, sollten wir diese hoch interessanten Gedanken in unsere Praxis übernehmen, gerade weil dort die Tiefendimensionen des Gruppengeschehens immer noch viel zu wenig berücksichtigt werden (Naumann, 2014).

3 Die Untiefe der unreflektierten Anwendung manualisierter Konzepte Allenthalben wird in pädagogischen, aber auch therapeutischen Kontexten nach der Zur-Verfügung-Stellung von handlungsbasierten Manualen gerufen. Dies gilt in besonderem Maße für die Unterrichtsgestaltung, die Gewalt­ prävention oder die Arbeit mit »schwierigen« Kindern, wozu vor allem dissoziale, emotional instabile oder jene mit einer Autismus-Spektrum-Störung zählen. Um das Ausmaß der Beeinträchtigung möglichst präzise einschätzen zu können, gibt indessen der vorfindliche Grad an Mentalisierungsfähigkeit – eingedenk der Berücksichtigung der Wirkmächtigkeit der malignen Kontextbedingungen – eine überaus geeignete differenzialdiagnostische Grundlage ab. Vor dem Hintergrund einer offensichtlich immer unüberschaubareren Praxis mit hohem Komplexitätsgrad scheinen dagegen Handlungsanweisungen der Ausweg aus einer bedrohlich erlebten Überforderung zu sein. Auch Eltern rufen in ihrer Verzweiflung häufig nach Ratgebern. Immer gerät aber eine derlei verkürzte Rezeption mit dem Anspruch auf eine mentalisierungsbasierte Haltung in einen eklatanten Widerspruch. An deren Anfang stehen nämlich das Aushaltenkönnen des Nichtwissens und die Grundfähigkeit, so lange über ein Kind und die Beziehung zu ihm nachzudenken, bis eine Ahnung über latente Sinnstrukturen manifester Verhaltensweisen aufkommt. Hier landen wir wieder 1 Die Formulierungen in diesem Buch wechseln willkürlich zwischen weiblicher und männlicher Form. Gemeint sind immer beide Geschlechter. Zum Geleit

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beim potenziellen Raum und der Rêverie. Die Gefahr besteht, dass einer eindimensionalen, technizistisch verkürzten Anwendung der vorgelegten Konzepte das Wort geredet wird. Dies gilt vor allem für ungeübtes pädagogisches Personal, wie ein Beispiel im Umgang mit Erkenntnissen der Bindungsforschung dokumentiert. So erkennen gut ausgebildete Fachkräfte, dass sie sich geschmeichelt fühlen, wenn ein Kind des unsicher-vermeidenden Typus zu ihnen eine gute Beziehung aufbaut, während es zur Mutter relativ distanziert bleibt. Allerdings nutzen sie diese Erkenntnis nicht zur eigenen Selbstwertsteigerung, sondern zur Anbahnung einer stabilen und belastbaren Beziehung. Dagegen erachten nicht gut ausgebildete Fachkräfte diese Verhaltensweise irrtümlich als eine geglückte Überleitung in die Fremdbetreuung auf der Grundlage einer sicheren Bindung und sehen nicht die strategische Absicht dahinter, die eigene Beängstigung zu bannen (Zach, 2012, S. 66 ff.). Kurzum: Aus Mangel, von eigenen abstrakten Symbolisierungs- und Reflexionskompetenzen Gebrauch machen zu können, verbleibt man auf der konkretistischen Ebene unmittelbaren Handelns. Solche Fehlinterpretationen tun der Pädagogik nicht gut. Gleiche Bedenken sind daher auch für die Aufstellung und insbesondere Verwendung manualisierter Mentalisierungsentwürfe vorzubringen. Eingedenk all dieser zur Vorsicht ratenden Mahnungen ist die Übertragung des ursprünglich für ein psychoanalytisch-psychotherapeutisches Setting geschaffenen Mentalisierungskonzepts aufs pädagogische Terrain von unschätzbarem Wert, nicht zuletzt, um Entwicklungsblockaden überwinden zu helfen. Wie sagt doch Fonagy (2018) so treffend: »Durch eingeschränktes Mentalisieren wird daher eine überdauernde Barriere für das Lernen errichtet« (S. 12). Insofern ist es besonders anerkennenswert, dass die einzelnen Beiträge dieses Bandes diesem Ansinnen Rechnung tragen, den pädagogischen Alltag differenziert ausleuchten und die enorme Weiterentwicklung auf diesem Praxisfeld offenbaren. Es ist erfreulich, dass neben den klassischen Fragestellungen, etwa auf die Schule wie die berufliche Situation der pädagogischen Fachkräfte selbst bezogen, auch Kinder und Jugendliche aus eher randständigen sozialen Milieus bzw. in besonderen Lebenslagen einen Platz finden. Im Mittelpunkt all dieser Überlegungen steht, dass Mentalisierung sowohl eine selbstreflexive als auch eine interpersonale Komponente umfasst und es dem Kind erlaubt, die innere von der äußeren Realität sowie innere emotionale von interpersonalen Vorgängen zu unterscheiden (Leuzinger-Bohleber et al., 2011, S. 999; Gerspach, 2012, S. 69). Eine derartig vielschichtige Problemstellung ist eigentlich nur über ein eingehendes tiefenhermeneutisches Verstehen pädagogischer Prozesse zu ergründen, und deshalb ist diese Schrift umso wertvoller. Sie leistet einen pro16

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funden Beitrag zur doppelten epistemologischen Aufgabe, eine theoretische Erkenntnis zu konzeptionalisieren, auf welche Weise ein Kind eine bedeutungsbasierte Erkenntnis von sich und den anderen erwirbt.

Literatur Allen, J. G., Fonagy, P., Bateman, A. W. (2011). Mentalisieren in der psychotherapeutischen Praxis. Konzept und Umsetzung aus einer Hand. Stuttgart: Klett-Cotta. Bion, W. R. (1965/1992). Lernen durch Erfahrung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dornes, M. (2005). Theorien der Symbolbildung. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 59 (1), 72–80. Dornes, M. (2006). Die Seele des Kindes. Entstehung und Entwicklung. Frankfurt a. M.: Fischer. Fonagy, P. (2018). Geleitwort: Eingeschränkte Mentalisierung: eine bedeutende Barriere für das Lernen. In S. Gingelmaier, S. Taubner, A. Ramberg (Hrsg.), Handbuch mentalisierungs­basierte Pädagogik (S. 9–13). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Gerspach, M. (2009). Psychoanalytische Heilpädagogik. Ein systematischer Überblick. Stuttgart: Kohlhammer. Gerspach, M. (2012). »… an der Szene teilhaben und doch innere Distanz dazu gewinnen« (Aloys Leber). Szenisches Verstehen und fördernder Dialog heute. In J. Heilmann, H. Krebs, A. EggertSchmid Noerr (Hrsg.), Außenseiter integrieren. Perspektiven auf gesellschaftliche, institutionelle und individuelle Ausgrenzung (S. 47–79). Gießen: Psychosozial-Verlag. Gerspach, M. (2018). Psychodynamisches Verstehen in der Sonderpädagogik. Wie innere Prozesse Verhalten und Lernen steuern. Stuttgart: Kohlhammer. Halmer, H. (2012). Kurzfassung Bion: Transformation durch Lernen (PSV 26.3.2012). http:// www.psychoanalyse-innsbruck.at/images/Kurzfassung_Bion_2_Vortrag_PSV_26.3._2012.pdf (Zugriff am 01.10.2019). Heberle, B. (2006). Die frühe Vater-Kind-Beziehung. In F. Dammasch, H.-G. Metzger (Hrsg.), Die Bedeutung des Vaters. Psychoanalytische Perspektiven (S. 20–41). Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Hechler, O. (2013). Metakognition und Mentalisierung. Förderung lernbeeinträchtigter Kinder und Jugendlicher durch Gruppenpsychotherapie. Ein psychoanalytischer Verstehensansatz. In C. Einhellinger, S. Ellinger O. Hechler, A. Köhler, E. Ullmann (Hrsg.), Studienbuch Lernbeeinträchtigungen. Bd. 1. Grundlagen (S. 313–336). Oberhausen: Athena. Horkheimer, M., Adorno, T. W. (1944/1969). Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M.: Fischer. Hüther, G. (1997/2016). Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Katzenbach, D. (2004). Wenn das Lernen zu riskant wird. Anmerkungen zu den emotionalen Grundlagen des Lernens. In F. Dammasch, D. Katzenbach (Hrsg.), Lernen und Lernstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Zum besseren Verstehen von Schülern, Lehrern, Eltern und Schule (S. 83–105). Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Katzenbach, D. (2006). »Es schnackelt nicht …«. Kontinuierliche und diskontinuierliche Prozesse beim Lernen und ihre emotionale Bedeutung. In A. Eggert-Schmid Noerr, U. Pforr, H. VoßDavies (Hrsg.), Lernen, Lernstörungen und die pädagogische Beziehung (S. 85–107). Gießen: Psychosozial-Verlag. Klitzing, K. von (2002). Frühe Entwicklung im Längsschnitt: Von der Beziehungswelt der Eltern zur Vorstellungswelt des Kindes. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 56 (9/10), 863–887.

Zum Geleit

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Langnickel, R., Link, P.-C. (2018). Freuds Rasiermesser und die Mentalisierungstheorie. Psycho­ analytische Pädagogik und Mentalisierung – ein kritischer psychoanalytischer Blick. In S. Gingelmaier, S. Taubner, A. Ramberg (Hrsg.), Handbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik (S. 120–132). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Leber, A. (1990). Der Konstruktivismus Jean Piagets in seiner Bedeutung für Theorie und Praxis der Psychoanalyse. In U. Streeck, H.-V. Werthmann (Hrsg.), Herausforderungen für die Psychoanalyse (S. 273–290). München: Pfeiffer. Leber, A. (1995). Ein Schlüssel zum Verständnis menschlichen Verhaltens. In J. Piaget (1995), Intelligenz und Affektivität in der Entwicklung des Kindes. Hrsg. und übers. von A. Leber (S. 151–181). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Leuzinger-Bohleber, M., Fischmann, T., Läzer, K. L., Pfenning-Meerkötter, N., Wolff, A., Green, J. (2011). Frühprävention psychosozialer Störungen bei Kindern mit belasteten Kindheiten. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 65 (Sonderheft), 989–1022. Leuzinger-Bohleber, M., Lebiger-Vogel, J. (2016). Frühkindliche Entwicklungsprozesse und Mi­ gration. Psychoanalytisches Grundlagenwissen. In M. Leuzinger-Bohleber, J. Lebiger-Vogel (Hrsg.), Migration, frühe Elternschaft und die Weitergabe von Traumatisierungen. Das Integrationsprojekt »Erste Schritte« (S. 42–83). Stuttgart: Klett-Cotta. Ludwig-Körner, C. (2014). Psychoanalytische Entwicklungstheorien. In M. Cierpka (Hrsg.), Frühe Kindheit 0–3 Jahre. Beratung und Psychotherapie für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern (S. 81–101). Heidelberg: Springer. Lüpke, H. von (2010). Affektspiegelung als Modell für die interaktive Affektregulierung. Konsequenzen für Entwicklungspsychologie und Psychotherapie. CIP-Medien, 1, 1–16. Naumann, T. (2014). Gruppenanalytische Pädagogik. Eine Einführung in Theorie und Praxis. Gießen: Psychosozial-Verlag. Paulsen, S. (1998). Affekt und Beziehung – theoretische und therapeutische Überlegungen. Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie, 29 (2), 155–167. Piaget, J. (1936/1975). Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde. Stuttgart: Klett-Cotta. Piaget, J. (1995). Intelligenz und Affektivität in der Entwicklung des Kindes. Hrsg. und übers. von A. Leber. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Roth, G. (2019). Neurobiologische Grundlagen unbewusster Prozesse und deren Bedeutung für die Psychotherapie. In B. Haslinger, B. Janta (Hrsg.), Der unbewusste Mensch. Zwischen Psychoanalyse und neurobiologischer Evidenz (S. 23–53). Gießen: Psychosozial-Verlag. Schultz-Venrath, U. (2013) Lehrbuch Mentalisieren. Psychotherapien wirksam gestalten. Stuttgart: Klett-Cotta. Stark, T. (2009). Die Widerspenstigkeit des Subjekts. Zur »quasi-natürlichen Kraft des Negativen« (A. Honneth). Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 63 (7), 683–703. Winnicott, D. W. (1965). The maturational processes and the facilitating environment. London: Hogarth. Winnicott, D. W. (1965/1990). Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Frankfurt a. M.: Fischer. Winnicott, D. W. (1971/1993). Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta. Zach, U. (2012). Bindungsdiagnostik für Vorschulkinder. In M. Stokowy, N. Sahhar (Hrsg.), Bindung und Gefahr. Das Dynamische Reifungsmodell der Bindung und Anpassung (S. 57–85). Gießen: Psychosozial-Verlag.

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Gerspach

Praxisbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik – eine Hinführung Stephan Gingelmaier und Holger Kirsch

Der Mentalisierungsansatz ist eine innovative Theorie und betont die Fähigkeit, dem eigenen und dem Verhalten anderer eine Bedeutung zuzuschreiben, indem mentale Zustände (z. B. Emotionen, Wünsche oder Gedanken) unterstellt werden, die dem Verhalten zugrunde liegen. Die Fähigkeit zu mentalisieren entwickelt sich in der Kindheit bis in die Adoleszenz entlang der Beziehungserfahrungen. Sie ist eine der entscheidenden Grundlagen der Entwicklung des Selbst und der Emotionsregulierung. Anhal­ tende oder schwere Kindheitsbelastungen (z. B. Traumata) können die Fähigkeit zu mentalisieren vorübergehend oder dauerhaft beeinträchtigen. Unter erhöhtem emotionalem Arousal (Stress) ist es Menschen nur noch bedingt möglich, die Perspektive des Gegenübers einzunehmen oder eine reflektierende Problemlösung zu verwirklichen. Kinder und Jugendliche mit Einschränkungen der Mentalisierungsfähigkeit oder besonderer Stressvulnerabilität zeigen häufig Aufmerksamkeitsprobleme oder ein herausforderndes Verhalten in der Schule, der Familie oder gegenüber Gleichaltrigen. Dieses Verhalten besser zu verstehen und Stress besser regulieren zu können, ist eine Voraussetzung für soziales Lernen und beeinflusst Schulerfolg, soziale Teilhabe und Resilienz. Schon früh hat die Arbeitsgruppe um Peter Fonagy (Twemlow u. Fonagy, 2009; Allen, Fonagy u. Bateman, 2011) vorgeschlagen, das Mentalisierungskonzept in sozialen Systemen, also außerhalb klinischer und psychotherapeutischer Settings, anzuwenden. Schule und berufliche Förderung, Kindertagesstätten oder stationäre Jugendhilfe, soziale Gruppenarbeit, Beratung, Elternarbeit und viele andere Handlungsfelder können vom Mentalisierungsansatz profitieren. Denn eine Verbesserung der Mentalisierungsfähigkeit führt zu stabileren und tragfähigeren Beziehungen (mit Professionellen, Peers, Eltern und Familie) und zu höherer psychosozialer Resilienz. Mentalisieren ist der Schlüssel zu menschlichen Interaktionen, die soziale Kommunikation und soziales Lernen erfordern (Fonagy, 2018, S. 11). Ausgehend 19

von Fonagy (2018) ist Mentalisieren das Herzstück des Austausches von Informationen und dadurch der Kern von Bildung und Erziehung, aber auch dessen Subjekt. Für die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen rücken zwei Wirkmechanismen in den Vordergrund. Erstens die Förderung des sozialen Lernens, insbesondere des epistemischen Vertrauens. Das heißt, da die Vermittlung von kulturellen Fertigkeiten und Wissen notwendig ist, um sich in unserer komplexen Welt zurechtzufinden, brauchen wir Bezugspersonen als Lehrpersonen (wie pädagogische Fachkräfte), denen wir als sichere Informationsquellen emotional und kognitiv vertrauen können (»Ich glaube dir, wie du es sagst, was du sagst!«). »Wenn jemand den Eindruck hat, dass ein ›Lehrer‹ im weiteren Sinne auf ihn eingeht – man sich ausreichend durch das Gegenüber mentalisiert fühlt, baut das die notwendige Brücke zwischen dem Lehrenden und Lernenden« (Fonagy, 2018, S. 10). Kunstvoll-feinfühlige und zugleich effektive Pädagogen sind dazu in der Lage, »ihre« Kinder und Jugendlichen zu mentalisieren und darüber epistemisches Vertrauen zu fördern. Zweitens ist es notwendig, die Mentalisierungsfähigkeit von Pädagoginnen zu stärken, da deren oftmals stressinduzierendes Arbeitsumfeld die Fähigkeit zu mentalisieren unterminieren kann. Das nun vorliegende »Praxisbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik« bildet den zweiten Teil einer Trilogie. Während im ersten Band, dem »Handbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik« (Gingelmaier, Taubner u. Ramberg, 2018), Grundlagen der Mentalisierungstheorie in ihrer Anwendung auf die Pädagogik vermittelt wurden, werden im Praxisbuch Alltagssituationen aus pädagogischen Institutionen oder anderen Bereichen, in denen Erziehung und Bildung stattfindet, lebendig dargestellt. Die Auswahl geht von oft zu Unrecht übersehenen oder vergessenen (»unkomplizierten«) Mentalisierungsvorgängen bis hin zu konflikthaften Einbrüchen der Mentalisierungsfähigkeit bei pädagogischen Fachkräften, in deren Institutionen oder bei Kindern und Jugendlichen. Sowohl dyadische als auch gruppenbezogene und institutionelle Fallbeispiele werden geschildert und mit der Theorie verbunden. Ziel des Buches ist es, Mentalisierung in verschiedenen Feldern und Facetten der praktischen Pädagogik darzustellen und sowohl pädagogisch wie auch mentalisierungstheoretisch gewinnbringend zu diskutieren. Die Rezeption und Diskussion neuerer Erkenntnisse aus der evolutionären Anthropologie (z. B. Tomasello, 2014), der Forschung zu sozialen Kognitionen oder der transkulturellen Psychologie (z. B. Otto u. Keller, 2014; Keller 2015) waren Anlass für eine Tagung des Netzwerkes mentalisierungsbasierte Pädagogik mit dem Titel »Soziales Lernen, Beziehung & Mentalisieren (So_Be_Me)« im 20

Gingelmaier / Kirsch

Oktober 2019 in Ludwigsburg. Die herausragenden Vorträge von Peter Fonagy, Michael Tomasello, Isabell Dziobek, Heidi Keller und Felix Brauner sollen nun in einem dritten Band (mit dem Arbeitstitel) »Ausblick mentalisierungsbasierte Pädagogik« der Trilogie herausgebracht werden. Den Herausgebern ist durchaus bewusst, dass die Vermittlung von theoretischen Grundlagen und Praxisbeispielen über Literatur allein nicht ausreicht, um die eigene Mentalisierungsfähigkeit zu verbessern. Dazu braucht es die Reflexion der eigenen Tätigkeit (z. B. durch Supervision), Übungen, Rollenspiele und einiges mehr. Daher möchten wir an dieser Stelle auf die Arbeit des Netzwerkes MentEd Mentalisierungsbasierte Pädagogik (www.mented.de) hinweisen. Die internationale, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG GI 1274/1-1) und im Rahmen des Erasmus+-Programms (2019-1-DE01-KA203-004967) der Europäischen Kommission geförderte Arbeitsgruppe aus Forschenden hat sich die Aufgabe gestellt, die praxisrelevanten Aspekte des Mentalisierungsansatzes in einem Curriculum zur Fortbildung von Fachkräften in der Sozialen Arbeit (z. B. Kinder- und Jugendhilfe), Schule und Kindheitspädagogik umzusetzen und damit zur Professionalisierung pädagogischer Fachkräfte beizutragen. Berufsbezogene Selbsterfahrung und die Reflexion des institutionellen Umfeldes fördern das Erkennen und den Umgang mit Stress und Konflikten und tragen zur inklusiven Bildung und Teilhabe von (benachteiligten) Kindern und Jugendlichen und zur Gesundheitsförderung bei. Da die aktuelle Forschung die Erfolge des Mentalisierungstrainings demonstrieren kann, soll ein Modellcurriculum für die Umsetzung in den Niederlanden, England, Deutschland und Österreich entwickelt werden. Das für interessierte Fachkräfte leicht zugänglich gemachte Curriculum soll als europaweiter Vorreiter für Fort- und Weiterbildungen von pädagogischen Fachkräften gelten. Ebenso werden interessierte Hochschullehrende darüber informiert, wie die Lehrinhalte und Lernmaterialien in der Hochschulausbildung pädagogischer Fachkräfte integriert werden können. Für diesen Band wollen wir uns aus dem bereits genannten Netzwerk­ Mented.de insbesondere bei Axel Ramberg für sein wirklich großes Engagement, das er zu unserem Bedauern für dieses Buch einstellen musste, danken! Darüber hi­naus bedanken wir uns überaus herzlich bei allen unseren kreativen und zuverlässigen Autorinnen und Autoren für ihre Mitarbeit sowie Manfred ­Gerspach, der das Geleitwort sehr spontan und wunderbar umgesetzt hat. Nicht zuletzt gilt unser großer Dank Elena Johanna Koch für die schnelle, wertvolle und stets korrekte Redaktionsarbeit, die uns sehr entlastet und geholfen hat. Nun wünschen wir Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine spannende und anregungsreiche Lektüre und würden uns freuen, wenn Sie in einen konstruktiv-­ kritischen Austausch mit uns und anderen über dieses Buch treten würden. Praxisbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik – eine Hinführung

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Literatur Allen, J. G., Fonagy, P., Bateman, A. W. (2011). Mentalisieren in der psychotherapeutischen Praxis. Stuttgart: Klett-Cotta. Fonagy, P. (2018). Geleitwort: Eingeschränkte Mentalisierung: eine bedeutsame Barriere für das Lernen. In S. Gingelmaier, S. Taubner, A. Ramberg (Hrsg.), Handbuch mentalisierungs­basierte Pädagogik (S. 9–13). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Keller, H. (2015). Die Entwicklung der Generation Ich. Eine psychologische Analyse aktueller Erziehungsleitbilder. Heidelberg: Springer. Otto, H., Keller, H. (Hrsg.) (2014). Different faces of attachment. Cambridge/New York: Cambridge University Press. Tomasello, M. (2014). Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens. Berlin: Suhrkamp. Twemlow, S. W., Fonagy, P. (2009). Vom gewalterfüllten sozialen System zum mentalisierenden System: Ein Experiment in Schulen. In J. G. Allen, P. Fonagy (Hrsg.), Mentalisierungsgestützte Therapie (S. 399–421). Stuttgart: Klett-Cotta.

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Gingelmaier / Kirsch

Teil I Theorie des Mentalisierens für pädagogische Felder

Einführung in das Konzept der Mentalisierung Axel Ramberg und Tobias Nolte

Um sich im pädagogischen Kontext offen und verstehend Kindern und Jugendlichen zuwenden zu können, bedarf es eines reflexiven Professionsverständnisses für pädagogische Fachkräfte, welches sowohl die eigene Person, das Gegenüber und die Beziehung zwischen beiden mit in den Blick nimmt. Hierzu liefert das Mentalisierungskonzept wichtige Anhaltspunkte, da es zum einen reflexive Prozesse bezüglich der eigenen Haltung anstößt und andererseits zu einem vertieften Verständnis von Beziehung und Beziehungsgestaltung im pädagogischen Feld führt. Im folgenden Aufsatz sollen dementsprechend das Konzept des Mentalisierens dargestellt und die wichtigsten Kernaussagen zusammengefasst werden. Dazu gehören nicht nur entwicklungspsychologische Grundlagen und Begriffsbestimmungen, sondern auch theoretische Bezüge sowie angrenzende Konzepte. The ability to attune to children and adolescents in educational settings with openness and understanding requires a reflective approach to and notion of the pedagogical profession that takes into account the professional, their counterpart as well as the relationship between them. The concept of mentalisation can offer crucial aspects to shew light on these areas as, on the one hand, it encourages reflective processes with regards to one’s own stance and, on the other hand, it leads to a deepened understanding of relationships and their management in educational fields. In the following chapter we will introduce the conceptualisations of mentalising and its building blocks. This entails developmental psychology foundations but also theoretical links with neighbouring concepts.

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1 Vorbemerkung Mentalisierung beschreibt die fundamentale menschliche Fähigkeit, mentale Zustände als eben solche zu erfassen und in den Kontext zwischenmenschlicher Beziehung zu setzen. Mentalisierung ist somit der zentrale Baustein für das Gelingen von Interaktion und Kommunikation. Es ist leicht ersichtlich, dass diese Aspekte in vielerlei Hinsicht Relevanz haben, im pädagogischen Rahmen darüber hinaus aber ausschlaggebend dafür sind, wie erfolgreich mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet wird. Unabhängig vom jeweiligen pädagogischen Setting ist es unabdingbar, dass pädagogische Fachkräfte eine Bewusstheit für mentale Prozesse etablieren sollten. Dabei ist das Hervorheben der Notwendigkeit, (selbst-)reflexive Prozesse in pädagogischen Handlungsfeldern zu generieren und als Bestandteil professionellen Handelns zu verstehen, nicht neu. Bereits Johann Friedrich Herbart betont 1806 in seiner »Allgemeinen Pädagogik« die Bedeutung einer pädagogischen Reflexion (Ricken, 2010). Auch K ­ orczak appelliert 1919 an die Selbstreflexion von Pädagogen und leitet diese mit der Aufforderung des delphischen Orakels ein: »Erkenne dich selbst, bevor du Kinder zu erkennen trachtest« (Korczak, 1919/2008, S. 156). Die Fähigkeit zur reflexiven Auseinandersetzung von Beziehungsprozessen ist damit im pädagogischen Setting (wie natürlich auch im psychotherapeutischen) eine zwingend notwendige, da es nur so möglich wird, einen verstehenden Zugang zu den Kindern und Jugendlichen zu schaffen, um daraus abgeleitet individuell abgestimmte und fördernde Handlungspraktiken zu entwickeln. Diese Fähigkeit setzt des Weiteren auch die Bewusstmachung der Anteile der pädagogischen Fachkraft am intersubjektiven pädagogischen Kommunikationsprozess mit Kindern und Jugendlichen voraus. Im vorliegenden Praxisbuch werden hierfür verschiedene konkrete Beispiele dargestellt, die als gemeinsamen Fokus die Frage nach gelingenden oder nichtgelingenden Mentalisierungsprozessen in pädagogischen Bezügen haben. Neben dieser Darstellung praktischer Erfahrung und Erprobung von Mentalisierung scheint aber auch die theoretische Fundierung des Mentalisierungskonzepts bedeutsam, da diese einerseits das entsprechende Vokabular des Konzepts bereitstellt und zum anderen einen Reflexionsrahmen bietet, der es im Verlauf dieses Bandes ermöglicht, praktische Beispiele vertieft mentalisierend zu verstehen. Im Folgenden sollen hierfür Grundlagen geschaffen werden. Dabei spielt nicht nur eine Rolle, wie sich der Begriff des Mentalisierens ideengeschichtlich entwickelt hat, sondern auch, wie Mentalisieren an sich entsteht, was gelingendes Mentalisieren ausmacht und wozu es befähigt. Hierfür wird auch das Konzept des epistemischen Vertrauens beschrieben, das für die Pädagogik so wichtige Prozesse des Verstehens und Vermittelns von Wissen fördern kann. 26

Ramberg / Nolte

2  Der Begriff der Mentalisierung Als Mentalisierung wird allgemein der Prozess beschrieben, durch den die Erkenntnis ermöglicht wird, dass »unser Geist unsere Weltanschauung vermittelt« (Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2008). Dabei steht die Fähigkeit zur Mentalisierung in engem Zusammenhang mit der Entwicklung des Selbst. Durch die konstruktivistisch-entwicklungspsychologische Grundausrichtung dieser Definition ergibt sich innerhalb des Mentalisierungskonzepts eine erkenntnistheoretische Perspektive, die mit der »cartesianischen Doktrin der ›Autorität der Ersten Person‹« bricht und mentale Urheberschaft nicht als angeboren, sondern »als eine sich entwickelnde und konstruierte Fähigkeit« (S. 11) versteht – Menta­lisieren als erlernbare Funktion. Die Vermittlung der Weltanschauung gelingt nach Allen, Fonagy und Bateman (2011) durch die aufmerksame »Beachtung und Reflexion des eigenen psychischen Zustands und der psychischen Verfassung anderer Menschen« (S. 21). Damit ist in erster Linie ein »Sich-Vergegenwärtigen« angesprochen. Zentral in allen Definitionen bleiben die beiden Bereiche der Gedanken und Gefühle. Da es sich um einen aktiven Prozess handelt, wird meist auch vom Mentalisieren gesprochen (Schultz-Venrath u. Döring, 2011). Die Beachtung des eigenen Selbst sowie der anderen ist dabei ein weiteres Kriterium des Mentalisierens. Allen et al. (2011) beschreiben neben dem Aspekt der Vergegenwärtigung noch eine Reihe anderer Prozesse, die das Mentalisieren beleuchten können. Dazu gehören beispielsweise die Entwicklung und Pflege des achtsamen Umgangs mit eigenen und fremden psychischen Zuständen oder auch das Erkennen von Missverständnissen sowie ein gewisser Grad an Offenheit und Neugier hinsichtlich psychischer Phänomene. Umgekehrt bedeutet dies gleichzeitig, dass eine mentalisierende Interpretation der Umwelt und des Umfeldes dazu führt, dass man diesen viel weniger ausgeliefert ist (Gingelmaier, 2019). Brockmann und Kirsch (2010) definieren Mentalisieren in Anlehnung an Allen et al. als die Fähigkeit, »sich selbst von außen zu sehen und den anderen von innen« (S. 52). Damit ist in erster Linie die Fähigkeit zur Interpretation von eigenem oder fremdem Verhalten gemeint, welchem wiederum intentionale innere Zustände wie Affekte, Motive, Gefühle oder Wünsche und Überzeugungen zugrunde liegen. Dabei hilft eine passende Interpretation in der Beziehung nicht nur beim Verstehen des eigenen und fremden Verhaltens, sondern führt gleichzeitig auch zu einer allgemeinen Klärung und Beruhigung in der Interaktion. Brockmann und Kirsch (2010) drücken dies wie folgt aus: »Sich missverstanden zu fühlen, erzeugt heftige Gefühle, die zu Rückzug, Feindseligkeiten, Zwang, Überfürsorge und Zurückweisung führen« (S. 54). Eine ausgewogene Einführung in das Konzept der Mentalisierung

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Mentalisierungsfähigkeit in wichtigen interpersonellen Beziehungen ermöglicht daher Kommunikation als relevante zwischenmenschliche Bedeutungszuschreibung. Sie erlaubt Perspektiveneinnahme und -übernahme, weshalb häufig auch der spielerisch-imaginierende Aspekt des Mentalisierens betont wird. Die Fähigkeit, unterschiedliche Standpunkte zum Erklären von beobachtetem Verhalten einnehmen zu können und nicht nur eine, sondern mehrere mentalistisch verstandene Ursachen für das Verhalten in Betracht zu ziehen, ist ein Kernaspekt des Mentalisierens.

3  Verwandte Konzepte Das Konzept des Mentalisierens wird von Allen und Fonagy (2009) nicht als grundlegend neues, sondern vielmehr als elementare (therapeutische) Grundlage der zwischenmenschlichen Beziehung beschrieben, da es »die fundamentale menschliche Fähigkeit, die Psyche als Psyche zu begreifen« (Allen u. Fonagy, 2009, S. 15), ins Zentrum der Überlegungen stellt. Damit lösen sie das Mentalisieren aus dem rein klinischen Setting und ermöglichen so auch Rückschlüsse für nichtklinische Bereiche – wie beispielsweise die Beziehungsarbeit und -gestaltung in pädagogischen Feldern. Allen et al. (2011) nennen als Beispiele für Mentalisieren außerhalb eines therapeutischen Kontextes neben anderen das Beruhigen eines ängstlichen Kindes, die Fähigkeit, Konflikte konstruktiv zu schlichten, oder das Verständnis eigenen Ärgers aufgrund einer Bitte. Entsprechend diesem Verständnis gibt es eine Reihe von Konzepten, die mit dem Mentalisieren inhaltlich verwandt sind und ähnliche Ausgangspunkte für einen achtsamen Umgang mit sich und dem Gegenüber postulieren. Im Folgenden sollen daher kurz die drei wichtigsten Konzepte dargestellt werden. 3.1 Metakognition Flavell (1979) prägte den Begriff der Metakognition, mit dem er die Fähigkeit beschreibt, eigenes Wissen oder kognitive Prozesse zum Verständnis kognitiver Phänomene einzusetzen. Es geht demnach um die Frage, welches Wissen oder welche Vorstellungen eine Person dazu einsetzt, um zu verstehen, wie sich kognitive Faktoren einer anderen oder der eigenen Person aufeinander auswirken. Aus dieser Erkenntnis heraus kann die Person dann Schlussfolgerungen ziehen, um letztlich zu einem Ergebnis mittels dieses metakognitiven Prozesses zu gelangen (Flavell, 1979). Somit wird im Konzept der Metakognition vorrangig das Denken über das Denken angesprochen, was zu einer Abgrenzung gegen28

Ramberg / Nolte

über dem Mentalisierungskonzept führt. Jost, Kruglanski und Nesort (1998) erweitern dieses Verständnis um das Nachdenken über subjektive Zustände und weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass auch das Nachdenken über Emotionen im Bereich der Metakognition eine Rolle spielt. So verstanden gibt es eine breitere Deckung beider Konzepte (Allen et al., 2011). 3.2  Achtsamkeit – Mindfulness Der Begriff der Achtsamkeit (im Englischen »mindfulness«) lässt sich in erster Linie beschreiben als ein Zustand der besonderen geistigen Aufmerksamkeit und des besonderen Gewahrseins (Allen et al., 2011). Das Konzept hat seinen Ursprung im Buddhismus. Hier werden vier Erfahrungsebenen genannt, durch die sich die erhöhte Wahrnehmung der Person vermitteln kann: Körpersensationen, Gefühle, Gedanken oder Verhalten (Feldman u. Kuyken, 2019). Diese vier Dimensionen können sich dabei auf jegliche Art von Objekten beziehen. So kann man »auf eine Blume achtgeben oder auf das eigene Atmen« (Allen et al., 2011, S. 85 f.). Damit ist das Konzept der Achtsamkeit weiter gefasst als das Mentalisieren. Es werden nicht nur mentale Zustände, sondern eben auch dingliche Teile der Umwelt achtsam betrachtet. Eine Annäherung beider Konzepte findet dort statt, wo sich die Achtsamkeit explizit auf die Psyche und damit innere Zustände wie eine bestimmte Gefühlsregung bezieht (Allen, 2009). So ließe sich Mentalisierung als »Achtsamkeit für die Psyche [mindfulness of mind]« (Allen, 2009, S. 41) verstehen. Letztlich fokussiert sich der Prozess der Achtsamkeit vorrangig auf das Hier und Jetzt, was wiederum eine engere Definition bedeutet, da sich das Mentalisieren auch auf vergangene und zukünftige mentale Zustände und vor allem solche, die in direkter Interaktion mit anderen entstehen, bezieht. 3.3 Empathie Der Begriff »Empathie« kommt vom griechischen »empátheia« und bedeutet »mitfühlen«. Dementsprechend beschreibt Empathie den Prozess, in dem Gedanken oder Gefühlszustände eines anderen erkannt werden, was wiederum zu eigenen, dem Erleben des anderen gegenüber angemessenen Emotionen oder Handlungsdispositionen führt (Allen et al., 2011). Dieses Einfühlen oder auch Mitfühlen ist somit als Teilbereich des Mentalisierens zu verstehen, denn es beschreibt zunächst auf emotionaler Ebene den Prozess, durch den eine emotionale Reaktion im Selbst durch die Wahrnehmung einer Emotion im anderen ausgelöst wird (Baron-Cohen, 2005). Dass dieser Prozess dabei stark von den Einführung in das Konzept der Mentalisierung

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jeweils eigenen emotionalen Erfahrungen und somit vorhandenen Repräsentanzen ebendieser abhängt, ist schnell ersichtlich. Denn wenn »unsere eigenen Repräsentationen emotionaler Situationen denen eines anderen Menschen […] sehr genau entsprechen, können wir uns relativ exakt und mühelos einfühlen« (Allen et al., 2011, S. 89). Besitzen wir diese Erfahrungen nicht, wird es unter Umständen weitaus schwieriger und erfordert mehr bewusste Aufmerksamkeit, um die Gefühle des anderen zu verstehen. Dies ist letztlich der Prozess, der im Mentalisierungskonzept unter dem Begriff des »expliziten Mentalisierens« (s. Punkt 6) verstanden wird.

4  Theoretische Wurzeln des Mentalisierungskonzepts Der Mentalisierungsansatz lässt sich – wie die zuvor genannten Konzepte – auf verschiedene theoretische Ursprünge zurückführen, die alle einen wichtigen Anteil an der Entstehung des Konzepts hatten. Es sind dies die Psychoanalyse, die Bindungstheorie und die soziale Kognitionspsychologie mit dem Schwerpunkt der Theory-of-Mind-Forschung (Holmes, 2009). Alle drei Theorien schließen dabei auch neurowissenschaftliche Erkenntnisse mit ein (Strauß u. Nolte, 2020) und liefern wichtige Kernaussagen, die im Rahmen des Mentalisierungskonzepts zum Tragen kommen.

Psychoanalyse

Mentalisierung Bindungstheorie

(soziale) Kognitionspsychologie

Abbildung 1: Bezugstheorien des Mentalisierungskonzepts

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Ramberg / Nolte

Bedeutsam sind hier die Überschneidungspunkte zwischen den theoretischen Positionen (Abbildung 1), aus denen sich letztlich das Mentalisierungskonzept bildet. Entsprechend liefern die jeweiligen Theorien unterschiedliche Impulse: »Während die Psychoanalyse bedeutende Aussagen darüber liefert, was intrapsychisch und damit größtenteils dynamisch unbewusst beim Mentalisieren vor sich geht, sagt die Bindungstheorie im Bezug zum Mentalisierungskonzept etwas über das ›Wie‹ aus, nämlich wie sich zwischen Mutter und Kind entlang der sicheren Bindung das Mentalisieren etabliert. Wann diese Fähigkeiten etabliert werden, lässt sich anhand der Forschungsergebnisse der Theory-of-Mind-­ Forschung mittlerweile sehr genau sagen« (Ramberg u. Gingelmaier, 2016, S. 82). Innerhalb des Mentalisierungskonzepts werden alle theoretischen Aspekte erstmals integrativ konzeptualisiert und vereint. Im Folgenden sollen die drei genannten Ursprünge des Mentalisierungs­ konzepts dargestellt werden, damit die anschließende Erläuterung des Mentalisierens nachvollziehbarer wird. Dabei wird zu Beginn die Psychoanalyse erörtert, da sie als zentral bedeutsam für das Mentalisierungskonzept und die weiteren theoretischen Richtungen erscheint. Darauf aufbauend wird die eng mit der Psychoanalyse zusammenhängende Bindungstheorie sowie im Anschluss die Theory-of-Mind-Forschung, die ihrerseits Überschneidungen zu Psychoanalyse und Bindungstheorie aufweist, beschrieben. 4.1 Psychoanalyse Die psychoanalytische Theorie ist einer der Grundpfeiler im Konzept der Mentalisierung. Allen et al. (2011) sehen die Psychoanalyse als den zentralen Ursprung des Mentalisierungskonzepts an und verstehen es deshalb als Teil derselben. Trotz der mittlerweile großen Anzahl verschiedener theoretischer Positionen, die sich im Laufe des letzten Jahrhunderts innerhalb der Psychoanalyse entwickelt haben, ist die Betrachtung der Auswirkungen unbewusster psychischer Prozesse auf das Denken und das Verhalten eines Menschen in allen Ansätzen ein zentraler Aspekt (Fonagy u. Target, 2006). Vier psychoanalytische Teilbereiche stehen dabei in besonders enger Verbindung zum Mentalisierungskonzept, da sie der Transformation zunächst un- bzw. vorbewusster Affekte zu bewusstseinsfähigen Denk- und Reflexionsprozessen große Bedeutung einräumen. Gemeint sind Freuds Theorie zum Primär- und Sekundärvorgang, Bions Ideen zur Entwicklung des Denkens, die Konzepte verschiedener französischer Psychoanalytiker zur Entstehung von Psychosomatosen sowie Winni­ cotts Gedanken zur frühen Objektbeziehung zwischen Säugling und Mutter. Während Freud seine Ideen zur Umwandlung primärprozesshafter Vorgänge, Einführung in das Konzept der Mentalisierung

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die in erster Linie »irrational, impulsiv und primitiv« (Tyson u. Tyson, 2009, S. 173) sind, in sekundärprozesshaftes Denken, welches aus Freuds Sicht die reife Denkidentität darstellt (Freud, 1900/2000), vorrangig in seinem topografischen Modell von Unbewusstem und Bewusstem ansiedelt, entwickelt Bion (1992b) erstmals eine eigenständige psychoanalytische Idee des Denkens und seiner Entstehung innerhalb von Mutter-Kind-Interaktionen. Interessant für die Ideen innerhalb des Mentalisierungskonzepts ist dabei der Übergang von sogenannten β-Elementen, die ausschließlich im Erleben verhaftet sind und nicht gedacht werden können, zu α-Elementen, die sich »zur Speicherung und für die Erfordernisse der Traumgedanken« (Bion, 1992b, S. 52) eignen. Dieser Übergang gelingt nach Bion durch die sogenannte Alpha-­Funktion, eine Art Verarbeitungs- oder Metabolisierungsprozess der primitiven kindlichen Zustände, welcher in Bions Modell von der Mutter übernommen wird. Diese hat in Bezug auf das Kleinkind eine regulatorische Aufgabe inne: Sie stellt sich dem Kind als »Behälter« (Container; Bion, 1992a, S. 146) bereit, um die möglichen ß-Elemente des Säuglings aufzunehmen und diese stellvertretend für ihn zu verarbeiten. Letztlich versteht Bion (2002) die Denkfähigkeit als eine Kapazität zum Ertragen von Frustrationen und Versagungen, die, wenn sie sich in der frühen Mutter-Kind-Beziehung gut entwickeln kann, dazu dient, Entbehrungen erträglich zu machen, und die, wenn der frühe Prozess scheitert, die Ausbildung von reifen Gedanken unter Stress erschwert. Ersteres ist entscheidend für das Konzept der Mentalisierung, denn auch dort wird davon ausgegangen, dass Mentalisieren dabei hilft, »auf Befriedigung drängende Bedürfnisse und starke Emotionen zu modulieren und erträglicher zu machen«, also Affekte zu regulieren (Allen et al., 2011, S. 30). Neben Freud und Bion finden sich vor allem im Bereich der französisch-psychoanalytischen Fachliteratur im Rahmen psychosomatischer Diskurse der 1960er Jahre weitere Ideen zur Mentalisierung (Allen et al., 2011). Das vorrangige Interesse dieses psychoanalytischen Zweiges bestand darin, »zu einem besseren Verständnis psychosomatischer Erkrankungen zu gelangen, insbesondere zur Erklärung des damit einhergehenden konkretistischen Denkstils dieser Patienten« (Taubner, 2008, S. 93). So spricht beispielsweise Marty (1968) von der Bedeutung mentaler Organisationsmechanismen wie Symbolisierung, Assoziation oder Verschiebung für die Überwindung somatischer Verarbeitungsweisen unbewusster Triebspannungen (Marty, 1968). Auch Luquet (1981) verwendet den Begriff der Mentalisierung, um höher strukturierte Denkprozesse, die zur Ausbildung von Sprache wichtig sind, zu beschreiben. Deutlich wird dabei, dass sich der Begriff der Mentalisierung vordergründig auf die bereits bei Freud beschriebene »Transformation körperlicher (somatischer und motorischer) Vorgänge in psychisches Erleben« (Allen et al., 2011, 32

Ramberg / Nolte

S. 30) und somit auf Repräsentationsprozesse bezieht. Mit den Arbeiten von Lecours und Bouchard (1997) findet eine erste konkretere Beschreibung der Entwicklung des Mentalisierens statt. Unter dem erstmals verwendeten Begriff der Mentalisation beschreiben sie einen detaillierten Prozess, in dem frühe Triebund Affekterfahrungen in Kategorien und Repräsentationen transformiert und dadurch zunehmend moduliert und toleriert werden können (Lecours u. Bouchard, 1997). Damit folgen sie, sowie auch Bion, der Freud’schen Idee einer Umwandlung somatischen Geschehens in etwas Psychisches (Allen et al., 2011). Dieser Prozess wird im Gegensatz zum heutigen Verständnis des Mentalisierens allerdings noch individuumszentriert und nicht beziehungsorientiert verstanden, wodurch ein wesentlicher Unterschied zum Konzept nach Fonagy deutlich wird. Die Erweiterung des Mentalisierens um die Bedeutung von Beziehung, Bezugspersonen und bedeutungsvollen Anderen wurde erst mit der Integration der Arbeiten von Winnicott (2006) vorangetrieben. Winnicott (2006) prägte hier vor allem die Begriffe des Haltens, der ausreichend guten Bemutterung oder Fürsorge sowie des mütterlichen Spiegelns. Während sich das Halten und die ausreichend gute Bemutterung vor allem auf die angemessene Fürsorge zum Schutze des Säuglings beziehen, dient das mütterliche Spiegeln dazu, die Entwicklung des Selbst beim Säugling und Kleinkind zu begleiten (Winnicott, 2006). Diese Ideen wurden im Rahmen der Bindungstheorie noch weiter differenziert. 4.2 Bindungstheorie Um ein vertieftes Verständnis der Entwicklung frühkindlicher Denkprozesse sowie der Fähigkeit zur Affektregulierung zu erhalten, ist es im Sinne des Mentalisierungskonzepts unverzichtbar, die Entwicklung der Beziehung zwischen Säugling und primärer Bezugsperson mit in den Blick zu nehmen. Gerade in den letzten Jahrzehnten hat sich hier die Bindungstheorie als vorrangiges theoretisches Bezugssystem entwickelt (Daudert, 2001). Die Bindungstheorie wurde in den 1960er und 1970er Jahren vom englischen Psychoanalytiker John Bowlby (1907–1990) in maßgeblicher Kooperation mit der Kanadierin Mary Ainsworth (1913–1999) entwickelt und ist nach Fonagy (2009) »etwas fast Einzigartiges unter psychoanalytischen Theorien«, weil sie aus seiner Sicht »die Kluft zwischen allgemeiner Psychologie und klinischer psychodynamischer Theorie überbrückt« (Fonagy, 2009, S. 11). Dies erklärt eventuell auch das seit einiger Zeit zunehmend große Interesse an jener Theorie in verschiedensten Wissenschaftsgebieten. Bindung wird zunächst verstanden als ein Teil eines komplexen Beziehungssystems zwischen Mutter und Kind, der sich als emotionales Band »bereits im ersten Lebensjahr etabliert und bis in spätere Lebensphasen Einführung in das Konzept der Mentalisierung

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hinein erhalten bleibt« (Klöpper, 2006, S. 39). Dieses Band gehen Mutter und Kind instinktiv ein. Dies ist zum einen genetisch verankert, da sich bereits vor Beginn des Geburtsvorganges das Hormon Oxytocin ausschüttet, somit die Wehen einleitet und nach der Geburt dazu führt, dass sich Mutter und Kind nahe sein wollen (Brisch, 2009; Strauß u. Nolte, 2020). Zudem gibt es nachweisliche Zusammenhänge zwischen Bindung, sozialem Affekt und körpereigenen Opioiden, die eine schmerzdämpfende sowie entspannende Wirkung besitzen (Daudert, 2001). Zum anderen lässt sich die Bindungsbeziehung vor allem auch als psychisches Phänomen begreifen und wird als grundlegend motivationales System bezeichnet. Jeder Mensch hat das Bedürfnis nach Kontakt, Bindung, Schutz und später Zugehörigkeit. Vor allem aber der frühen Bindungsbeziehung kommt dabei eine zentrale Rolle zu, da das Kind innerhalb dieser erstmals »Unterstützung bei der Zustandsregulierung« (Rass, 2010, S. 114) eigener psychischer Prozesse erhält. Dies ist insofern von Bedeutung, da hierdurch eine angemessene Affektregulation angebahnt wird und das Kind somit zur reifen Mentalisierungsfähigkeit gelangen kann. Die Abstimmung der affektiven Zustände in der Interaktion ist deshalb zu beachten, da diese »das fruchtbarste Merkmal der intersubjektiven Bezogenheit« (Stern, 2007, S. 198) darstellt. Dieser Annahme wird im Rahmen der Bindungstheorie Rechnung getragen. Die annehmende und einfühlende Interaktion seitens der Bezugsperson wird im Konzept der »Feinfühligkeit« zusammengefasst. Feinfühligkeit bedeutet in diesem Zusammenhang, dass »alle Verhaltensweisen, Zustände und Äußerungen des Säuglings Informationsträger für die Bindungsperson sind, durch die sie das Kind kennen lernt und Rückmeldung erhält, wie ihr Verhalten vom Kind bewertet wird« (Grossmann u. Grossmann, 2008, S. 224). Damit lässt sich das Konzept der Feinfühligkeit bereits sehr eng mit dem Begriff des Mentalisierens, so wie er weiter oben von Allen et al. (2011) beschrieben wird, in Verbindung bringen. Entscheidend für diesen Prozess ist, dass sich die Bindungsperson auf ihr Kind mit all seinen individuellen Besonderheiten einlässt. Diese offene Haltung führt im Idealfall zu einer Passung im Rahmen der frühkindlichen Beziehung. Bedeutsam im Rahmen dieses Prozesses ist auch hier das bereits erwähnte Konzept einer »ausreichend guten Mutter« bzw. Pflegeperson nach Winnicott (2006). Dementsprechend bedeutet Feinfühligkeit nicht ein kontinuierliches und nie endendes Bemühen der Bezugsperson, alles richtig zu machen, sondern umfasst auch alltägliche Versagungen oder Frustrationen und nichtgelingende Aspekte von Beziehungen. Ainsworth (1974) hat vier sich aufeinander beziehende Faktoren benannt, die als Feinfühligkeitsmerkmale zu verstehen sind. Dazu gehört neben erstens der Wahrnehmung und zweitens der korrekten Interpretation der Bedürfnisse des Säuglings auch drittens 34

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die Angemessenheit einer viertens möglichst zeitnahen Antwort auf ebendiese. Neben diesen Faktoren der Feinfühligkeit werden Konsistenz des Betreuungsverhaltens sowie Freiraum zur Exploration in der Interaktion mit dem Kind als wesentliche Aspekte des mütterlichen Betreuungsstils angeführt (BischofKöhler, 2011). Letztlich ist die Fähigkeit zur feinfühligen Interaktion auch von den etablierten Bindungsrepräsentationen der Bezugspersonen Eltern selbst abhängig. Entsprechend kann geschlussfolgert werden, dass feinfühliges Handeln von Bezugspersonen überhaupt erst die Fähigkeit der Feinfühligkeit beim Kind hervorbringen kann. 4.3  Soziale Kognitionspsychologie Ein letzter Ursprung des Mentalisierungskonzepts liegt im Bereich der sozialen Kognitionspsychologie. Innerhalb dieses Wissenschaftsgebietes wird »das philosophische Konzept der Theorie des Geistes« (Holmes, 2009, S. 68) anhand experimenteller Forschung empirisch untersucht. Dementsprechend beinhaltet die Auseinandersetzung grundlegende philosophische Fragen nach dem Erkennen des Geistes anderer Menschen und somit dem Zusammenhang zwischen Selbst und anderen (Förstl, 2007). »Um sich in der von Grund auf sozialen Welt menschlicher Interaktionen zurechtzufinden, muss man verstehen, dass andere Menschen eine Psyche besitzen – die der eigenen Psyche zwar ähnlich, aber nicht mit ihr identisch ist« (Holmes, 2009, S. 68). Ein Großteil der Forschung bezieht sich auf Menschen im AutismusSpektrum und soll dazu beitragen, dieses besser zu verstehen. Es wird im Allgemeinen davon ausgegangen, dass es Menschen im Autismus-Spektrum nicht in gleichem Maße möglich ist, einen Perspektivenwechsel zu vollziehen, sich also in die Psyche anderer hineinzuversetzen und zu versuchen, deren Blickwinkel einzunehmen (Holmes, 2009). Die Folge ist, dass Interaktionen mit anderen Menschen für Menschen im Autismus-Spektrum schlechter antizipierbar und damit schwieriger zu verstehen bleiben, was wiederum Isolation und den Verlust interpersoneller Beziehungen nach sich ziehen kann. In der aktuellen kognitionspsychologischen Literatur wird die Fähigkeit, über sich und andere Menschen nachzudenken sowie sich und andere in ihrem mentalen Befinden wahrzunehmen, unter dem Begriff der Theory of Mind (ToM) zusammengefasst. Unter ToM versteht man »die alltagspsychologischen Konzepte, die es uns erlauben, uns selbst und anderen mentale Zustände (Wissen, Glauben, Wollen, Fühlen usw.) zuzuschreiben« (Sodian, 2010, S. 182). Diese Fähigkeit ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn es um die Vorhersage Einführung in das Konzept der Mentalisierung

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menschlichen Verhaltens aufgrund ebendieser mentalen Zustände geht. Die Fähigkeit zur Antizipation menschlichen Handelns ist aus soziokultureller Sicht grundlegend für ein gemeinsames Miteinander. So versteht Förstl (2007) die ToM als »die Grundlage sozialen, ›sittlichen‹ Verhaltens« (Förstl, 2007, S. 4). Den Begriff der Theory of Mind wiederum prägten Premack und Woodruff (1978), die sich mit der Frage befassten, ob Schimpansen in der Lage seien, Personen bestimmte Absichten anhand beobachteten Verhaltens zuzuschreiben. Sie führten verschiedene Tests mit Schimpansen durch, bei denen den Tieren Personen in Problemsituationen präsentiert wurden. Im Anschluss daran wurden den Schimpansen verschiedene Fotos mit Lösungsvorschlägen dargeboten. Hiervon wählten die Schimpansen jeweils signifikant häufiger diejenigen aus, die die Lösung des Problems darstellten (Premack u. Woodruff, 1978). Ausgehend von ihren Untersuchungen definieren Premack und Woodruff (1978) ToM folgendermaßen: »An individual has a theory of mind if he imputes mental states to himself and others« (Premack u. Woodruff, 1978, S. 515). Die Fähigkeit zur ToM und sich somit in eine andere Perspektive hineinzuversetzen, bzw. den mentalen Zustand eines anderen Menschen zu repräsentieren, entwickelt sich in der frühen Kindheit im Verlauf der ersten vier Jahre. Sie bildet gleichzeitig die entwicklungspsychologische Grundlage für das Entstehen des Mentalisierens.

5  Die Entwicklung des Mentalisierens Die Entwicklung des Mentalisierens lässt sich als Prozess beschreiben, der zahlreiche kleinere und größere Schritte umfasst, die im frühen Säuglingsalter beginnen und letztlich in der Fähigkeit zur Mentalisierung münden, die sich über das gesamte weitere Leben ausdifferenzieren kann. Dabei umfasst das entwicklungspsychologische Modell im Mentalisierungskonzept vor allem zwei Teilbereiche, die im Folgenden genauer beleuchtet werden; es sind dies das Modell der markierten Affektspiegelung sowie die Playing-with-Reality-Theorie. 5.1  Affektregulation und markiertes kongruentes Spiegeln Die Entwicklung der ausgewogenen Mentalisierungsfähigkeit und damit zu einem reflexiven Verständnis innerpsychischer Prozesse beim Selbst und beim Gegenüber beginnt in der frühesten Kindheit. Zu Beginn seines Lebens ist ein Säugling noch nicht zur angemessenen und reflexiven Fremd- und Selbstwahrnehmung fähig. Die Voraussetzung für eine gelingende Entwicklung wird in der sicheren Bindung, also im Beziehungsprozess zwischen Säugling und primä36

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rer Bezugsperson gesehen. Dabei verfügt ein Säugling zu Beginn seines Lebens noch nicht über die Fähigkeit, verschiedene emotionale Eindrücke und emotionales Erleben (wie z. B. Wut, Trauer, Angst) bewusst zu differenzieren und entsprechend zu kategorisieren (Fonagy et al., 2008). Durch den intersubjektiven Austausch mit der Bezugsperson lernt ein Kind nach und nach, welche mentalen Zustände (z. B. Emotionen) gerade in ihm und anderen wirken. Hierfür sind vor allem die genaue Wahrnehmung sowie die passenden Reaktionen der Bezugsperson auf ebendiese affektiven Ausdrücke des Säuglings (vgl. Konzept der Feinfühligkeit weiter oben) bedeutsam, damit dieser den entsprechenden Entwicklungsschritt vollziehen kann (Dornes, 2006). Diese passende Reaktion bezeichnen Fonagy et al. (2008) als markiertes Spiegeln. Der Begriff der Markierung bezieht sich dabei auf die Art und Weise sowie den gespiegelten Inhalt. So beinhaltet die Markierung zum einen eine Art übertriebenen Ausdruck in der Reaktion durch besondere Intonation sowie die Rhythmisierung der Sprache oder – eher visuell – das Anzeigen von Äußerungen mittels besonderer Mimik und Gestik. Zum anderen transportiert die Bezugsperson in der gelingenden Markierung ihre eigene Verarbeitung des vom Säugling gezeigten Affektes (wie z. B. Trost und Beruhigung). Durch beide Aspekte innerhalb der Markierung gelingt es dem Säugling, »die Antwort der Mutter als spielerische Darstellung seines eigenen Zustandes und nicht als realistischen Emotionsausdruck der Mutter selbst zu erkennen« (Ramberg, 2013, S. 85). Dadurch kann der Säugling die Zuschreibung des Affektes von der Mutter lösen. Fonagy et al. (2008) bezeichnen dies als »referentielle Entkoppelung« (Fonagy et al., 2008, S. 185), in deren Folge der Säugling die verarbeitete Darstellung seines emotionalen Ausdrucks durch die Bezugsperson wieder auf sich zu beziehen beginnt. Er muss »ihn als Ausdruck und Widerspiegelung seines eigenen Affektzustandes« (Dornes, 2006, S. 174) verstehen. Dies wird als »referentielle Verankerung« (Fonagy et al., 2008, S. 186) bezeichnet. Durch diese Wechselwirkung entstehen beim Säugling sogenannte »sekundäre Repräsentationen« (Fonagy et al., 2008, S. 297) des ursprünglichen Affektzustandes, die ihm letztlich dabei helfen können, »Affekte in ihrer Intensität zu regulieren« (Klöpper, 2006, S. 68). So könnte z. B. eine wiederholt beruhigende Ansprache einer Bezugsperson bei Trauer oder Angst des Kindes dazu führen, dass dieses die Worte, die Mimik und die Prosodie der Ansprache als zu seinen Gefühlen passend erkennt und in der weiteren Entwicklung lernt, selbst beruhigend auf eigene negative Gefühle eingehen zu können. Dieser Prozess beinhaltet ein zunehmendes Verständnis davon, was es heißt, z. B. traurig zu sein, und wie sich dieser Zustand anfühlt, was letztlich regulativ wirkt. Heranwachsende sind dadurch besser in der Lage, ihre affektiven Zustände weiter zu differenzieren Einführung in das Konzept der Mentalisierung

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und somit auch einen angemessenen Umgang im Sinne der Selbstregulation von Affekten zu erwerben (mentalisierte Affektivität). Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass sich mentale Zustände wieder verändern können, das z. B. ­Traurig-, Wütend- oder Verzweifeltsein also wieder vergeht oder von einem anderen Gefühl abgelöst werden kann. Die Grundlage für das Gelingen dieses Prozesses ist dabei die Wahrnehmung einer sicher gebundenen Kontingenzbeziehung zwischen dem Kind und einer mentalisierend verstehenden (Bezugs-)Person. Mit der weiteren Entfaltung dieser Prozesse über längere Zeiträume stellt sich so die Erfahrung ein, dass mentale Zustände zunächst durch andere ko- und später vermehrt allein reguliert werden können. Damit einhergehend etabliert sich mehr und mehr ein autonomes Selbst (Nolte, 2018). Wie alle humanen Entwicklungsschritte ist auch dieser Prozess störanfällig. Schwierigkeiten im Rahmen der Bindungsbeziehung zwischen Bezugsperson und Säugling können dazu führen, dass dem Kind die Etablierung einer sicheren Selbstregulation seiner Affekte größere Probleme bereitet. Fonagy et al. (2008) unterscheiden hierzu zwei Formen der nichtgelingenden Spiegelung. Zum einen besteht die Gefahr, dass die Affekte des Kindes unmarkiert und somit realistisch als Ausdruck der Bezugsperson gespiegelt werden: »Der unmarkierte Schmerz der Mutter als Reaktion auf den Schmerz des Kindes bei einer Impfung ›spiegelt‹ nicht den des Kindes, sondern drückt ihren eigenen aus und das Kind verinnerlicht ihren Schmerz als Reaktion auf sich selbst. Nicht nur wird sein Affekt schlecht reguliert und repräsentiert, sondern das Kind erlebt sich als jemand, der Schmerzen in anderen hervorruft, denn das war die Reaktion der Mutter auf seinen Schmerz« (Dornes, 2006, S. 176 f.). Die zweite Variante des nichtgelingenden Spiegelns ist die fehlende Kongruenz des gespiegelten Affektes. Hier markiert die Bezugsperson zwar einen vom Säugling gezeigten Affekt, allerdings geschieht dies inkongruent und somit unpassend (z. B. mit übertriebener Freude auf Wut reagieren). Fonagy et al. (2008) sprechen in diesem Zusammenhang von kategorial verzerrter Spiegelung: »Lenkt sie [die Bezugsperson, Anm. d. Verf.] zum Beispiel von Angst oder Trostbedürfnissen des Kindes ab, indem sie diese in durchaus spielerischer Weise in Müdigkeit oder ein Bedürfnis des Kindes nach Unterhaltung uminterpretiert, so wird sich der Säugling in diesen Stellungnahmen nicht wiedererkennen« (Dornes, 2006, S. 177). Durch beide Störungen im Mentalisierungsprozess können sich verzerrte sekundäre Repräsentanzen entwickeln, die das Kind in der Folge am Aufbau eines stabilen und zugleich flexiblen Selbst behindern, dies zeigt sich symptomatisch z. B. bei Kindern mit Schwierigkeiten in der Affektregulation. Spannung, Wut, komplexeres Gruppengeschehen, Trauer erscheinen für die Kinder dann 38

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nicht regulierbar. Es ist dann weniger ein »Ich spüre meine Wut (und ich kann da­rauf reagieren)« sondern eher ein »Ich bin die Wut (und sie bestimmt mich)«. Das Entwicklungsmodell der Mentalisierungsfähigkeit weist in der Betonung der Affektspiegelung zwar eine explizit dyadische Ausrichtung auf. Allerdings festigt sich im Bereich der Forschung zum Mentalisierungskonzept mehr und mehr die Einsicht, dass auch Lehrkräfte, Nachbarn oder ältere Geschwister sowie Erfahrungen in Gruppen oder mit Peers einen wichtigen Beitrag zur Optimierung der Mentalisierungsfähigkeit des Kindes leisten, sofern es gelingt, sich grundlegend auf das Verständnis eigener und fremder mentaler Zustände einzulassen (Gingelmaier, 2019). 5.2  Prämentalisierungsmodi und Playing-with-Reality-Theorie Vom reifen Mentalisieren lassen sich sogenannte Prämentalisierungsmodi abgrenzen. Diese treten zum einen als Vorläufer und notwendige Entwicklungsstadien einer integrierten und ausgewogenen Mentalisierungsfunktion in Erscheinung. Zum anderen kommt es aber auch bei steigendem zwischenmenschlichem Stress zu innerer Erregung im Sinne von Anspannung, Angst oder dem Gefühl des Überwältigtseins (s. 8.1). Dies kann zu einem zeitweisen Zusammenbruch des Mentalisierens führen und bedeutet in der Konsequenz ein Zurückfallen auf diese früheren Entwicklungsmodi. Die Entwicklungsvorläufer des Mentalisierens lassen sich in die folgenden drei Komponenten unterteilen, wobei die letzten beiden zeitlich etwas später auftreten (erstes bis viertes Lebensjahr) und sich insbesondere durch einen spielerischen Umgang mit Realität auszeichnen, weshalb in diesem Zusammenhang auch vom Spielen mit der Realität gesprochen wird (Fonagy et al., 2008, S. 258 ff.): teleologischer Modus, Als-Ob-Modus und Äquivalenzmodus. 5.2.1  Teleologischer Modus

In diesem Modus werden mentale Zustände durch Handeln zum Ausdruck gebracht (das schreiende Baby lässt sich z. B. nur durch Hochheben aus seinem Bettchen beruhigen). Bei späterer pathologischer Entwicklung dominiert dementsprechend das Agieren. Dabei bleiben die greif- oder sichtbaren Folgen wichtig (nur in der Realität Beobachtbares ist relevant). Verbale Äußerungen im Sinne von repräsentierten inneren Zuständen haben nicht denselben Stellenwert – Gefühle oder Gedanken existieren noch nicht oder nicht mehr. Damit geht die Annahme einher, dass die Umwelt »funktionieren« muss, um innere Spannungszustände zu regulieren, wofür Handlungen oder gar Ausagieren auf somatischer Ebene nötig sind. Als teleologisch motiviert ließe sich beispielsEinführung in das Konzept der Mentalisierung

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weise die Reaktion eines Schülers verstehen, der einen inneren Spannungs- oder Angstzustand nur dadurch regulieren kann, dass er »störend« und »agierend« auf den Unterrichtsfluss einwirkt, um diesen so zu verändern, dass die Lehrkraft vom Vermitteln des eigentlichen Stoffes, der bei dem Schüler ein nicht zu tolerierendes Insuffizienzgefühl auslöst, absieht. 5.2.2 Als-ob-Modus

Unter dem Als-ob-Modus wird ein Zustand verstanden, in dem die Realität wei­­testgehend aufgehoben ist. In diesem Modus kann ein Kind spielen, ohne dass die Gefahr besteht, dass das Spiel real wird. Dadurch kann es seine inneren Zustände extern darstellen. Eltern können durch ihr Kommentieren der Spielhandlung die mentalen Zustände des Kindes sowie das »inszenierte« Geschehen verbal spiegeln und benennen, was zu einer Verinnerlichung solcher Als-obSzenarien und einem erweiterten Repertoire von symbolischen oder symbolisierten Interaktionen führt. Im Als-ob-Spiel können demnach auch zwischenmenschliche und innerpsychische Prozesse spielerisch erprobt und ausgetestet werden. So kann das Spiel eines Kindes das Thema Verlust direkt oder indirekt aufgreifen (z. B. beim Spiel einer Abschiedsszene eines Prinzen von seinem königlichen Vater) oder sich symbolisch mit Wut und Zorn beschäftigen (z. B. beim kriegerischen Angriff zweier feindlicher Gruppen von Spielfiguren). Im pädagogischen Kontext sind solche Als-ob-Handlungen unter Umständen nicht leicht erkennbar. So kann sich beispielsweise ein Kind aus überfordernden Situationen in seine eigene (Schein-)Welt zurückziehen, in der es die umgebenden Mitschüler dann gewissermaßen nicht mehr gibt oder es sich eine erwünschte Lehrkraft imaginiert. Dominiert dieser Modus im pathologischen Sinne im Erwachsenenalter, kommt es häufig zu sogenanntem Pseudomentalisieren, wobei sich Innenwelt und Realität entkoppeln, verbunden mit Zuständen von innerer Leere und Bedeutungslosigkeit bis hin zu Dissoziation (Auseinanderfallen psychischer und körperlicher Funktionen, z. B. bei Traumata). 5.2.3 Äquivalenzmodus

Hierunter wird ein Zustand des Kindes verstanden, bei dem es seine Gedanken und inneren Zustände als tatsächliche Realität erlebt (das Erleben von Gedanken im psychischen Äquivalenzmodus ist nicht von der Realität getrennt). Eltern stehen hierbei stellvertretend für die Realität, können aber gleichzeitig eine mentalisierende Haltung gegenüber den kindlichen mentalen Zuständen einnehmen. Das viel gerühmte Monster unter dem Bett ist für das Kind im psychischen Äquivalenzmodus tatsächlich angsteinflößend, und mitunter hilft nur das elterliche Eingreifen in die Realität (z. B. durch lautes Verscheuchen 40

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des Monsters). Damit zeigen die Eltern Verständnis für die Wahrnehmung des Kindes (seinen momentanen mentalen Zustand), gleichzeitig nehmen sie die notwendige Distanz zur kindlichen Perspektive ein und zeigen ihm eine andere mögliche und angstfreie Perspektive (Kalisch, 2012). Im pädagogischen Setting wird das Denken im Äquivalenzmodus immer dort sichtbar, wo Kinder von ihrem eigenen Erleben und den inneren Bildern nicht abrücken können, was letztlich zu immer wiederkehrenden Konflikten oder Missverständnissen mit Betreuungspersonen führt. Pathologisch zeigt sich der Äquivalenzmodus auch später noch durch das weitere Erleben von innerer und äußerer Welt als identisch, wobei subjektiv psychische Erfahrungen (z. B. ein Albtraum oder Panikzustand) als real und nicht modulierbar erlebt werden. Das dauerhafte Entwicklungsziel ist die Integration von teleologischem, Alsob- und Äquivalenzmodus mit dem daraus resultierenden reflexiven Modus. Dieser beginnt bei Kindern in etwa vor dem Eintritt in die Schule zwischen dem fünften und dem siebten Lebensjahr. Nach der Entwicklung innerhalb dieser Prämodi hat das Kind zumeist eine repräsentationale Theorie des Geistes entwickelt und kann damit erkennen und erleben, dass seine Gedanken und Gefühle Einstellungen zur Realität sind (Kalisch, 2012) und nie die Realität selbst. Es begreift, dass die Realität durch seine Gedanken beeinflusst wird, ihnen aber nicht exakt entspricht, und beginnt, Interaktionen als intentional motiviert zu verstehen.

6  Dimensionen des Mentalisierens Die Ausreifung des reflexiven Modus versetzt das Individuum in die Lage, verschiedene Aspekte des Mentalisierens förderlich zusammenzubringen. Die Etablierung und Festigung dieser Form gut ausgeprägten Mentalisierens dauert dabei über die Lebensspanne an und bleibt ebenso wie die frühe Entwicklung des Mentalisierens störanfällig. Innerhalb des reflexiven Modus lassen sich vier (vgl. im Folgenden) Dimensionen des Mentalisierens mit jeweils zwei Polen differenzieren. Zu einer ausgewogenen und fruchtbringenden Mentalisierung­ sfähigkeit gehört dabei der Rekurs auf alle acht Aspekte. Darüber hinaus zeichnet sich der reflexive Modus durch die Fähigkeit einer Person aus, auf eine Situation oder eine andere Person flexibel Bezug zu nehmen (Fonagy u. Luyten, 2009; Debbanè u. Nolte, 2019). a) Eine erste wichtige Unterscheidung liegt impliziter und expliziter Mentalisierung zugrunde. Während sich erstere auf automatische, zum Teil unbewusste und eher reflexartige Reaktionsweisen bezieht, ist letztere durch eine eher Einführung in das Konzept der Mentalisierung

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kontrolliert reflektierende und damit bewusstere Haltung gekennzeichnet. Beide können hilfreich sein, bestimmten Situationen adäquat mentalisierend zu begegnen. Allerdings kann die Fähigkeit zur reflexiven Betrachtung von Gefühlen oder Gedanken in der Beziehung in Momenten der Angst oder großem Stress zeitweise beeinträchtigt sein bis hin zum kompletten Zusammenbruch (s. 7.3). Unter Stress oder großer Belastung dominiert das automatischimplizite Mentalisieren und Reagieren zulasten von abwägend-explizitem. b) Eine weitere dimensionale Unterteilung differenziert die Mentalisierungspole anhand dessen, was während des Mentalisierens als Informationsquelle dient: Eine Wahrnehmungsfokussierung auf äußere Reize (zum Beispiel, was sich in einem Gesichtsausdruck »lesen« oder von der Körperhaltung eines Gegenübers ableiten lässt) hilft, mentale Zustände zu verstehen, erfordert aber eine andere Mentalisierungsarbeit als solche Prozesse, die einen Fokus auf das Verstehen innerer Vorgänge (wie sich jemand wohl gerade fühlt, was sein psychisches Innenleben ausmacht) legen. c) Die dritte Unterscheidung, die für eine Balance an Mentalisierungsaspekten nötig ist, bildet die Achse von kognitiven zu affektiven Prozessen. Beim Versuch zu ergründen, welches Gefühl sich gerade in einer Person ausbreitet und wie sich dieses vielleicht verändert, werden andere (neuronale und psychische) Vorgänge rekrutiert als beim Nachdenken darüber, was dieses bestimmte Gefühl wohl ausgelöst haben mag oder auf welche Strategie eine andere Person vielleicht zurückgreifen kann, um sich dem Gefühl nicht als zu stark ausgeliefert zu erleben. d) Ein letzter Aspekt der Multidimensionalität von Mentalisierung liegt in der Unterscheidung von Selbst- und Anderem-Fokus. Beide sind wichtig, und die neurowissenschaftliche Forschung hat überzeugende Belege für die enge, zum Teil überlappende Verschaltung beider Prozessierungsvorgänge dargelegt (Liebermann, 2007; Debbanè u. Nolte, 2019). Auch entwicklungspsychologisch spricht vieles dafür, dass beide Fähigkeiten, sich selbst und andere zu verstehen und zu durchdringen zu versuchen, sich parallel und mit gegenseitiger Bezugnahme formieren (Fonagy u. Luyten, 2009). Für die Phänomenologie von Mentalisierungsprozessen, wie für die anderen Dimensionen auch, ist es wichtig, dass ein Changieren zwischen den jeweils beiden Polen aus a-d unerlässlich ist, um eine ausgewogene und flexible Funktion nutzen zu können.

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7  Erfolgreiches Mentalisieren in der Praxis Ausgehend von der Idee der reflexiven Funktion als Entwicklungsziel des reifen Mentalisierens lassen sich verschiedene Bausteine identifizieren, die für ein gutes Gelingen mentalisierender Verstehensprozesse sprechen. Diese Bausteine können vor allem auch in pädagogischen Bezügen als grobe Leitlinie verstanden werden, in der sich eine mentalisierende Haltung in Beziehungen ausdrückt. 7.1  Mentalisierende Haltung Eine mentalisierende Haltung ist zunächst geprägt vom Erleben einer ruhigen Zugewandtheit und Flexibilität der Person in Interaktionsmomenten. Mentalisieren wird dann deutlich, wenn die Person nicht in ihren Anschauungen »feststeckt« und sich mit einem inneren Spielraum auf eigene und auch auf andere Perspektiven einlassen kann. Dieser Prozess kann dabei durchaus als spielerisch beschrieben werden, was sich z. B. in humorvoller Zugewandtheit ausdrücken kann. Eine derartige Perspektivübernahme beinhaltet dabei auch die Fähigkeit, Problemlösungen unter der Berücksichtigung verschiedener Perspektiven voranzubringen. Hier zeigt sich Mentalisierung vor allem dann, wenn die Person eigene Erfahrungen mitteilen und verschiedene Sichtweisen benennen kann. Die Voraussetzung dafür bildet die bereits oben beschriebene von Neugier geprägte Haltung, sich auf die Gedanken und Anschauungen des anderen zu beziehen, woraus letztlich auch das Gefühl resultiert, sich gegenüber eigenem Verhalten verantwortlich zu fühlen und somit als Akteur der eigenen Handlungen und mit einer Erfahrung von Autorenschaft hinsichtlich des Selbst und der eigenen Narrative aufzutreten. Das Ergebnis solcher Prozesse, sich selbst und andere als mentalistisch zu begreifen, hat wesentliche salutogenetische, also resilienzfördernde Aspekte hinsichtlich psychischer Gesundheit (Nolte, Campbell u. Fonagy, 2019; Schwarzer, 2019). Übertragen auf die pädagogische Situation bedeutet gelingendes Mentalisieren die sich stets wiederholende Haltung, »das Kind situativ, biographisch und entwicklungspsychologisch zu verorten« (Gingelmaier u. Ramberg, 2018, S. 90). In Analogie zur Mutter-Kind-Beziehung ist dies immer dann von besonderer Bedeutung, »wenn Kinder aus dysfunktionalen Beziehungen kommen und mit derartigen Beziehungserwartungen auch in pädagogische Settings gehen« (Nolte, 2018, S. 169).

Einführung in das Konzept der Mentalisierung

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7.2  Epistemisches Vertrauen Neben den beschriebenen positiven Auswirkungen gelingenden Mentalisierens in der Praxis ist ein weiterer wichtiger Effekt des Mentalisierens hervorzuheben, der gleichsam eng mit der Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit verbunden ist: das epistemische Vertrauen (EV). Dieser beschreibt den »Prozess der Informations- und Wissensvermittlung als durch ausreichendes Vertrauen in die Authentizität und wohlmeinende Intention der Quelle (hier verstanden als die primären Bindungsfiguren, aber mit voranschreitender Entwicklung auch das sonstige soziale, z. B. pädagogische Umfeld) geprägt. Es geht einher mit dem Erkennen der persönlichen Relevanz von Wissen, das von einer zur nächsten Person weitergegeben wird« (Nolte, 2018, S. 157; Fonagy u. Allison, 2014). Empirisch konnte gezeigt werden, dass Kinder sich durch eine artspezifische Sensibilität gegenüber bestimmten nonverbalen (sogenannten ostensiven, d. h. eine Absicht sichtbar machenden) Kommunikationssignalen auszeichnen (Csibra u. Gergely, 2011). Diese umfassen beispielsweise das Herstellen von Blickkontakt, zielgerichtete Zeigebewegungen sowie den individuellen Singsang der mütterlichen Stimme (affektive Prosodie) oder, auf verbaler Ebene, das direkte Ansprechen des Kindes beim Namen. Säuglinge und Kleinkinder sind im Rahmen kommunikativer Akte vor allem auf diese Signale sensibilisiert (Egyed, Király u. Gergely, 2013) und reagieren auf sie wie folgt: Ihre Aufmerksamkeit und Aufnahmewahrscheinlichkeit gegenüber den nachfolgend vermittelten Informationen steigt (Csibra u. Gergely, 2009) – dies öffnet eine Art »epistemische Autobahn« (Fonagy, Luyten u. Allison, 2015). Evolutionäre Prozesse haben unser Gehirn daher für psychosoziale Interventionen oder eben Wissensvermittlung im breiteren Sinne (erlebt in Beziehungen) »vorprogrammiert«. Es gibt ein wahrscheinlich evolutionär verankertes Bestreben oder eine Veranlagung, über sich nicht sofort erschließbare mentale Zustände in unserer sozialen Umwelt zu lernen (in Bindungsbeziehungen, mit Gleichaltrigen, in Therapie oder Schule und darüber hinaus). Am einfachsten lernen wir über psychische Verfasstheit oder sonstiges Wissen – ganz besonders über kulturell tradiertes – unter der Voraussetzung von epistemischem Vertrauen, womit Verallgemeinerbarkeit des Gelernten ermöglicht wird. Csibra und G ­ ergely (2009) bezeichnen dies als natürliche Pädagogik. Damit wird die komplexe psychische Leistung des Imaginierens von physisch nicht manifesten Inhalten erfasst, die eine Symbolbildung und damit Verstehen erfordert, das nur mithilfe von anderen zustande kommen kann (Fonagy et al., 2015; Gingelmaier, 2019). So lässt sich beispielsweise die Funktion eines komplexeren Werkzeuges oder gar eines Mobiltelefons vorrangig durch Anleitung anderer und nicht von selbst erschließen und 44

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weitergeben. Anders formuliert: Menschen werden in eine soziale Umwelt voller Codes aus Normen, Objekten, Zeichen, Werten, Einstellungen, Erwartungen, Ritualen usw. – kurz: nicht nur in eine individuelle Entwicklungsnische, sondern in eine Kultur geboren –, deren Funktion oder Benutzung sowohl offen, aber zunächst auch nicht direkt ableitbar ist. Sie muss gelernt und interpretiert werden (Gingelmaier, 2019). Mentalisieren ermöglicht hier den evolutionären Vorteil, durch das Unterstellen mentaler Zustände soziale Interaktion (besser) verstehen zu können (Nolte, 2018; Gingelmaier, 2019). Ostensive Signale setzen innerhalb dieses Lernprozesses die evolutionär verankerte Schutzfunktion (epistemische Wachsamkeit oder epistemisches Misstrauen) gegenüber potenziell irreführender oder durch schlechte Absichten motivierte Wissensweitergabe außer Kraft. So verstanden bedeutet ostensiv das explizite Anzeigen der Kommunikationsintention im Sinne von: »Was ich jetzt mitzuteilen habe, ist für dich relevant, speziell für dich bestimmt und kann von dir verallgemeinernd auch in anderen Kontexten angewendet werden.« Diese Aspekte scheinen in der sicheren Bindungsbeziehung zwischen Mutter und Kind größtenteils obsolet: EV entsteht, da sich hier der »Sender als wiederholt vertrauenswürdig, von guten Intentionen geleitet, als Quelle belastbarer und über den aktuellen Kontext hinaus verallgemeinernd anzuwendendem Wissen gezeigt und gleichzeitig eine adäquate Sensibilität gegenüber fragwürdigen anderen Wissensquellen demonstriert hat« (Nolte, 2018, S. 160). Macht ein Kind die Erfahrung, dass ihm mentalisierend begegnet wird, verbessert sich sein Verständnis davon, wie das Verhalten anderer motiviert ist. Das Gefühl, kontingent vom anderen wahrgenommen und mentalisiert zu werden, ist dabei das entscheidende Signal dafür, dass es ungefährlich ist, vom anderen zu lernen und somit ein primär biologisches Signal (Fonagy u. ­Allison, 2014; Fonagy et al., 2015). Die Erfahrung des Mentalisiert-Werdens ist deshalb von so besonderer Bedeutung, da sie das Erleben ermöglicht, dass ein Gegenüber sich eine Vorstellung meines persönlichen Narrativs machen kann, die meiner eigenen Erfahrung oder Konstruktion dieses Narrativs sehr nahekommt. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einem epistemischen Match. Dieses lässt sich auch in pädagogischen Situationen herstellen, und zwar immer dann, wenn sich das Kind von der pädagogischen Fachkraft in seinem Denken, Fühlen und Handeln als verstanden erlebt. Bleibt das Verstehen des Gegenübers aus oder sind Interaktionen innerhalb einer Beziehung von dauernder epistemischer Überwachsamkeit geprägt (z. B., weil das Gegenüber als nichtwohlmeinende, vernachlässigende, dauerhaft überstimulierende oder gar missbrauchende Person erlebt wird), so resultiert dies in einem Verschlossensein gegenüber potenziell relevanter Information, die ein anderer bereithält. Dies kann zur Unfähigkeit führen, die Komplexität Einführung in das Konzept der Mentalisierung

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mentaler Zustände beim Selbst und anderen zu berücksichtigen. Als Konsequenz ist das konstruktive und progressive zwischenmenschliche und soziale Beteiligtsein oder Anteilnehmen reduziert. Damit einhergehend wird es deutlich schwieriger, Selbstzustände durch die Psyche anderer zu kalibrieren: beispielsweise durch andere zu verstehen, was es heißt, wütend zu sein, wie man mit solch einem Zustand umgeht, und auch, was er beim anderen auslöst. Vor allem aber führt diese besondere, entwicklungsgeschichtlich bedingte, mangelnde Erfahrung zu eingeschränktem Lernen durch das soziale Umfeld und damit zu epistemischer Isolation, Abwehr, Resignation, Abkapselung oder gar gewalttätigem Verhalten. Fonagy (2018) hat die Bedeutung dessen für die Pädagogik klar umrissen: »Ein Kind, das aufgrund von extrem ausgeprägtem epistemischen Misstrauen davon abgehalten wird, am Bildungsprozess teilzunehmen, könnte das tun, weil es ihm an Hinweisen darauf fehlt, dass es den Informationen (ver)trauen kann – beziehungsweise weil die wahrgenommenen Hinweise nicht ausreichen, einen gefahrlosen Austausch von Ideen zu gewährleisten. Durch eingeschränktes Mentalisieren wird daher eine überdauernde Barriere für das Lernen errichtet. Wenn es dem schulischen Umfeld gelingt, das Kind zu mentalisieren und ihm beizubringen, sich selbst wahrzunehmen, wird es sich dem Wissen anderer eher öffnen können« (S. 12). Im gelingenden Fall wird ein Kind es wiederholt als sicher empfinden, sich für Verstehens- und Regulationsangebote durch andere offen zu zeigen, und diese Angebote als hilfreiche und wirksame Erfahrungen verinnerlichen. Damit kann sein vorweg bestehender Wille zur und seine Neugier auf Wissensaufnahme zu weiterer Ressourcengewinnung durch andere und über ein besseres Verstehen psychischer Prozesse und einem sich dadurch verbreiternden Beziehungsrepertoire zu sozialer Resilienz führen. 7.3  Stress und Mentalisieren Aus den bislang dargelegten Gedanken zum erfolgreichen Mentalisieren und den sich daraus entwickelnden Potenzialen für Beziehungsgestaltung im päda­ gogischen Kontext lässt sich schnell erkennen, dass auch das Mentalisieren selbst einen passenden Rahmen benötigt, innerhalb dessen es praktiziert wird. Sind die Bedingungen für eine verstehende und reflexive Beziehungsgestaltung nicht optimal, kann dies zu Beeinträchtigungen des Mentalisierens führen. Insbesondere mit dem Anstieg von Angst oder dem Erleben von Stress, Überforderung oder Gefühlen von Ohnmacht und Hilflosigkeit steigt auch die Aktivierung des Bindungssystems, was in der Folge die Mentalisierungsfunktion einschränkt oder gar gänzlich zusammenbrechen lässt. Mit fortschreitender 46

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Bindungsaktivierung tritt dann ein Rekurs auf die zuvor beschriebenen Prämentalisierungsmodi auf. Auch im pädagogischen Setting tendieren solche nichtmentalisierenden Interaktionen in aller Regel dazu, Angst zu erzeugen bzw. diese nicht regulieren zu können und führen damit oft zu Kaskaden von sich wechselseitig bedingendem Agieren, was Verstehen und Verstandenwerden, also das Wiedererlangen einer mentalisierenden Haltung zur vorliegenden Situation, erschwert oder verhindert. Nach dem bio-behavioralen Schaltmodell (Fonagy u. Luyten, 2009) lässt sich für jeden Menschen ein individueller Umschaltpunkt von kontrolliertem zu automatischem Mentalisieren verorten. Dieser spiegelt die individuelle (entwicklungsgeschichtlich bedingte) Vulnerabilität wider (Abbildung 2).

Mentalisieren bzw. Mentalisierungsfähigkeit

Explizit-kontrolliertes Mentalisieren /Präfrontale Hirnregion

Implizit-automatisches Mentalisieren /Posteriorer Kortex und subkortikal

Schaltpunkt

gering

Stress- und Erregungslevel führt zu einer Aktivierung des individuellen Bindungssystems

hoch

Abbildung 2: Bio-behaviorales Schaltmodell (Luyten, Fonagy, Lowyck u. Vermont, 2015, S. 69)

Das Schaltmodell betrifft dabei besonders die o. g. erste Dimension des Mentalisierens, da mit steigendem Stresslevel – und hier vor allem solches von interpersoneller Natur (Nolte et al., 2013) – die Fähigkeit, reflektiert zu mentalisieren, immer weniger verfügbar ist. Hirnphysiologisch »übernehmen« dann andere Prozessierungsvorgänge, die sich nicht mehr im sozialen Kognitionsnetzwerk des Gehirns, sondern vielmehr in biologisch basaleren Reaktionsprozessen (wie zum Beispiel bei »Fight-and-flight«-Reflexen) verorten lassen. Das Niveau und die Dauer des Umschaltens sind dabei unterschiedlich ausgeprägt, die »Trigger« für jede Person verschieden. So mag es für eine pädagogische Fachkraft Einführung in das Konzept der Mentalisierung

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vergleichsweise einfach sein, auch auf zwei sich zur gleichen Zeit untröstlich erscheinende Kinder weiterhin beruhigend einzuwirken, weil sie auf innere Ressourcen zurückgreifen kann, die es ermöglichen, die Ursache für deren Kummer in einem gerade vorausgegangen Streit über ein Spielzeug zu sehen und sich dabei nicht in ihrem Selbstverständnis als effektive Fachkraft bedroht zu fühlen. Eine andere Fachkraft mag jedoch ganz anders reagieren, zum Beispiel, indem sie sich von den beiden abwendet und sie sich selbst überlässt mit den Gedanken, dass auch ihr es als Kleinkind geholfen habe, die Erfahrung zu machen, sich selbst aus einem solchen Gefühlszustand herauszumanövrieren. Dabei können solche Reaktionen auch deutlich negativ ausgeprägt sein, wenn zur äußeren (evtl. anstrengenden) Situation noch das Erleben von Ohnmacht und Hilflosigkeit hinzukommt. Hier ist es dann letztlich hilfreich, dass auch die Pädagogin einen Raum erhält, in dem ihr mentalisierend begegnet werden kann. Zu denken wäre hier z. B. an spontane kollegiale Gespräche, Supervision oder Intervision.

8 Ausblick Das Mentalisierungskonzept lässt sich zusammenfassend als innovativ und empirisch fundiert, in erster Linie allerdings als hilfreich für die pädagogische Praxis verorten. Dabei sollte das Mentalisieren in der Praxis nicht nur als Intervention, sondern vielmehr auch als präventiver Faktor verstanden werden. Dies sowohl im Sinne der Entwicklungsbegleitung von Kindern und Jugendlichen als auch zur Aufrechterhaltung psychischer Gesundheit sowohl der pädagogischen Fachkraft wie auch in der kommunikativen Folge des Mentalisierungsmodells der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen. Die neuesten Konzeptualisierungen haben zu einem nochmals verbreiterten Verständnis des Mentalisierungsbegriffs geführt (s. Tabelle 1), wobei Mentalisieren in der Praxis – als genuin menschliche Fähigkeit – damit nicht nur auf psychotherapeutische, sondern anhand der vier dargestellten Ebenen auf alle menschlichen Interaktions- und Kommunikationsprozesse – und damit ganz besonders auch in pädagogischen Feldern – zur fruchtbaren Anwendung gebracht werden kann.

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Tabelle 1: Theorie und Praxis des Mentalisierens (nach Gingelmaier, 2019) Mentalisierung als Theorie

Mentalisieren in der Praxis

Individuelle Verstehens- und Kommunikationstheorie

Sich selbst verstehen/mentalisieren (z. B. Emotionsregulation)

Bindungs- und Beziehungstheorie

Andere verstehen/mentalisieren (z. B. Empathie)

Physiologische Stresstheorie

Hemmung des Mentalisierens unter (Beziehungs-)Stress

Theorie des adaptiven sozialen Lernens

Grundlage für soziale Lernprozesse, soziale Interaktionen verstehen/mentalisieren (z. B. Gruppenfähigkeit)

In den folgenden Kapiteln dieses Praxisbuchs soll es daher um Anwendungen des Mentalisierungskonzepts in praktischen pädagogischen Settings gehen. Dabei sollten die vier theoretischen Ebenen des Mentalisierens stets als dialektisch gedacht werden, da intra- und interpsychische Prozesse miteinander in Kontakt kommen und adaptives soziales Lernen unter Bedingungen epistemischen Vertrauens immer auch die Aspekte individueller Verstehens- und Kommunikationsprozesse, bindungs- und beziehungstheoretische Annahmen sowie Affektregulierung voraussetzt.

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Mentalisieren als Einflussfaktor auf pädagogische Professionalität – konzeptionelle Überlegungen Nicola-Hans Schwarzer

Der folgende Aufsatz konkretisiert unter Verweis auf empirische Befunde (erstens) zur Wirksamkeit psychotherapeutischer Interventionen und (zweitens) zur Gestaltung effektiver Lehr-Lernarrangements Überlegungen, die die Mentalisierungsfähigkeit pädagogischer Fachkräfte als wichtigen Einflussfaktor auf deren pädagogische Professionalität konzeptualisieren. With reference to empirical findings (first) on the effectiveness of psychotherapeutic interventions and (second) the organization of effective teaching-learning arrangements, the following essay exposes considerations that conceptualize mentalizing as an important factor influencing pedagogical professionalism.

1 Einführung »Pädagogische Professionalität«, »professionelle Kompetenz« und »Professiona­ lisierung« sind Schlagwörter, die sich im pädagogischen Diskurs einer zuneh­ menden Popularität erfreuen. Dem Anspruch folgend, Merkmale, Dimensionen und Aspekte zu identifizieren, die für gute pädagogische Fachkräfte charakteristisch sind (pädagogische Professionalität), schließt die Idee der gezielten Förderung jener Kompetenzfacetten (professionelle Kompetenzen) in Ausund Fortbildung pädagogischer Fachkräfte an (Professionalisierung; Tenorth, 2006; Zlatkin-Troitschanskaia, Beck, Sembil, Nickolaus u. Mulder, 2009). Diese Entwicklung ist insbesondere auf die Ergebnisse früher Schulleistungsstudien zurückzuführen: Aufbauend auf den Ergebnissen der ersten TIMMS- und PISAStudie vollzog sich um die Jahrtausendwende bildungspolitisch intendiert ein grundlegender Perspektivwechsel, der – als empirische Wende bekannt – eine 53

Ablösung der sogenannten Input-Orientierung einläutete (Terhart, 2002). Nicht Steuerungsinstrumente wie detaillierte Vorgaben in Form von Erlässen, Gesetzen und Bildungs- und Lehrplänen wurden in der Folge als Indikatoren für ein effektives Bildungssystem erachtet, sondern die tatsächlich erreichten und messbaren Lernzuwächse aufseiten der Adressaten von Bildungsangeboten (Helmke, 2014), was neben einer Fülle groß angelegter Forschungsprojekte auch eine kritische Gegenbewegung (z. B. Bellmann u. Müller, 2011) zur Folge hatte. Jene Lernzuwächse wiederum sind empirisch auf die professionellen Kompetenzen pädagogischer Fachkräfte zurückführbar, wie beispielsweise die metaanalytischen Befunde von Hattie (2015) anzeigen (s. a.: Kunter et al., 2011; Helmke, 2014). Unweigerlich also scheint der pädagogischen Fachkraft eine zentrale Funktion in der Organisation effektiver Bildungsprozesse zuzukommen.

2 Professionelle Kompetenzen und pädagogische Professionalität Seit der Jahrtausendwende ist eine merkliche Zunahme theoretischer und empirischer Arbeiten zu verzeichnen, die sich mit den Gelingensbedingungen erfolgreichen Unterrichtens befassen. Dieser Aufschwung ging mit der Modellierung professioneller Kompetenzen von Lehr- und pädagogischen Fachkräften einher (Kunter et al., 2011), »die einen breiteren theoretischen Rahmen spannen und versuchen, sowohl kognitive als auch emotional-affektive Merkmale von Lehrern in ihrem Wechselspiel zueinander zu betrachten« (Kunter u. Pohlmann, 2015, S. 264). Zieht man vergleichend die vorausgegangenen empirischen Bemühungen um pädagogische Fach- und Lehrkräfte in den 1980er Jahren zurate, fällt auf, dass weitestgehend unabhängige Forschungsvorhaben je sehr spezifische Aspekte von Unterricht untersuchten, die pädagogische Fachkraft hierbei in vielen Fällen als nur einen von vielen Einflussfaktoren konzeptualisierten und eine integrierende Sichtweise vermissen lassen (Kunter u. Pohlmann, 2015). Insbesondere die Arbeit von John Hattie (2015) zeigt in jüngerer Zeit eindrucksvoll, dass der Lehrperson eine maßgebende Bedeutung im Hinblick auf gelingende Bildungs- und Lehr-Lernprozesse zuzusprechen ist, der die empirische Bildungsforschung in den 1980er Jahren nur unzureichend entsprechen konnte. So sei die den theoretischen und empirischen Arbeiten der 1980er Jahre zugrunde liegende Sichtweise, die lediglich auf einzelne Aspekte der pädagogischen Arbeit fokussierte, der Komplexität der Tätigkeit angesichts der vielfältigen Einflussfaktoren und berufsspezifischen Anforderungen kaum angemessen (Rothland, 2013). Eben dies gelingt der in jüngerer Zeit 54

Schwarzer

erfolgten Modellierung professioneller Kompetenzen durch deren integrierende Beschaffenheit besser. Als Ankerpunkt im Diskurs wird üblicherweise eine von Weinert (2001) formulierte Kompetenzdefinition angeführt. Dieser beschreibt Kompetenzen als »die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Pro­ bleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können« (S. 27 f.). Kunter und Trautwein (2013) erweitern jene Kompetenzdefinition um eine schulpädagogische Komponente, indem sie unter dem Begriff der professionellen Kompetenz von Lehrkräften alle derartigen Voraussetzungen subsumieren, »die zur Bewältigung spezieller beruflicher Aufgaben notwendig sind – im Falle von Lehrkräften also […] die Merkmale, die bestimmen, ob ein Lehrer oder eine Lehrerin in der Lage ist, Unterricht sinnvoll zu planen und durchzuführen« (S. 144). Als theoretischer Bezugspunkt aktueller Forschungen in der pädagogischen Disziplin dienen Kompetenzmodelle, die »auf das gesamte Tätigkeitsfeld des Lehrerberufs gerichtet sind. Hierbei wird ein breites Spektrum an Kompetenzfacetten modelliert und empirisch erfasst, die zunächst in kognitive (unterschiedliche Wissensbereiche) und nichtkognitive Facetten (Emotionen, Motivation, Überzeugungen, selbstregulative Fähigkeiten) unterschieden werden können« (Rothland, 2013, S. 11). Als eines der anerkanntesten Modelle gilt das in Abbildung 1 dargestellte Kompetenzmodell des COACTIV-Forschungsprogramms (Baumert u. Kunter, 2011), das professionelle Kompetenzen von pädagogischen Fachkräften als Konstrukt beschreibt, das aus den abstrakten Kompetenzfacetten »Überzeugungen, Werthaltungen, Ziele«, »Motivationale Orientierungen«, »Professionswissen« und »Selbstregulation« besteht (Bau­ mert u. Kunter, 2011, S. 32). All diese Aspekte, so Kunter und Trautwein (2013), determinieren gemeinsam und in wechselseitiger Abhängigkeit das professionelle Handeln der pädagogischen Fachkraft. Neben den klaren theoretischen Unterschieden zwischen den Kompetenzfacetten lassen sich diese zuletzt auch empirisch sinnvoll voneinander trennen (z. B. Klusmann, 2011).

Mentalisieren als Einflussfaktor auf pädagogische Professionalität 

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Motivationale Orientierungen

Überzeugungen/ Werthaltungen/ Ziele

Selbstregulation

Professionswissen

Abbildung 1: Kompetenzmodell nach COACTIV (vgl. Baumert u. Kunter, 2011, S. 32)

3 Ein Gedankenspiel – was uns die Psychotherapie über effektive Lernprozesse sagen kann Allen, Fonagy und Bateman (2011) betonen, dass »die Quintessenz der mentalisierungsfokussierten [synonym: mentalisierungsbasierten – Anmerkung des Autors] Therapie nicht in einer bestimmten Technik Ausdruck findet, sondern in einer charakteristischen Einstellung des Klinikers zum Prozess, die wir als mentalisierende Haltung bezeichnen« (S. 201). Diese spezifische Form der Haltung ist durch besonderen Respekt gegenüber der Eigenheit eines jeden Patienten gekennzeichnet sowie durch die Berücksichtigung eigener mentaler Zustände im therapeutischen Prozess (Euler u. Walter, 2018). Taubner (2015) betont in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit der Validierung des subjektiven Erlebens des Patienten als Grundlage für erfolgreiche Therapieverläufe: Indem die rigiden und verzerrten Wahrnehmungsmuster zunächst mentalisierend anerkannt und zum Gegenstand des therapeutischen Prozesses werden, kann eine Basis geschaffen werden, die es erlaubt, die pathogen verzerrten Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster durch Ergänzungen neuer Perspektiven explorierend aufzubrechen und zu bearbeiten. Tatsächlich sogar sei 56

Schwarzer

jener Haltung eine insgesamt größere Bedeutung zuzugestehen als therapieschulenspezifischen Techniken (Fonagy u. Allison, 2014; Fonagy et al., 2015), wie zuletzt Metaanalysen zur Effektivität psychotherapeutischer Interventionen zu erkennen geben (Leichsenring, Leibing, Kruse, New u. Leweke, 2011). Die größte Erklärungsmacht in der Vorhersage von Therapieverläufen verüben dabei nicht explizite Interventionsformen, sondern (erstens) die erlebte Qualität der Beziehung zwischen Patient und Therapeut, (zweitens) ein konsistenter Behandlungsrahmen und (drittens) Interventionen, die das Kompetenzerleben und die erlebte Handlungsfähigkeit der Patienten anregen (Castonguay, 2011; Wampold et al., 2011). Dabei kann unter Verweis auf Fonagy et al. (2015) eine zentrale Bedeutsamkeit der Fähigkeit des Therapeuten angenommen werden, das innerpsychische Erleben des Patienten als relevant und bedeutungsvoll – mentalisierend – anzuerkennen. Zur Verbesserung psychischer Gesundheit, zur Stärkung der Mentalisierungsfähigkeit und der Affektregulation bei psychisch Erkrankten erfordert es also das Vermögen der Psychotherapeutin, mentalisierend auf die Patienten einzugehen, »damit sich bei ihnen ein Reflexions- und Mentalisierungsvermögen und somit eine bessere Affektregulation etablieren kann« (Ramberg u. Gingelmaier, 2016, S. 93). Erst in der Folge können therapiespezifische Interventionen und explizite Techniken zielführend und adaptiv eingesetzt werden (Fonagy et al., 2015; Taubner, 2015; Euler u. Walter, 2018). Insbesondere die Erfahrung des Patienten, als Subjekt mit einer eigenständigen bedeutsamen mentalen Realität bedacht zu werden, veranlasst dabei ein Gefühl kausaler Selbstwirksamkeit und induziert in der Folge eine Wiederöffnung für soziale Lernprozesse (Fonagy et al., 2015; Bateman, Campbell, Luyten u. Fonagy, 2018). Diese Annahme scheint auch für die Arbeit im schulpädagogischen Feld von Bedeutung, wenngleich dort eine weitaus kognitivere Ausrichtung zugrunde liegt und dysfunktionale affektive Erlebensmuster, wie sie typisch für psychische Störungen sind, eine weniger dominante Rolle spielen. Auch die in Schule und Unterricht stattfindenden Lernprozesse, die zwar keine heilkundlichen Zielsetzungen fokussieren, können als sozial vermittelte Lernprozesse bezeichnet werden, die sich interaktionell und in Beziehungen im Unterrichtsgeschehen abspielen (Nolte, 2018; Gingelmaier u. Schwarzer, 2019). Analog zur Psychotherapie könnte der mentalisierenden Haltung pädagogischer Fachkräfte daher ebenfalls eine zentrale Bedeutung im Hinblick auf die zielführende Organisation effektiver Lernprozesse zugesprochen werden (Ramberg u. Gingelmaier, 2016). So sei »die eigene Haltung als Baustein professioneller Kompetenz« (S. 93) zu begreifen, die während der pädagogischen Tätigkeit von grundlegender Bedeutung ist. Durch (erstens) die Integration spezifischer Aspekte der menMentalisieren als Einflussfaktor auf pädagogische Professionalität 

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talisierenden Haltung in pädagogisches Handeln, (zweitens) die damit einhergehende Stärkung der Mentalisierungsfähigkeit bei Lernenden und (drittens) die sich simultan einstellende (Wieder-)Öffnung für soziale Lernprozesse aufseiten der Lernenden kann zusammengefasst werden, dass »sich viele […] Aspekte einer mentalisierenden Haltung finden, die uneingeschränkt auf das pädagogische Feld übertragbar sind« (Ramberg, 2018, S. 94) und so eine relevante Einflussgröße pädagogischer Professionalität darstellen könnten. Dies soll in einem nächsten Schritt auf abstrahierter Ebene modelliert werden.

4 Mentalisieren – Voraussetzung zur Organisation von effektiven Lernprozessen? Kunter und Trautwein (2013) betonen, »dass die Qualität von Unterricht daran festzumachen ist, inwieweit es Lehrkräften gelingt, den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu eröffnen, verständnisvolle Lernprozesse zu beginnen und aufrechtzuerhalten« (S. 19). Zur Beurteilung von Unterrichtsqualität ist es hierbei möglich, Unterricht auf verschiedenen Ebenen zu beschreiben, die vertiefend in Sicht- und Tiefenstrukturen differenziert werden können ­(Seidel, 2003; Helmke, 2014): Während Sichtstrukturen beobachtbare Techniken und Organisationsmerkmale von Unterricht wie Muster der Unterrichtsinszenierungen, methodisch-didaktische Umsetzungen oder institutionelle Rahmenbedingungen umfassen, beschreiben Tiefenstrukturen übergeordnete Merkmale des LehrLernprozesses auf nicht direkt beobachtbarer Ebene (Kunter u. Trautwein, 2013). Zu nennen sind hierbei Aspekte wie die Qualität der Auseinandersetzung der Lernenden mit einem Lerngegenstand oder die Art der Interaktion zwischen den am Lernprozess beteiligten Personen. Die empirische Unterrichtsforschung zeigt, dass (erstens) Sicht- und Tiefenstrukturen weitestgehend unabhängig voneinander variieren (z. B. Veenman, Kenter u. Post, 2000) sowie dass (zweitens) Sichtstrukturen zwar die Rahmung der Unterrichtsgestaltung vorgeben, den Tiefenstrukturen im Hinblick auf Lernzuwächse allerdings die größte Erklärungsmacht zukommt (z. B. Seidel u. Shavelson, 2007). So zeigt Hattie (2015) beispielhaft, dass konkrete Unterrichtsmethoden und -techniken wie »Freiarbeit« (d = .04), »innere Differenzierung« (d = .16), »Co-Teaching« (d = .19), der von der Lehrkraft gewählte Zuschnitt der genutzten Methoden (d = .19) oder die Größe der unterrichteten Klasse (d = .21) lediglich mit kleinen Effektstärken die Lernzuwächse der unterrichteten Lernenden beeinflussen. Tiefenstrukturelle Merkmale hingegen, die komplexere Phänomene wie die Qualität des Feedbacks (d = .73), die Klarheit der von der Lehrkraft ausgesprochenen Instruktion (d = .75) oder die 58

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Lehrer-Schüler-Beziehung (d = .72) umfassen, verüben weitaus deutlichere Einflüsse auf die Lernzuwächse der unterrichteten Schülerinnen und Schüler. Es ist daher anzunehmen, dass das Vermögen der Lehrkraft, sich das mentale Erleben der Lernenden im Unterricht vorstellen zu können und unterrichtliche Prozesse aufbauend daran abzustimmen, von maßgebender Bedeutung für erfolgreiche Lernprozesse ist und tiefenstrukturelle Merkmale von Unterricht förderlich beeinflusst. Vergleichbare Überlegungen liegen – bereits im vorangegangenen Teilkapitel dargestellt – für das psychotherapeutische Handlungsfeld vor. Integriert man in einem vertiefenden Schritt die Mentalisierungsfähigkeit der Fachkraft in das oben dargestellte Modell pädagogisch-professioneller Kompetenzen, erschließen sich inhaltliche Überschneidungen, die zu erkennen geben, dass die Mentalisierungsfähigkeit der Fachkraft im Hinblick auf alle der vier Kompetenzaspekte als Einflussfaktor beschrieben werden kann. Die erste Kompetenzfacette »Überzeugungen/Werthaltungen/Ziele« beschreibt »Vorstellungen, Annahmen und Meinungen der Lehrkräfte, die schulische oder unterrichtsbezogene Phänomene und Prozesse betreffen« (Kunter u. Trautwein, 2013, S. 151). Die hierbei wirksam werdenden subjektiven Erklärungsmuster sowie die grundsätzliche Haltung der Fachkraft profitieren erheblich von einer Denkweise, die sich als offen gegenüber anderen Psychen begreift und deren Existenz in Lernprozessen als gegenwärtig und einflussreich erachtet. Die Kompetenzfacetten »Motivationale Orientierungen« und »Selbstregulation« sind »zwei eng aufeinander bezogene Schwerpunkte« (Baumert u. Kunter, 2011, S. 42), die zur Gewährleistung und Überwachung der beruflichen Tätigkeit befähigen sowie wesentliche Merkmale von psychischer Funktionsfähigkeit darstellen (Baumert u. Kunter, 2011). Die hierbei nötige Fähigkeit, eigenes Erleben auf Grundlage mentaler Zustände in angemessener Weise reflektieren sowie die wechselseitige Abhängigkeit zwischen innen und außen bedenken zu können, erweist sich neuerlich als konstitutiver Aspekt je beider Kompetenzfacetten. Motivationale Erlebensaspekte (Kompetenzfacette »Motivationale Orientierungen«), so Kunter und Trautwein (2013), sind eng mit den Selbstwirksamkeitsüberzeugungen der pädagogischen Fachkraft assoziiert – »d. h. ihre Einschätzung, wie gut es ihnen gelingen kann, das Lernen und Verhalten ihrer Schülerinnen und Schüler zu unterstützen und zu fördern, und zwar auch bei vermeintlich schwierigen oder unmotivierten Schüler(inne)n« (S. 157). Eine Sensibilität für die Notwendigkeit einer angemessenen Form der Abstimmung im Kommunikationsverhalten sowie die Berücksichtigung der Intentionen der Lernenden erlauben hierbei relativ passgenaue Interventionen, was neuerlich die Fähigkeit der Fachkraft, intentionale mentale Zustände angemessen wahrnehmen zu können, als Einflussfaktor auf pädagogische Professionalität zu erkennen gibt. Die Fähigkeit Mentalisieren als Einflussfaktor auf pädagogische Professionalität 

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zur Selbstregulation (Kompetenzfacette »Selbstregulation«) als verantwortungsvoller Umgang mit persönlichen Ressourcen (Baumert u. Kunter, 2011) hingegen erfordert primär eine angemessene Form der Selbstwahrnehmung, in der eigenes Stress- und Beanspruchungserleben Berücksichtigung findet und die im mehrdimensionalen Konstruktverständnis der Mentalisierungsfähigkeit ebenfalls abgedeckt ist. Die vierte Kompetenzfacette »Professionswissen« schließlich setzt sich aus einer Reihe von Teilaspekten wie Fachwissen, fachdidaktisches Wissen, pädagogisch-­psychologisches Wissen oder Beratungswissen zusammen. Wenn auch nicht für alle Teilaspekte in gleichen Teilen relevant, dürfte auch hier die Mentalisierungsfähigkeit von Bedeutung sein. Das Wissen beispielsweise um die angemessene fachdidaktische Aufbereitung eines Lerngegenstandes erfordert eine möglichst adressatenabhängige Anpassung an die individuellen Lern-, Entwicklungs- und Wissensstände der Lernenden sowie eine ansprechende Darstellung, um Lernende kognitiv zu aktivieren. Auch an dieser Stelle also bedarf es einer möglichst zutreffenden mentalen Zuschreibung, sodass zusammenfassend je alle der vier Kompetenzfacetten durch eine das Mentale berücksichtigende Denkweise beeinflusst werden (Abbildung 2).

Motivationale Orientierungen Überzeugungen/ Werthaltungen/ Ziele

Selbstregulation Professionswissen

beeinflusst

Mentalisierungsfähigkeit

Abbildung 2: Mentalisierungsfähigkeit als Einflussfaktor auf professionelle pädagogische Kompetenz. Kompetenzmodell nach COACTIV (vgl. Baumert u. Kunter, 2011, S. 32)

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5 Limitationen Gleichermaßen allerdings gilt es, die konzeptionellen Überlegungen einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Die aufgezeigte Argumentation stützt sich auf Befunde der Psychotherapie- und empirischen Bildungs- und Unterrichtsforschung. Dass dabei die Mentalisierungsfähigkeit als relevante Einflussgröße pädagogischer Professionalität konzeptualisiert werden kann, scheint schlüssig – allerdings steht die empirische Bestätigung dieser Annahme bis heute aus. Folgerichtig handelt es sich bis zu dieser Stelle um eine theoretisch begründete Annahme, deren Prüfung die Aufgabe laufender und zukünftiger Forschungsprojekte sein wird. Erste Befunde eigener Untersuchungen bestätigen die Annahme, dass die Mentalisierungsfähigkeit pädagogischer Fachkräfte einen bedeutsamen Einfluss auf die Kompetenzfacette »Selbstregulation« verüben könnte. Die Mentalisierungsfähigkeit von über 500 angehenden und bereits berufstätigen pädagogischen Fachkräften offenbarte einen zum erfassten Stressund Beschwerdeerleben gegenläufigen protektiven Einfluss auf die Ausprägung der erlebten Handlungs- und Funktionsfähigkeit und vermittelte überdies den direkten Effekt partiell (Schwarzer, 2019). Zugleich zeigen sich Zusammenhänge zwischen Copingverhalten und Mentalisierungsfähigkeit (­ Schwarzer, Nolte, Fonagy u. Gingelmaier, in Begutachtung). Insbesondere negatives Copingverhalten scheint bei einem nichtklinischen Sample durch ausgewogenes Mentalisieren unterbunden zu werden. Inwieweit die Mentalisierungsfähigkeit pädagogischer Fachkräfte allerdings Einfluss auf die Kompetenzfacetten »Überzeugungen/Werthaltungen/Ziele«, »Motivationale Orientierungen« und »Professionswissen« verübt, wurde bis heute nicht untersucht. Noch immer begrenzen sich empirische Arbeiten stattdessen weitestgehend auf klinische Wirkungsbereiche, wie Badoud, Luyten, Fonseca-Pedrero, Eliez, Fonagy und Debbané (2015) kritisieren. Folgerichtig ist ein substanzieller Mangel an empirischen Arbeiten festzustellen, die die Bedeutsamkeit des Mentalisierungs­ konzepts für pädagogisches Handeln prüfen, sowie die dringende Notwendigkeit hervorzuheben, die im Manuskript aufgezeigte Annahme einer empirischen Prüfung zu unterziehen.

6 Schluss Aufbauend auf der oben dargestellten Relevanz der mentalisierenden Haltung der Therapierenden im psychotherapeutischen Setting kann eine grundlegende Bedeutsamkeit der mentalisierenden Haltung auch für das pädagogische Feld Mentalisieren als Einflussfaktor auf pädagogische Professionalität 

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angenommen werden. Dies konnte – analog zu den bereits oben berichteten Befunden der Psychotherapieforschung, die anzeigen, dass weniger therapiespezifische Techniken, sondern stattdessen übergeordnete Aspekte ausschlaggebend für die Wirksamkeit psychotherapeutischer Interventionen sind – unter Verweis auf Befunde aus der empirischen Bildungsforschung auch für das schulpädagogische Feld herausgearbeitet werden. Durch die Integration spezifischer Aspekte der mentalisierenden Haltung, der im therapeutischen Kontext eine substanzielle Bedeutung zugeschrieben wird, kommen Ramberg und Gingelmaier (2016) übereinstimmend zur Einsicht, dass »sich viele […] Aspekte einer mentalisierenden Haltung finden, die uneingeschränkt auf das pädagogische Feld übertragbar sind« (S. 94, s. a. Ramberg, 2018). Die mentalisierende Haltung gestatte der pädagogischen Fachkraft, so die Autoren weiter, angemessene und entwicklungsförderliche Reaktionen auf Äußerungen von Kindern und Jugendlichen. Jene Annahme deckt sich übereinstimmend mit Überlegungen von Fonagy und Allison (2014), die die katalytische Funktion einer ausgewogenen Mentalisierungsfähigkeit für den Wiedererwerb der Offenheit für soziale Lernprozesse im Rahmen psychotherapeutischer Prozesse explizieren. Hierbei sei die Mentalisierungsfähigkeit des Therapeuten die hinreichende Notwendigkeit, die es gestattet, die Subjektivität des Patienten anzuerkennen. Eben jenes Gefühl von Anerkennung und des Mentalisiert-Werdens ermöglicht es dem Patienten zusehends, Informationen in sozialen Zusammenhängen zu berücksichtigen und zu integrieren sowie selbst eine mentalisierende Haltung (wieder) einzunehmen: »Mentalizing is a common tool for achieving this sense of being individually responded to. Feeling understood […] restores trust in learning from social experience (epistemic trust) but at the same time also serves to regenerate a capacity for social understanding (mentalizing)« (Fonagy u. Allison, S. 378). Insgesamt untermauern jene Ausführungen die Bedeutsamkeit des Mentalisierens in psychotherapeutischen Maßnahmen sowie auch im Kontext pädagogischer Prozesse. Weniger einzelne Techniken scheinen spezifisch für pädagogische Professionalität zu sein, sondern ein Kompetenzspektrum, das sowohl kognitive wie auch emotional-affektive Aspekte integriert. Das Vermögen der Fachkraft, die mentale Realität der Lernenden als wirkmächtig anzuerkennen sowie deren Einfluss bei der Organisation von Lernprozessen zu berücksichtigen, scheint dabei ein wichtiger Einflussfaktor zu sein, wenngleich eine empirische Prüfung dieser Annahme dringend erforderlich ist.

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Mentalisieren als Einflussfaktor auf pädagogische Professionalität 

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Schwarzer

Mentalisieren in (pädagogischen) Organisationen Stephan Gingelmaier und Lorena Asseburg

In diesem Beitrag soll es erstens um die wechselseitigen Bedeutungen von (pädagogischen) Organisationen auf eine mentalisierungsbasierte Pädagogik gehen. Zweitens soll die Frage erörtert werden, wie (pädagogische) Organisationen so beraten werden können, dass sie sich zu »mentalisierenden Systemen« (Twemlow u. Fonagy, 2009) entwickeln können. Hierbei gilt es zum einen, einen Gedanken zu erörtern, der sich mit dem Einfluss der reinen Anwesenheit von mentalisierenden Objekten in Organisationen/Systemen und deren möglicherweise förderlichen Anstoß auf die Mentalisierung des Systems beschäftigt. Zum anderen wird die Einführung und mentalisierende Umwandlung eines organisationellen Formates – des Trainigsraumes – detailreich beschrieben. Zum Ende hin fasst der Beitrag die Erkenntnisse beider Herangehensweisen vor dem Hintergrund mentalisierender (pädagogischer) Organisationen zusammen. In this article, it should be first about the mutual meaning of (pedagogical) organizations in a mentalization-based pedagogy and second about the question of how (educational) organizations can be advised in such a way that they can develop into »mentalizing systems« (Twemlow & Fonagy, 2009). On the one hand, it is basic to follow a thought that deals with the influence of the pure presence of mentalizing objects in organizations/systems and their potentially beneficial impetus on the mentalization of the system. On the other hand, the introduction and mentalizing transformation of an organizational format – the training room – is described in great detail. In the end, the article summarizes the findings of both approaches against the background of mentalizing (pedagogical) organizations.

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Wie Gingelmaier (2018) herleitet, sind die Zusammenhänge zwischen Mentalisierungstheorie und Beratung sinnvoll und naheliegend. Die Anzahl der Arbeiten, die sich bisher mit diesem »Mischthema« beschäftigt, ist dafür nach wie vor insgesamt eher gering. Im deutschsprachigen Raum sind Goebel und Hinn (2016), Kotte und Taubner (2016), Gingelmaier (2018) sowie Gingelmaier und Schwarzer (2019) zu nennen. Der Frage nach mentalisierenden (pädagogischen) Organisationen und deren Beratung widmen sich insbesondere Twemlow und Fonagy (2009) sowie Döring (2013, 2019). Das AMBIT-Konzept (AMBIT = Adolescent mentalization-­ based integrative treatment, s. auch Beitrag von Dlugosch und Henter in diesem Band) bietet systemisch-mentalisierungsbasierte Beratungsangebote (­Bevington, Fuggle, Cracknell u. Fonagy, 2017) und bindet eine organisationelle Ebene mit ein (Rudhra, 2015). Für den klinischen Bereich ist in diesem Zusammenhang die Arbeit von Hutsebaut, Dawn, Bales, Busschbach, und Verheul (2012) zu erwähnen. Grundlegend für die Überlegungen in diesem Kapitel hinsichtlich der Frage nach mentalisierungsfördernder Beratung von Organisationen ist eine aus dem pädagogischen und präventiven Bereich stammende Studie von Twemlow, Sacco, Fonagy, Vernberg und Malcom aus dem Jahr 2011. Die Autoren beschreiben darin einen sogenannten Trickle-down-Effekt (Twemlow et al., 2011), der als wichtiger Ansatzpunkt für die Transmission von gelernten Inhalten in Organisationen/Systemen verstanden werden kann. Die Studie legt die Implementierung und Evaluation eines auf der Mentalisierungstheorie fußenden präventiven Ansatzes bzw. Programms dar, das Gewalt und Vorurteilen in einer jamaikanischen Schule entgegenwirken sollte. Die Studie untersuchte über einen Zeitraum von insgesamt drei Jahren den Effekt dieses Programms in einer sogenannten All-Age-Schule, in der es zuvor zu vielen gewaltsamen Vorfällen der Schüler untereinander gekommen war (Twemlow et al., 2011). Das Programm bestand aus zwei Mitarbeitern, die als Rollenmodelle dienten und im Zuge eines Mentorenprogramms, bei dem ältere Kinder die Patenschaft für jüngere Kinder aus der Schule übernahmen, reflexive Aufgabengestaltung und den reflexiven Umgang miteinander förderten (Twemlow et al., 2011). Die Ergebnisse zeigten nicht nur eine hohe Verbesserung der schulischen Leistungen, geringere Mobbing-Vorkommnisse und einen geringeren Waffenbesitz bei den Kindern, die an dem Programm teilgenommen hatten, sondern erstaunlicherweise ebenso einen positiven Effekt in der gesamten Schule und im gesamten Umfeld. Diesen Effekt nannten die Autoren den Trickle-down-Effekt. Eine explizite Teilnahme jedes Schülers war demnach nicht erforderlich, um einen positiven und ausschlaggebenden Gesamteffekt erzielen zu können. 66

Gingelmaier / Asseburg

Dies kann als Bestätigung der Annahme gesehen werden, dass die Mentalisierungsfähigkeit einen interaktionalen Prozess darstellt, der einen Einfluss auf die zwischenmenschlichen Beziehungen nehmen kann und die Anwesenheit mentalisierender Objekte bzw. Personen, die reflektierende Impulse internalisieren und wiedergeben, einen weitreichenden Einfluss auf die gesamte Organisation haben kann, sogar, wenn nicht alle Mitglieder des Systems expliziert trainiert wurden. Dies könnte bedeuten, dass Organisationen dahingehend beraten werden könnten, mindestens eine, idealerweise zwei mentalisierende Bezugspersonen auszubilden, um bereits einen mentalisierungsfördernden Effekt für das gesamte System erzielen zu können. Hinsichtlich der Entstehung der Mentalisierungsfähigkeit ist bekannt, dass diese in einem engen interaktionalen Prozess zwischen meist primärer Bezugsperson und dem Kind entsteht, wobei die Bindung, die Mentalisierungs­ fähigkeit und die Feinfühligkeit der Bezugsperson eine bedeutende Rolle einnimmt (Fonagy, Steele u. Steele, 1991). Wenn also die eigene Fähigkeit, Affekte angemessen aufzunehmen, zu »verdauen«/verstehen und rückzumelden, einen bedeutsamen Faktor darstellt, ist dies zudem auf einer nonverbalen/impliziten Ebene hoch relevant und ebenso auf den Bereich pädagogischer Bezugspersonen übertragbar. Gelingt es pädagogischen Bezugspersonen, eine reflexive Haltung anzunehmen und zu verinnerlichen, kann dies möglicherweise eine Neugierde und Bereitschaft im Gegenüber auslösen, selbst reflektieren zu wollen, und einen ausstrahlenden Effekt auf die gesamte Organisation mit sich bringen.

1  Zur Reflexivität von frühpädagogischem Fachpersonal Erfahrungen aus den Interviews zur Erhebung der Reflexivität von frühpäda­ gogischem Fachpersonal (Hartmann, jetzt Asseburg, 2015) geben Anlass zur Annahme, dass bereits schon Fragen, die auf das Mentalisieren abzielen, erhöhtes Mentalisieren induzieren können. Asseburg (ehm. Hartmann) führte Interviews zur Erfassung der Reflexivität mit Erzieherinnen in städtischen Kindertagesstätten, mit dem Fokus auf das alltägliche Arbeiten mit ihren jeweiligen Bezugskindern. Die dafür verwendeten Fragen im Interview (IPR; Interview für Pädagogen zur Erfassung der Reflexivität, Asseburg, ehm. Hartmann, 2015) wurden speziell für diesen Zweck zusammengestellt und beinhalteten sowohl Fragen aus dem »Adult Attachment Interview« (AAI; Main, George u. Kaplan, 1985) als auch aus dem »Parent Development Interview« (PDI; Slade, 2005) sowie neue spezifisch auf den pädagogischen Bereich angepasste »Demand«-Fragen, die gleichzeitig in einem zeitlichen Rahmen von etwa einer halben Stunde durchMentalisieren in (pädagogischen) Organisationen

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geführt werden konnten, um den praktischen Ansprüchen im Ablauf des Kitabetriebs gerecht werden zu können. Wie sich zeigte, entstanden während des Interviewprozesses zunehmend weiterführende und reflektierende Fragen aufseiten der Erzieher. So waren Bemerkungen wie »So habe ich noch nie darüber nachgedacht, das ist ja interessant« oder »… wenn Sie mich das so fragen, dann fällt mir noch viel mehr darüber ein, und es entstehen neue Fragen in mir, warum sich das Kind so verhalten haben könnte« oder: »Ich erlebe es als Wertschätzung, dass Sie hier herkommen und sich für meine Arbeit mit den Kindern interessieren und etwas darü­ ber wissen möchten, was ich über sie denke« und »Alleine, dass ich wusste, Sie würden heute kommen und mich interviewen, hat mich schon im Vorfeld zum Nachdenken angeregt« keine Seltenheit. Dies brachte die Untersucherin dazu, darüber nachzudenken, ob nicht sogar möglicherweise allein die Fragen, die zur Erfassung der Reflexivität dienen, einen möglichen Einfluss auf die Aktivierung und Förderung der Mentalisierungsfähigkeit haben könnten. Es wäre folgerichtig, herauszufinden, ob pädagogische Fachkräfte nach dem Interview, angeregt durch die Fragen und durch die Anwesenheit eines neugierig mentalisierenden Objekts dasselbe Interview beim zweiten Mal mit höheren Reflexivitätswerten beenden würden. Dies eröffnet einen neuen Denkraum für weitere Forschungsprojekte. Diesen dargelegten Gedanken folgend, könnte ein M ­ entalisierungsprozess demnach angestoßen werden, indem ein (externes) Objekt Anlass zur Auseinandersetzung mit reflexiven Fragen gibt. Die erhöhte Mentalisierungs­ bereitschaft nach dem Interview und die daraus erlangte Erfahrung wird in internalisierter Form durch die einzelnen pädagogischen Fachkräfte in den Alltag der Organisation hineingetragen und beispielsweise mit Mitarbeitenden diskutiert, wodurch ein weiterer reflektierender Prozess angestoßen werden kann. Berücksichtigt man Erfahrungen aus der Säuglingsbeobachtung, überraschen diese Ergebnisse kaum, so wird doch davon ausgegangen, dass auf einer (nonverbalen) Ebene durch das Beobachten und das Reflektieren (Mentalisieren) einer dritten (triangulierenden) Person neue Verstehensmöglichkeiten erlangt werden können, die wiederum durch die bloße Anwesenheit des Beobachters in das »Familiensystem« zurückgegeben werden können (Blick, 2006). Es gilt demnach möglicherweise, nicht bloß das explizite Wissen mittels mentalisierungsbasierter Programme in Organisationen zu fördern und zu schulen, sondern auch Raum und Zeit für die Integration und Transmission der gelernten Inhalte von einzelnen Personen wirken und sich entfalten zu lassen, wobei die triangulierende Funktion (zwischen mentalisierendem Objekt, Kindern und dem System) hervorzuheben wäre. Hierbei wäre eine kontinuierliche 68

Gingelmaier / Asseburg

Weiterbildung/Mentalisierungsförderung dieser Personen (einzelner mentalisierender Objekte) durch adäquate Programme hoch wünschenswert, ebenso wie der Faktor Zeit, um reflexive Inhalte in sich wirken lassen zu können, um einen positiven Einfluss auf das System gewährleisten zu können.

2 Organisationelles Fallbeispiel: Eine Schule etabliert einen Mentalisierungsfreiraum Anhand eines ausführlichen Fallbeispiels wird nun die zuvor genannte Anwen­ dung von mentalisierenden Elementen auf eine pädagogische Organisation, in diesem Fall eine Schule, beschrieben. 2.1  Die Ausgangssituation an der Schule Das Fallbeispiel entstammt Stephan Gingelmaiers Beratungspraxis an und mit Schulen, Schülerinnen und Schülern sowie deren Eltern: Einige Monate, nachdem der Trainingsraum an der zu beschreibenden Schule eingeführt war, wurde ich als externer Organisationsberater hinzugezogen. Ich sammelte die dargestellten Informationen über die Dynamiken der Organisation durch teilnehmende Beobachtung, interviewförmige Gespräche und Interpretationen, die mit den Lehrkräften und der Schulleitung in Beratungsgesprächen entstanden. Es handelt sich hierbei um eine große Förderschule im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung (ehemals Verhaltensgestörtenpädagogik) mit ca. 130 Schülerinnen und Schülern bei ca. 40 Lehrenden (darunter viele Lehrerinnen in Teilzeit). Diese Schule erhielt ein neues Schulleitungsteam: Eine Rektorin und einen Konrektor, wobei die Rektorin von außen, der Konrektor aus dem Kreis der Kollegen auf die jeweilige Stelle berufen wurde. Die Schülerschaft stellte sich als für diese Schulform typisch dar. Die große Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler entstammte aus psychosozial und ökonomisch (hoch) belasteten Multiproblemfamilien. Besonders sichtbar wird dies an Quantität und Qualität von Beziehungstraumata und desorganisierten Bindungstypen, wie Julius (2009) in einer Studie für eine gleichartige Stichprobe belegt. Der alte Schulleiter hatte die Schule über ein Jahrzehnt bis zu seinem Ruhestand geleitet. Der Schulbetrieb funktionierte in den ersten Jahren seiner Amtsausübung für eine Schule dieser Schulart im Wesentlichen gut, für die letzten Jahre brachte er dieser sehr komplexen Aufgabe nicht mehr das erforderliche Engagement entgegen. Einen Konrektor gab es nicht. Nun war die Stelle über ein Jahr vakant geweMentalisieren in (pädagogischen) Organisationen

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sen. Die Führung war provisorisch vom mehrköpfigen Schulleitungsteam, das sich zwangsverpflichtet, »verheizt« und überfordert fühlte, lediglich verwaltet worden. Diese Veränderungen lassen sich als ein Zustand der zunehmenden Haltlosigkeit beschreiben. Haltlos, weil sich weder die Schule als Organisation, die Lehrkräfte – wie die Schülerschaft – als System noch die individuellen Schülerinnen und Schüler ausreichend gehalten fühlten. Das gesamte Schulleben wurde schnell zu einem Spiegel dieser systemischen Gesamtsituation. Viele der Kollegen wirkten mürrisch und lustlos, der Krankenstand war für ein eher junges Kollegium auffällig hoch; die vielen Schwangerschaften unter den Kolleginnen wurden von der neuen Schul­ leitung auch damit in Verbindung gebracht. Das zuvor adrett gestaltete und den unterschiedlichen Altersstrukturen der Kinder und Jugendlichen entsprechende Schulhaus wirkte zusehends lieblos, erste unerledigte Handwerkerarbeiten konturierten das Bild. Am eindrücklichsten war diesbezüglich aber die Schülerschaft. Die Erstklässler dieser Sonderschule waren völlig außer Rand und Band. Nichts schien diese Gruppe davon überzeugen zu können, sich in das regelhafte System von Schule sozialisieren zu lassen. In der Hauptstufe, in der Jugendliche bis zur zehnten Klasse waren, äußerte sich dies entsprechend heftiger. Unterricht war aufgrund massiver Störungen in manchen Klassen fast nicht mehr möglich. Zwischen den Schülerinnen und Schülern gab es in den Pausen Schlägereien. Sie kamen unter Einfluss von psychoaktiven Sub­ stanzen in den Unterricht. Mit manchen der Substanzen wurde wohl vor Ort auch gedealt. Mobbing war an der Tagesordnung, und einige Mädchen berichteten von sexualisierten Übergriffen durch Mitschüler auf dem Schulweg. Insgesamt begannen sich bei den älteren Schülerinnen und Schülern bandenartige Strukturen zu etablieren. In einem hierarchischen, verschwiegenen Netz knüpften sie eine Art unsichtbare »mafiös-mächtige« Parallelorganisation. Bei vielen Lehrkräften wandelte sich diese Ohnmacht entweder in einen lähmenden Fatalismus oder in gehässig-destruktive Formen des Umgangs mit den Kollegen und dem (alten) Schulleiter. Insbesondere kam es aber immer häufiger zu physischen Auseinandersetzungen zwischen pädagogischen Fachkräften und Schülerinnen und Schülern. Es schien fast so zu sein, dass die Professionellen den Lernenden in ihrer Brutalität nicht nachstehen durften. Eine Kultur der gegenseitigen Respektlosigkeit, des Misstrauens und der Gewalt zwischen allen am Schulleben Beteiligten drohte sich Bahn zu brechen. Die neue Schulleitung trat mit dem gut nachvollziehbaren Vorsatz an, diese Situation zu verändern. Das Problem der Schule wurde vor allem in einem Mangel an Strukturen gesehen, d. h., Führung sollte primär durch Strukturen umgesetzt werden. Unmittelbare Führung durch Menschen im Sinne von Rosenstiels (von Rosenstiel, 2014), z. B. mittels eines transparenteren Führungsstils, wurde zunächst 70

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weniger berücksichtigt. Ein wichtiges Instrument, in das vonseiten der neuen Schulleitung viel Hoffnung gesetzt wurde, stellte die Einführung eines Trainingsraumes für Schülerinnen und Schüler von der siebten bis zur zehnten Klasse dar.

Im Weiteren erfolgen eine kurze theoretische Darstellung der Grundannahmen und Umsetzungen der Trainingsraummethode. Kasuistisch werden deren praktische Schwierigkeiten in Verbindung mit mangelnder Mentalisierungsförderung in Organisationen gebracht. 2.2  Die Trainingsraummethode Die Trainingsraummethode wird in Deutschland vor allem mit den Namen Balke, Bründel und/oder Simon in Verbindung gebracht. Sie hat mittlerweile gerade an sogenannten Brennpunktschulen eine hohe Verbreitung gefunden. Aufbauend auf der Wahrnehmungskontrolltheorie nach Powers (1988) wird davon ausgegangen, dass Menschen sich stets gerichtet aus einer Anzahl von Handlungsalternativen entscheiden, um ihre Ziele zu erreichen. Der Prozess erfolgt intuitiv oder »mehr oder weniger« bewusst (Bründel, o. J., S. 12). Schulische Störungen von Schülerinnen und Schülern entstehen nach dieser Theorie dadurch, dass die Wahrnehmungen sozialer Situationen nicht mit ihren Wünschen übereinstimmen. Demnach handeln Schülerinnen und Schüler nicht einfach ziellos, ihr Verhalten zielt auf einen Nutzen bzw. Gewinn ab. Verhaltensänderungen können deswegen über drei Zugänge erzielt werden: entweder Veränderung des Nutzens (wie kann der Nutzen so verändert werden, dass für den Schüler die Verhaltensänderung eine Option wird?), Veränderung der Einstellung zum Gewinn (wie kann die Einstellung zum Gewinn durch eine Verhaltensänderung für den Schüler oder die Schülerin attraktiv werden?) oder durch das Stärken der Eigenverantwortung, d. h. über das Antizipieren der Konsequenzen für das Fehlverhalten. Da es unrealistisch sei, mit Schülerinnen und Schülern innerhalb des Klassenraums über ihr Störverhalten zu sprechen, und sie dort keinesfalls die Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen würden, braucht es nach dieser Idee einen Trainingsraum: »Lehrer dürfen sich bei Störungen nicht in Diskussionen verwickeln lassen, sondern sollten konsequent handeln« (Bründel, o. J., S. 13).

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2.3 Mentalisierungsbasierte Kritik am Trainingsraummodell: Die Notwendigkeit zur Veränderung Die neue Schulleitung hatte ein realistisches Bild von der Komplexität ihrer Gesamtaufgabe. Sie war bereits manche Schwierigkeit angegangen und hatte darüber kleinere Etappensiege errungen, sich die Organisationsführung (wieder) anzueignen. Die Einschätzung der neuen Schulleitung über den Erfolg des neuen Angebots aber war enttäuschend. Neben Versuchen, z. B. einen transparenteren Führungsstil oder einen verbesserten Kommunikationsfluss zu etablieren, war der Trainingsraum als eine für die Organisation entlastende Maßnahme im Umgang mit der sich ausbreitenden Unzufriedenheit, vor allem aber der Gewalt, gedacht gewesen. In der folgenden Besprechung stellte ich der Schulleitung einige wesentliche Bestandteile aus Mentalisierungstheorie (s. dazu Kapitel 1, 2, 3 dieses Buchs) und Traumapädagogik vor. Insbesondere setzten diese an kritischen Aspekten aus der Theorie des Trainingsraumes an.

Auf den Punkt gebracht geht es beim Trainingsraum um Reaktion statt Reflexion: Ȥ Die Bedeutung von Beziehungen als Trägerin der Entwicklung im päda­ gogischen Prozess (Gingelmaier, 2016) erhält in den technokratischen Ab­­ handlungen über den Trainingsraum keinerlei Würdigung. Es ist im Gegensatz dazu sogar festzustellen, dass die Wirkungen von kompensierenden Beziehungserfahrungen zumindest bei störendem Verhalten der Schüler oder Schülerinnen ausgeschlossen werden sollen. Ȥ Es gibt keinerlei Idee davon, was das – wohlgemerkt allein subjektiv – von der pädagogischen Fachkraft als störend empfundene Verhalten aktuell-situativ, aber auch biografisch bedingt. Genauso wenig wie eine Idee vom Zustandekommen des Schülerverhaltens und seiner mentalen Zustände entwickelt wird, werden die Affekte der Schülerinnen und Schüler einbezogen. Damit geht es um ein Erlernen von Verhaltensweisen, nicht aber um die Regulation zugrunde liegender Emotionen. Ȥ Daran anknüpfend bleiben Rolle und Bedeutung der Lehrkraft am Zustandekommen eines Konflikts völlig unberücksichtigt. Die Annahme, dass Konflikte allein einer Person zugeschrieben werden, ist intersubjektiv unhaltbar (Simon, 2010). Lehrkräfte gehen nicht als unbeschriebene Blätter in Interaktionen mit Schülerinnen und Schülern. Auch sie haben vulnerable Themen und können unter Stress geraten, sodass Mentalisieren unmöglich wird. Gerade aber Lehrkräfte, die mit psychosozial belasteten bzw. traumatisierten Schülerinnen und Schülern arbeiten, brauchen, um adäquat und förder72

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lich auch in schwierigen Alltagsinteraktionen bleiben zu können, Erfahrung und Zugang zu ihrem eigenen und zu fremdem Beziehungserleben und -verhalten z. B. zur Bedeutung des Mentalisierens, von Bindungsmustern, von Übertragung und Gegenübertragung und von Abwehrmechanismen. Ȥ Kautter (2003) spricht davon, wie wichtig es ist, das Thema des Kindes zu erkennen. Ahrbeck (2008) beschreibt, dass auffälliges Verhalten für Kinder und Jugendliche einen idiosynkratischen Sinn ergibt und dass die häufig zugrunde liegenden unerfüllten Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen genau dieses als einzig produktiven und gesunden Umgang erscheinen lassen – gerade daraus resultiert störendes und auffälliges Verhalten. Verhalten muss verstanden und gelesen werden, um Zugang dazu zu finden. Ȥ Aus traumatheoretischer Sicht fasst Hirsch (2011) für familiäre Traumata zusammen: »Traumatisierende Gewalt kann man nicht denken, sie ist sozusagen im Vertrag über das menschliche Zusammenleben nicht vorgesehen, das symbolisierende Denken ist ausgeschaltet. Das betrifft sowohl das Gewaltgeschehen selbst als auch Bereiche der zwischenmenschlichen Beziehungen nach der Traumatisierung. Das Trauma beeinträchtigt oder vernichtet weitgehend die Symbolisierungsfähigkeit der Opfer, ihr Denken ist eingeschränkt, die Fantasiefähigkeit ebenso wie das affektive Erleben« (S. 45). Dies bedeutet, dass der auf vertraglichen Aushandlungen beruhende, stark kognitive Ansatz des Trainingsraums zu kurz greift. Darüber hinaus birgt der unempathische Umgang mit den Schülerinnen und Schülern in der kalten Abfertigung durch Leitfäden und Verträge ein gewisses Potenzial der Verfestigung des Traumas. Die Konfliktsituation wird von den meisten Schülerinnen und Schülern sicherlich als Disstress empfunden, der eine Aktivierung des Bindungssystems auslösen kann. Dem gegenüber steht eine Wiederholung des Erlebens einer versagenden und strafenden Umwelt. Die Schulleitung interpretierte die Dinge nun vor dem Hintergrund der beschriebenen kritischen Aspekte so: Die Schülerinnen und Schüler, die in den Trainingsraum »rausflogen«, fühlten sich bestraft und explizit der Möglichkeit beraubt, Themen und Dinge mit denjenigen in einem pädagogischen Gespräch zu klären, mit denen sich der Konflikt entzündet hatte. Was sich aber in Gesprächen zwischen der Schulleitung und Trainingsraumbesuchenden zeigte, war, dass die Schülerinnen und Schüler ein Angebot zum »Runterkommen« und zum »Quatschen, nachdem es ›Stress‹ gegeben hatte«, guthießen. Sie konnten in ihren Worten benennen, dass sie frustriert darüber waren, dass man sich nicht mit ihnen auseinandersetzen wollte. Stattdessen kamen sie sich durch die Trainingsraummethode »abgefertigt« statt verstanden vor. Mentalisieren in (pädagogischen) Organisationen

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So ergab sich die Idee eines freundlichen, aufnehmenden Raumes, der im Konfliktfall am besten freiwillig aufgesucht werden könnte. In diesem sollte es die Möglichkeit geben, die eigenen Bedürfnisse zu bemerken (z. B. Ruhe und Runterkommen mit Musik aus dem eigenen Handy, in Ruhe arbeiten, für die eigene Geschichte Gehör finden oder sich z. B. am Boxsack auspowern) und Zusammenhänge zwischen den Verhaltensweisen, den darunter liegenden mentalen Zuständen und ihren Funktionen interpretieren zu lernen. Der Trainingsraum wurde passend zu seiner neuen Ausrichtung umfirmiert. Statt eines technizistischen Verhaltens­trainings sollten die Jugendlichen einen Freiraum, so der neue Name, zum Verstehen von inneren und äußeren Dynamiken vorfinden, also einen realen, äußeren Raum, der den Rahmen für identitätsrelevante Austauschprozesse (Straus u. Höfer, 1997) zwischen innen und außen anbot. Je nach Anlass konnte der Raum nun aus unterschiedlichen Motiven aufgesucht werden. Durch verschiedenfarbige Karten symbolisiert, gab es für die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, im Konfliktfall selbst dorthin zu gehen, dort ungestört an etwas zu arbeiten oder im »Notfall« von der Lehrkraft dorthin geschickt zu werden. Eine klare Priorität lag aber darauf, dass die Schülerinnen und Schüler ein Gespür dafür entwickeln sollten, wann es für sie besser wäre, aus einer Situation hinauszugehen. Darin sollten die Lehrkräfte die Schülerinnen und Schüler unterstützen. Der starre und rigide Ablaufplan, in dem die Schülerinnen und Schüler sich durchgeschleust fühlten, wurde zugunsten eines individuellen mentalisierungs­ fördernden Settings aufgebrochen. Anstatt der achten Weisung des Leitfadens für das Vorgehen im Trainingsraum »Gesprächsthema ist einzig und allein das Verhalten der betreffenden Schülerin/des betreffenden Schülers« (Balke, 2003) sollen die Schülerinnen und Schüler anfangen, soziale Zusammenhänge von Konflikten und ihre mentalen Zustände bei sich und anderen zu verbalisieren und zu verstehen. Die neuen Bedingungen wurden in einer Schülerversammlung vorgestellt. Das Ziel einer gelingenden Rückführung in den Klassenraum blieb bestehen, allerdings nicht mehr durch ein formales Schuldeingeständnis der Schülerinnen und Schüler, sondern über behutsame Verstehensprozesse eigener und fremder Anteile am Entstehen von dysfunktionalen Dynamiken. Eine Vorbereitung für ein produktives Gespräch vor Ort mit den ursprünglich beteiligten Personen (Schülerinnen und Schülern sowie Lehrenden) sollte das Ziel sein. Eine nicht aufzulösende Schwierigkeit auf der Organisationsebene blieb, dass die zum Konflikt gehörenden Lehrkräfte im Freiraum nicht verfügbar waren. Die Unausgewogenheit der von Pongartz (2010) angesprochenen Machtverteilung wurde in diesem Fall allerdings als eine gesellschaftliche Realität gesehen, an die die Jugendlichen sich annähern und an der sie sich teilweise auch abarbeiten sollten. Zeitgleich entschied sich die Schulleitung, dass es zur Verbesserung der 74

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Reflexionsfähigkeit der Lehrenden ein Supervisionsangebot geben sollte. Dieses war freiwillig, und die Schulleitung verstand es so, dass das Angebot vor allem von den Lehrkräften am wenigsten nachgefragt wurde, die wohl die meisten Probleme mit Selbstreflexion und Mentalisierung hatten und so zum Beispiel noch immer Schülerinnen und Schüler zwangsweise in den Freiraum schickten. Auch Personalgespräche der Schulleitung zeigten hierbei wenig Erfolg, das Interesse an Selbstreflexion war auch hier nicht zu »verordnen«. Nichtsdestoweniger stellte sich eine erhebliche Veränderung im Schulleben ein. Durch die Möglichkeit, den Raum im Modus bedürfnisorientierter Freiwilligkeit aufzusuchen, erlangte er eine ganz andere Akzeptanz bei den Schülerinnen und Schülern und bei den meisten Lehrenden. Das Verhältnis von zwangsverpflichteten zu selbst gewählten Besuchen veränderte sich in kürzester Zeit massiv. Das Entscheidende dabei war, so berichteten die zuständigen Lehrkräfte, dass sich die Gewalt im Bereich der älteren Schülerinnen und Schüler allmählich entschärfte. Konkret sichtbar wurde dies z. B. daran, dass während der Unterrichtszeit so gut wie keine Schülerinnen und Schüler mehr auf den Schulgängen »herumlungerten«. Die Möglichkeit, verstehen zu können, und die neue, ausgewogenere Kombination aus Führung durch Strukturen und Führung durch Menschen (von Rosenstiel, 2014) trugen dazu bei, wie auch Twemlow und Fonagy (2009) beschreiben, dass die Atmosphäre der Organisation sich dahin veränderte, dass Konflikte immer häufiger als soziales Lernfeld (mit durchaus explosivem Charakter) genutzt werden konnten.

3 Fazit Anhand der einführenden theoretischen Bemerkungen, der Erfahrungen des Interviews im frühpädagogischen Bereich und des ausführlichen Fallbeispiels wurde gezeigt, wie Mentalisierungstheorie auf eine pädagogische Organisation angewendet werden kann. Insbesondere das schulische Fallbeispiel illustriert außerdem, wie eine Organisation durch ein strukturelles Angebot allmähliche Veränderungen in der dyadischen, triadischen und polyadischen Kommunikationsstruktur aller Beteiligter erzielen kann. Es gilt, dass eine reine Beschränkung auf einen technisch-­behavioralen Zugang zwischen den Schülerinnen und Schülern und den Lehrenden nicht den erwünschten Erfolg erbrachte. Erst der Einbezug von einfachen beziehungsbewussten, traumasensiblen, reflexiven und mentalisierungsförderlichen Elementen ließ die Organisationsdynamik in Sinne eines »Lern- und Lebensraums Schule« für alle Beteiligten funktionaler werden. Mentalisieren in (pädagogischen) Organisationen

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Mentalisieren in (pädagogischen) Organisationen

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Muss Strafe sein? Über einen mentalisierenden Umgang mit Konflikten und Grenzverletzungen in der Pädagogik Stephan Gingelmaier und Holger Kirsch

Ausgehend von der Annahme, dass Konflikte in der Sozial-, Sonder- oder Schulpädagogik alltäglich sind und leicht eskalieren können, wird die Per­ spektive der beteiligten Kinder oder Jugendlichen betont. Dabei wendet sich der Blick vom Verhalten weg, hin zu den Motiven und Beweggründen. Die Reflexion der inneren Zustände der Beteiligten, ihres Erlebens und ihrer oft unbewussten Motive kann zu neuen Antworten auf die Frage führen: »Muss Strafe bei Regelverstößen, Grenzverletzungen und Konflikten sein?« Es werden drei Konflikttypen unterschieden und systematisiert. Entwicklungskonflikte, stressbedingte »heiße« Konflikte und »kalte« Konflikte entstehen aus verschiedenen Beweggründen und erfordern unterschiedliche Interventionsstrategien. Mentalisierungsfördernde Interventionen werden beispielhaft ausgearbeitet und begründet. Based on the assumption that conflicts in social, special or school pedagogy are commonplace and can easily escalate, the perspective of the children or young people involved is emphasized. The view turns away from behavior towards motives and mental states. Reflecting on the inner state of the participants, their experience and their often unconscious motives can lead to new answers to the question: »Is punishment necessary for violations of rules, violations of borders and conflicts?« Three types of conflict are systematized. Developmental conflicts, stressrelated »hot« conflicts and »cold« conflicts arise for various reasons and require different intervention strategies. Interventions promoting mentalization are worked out and justified in an exemplary manner.

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Die Frage »Muss Strafe sein?« beschäftigt die Pädagogik bereits sehr lange, und abhängig von Menschenbild, Erziehungsidealen und historisch-gesellschaftlichem Kontext wurden unterschiedliche Antworten bereitgestellt. Dabei stehen meist einer oder mehrere der folgenden Aspekte im Vordergrund: Genugtuung oder Wiedergutmachung, die Durchsetzung von Absichten und Machtverhältnissen, eine Verhaltensänderung und Einsicht oder moralische Erziehung. Die Perspektive des Kindes wird dabei oft übersehen. Die Berücksichtigung der Voraussetzungen, Motive, Ängste etc. beim Kind oder Jugendlichen führt zu einer mentalisierenden Grundhaltung und kann in der Praxis zu anderen Interventionsstrategien leiten. Straffrei heißt dabei nicht regelfrei, die Frage ist nicht, ob Kinder Regeln brauchen, sondern wie wir sie besser verstehen und entwicklungsfördernd eingreifen können. Im Alltag pädagogischer Institutionen bemerkt man häufig, dass pädagogische Fachkräfte Strafen entweder als letztes unspezifisches Mittel (sozusagen als »Notwehr« im Sinne einer unbewussten Gegenübertragungsreaktion) oder als vermeintlich transparente Eskalation einsetzen, um Konflikte und Grenzverletzungen zwischen den Fachkräften und den jungen Menschen bzw. innerhalb deren Peergruppe zu lösen. Das Problem bei derart verstandenen Strafen ist, dass dabei oftmals der Entwicklungsfaktor als wichtigstes pädagogisches Ziel verloren geht. Das heißt, Strafen werden nur noch selbstreferenziell in Zusammenhang mit der »Tat« gesehen, die pädagogische Aufgabe einer psychosozialen Entwicklungsförderung und Bildung (bei allen Beteiligten) tritt leicht in den Hintergrund (Gingelmaier, 2018). Dabei sind Konflikte gerade im Bereich pädagogischer Organisationen etwas Alltägliches, also quasi konstitutiv für die pädagogische Form (Hakanen, Bakker u. Schaufeli, 2006; Tsouloupas, Carson, Matthews, Grawitch u. Barber, 2010; Focali, 2011). Aufgrund der emotionalen Intensität von Konflikten können sie, sowohl bei den pädagogischen Fachkräften wie auch bei den Kindern und Jugendlichen, ernst zu nehmende psychosoziale bzw. psychosomatische Folgen auslösen oder auch deren Folge sein (Unterbrink et al., 2008; Aktionsrat Bildung, 2014), insbesondere wenn sie dauerhaft nicht mentalisiert, d. h. nicht reflektiert und verarbeitet werden können. In seiner Entwicklungstheorie über den Lebenslauf war es Erik H. Erikson (1973), der in einem Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung auf die Bedeutung der Lösung von phasenspezifischen Entwicklungskonflikten verwies. Später wurden weitere Definitionen und Unterscheidungen entwickelt, je nach gewählter Perspektive (Konflikttheorie, Konfliktpsychologie, Konfliktmanagement) unterscheiden sie sich erheblich (z. B. Lehr, 1965; Brühlmeier, 1994; OPD-K-J-2, 2013; Schwarz, 2014, Ermann, 2016). Muss Strafe sein?

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Marx (2012) stellt für die Frühpädagogik fest: »Konflikte sind ein Motor, um soziales Verhalten zu lernen« (S. 1). Aus mentalisierungstheoretischer Sicht ist dieser hoffnungsvollen Aussage auf der einen Seite sicherlich zuzustimmen, auf der anderen Seite verlangt eine mentalisierungspädagogische Konflikttheorie weitere spezifische Unterscheidungen, um das Potenzial von Konflikten tatsächlich als »Entwicklungsmotor« nutzen zu können. Es gilt in diesem Beitrag auszuloten, ob im Konfliktfall »Strafe sein muss« und ob sie als pädagogisches Erziehungsmittel zum Zwecke der Entwicklung hilfreich sein kann. Eine Definition aus mentalisierungspädagogischer Perspektive geht also davon aus, dass im hier gemeinten Sinn an Konflikten mindestens eine menschliche Psyche mit ihren den Konflikten zugrunde liegenden mentalen Zuständen beteiligt ist. Konflikte sind demnach Ausdruck intra- oder interpsychischer dynamischer mentaler Zustände und der Beziehungen (z. B. in einer Dyade, Triade, Klein- und Großgruppe). »Wer versteht, kann (manchmal) zaubern« (Eggert-Schmid Noerr, 1995, S. 14). Mentalisieren ist bei allen drei Konfliktarten (Tabelle 1) hilfreich und notwendig, jedoch werden die Konflikte als unterschiedlich emotional belastend wahrgenommen. Bei »heißen« oder »kalten« Konflikten werden häufig stärkere Stressreaktionen bei den pädagogischen Fachkräften (und anderen Beteiligten) ausgelöst. Um unter Stress noch (mentalisierend) handlungsfähig zu sein, bedarf es einerseits mehr Wissens über die Vorgeschichte und aktuellen Lebensbedingungen des Kindes oder Jugendlichen, um Empathie und Perspektivenübernahme aufrechtzuerhalten (Diagnostik). Anderseits wird die Arbeit im Team (kollegialer Austausch/Supervision, Unterstützung durch weitere Fachkräfte, Vernetzung) essenziell zur raschen Wiedergewinnung der eigenen Mentalisierungsfähigkeit (Reflexion, Förderung von epistemischem Vertrauen). Der Mentalisierungsansatz betont also das Verstehen, die (verborgene) Sinngebung des Konflikts, erst daraus lassen sich Haltungen und konkrete Interventionsstrategien ableiten.

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Gingelmaier / Kirsch

Tabelle 1: Drei Arten von Konflikten in pädagogischen Kontexten Drei Arten von Konflikten in pädagogischen Kontexten »Alltags»- oder Heiße Konflikte (Stress »Entwick­lungskonflikte« undAffektdurchbrüche) (in Anlehnung an Erikson, 1973)

Kalte Konflikte (Reinszenierungen und fremdes Selbst)

Anzeichen

z. B. Grenzübertretungen, Ärgern, Reizen, Neugier, konkurrieren, sexuelle Anziehung, Langeweile, Unsicherheit, Austesten von Regeln

z. B. »Ausraster«, im Streit oder unter Stress vorübergehender Verlust der Selbststeuerungsfähigkeit, oft »unsinniges«, selbstschädigendes Verhalten wider besseres Wissen

z. B. destruktives, andere schädigendes Verhalten, auch außerhalb spezifischer Stressmomente, z. B. Bullying, Manipulationen

Entstehensbedingungen

Situativ, entwicklungspsychologisch entlang von phasenspezifischen Themen, z. B. Konkurrenz um Anerkennung in der Peergroup

Was triggert? (Subjektiv erlebte) Beschämung, Erniedrigung, Angriff oder Wiederholung traumatischer Situationen. Vorübergehender Verlust der Emotionsregulation

Häufig Reinszenierung oder Projektion eigener traumatischer Erfahrungen (fremdes Selbst), epistemisches Misstrauen, Empathiestörung, Angstvermeidung

Verlauf

Situativ relativ leicht wieder zu integrieren/ beruhigen

Kinder/Jugendliche können Situation selbst nur schwer beruhigen, brauchen erwachsene Bezugsperson zur Deeskalation und Wiedergewinnung der Selbststeuerung

Wiederholungsgefahr, da z. B. durch Erniedrigung anderer subjektive Entlastung/Gewinn erfolgt. Konflikt­ bewältigungsstrategien meist gering, Opfer schützen!

Gruppen­ dynamik

Bedeutungsvoll, Thema Andere sind häufig beschäftigt auch ande- genervt re Kinder/Jugendliche

Ziele der Spielerisch-humorvolIntervention ler Umgang (»challenging«) und/oder Grenzen aufzeigend (nicht beschämend, abwertend oder gegenaggressiv)

Wie kann Emotionsregulation über Mentalisieren gerade für »heiße Situationen« aufgebaut werden? Mehr Selbstkontrolle, Sicherheit, Intervention: Time-out, Deeskalation, Mentalisieren fördern

Täter, Opfer, Zuschauer

Verlässlichkeit der päd. Fachkraft und Institution. Aufbau von epistemischem Vertrauen, Geduld, Arbeit an der Beziehung, mentalisierende Arbeit an den Grenzen mit kleinen Fort- und Rückschritten, Gefühle zeigen u. Mentalisieren fördern

Muss Strafe sein?

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1  Selbstregulation und Stress Mentalisieren ist dann am schwierigsten, wenn es am meisten gebraucht wird. Daher wird im Folgenden auf mögliche Motive bei »heißen« und »kalten« Konflikten näher eingegangen. Mit zunehmender emotionaler Intensität werden unterschiedliche neuronale Netzwerke für die Informationsverarbeitung aktiviert. Bei geringer bis mittlerer Aufregung werden überwiegend präfrontale Hirnregionen zur Problemlösung eingesetzt (langsames, kontrolliertes Mentalisieren), dies steht in Verbindung mit reflexiver Problemlösung und (meist sprachlicher) Reflexion. Bei intensivem Stress hingegen werden eher der posteriore Cortex und subkortikale Hirnregionen aktiviert, dies führt zur raschen Abnahme reflexiver Fähigkeiten und zur Zunahme von Kampf- und Fluchtreaktionen oder Erstarren (Bateman u. Fonagy, 2015). Bei Individuen mit traumatischen Erfahrungen (und während der Adoleszenz) ist der sogenannte Umschaltpunkt zwischen reflexiven und automatisierten, subkortikalen Problemlösefähigkeiten verschoben, d. h., schon bei einem mittleren Arousal (Erregung) verringert sich die Fähigkeit zu reflektieren und automatisierte Kampf- und Fluchtreaktionen (nichtmentalisierende Modi) werden eingesetzt (Debbané u. Nolte, 2019). Mit diesen stressbedingten Veränderungen der Informationsverarbeitung geht die Schwierigkeit einher, die Perspektive des Gegenübers zu berücksichtigen, sie kann nicht mehr nachvollzogen werden. Diese Zusammenbrüche des Mentalisierens sind quasi »ansteckend«, auch der Gesprächspartner hört dann auf, verschiedene Perspektiven zu bedenken, und alle sind davon überzeugt, dass nur die eigene Sichtweise die einzig richtige ist. Dazu eine Fallvignette aus der Beratung von Schulen und Kollegien: Die Religionslehrerin soll als Vertretung eine fünfte Klasse beaufsichtigen. Sie geht mit ihnen bei schönem Wetter auf die Wiese neben dem Schulgebäude. Nebenan übt die Bogenschieß-AG, und die Lehrerin ermahnt die Schülerinnen und Schüler, auf jeden Fall innerhalb eines abgegrenzten Bereichs zu spielen. Ein Junge, nennen wir ihn Tim, spielt sehr wild und regellos Fußball mit den anderen Jungs. Er ist etwas kleiner als die anderen, überdreht und noch sehr unsicher über seine Rolle und Anerkennung in der neuen Klasse. Tim spielt zum zweiten Mal den Ball in das Feld der Bogen schießenden Mitschülerinnen und Mitschüler. Er stürmt los, ihn zu holen, woraufhin die Religionslehrerin ihn wütend und laut anschreit. Für Tim stellt dies eine Demütigung dar. Während die Lehrerin ihn anschreit, lächelt der Junge und spielt weiter mit dem Ball, was sehr desinteressiert und provozierend auf die Lehrerin wirkt. Sie fühlt sich in ihrer berechtigten Sorge nicht ernst genommen 82

Gingelmaier / Kirsch

und ist deswegen so wütend, dass sie das Spiel für alle abbricht, auf ihn einredet und immer weiter mit Eskalation droht: Meldung an den Schulleiter, Eintrag in Schulakte, Schulverweis … Erst einige Zeit später, nach Gesprächen im Team, mit dem Schulleiter und den Eltern, lassen sich in der Beratung mehrere Motivstränge rekonstruieren. Eine nichtwissende Grundhaltung war hilfreich bei den Gesprächen. Indem bei allen Beteiligten ein Reflexionsprozess angeregt wurde, gelang es, verschiedene Perspektiven gelten zu lassen. Es konnte nachvollzogen werden, dass Tim in seiner frühen Kindheit in mehrfacher Hinsicht traumatisiert wurde. In seinem Selbst- und Selbstwerterleben unsicher, erlebte er (laute) Kritik sehr rasch als intensive Beschämung und existenzielle Bedrohung, die er durch Größenfantasien und Abwertung (»Du kannst mir gar nichts«) abwehrte, um nicht zusammenzubrechen. Gruppensituationen, z. B. Gruppenarbeiten in der Klasse, stressen ihn sehr. Auch während des Fußballspiels kann sich Tim nur schwer kontrollieren. Nach seinen Affektdurchbrüchen entschuldigt er sich oft schuldbewusst. Die Religionslehrerin wiederum kann die Klasse noch wenig einschätzen und ringt um Autorität in der Gruppe. Sie ist enttäuscht, dass die Schülerinnen und Schüler das von ihr als Geschenk gedachte »Spielen im Freien statt Unterricht« nicht wertschätzen und sich nicht dankbar zeigen. 1

An diesem Beispiel kann gezeigt werden, wie schnell aus Alltagssituationen nicht­­ mentalisierende Kreisläufe mit hoher Eskalationsgefahr entstehen können. Dabei wurde das innere Arousal von den beteiligten Personen erst sehr spät wahrgenommen. Nun ist zu erkennen, dass ein nicht unerheblicher Teil der Eskalationsdynamik auch mit der Kommunikationsweise der Lehrkraft zu tun hat. Hilfreich wäre es, wenn sie als Kernstück ihrer Professionalisierung als Pädagogin und erwachsene Bezugsperson gerade in stresshaften Situationen noch einen Zugang zu den eigenen inneren Zuständen verfügbar hätte. Ein Ziel mentalisierungsfördernder Interventionen ist es deswegen, in Kon­ fliktsituationen einen Entwicklungsrahmen aufrechterhalten zu können und darüber deeskalierend und entwicklungsfördernd Einfluss zu nehmen. Doch was heißt das in der geschilderten Situation? Mehrere Interventionsstrategien sind hierbei denkbar. 1

Weitere Interpretationen der Szene sind denkbar, in den Gesprächen wurde jedoch eine nichtwissende Haltung bevorzugt, und Interpretationen wurden nur vorsichtig eingesetzt, damit eine Selbsterkundung ohne Interpretation oder Beschämung wiederum das Mentalisieren anregt. Jenseits der Ausgangssituation können strukturelle, institutionelle oder hierarchische Konflikte eine solche Dynamik ebenfalls komplizieren. Muss Strafe sein?

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1. Den Rahmen zu sichern, also zwischen Ballspielfeld und Bogenschießplatz eine deutliche Grenze zu ziehen oder sich in die Mitte zu stellen und über die Grenze zu wachen oder Bälle auszuwählen, die zu schwer sind, um sie weit zu schießen. 2. Miteinzubeziehen, dass (unstrukturierte) soziale Situationen in größeren Gruppen für (belastete) Kinder eine besonders schwer auszuhaltende Situa­ tion sein können. Sie sind dem Chaos der (unverdauten) eigenen inneren Zustände und den komplexen sozialen Interaktionen in einer Gruppe noch stärker ausgeliefert. Oft fehlt es ihnen an Struktur, innerer und äußerer, um die Orientierung und Selbststeuerung aufrechtzuerhalten. Schwer zu regulierende offene Pausensituationen sind ein alltägliches Beispiel dafür. Das führt in diesem Beispiel dazu, das Ballspiel der Kinder stärker zu strukturieren, Regeln einzuführen oder Schiedsrichter zu benennen und aktiv zu helfen, das emotionale Arousal der Kinder zu regulieren. Die Regulierung von Affekten (z. B. Wut, Angst, sich ungerecht behandelt fühlen) gilt als zentrales Merkmal des Selbst als einer Art psychischer Metastruktur. Verzerrte frühe Affektspiegelungen durch die Bezugspersonen behindern die Entwicklung einer kohärenten Selbststruktur. Sie entstehen, wenn Bezugspersonen die Affekte des Kindes häufig falsch interpretieren. Dies führt zu einem Gefühl eines fremden Selbst. (Beispiel: Das Kind weint aus Angst. Die Bezugsperson interpretiert das Weinen aber als bewusste Provokation des Kindes und reagiert entsprechend. So werden Angst und Aggression im Selbst eng miteinander verknüpft.) Neben einer verzerrten Affektspiegelung und Entwicklung eines fremden Selbst können häufige Invalidierungen (z. B. »Das bildest du dir doch alles nur ein!«) und weitere Kindheitsbelastungen zu einer instabilen Selbststruktur führen. Innere Spannungen intensiver Affekte, die nicht integriert werden können, werden dann nach außen externalisiert und somit reinszeniert. Gerade in diesen Situationen ist Bestrafung wenig wirkungsvoll, da die Kinder und Jugendlichen keine Angst vor Liebesentzug haben, sie haben Erwachsene wiederholt als nicht (ausreichend) feinfühlig und enttäuschend erlebt. Die Anerkennung ihrer eigenen Perspektive, Wünsche und Bedürfnisse fehlte, also entwickelten sie ein kompensatorisches Gefühl, genauso gut ohne Erwachsene auskommen zu können. Diese Kinder entwickeln häufig ein epistemisches Misstrauen, sind dann verschlossen, stressvulnerabel, können aber Hilfe nur schwer annehmen. Oft gelten sie als »schwer erreichbar«. Der bisher erfolgversprechendste Weg, epistemisches Vertrauen des Kindes wieder aufzubauen (Fonagy, 2018), liegt in dem Bemühen, seine Sicht auf die Welt nachzu84

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vollziehen (als Beispiel kann der Roman »Garp oder wie er die Welt sah« von John Irving, 1978, gelten). Was hilft bei der Selbstregulation? Ȥ Identifikation der Stressauslöser Ȥ Sicherheit vermitteln • Bindung ermöglichen, pädagogische Beziehungsangebote • Transparenz, Verlässlichkeit, Vorhersagbarkeit • den oder die einzelne auch innerhalb der Gruppe im Blick haben (»holding mind in mind«) • die Gruppe als Ganzes im Blick haben Ȥ Deeskalation/Arousalregulierung • Blickkontakt, persönliche Ansprache (»ostensive cues«) • ruhigen Ort suchen (Time-out) • Validierung • Probleme in Zeitlupe betrachten Ȥ Schilderung der Schwierigkeiten mit Betonung der Interaktionen und Motive, Gefühle Ȥ Einbezug der anderen Gruppenmitglieder Ȥ (Institutionelle) Konflikte nicht als »Stellvertreterkrieg« auf dem Rücken unbeteiligter (Kinder) führen Als hilfreich dafür hat sich folgende Hierarchie des Vorgehens erwiesen (mod. n. Diez Grieser u. Müller, 2018, S. 174), die durch ihre Einfachheit besticht: 1. Fundament: die Aufmerksamkeitsregulierung Schaffen Sie eine gemeinsame, geteilte Aufmerksamkeit (»joint attention«; Tomasello u. Farrar, 1986), z. B. indem sie sich dafür interessieren, was das Kind im Moment interessiert. Das kann das vorbeifahrende Feuerwehrauto sein, der Musikgeschmack einer Jugendlichen oder das Motiv auf dem Mäppchen. Damit versuchen Sie, die Perspektive des Kindes/der Jugendlichen einzunehmen, und öffnen die Bereitschaft zu Dialog und sozialem Lernen. 2. Erdgeschoss: Affektregulation Versuchen Sie, die Gefühle des Kindes/Jugendlichen zu erkunden, fragen Sie danach, respektvoll und neugierig, nichtwissend. Auch wenn der Jugendliche, das Mädchen oder der Junge keine Antwort geben kann oder will, lenkt es doch den Fokus der Aufmerksamkeit auf die beteiligten Gefühle. Diese Gefühle zu erkunden und zu validieren bedeutet anzuerkennen, dass das Kind/der Jugendliche einen guten Grund hat, genau so zu empfinden, auch wenn Sie diesen (noch) nicht nachvollziehen können. Muss Strafe sein?

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Die »Betriebstemperatur« auf ein mittleres Maß zu regulieren, beinhaltet auch einfache Psychoedukation zu Gefühlen, Empathie und Motiven für Verhalten. Treffen Sie klare Absprachen oder Vereinbarungen und halten Sie sie ein, stärken Sie positive Gefühle, versuchen Sie, sich anbahnende Störungen schnell zu stoppen und zu deeskalieren. Bei zu großer Aufregung ist ein Time-out hilfreich. Schaffen Sie Orte der Beruhigung, die nicht als Strafe erlebt werden, z. B. eine Leseecke in der Klasse. Dies kann helfen, bei reduzierter Reizflut sich wieder zu sammeln und zu beruhigen. Schulsekretariate übernehmen manchmal diese Funktion, dabei kommt es darauf an, ob Mitarbeiter und Schülerinnen dies als Strafe für »schlechtes Benehmen« erleben oder als sicheren Ort des Rückzugs:2 Niklas hatte gegen Ende der vierten Klasse ein großes Bedürfnis, der Schulsekretärin einen Kuchen zu backen, da er über die Jahre in der Grundschule immer wieder »aus der Klasse flog« und bei ihr Zeit verbrachte. Auf diese Art wollte er sich bedanken, dass sie ihm geholfen hatte, »runterzukommen« und den richtigen Zeitpunkt zu finden, wieder zurück in die Klasse gehen zu können.

3. Obergeschoss: explizites Mentalisieren Einfaches Mentalisieren kann mit dem vorsichtigen Projizieren von gefühlsbezogenen Selbstanteilen auf Spielfiguren, Tiere etc. beginnen. Dies regt den Als-ob-Modus an und schafft oft eine spielerisch-entspannte Atmosphäre. Ziel ist es, das Nachdenken über eigene Gefühle und Motive sowie Gefühle und Motive anderer sowie die Beziehungen untereinander zu begünstigen. Alltägliche pädagogische Formen und Interventionen wie Rollenspiele und ein regelmäßig stattfindender »Klassenrat« zum Austausch über gemeinsam erlebte Situationen können mentalisierende Kontexte werden, die eine Perspektivenübernahme erleichtern. Eine dritte Gruppe von Konflikten (sog. kalte Konflikte, z. B. geplant-destruktives Verhalten, Bullying) entwickelt sich meist aus (unbewussten) Bewältigungsstrategien, die dysfunktional erscheinen und das Umfeld stärker einbeziehen.

2 Hier ist eine empathische mentalisierende Unterstützung der Mitarbeiterinnen im Schulsekretariat wichtig. Immerhin sind die eigentlichen Arbeitsaufgaben in einem Schulsekretariat allein schon herausfordernd. Dabei soll es nicht nur um Schulsekretariate als Anlaufpunkt gehen, auch Schulsozialarbeiterinnen, Praktikanten, zusätzliche Lehrkräfte leisten hier wertvolle Unterstützung in der Emotionsregulierung.

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Wenn die Mentalisierungsfähigkeit zusammenbricht, kann sich dies als prämentalisierender Modus in den Handlungsdialogen darstellen (»acting out«, teleologischer Modus). Hier stehen oft unangebrachte oder gar dramatische Aktionen im Vordergrund, die die Bezugsperson oder pädagogische Fachkraft »zwingen« sollen, eine bestimmte Handlung oder Beziehungsdichte zu ermöglichen, was von diesen als manipulativ und aversiv erlebt wird (Fonagy u. Bateman, 2019, S. 14). Agieren im teleologischen Modus kann auch verstanden werden als Rückgriff auf einen sehr frühen Modus der Interaktion mit anderen (in etwa Ende des ersten Lebensjahres), als das Kind noch darauf angewiesen ist, dass Bezugspersonen von außen seinen inneren Zustand regulieren. Wenn einzelne Schüler oder Schülerinnen schwere unverarbeitete Belas­ tungen erlebt haben (nicht mentalisiert wurden), bildet sich im Selbst meist ein »fremder Selbstanteil«. Ist dieser Anteil dominant oder wird er in bestimmten Situationen aktiviert, erzeugt er eine große, diffuse innere Spannung, die nach außen projiziert werden muss (Fonagy u. Bateman, 2019, S. 6). Diese Externalisierung eines fremden Selbst, im Sinne einer kaum steuerbaren, nicht zum eigenen Selbsterleben zugehörigen Reaktionsweise, zeigt sich z. B. in Reinszenierungen oder Projektionen. Eigene intensiv beschämende oder demütigende Erfahrungen werden an anderen wiederholt, wenn und solange sie nicht mentalisiert werden können (Taubner u. Curth, 2013). Aus dem Opfer wird ein »Täter«. Dies wirkt (intrapsychisch) zunächst entlastend, muss aber, um diese Entlastungsfunktion aufrechtzuhalten, stetig wiederholt werden. Klinisch zeigt sich dies als (psychosozial bedingte) Psychopathologie (z. B. Empathie­ störungen), die später zu schweren psychischen Erkrankungen (z. B. Persönlichkeitsstörungen) führen kann. Solche Situationen stellen hohe Anforderungen an pädagogische Fachkräfte, nicht nur ein Zusammenbruch des Mentalisierens soll reguliert werden, sondern auch der Schutz der Opfer und das Erleben der Gruppe müssen einbezogen werden (z. B. bei selbstverletzendem Verhalten oder Suiziddrohungen). Kontinuierliche Arbeit an einer vertrauensvollen Beziehung (Verlässlichkeit, Transparenz) fördert die Wahrnehmung und das Ertragen von schmerzhaften Gefühlen. Langsam können dann auch unangenehme Gefühle gezeigt werden, epistemisches Vertrauen wächst, und die epistemische Isolation wird aufgehoben. Ziele einer »mentalisierungsfördernden Klassenführung« sind hier: die Fokussierung auf Motive und Beweggründe anstatt auf Handlungen, der Versuch zu verstehen, anstatt zu kontrollieren, um damit zur »günstigen Betriebstemperatur« und zu sozialem Lernen beizutragen. Aus Sicht des Mentalisierungsansatzes lassen sich die zuvor vornehmlich auf schulische Kontexte bezogenen Verstehensansätze und Empfehlungen auch auf andere Kontexte übertragen. Muss Strafe sein?

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Doch neben der Perspektive auf das Individuum und die Gruppe trägt die Reflexion der Institution oder Organisation wesentlich zum Gelingen mentalisierungsfördernder Prozesse bei, denn gewalterfüllte Systeme oder Zwangskontexte (z. B. Straffälligenhilfe, Inobhutnahme) wirken sich häufig mentalisierungshemmend aus (Twemlow, Fonagy u. Sacco, 2005; Straub u. Stavrou, 2014). Durch Zwang, starke Kontrolle oder Drohungen werden Angst, Wut und Demütigung erzeugt und nichtmentalisierende Kreisläufe aufrechterhalten. Das bedeutet, »es besteht häufig ein chronisches Versagen von Mentalisierung in diesen Umfeldern« (Kirsch u. Zapp, im Druck).

2 Fazit Spezifische Reaktionen auf Kinder und Jugendliche durch pädagogische Fachkräfte sind in der Pädagogik so banal wie elementar. Es geht einer mentalisierungsbasierten Pädagogik jedoch darum, dass diese verstehend im Sinne der Entwicklungsförderung des Kindes und seines Umfeldes sein müssen. Der Umgang mit Konflikten und Grenzüberschreitungen in pädagogischen Institutionen soll deswegen bedacht und vorausschauend sein, was nicht bedeutet, dass man Kinder nicht mit den Folgen ihrer Handlungen konfrontieren sollte. Der mentalisierende Gradmesser des Entwicklungseffektes solcher Interventionen bleibt dabei aber immer auch, ob die pädagogische Fachkraft die eigenen aus den Konflikten entstandenen Affekte »unverdaut« (z. B. beschämend, rachsüchtig oder vernachlässigend) zurückgibt oder ob es ihr gelingt, ihre Affekte und die des Kindes mentalisierend als soziales Lernfeld anzubieten. Es konnte gezeigt werden, dass Strafen oftmals entweder Konfliktreaktionen auf konkretistische, nichtmentalisierende (»Auge um Auge und Zahn um Zahn«) Stresssituationen bei den pädagogischen Fachkräften sind oder relativ willkürlich, unspezifisch und nur vermeintlich transparent von diesen auferlegt werden. Um der Asymmetrie pädagogischer Beziehungen gerecht zu werden, braucht es aber Pädagogen, die gerade auch konflikthafte Situationen nicht eskalierend, sondern mentalisierend lesen können, was, unter Einbezug eigener »mental states« oder institutioneller Anteile, zu den jeweiligen Konflikten geführt hat. Strafe trägt (oft) nicht zum Aufbau von Selbstregulation und zur Moral­ entwicklung bei, sondern schreckt im besten Fall ab, viel eher frustriert sie, erzeugt Gegenaggressionen oder Verweigerungen. Für traumatisierte Kinder enthält sie aus den genannten Gründen auch das Potenzial zur Retraumatisierung. 88

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Gerade in den konflikthaftesten Situationen brauchen Kinder und Jugendliche mentalisierende Erwachsene am meisten. Dies ist das beste Lernfeld für Kinder und Jugendliche, um selbst unter Stress mentalisierend bleiben zu können, wenn, so der Kreisschluss, es den beteiligten bedeutsamen Erwachsenen gelingt, mentalisierend zu bleiben.

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Muss Strafe sein?

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»Sie spielen wieder mit mir!« Mentalisieren im Kontext der Peergruppe Günther Opp

Können Kinder und Jugendliche im Kontext von Peergruppen ihre Mentalisierungsfähigkeiten üben und erweitern? Anhand von Fallbeispielen wird in diesem Beitrag gezeigt, wie im Kontext der Peergruppe Mentalisierungs­ prozesse initiiert werden können, die Gruppenmitgliedern neue innere Monologe bezüglich ihrer sozialen Interaktionen mit Gleichaltrigen eröffnen. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Unterstützungs- und Hilfefunktion, die die Gruppe im Sinne der sozialen Inklusion ihrer Mitglieder übernimmt. Are peer groups a functional setting for children and youth to practice and extend their abilties to mentalize? Using practical case studies this contribution demonstrates how the context of the peer group offers unique chances for peer group members to initiate new inner monologues concerning their social interaction with peers. Social support and help by the group is of major importance in processes aiming at social inclusion.

In William Goldings Roman »Herr der Fliegen« (1954/2016) strandet eine Gruppe von sechs- bis zwölfjährigen Kindern nach einem Flugzeugabsturz auf einer paradiesischen Südseeinsel. Bald kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die zivilisatorischen Grundlagen des Zusammenlebens lösen sich auf. Die Kinder entfremden sich voneinander. Das Recht des Stärkeren gewinnt die Oberhand. Mord und Totschlag sind die Folgen. Die Geschichte zeigt exemplarisch, wie fragil zivilisatorischer Fortschritt im sozialen Zusammenleben sein kann und wie wichtig es ist, Zivilisationsgewinne immer wieder aufs Neue durch zivilisatorische Praxis zu stärken. Tragende Elemente der Zivilisation sind die Fähigkeiten, eigene spontane Impulse und Emotionen zu kontrollieren und die Befriedigung eigener Bedürfnisse zurückstellen zu können, Höflichkeit, Rücksichtnahme, hygienisches Verhalten und ein weitgehender Ver91

zicht auf Gewalt in Extremsituationen (Mennell, 2018). Zu den Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens gehören darüber hinaus auch die Fähigkeiten, sich in die Gedankenwelten und Emotionen anderer eindenken und -fühlen zu können, die eigenen Innenwelten und die der anderen reflektieren zu können und die daraus gewonnenen Einsichten moralisch verantwortlich in das eigene Verhalten zu integrieren. Im Begriff der Mentalisierung werden diese Fähigkeiten zusammengefasst. »Als ›Mentalisierung‹ […] bezeichnen wir den Prozess, durch den wir erkennen, dass unser Geist unsere Weltwahrnehmung vermittelt. Mentalisierung hängt unauflöslich mit der Entwicklung des Selbst zusammen, mit seiner zunehmend differenzierten inneren Organisation und seiner Teilnahme an der menschlichen Gesellschaft, einem Netzwerk von Beziehungen zu anderen, die diese Fähigkeit ebenfalls besitzen« (Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2011, S. 10 f.). Unsere soziale Welt ist das Ergebnis eines kontinuierlichen intersubjektiven Dialogs. Ein zentraler Impuls bei der Förderung von Mentalisierungsprozessen ist dabei die Fähigkeit, die Rolle des anderen einnehmen zu können. Die (Peer-) Gruppe ist insofern ein naheliegender Alltagskontext für die Übung und Ausdifferenzierung des Mentalisierens bei Kindern und Jugendlichen.

1  Die Peergruppe als Entwicklungsraum Spätestens mit dem Kindergartenalter vollzieht sich die kognitive und emotionale Entwicklung von Kindern zunehmend in der Gruppe der Gleichaltrigen. Eine neue Welt der Gefühle erwacht. Freundschaftsbeziehungen werden mit »Verhaltensstrategien assoziiert, die sich am emotionalen Austausch innerhalb einer Peer-Dyade orientieren und den Kindern helfen, sich emotional gegenseitig zu regulieren« (Ahnert, 2003, S. 498). Konflikte sind ein wichtiger Teil des Kinderalltags. Es gibt körperliche Auseinandersetzungen, Beleidigungen, Ausgrenzungen und Mobbing (Krappmann u. Oswald, 1996). Die Kindergruppe ist eine Arena sozialen Lernens und ko-konstruktiver Interaktionen. Es gibt strenge Regeln. Wer sich an diese Regeln nicht hält, wird vom gemeinsamen Spiel schnell ausgeschlossen. Es gibt große Unterschiede in der Beliebtheit der Kinder. Geschätzt werden soziale Fähigkeiten wie Fairness, die Fähigkeit, eigene Affekte regulieren zu können (emotionale Regulation), soziale Aufmerksamkeit, Fantasie und kreative Ideen, die das gemeinsame Spiel bereichern. 92

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Hilfsbereitschaft und Humor gehören zu den Eigenschaften, die Kinder voneinander erwarten. Mit zunehmendem Alter spielen Dominanz, Wettbewerb und Konkurrenzdenken in der Gruppe der Gleichaltrigen eine wichtigere Rolle. Kindliche und jugendliche Selbstbildungsprozesse sind eingebunden in Gemeinschaftserfahrungen und soziale Austauschprozesse mit Gleichaltrigen. Im Zusammenhang mit familiären Transformationen und unter dem Einfluss digitaler Medien scheint die Bedeutung von Peergruppen auf die kindliche und jugendliche Entwicklung zuzunehmen. Peers sind Gleichaltrige, »auf die man sich tagtäglich beziehen muss, zu denen man sich in ein Verhältnis setzen muss, und an denen man sich in alltäglicher Interaktion orientiert« (Breidenstein, 2008, S. 945). Zwischen Peergruppen und Freundschaftscliquen gibt es Überschneidungen. Peers zeichnen sich durch einen ähnlichen Entwicklungsstand, vergleichbare Entwicklungsaufgaben, einen vergleichbaren Status in pädagogischen Institutionen und die gegenseitige Anerkennung von Ebenbürtigkeit und Gleichrangigkeit aus (vgl. von Salisch, 2016, S. 75 ff.). Peerbeziehungen unterscheiden sich von den Beziehungen zu Erwachsenen, insofern letztere an anderen Alltagswelten und Lebenserfahrungen ansetzen. In der Regel sind Beziehungen zu Erwachsenen eher an pädagogischen Zielsetzungen orientiert. Nach Youniss (1994) zeichnet sich die Beziehungsarchitektur zwischen den Peers durch eine »symmetrische Reziprozität« aus, die die Peerkommunikation mit einer Vertrauensbasis unterlegt. Er berichtet aus seinen Erfahrungen mit Peergruppen: »Die Vertraulichkeit der wechselseitigen Selbstentblößung diente zunächst dazu, durch die Kommentare einer anderen Person größere Klarheit über sich selbst zu gewinnen. Dies führte […] dazu, dass Freunde sich brauchen, um sich gegenseitig zu bestätigen […]. Die Jugendlichen betonten, dass man häufig andere Menschen benötige, um besser zu begreifen oder klarer zu sehen, was in einem selbst vorgehe. Sie gaben an, dass Verstehen dadurch erreicht werden konnte, dass man ›seine Gefühle ausdrückte‹, ›Probleme besprach‹, ›Meinungen teilte‹, ›Lösungen gemeinsam erarbeitete‹« ­(Youniss, 1994, S. 89 f.). Die Peergruppe kann gleichermaßen ein Entwicklungsrisiko wie eine Entwick­ lungsressource für Kinder und Jugendliche sein (Krappmann u. Oswald, 1995; Krappmann, 2006; Oswald, 2008; Prinstein, Brechwald u. Cohen 2011). Chronische Peerablehnung und -zurückweisung gehen mit subjektivem Leiden und hoher individueller Vulnerabilität einher (Dishion u. Piehler 2011; Ladd, E ­ ttekal, Kochenderfer-Ladd, Rudolph u. Andrews, 2014; Curlee, Aiken u. Luthar, 2018). Mentalisieren im Kontext der Peergruppe

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Die Zurückweisung von Gleichaltrigen kann sich zu »Teufelskreisen« der Feindseligkeit verfestigen, »denn durch den Ausschluss aus diesen Gruppen wird die feindselige Wahrnehmung und Bewertung bei den Kindern im Sinne einer ›selbsterfüllenden Prophezeiung‹ verfestigt« (von Salisch u. Kraft, 2010, S. 90). Mit dem Ausmaß schulischer Probleme, sozialer Ausgrenzungserfahrungen, familiärer Konflikte und anderer persönlicher Belastungen wächst die Bedeutung von Gleichaltrigengruppen und Cliquen als Schicksalsgemeinschaften. »Die Gruppe ist das soziale Medium, das das verletzte Ich der einzelnen Jugendlichen mit einem schützenden Mantel umgibt, und das zugleich Anlass ist, Selbstbestätigung und Ich-Erhöhung in und durch die Aktionen der Gemeinschaft zu erfahren« (Zinnecker, 2001, S. 45). Schultz-Venrath und Felsberger (2016) sprechen von der Gruppe als einem »Spiegelsaal« der Affekte. »Der Spiegel ist eine Metapher für die Selbstwahrnehmung einer Person, seiner Beziehungen zu anderen und zur Realität allgemein«; im Gruppenkontext reflektieren die Gruppenteilnehmer »ihre bewussten und unbewussten ›Wirklichkeiten‹« (Schultz-Venrath u. Felsberger, 2016, S. 103), erkennen sich im anderen und das andere in sich. Die Gruppe der Gleichaltrigen ist insofern ein natürlicher Ort der reflexiven Verarbeitung sozialen Handelns und sozialer Erfahrungen. Mentalisierungsprozesse in der Gruppe öffnen Wege zu neuem Lernen, einem produktiven Verständnis der sozialen Welt und alternativen reflexiven Verarbeitungsformen sozialer Erfahrungen. Aus pädagogischer Sicht geht es darum, Bildungsräume zu kreieren, die gerade auch »belasteten Kindern und Jugendlichen durch Reflexion, Versprachlichung und Spiegelung der Affekte ermöglich[en], in den aktuellen Beziehungen korrigierende Erfahrungen zu machen«, die ihre soziale Teilhabe befördern (Rauh, 2018, S. 276). Mentalisieren heißt dabei, mit unterschiedlichen Perspektiven auf die Realität zu spielen, die Perspektive anderer einzunehmen, eigene und fremde emotionale Welten zu erforschen, eigene Vorstellungen über die Welt zu prüfen und damit letztendlich Weltverständnis zu erweitern. Mentalisierung hilft Kindern und Jugendlichen, ihre Lebenserfahrungen – auch und insbesondere negative und belastende– zu reflektieren, auszuwerten und zu verarbeiten. Das Mentalisieren in Gruppen bietet dafür besonders günstige Voraussetzungen, weil der Gruppenzusammenhang prinzipiell unterschiedliche Perspektiven auf individuelle Erfahrungen öffnet und damit das kognitive Spiel mit der sozialen Realität komplexeren Reflexionsprozessen zugänglich macht. Die Ausdifferenzierung der Fähigkeiten des Mentalisierens beugt sozialen 94

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­Exklusions- und Entfremdungserfahrungen vor. Es öffnet dem Individuum Verständniszugänge und Optionen in seinen sozialen Lebenswelten. Mentalisieren im Sinne der reflexiven Verarbeitung von Lebens- und Alltagserfahrungen ist »damit die entwicklungspsychologische Grundlage der Selbst- und Affektsteuerung, der individuellen Art und Weise, Interaktionen zu gestalten und sich in Gruppen von Individuen adäquat zu bewegen und verhalten zu können (Gruppenfähigkeit)« (Gingelmaier u. Ramberg, 2018, S. 95). Mentalisieren ist ein zentraler Aspekt des pädagogischen Anliegens, wenn Bildung als ein »dynamischer und dialektischer Prozess« (Beljan u. Winkler, 2019, S. 39) verstanden wird, in dem Selbst und Welt sich wechselseitig zum Zwecke der Entfaltung der Mentalisierungsfähigkeiten und der Selbstwirksamkeit der Subjekte verändern und transformieren. Selbstwirksamkeit beschränkt sich dabei nicht auf die Kontrolle und Beherrschung schwieriger und herausfordernder Situationen. Selbstwirksamkeit heißt, »andere Menschen oder auch Dinge, Aufgaben, Materialien erreichen und bewegen zu können« (Beljan u. Winkler, 2019, S. 39) und impliziert die reziproke Fähigkeit, sich selbst erreichen und bewegen zu lassen. Von einem so gefassten Bildungsbegriff unterlegt, zielt pädagogisches Handeln darauf, das Selbst- und Fremdverständnis zu vertiefen, Weltbeziehungen und -zugänge zu erweitern, die Selbstwirksamkeit, das subjektive Wohlbefinden und die sozialen Kooperationserfahrungen mit anderen zu stärken. Im nachfolgenden Abschnitt sollen diese Zusammenhänge anhand von Fallvignetten für die pädagogische Praxis konkretisiert werden.

2  Mentalisieren im Kontext von Peergruppen (Fallvignetten)1 »Sie spielen wieder mit mir!« (Fallvignette 1) Die Kinder einer ersten Klasse beschweren sich, dass Francesco Schimpfwörter verwendet und sie an ihren »privaten Stellen« berührt. Sie wollen das nicht! Francesco hat sich während des Gesprächs still von der Klasse abgewandt. Er hat sich über die Lehne seines Stuhls gebeugt und verschließt sich körperlich, indem er die Arme unter seinem T-Shirt verschränkt. Er will sich zu den Anschuldigungen der anderen Kinder nicht äußern und verharrt in einer Pose der Scham. Die anderen Kinder der Gruppe werden von der Lehrerin aufgefordert, für Francesco zu sprechen und zu überlegen, was Francesco durch den Kopf gehen könnte, warum er diese Dinge tut. 1 Die diskutierten Fallbeispiele entstammen Projekten zur Entwicklung positiver Peerkultur (Opp u. Unger, 2006) in unterschiedlichen pädagogischen Settings. Mentalisieren im Kontext der Peergruppe

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Lukas meint, dass Francesco, wenn er sich nicht so schämte, wahrscheinlich sagen würde, dass es ihm leidtue. Andere Kinder äußern sich ähnlich. In der Zwischenzeit hat Lea begonnen, Francesco tröstend zu streicheln. In einem nächsten Schritt wird die Gruppe aufgefordert, über Lösungen für das Problem mit Francesco nachzudenken. Francesco beginnt, sich langsam aus seinem Kokon herauszuschälen. Er wendet sich der Gruppe wieder zu. Nach verschiedenen Beiträgen meint Marko, dass man mehr auf Francesco »achten«, vielleicht mehr mit ihm spielen solle. Die Kinder beschließen, Francesco in den Pausen mehr in ihre Spiele einzubinden. Francesco hat die verschränkten Arme inzwischen unter seinem T-Shirt hervorgeholt. Er akzeptiert dieses Lösungsangebot und die Aufforderung, sein Verhalten zu ändern, gerne. Der Lösungsvorschlag wird in einem Protokoll festgehalten. Seine Umsetzung soll im nächsten Gruppengespräch in einer Woche überprüft werden. Als ich Francesco nach dem Gespräch frage, was für ihn in diesem schwierigen Moment das Beste war, sagt er ganz erleichtert: »Dass sie wieder mit mir spielen!« Zufällig laufen die Kinder der Klasse auf dem Weg in die Pause an mir vorbei. Ich höre, wie sie sich gegenseitig daran erinnern, dass sie Francesco in ihre Pausenspiele mitnehmen wollen.

Es sind mehrere Dinge, die in dieser Situation (pädagogisch) bedeutsam sind. Ein Problem, das die Gruppe mit einem Mitschüler hat, wird zum Thema der Gruppe. Francescos vermeintlich persönliches Problem mit den anderen wird entprivatisiert und ermöglicht damit eine Versachlichung versteckter und offener Dynamiken. Durch die offene Diskussion wird dieses Thema bearbeitbar und lösbar. Das ist für Francesco eine herausfordernde Situation. Es ist eine große Leistung für ihn, diese Konfrontation auszuhalten. Er reagiert mit Scham, akzeptiert aber die Kritik an seinem Verhalten. Lea spürt, dass es Francesco nicht gut geht. Sie streichelt und tröstet ihn. Die anderen Kinder versuchen, sich in Francesco hineinzuversetzen. Sie fordern einerseits, dass Francesco sein übergriffiges Verhalten ändert. Gleichzeitig denken sie darüber nach, wie sie ihm dabei helfen können. Intuitiv verstehen sie, dass Francescos Verhalten ein Wunsch nach mehr Anerkennung und insbesondere durch den Wunsch, mitspielen zu dürfen, motiviert ist. Die Gruppe gibt Francesco eine überraschende soziale Resonanz. Es sind fünf zentrale Botschaften, die ihm einen neuen inneren Monolog über seine Beziehungen zur Gruppe der anderen Kinder eröffnen. Ȥ »Du bist ein Teil unserer Gruppe, und wir wollen mit dir spielen! Ȥ Wir bemühen uns, dich zu verstehen! Du bist verstehbar! Ȥ Wir wollen, dass du dich anders verhältst! Ȥ Wir glauben, dass du dazu in der Lage bist! Ȥ Und: Wir helfen dir dabei!« 96

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Der Konflikt zwischen Francesco und den anderen Kindern wird markiert und versprachlicht. Die Rückmeldung der anderen Kinder ist durchaus emotional. Mit seinem Verhalten verletzt er ihre Gefühle. Sie lehnen sein Verhalten, aber nicht ihn als Person ab. Es geht im Gespräch nicht darum, ein negatives Verhalten zu bestrafen, sondern um eine Versachlichung eines emotional aufgeladenen Konflikts, um »innere Zustände«, für die Kinder in diesem Alter noch ein eher implizites Verständnis zeigen. Die Kinder sind in der Lage, die verdeckten Gedanken und Gefühle Francescos als Gruppe nachzuvollziehen und für ihn Wege aus seinem Dilemma, der gescheiterten Suche nach Anerkennung und gemeinsamem Spiel zu eröffnen. Die Gruppe mentalisiert die impliziten Gedanken, Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse Francescos. Es gelingt der Gruppe, die vergangenen Erfahrungen so zu rekonstruieren, dass Francesco sich integriert und bedacht fühlt und Lösungen entstehen können. Francesco gewinnt neue Einsichten, welche Reaktionen sein Verhalten bei den anderen auslöst und was er verändern müsste, um seine eigentlichen Ziele zu realisieren. Die Gruppe zeigt kooperatives Wohlwollen gegenüber Francesco. Die Kinder sind bereit, Francesco dabei zu helfen, sein Verhalten zu ändern. Sie erwarten von ihm aber auch, dass er mehr Verantwortung dafür übernimmt. Vor allem aber zeigt sich die Gruppe solidarisch mit Francesco und bietet ihm Unterstützung an. Die Gruppe versteht intuitiv, dass er mit seinem Verhalten auf ein Problem aufmerksam machen will. Auf der Basis eines veränderten Zugangs zu seinen inneren Welten und der Einsicht in die Reaktionen der anderen Kinder kann er sein Verhalten ändern. Sein Vertrauen in die Gruppe wird gestärkt. Die Gruppe akzeptiert ihn und zeigt sich hilfsbereit. Die anderen Kinder sind nicht feindselig. Sie akzeptieren Francesco als Mitglied der Gruppe. Die Bearbeitung des Konflikts in der Gruppe, die Spiegelung und Brechung eigener und fremder Affektzustände und Handlungsmotivationen geht Hand in Hand mit einer dramatischen Steigerung des Gruppengesprächs, in dessen Horizont Lösungsmöglichkeiten erscheinen: Er benützt Schimpfwörter und berührt uns an unseren »privaten Stellen« – er schämt sich – wir sollten mehr auf ihn »achten« – wir beziehen Francesco mehr in unser Pausenspiel ein. Es ist eine rituelle Setzung in diesen Gesprächen, dass diese Lösungsvorschläge nach einer Woche auf ihren Erfolg hin überprüft werden. Bei Erfolg applaudiert sich die Gruppe selbst. Francesco erfährt von den anderen Kindern, was er anders machen kann und anders machen soll, wenn er mit den anderen Kindern spielen will. Wirkungsvoll ist dabei, dass er dies von den anderen Kindern und nicht von den Pädagoginnen hört. Unterschwelligen Mobbingprozessen kann durch die öffentliche Thematisierung solcher Themen vorgebeugt werden. Dadurch, dass die andeMentalisieren im Kontext der Peergruppe

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ren Kinder darüber nachdenken, wie die Gruppe Francesco helfen kann, zeigen ihm die anderen Kinder, dass er zu ihrer Gruppe gehört und dass er ihnen als Teil der Gruppe so wichtig ist, dass sie ihm helfen wollen, sein Verhalten zu ändern. Sie machen sich Gedanken, wie sie ihm helfen können, und sie engagieren sich, um ihm zu helfen, sein Verhalten zu ändern. Kinder zeigen eine grundsätzliche Disposition zur Hilfsbereitschaft. Francesco wird durch dieses Gruppengespräch wieder in Würde versetzt. Er wird in der Gruppe wieder handlungsfähig und findet Anerkennung als handlungsfähiges Subjekt. »Sie spielen wieder mit mir!« Micha oder »der Verrückte am Baum« (Fallvignette 2) Ein Schultag an einer Heimschule: Lehrerausfall! Ich frage einen mir bekannten Lehrer (Herrn A.), ob wir die achte und neunte Klasse zusammenlegen wollen, um eine Peergruppensitzung zu machen. Die Schülerinnen und Schüler lassen sich auf den Vorschlag ein. Sie kennen das Format der Peergruppensitzung, haben aber wenig Erfahrung damit. »Habt ihr Themen, über die ihr sprechen wollt?« Ja, das mit den Themen sei immer so ein Problem. »Aber ja, … doch, es gäbe da ein Thema. Es ist schwierig!« Es gibt einen Mitschüler, Micha, dessen Verhalten sie nicht verstehen. Vielleicht könnte man darüber reden. Micha spricht kaum und zieht sich aus allen sozialen Aktivitäten zurück. Am Rande des Pausenhofes sind Büsche mit einem Baum. Hinter den Büschen am Baum ist der Platz, an dem sich Micha immer aufhält. Von den anderen Schülerinnen und Schülern wird er nur »der Verrückte am Baum« genannt. Micha war gar nicht mit in den Raum gekommen. Er hielt sich in einem Nebenraum auf und beschäftigte sich an einem PC. Die Jugendlichen sind unsicher, ob sie dieses Thema in Michas Abwesenheit besprechen können. Nach kurzer Diskussion wird beschlossen, Micha zu bitten, in die Gruppe zu kommen, wenn über ihn gesprochen wird. Fabian meint, dass er zu Micha einen ganz guten Draht habe. Er könnte mit ihm sprechen, ihm sagen, dass sich die Gruppe sehr wünsche, dass er bei dem Gespräch dabei sei. Nach kurzer Zeit kommt Fabian zurück. Micha will teilnehmen, aber nur unter der Bedingung, dass er nicht reden muss. Dem stimmen alle zu. Fabian teilt Micha diese Entscheidung mit und herein kommt Micha, ein etwa 16-jähriger, mittelgroßer, schlanker Junge. Die Kapuze seines Pullis ist tief ins Gesicht gezogen. Er nimmt keinen Blickkontakt auf. Die Haltung ist gebeugt. Eine schwere Last scheint auf Michas Schultern zu ruhen. Er setzt sich an einen der vorderen freien Plätze, schaut tief gebeugt auf den Tisch und beginnt, mit einem Zirkel zu spielen. Herr A., der Moderator, äußert seine Freude über die Beteiligung Michas an der Sitzung und bestätigt noch einmal, dass es ihm freisteht, sich nicht zu äußern. Dann 98

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fordert er die Gruppe auf, das Thema »Micha« darzustellen. Die Schüler berichten unter anderem von Vorfällen, bei denen Micha einen Stuhl auf einen Schüler warf, andere Schüler oder eine Lehrerin beleidigte. Ein Problem mit Micha sei das Unkontrollierbare, dass sich sein Verhalten so plötzlich ändert: »wie so’n Schalter.« Das Unvorhersehbare dieser Aggressionen macht den Schülern Angst. Herr R. fordert die Gruppe an dieser Stelle auf, darüber nachzudenken, warum Micha so handelt und wie es ihm dabei geht. Falco knüpft an eigene Erfahrungen an: »Als ich fünfzehn war, war ich in der Tagesgruppe genauso wie er. Ich hab’s immer in mich reingefressen. Vielleicht is’ er nicht so weit wie wir? Micha hat bestimmt was zu sagen. Er lacht auch nicht mit uns. Vielleicht fühlt er sich von uns im Stich gelassen? Micha wird auch von vielen Lehrern fallengelassen.« Die Schüler stellen fest, dass es nicht leicht ist, herauszufinden, was in Micha vorgeht. Micha will sich auf Nachfrage nicht äußern. Fabian bietet an, nochmals mit Micha vor die Tür zu gehen, um ihn zu fragen. Danach berichtet Fabian der Gruppe, dass Micha sich anstrenge, aber dass es schwer für ihn sei. Die Mitschüler insistieren: »Aber warum ist das so bei dir?« Micha blickt starr auf den Tisch. Herr A. fordert die Schülerinnen und Schüler auf, darüber nachzudenken, was sie für Micha tun könnten oder wie sie ihn unterstützen könnten. Sie fragen sich selbst: »Was können wir tun?« Der erste Vorschlag geht dahin, dass das Rauchen in der Pause, an dem Micha nicht teilnimmt, verkürzt wird. »Wir müssen nicht rauchen. Wir können auch an die Tischtennisplatte. Das macht Micha gern«, »dass die anderen sehen, dass er nicht nur der Verrückte am Baum ist.« Micha nimmt einen Zettel und beginnt, etwas darauf zu schreiben. Den beschriebenen Zettel schiebt er Fabian zu. Es ist offensichtlich eine sehr persönliche Aussage, die Fabian schockiert. Er fragt Micha, ob er sie vorlesen dürfe. Micha reagiert nicht. Fabian fordert ihn auf, den Zirkel auf den Tisch zu legen, wenn er den Inhalt des Zettels nicht vorlesen solle. Dann liest er vor: »Ich wurde viel geschlagen. Ich habe Angst vor anderen«. Die Schüler nehmen diese Aussage mit Betroffenheit auf. Sie alle haben selbst sehr bedrängende Erfahrungen in ihrem Leben gemacht. Im weiteren Gespräch wird überlegt, was Micha dabei helfen könnte, eine angemessenere Schülerrolle zu übernehmen. Die Gruppe diskutiert, ob Micha nach drei besuchten Unterrichtsstunden zur Belohnung am PC spielen dürfe. Fabian bietet sich als dauerhafter Ansprechpartner an, weil er die beste Beziehung zu Micha hat. Die Schülerinnen und Schüler schlagen Micha darüber hinaus einen beliebten Lehrer vor, den er bei Problemen ansprechen könne.

Werden diese Angebote Micha helfen? Die tief sitzenden Probleme Michas können von der Gruppe nicht gelöst werden. Die Gruppe ist im Prinzip überfordert. Für Unsicherheiten und Ängste, die in Jahren gewachsen sind, gibt es Mentalisieren im Kontext der Peergruppe

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keine magische oder gruppendynamische Lösung. Trotzdem ist viel erreicht. Für Micha wird spürbar, dass die Peergruppe sich solidarisch mit ihm fühlt, dass die Gleichaltrigen erkennen, dass er nicht nur Probleme macht, sondern auch Probleme hat. Micha ist ein tief verletzter Jugendlicher, der teilweise das Sprechen aufgegeben hat, weil die Kommunikation mit anderen für ihn wenig gewinnbringend ist. Sein sozialer Austausch mit der Umwelt ist durch sozialen Rückzug und teilweise durch massive Aggression geprägt. Die anderen halten ihn für einen Verrückten. Und ja, die Dinge sind für ihn aus dem Lot geraten, seine Welt ist ver-rückt, er empfindet sie als gefährlich. Er hat Angst vor anderen, wehrt sich, ist aggressiv, schlägt und wird selbst geschlagen. Micha macht in diesem Gespräch wichtige Erfahrungen. Die Klassengemeinschaft nimmt ihn ernst. Die anderen Jugendlichen sorgen sich um ihn. Zehn Gleichaltrige versuchen, sich in ihn einzudenken, überlegen, was sie für ihn tun, wie sie ihm helfen, ihn unterstützen können. Sie machen damit deutlich, dass er für sie ein Mitglied der Klassengemeinschaft ist. Micha wird sich auf diese Angebote nur sehr vorsichtig einlassen können. Er ist gezeichnet von bedrängenden Erlebnissen, und er muss sich schützen vor weiteren Verletzungen. Immerhin, es tut ihm gut, zu erleben, dass andere ihn wahrnehmen, ernst nehmen und wohlwollend zum Thema machen. Er wird gehört, findet positive Resonanz und er antwortet durch eine kurze schriftliche Botschaft auf diese Resonanz. Es ist der Versuch eines Brückenschlags. Wie alle Menschen sucht auch Micha im Rahmen des ihm Möglichen nach menschlicher Nähe und nach Anerkennung. Findet er hier einen Einstieg in einer Gruppe, die sich spürbar um ihn bemüht? Nach allem, was er erlebt hat, wird Micha sehr vorsichtig bleiben. Entwicklung braucht Zeit, und Rückschläge gehören dazu. Aber das Gefühl, verstanden zu werden, könnte Wege öffnen, rigide Vorstellungen von der sozialen Welt durch neue Eindrücke und Informationen zu ändern: »Die Erfahrung, dass über uns nachgedacht wird, ermöglicht uns neue Dinge über die soziale Welt zu lernen […]. Das Gefühl sensibel wahrgenommen zu werden […] könnte mehr vertrauensvolle persönliche Beziehungen initiieren« (Fonagy u. Allison, 2014, S. 377). Neue und positive soziale Erfahrungen können auf der Grundlage vergrößertem epistemischen Vertrauens wachsen. Auch in diesem Beispiel sendet die Gruppe zentrale Botschaften, an denen ein neuer innerer Monolog Michas ansetzen könnte: Ȥ Menschen sind nicht nur eine Gefahr! Ȥ Du gehörst zu unserer Klasse und bist Teil unserer Klassengemeinschaft! Ȥ Wir nehmen dich wahr! Wir sehen, dass es dir nicht gut geht! Ȥ Wir versuchen zu verstehen, was dich bewegt! Kannst du uns dabei helfen? 100

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Ȥ Wir wollen, dass dich die anderen anders sehen! Ȥ Wir suchen nach Möglichkeiten, die dich im Schulalltag unterstützen! Mentalisieren ist auch hier ein eher impliziter Prozess, in dem die Gefühlswelten der Akteure nur teilweise versprachlicht werden können. Das Faszinosum des Gruppengeschehens liegt in der Solidarität der Mitschüler, die sich auch aus eigenen Not- und Schmerzerfahrungen speisen. Die Jugendlichen dieser Gruppe haben selbst Jugendhilfekarrieren mit vielfältigen Abbrüchen erlebt. Sie sind oder waren in Fremdunterbringungen und besuchen eine Förderschule, weil ihre Entwicklungserfolge durch ihr auffälliges Verhalten gefährdet sind. Aber ihnen ist die Erfahrung gemeinsam, wie es sich anfühlt, ganz unten, von Angst besetzt und von psychischem Schmerz überwältigt zu sein. Dieses implizite Wissen ist für die Jugendlichen die Brücke, die sie zu ihrem Mitschüler Micha bilden. Sie haben eine Idee davon, wie es sich anfühlen könnte, wenn man in Michas Haut steckt. Sie wissen, dass genau dann, wenn Verhalten von außen kaum noch nachvollziehbar erscheint, Hilfe am dringendsten ist. Fernab jeder pädagogischen Romantisierung spüren die Jugendlichen einen starken Impuls, helfen zu wollen. Die Hilfe, die sich Kinder und Jugendliche gegenseitig geben können, ist ein weithin unterschätztes pädagogisches Potenzial. Wer in der Lage ist, anderen zu helfen, hat selbst einen Wert. Helfen ist eine selbstwertsteigernde Erfahrung für jeden Menschen, und eine Gruppe, die Hilfe anbieten kann, macht die Erfahrung kollektiver Selbstwirksamkeit. Individuelle und kollektive Bildungsprozesse verknüpfen sich in der Suche nach einem Gemeinwohl, in dem subjektives Wohlbefinden seinen sozialen Nährboden findet. Es sei noch erwähnt, dass Micha in Therapie ist. Die Gruppe braucht feinfühlige pädagogische Unterstützung in ihrem Wunsch, Micha zu unterstützen, die auch darin bestehen muss, dass sich die Gruppe vor eigener Überforderung schützt.

3 Conclusio Zusammenfassend möchte ich fünf Aspekte gelingenden Mentalisierens in Peergruppen mit Kindern und Jugendlichen unter den Stichworten der Moderation, der Fairness, der institutionellen Zusammenhänge, des pädagogischen Bezugs und der pädagogischen Haltung thematisieren. 1. Moderation: Mentalisieren in Gruppen erfordert von pädagogischen Fach­ kräften, eine Moderatorenrolle einzunehmen. Das beinhaltet Verant­wor­ Mentalisieren im Kontext der Peergruppe

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tungsverschiebungen innerhalb der professionellen pädagogischen Selbstbeschreibungen. Die Gruppe bekommt mehr Eigenverantwortung. Der Moderator unterstützt die Gruppe dabei, diese Verantwortung auszufüllen. Er leitet und strukturiert die Gruppengespräche und hilft der Gruppe dabei, ihre Themen aufzuspüren, zu formulieren, zu diskutieren und Lösungen zu finden. Die Diskussionsprozesse werden vom Moderator initiiert, begleitet und durch Impulse gestützt, die das Gespräch aufrechterhalten (Hürdenhilfen) und die Diskussion weiterbringen. Der Moderator hilft der Gruppe, Lösungen zu finden, aber er gibt sie nicht vor. 2. Fairness: Fragt man Kinder und Jugendliche, dann ist Fairness eine der wichtigsten Eigenschaften, die sie sich von ihren Erziehern wünschen. Hinter dieser Erwartung steckt im Prinzip eine Machtfrage. Die Pädagoginnen verfügen über einen Machtvorschuss, den sie gegen oder für die Kinder und Jugendlichen einsetzen können. An dieser Stelle machen Kinder und Jugendliche sehr sensible Unterschiede (»Lieblingslehrer«). Für die Kinder und Jugendlichen ist der Umgang der Professionellen mit diesem Machtvorschuss kaum beeinflussbar. Aber er bestimmt, ob sie sich sicher fühlen können. Die Pädagogen haben prinzipiell die Aufgabe, Gruppenteilnehmer vor Übergriffen der Gruppe zu schützen. Fairness spielt im Kinderalltag eine wichtige Rolle und ist ein moralisches Unterscheidungskriterium, das auch in Gruppengesprächen eine wichtige Rolle spielt, wenn Versuche der Manipulation durch die Gruppe verhindert werden sollen. Die Frage »Ist das fair?« hat in Gruppendiskursen einen hohen Stellenwert. Das Mentalisieren in Gruppen kann nur funktionieren, wenn Gruppe und Moderation als fair und damit als sicher eingeschätzt werden (»sicherer Raum«). 3. Institutioneller Zusammenhang: Gruppen, wenn sie nicht informell konstituiert sind, agieren in einem institutionellen und Grenzen setzenden Rahmen. Ich will dies am Beispiel der Schule erläutern. Wenn eine Schülergruppe im Ergebnis einer Gruppendiskussion zu einer Lösung kommt, dann muss diese Lösung auch institutionell nachhaltig sein. Das ist letztlich ein unauflösbarer Widerspruch des Partizipationsgebots. Die Ablehnung von Lösungen, die in einem Gruppengespräch erarbeitet wurden, aber im institutionellen Rahmen nicht durchsetzbar sind, verbindet sich mit einem besonderen Begründungsbedarf, der nur durch die Suche nach Kompromissen und Alternativen glaubwürdig wird.

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4. Pädagogischer Bezug: Der Begriff des pädagogischen Bezugs verdeckt die strukturellen Asymmetrien des pädagogischen Verhältnisses mehr, als er sie aufdeckt. Helsper (2012) charakterisiert das Verhältnis von Nähe und Distanz als pädagogische Antinomie im Sinne einer konträren Beziehungslogik, die sich durch ein Zuviel oder Zuwenig in unterschiedlichen Schulkulturen auszeichnet. Nähe kann Schülern »nahe gehen« (Helsper, 2012, S. 41). Sie impliziert erhöhte Gefahren schulischer Verletzungen durch Zurückweisung, Abwertung und Missachtung. Diese Antinomie zwischen Nähe und Distanz in pädagogischen Verhältnissen ist nicht auflösbar, aber bearbeitbar. Eine gruppenorientierte Pädagogik kann dabei Spielräume pädagogischen Handelns innerhalb dieses Widerspruchsverhältnisses von Nähe und Distanz freilegen. Mit der Frage »Ist das ein Thema für die Gruppe?« zeigt die Lehrerin die Bedeutung, die die Gruppe für sie hat. Durch die Diskussion in der Gruppe eröffnet sie Partizipationsräume für die Kinder und Jugendlichen. Gleichzeitig übernimmt sie die Moderation der Gruppengespräche, was eine Distanzierung von aktuellen Konflikten ermöglicht. Die professionellen Bewegungsräume zwischen Nähe und Distanz weiten sich durch die Einbeziehung der Gruppe zu einem triadischen pädagogischen Bezug aus (»Wir müssen darüber als Gruppe nachdenken!«). Professionelle Selbstbeschreibungen im Sinne einer »Ich-binfür-alles-verantwortlich!«-Haltung werden ersetzt durch eine Wir-Perspektive geteilter Verantwortung in der Bezugstriade von Kind-Erzieherin-Gruppe. Diese Perspektiverweiterung kennzeichnet ein modernes und partizipativ ausgelegtes pädagogisches Bezugsverhältnis. Die Professionellen können eine so veränderte Wir-Perspektive als erhebliche Erleichterung ihres professionellen Alltags empfinden. Für die Kinder und Jugendlichen impliziert es Erfahrungen des Respektiertwerdens und der Anerkennung. Gelingen kann das nur, wenn die Pädagogen eine grundsätzliche pädagogische Haltung des Vertrauens in die positive Kraft der Gruppe haben. 5. Pädagogische Haltung: Eine neuere Studie der Bertelsmann Stiftung fragte nach den Bedarfen von Kindern (Andresen, Wilmes u. Möller, 2019). Es zeigte sich, dass sich viele junge Menschen von Erwachsenen nicht ernst genommen fühlen. In Gruppendiskussionen forderten die Jugendlichen die erfragten Bedarfsdimensionen, »um eine Dimension der wertschätzenden und anerkennenden Haltung von Erwachsenen gegenüber Heranwachsenden als Basis aller Interaktionen, Reformen und somit als zentraler Gelingens­ bedingung« (Andresen et al., 2019, S. 16) des Aufwachsens zu erweitern. Die Jugendlichen wünschen sich Erzieher, die ihnen gegenüber eine »Haltung« Mentalisieren im Kontext der Peergruppe

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zeigen, die sie als fair erleben. Sie wünschen sich Erzieher, denen sie vertrauen können. Die Kinder und Jugendlichen deuten auf eine Blindstelle der aktuellen erziehungswissenschaftlichen Diskurse. Aber was ist Haltung? Haltung ist eine ethisch fundierte Disposition unseres Wollens und Handelns. In der Schule wollen Kinder und Jugendliche Kompetenzen erwerben. Aber darüber hinaus suchen sie auch nach Erzieherinnen, die auf der Grundlage der Verarbeitung eigener Erfahrungen ein Verständnis für die Welt gewonnen haben und Orientierung bei der Entwicklung eigener Wertvorstellungen geben können. Vorstellungen von »Haltung« spiegeln sich in den Kernelementen der mentalisierungsbasierten Pädagogik: dem Interesse an Innenwelten und nicht nur am Verhalten, der Einnahme einer nichtwissenden Haltung, der Bedeutung von Missverständnissen für Verständnis und dem Aushalten und der Modulation des affektiven »Feuers«, das damit verbunden sein kann (vgl. Diez Grieser u. Müller, 2018, S. 104 ff.). Mentalisierung ist »dabei sowohl zwischenmenschliches Bindeglied als auch Erkenntnis« (Gingelmaier u. Ramberg, 2018, S. 90). Mentalisierungsbasierte Pädagogik im Sinne einer professionellen Beziehungsgestaltung ist dabei »eher eine Einstellung als eine Fertigkeit, eine forschende Haltung« (Fearon et al., 2006 zit. nach Brockmann u. Kirsch, 2010, S. 285), die ein vitales Bildungsbedürfnis von Kindern und Jugendlichen und einen »Hunger nach Beziehung zu Mentoren« (Bauer, 2019, S. 69) ernst nimmt, die Kindern und Jugendlichen Weltzugänge und Weltwissen eröffnen. »Mentalisierung ist das Herzstück des Austausches von Informationen und dadurch zudem das Kernstück von Bildung, gleichzeitig aber auch dessen Subjekt. Wir nutzen den formalen Bildungskontext, um mehr über uns selbst [und andere, G.O.] zu lernen« (Fonagy, 2018, S. 12).

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Teil II Fälle des konkreten Mentalisierens in pädagogischen Feldern

Erstes Feld: Mentalisieren in der Frühpädagogik Die mentalisierungsbasierte Begleitung einer Eingewöhnung in die Kita Anke Lowin

Dieser Beitrag beschreibt die mentalisierungsbasierte Beratungsintervention einer pädagogischen Fachberatung im Rahmen einer Eingewöhnung in die Krippe. Exemplarisch wird herausgearbeitet, wie der Einsatz des Mentalisierungskonzepts zur Erweiterung der Handlungskompetenz einer pädagogischen Fachkraft beitragen kann und alle am Prozess der Eingewöhnung Beteiligten davon profitieren. This article describes a counselling process during the transition period from care at home to day care of toddlers based on the concept of mentalization. Presenting a case study the article shows how using the concept of mentalization can contribute to enhance the expertise of early childhood pedagogues and how all parties engaged in the transition process can benefit from the concept of mentalization.

1  Der Fall Mia* 1

Als pädagogische Fachberatung für Kitas werde ich im Kontext einer herausfordernden Situation im Rahmen einer Eingewöhnung zur Beratung hinzugezogen. Die Fachkraft einer Krippengruppe schildert folgenden Fall: Mia ist ein Jahr und elf Monate alt und besucht seit acht Wochen die Krippengruppe der Kita. Bei zierlicher Statur ist Mia motorisch gut entwickelt. In der Kita spricht sie bislang nicht.

* Name geändert

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Mias Familie ist vor ihrer Geburt aus Pakistan nach Deutschland migriert. Die Familie lebt seit ihrer Geburt im Einzugsgebiet der Kita. Der Vater ist erwerbstätig, die Mutter nicht. Sie betreut die gemeinsame Tochter. Mia ist das erste und bislang einzige Kind in der Familie. Die Familiensprache ist Urdu. Mias Mutter spricht und versteht zum Beginn der Betreuungszeit kein Deutsch. Der Vater verfügt über Kenntnisse der deutschen Sprache und kann sich ganz gut verständigen – manchmal geht es im Englischen besser. Mit seiner Tochter spreche der Vater auch zunehmend deutsch. Vorbereitende Gespräche zur Aufnahme des Kindes und Organisatorisches wurden mit dem Vater vor Betreuungsbeginn besprochen. Der Vater beschreibt die Beziehung zwischen Mutter und Tochter als sehr eng, eine Trennung der beiden habe es bislang nicht gegeben. Und es gebe keine weiteren Verwandten der Familie in Deutschland. Mia solle die Kita besuchen, weil ihre Mutter zu einem Deutschkurs angemeldet sei. Außerdem wünschten die Eltern sich für ihre Tochter, dass sie vor Schuleintritt die deutsche Sprache erlerne. Die Eingewöhnung wird bislang ausschließlich von der Mutter begleitet. Im Rahmen der üblichen Vorgehensweise während der Eingewöhnung in die Kita besucht Mia gemeinsam mit ihrer Mutter die Krippengruppe. Von zunächst kurzen Besuchszeiten – ein bis zwei Stunden täglich – werden die Besuche auf längere Zeitfenster ausgedehnt. Auf erste Trennungsversuche reagiert Mia mit weinendem Protest, kann sich aber im weiteren Verlauf zunehmend leichter von der Mutter lösen. So werden die Zeiten ohne Anwesenheit der Mutter in der Kita ausgedehnt. Die Fachkraft ist zunächst zuversichtlich, die Zeiten weiterhin verlängern zu können, und sieht mit positiven Entwicklungen der Eingewöhnung entgegen. Nach zwei weiteren Wochen beginnt der von der Mutter angestrebte Deutschkurs. Für Mia heißt das, dass sie von nun an von 8.00 bis 13.00 Uhr ohne ihre Mutter in der Kita verbleiben muss. Die Mutter verabschiedet sich fortan morgens sehr schnell von ihrer Tochter und wirkt dabei sichtlich bemüht um einen freudigen Gesichtsausdruck. Mia kommt stets mit einem kleinen Begleiter in die Kita. Sie bringt eine kleine Stoffpuppe von zu Hause mit, die sie am liebsten in einer Hand mit sich trägt, manchmal aber auch neben sich ablegt. Die Fachkraft allerdings macht sich große Sorgen um Mia. Sie wird nun seit acht Wochen in der Kita betreut. Während der Betreuungszeiten in der Kita beginnt Mia immer wieder zu weinen, manchmal so stark, dass sie sich übergeben muss. Über sehr engen Körperkontakt zu ihrer Bezugserzieherin beruhigt sie sich wieder. Allerdings beginnt sie in keiner Weise zu explorieren. Es sind weder Ansätze der aktiven Raumerkundung zu erkennen, noch beginnt Mia zu spielen. Gleichermaßen besorgniserregend ist die Tatsache, dass Mia in der Kita nichts isst. Alle Versuche, ihr etwas anzubieten, bleiben erfolglos. Während der gesamten Betreuungszeit macht Mia deutlich, dass ihr der enge Körperkontakt zu ihrer Bezugserzieherin sehr wichtig ist. Muss sie beispielsweise den Schoß verlassen, weil die Fachkraft 110

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einem anderen Kind zur Hilfe eilt, beginnt sie zu weinen. Mit ihrem Blick verfolgt Mia jedoch das Geschehen in der Gruppe, die Interaktionen der anderen Kinder und Fachkräfte sehr aufmerksam. Neben der Sorge um das Wohl des Kindes und den in diesem Zusammenhang entstandenen Fragen zu Handlungsmöglichkeiten, die zur Besserung der Situation beitragen könnten, fragt sich die pädagogische Fachkraft, wie sie in dieser Situation auch den anderen Kindern gerecht werden kann. Sie bittet mich als zuständige pädagogische Fachberatung um fachliche Unterstützung.

2  Die mentalisierungsbasierte Beratung In der sich anschließenden Beratung zeichne ich für die Fachkraft das Bild einer Triade, bestehend aus Kind, Mutter und Fachkraft sowie dem jeweils dazugehörigen Umfeld (Abbildung 1).

Kind

Mutter

Fachkraft

Abbildung 1: Triade

Die mentalisierungsbasierte Begleitung einer Eingewöhnung in die Kita

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Ich erläutere der Fachkraft, dass es sich in dieser Situation um ein Gemenge unterschiedlicher Gefühle und Gedanken aller Beteiligten handele. Ich mache deutlich, dass ich eine große Chance zur Entwicklung von Handlungsmöglichkeiten und damit auch zur Besserung der Situation für alle Beteiligten darin sähe, sich sowohl in die Emotionen und Gedanken der anderen einzufühlen und einzudenken als auch sich die eigenen Gefühle und Gedanken bewusst zu machen und damit die Mentalisierung zu verbessern. Ich bitte die Fachkraft zunächst, sich zu überlegen, wie sich das Kind fühlen könne, was möglicherweise in ihm vorgehe, ob sie (die Fachkraft) eine Idee dazu habe, welche Motivation das Kind für sein Verhalten haben könne und welche Fragen es habe. Um diesem Ansatz zu folgen, fordere ich die Fachkraft auf, sich »in die Schuhe des Kindes zu stellen« und aus dessen Perspektive heraus zu denken und zu fühlen. Mit dieser Perspektivübernahme äußert die Fachkraft folgende Gedanken und Fragen für Mia: – »Ich fühle mich von Mama verlassen – warum lässt sie mich hier allein?« – »Ich fühle mich fremd – alles ist ganz anders als zu Hause. Es gibt so viele Kinder und Spielzeuge.« – »Die Nähe zu meiner Bezugserzieherin vermittelt mir Geborgenheit und Sicherheit. Das brauche ich, um mich wohlzufühlen.« – »Während des Essens steht sie (die Fachkraft) oft auf, geht zu anderen Kindern oder zum Essenswagen. Dann mag ich nicht essen und denke nur: Wann kommt sie zurück zu mir? Wie kann ich es schaffen, dass sie zu mir kommt?« – »Warum lacht Mama, wenn sie geht? Ist Mama gar nicht traurig?« – »Ich kann die anderen nicht verstehen, was wollen die von mir?« – »Gut, dass ich meine Puppe habe, an ihr kann ich mich festhalten, die ist mir vertraut und riecht nach zu Hause.« – »Ich möchte wissen, wie hier alles funktioniert, muss mich orientieren – vielleicht kann ich das durch das Beobachten der anderen Kinder und des gesamten Geschehens herausfinden.« Dann frage ich die Fachkraft, was sie vermute, was in der Mutter vorgehe, wie sie sich fühle, was sie denke. Die Fachkraft entwickelt folgende Gedanken für die Perspektive der Mutter: – »Ich bin sehr beunruhigt, weil mein Kind immer weint, wenn ich gehe.« – »Ich sorge mich um mein Kind, wenn es in der Kita nicht isst.« – »Ich muss unbedingt diesen Deutschkurs besuchen – damit ich mich hier verständigen kann.« – »Ich muss stark sein.« 112

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– »Ich vermute, ich darf meinem Kind nicht zeigen, dass ich traurig bin, dass mir die Situation schwerfällt.« – »Wenn ich ein freundliches Gesicht mache, wird es mein Kind nicht merken, das wird ihm sicher helfen.« – »Ich möchte, dass mein Kind in der Kita lernt und ich Deutsch lerne – gleichzeitig fällt es mir schwer, die enge Zweisamkeit mit meinem Kind aufzugeben. Ich vermisse die Nähe zu meinem Kind.« – »Ich verlasse mein Kind, lasse es allein mit seiner Not in der Kita.« – »Was kann ich dafür tun, dass es meinem Kind in der Kita gut geht?« Und schließlich frage ich die Fachkraft, wie es ihr in dieser Situation gehe, welche Gefühle sie bei sich selbst wahrnehme, was sie denke. Sie antwortet Folgendes: – »Ich sorge mich um das Wohl von Mia.« – »Ich habe Mitleid mit dem Kind.« – »Ich habe Mitleid mit der Mutter.« – »Auch die anderen Kinder tun mir leid, weil sie das Weinen ertragen müssen und ich so von Mia beansprucht werde.« – »Ich möchte so gern zur Besserung der Situation beitragen.« – »Ich möchte Mia beruhigen, trösten, in eine gute Verfassung bringen können.« – »Ich möchte der Mutter helfen.« – »Ich möchte mich gern mit der Mutter verständigen können.« – »Ich fühle mich hilflos in dieser Situation.« – »Ich fühle mich verantwortlich dafür, dass es Mia in der Kita gut geht und dass Mia in der Kita etwas isst.« – »Ich fühle mich überfordert.« – »Ich kann nicht nur für dieses eine Kind da sein, ich muss mich auch um andere kümmern.« – »Ich fühle mich unter Druck gesetzt, wenn Mia immer sofort weint, wenn ich mich einem anderen Kind widme. So kann ich meiner Aufgabe nicht gerecht werden. Die anderen Kinder haben auch einen Anspruch auf Zuwendung.« – »Ich wünschte, das Kind könnte Verständnis dafür entwickeln, dass ich mich auch um die anderen kümmern muss.«

3  Das Entwickeln eines mentalisierungsbasierten Umgangs Mithilfe dieser Übung wird der Fachkraft deutlich, dass alle im Prozess der Eingewöhnung Beteiligten ihre jeweiligen Bedürfnisse haben. Schaut man zunächst auf das Kind, so zeigt sich das dringende Bedürfnis nach Zuwendung, Nähe und Körperkontakt. Das Die mentalisierungsbasierte Begleitung einer Eingewöhnung in die Kita

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scheint ihm Sicherheit zu geben und sollte unbedingt beantwortet werden. Zu einem mentalisierungsbasierten Vorgehen würde ebenso gehören, dass die Fachkraft die Gefühle des Kindes nicht nur wahrnimmt, sondern auch benennt, annimmt und moduliert spiegelt. Außerdem könnte es hilfreich sein, dem Kind Situationen vorhersehbar und damit besser einschätzbar zu machen. Dies könnte über das Verbalisieren von Gedanken und Gefühlen sowie durch das Ankündigen von Handlungen geschehen. Die Fachkraft könnte beispielsweise Sätze formulieren wie: »Ich weiß, dass du gern auf meinem Schoß sitzen bleiben möchtest und es gar nicht magst, wenn ich dich absetze. Jetzt muss ich kurz zu Max, um ihm die Nase zu putzen. Danach komme ich wieder zu dir, und du kannst zurück auf meinen Schoß. Ich weiß, dass dir das gar nicht gefällt. In dieser Situation geht es nicht anders. In meinen Gedanken bleibe ich bei dir.« Als die Fachkraft meinen Vorschlag hört, reagiert sie sehr gelöst: »Ja, das werde ich probieren. Das fühlt sich schon jetzt gut an, nimmt auch mir die Sorge, nicht allen gerecht werden zu können.« Im weiteren Verlauf der Beratung messe ich dem Folgen der Blickrichtung des Kindes hohe Bedeutung zu. Ich fordere die Fachkraft auf, wann immer es ihr möglich scheint, dem Blick des Kindes zu folgen und ihm eine sprachliche Begleitung anzubieten. Die aufmerksamen Beobachtungen des Kindes weisen auf erste Autonomieimpulse hin. Durch entsprechende Begleitung der Fachkraft würde das Kind in seinen Impulsen gestärkt werden und zunehmend mehr Sicherheit für sich und die neue Umgebung der Kita gewinnen. Der Puppe kommt als Übergangsobjekt eine äußerst bedeutsame Rolle zu. Sie scheint so etwas wie ein Sicherheitsanker für das Kind zu sein. Deshalb sehe ich eine weitere Möglichkeit darin, die Puppe des Kindes aktiv in Interaktionen einzubeziehen. Insbesondere beim Essen könnte versucht werden, die Puppe im Als-obSpiel handeln zu lassen und so zu tun, als ob sie probieren und essen würde. Es könnte auch darüber nachgedacht werden, inwieweit es sinnvoll wäre, zunächst Geschirr, Besteck sowie sogenannte Ankerlebensmittel, die dem Kind von Haus aus vertraut sind, zu geben. Ein solches Vorgehen könnte als eine Art Brückenbau zwischen Elternhaus und Kita verstanden werden. Ich biete der Fachkraft ein visualisiertes Bild des Brückenbaus (Abbildung 2) an und frage sie nach weiteren Ideen zum Ausbau der Brücke. Welche Maßnahmen könnten dazu führen, dass das Kind sich in der Kita gut und sicher fühlt? Die Fachkraft äußert den notwendigen Wunsch, die Eltern in den Brückenbau einzubeziehen. Gern möchte sie die Mutter bitten, Lebensmittel sowie Geschirr und Besteck mitzubringen. Des Weiteren würde sie die Mutter nach häuslichen Ritualen befragen, um diese dann in der Kita aufzugreifen. Sogleich spricht sie die Befürchtung aus, dass es an sprachlichen Verständigungsmöglichkeiten mangele. 114

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Abbildung 2: Brückenbau

Ich ermutigte sie, unter Einbeziehung des Vaters, der über Deutschkenntnisse verfügt, ein Elterngespräch zu vereinbaren. Das nimmt sie sich vor. Nun entwickelt sie die Idee, der Mutter vorzuschlagen, eine Geschichte (oder einen Vers, ein Lied) für ihre Tochter zu erzählen und diese aufzuzeichnen, sodass sie in der Kita abgespielt werden könne. Auch ein kleines Fotobuch der Familie könnte hilfreich sein. Gern werde sie darüber mit den Eltern ins Gespräch gehen. Mit den oben beschriebenen Ideen zu Vorhaben und Maßnahmen beenden wir das Beratungsgespräch. Nach zwei Wochen meldet die Fachkraft zurück, dass sich die Situation insofern deutlich verbessert habe, als dass Mia nicht mehr so viel weine bzw. sich schneller beruhige. Die Fachkraft achte verstärkt darauf, ihre Handlungen sprachlich zu begleiten. Und auch sie selbst fühle sich jetzt viel besser. Das Einbeziehen der Puppe in die Interaktion gefalle Mia sehr. Sie selbst übernehme bereits Ansätze, ihre Puppe bewusst einzusetzen, wenn sie auf ein Bedürfnis aufmerksam machen möchte. Das Gespräch mit den Eltern stehe noch aus, sei aber terminiert. Nach weiteren drei Wochen schildert die Fachkraft die Entwicklung der Situation. Nach dem Gespräch mit den Eltern hätten diese ein paar Fotos mitgebracht, Die mentalisierungsbasierte Begleitung einer Eingewöhnung in die Kita

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die die Fachkraft in ein kleines Buch eingeklebt habe. Dieses Büchlein stehe Mia stets zur Verfügung. Auch während der Mahlzeiten dürfe es neben ihrem Teller liegen. Mia habe begonnen, die von der Mutter mitgebrachten Speisen zu essen, und interessiere sich zunehmend auch für das Speisenangebot der Kita. Die Fachkraft ist hoch zufrieden mit der positiven Entwicklung und nimmt eine Entspannung für alle Beteiligten wahr.

4 Fazit Das beschriebene Fallbeispiel belegt den hohen Wert des professionellen, bewusst eingesetzten Mentalisierens für die Frühpädagogik exemplarisch. Bereits kleine Impulse zeigen hier im Rahmen einer Eingewöhnungssituation große Wirkung. Dreh- und Angelpunkt ist die pädagogische Fachkraft: Über das Einnehmen der jeweiligen Perspektiven werden Bedürfnisse deutlich gemacht und formuliert. So werden kooperativ Handlungsmöglichkeiten entwickelt, die der Beantwortung dieser Bedürfnisse dienen. Besonders wichtig erscheint dabei, dass es der Fachkraft gelingt, die eigenen Gefühle von Hilflosigkeit und Überforderung in einer für sie belastenden und Stress auslösenden Situation in handlungsleitende Lösungsansätze münden zu lassen, was wiederum zu ihrer Entlastung und Zufriedenheit beiträgt. Hervorzuheben ist dabei die besondere Bedeutung eben jener Lösungsansätze für die weitere Entwicklung des Kindes vor allem im Kontext einer pädagogischen Institution.

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Kindheit in prekärer Lebenslage – die Relevanz von Resilienz und Mentalisierung in der Frühpädagogik Josephin Louisa Scholz

Der Aufsatz beschäftigt sich mit der Mentalisierungsfähigkeit und Resilienz pädagogischer Fachkräfte und verdeutlicht deren Relevanz im früh­ pädagogischen Kontext. Es wird der Frage nachgegangen, inwieweit diese Fähigkeiten bei pädagogischen Fachkräften, die in einer Kindertages­ einrichtung tätig sind, eine Ressource hinsichtlich der sozial-emotionalen Entwicklung des Kindes darstellen können. Basierend auf dem Mentalisierungskonzept werden schwierige Situationen aus dem Alltag einer Kinder­ tageseinrichtung betrachtet. Darüber hinaus wird gezeigt, inwiefern Resilienz bewirkt, mentalisierungsfähig zu bleiben. This essay deals with the ability of mentalizing and resilience of pedagocical experts and clarifies it in an early educational context. Furthermore, this essay will help to pursue the question if these abilities could pose a resource for educational experts, regarding to a social-emotional development for children in child day-care centres. This means, based on the concept of mentalizing, difficult situations will be considered in a daily work routine context and beside that it should point out how resilience can effect the ability of mentalizing. 

1 Fallvignette: Fehlinterpretation des kindlichen Spiels – wenn Mentalisieren im pädagogischen Alltag zur Herausforderung wird Pädagogische Fachkräfte sind mit einer Vielzahl von Stressoren, wie z. B. Zeitdruck, unzureichenden Personalschlüsseln sowie hohen Anforderungen, konfrontiert. Diese können die Ursache einer erhöhten emotionalen Erregung bei pädagogischen Fachkräften sein und ein Umschalten vom präfrontalen 117

(mentalisierenden) Arousalniveau in ein subkortikales (nichtmentalisierendes) Arousal­niveau veranlassen (Kirsch, 2014). Demnach kann es in Situationen hoher Affektivität vorkommen, dass gerade auch die Professionellen nicht mehr in der Lage sind, eigene Gefühle zu reflektieren sowie ihre Haltung kritisch zu hinterfragen. Ein Beispiel aus der frühpädagogischen Praxis soll dies anhand einer Spielsituation verdeutlichen. 1.1  Lage der Institution Die Kindertageseinrichtung, in der sich die nachfolgende Situation ergeben hat, befindet sich in einem Stadtteil, der von Menschen aus ca. achtzig Nationen bewohnt wird und somit eine Sprach- und Kulturvielfalt wie kein anderes Viertel in der Stadt aufweist. So lebendig, wie dieser Stadtteil ist, so vielfältig sind die Kinder dieser Kindertageseinrichtung. Über 90 % der Kinder, die in diese Einrichtung gehen, haben einen Migrationshintergrund. Die meisten von ihnen sind jedoch in Deutschland geboren. Dennoch zeigen sich bei einem Großteil der Kinder sowie deren Eltern erhebliche Kommunikationsschwierigkeiten auf verschiedenen Ebenen. Außerdem berichten pädagogische Fachkräfte dieser Einrichtung von einem erhöhten Aggressionspotenzial vieler Kinder. Einen adäquaten Umgang mit den eigenen Gefühlen zu erlernen, ist gerade deswegen fest im Aufgabenbereich der pädagogischen Fachkräfte verankert.

1.2 Vorgeschichte Eines der Kinder der Kindertageseinrichtung ist Amer (Name geändert) – ein dreijähriger Junge (genau 3 Jahre und 10 Monate alt), der im Irak geboren wurde und vor einem Jahr mit seinen Eltern und seinen zwei älteren Brüdern (10 und 12 Jahre) nach Deutschland migriert ist. Er besucht seit fünf Monaten die Kindertagesstätte. Amers Mutter berichtete im Rahmen des Aufnahmegesprächs, dass es ihr besonders wichtig sei, dass ihre Kinder an einem sicheren Ort aufwachsen und Bildung erfahren könnten. Die Familie habe laut Aussage der Mutter keine traumatischen Fluchterfahrungen durchlebt. Sie seien finanziell gut versorgt gewesen und per Flieger nach Deutschland gekommen. Seitdem seien die finanziellen Mittel jedoch knapp, da bisher lediglich der Vater berufstätig sei. Die Mutter gibt an, in der neuen Heimat »noch nicht richtig angekommen« zu sein. Sie vermisse die zurück gebliebenen Angehörigen, insbesondere die Großeltern der Kinder. Allerdings sei sie erfreut darüber, dass ihre Kinder bereits neue Kontakte hätten knüpfen können. Aktuell lebe die Familie in einer Dreizimmerwohnung in einem Hochhaus. Trotz des großen Altersunterschieds teile sich Amer ein Zimmer mit seinen Brüdern. Da Amer 118

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es nicht akzeptieren könne, wenn seine Brüder ihn nicht mitspielen ließen, komme es immer wieder zu Geschwisterrivalitäten. Aus diesem Grund bevorzuge es die Mutter, ihren Sohn bis zum späten Nachmittag in der Kindertageseinrichtung zu lassen. Amer gehörte von Beginn an zu den Kindern, die früh gebracht und spät abgeholt wurden, sodass er täglich mindestens acht Stunden in der Einrichtung verbrachte. Im Rahmen der Eingewöhnungsphase zeigte Amer wenig Trennungsaffekte gegenüber seiner Mutter. Auch im pädagogischen Alltag war Amer recht ruhig und zurückhaltend, was sich insbesondere darin zeigte, dass er wenig Kontakt zu anderen Kindern aufnahm und emotional nahezu starr wirkte. Jedoch konnte er sich von Beginn an gut selbst beschäftigen, was dazu führte, dass er im Gruppengeschehen kaum auffiel. Er spielte meistens mit Autos, Legosteinen, Bauklötzen oder in der Werkstatt.

1.3  Geschehen im pädagogischen Feld Eines Tages nahm Amer sich die Legokiste und ließ sich auf dem Bauteppich nieder. In der Gruppe herrschte an diesem Tag viel Trubel und damit einhergehend ein hoher Lärmpegel, da verschiedene Projekte geplant waren und die Fachkräfte aufgrund eines Krankheitsfalls unterbesetzt waren. Somit wurden an diesem Tag 22 Kinder von zwei pädagogischen Fachkräften betreut. Während Silvia (pädagogische Fachkraft I, Name geändert) mit der Hälfte der Gruppe das Bastelprojekt in Angriff nahm, ging Miriam (pädagogische Fachkraft II, Name geändert) mit den anderen Kindern in den Garten der Einrichtung. Schnell bemerkte Silvia, dass das Bastelangebot nicht auf jedermanns Interesse stieß. Da sie an diesem Tag aufgrund privater Angelegenheiten Stress empfand, wollte sie jegliche Diskussionen vermeiden. Somit durften die Kinder, die nicht mitbasteln wollten, die Zeit zum freien Spiel in der Gruppe nutzen. Silvia sah plötzlich, dass sich eines der dreijährigen Kinder während des Bastelns eingenässt hatte. Gemeinsam suchten sie die Toilette auf, die direkt am Gruppenraum angebunden ist. Da das Kind noch nicht in der Lage war, sich eigenständig umzuziehen, benötigte es Silvias Hilfe. Währenddessen verletzte sich eines der Kinder mit der Bastelschere und begann zu weinen. Als Silvia zur Hilfe eilen wollte, sah sie im Seitenwinkel, dass Amer sich eine Pistole aus Legosteinen baute, was sie zunächst ignorierte. Nachdem sie das weinende Kind getröstet und mit einem Pflaster versorgt hatte, beobachtete sie, wie Amer seine selbst gebaute Legopistole in die Hand nahm und lautstark »Bum bum bum« machte. Gerade, als zwei andere Jungen mitspielen wollten, sprang Silvia auf, nahm Amer seine Legopistole aus der Hand, brach sie in der Mitte auseinander und sagte mit sehr ernst klingender Stimme: »So was will ich nicht noch mal sehen. Weißt du, wie gefährlich das ist? Waffen sind Relevanz von Resilienz und Mentalisierung in der Frühpädagogik

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hier verboten.« Als Konsequenz nahm sie ihm die Legokiste weg. Amer reagierte wütend und stampfte mit seinen Füßen fest auf den Boden auf. Silvia ignorierte dies und wandte sich den anderen Kindern zu. Kurz darauf kam Miriam mit den anderen Kindern zurück in die Gruppe. Sofort nahm sie Amer wahr, der inzwischen weinend auf dem Bauteppich saß. Sie setzte sich zu ihm und suchte das Gespräch. Daraus entstand folgender Dialog: Miriam:  »Du weinst ja. Möchtest du mir erzählen, warum du traurig bist?« (Amer wurde schlagartig ruhiger.) Amer:  »Alles kaputt gemacht.« Miriam:  »Wer hat was kaputt gemacht?« An dieser Stelle griff Silvia ein und erzählte die Situation. (Amer begann wieder, stärker zu weinen.) Miriam spürte, wie angespannt und gestresst ihre Kollegin war. Daher machte sie ihr den Vorschlag, sich eine kurze Pause zu nehmen, was Silvia dankend annahm. Dann wandte sich Miriam Amer wieder zu und setzte das Gespräch fort. Miriam:  »Oh je, du hast dir bestimmt ganz viel Mühe beim Bauen gegeben. Das kannst du ja besonders gut.« Amer:  »Ja.« Miriam:  »Da kann ich verstehen, dass du traurig und verärgert darüber bist, dass deine Legopistole kaputt gemacht wurde. Möchtest du mal von mir in den Arm genommen werden? Komm, ich tröste dich.« Amer:  »Ja, und neue Pistole bauen.« (Miriam kniete sich Amer gegenüber und streichelte ihm über die Schulter.) Miriam:  »Wofür brauchst du denn eine Pistole?« Amer:  »Ich kein Polizist mehr.« Miriam:  »Ahhh, du warst ein Polizist und hast dir deswegen eine Pistole gebaut?« Amer:  »Ja, Polizei.« Miriam:  »Jetzt verstehe ich, wozu du die Pistole brauchtest. Ich glaube, das hat die Silvia nicht verstanden. Wenn du magst, können wir aber gemeinsam zu ihr gehen. Dann kannst du ihr erzählen, dass du ein Polizist warst. Ich bin mir sicher, wir finden gemeinsam eine Lösung, damit du wieder Polizist sein kannst.« Nachdem Silvia aus ihrer Pause zurückkehrte, wirkte sie ruhiger und entlasteter. Sie suchte zunächst das Gespräch zu ihrer Kollegin Miriam, bevor sie auf Amer zuging. Sie berichtete, dass es an diesem Morgen bereits einen heftigen Konflikt zwischen ihr und ihrem Partner gegeben habe, sodass sie mit ihren Gedanken ganz 120

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woanders sei. Silvia sah ihr Fehlverhalten Amer gegenüber ein. In der Pause wurde ihr bewusst, dass sie aufgrund ihrer eigenen Belastung und Überforderung weder in der Lage war, die Perspektive des Kindes einzunehmen, noch ihre eigenen Gefühle unter Kontrolle zu haben. Sie bat Amer, der sich dank Miriam inzwischen beruhigt hatte, um ein gemeinsames Gespräch, in dem sie sich bei ihm entschuldigte. Darü­ ber hinaus machte sie Amer den Vorschlag, ihm eine neue Legopistole zu bauen. Amer nahm beides an. Silvia holte die Legokiste zurück in die Gruppe und setzte sich auf den Bauteppich. Neben Amer kamen noch weitere Kinder hinzu, und letztlich bauten sie mehrere Legopistolen, mit denen sie anschließend alle zusammen Polizei spielten. Amer schien besonders erfreut darüber zu sein, dass andere Kinder an seinem Spiel interessiert waren. Dies war eine völlig neue Erfahrung für ihn.

2  Das Fallbeispiel im Kontext der Mentalisierungstheorie Aus der Mentalisierungstheorie geht hervor, dass die Entwicklung dieser Fähigkeit in vier unterschiedlichen Modi verläuft. Zwischen andertalb und vier Jahren befindet sich das Kind im Als-ob-Modus, weshalb dieser bezogen auf das Fallbeispiel hier in den Fokus genommen wird. Im Als-ob-Modus, dem Modus des Spiels und der Imagination, kommt es zu einer Entkopplung der inneren Befindlichkeit und der Realität, was Kontrolle und Modifikation ermöglicht. Hierbei bilden die physische Welt und die imaginierte Welt (z. B. im Spiel) zwei unterschiedliche Welten. Aus Amers Sicht könnte dies bedeuten, dass er nicht nur Polizei spielt, sondern, solange er spielt, auch Polizist ist. Dieses Verständnis erklärt sein Spielverhalten (das Bauen einer Legopistole). Entwicklungspsychologisch ist bei den Drei- bis Fünfjährigen von der sogenannten magischen Phase die Rede (Bensel u. Haug-Schnabel, 2017). Diese Phase bestimmt die emotionale sowie kognitive Entwicklung und beeinflusst somit das kindliche Denken und Handeln. Kinder haben in dieser Phase noch keine konkreten rationalen Vorstellungen oder gar Sicherheiten über die Ursachen und Wirkungen der Welt, in der sie aufwachsen. Die Umwelt ist belebt und beseelt und mitunter magisch. Auch haben sie noch kein konkretes Bild von sich selbst entwickelt, weshalb sie sich an Vorbildern orientieren und sich immer wieder in neue Rollen einfinden (z. B. Superheld, Feuerwehrmann, Zauberer), um sich auszuprobieren (Michaelis, 2017). Die Mentalisierungstheorie geht davon aus, dass ein Kind mit drei Jahren noch nicht fähig ist, sein Erleben in Zusammenhang mit dem mentalen Zustand zu bringen, weshalb die im Spiel auftretenden Handlungen und Gedanken gänzlich ungefährlich bleiben (Brockmann u. Kirsch, 2010). Sobald ein Spiel in aggressiv wirkenden Handlungen besteht, fällt es Erwachsenen dennoch häufig Relevanz von Resilienz und Mentalisierung in der Frühpädagogik

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schwer, Spiel und Aggression voneinander zu trennen. Dies gilt es jedoch klar voneinander zu differenzieren: »Wir definieren eine Handlung mit aggressivem Inhalt, also eine Handlung, die die psychische oder physische Verletzung oder Schädigung eines anderen zum Thema hat, dann als gespielte Aggression, wenn sie vom Akteur mit dem Bewusstsein ausgeführt wird, dass es sich um ein Spiel handelt« (Hoppe-Graff, 2014, S. 771). Dies bedeutet, dass das Kind sich seines Als-ob-Charakters bewusst ist und dass es anderen keine ernsthaften Schädigungen zufügen will. Trotz dieser klaren Differenzierung kommt es in der Praxis immer wieder vor, dass sich pädagogische Fachkräfte uneins darüber sind, ob es sich in solchen Situationen wirklich »nur« um gespielte Aggressionen handelt (Hoppe-Graff, 2014, S. 771). Das Verhalten der Bezugsperson – in dem Fall der pädagogischen Fachkraft – gegenüber der Gedanken- und Spielwelt des Kindes nimmt eine ähnliche Bedeutung wie bei der Affektspiegelung ein. Laut Fonagy und Kollegen stellt insbesondere eine spielerische Spiegelungsinteraktion zwischen dem Kind und seiner Bezugsperson die Voraussetzung dafür dar, dass das Kind seine innere Realität als repräsentational – sprich weder als vollständig real noch als vollständig irreal – zu begreifen lernt (Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2018). Anhand Amers Verhalten wird deutlich, dass er die Realität nachspielt und modifiziert. Er externalisiert seine inneren Zustände in Spielfiguren und entkoppelt seine innere Befindlichkeit von der Realität. Zur Förderung der kindlichen Mentalisierungsfähigkeit sollte die pädagogische Fachkraft in der Lage sein, angemessen auf das Spiel im Als-ob-Modus zu reagieren, indem sie dem Kind auf einer feinfühligen Art und Weise wiederholt verdeutlicht, dass die Realität anders ist als die innere Vorstellung. Fonagy und Kollegen vertreten die Ansicht, dass es zu den spezifischen Merkmalen von Interaktionen, die eine Veränderung in der Qualität der inneren Repräsentationen hervorrufen, auf die Fähigkeit der Bezugsperson ankommt, dem Kind markierte Externalisierungen seiner inneren Zustände zur Verfügung zu stellen. Darüber wird dem Kind signalisiert, dass das innere Erleben von der physikalischen Realität getrennt und somit kontrollierbar ist und eigene Impulse und Wünsche keine Auswirkungen haben (Fonagy et al., 2018). Im Fallbeispiel zeigt sich, dass Silvia das kindliche Spielverhalten als Realität (Pistole = Gewalt, Krieg, Terror, Gefahr) gedeutet und ihre damit verbundenen Affekte (Angst, Zorn, Unverständnis) auf Amer projiziert hat. Aufgrund ihres bereits zuvor erhöhten Arousals (»bio-behavioural switch model«1) ist es ihr 1 Das »bio-behavioural switch model« ist ein stressabhängiges Schaltmodell, welches die Wechselwirkung zwischen Stress, Aktivierung des Bindungssystems sowie den Wechsel von explizitem und implizitem Mentalisieren verdeutlicht (Taubner, 2016).

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nicht mehr gelungen, nachzudenken und die interaktionellen Vorgänge zu mentalisieren sowie die passenden pädagogischen Interventionen zu setzen, was schlussendlich zur Folge hatte, dass sie prämentalisierend agierte, indem sie ins Spiel eingriff und die selbst gebaute Pistole zerbrach. Miriam hingegen übernahm eine Containerfunktion nach Bion,2 indem sie Amers heftige Affekte erkannte (kongruente Spiegelung) und über Ideen verfügte, wie seinem Ärger und seiner Verzweiflung begegnet werden konnte (Containment, Markierung). Bezogen auf die Kernmerkmale des Mentalisierens zeigte Miriam außerdem eine Haltung des Nichtwissens, indem sie Amer mit einer interessierten Offenheit begegnete und versuchte, sein (Spiel-)Verhalten zu verstehen. Amer war zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Lage, Silvias Reaktion nachzuvollziehen, da erst der reflexive Modus (ca. viertes bis fünftes Lebensjahr) das Kind zur Metakognition befähigt und dadurch ermöglicht, über das eigene Selbst sowie über die inneren Zustände anderer nachzudenken (Brockmann u. Kirsch, 2010). Damit der Übergang in den reflexiven Modus überhaupt gelingen kann, bedarf es einer spielerischen Haltung der Bezugsperson sowie die Fähigkeit, negative Affekte containen zu können (Kirsch, Brockmann u. Taubner, 2016), was Miriam stellvertretend für Silvia in dieser Situation übernommen hat. Da dies im Kitaalltag des Öfteren vorkommt, stehen Silvia und Miriam inzwischen in einem Konkurrenzverhältnis. Während Miriam selbst in herausfordernden Situationen ruhig und empathisch bleibt, handelt Silvia hingegen impulsiv. Dies führt immer wieder zu Diskussionen zwischen den beiden Fachkräften. Insgesamt betrachtet lässt sich ableiten, dass je nach Haltung der pädagogischen Fachkraft Mentalisierungsprozesse hergestellt oder verhindert werden können und darüber hinaus die sozial-emotionale Entwicklung des Kindes gefördert oder aber auch gehemmt wird. Welche Auswirkungen dies bezogen auf die sozial-emotionale Entwicklung des Kindes haben kann, wird im Folgenden erläutert.

2 Der Begriff »Containment«, der auf Bion zurückgeht, bedeutet, dass die Bezugsperson für die Affekte des Kindes eine Containerfunktion übernimmt. Das heißt, dass sie die kindlichen Affekte stellvertretend verarbeitet und dem Kind im geeigneten Moment zur Reintrojektion zurückgibt (Holmes, 2016). Relevanz von Resilienz und Mentalisierung in der Frühpädagogik

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3 Pädagogische Fachkräfte als Begleiter von Mentalisie­ rungsprozessen – die Bedeutung ihrer Haltung für die sozial-emotionale Entwicklung des Kindes Aus der Mentalisierungstheorie ist bekannt, dass sich das Kind nicht aus sich selbst heraus, sondern nur durch den anderen erkennt (Kirsch et al., 2016), was in diesem Kontext bedeutet, dass die pädagogische Fachkraft zunächst selbst mentalisierungsfähig sein muss, um als Modell und Resonanzkörper fungieren zu können. Eine mentalisierende Grundhaltung zeichnet sich durch viele Merkmale aus, weshalb hier lediglich auf die, die im frühpädagogischen Kontext am wichtigsten erscheinen, eingegangen wird. Eine ausgeprägte Mentalisierungsfähigkeit ist dadurch gekennzeichnet, dass die pädagogische Fachkraft eine empathische Grundhaltung besitzt und Inte­ resse am Kind und seinem Erleben zeigt. Darüber hinaus verfügt sie idealerweise über einen liebevollen Humor, kann über sich selbst lachen und ist spielerisch. Zudem ist sie fähig, die eigenen Gedanken und Gefühle und die anderer zu berücksichtigen und zu respektieren. Flexibles Denken und das Einnehmen verschiedener Perspektiven gehören ebenfalls zu den wesentlichen Kompetenzen. Auch zeichnet sich eine adäquate Mentalisierungsfähigkeit dadurch aus, dass die pädagogische Fachkraft ihren Beitrag zu Missverständnissen reflektieren und benennen kann. Darüber hinaus kann sie sich auf Kompromisse einlassen und besitzt eine Problemlösefähigkeit. Wie bereits im vorherigen Abschnitt erläutert, gehören Neugierde und die Haltung des Nichtwissens sowie die Übernahme einer Containerfunktion zu den Kernmerkmalen einer gelungenen Mentalisierung. Bezogen auf das Fallbeispiel zeigt sich an Miriams Verhalten ein gelungener Mentalisierungsprozess. Miriam war in der Lage, Amers Erregungszustand wahrzunehmen, ihm seine Gefühle zu spiegeln (»Du weinst ja« oder »Da kann ich verstehen, dass du traurig und verärgert darüber bist«) und somit einen Zugang zu ihm zu finden, worüber sie letztlich ein Verständnis seiner kindlichen (Fantasie-)Welt erhielt (»Ah, du warst ein Polizist«). Darüber hinaus können pädagogische Fachkräfte die kindliche Mentalisierungsfähigkeit fördern, indem sie mit dem Kind über Gefühle sprechen, Raum für Freispiel und Exploration ermöglichen und eine anregende Umgebung schaffen. Erst durch das Gestalten eines verlässlichen Rahmens wird ein mentaler Spielraum (Winni­cott, 1971) geschaffen, der es dem Kind ermöglicht, seine Gefühlswelt sowie unbewusste Vorstellungen mitzuteilen. Es wird von der Annahme ausgegangen, dass pädagogische Fachkräfte mit einer mentalisierenden Haltung in Alltagsinteraktionen reflektierter sind und daher angemessener situationsbezogen reagieren kön124

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nen, was insbesondere in stressbelastenden Interaktionsmomenten eine unterstützende Ressource darstellt (Schwarzer, 2018). Die Tatsachen, dass sich die Mentalisierungsfähigkeit fundamental in den ersten sechs Lebensjahren entwickelt und immer mehr Kinder immer früher außerfamiliär betreut werden, betont die Wichtigkeit der Mentalisierungsfähigkeit pädagogischer Fachkräfte. Denn nicht alle Kinder haben die gleichen Grundvoraussetzungen, wenn es um ihre Entwicklung geht. Gerade das Aufwachsen in prekärer Lebenslage kann mit Risikofaktoren, wie z. B. Armut oder sozialer Ausgrenzung, einhergehen. Sind Eltern aufgrund eigener Mangelerfahrungen oder aber auch (psychischer) Belastungen nicht in der Lage, ihrem Kind als mentalisierendes Objekt zur Verfügung zu stehen, erhalten andere Beziehungen, wie beispielsweise die zwischen Fachkraft und Kind, eine umso wichtigere Bedeutung. Laut Denker (2012) können Fachkräfte – sofern das pädagogische Handeln auf einer mentalisierenden Grundhaltung basiert – gescheiterte Eltern-Kind-Beziehungen kompensieren oder zumindest deren Auswirkungen verringern. Wächst das Kind in einem Umfeld auf, in dem Interaktionen weniger von Reflexivität und Feinfühligkeit, sondern z. B. von Desinteresse, Überversorgung, Vernachlässigung oder Gewalt geprägt sind, kann die sozial-emotionale Entwicklung enorm beeinträchtigt werden. Bezogen auf das Fallbeispiel könnte die in dieser Situation unzureichende Mentalisierungsfähigkeit von Silvia in Amer das Gefühl ausgelöst haben, etwas falsch gemacht zu haben. Dies kann dazu führen, dass die kindliche Exploration beeinträchtigt wird und situativ ein gehemmtes (Spiel-)Verhalten entsteht. Kommt es immer wieder zu Störungen der markierten Affektspiegelung, kann dies die Ursache dafür sein, dass das Kind keinen adäquaten Umgang mit Gefühlen erlernt bzw. große Schwierigkeiten mit Spielkameraden und Spiel hat. Bleibt die Reaktion der Bezugsperson unmarkiert, wird der Affekt nicht angemessen reguliert, was im Kind letztlich Angst vor Externalisierungen auslösen kann. Dies bedeutet, dass das innere Erleben, das zum Zweck der Affektregulierung externalisiert wird, vom Individuum als Teil einer faktischen äußeren Realität wahrgenommen wird und nicht als etwas, das zu seinem Selbst gehört. Dies wiederum kann zur Folge haben, dass das Kind soziale Interaktionen meidet oder den Mut verliert, aktiv nach sozialen Erfahrungen zu suchen (Fonagy et al., 2018). Gerade Fachkräfte aus pädagogischen Handlungsfeldern scheinen aufgrund von Stress besonders für Einbrüche ihrer Mentalisierungsfähigkeit gefährdet zu sein (Kirsch, 2014). Dennoch gehört es zu den zentralen Aufgaben, Kinder einfühlsam zu begleiten. In diesem Zusammenhang stellt Resilienz eine zentrale Ressource dar. Resilienz kann hier als psychisches Filtersystem verstanden werden, welches bezogen Relevanz von Resilienz und Mentalisierung in der Frühpädagogik

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auf Situationen hohen affektiven Stresses eine Schutzfunktion darstellt (Stein, 2016). Sie ermöglicht, flexibel auf Situationen reagieren zu können, indem Ressourcen bzw. Verarbeitungsmuster, sogenannte Copingstrategien, eingesetzt werden, die zur Bewältigung der Anforderungen bedeutsam sind (Bernhard u. Wermuth, 2011). Mentalisierung kann hier als eine wichtige Copingstrategie verstanden werden, da diese Fähigkeit Menschen hilft, situationsangemessen und zielgerichtet zu agieren und weniger rasch handlungsunfähig zu werden. Interessant erscheint in diesem Kontext auch der Ursprung des Begriffs »Resilienz« (lateinisch: »salire« für »springen« und »re« für »zurück«). Resilienz steht demnach dafür, dass ein ursprünglicher Zustand wiedererlangt wird. Beim Menschen meint dies z. B. die Erholung von Stress (Steinebach, 2015). Betrachtet man die zwei Fähigkeiten (Resilienz und Mentalisierung) zusammenhängend, kann zum einen davon ausgegangen werden, dass Resilienz einen wesentlichen Beitrag zur Wiederherstellung der Mentalisierungsfähigkeit nach Krisensituationen leistet. Zum anderen kann angenommen werden, dass Resilienz dazu dient, dass das Umschalten zwischen den beiden Arousalsystemen (Mentalisieren vs. Kampf/Flucht) zu einem späteren Zeitpunkt eintritt als bei Menschen, die nicht über diese Fähigkeit verfügen. Andersherum betrachtet, leistet die Mentalisierungsfähigkeit jedoch auch einen wesentlichen Beitrag zur Förderung der Resilienz. Die Fähigkeit zu mentalisieren ermöglicht, negative Erfahrungen aus der Vergangenheit zu verstehen, eigene Gefühle und Handlungen sowie die des Gegenübers wahrzunehmen und realistische Alternativen für die Zukunft zu finden, wodurch wichtige Resilienzfaktoren, wie z. B. Selbstwirksamkeit, Selbststeuerung, soziale Kompetenzen oder Selbst- und Fremdwahrnehmung, gestärkt werden (Stein, 2016). Somit handelt es sich hierbei um wichtige Fähigkeiten, die sich wechselseitig beeinflussen. Davon ausgehend spielen beide Fähigkeiten eine wesentliche Rolle für die sozial-emotionale Entwicklung des Kindes und sollten daher von Beginn an gefördert werden.

4 Die Teamsitzung als reflexiver Raum zur Stärkung der Mentalisierungsfähigkeit pädagogischer Fachkräfte Der pädagogische Alltag ist nicht von Konstanz und Vorhersehbarkeit geprägt, sodass das pädagogische Handeln häufig spontan und situativ erfolgt. Daher ist naheliegend, dass es dabei zu nicht- oder prämentalisierenden Reaktionen kommen kann. Für die Beziehungsgestaltung zwischen Fachkraft und Kind ist entscheidend, wie mit Fehlreaktionen anschließend umgegangen wird. Bezogen auf das oben beschriebene Fallbeispiel haben sich die pädagogischen Fachkräfte, 126

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Silvia und Miriam, dazu entschieden, den Vorfall mit Amer im gesamten Team zu thematisieren, um ein tiefergehendes Verständnis zu entwickeln. Im Sinne einer mentalisierenden Haltung erteilte die Leitung der Kindertageseinrichtung (die vorab von Silvia und Miriam weitestgehend über die Situation informiert wurde) dem Team die Aufgabe, Amers Perspektive einzunehmen und nachzuempfinden, was in dieser Spielsituation in ihm vorgegangen sein könnte. Dabei entstanden folgende Hypothesen: – Ich frage mich, warum die Erzieherin mein selbst gebautes Spielzeug kaputt ge­­ macht hat. – Ich habe mir so viel Mühe beim Bauen gegeben und bin traurig, dass dies nicht anerkannt wurde. – Ich bin sauer auf die Erzieherin, weil sie mir mein Spiel verdorben hat. – Kampf- und Actionspiele machen mir Spaß. Warum darf ich das nicht spielen? – Mit einer Pistole fühle ich mich stark und wie ein Mann. – Wenn ich groß bin, möchte ich Polizist werden. – Mit dem Spiel wollte ich auf mich aufmerksam machen und Kontakt zu anderen Kindern knüpfen. – Ich kämpfe gerne, aber schaue dabei, dass ich niemanden verletze. – Zu Hause darf ich auch nicht mit Pistolen spielen, da meine Mama das nicht mag. – Jetzt weiß ich nicht mehr, was richtig und was falsch ist. – Vielleicht ist es besser, nicht mehr zu spielen, dann kann ich auch nichts falsch machen. Die darauffolgende Aufgabe bestand darin, eigene Gedanken und Gefühle bezogen auf die Spielsituation zu äußern, was Folgendes ergeben hat: – Ich frage mich, wie Amer seine ersten Lebensjahre im Irak verbracht hat und welche Erfahrungen er in einem Gebiet, in dem Krieg herrscht, gesammelt haben könnte. Möglicherweise hat er vergangene Erfahrungen im Spiel re­­inszeniert. – Ich sehe es als meine Aufgabe, das kindliche Spielverhalten zu beobachten und zu versuchen, die Motive/Beweggründe des Kindes zu verstehen. Dabei berücksichtige ich die individuelle Lebenswelt des Kindes. – Gerade in Spielsituationen würde ich versuchen, Amers Gefühle wahrzunehmen, um im späteren Verlauf daran anknüpfen und letztlich seine sozial-emotionale Entwicklung entsprechend fördern zu können. – Fantasien, die sich insbesondere im Spielverhalten widerspiegeln, sollte jedes Kind frei entfalten dürfen. – Das Spielverhalten eines Kindes sollte nicht mit den eigenen, erwachsenen Sichtweisen gleichgesetzt werden, da sonst Fehldeutungen sowie Missverständnisse Relevanz von Resilienz und Mentalisierung in der Frühpädagogik

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entstehen können, die wiederum erhebliche Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung haben können. – Ich habe nicht das Recht, in das Spiel eines Kindes einzugreifen. Jedoch kann ich nach Beendigung des Spiels den Kontakt zum Kind suchen und den Spielverlauf gemeinsam mit dem Kind reflektieren.

Die Teamsitzung kann hier als eine mentalisierungsfördernde Umgebung verstanden werden, in der unterschiedliche Perspektiven und Wahrnehmungen eingebracht und somit Selbst- sowie Fremdreflexionsprozesse ermöglicht werden. Dies setzt jedoch voraus, dass pädagogische Fachkräfte in erster Linie selbst die Bereitschaft und Fähigkeit haben, Prozesse, Anforderungen, Herausforderungen, Krisen, aber auch Erfolgserlebnisse, die den Kitaalltag kennzeichnen, aus Sicht des anderen verstehen sowie interpretieren zu wollen, um daraus Schlussfolgerungen für das Verhältnis zur jeweiligen Person ziehen zu können. Darüber hinaus sollten pädagogische Fachkräfte in der Lage sein, eigene Sicht- und Verhaltensweisen, Stärken und Schwächen sowie Deutungen und Wertungen kritisch zu hinterfragen (Turner, 2018). Die Übung in der Teamsitzung hat dazu beigetragen, über innerpsychische Prozesse nachzudenken und diese in Worte zu fassen (explizites Mentalisieren). Ziel dessen war es, die interaktionellen Vorgänge bezogen auf die Situation zu mentalisieren, um zukünftige Missverständnisse sowie Fehlreaktionen im pädagogischen Alltag zu verringern. Mentalisierungsfördernde Interventionen dienen dazu, Mentalisierung als Ressource begreifbar zu machen – sowohl im Sinne eines entwicklungsfördernden Prozesses des Kindes als auch im Hinblick einer verbesserten Reflexions- und somit Reaktionsfähigkeit der Fachkraft. Dabei geht es weniger darum, Einbrüche von Mentalisierung im Kitaalltag grundsätzlich zu vermeiden. Viel wichtiger erscheint es, dass die eigene Mentalisierungsfähigkeit rasch wiedererlangt wird, indem vorhandene Ressourcen genutzt werden, um Stressoren zu bewältigen und somit sowohl die eigene psychische Gesundheit als auch die des Kindes aufrechtzuerhalten.

5  Abschließende Gedanken Einen Blick für den Blick des Kindes zu haben – darin besteht häufig die Herausforderung im pädagogischen Alltag. In diesem Beitrag wurde vor allem anhand des Fallbeispiels gezeigt, welche Relevanz eine mentalisierende Haltung seitens der pädagogischen Fachkraft hat, um das (Spiel-)Verhalten sowie dahinterliegende Beweggründe des Kindes verstehen zu können. 128

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Damit Mentalisierungsförderung im Rahmen der Kindertagesbetreuung gelingen kann, bedarf es hoch qualifizierter, feinfühliger Fachkräfte, einer sicheren Fachkraft-Kind-Beziehung sowie Zeit und Raum zum kindlichen Explorieren. Gerade Kindertageseinrichtungen sollten einen Ort zum Erlernen dieser Fähigkeit sein, da die Mentalisierungsfähigkeit interaktionell und in den ersten sechs Lebensjahren entsteht. Hinter all den zuvor genannten Faktoren stehen Chancen, die in keinem weiteren Lebensabschnitt so sehr genutzt werden können wie in der (frühen) Kindheit. Damit dies in der Praxis gelingen kann, benötigen pädagogische Fachkräfte regelmäßige Supervisionen sowie Fortbildungen, um zunächst ihre eigene Mentalisierungsfähigkeit zu fördern, und im nächsten Schritt die der Kinder. Letztlich können und sollten alle Erziehenden zur mentalen Gesundheit des Kindes beitragen. Daher sollte auch die Zusammenarbeit mit Eltern in diesem Kontext nicht außer Acht gelassen werden. Themenspezifische Elternabende, wöchentliche Elternstammtische oder Projektwochen in den Kindertageseinrichtungen sind Beispiele, die auf die Bedeutung der Mentalisierungsfähigkeit für die kindliche Entwicklung aufmerksam machen können. Dies setzt jedoch voraus, dass alle Erziehenden bereit sind, sich weiterzuentwickeln, fortzubilden und ihre eigene Haltung immer wieder kritisch zu hinterfragen. Der Nutzen reflexiver Qualifizierungsmaßnahmen liegt darin, dass die Fähigkeit zu mentalisieren weit über die Kindheit hinaus erlernbar und somit verbesserbar ist. All das ist mit der Hoffnung verbunden, in Kindertageseinrichtungen neue entwicklungsfördernde Impulse durch die Etablierung mentalisierungsbasierter Frühpädagogik zu setzen, welche zur Qualitätssteigerung früher Bildung, Erziehung und Betreuung beiträgt und das kindliche Aufwachsen – selbst in prekären Lebensverhältnissen – fördern kann.

Literatur Bensel, J., Haug-Schnabel, G. (2017). Grundlagen der Entwicklungspsychologie. Die ersten 10 Lebensjahre (12. Aufl.). Freiburg i. Br.: Herder. Bernhard, H., Wermuth, J. (2011). Stressprävention und Stressabbau. Praxisbuch für Beratung, Coaching und Psychotherapie. Weinheim/Basel: Beltz. Brockmann, J., Kirsch, H. (2010). Konzept der Mentalisierung. Relevanz für die psychotherapeutische Behandlung. Psychotherapeut, 55, 279–290. Denker, H. (2012). Bindung und Theory of Mind. Bildungsbezogene Gestaltung von Erzieherinnen-Kind-Interaktionen. Wiesbaden: Springer. Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E. L., Target, M. (2018). Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst (6. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Holmes, J. (2016). Mentalisieren in psychoanalytischer Sicht: Was ist neu? In J. G. Allen, P. Fonagy (Hrsg.), Mentalisierungsgestützte Therapie. Das MBT-Handbuch – Konzepte und Praxis (3. Aufl., S. 62–88). Stuttgart: Klett-Cotta. Relevanz von Resilienz und Mentalisierung in der Frühpädagogik

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Hoppe-Graff, S. (2014). Pädagogische Psychologie: Übersicht und ausgewählte Themen. Gespielte und ernsthafte Aggression. In D. G. Myers (Hrsg.), Psychologie (3. Aufl., S. 745–783). Berlin/ Heidelberg: Springer. Kirsch, H. (2014). Grundlagen des Mentalisierens. In H. Kirsch (Hrsg.), Das Mentalisierungs­ konzept in der Sozialen Arbeit (S. 12–50). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Kirsch, H., Brockmann, J., Taubner, S. (2016). Praxis des Mentalisierens. Stuttgart: Klett-Cotta. Michaelis, R. (2017). Die ersten 5 Jahre. Wie sich Ihr Kind entwickelt (5. Aufl.). Stuttgart: TRIAS. Schwarzer, N.-H. (2018). Mentalisieren in der frühen Kindheit. In S. Gingelmaier, A. Ramberg, S. Taubner (Hrsg.), Handbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik (S. 135–144). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Stein, H. (2016). Fördert das Mentalisieren Resilienz? In J. G. Allen, P. Fonagy (Hrsg.), Mentalisierungsgestützte Therapie (S. 422–449). Stuttgart: Klett-Cotta. Steinebach, C. (2015). Überblick: Resilienz- und Resilienzförderung in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. In M. Schär, C. Steinebach (Hrsg.), Resilienzfördernde Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen (S. 98–121). Weinheim/Basel: Beltz. Taubner, S. (2016). Konzept Mentalisieren. Eine Einführung in Forschung und Praxis (2. Aufl.). Gießen: Psychosozial-Verlag. Turner, A. (2018). Mentalisieren in der schulpädagogischen Praxis. Work Discussion als Methode für mentalisierungsbasierte Pädagogik? In S. Gingelmaier, A. Ramberg, S. Taubner (Hrsg.), Handbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik (S. 188–199). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Winnicott, D. W. (1971). Playing and reality. London/New York: Routledge.

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Zweites Feld: Mentalisieren in der Schule Die Feentür Ein Beispiel einer alltäglichen mentalisierungsanregend-didaktischen Idee für die Schule Stephan Gingelmaier und Stefanie Gingelmaier

Der Beitrag berichtet knapp über die Entdeckung einer kleinen Feentür im Klassenzimmer durch eine zweite Grundschulklasse. Obwohl die Fee sich nie zeigt, sondern über Briefe mit den Kindern kommuniziert, entspinnt sich darüber eine Form der Kommunikation die, wie der Beitrag zeigen soll, Mentalisieren und Lernen anregen kann. The article briefly reports on the discovery of a small fairy door in the classroom by a second elementary school class. Although the fairy never shows up, but communicates with the children via letters, a form of communication emerges that, as the contribution is supposed to show, stimulates mentalization and learning.

Fonagy (2018) fordert zu zwei Konsequenzen einer mentalisierungsbasierten Pädagogik auf. Die erste Konsequenz ist, dass sich Bildungsinstitutionen als mentalisierungsanregende Sozialräume verstehen sollen. Als zweite Konsequenz ergibt sich, so Fonagy, was Mentalisieren in der Pädagogik »uns über die Art und Weise lehren kann, wie einzelne Pädagogen Wissen vermitteln« (Fonagy, 2018, S. 11). Dieser Beitrag illustriert mit einem kurzen Beispiel, wie alltäglich, unaufwendig und hoch motivierend ein mentalisierungsfördernder Unterricht (Wissensvermittlung) in der Schule sein kann. Es geht hierbei nicht darum, wie so oft beim Mentalisieren, etwas Neues zu propagieren (Fonagy u. Bateman, 2008), sondern vielmehr darum, aufzuzeigen, dass das Wichtige (hier Mentalisieren) immer wieder erstaunlich einfach umsetzbar ist, und auch, wie häufig dies in Klassenzimmern wahrscheinlich bereits erfolgt (sicherlich meist in Unkenntnis des Mentalisierungskonzepts). Dabei soll auch erläutert wer131

den, wie sehr das kognitive und das sozial-emotionale Lernen miteinander in Verbindung stehen und wie elementar dies alles für eine als relativ unauffällig beschreibbare Grundschulklasse gilt. »Eine grüne Tür, Frau Müller! Das ist eine grüne Tür! Und die glitzert sogar!« In einer zweiten Grundschulklasse entdecken die Kinder im Laufe der ersten Stunde zu ihrer völligen Überraschung eine ca. 5 × 8 cm große Tür an der Fußbodenleiste rechts der Tafel (Abbildung 1).

Abbildung 1: Die grüne Feentür (ca. 5 × 8 cm) mit Feenstaub an der Fußbodenleiste, rechts der Tafel im Klassenzimmer der 2a

Sofort entsteht eine produktiv-aufgeregte Stimmung. Fast schon schreiend überbieten die Kinder sich in ihren Ideen zu der kleinen Tür: »Es könnte von einer Maus stammen.« »Vielleicht ist ein Wichtel eingezogen, so wie im Buch von den Weihnachtswichteln.« »Ich glaube, Igel Isidor ist wieder da, der war schon so lange nicht mehr in Mathe!« [Igel Isidor = eine Figur aus dem Mathebuch] 132

Gingelmaier / Gingelmaier

»Es könnten auch Zwerge sein!« »Vielleicht sind es Geheimgänge zu allen Klassenzimmern!«  … Für diesen Tag müssen die Schülerinnen und Schüler die Spannung aushalten, nicht zu wissen, was es mit der Tür auf sich hat. Die Klassenlehrerin, wie auch die anderen Lehrerinnen der Klasse, spielen mit und geben sich unwissend. Im Laufe des Vormittags kommen die Kinder immer wieder auf die Feentür zurück, haben viele Ideen und Fragen. Frau Müller gibt dem Raum, ohne Antworten zu liefern. Am nächsten Tag erscheint die Klasse hoch motiviert zum Unterricht. An der Feentür befindet sich ein Brief, den die Fee der Klasse geschrieben hat (Abbildung 2).

Dienstag, der 25. November Liebe Klasse 2a, Ihr habt es ja schon gestern bemerkt, dass etwas vor sich gegangen ist hier bei Euch im Klassenzimmer. Am Sonntag bin ich hier eingezogen, weil mir Euer Klassenzimmer so gut gefallen hat. Ich habe eine neue Wohnung gesucht, weil es mir im Wald langsam zu kalt wurde. Es ist aber auch gerade ungemütlich draußen! Einmal konnte ich meine Haustür nicht mehr aufzaubern, weil mein Zauberstab schon eingefroren war. Stellt Euch das mal vor! Dann musste ich ihn in der Mittagssonne erst aufwärmen, um die Tür öffnen zu können. Deshalb musste jetzt etwas passieren, und ich fühle mich hier bei Euch schon sehr wohl. Schön warm war es am Wochenende bei Euch! Ich habe ein bisschen in Euren Büchern gelesen, bin Seil gesprungen und habe mir in meiner Küche süßen Milchreis mit Beeren gekocht. Es war so gemütlich. Was habt Ihr eigentlich am Wochenende gemacht? Viele Grüße Eure Klassenfee Minze PS: Meine Feentür lässt sich nur mit einem Zauberstab öffnen, denn dahinter liegt ja meine Wohnung. Auf keinen Fall dürft Ihr, Eure Lehrerin oder der Hausmeister versuchen, sie zu öffnen, sonst bleibt sie mir für immer verschlossen, und ich muss zurück in den Feenwald. Das wäre wirklich sehr bedauerlich, denn ich bin total neugierig auf Euch.

Abbildung 2: Eröffnungsbrief der Fee Minze

Die Feentür

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Frau Müller führt – aus gegebenem Anlass – in den Brief als Schriftform ein, dies stößt auf großes Interesse bei den Kindern. Sodann sind diese hoch motiviert, Minze schriftlich und in Briefform von ihren Wochenenden zu berichten. Am nächsten Tag erhält jedes Kind eine individualisierte Form der Antwort, in der Minze versucht, etwas Spezifisches des Kindes und seiner Wochenendschilderung aufzugreifen. Diese Briefe sind ansprechend klein und mit etwas Feenglitzer versehen. Minze fordert die Kinder nun wiederum auf, ihr zu antworten. Die Lehrerin lässt es den Kindern aber nun frei, ob sie dies in Anspruch nehmen wollen. Grundsatz ist, dass jeder eingehende Brief der Schülerinnen und Schüler an die Fee individuell beantwortet wird. Es etabliert sich mit manchen Kindern (ca. acht der 21 Schülerinnen und Schüler) ein reger Austausch. Dabei lassen sich grob drei Arten von schreibenden Kindern ausmachen: 1. Kinder, die ohnehin gern und leicht kreativ schreiben, denen diese Form Spaß macht. 2. Kinder, die dies unausgesprochen als Pflichterfüllung sehen, weil natürlich jeder im Klassenzimmer auch weiß (manche davon ahnen), dass hinter dem gesamten Feenzauber Frau Müller steckt. Es handelt sich also um eine indirekte Beziehungsarbeit mit Frau Müller. 3. Kinder, die in ihren Briefen Dinge ansprechen, die ihnen entweder gerade akut »unter den Nägeln brennen« oder sich als längerfristige Themen der Kinder zeigen. Schwerpunktmäßig versucht die Fee, – den Kindern aus Kategorie 1 eher witzige und anregungsreiche Antworten zu schrei­­ben, – bei den Kindern aus der Kategorie 2 eher das Beziehungsangebot der Kinder zu sehen und wertzuschätzen sowie sich mit ihnen schriftlich über das Gefühl von Pflichterfüllung auszutauschen, – mit den Kindern aus der Kategorie 3 neugierig, nachfragend und empathisch ins Gespräch über ihre Themen zu kommen. Diese Form der Kommunikation spielt und intensiviert sich über viele Wochen als festes Angebot im Klassengeschehen. Hin und wieder gibt es einen Briefwechsel mit Minze als Klassenaufgabe, im Vordergrund stehen aber die individualisierten Verläufe.

Insgesamt kann zunächst festgestellt werden, dass die Idee von Frau Müller sehr einfache, motivierende, reale und alltagsbezogene Schreibanlässe zu einer wichtigen zu lernenden Schriftform, dem Brief, bietet. Dies verwebt sich mit den folgenden mentalisierungsanregenden Teilbereichen zu einer »runden«, gut zu didaktisierenden Einheit: 134

Gingelmaier / Gingelmaier

Ȥ Aufgrund der Freiwilligkeit können zwanglose Räume entstehen, über mentale Zustände und soziale Prozesse nachzudenken. Dies kann nicht verordnet werden. Ȥ Die Kinder wissen, dass hinter der Idee zur Feentür Frau Müller steckt, viele wollen aber daran glauben, dass es die Fee Minze doch geben könnte. Es handelt sich dabei also um einen spielerischen imaginativ-psychischen Austausch, der aber nicht im Als-ob-Modus verbleibt, da die Kinder die Anbindung an die reale Welt über Frau Müller nie leugnen. (Als ein Junge versucht, die Tür mit Gewalt zu öffnen, schreibt ihm die Fee, dass er dies nicht tun solle, da es ihr Angst mache und ihre feine Wohnung darüber drohe, zerstört zu werden.) Ȥ Dies führt gleichzeitig aber zu einer indirekten und damit nicht zu intimen Form der Beziehungsarbeit zwischen den Kindern und Frau Müller. Je häufiger die Briefwechsel sind, desto mehr individuellen Anlass aus den Kategorien 1 bis 3 scheint es für die Kinder zu geben. Ȥ Letztlich stößt die Fee die Kinder (gerade solchen aus der dritten Kategorie: Kinder, die ihre Themen einbringen) in ihren Briefen immer wieder an, diese auf mentale Zustände zu beziehen und in sozialen (konflikthaften) Prozessen auch die Perspektiven anderer Beteiligter zu erkunden. Der Einsatz solcher Türen ist aktuell gerade für die Grundschule sehr beliebt (inspiriert durch das sich auf das neuseeländische Schulsystem beziehende Buch »Der tanzende Direktor. Die beste Schule der Welt«; Hasel, 2019). Die Türen können verhältnismäßig günstig in Bastelläden gekauft werden. Anhand der Feentür konnte beispielhaft gezeigt werden, wie leicht und sinnvoll Mentalisieren im Klassenzimmer Fuß fassen kann (und es dies sicher sehr häufig auch schon tut). Der Beitrag soll aber vor allem dazu anstiften, dass sich Lehrende viele einfache und zugleich sozialkognitive Lernanlässe erarbeiten, die das Mentalisieren im Klassenzimmer aus gutem Grund fördern.

Literatur Fonagy, P. (2018). Geleitwort. Eingeschränkte Mentalisierung: Eine bedeutende Barriere für das Lernen. In S. Gingelmaier, S. Taubner, A. Ramberg (Hrsg.), Handbuch Mentalisierungs­basierte Pädagogik (S. 9–13). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Fonagy, P., Bateman, A. (2008). Attachment, mentalization, and borderline personality disorder. Eur Psychother, 8 (1), 35–47. Hasel, V. F. (2019). Der tanzende Direktor. Lernen in der besten Schule der Welt. Zürich/Berlin: Kein & Aber.

Die Feentür

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Max, ein Rabauke? Mentalisieren von Beziehungsdynamik im Unterricht Tillmann F. Kreuzer und Agnes Turner

In diesem Beitrag wird die Beziehungsdynamik im Unterricht in den Fokus genommen. Lehramtsstudierende lernen bereits während des Studiums mittels Unterrichtsbeobachtungen, schulische Situationen in praxisbegleitenden Seminaren zu reflektieren. Jene Lernsituationen dienen der Verbesserung der Mentalisierungsfähigkeit und dem Üben einer verstehenden Haltung. This article focuses on the psycho-dynamics in the classroom. During teacher training studies, students use classroom observations to reflect on school situations in practice-oriented seminars. Those learning situations serve to reinforce the ability to mentalize and the practice of an understanding attitude.

1 Vorbemerkung Das Einnehmen einer verstehenden Haltung dem Kind und sich selbst gegenüber kann in der Ausbildung von Lehrkräften durch Beobachtungen von Schüler-Lehrer-Interaktionen geübt werden. Die Besprechung der protokollierten Beobachtungen dient demnach als Übungsfeld im Lehramtsstudium für das Verstehen von Mentalisierungsprozessen. Hierbei wird den Studierenden die Möglichkeit geboten, in einem geschützten Rahmen über ihr pädagogisches Handeln zu reflektieren, was zur Förderung einer verbesserten Mentalisierungsfähigkeit führen kann. Nach Allen (2006) wird zwischen explizitem und implizitem Mentalisieren unterschieden. Explizites Mentalisieren charakterisiert sich durch einen kontrollierten, bewussten Vorgang, der einen hohen Arbeitsaufwand mit einschließt. Impliziertes Mentalisieren hingegen meint einen »intuitiven, prozeduralen und automatischen, nicht bewussten« Vorgang (Allen, 2006, S. 33). Impli136

zites Mentalisieren kommt bereits während des Unterrichtens zum Tragen. Das explizite Mentalisieren wird hingegen in der Reflexion der beobachteten Situationen, beim Protokollieren derselben sowie in der Besprechung innerhalb der Seminargruppe verstärkt. In diesem Beitrag wird beschrieben, wie eine Gruppe von Lernenden, in unserem Fall Studierende des Lehramts für die Sekundarstufe 1, anhand eines Protokolls einer Unterrichtssequenz aus dem Praktikum Mentalisieren übt. Konkret wird die Unterrichtsstunde anhand der Protokolle erneut vergegenwärtigt, um eigenes Denken und Handeln sowie Motive und Handlungen des Gegenübers verstehen zu lernen. Dementsprechend wird in einem Beispiel der Frage nachgegangen, inwiefern Mentalisieren anhand eines Protokolls einen Mehrwert für das Verstehen der Beziehungsdynamik im unterrichtlichen Geschehen, des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns sowie dem der Schülerinnen und Schüler darstellen kann. Dies wird im Folgenden demonstriert und schrittweise dargestellt.

2  Methodisches Vorgehen Das Beobachten von Unterrichtssequenzen orientiert sich an der Beobachtungsmethode nach dem Tavistock-Modell (Rustin u. Bradley, 2008). Im Fokus steht die Beobachtung von interaktionellem Geschehen im Unterricht, wobei die Beobachtenden auch gleichzeitig Akteure im Unterricht sind. Analog zur Work Discussion (Turner, 2018) werden Beobachtungsprotokolle der eigenen Unterrichtspraxis angefertigt und besprochen. Das ausgewählte Beobachtungsprotokoll stammt aus einer Seminargruppe, die während des Praxissemesters wöchentlich an einem Tag ein universitäres Begleitseminar in den jeweiligen Fachdidaktiken und der Erziehungswissenschaft besucht. Die Studierenden befinden sich kurz vor dem Abschluss des Bachelors, d. h. im vierten oder fünften Semester. Im Begleitseminar ist es den Lehrpersonen überlassen, individuelle Schwerpunkte zu setzen, sodass die Studierenden im günstigsten Fall bei der Planung des Praxissemesters frei entscheiden können, welchen Schwerpunkt sie wählen möchten (Kreuzer u. Turner, 2016). Im Verlauf des Semesters fertigen die Studierenden zwischen fünf und acht Protokolle an, die teilweise in der Großgruppe, teilweise in Kleingruppen vorgestellt und gemeinsam besprochen werden. Dies ist jeweils abhängig von der Anzahl der Teilnehmenden und ihrer inneren Bereitschaft, ihre Protokolle und somit auch sich selbst vorzustellen. Dies fördert anfangs oftmals Hemmungen zutage, welche im Vorfeld thematisiert werden. Somit wird versucht, Themenkomplexe um Scham bzw. Mentalisieren von Beziehungsdynamik im Unterricht

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Beschämung zu enttabuisieren und den Studierenden ihre Ängste vor dem Vorstellen eines Protokolls in der Gruppe zu nehmen. Hierfür werden exemplarisch literarische Vignetten verwendet, die anfangs beispielhaft besprochen werden (Kreuzer, 2016). Anhand von filmischen Sequenzen wird ein weiterer Schritt eingezogen, um erste eigene Beobachtungsprotokolle zu erstellen, bevor die Studierenden dann selbst ihre Protokolle in die Gruppe einbringen. Das vorgelegte Beobachtungsprotokoll wurde in der Begleitveranstaltung von den Studierenden vorgestellt und besprochen (Kreuzer, 2016). Dies erklärt auch die stellenweise starke Durchdringung mit umgangssprachlichen Wendungen. Es wurde bereits in weiteren Seminaren zu pädagogischer Praxis als Übungsbeispiel für das Verstehen von Mentalisierungsprozessen in der Lehrkraft-­Schülerin-Interaktion verwendet. So ist im methodischen Erarbeiten der Mentalisierungsprozesse der Studierenden ein Dreischritt zu erkennen: Das Material wurde im Protokoll in der Seminargruppe im ersten Schritt gemeinsam analysiert und besprochen. Durch das Einsetzen des Protokolls als Übungs­ beispiel sind im zweiten Schritt unabhängig von den Urhebern Überlegungen zur Mentalisierungsfähigkeit entstanden. Die Ergebnisse der Diskussionen beider Gruppen werden von uns im weiteren Verlauf aufgegriffen und auf Mentalisieren bzw. Nichtmentalisieren hin analysiert. Dazu haben wir uns auf diese Forschungsfragen konzentriert: Ȥ Wie gelingt es der Lehrperson, das Geschehen in der Klasse und hier fokussiert auf die Beziehung und Interaktion mit Max zu mentalisieren? Ȥ Welche Prozesse lassen sich beschreiben? Ȥ Wo werden Abbrüche oder Unterbrechungen gesehen? Aufgrund einer geschlechtlichen Neutralität und stereotypen Zuschreibungen in den Seminargruppen haben wir uns dazu entschieden, die Studierenden jeweils als »die Lehrperson« zu bezeichnen. Dies öffnet unserer Meinung nach Denkräume, anstatt sie zu verschließen, und wird von uns in dieser Weise konzeptionell verwendet. 2.1  Beispiel aus der Lehrerbildung: Max, der Rabauke Auszug aus dem Protokoll: Ich bin in meiner fünften Klasse in Deutsch (Realschule). Gerade haben wir mit der Einheit »Fabeln und Sagen« begonnen. Es ist eine Doppelstunde, fünfte und sechste am Freitag, danach ist Wochenende. Die Schüler strömen nach der Pause in das Klassenzimmer, das ein Kollege aufgeschlossen hat. Damit hat er meinen Plan der persönlichen Begrüßung quasi 138

Kreuzer / Turner

schon zerstört. Jetzt muss ich umdenken. Während ich alle Kinder persönlich begrüße, übergebe ich ihnen ein Fabelwesen und bitte sie, es für sich zu behalten. Max plärrt sofort los: »Ich bin ein Adebar!1 Was ist das denn?« Ich ignoriere ihn erst einmal. Er lässt nicht locker und beginnt, angeregt mit seinen Gruppenmitgliedern zu quatschen – ich lasse ihn gewähren. Nach ein paar Minuten merke ich, dass ich langsam, aber sicher ob der eindeutigen Hinweise an Max, still zu sein, sauer werde und bitte die Gruppe mehrmals, sich ruhiger zu verhalten. Max hält es kaum noch an seinem Platz, und er muss entweder zum Mülleimer laufen, etwas trinken, sein Buch aus dem Schrank holen etc. Ich bleibe bei mir und überlege mir in einer Stillarbeitsphase, was ich mit Max machen könnte, damit er anfängt, sich dem Stoff zu widmen. Als ich mich einer Schülerin zuwende, sehe ich im Fenster, wie er sich mit Andreas zu rempeln beginnt, und ich explodiere: »Max verdammt noch mal, jetzt ist es aber genug!« Er reagiert mit einem »Waaaaas?« und bringt mich damit zur Weißglut. Ich poltere etwas von Unterrichtsstörung und Arbeiten und versetze ihn ins hintere Drittel des Klassenzimmers. Dort habe ich ihn im Blick, er ist weit von den anderen Schülern entfernt und kann diese nicht mehr stören. Ich drohe ihm, dass er ja nichts mehr von sich hören lassen solle. Als wir einen Lernstopp machen, dürfen alle rumlaufen, etwas essen und trinken. Sofort springt Max wie ein wilder Kerl herum und stößt mit Andreas zusammen, sodass sein Brot auf den Boden fällt. Hannah beschwert sich, dass Andreas und Max sie hänseln würden, und ich komme nicht dazu, meinen Kaffee zu trinken. Ich bitte Max zu mir und gehe mit ihm vor das Klassenzimmer. Dort möchte ich, dass er mir kurz zuhört, bevor ich den bestellten Filmwagen holen kann. Er solle mir doch bitte helfen. »Nö. Mach’ ich doch nicht.« Fragend schaue ich Max an und erkläre ihm, dass ich heute keine weitere Lust habe, mich mit ihm auseinanderzusetzen. Er könne gerne an der Stunde teilnehmen oder gehen. Er schaut mich an und meint: »Dann geh ich lieber.« – »Okay, dann geh ins Zimmer und pack deine Sachen, dann kannst du zum Sekretariat und dich abmelden. Dein Vater kann dich dann abholen!« Er wird bleich, und ich fühle einen kleinen Triumph über Max. Er stammelt, dass das nicht gehe. Er werde bleiben. Ich bleibe hart und sage, das wird schon gehen. »Nein, dann bekomme ich wieder Ärger.« »Das kann ich mir vorstellen – so ungezogen wie du bist!« Ich bemerke gar nicht, wie verletzend ich für Max sein muss, und drehe mich um, um den Wagen zu holen. Aus den Augenwinkeln erkenne ich, wie Max mir eine Grimasse schneidet und den Mittelfinger zeigt. Ich bin erschüttert. Drehe mich 1

Storch in Fabeln. Der Hinweis erscheint berechtigt, da in den Besprechungen mit den Studierenden immer wieder die Nachfrage gestellt wurde, was dieses Fabelwesen darstellt. Mentalisieren von Beziehungsdynamik im Unterricht

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umgehend um und blicke in ein wuterfülltes und zugleich angstverzerrtes Gesicht. »Das war zu viel!« Ich will Max ins Zimmer führen und ihn seine Sachen packen lassen. Max fällt auf die Knie, und ich bemerke, wie in mir Hohn und Spott aufsteigen, und sage zu Max: »Das kannst du dir sparen! Mach’ dich nicht lächerlich!«

Im Protokoll erscheint nun eine Lücke, die wir durch die Besprechung wie folgt konstruiert haben: Die Lehrperson bringt Max ins Sekretariat und bittet die Sekretärin, seine Eltern zu verständigen. Die Eltern mögen den Jungen unverzüglich abholen, da sein Verhalten im Unterricht nicht mehr tragbar sei. Zwischenzeitlich wurde für die Klasse ein Film eingelegt. Als der Film läuft, die Klasse still und gespannt dasitzt, schweife ich mit meinen Gedanken zu Max. Ich lasse den Film weiterlaufen, bitte Fabian, aufzupassen und nach dem Ende das Arbeitsblatt auszuteilen. Ich will kurz zu Max. Er wartet am Sekretariat mit verheulten Augen, und ich habe ein schlechtes Gewissen. Denke mir, dass es jetzt nichts bringt, mit Max zu reden, und setze mich kurz neben ihn und beginne nach einer Weile: »Max, ich denke, wir sollten mal zusammen in Ruhe über heute und die letzten Wochen reden. Wäre ganz gut, wenn wir da rauskommen.« Max sagt nichts. Sein Vater kommt und holt ihn ab. Ich begrüße ihn und sage zu ihm: »Max und ich werden uns in der kommenden Woche zusammensetzen, um über sein Verhalten zu sprechen. Das war heute leider nicht tragbar für den Unterricht, und nach einem Gesprächsversuch möchte ich mich nicht beleidigen lassen.« Der Vater schweigt und sieht nicht freundlich aus. Ich würde jetzt nicht gern mit ihm nach Hause fahren. Zum Abschied reiche ich Max die Hand, er gibt sie mir und schleicht mit hängendem Kopf seinem Vater hinterher. Mir geht Max nicht aus dem Sinn, und ich entschließe mich dazu, die Situation zu protokollieren. Wie konnte Max mich in solch eine Wut versetzen? Wieso habe ich das zugelassen? Max ist unverschämt, akzeptiert keine Regeln. Dann diese Wut bei ihm und gleichzeitig die Angst vor dem Vater. Max ist in seiner Rolle als Bösewicht der Klasse voll durch mich bestätigt worden. Das kann ich nicht noch einmal machen. Das tut mir nicht gut und Max auch nicht.

2.2  Diskussion des Materials im Kontext von Mentalisieren Im folgenden Abschnitt wird die Stunde mit Max Schritt für Schritt auf Grundlage der Mentalisierungstheorie analysiert. Methodisch wird hier wie bereits oben erwähnt in Anlehnung an die Besprechungen von Work-Discussion-Protokollen gearbeitet. Das Protokoll wurde zuerst im Seminar mit und von der Lehrperson vorgelesen, um einen ersten Eindruck der Stunde zu erhalten. Im nächsten Schritt 140

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wurden erste Assoziationen der Teilnehmenden gesammelt. Anschließend wurde das Protokoll in Kleingruppen diskutiert, bevor zum Abschluss das Protokoll Abschnitt für Abschnitt im Plenum besprochen wurde und Hinweise zur allgemeinen Mentalisierungsfähigkeit der Lehrperson gegeben wurden. Dieses Vorgehen haben wir in den weiteren Übungseinheiten auch ohne die Lehrperson wiederholt; anstelle der Lehrperson wurde das Protokoll von uns verlesen. Ich bin in meiner fünften Klasse in Deutsch (Realschule). Gerade haben wir mit der Einheit »Fabeln und Sagen« begonnen. Es ist eine Doppelstunde, fünfte und sechste am Freitag, danach ist Wochenende. Einleitend wird seitens der Lehrperson eine »hohe« Identifikation mit der Deutschklasse – »meiner« Klasse – erkennbar. Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass es sich um die beiden letzten Stunden vor dem Wochenende handelt, es schon spät ist und vermutlich alle Schülerinnen und Schüler nach Hause gehen wollen – so weit zur Ausgangssituation. Die Schüler strömen nach der Pause in das Klassenzimmer, das ein Kollege aufgeschlossen hat. Damit hat er meinen Plan der persönlichen Begrüßung quasi schon zerstört. Die persönliche Begrüßung – wie auch der Einstieg in die Unterrichtsstunde – scheint für die Lehrperson einen großen Stellenwert einzunehmen, was in der Besprechung bestätigt wurde. Hier kommt es bereits zu einer ersten Enttäuschung durch den Kollegen, der ihr, so wie die Lehrperson meint, die »Show gestohlen« und die Begrüßung »zerstört« habe. In den Besprechungen wird die Vermutung geäußert, dass bereits hier eine Frustration entstanden ist, die allerdings zu diesem Zeitpunkt aufgrund der Interaktionsdichte in der Unterrichtsstunde von der Lehrperson nicht wahrgenommen werden konnte. Die Lehrperson bestätigt, dass sie an dieser Stelle zu sehr mit den aktuellen Geschehnissen der Situation beschäftigt war und daher nicht mit der eigenen inneren Welt in Kontakt treten konnte. Die aufsteigenden Emotionen, wie Enttäuschung, Wut und möglicherweise auftauchende Ohnmachtsgefühle scheinen verstärkend auf den weiteren Verlauf der Dynamik mit dem Schüler zu wirken, was im Folgenden erkennbar werden wird. Es wird in der Diskussion angemerkt, dass es der Lehrperson bereits hier nicht möglich zu sein scheint, dem Handeln des Kollegen einen Sinn zuzuschreiben; sie kann nicht verstehen, weswegen die Tür aufgeschlossen worden ist. In der Reflexion der Seminargruppe stimmte die Lehrperson den Vermutungen der anderen Studierenden zu, dass die Türe geöffnet wurde, damit etwa Ruhe auf dem Gang einkehrt oder der Kollege schlicht darum gebeten hatte. Jetzt muss ich umdenken. Während ich alle Kinder persönlich begrüße, übergebe ich ihnen ein Fabelwesen und bitte sie, es für sich zu behalten. Mentalisieren von Beziehungsdynamik im Unterricht

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Die Stunde wurde minutiös geplant, und der Plan scheint durch die »verpatzte« Begrüßung bereits abhandengekommen zu sein. Die Lehrperson gerät unter Stress, was diese mit der Aussage bekräftigt, dass sie nun umdenken müsse. Das »Umdenken« gelingt der Lehrperson und kann als Zeugnis einer sich aufbauenden Professionalisierung gelesen werden. Die Kontaktaufnahme kann seitens der Lehrperson ritualisiert dazu dienen, den Schülerinnen und Schülern zu signalisieren, dass der Deutschunterricht beginnt. Gleichzeitig wurde von der Lehrperson nach Diskussion im Seminar an dieser Stelle verbalisiert, dass sie einen positiven Kontakt mit der Klasse herstellen möchte, um den Schülerinnen und Schülern das Lernen zu ermöglichen. Jedoch wird nicht transparent gemacht, weswegen sie ihre Fabelwesen für sich behalten sollen. Max plärrt sofort los: »Ich bin ein Adebar! Was ist das denn?« Ich ignoriere ihn erst einmal. Er lässt nicht locker und beginnt, angeregt mit seinen Gruppenmitgliedern zu quatschen – ich lasse ihn gewähren. Max gelingt es nicht, der Anweisung – das Fabelwesen erst mal für sich zu behalten – Folge zu leisten. Hingegen platzt es regelrecht aus ihm heraus. Somit eröffnet Max die Stunde mit einer vermeintlichen Provokation für die Lehrperson. Doch was geht in Max vor? Was lässt ihn so unruhig werden? Max erhält bewusst keine Aufmerksamkeit seitens der Lehrperson, obwohl sein Verhalten wahrgenommen wird. Dennoch möchte die Lehrperson dieses und die dahinterliegenden Motive nicht thematisieren. In der Seminarbesprechung wurde diesbezüglich nachgefragt, ob die Lehrperson – wie möglicherweise schon in anderen Stunden – Max nicht zu viel Raum gewähren wollte. Das Gewährenlassen kann ein mögliches Nichtmentalisieren darstellen, da die Lehrperson versucht, Max und sein Handeln möglichst auszublenden, um einen aufkommenden Konflikt zu vermeiden. Nach ein paar Minuten merke ich, dass ich langsam, aber sicher ob der eindeutigen Hinweise an Max, still zu sein, sauer werde, und bitte die Gruppe mehrmals, sich ruhiger zu verhalten. Max hält es kaum noch an seinem Platz, und er muss entweder zum Mülleimer laufen, etwas trinken, sein Buch aus dem Schrank holen etc. Max kann die von der Lehrperson ihm zugeschriebene innere Unruhe kaum mehr aushalten, er muss diese Ausagieren, will Reaktion und Aufmerksamkeit erzeugen, die die Lehrperson ihm vorerst nicht gewährt – im Gegenteil: Sie lässt ihn gewähren. Erst durch seine motorische Unruhe kann er seine Affekte entladen. Wie ist es aber dazu gekommen? Wäre eine Erklärung der Lehrperson auf die Frage, was ein Adebar ist, eine beruhigende Maßnahme gewesen? Hätte sich Max dann verstanden gefühlt, weil die Lehrperson seine innere Unruhe wahrgenommen und adäquat reagiert hätte? Hätte er so sicher in die Arbeitsphase starten können? 142

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Ich bleibe bei mir und überlege mir in einer Stillarbeitsphase, was ich mit Max machen könnte, damit er sich dem Stoff zuwendet. Die Lehrperson versucht, sich »innere Freiräume« zu schaffen, in denen sie versucht, das Handeln von Max zu überdenken bzw. sich zu überlegen, wie sie auf Max einwirken kann, damit ein Raum für Lernen wieder ermöglicht wird. Dabei ist es der Lehrperson offensichtlich nicht möglich, das Naheliegende zu bedenken: die Frage, was Max in diese emotionale Lage gebracht hat und welchen Beitrag der Verlauf der Stunde dabei hat. Somit bleibt die Lehrperson hier auf einer äußeren Dimension des pädagogisch-erzieherischen Handelns und wendet sich vermutlich zu wenig möglichen inneren Spannungszuständen von Max mentalisierend zu. Die Passage zeigt, wie die Lehrperson selbst nach Zeit und Raum sucht, um sich Gedanken um Max zu machen. Sie nutzt dazu eine Stillarbeitsphase, um einerseits »bei sich zu bleiben« und anderseits gedanklich mit Max in Kontakt zu treten. Offen bleibt vorerst, inwiefern die Lehrperson hier über die psychischen Zustände mit seinen inneren Spannungszuständen nachdenkt. Es scheint, als ob die Lehrperson die psychischen Zustände von Max nicht mentalisiert, hingegen viel mehr nach schnellen Lösungen sucht, was die Seminargruppe ebenso anmerkte. Es ist gut vorstellbar, dass das Stressniveau der Lehrperson in der gesamten Situation stetig zunimmt. So löst die Auseinandersetzung mit dem eigenen Handeln – »werde … ich … sauer« – bereits Aggression bei der Lehrperson aus, die nicht (aus)gehalten (Gingelmaier u. Ramberg, 2018) bzw. konstruktiv entschärft werden kann, wie der folgende Abschnitt verdeutlicht: Als ich mich einer Schülerin zuwende, sehe ich im Fenster, wie er sich mit An­ dreas zu rempeln beginnt, und ich explodiere: »Max, verdammt noch mal, jetzt ist es aber genug!« Interessant dabei findet die Seminargruppe, dass die Lehrperson ebenso wie Max am Anfang der Stunde nicht mehr an sich halten kann. Der Schüler »plärrt los« – die Lehrperson »explodiert«. Und so kann die Lehrperson auch hier nicht bei Max bleiben: Nachdem sie sich in der Stillarbeitsphase Gedanken darüber macht, wie sie ihn wieder in den Unterrichtsfluss integrieren möchte, scheitert sie dadurch, dass sie sich nicht ihm zuwendet, ihm die möglicherweise ersehnte positive Aufmerksamkeit und Anerkennung zuteilwerden lässt, sondern einer anderen Schülerin, sich von ihm somit abwendet und Max dadurch möglicherweise wieder frustriert. Er entgegnet: »Waaas?« und bringt mich damit zur Weißglut. Ich poltere etwas von Unterrichtsstörung und Arbeiten und versetze ihn ins hintere Drittel des Klassenzimmers. Dort habe ich ihn im Blick, er ist weit von den anderen SchüMentalisieren von Beziehungsdynamik im Unterricht

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lern entfernt und kann diese nicht mehr stören. Ich drohe ihm, dass er ja nichts mehr von sich hören lassen solle. Schließlich beginnt die Situation zu eskalieren: Max widmet sich scheinbar noch immer nicht dem Unterricht, im Gegenteil, er beginnt einen anderen Schüler zu rempeln. Vermutlich ist der Junge innerlich dermaßen unter Spannung, dass es ihm gar nicht möglich ist, seine Aufmerksamkeit dem Unterricht zuzuwenden. Als die innere Spannung unerträglich wird, verschafft sie sich Raum nach außen. Es scheint so, als ob die inneren »wilden« Objekte sich im Anrempeln von Andreas manifestieren. Die Lehrperson kann hier im Sinne der mentalisierten Affektivität (Taubner, 2008) weder die eigenen beruhigenden Affekte mentalisierend aufrechthalten, noch gelingt es ihr, auf jene unruhigen von Max beruhigend einzugehen. Vielmehr scheint sie über weite Strecken bemüht zu sein, das innere psychische Gleichgewicht wiederherzustellen, was der ersten Stufe des Drei-Ebenen-Modells nach Fonagy, G ­ ergely, Jurist und Target (2002) entspricht. Konkret in dieser beschriebenen Situation soll betont werden, dass die Lehrperson von ihrem emotionalen Zustand spricht, indem sie meint, dass Max sie zur »Weißglut« gebracht habe. Sie kann den eigenen inneren Zustand wahrnehmen und artikulieren. Die Lehrperson ist in der Lage, kognitiv zu ihren Affekten Zugang zu finden, und kann auf dieser Basis eine Entscheidung für ihr Handeln treffen. Sie versetzt Max innerhalb der Klasse, damit er die anderen Schüler nicht mehr stören und sie ihn gleichzeitig im Auge behalten kann. Die dritte Ebene der mentalisierten Affektivität bleibt hingegen aus. Auf dieser hätte die Lehrperson die eigenen Affekte in der Situa­tion reflektieren, den eigenen Emotionen Bedeutung zuschreiben können, um anschließend »emotionsbewusst und sinnstiftend zu handeln« (Taubner, 2015, S. 59). Im Seminar wird nun die Frage gestellt, welche Spannungszustände für die Lehrperson und für Max unerträglich geworden sind und weshalb diese nach außen drängen müssen. Die Seminargruppe stellt die Hypothese auf, dass die Lehrperson innerlich unter solch einen hohen Stress gerät, dass sie sich dem Schüler nicht mehr professionell zuwenden kann. Das Spannungsfeld der Antinomie Nähe vs. Distanz verschwimmt hier zusehends – kulminiert gegebenenfalls in der ersten Beobachtung im spiegelnden Fenster und verwischt, metaphorisch gesprochen, die Grenzen zwischen Lehrperson und Schüler – die Toleranzgrenze der Lehrperson scheint ausgereizt zu sein, wie auch die von Max, der sein Handeln nicht (mehr) überdenken kann. Max wird ins hintere »Drittel der Klasse« strafversetzt, dadurch frustriert und in seinem Verhalten bestätigt (s. im Folgenden). Wieder wird durch die Seminargruppe erkannt, dass die Lehrperson Max möglichst von sich fernhalten möchte: aus den Augen, aus dem Sinn! 144

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Als wir einen Lernstopp machen, dürfen alle rumlaufen, etwas essen und trinken. Sofort springt Max wie ein wilder Kerl herum und stößt mit Andreas zusammen, sodass sein Brot auf den Boden fällt. Hannah beschwert sich, dass Andreas und Max sie hänseln würden, und ich komme nicht dazu, meinen Kaffee zu trinken. Max nützt nun die Gelegenheit des Lernstopps, um seine innere Spannung im erlaubten Rahmen (sich bewegen, essen, trinken) zu entladen. Wieder versucht er, Kontakt herzustellen, indem er mit einem Schüler zusammenstößt. Scheinbar hat Max nun in Andreas einen Verbündeten gefunden, denn die beiden Schüler suchen sich ein »Opfer« – in diesem Fall ist Hannah die Leidtragende. Im Seminar wurde im Sinne der Mentalisierungstheorie darüber nachgedacht, inwiefern die Lehrperson eine verstehende Haltung dem Kind gegenüber entwickeln könnte, und diesbezüglich überlegt, was wohl die beiden Schüler dazu bewegt, so zu reagieren. Hier können nun verschiedene Überlegungen angestellt werden: Ȥ Versucht man, die Situation im Verlauf zu sehen, so scheint sich eine un­­ erträgliche innere Spannung von Max zu potenzieren. Er braucht ein Ventil, an dem er sich entladen kann. Aufgrund der wiederholten Zurückweisung durch die Lehrkraft ist die Frustration bei Max dermaßen gestiegen, dass er diese auf ein anderes Objekt projiziert. Andreas – ein Freund von Max – könnte ihm hier als stützendes Drittes zur Hilfe kommen, und gemeinsam mit ihm könnte Max versuchen, sein »verletztes Omnipotenzgefühl« wiederherzustellen, indem er sie gegen ein anderes äußeres Objekt wendet. Durch das Hänseln von Hannah wird Frustration bei Max ab- und gleichzeitig bei Hannah aufgebaut. Dadurch könnte die innere Welt von Max Entspannung erleben und sein Selbstwertgefühl – wenn auch auf Kosten von Hannah – steigen. Ȥ Durch das dynamische Übertragungsgeschehen (Kreuzer, 2007, S. 81) wäre es denkbar, dass ein Konflikt von Max mit seinen Eltern auf die Lehrperson übertragen und ausagiert worden ist. So könnte die folgende Eskalation da­ rauf Hinweise geben. Ich bitte Max zu mir und gehe mit ihm vor das Klassenzimmer. Dort möchte ich, dass er mir kurz zuhört, bevor ich den bestellten Filmwagen holen kann. Er solle mir doch bitte helfen. »Nö. Mach’ ich doch nicht.« Fragend schaue ich Max an und erkläre ihm, dass ich heute keine weitere Lust habe, mich mit ihm auseinanderzusetzen. Er könne gerne an der Stunde teilnehmen oder gehen. Er schaut mich an und meint: »Dann geh ich lieber.« Mentalisieren von Beziehungsdynamik im Unterricht

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Nun bittet die Lehrperson Max um Hilfe; die Lehrperson setzt dies als pädagogisches Mittel ein, um Max von den beiden anderen Schülern zu trennen und eine Veränderung der Dynamik herzustellen. Doch dieser Plan wird von Max regelrecht boykottiert. Möglicherweise bestraft Max die Lehrkraft für die enttäuschten vorangegangenen Situationen und unerwiderten Beziehungsangebote, indem er die Bitte ablehnt und dies darüber hinaus auch deutlich verbalisiert. Daraufhin reagiert die Lehrkraft gekränkt und verärgert. In der Folge droht die Lehrperson Max, ihre Macht an ihm und über ihn auszuüben und ihn vom Unterrichtsgeschehen auszuschließen. Dies erzeugt bei Max eine für die Seminargruppe spürbare Ohnmacht. Für die Teilnehmenden ist Max’ Reaktion nachvollziehbar, der viel Enttäuschendes bis jetzt in dieser Stunde erlebt hat, und durch seine Exklusion wird der Gruppe vor Augen geführt, dass die Lehrperson nicht mehr in der Lage ist, sich auf ihn einzustellen. Es ist auf der anderen Seite auch verständlich, dass die Lehrperson Max’ Verhalten als eine weitere Provokation erlebt, die sie auf ihre Person bezieht. Die Lehrperson wehrt sich damit, dass sie Max nicht nur aus der Stunde verweist, sondern aus der Schule ausschließt. Er soll ins Sekretariat gehen und sich abmelden. Die Ohnmacht der Lehrperson wird durch ihr Agieren deutlich, das »Bedrohliche« soll aus dem Unterricht und somit aus der eigenen Emotionalität verbannt werden – Max muss gehen. Spätestens an dieser Stelle kann die Lehrperson nicht mehr mentalisieren – dem Handeln von Max einen Sinn zuschreiben. In dieser Phase des Unterrichts geht es für beide scheinbar nur noch um ein Überleben bzw. um das Überstehen der Unterrichtszeit und um den Kampf, die Autorität nicht zu verlieren. »Okay, dann geh ins Zimmer und pack deine Sachen, dann kannst du zum Sekretariat und dich abmelden. Dein Vater kann dich dann abholen!« Er wird bleich, und ich fühle einen kleinen Triumph über Max. Er stammelt, dass das nicht gehe. Er werde bleiben. Ich bleibe hart und sage, das wird schon gehen. »Nein, dann bekomme ich wieder Ärger.« – »Das kann ich mir vorstellen – so ungezogen wie du bist!« Die Situation eskaliert nun nochmals, als die Lehrperson ankündigt, Max’ Vater zu verständigen. Hier kann die Lehrperson auf ihre innere Welt Bezug nehmen und spricht von einem gefühlten Triumph. Endlich konnte sie den Schüler sinnbildlich gesprochen in die Knie zwingen. Offensichtlich hat die Lehrperson nun einen wunden Hebelpunkt bei Max gefunden: Angst vor dem Vater. Nun hat die Lehrperson scheinbar wieder Kontrolle über die Lage und auch über den Schüler Max erlangt – auf Kosten der Würde des Kindes. Innerhalb der Seminargruppe macht sich eine zunehmende Sprachlosigkeit breit, die in 146

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den Reaktionen auf den Zusammenbruch der Mentalisierungsfähigkeit der Lehrperson bezogen wird. Ich bemerke gar nicht, wie verletzend ich für Max sein muss, und drehe mich um, um den Wagen zu holen. Aus den Augenwinkeln erkenne ich, wie Max mir eine Grimasse schneidet und den Mittelfinger zeigt! Ich bin erschüttert. Drehe mich umgehend um und blicke in ein wuterfülltes, angstverzerrtes Gesicht. »Das war zu viel!« Ich will Max ins Zimmer führen und ihn seine Sachen packen lassen. Max fällt auf die Knie, und ich bemerke, wie in mir Hohn und Spott aufsteigt, und sage zu Max: »Das kannst du dir sparen. Mach’ dich nicht lächerlich.« Max scheint zwischen Wut und Angst hin- und hergerissen zu sein. Einerseits signalisiert er durch das Zeigen des Mittelfingers all seine Wut gegen die Lehrperson, und anderseits wird die Angst vor dem Lehrer und dem Vater sichtbar. Die Lehrperson sieht die Geste von Max und reagiert mit einem »Das war zu viel!« Getrieben durch Kränkung und Wut, will die Lehrperson Max in das Klassenzimmer führen. Nun fällt Max tatsächlich auf die Knie und bettelt die Lehrperson an. Ein Bild der Verzweiflung wird hier auf beiden Seiten manifest, greifbar (Glasl, 2017). Als der Film läuft, die Klasse still und gespannt dasitzt, schweife ich mit meinen Gedanken zu Max. Ich lasse den Film weiterlaufen, bitte Fabian, aufzupassen und nach dem Ende das Arbeitsblatt auszuteilen. Ich will kurz zu Max. Die vorangegangenen Geschehnisse lassen die Lehrperson mental nicht los. Zwar hat sie nun erreicht, dass Max nicht mehr in ihrer Klasse ist, dennoch veranlasst sie ihr schlechtes Gewissen, zu Max zu gehen. Das Nichtwissen über den weiteren Verlauf und die gleichzeitigen Schuldgefühle scheinen unerträglich zu sein. Die Lehrperson gibt ihrem inneren Impuls nach und geht zu Max. Unten wartet er mit verheulten Augen, und ich habe ein schlechtes Gewissen. Denke mir, dass es jetzt nichts bringt, mit Max zu reden, und setze mich kurz neben ihn und beginne nach einer Weile: »Max, ich denke, wir sollten mal zusammen in Ruhe über heute und die letzten Wochen reden. Wäre ganz gut, wenn wir da rauskommen.« Max sagt nichts. Sein Vater kommt und holt ihn ab. Ich begrüße ihn und sage zu ihm: »Max und ich werden uns in der kommenden Woche zusammensetzen, um über sein Verhalten zu sprechen. Das war heute leider nicht tragbar für den Unterricht, und nach einem Gesprächsversuch möchte ich mich nicht beleidigen lassen.« Der Vater schweigt und sieht nicht freundlich aus. Ich möchte nicht mit ihm nach Hause fahren. Zum Abschied reiche ich Max die Hand, er gibt sie mir und schleicht mit hängendem Kopf seinem Vater hinterher. Aufgrund von Schuldgefühlen und gleichzeitiger Sorge, wie es Max mit seinem Vater nun ergehen werde, erfährt die Lehrperson einen inneren Spannungszustand, der durch das Nachgeben bzw. das Nachgehen deutlich wird. Ein Mentalisieren von Beziehungsdynamik im Unterricht

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Wiedergutmachen kann augenblicklich nicht erfolgen; Mentalisierung scheint bei beiden nur langsam wieder zurückzukehren, der Verlust an Mentalisierung jedoch wird gewahr. 2.3  Abschließende Gedanken In der Diskussion des Protokolls mit der betroffenen Lehrperson wurde deutlich, wie sehr sie unter ihrem Handeln Max gegenüber litt. Das schlechte Gewissen, die Reue über das Geschehen führte zu einem Umdenken, und ein hoher Grad an Reflexionsbereitschaft wurde erkennbar. Weswegen es zur Eskalation während der Stunde kam, blieb hingegen unbeantwortet. In den Besprechungen des Protokolls in späteren Seminaren konnten die Studierenden ihr Unverständnis über das Agieren der Lehrperson nicht verbergen. Regelmäßig fällt den Studierenden auf, dass es genügend Interventionsmöglichkeiten für ein frühzeitiges Einschreiten seitens der Lehrperson gab, in der dem Handeln von Max ein Sinn beigemessen hätte werden können. So wird bereits regelmäßig zu Beginn der Stunde angemerkt, dass die Lehrperson in ihrer Aufgabenstellung hätte transparenter sein, sich Max besser hätte zuwenden sollen, ihn nicht ignorieren und mit mehr Humor auf das »Plärren« von Max eingehen können. Für die Studierenden wird anhand der Praxisbeispiele, die auf eine Best Practice verzichten und einen Spiegel der Realität darstellen, bewusst, wie schnell die Lehrkraft selbst in eine scheinbare Sackgasse im unterrichtlichen Geschehen geraten kann. Hierbei gilt es, neben dem reflexiven Umgang mit den Beispielen sowie dem dialogischen Erarbeiten von Handlungsalternativen, neben dem Kind auch den Lehrenden im Auge, »in mind«, zu behalten. Dabei werden sich die Studierenden oftmals erst darüber bewusst, was es bedeutet, mit Kindern, mit Menschen zu arbeiten und deren Handeln einen Sinn zuzuschreiben und ihre Reaktionen auf das Agieren der Lehrperson zu überdenken.

Literatur Allen, J. G. (2006). Mentalisieren in der Praxis. In J. G. Allen, P. Fonagy (Hrsg.), Mentalisierungs­ gestützte Therapie. Das MBT-Handbuch – Konzepte und Praxis (S. 23–61). Stuttgart: Klett-Cotta. Gingelmaier, S., Ramberg, A. (2018). Reflexion als Reaktion. Die grundlegende Bedeutung des Mentalisierens für die Pädagogik. In S. Gingelmaier, S. Taubner, A. Ramberg (Hrsg.), Handbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik (S. 89–106). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Glasl, F. (2017). Konfliktmanagement: Ein Handbuch für Führungskräfte, Beraterinnen und Berater (11. Aufl.). Stuttgart: Freies Geistesleben.

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Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E. L., Target, M. (2002). Affect regulation, mentalization, and the development of the self. London: Karnac Books. Kreuzer, T. F. (2007). Psychoanalytische Pädagogik und ihre Bedeutung für die Schule. Würzburg: Königshausen & Neumann. Kreuzer, T. F. (2016). Grenzverletzungen in jugendliterarischen Narrationen und dem Erkennen von diesen in und mit der studentischen Gruppe. In B. Rauh, T. Kreuzer (Hrsg.), Grenzen und Grenzverletzungen in Bildung und Erziehung: Psychoanalytisch-pädagogische Perspektiven (S. 189–207). Opladen: Barbara Budrich. Kreuzer, T. F., Turner, A. (2016). Grenzverletzungen in Beobachtungen und Beschreibungen im pädagogischen Handeln einer Studierenden. In B. Rauh, T. F. Kreuzer (Hrsg.), Grenzen und Grenzverletzungen in Bildung und Erziehung: Psychoanalytisch-pädagogische Perspektiven (S. 125–140). Opladen: Barbara Budrich. Rustin, M., Bradley, J. (2008). Work discussion: Learning from reflective practice in work with children and families. London/New York: Routledge. Taubner, S. (2008). Mentalisierung und Einsicht. Die reflexive Kompetenz als Operationalisierung von Einsichtsfähigkeiten. Forum der Psychoanalyse, 24, 16–31. Taubner, S. (2015). Konzept Mentalisieren. Eine Einführung in Forschung und Praxis. Gießen: Psychosozial-Verlag. Turner, A. (2018) Mentalisieren in der schulpädagogischen Praxis. Work Discussion als Methode für mentalisierungsbasierte Pädagogik? In S. Gingelmaier, S. Taubner, A. Ramberg (Hrsg.), Handbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik (S. 188–199). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Mentalisieren von Beziehungsdynamik im Unterricht

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»Wenn der Eisberg ins Wanken gerät« – Mentalisierungsförderung im Lernhilfekontext Noëlle Behringer und Lisa Weichel

Warum sind Mentalisierungsprozesse so bedeutsam und was ist an ihnen für Lehrkräfte so herausfordernd? Nach einführenden Überlegungen hierzu geben die Beschreibung einer mentalisierungsanregenden Unterrichtseinheit und drei Fallvignetten Antworten auf diese Fragen, indem sie typische Interaktionen im Unterricht aufzeigen. Die Interaktionen werden mentalisierungsfokussiert verstanden, und Überlegungen zu möglichen mentalen Zuständen der Schülerinnen und Schüler werden in ihre biografischen Entwicklungsbedingungen sowie ihren emotionalen Entwicklungsstand eingebettet. Hieran zeigt sich die zentrale Forderung nach einer Haltung des Verstehenwollens. In addition to a leading reflection on the importance of mentalization processes and challenges for teachers, a mentalization-focused lesson is described and illustrated by three case vignettes of typical interactions in the classroom. The interactions are focused on mentalization and embedded in their biographical developmental conditions as well as their level of emotional development. This shows the demand for an approach which strives for understanding.

1 Herausforderungen im Lernalltag an der Sonderschule im Förderschwerpunkt Lernen Die Schülerinnen und Schüler an der Sonderschule im Förderschwerpunkt Lernen (SFL) weisen neben Einschränkungen in der Lernfähigkeit nicht selten auch sehr unterschiedliche Bedarfe im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung auf. Im schulischen Alltag zeigt sich dies in verschiedenen Auffällig150

keiten (Herz, 2013) und insbesondere in wiederkehrenden, teilweise handfesten Auseinandersetzungen. Dies führt zu verschiedenen Herausforderungen für die Lehrkräfte, die vor allem dadurch bedingt sind, dass die Affektregulation der Schülerinnern und Schüler in sozialen Interaktionen zu misslingen scheint und der Eindruck entsteht, dass das Mentalisieren der fremden mentalen Zustände überfordernd ist, woraus eine emotionale Aufgebrachtheit resultieren kann. Der Ablauf des Lernprozesses kann affektiv, so die Annahme, nur dann gelingen, wenn die Schülerinnen und Schüler ihre emotionale Aufgebrachtheit regulieren und ihr entwicklungsbedingtes epistemisches Misstrauen (Taubner, 2016) überwinden können. Dazu scheint die Mentalisierungsfähigkeit der Lehrkräfte erforderlich. Denn durch das Mentalisieren bezogen auf das Selbst als Lehrkraft und auch bezogen auf die anderen, in diesem Fall die Schülerinnen und Schüler, kann die basale Affektwahrnehmung, die Grundlage für das Mentalisieren ist, angeregt werden (Diez Grieser u. Müller, 2018). Sodann können die Lehrkräfte in Klärungsgesprächen mögliche mentale Zustände modellhaft zur Verfügung stellen. Die Forderung nach einem Mentalisierungsfokus an der SFL lässt sich dadurch umsetzen, dass Lehrkräfte eine Haltung des Verstehen­wollens einnehmen und diese im Unterricht immer wieder verbalisieren und vor allem leben. Wenngleich gelingendes Mentalisieren auf einen Verstehensprozess von eigenen und fremden mentalen Zuständen zielt, kann es dennoch langfristig auch als Handlungs- und vor allem Haltungskonzept für den Lernalltag in der Schule umgesetzt werden. Die Reflexion eigener mentaler Zustände, insbesondere eingebettet in den eigenen biografischen Kontext, trägt dazu bei, mit Demut und Neugierde verschiedene Perspektiven zu bedenken und so das Verhalten von Schülerinnen und Schülern besser verstehen zu können. Zugleich bietet die Thematisierung von Mentalisierungsprozessen im Unterricht als Lerneinheit die Möglichkeit, die Relevanz für das gegenseitige Verstehen mentaler Zustände im Alltag zu betonen.

2  Eine mentalisierungsanregende Lerneinheit Im Rahmen des Referendariats wurde eine mentalisierungsanregende Lern­ einheit1 geplant und durchgeführt. In den täglichen Interaktionen während des Unterrichts und der Pausen war zuvor immer wieder aufgefallen, dass es den Schülerinnen und Schülern schwerfällt, eigene Affekte wahrzunehmen und diese in konfliktreichen Situationen anderen Personen gegenüber zu äußern. 1 Unterrichtskonzept anforderbar per E-Mail bei Lisa Weichel ([email protected]). Mentalisierungsförderung im Lernhilfekontext

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Zumeist scheiterte das Mentalisieren in dem Sinne, dass die Welt im konkretistischen Verstehen wahrgenommen wurde. Diese Art des Mentalisierungsscheiterns kann, wie Diez Grieser und Müller (2018) aufzeigen, als Regression auf den Äquivalenzmodus verstanden werden. Im Äquivalenzmodus werden eigene Gedanken und Affekte als mit denen von anderen Personen identisch und als Abbild der Realität erlebt. Das Kind kann daher noch nicht verstehen, dass das Denken eine Interpretation der Umwelt statt deren Realität darstellt (Diez ­Grieser u. Müller, 2018). Dies zeigte sich auch in der Klärung der verschiedenen Konflikte: Bei der Exploration von Gedanken und Gefühlen wurden diese teilweise von den Schülerinnen und Schülern als überwältigend erlebt. Zugleich konnten andere Perspektiven nicht in das Denken miteinbezogen werden. Stattdessen wurden die eigenen Affekte (oft mit umgedrehtem Vorzeichen) auch den Kontrahenten unterstellt, wodurch deren Handeln noch unverständlicher erschien. Zusammenhänge zwischen Handeln und Fühlen waren für viele Schülerinnen und Schüler nur schwer nachvollziehbar. Sie verloren sich bei den klärenden Gesprächen in detaillierter Beschäftigung mit äußeren Begebenheiten. Durch die Fokussierung auf mentale Inhalte und verschiedene Perspektiven wurde die Lerngruppe angeregt, eine mentalisierende Sicht auf den Konflikt einzunehmen. Die Unterrichtseinheit (UE) wurde in der siebten Klasse einer SFL durchgeführt, weshalb darauf zu achten war, dass die Lerninhalte dem Entwicklungsstand der Lernenden entsprechend aufbereitet wurden. Aus diesem Grund wurde zunächst erforscht, welche Gefühle es gibt, und eruiert, dass Gefühle und Gedanken nicht sichtbar sind. Als Metapher diente ein Eisberg: Die Gedanken und Gefühle liegen bei einem Eisberg unter Wasser, man kann sie also nicht sehen. Das Verhalten hingegen ist die Spitze des Eisbergs, die aus dem Wasser herausragt. Für die Klasse schien diese Metapher schwer verständlich, weshalb an verschiedenen Beispielen und in Konflikten immer wieder auf die Metapher eingegangen und gemeinsam erforscht wurde, welche Gedanken und Gefühle mit dem gezeigten Verhalten zusammenhängen könnten. In der Durchführung des Unterrichts war von besonderer Bedeutung, dass die Lehrkräfte im Teamteaching immer wieder selbstoffenbarend professionell ihre eigenen Gedanken und Gefühle verbalisierten, um so Mentalisieren anzuregen. Bei der Thematisierung verschiedener Gefühle wurde deutlich, dass es der Klasse schwerfiel, angenehme Gefühle zu benennen. Die meisten waren eher aversiver Art (z. B. Wut, Traurigkeit). Dies kann als vorsichtiger Hinweis darauf verstanden werden, dass die Schülerinnen und Schüler zumindest in dieser spezifischen Situation innerpsychisch belastet sind und nur begrenzt positive Gefühle empfinden. Oftmals wurde beim gemeinsamen Erforschen deutlich, dass die Schülerinnen und Schüler Gedanken beschreiben konnten, ihnen jedoch die Verbalisierung 152

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von zugehörigen Gefühlen schwerfiel. Daher wurde zunächst daran gearbeitet, wie eigene und fremde Gefühle erkannt werden können. Dies wurde durch die mimische und gestische Darstellung und anschließende Interpretation verschiedener Gefühle durch die Schülerinnen und Schüler und durch Gefühlsbildkarten unterstützt. Besondere Bedeutung kam während der gesamten UE der ermutigenden Bestärkung von gelingenden Mentalisierungsprozessen zu. In Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern und den Eltern wurde immer wieder deutlich, dass die Schülerinnen und Schüler im häuslichen und schulischen Kontext stark belastet sind. Die Belastungen bezogen sich vor allem auf jegliche Interaktionen, den sozioökonomischen Status und die familiäre Be- und Erziehung. Es kann angenommen werden, dass all dies zu aversiven intrapsychischen Zuständen führt. Regulation und Selbstmentalisieren stellen eine Herausforderung dar. Im Folgenden sollen verschiedene Situationen und Fallbeispiele beschrieben werden, in denen Bezüge zu den Inhalten dieser UE hergestellt werden.

3  Fallvignette: Heinrich Im Unterricht zeigt der 12-jährige Heinrich immer wieder weinerliches Verhalten und ist schnell mit den Lerninhalten überfordert, was vermutlich unter anderem darin begründet ist, dass seine intellektuellen Fähigkeiten im Grenzbereich zur geistigen Behinderung liegen. Von den anderen Schülerinnen und Schülern erhält Heinrich wenig Anerkennung, da er sich noch eher kleinkindhaft zeigt. Er umarmt die Lehrkräfte oder beginnt zu weinen, wenn andere provokative Bemerkungen machen. Die Lehrkräfte interpretieren dies als besonders hohen Bedarf hinsichtlich der Affektregulation und der Selbstwertstärkung. Gleichzeitig spricht Heinrich besonders gut auf die Affektspiegelung durch die Lehrkräfte an. So werden immer wieder stellvertretend seine möglichen Affekte verbalisiert, mimisch gespiegelt und die Intonation an die gegenwärtige affektive Atmosphäre angepasst. Die Affekt­ regulation gelingt ihm dann besser. Dennoch kommt es vor allem in offenen Unterrichtssituationen oder beim gemeinsamen Betreten des Klassenraumes auch zu handfesten Auseinandersetzungen mit anderen. Auch hier ist es so, dass Heinrich »den Kürzeren zieht«: Er ist schmächtig, und die Lehrkräfte haben den Eindruck, dass die anderen Jugendlichen ihn aufgrund seines kleinkindhaften Verhaltens nicht ernst nehmen, was sie durchaus auch durch Abwertungen zum Ausdruck bringen. Aufgrund dieser Abwertungen durch die anderen Schülerinnen und Schüler erscheint es für die Lehrkraft besonders wichtig, Heinrich mit seinen frühkindlichen Bedürfnissen ernst zu nehmen und ihn zu containen (Bion, 1992). Zugleich Mentalisierungsförderung im Lernhilfekontext

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ist es dabei relevant, mit der Klasse zu thematisieren, dass Menschen sich in ihren Bedürfnissen unterscheiden können. Die UE bietet hier die Möglichkeit, in verschiedenen Situationen gemeinsam mit der Klasse zu erörtern, welche Gedanken und Gefühle wohl in Heinrich vorgehen könnten. Dies regt die Lehrkraft beispielsweise durch explizite Fragen an, wie etwa »Wir wollen nun Gefühlsdetektive sein: Wie könnte Heinrich sich jetzt fühlen?«. Von Bedeutung für einen solch sozio-emotionalen Austausch ist die Betonung des Umstandes, dass man sich der mentalen Inhalte anderer Personen nie sicher sein kann: Eine Haltung des Nichtwissens (Allen, Fonagy u. Bateman, 2011) ist für das Erforschen von Interaktionen also förderlich. Heinrich hatte dem Nachforschen seiner Motive im Vorfeld zugestimmt. Besonders wichtig ist für Heinrich ein allmorgendliches Ritual, nämlich das Vorlesen des Datums am Klassenkalender durch eine Schülerin oder einen Schüler. Bereits zu Beginn des Unterrichts kommt es hier zu Provokationen und einer Eigendynamik, da Heinrich stets mehrere Anläufe benötigt und das Abschließen dieses Rituals besonders hinauszögert, was die anderen Schülerinnen und Schüler zu verärgern scheint. Das Hinauszögern des Vorlesens ermöglicht einerseits ein längeres Fokussieren auf ihn durch die gesamte Klasse und die Lehrkräfte, und andererseits wird der inhaltliche Beginn verzögert. Es kann interpretiert werden, dass Heinrich sich mit dem Hinauszögern selbst zu schützen versucht, da er bei den Lerninhalten große Unterstützung benötigt und schnell in eine Überforderung gerät. Gleichzeitig wirkt es wie ein passiv-aggressives Agieren, denn er kontrolliert so die Situation und kann eigene (gegen)aggressive Impulse indirekt ausleben. Die Klasse empfindet das Hinauszögern vielleicht als aggressiv. Andere provozieren ihn, nicht selten beginnt er dann zu weinen. Schnell schlägt das Weinen bei Heinrich in Wut um, und die Konflikte eskalieren. Wie kann Heinrichs Verhalten verstanden werden? Zunächst könnte das Verhalten vor einem biografischen Hintergrund beleuchtet werden: Die aus den Eltern­ gesprächen hervorgehenden Informationen und Eindrücke lassen vermuten, dass das Erziehungsklima durch wenig Verlässlichkeit und Sicherheit geprägt ist. Heinrichs Mutter scheint selbst schnell unter Stress zu geraten. Ritualen, wie etwa dem täglichen gemeinsamen Abendessen, kommt nur wenig Bedeutung zu. Für Heinrichs Bedürfnisse ist wenig Raum, es scheint sogar so, als gelänge es Heinrichs Mutter insgesamt nur bedingt, mentale Zustände zu thematisieren und seine Bedürfnisse zu mentalisieren. Es kann vermutet werden, dass das allmorgendliche Kalenderritual ihm nötige Aufmerksamkeit schenkt, die er wohl im häuslichen Rahmen missen muss. Heinrich fällt eine Perspektivübernahme bei der Klärung dieses wiederkehrenden Konflikts schwer. Ihm fehlt das Verständnis dafür, dass andere Schülerinnen 154

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und Schüler entnervt sein könnten. Er verharrt im konkretistischen Verstehen, bei dem Mentalisieren nicht möglich scheint. Die Regression auf den Äquivalenz­modus führt dazu, dass Heinrich die Unterscheidung zwischen eigenen und fremden mentalen Zuständen nicht gelingt: Für ihn scheint seine eigene Perspektive auf das morgendliche Ritual universell zu sein, und er verliert sich in den Klärungssituationen darin, auf äußere Bedingungen Bezug zu nehmen. Sein langsames Tempo liege nach seinen Aussagen z. B. daran, dass das heutige Datum besonders schwer sei oder daran, dass die anderen Schülerinnen und Schüler zu laut sprächen und ihn unterbrächen. Ihm misslingt dabei die mentalisierende dialogisch-intersubjektive Sicht darauf, dass sich eigenes und fremdes Verhalten wechselhaft bedingen und durch mentale Zustände begründet sind. Im Rahmen der beschriebenen mentalisierenden UE wurde dieses wiederkehrende Muster in der Klasse thematisiert. Zunächst erkundigten sich die Lehrkräfte in offener Form nach Gedanken und Gefühlen aller Schülerinnen und Schüler in Bezug auf die morgendliche Kalendersituation. Schnell wurde jedoch deutlich, dass die offene Frage überfordernd war. Diese von der Fachkraft eben als Überforderung mentalisierte Reaktion zeigte sich z. B. darin, dass einige Schülerinnen und Schüler sich gar nicht äußern konnten, andere wiederum verfielen erneut in provokative Beleidigungen. Daher benannten die Lehrkräfte modellhaft ihre eigenen Gedanken und Gefühle und erläuterten, dass sie es besonders spannend fänden, gemeinsam die mentalen Zustände zu erforschen. Das Thematisieren eigener Gedanken und Gefühle, die Betonung der Relevanz für das alltägliche Zusammensein und die Äußerungen über die Wechselseitigkeit von Verhalten und Gedanken in den Interaktionen regte das Mentalisieren der Schülerinnen und Schüler an. So konnten einige von ihnen im Anschluss den geäußerten Gedanken und Gefühlen der Lehrkräfte zustimmen, teilweise aber auch eigene Aspekte miteinbringen. Eine Haltung des Verstehenwollens seitens der Lehrkräfte führte zudem dazu, dass die Schülerinnen und Schüler sich gesehen fühlten und ein wohlwollender, mentalisierender Rahmen entstehen konnte. Im Sinne des Reflecting Teams (Reich, 2008) beleuchteten beide Lehrkräfte unterschiedliche Perspektiven auf die Kalendersituation. Gemeinsam wurde hier reflektiert, dass Heinrichs Verhalten bei den anderen Schülerinnen und Schülern womöglich deshalb zu Unruhe und Ungeduld führen könnte, weil es sie daran erinnerte, dass kleine Geschwister zu Hause auch häufig trödeln und stets Rücksicht genommen werden muss. Den Schülerinnen und Schülern gelang es zunehmend besser, Gedanken und Gefühle ihrem Entwicklungs- und Lernstand entsprechend zu verbalisieren. Hier wurde abermals deutlich, dass die Affektwahrnehmung auf oftmals basalem Niveau stattfindet und eine Differenzierung verschiedener Gefühle über die Basisemotionen hinaus bisher nicht möglich scheint. Das gemeinsame Mentalisierungsförderung im Lernhilfekontext

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Erforschen der Absichten von Heinrichs Verhalten schien bei der Klasse für positives Erstaunen zu sorgen: dass nämlich Heinrichs Verhalten für ihn trotz der Konflikte auch angenehm sein könnte, denn jeder achte so auf ihn und habe ihn gut im Blick. In den folgenden morgendlichen Kalendersituationen entstanden erstaunliche Szenen. An einem Morgen sollte Ben (s. Fallvignette: Ben) eine Schülerin oder einen Schüler auswählen, der das Kalenderritual übernehmen sollte. Heinrich war sehr bestrebt, von Ben ausgewählt zu werden, er winselte und zeigte regressives Verhalten (»Babysprache«, Trotz), worauf Ben ihn sehr deutlich darauf hinwies, dass er Heinrich ohnehin nicht auswählen werde. Die Lehrkraft unterbrach die Szene, indem sie die »Mentalisierungshand« (Allen et al., 2011, S. 261) erhob und sich bei der Klasse erkundigte, welche Gedanken und Gefühle Heinrich nun haben könnte. Heinrich weinte inzwischen, lauschte jedoch zugleich gebannt den Äußerungen der Klasse. Die Äußerungen der Schülerinnen und Schüler waren vielfältig: traurig, wütend, sauer, genervt. Bezüglich der Perspektivenübernahme gelang es ihnen, mögliche Gedanken von Heinrich stellvertretend für ihn zu äußern. Dazu gehörten Gedanken wie »Keiner mag mich!«, »Nie komme ich dran!« oder auch »Die anderen sind immer genervt von mir.«. Die Lehrkräfte griffen die Vielfalt bestärkend auf. Auch wurde erneut auf den Umstand Bezug genommen, dass die Spitze des Eisbergs, also Heinrichs Verhalten (Weinen), nicht zwangsläufig das Eis unter Wasser (mentale Zustände) abbildet. Auch Bens Verhalten wurde in den Blick genommen, und gemeinsam wurde erforscht, welche Absichten hinter seiner Äußerung gestanden haben könnten. Ben gelang in dieser Situation etwas, womit er sonst große Schwierigkeiten hat: eine introspektive Sichtweise (»Heinrich nervt, trödelt dann wieder rum, und ich will auch mal Bestimmer sein«), die darin mündete, dass er Heinrichs Empfinden empathisch validierte und sich entschuldigte. Es zeigte sich, dass die Unterbrechung des Unterrichts mit der Mentalisierungshand schon bei kleinen Konflikten sehr hilfreich sein kann, wenn es gelingt, einen Rahmen herzustellen, in dem Mentalisieren angeregt wird und die Schülerinnen und Schüler unterstützt werden, eigene und fremde mentale Zustände zu erforschen und zu verbalisieren. Gerade die Annahme, dass Lernen nur gelingen kann, wenn affektive Zustände reguliert sind, lässt kleinere Interventionen wie diese zwingend notwendig erscheinen. Denn wenn Interaktionsverläufe im Unterricht gemeinsam reflektiert und auch die biografischen Entwicklungsbedingungen der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt werden, kann verständlich werden, dass ihre Affektregulation nur begrenzt möglich und Unterstützung durch die Lehrkräfte nötig ist.

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4  Fallvignette: Ben Der bereits erwähnte 13-jährige Ben ist im häuslichen Kontext vielseitigen Belastungen ausgesetzt. Bens Eltern pflegen den Großvater väterlicherseits seit vielen Jahren, für Ben und seine Bedürfnisse bleibt wenig Zeit. Von besonderer Bedeutung ist, dass sich das familiäre System in einem regelrechten Dauerzustand des konkretistischen Verstehens zu befinden scheint. So wird beispielsweise der Umstand, dass die Familie den Großvater pflegt, in der Interaktion mit Ben, aber auch in Gesprächen mit den Lehrkräften, für jedweden Umstand als Erklärung verwendet (manchmal scheint es gar eine Ausrede zu sein). Dass Ben beispielsweise in der Schule mit provokativem Verhalten auffällt, dass seine Hausaufgaben unerledigt bleiben und sein Hygienezustand schlecht ist, wird allein auf die häusliche Pflege des Großvaters zurückgeführt. Diese Erklärung reicht weit über einen Bereich hinaus, in dem sie adäquat eingesetzt werden könnte, was immer auch als ein Anzeichen für konkretistisches Verstehen gelesen werden kann. In diesem prämentalisierenden Modus des Denkens und Verstehens liegen »rigide, unflexible Gedanken­ prozesse, unangemessene Überzeugungen, im Recht zu sein, Ansprüche, dass man weiß, was der andere denkt oder warum er in bestimmter Weise gehandelt hat« (Schultz-Venrath, 2013, S. 99) vor. Dieser prämentalisierende Modus schützt vor der Beschäftigung mit ängstigenden, überwältigenden, da als unregulierbar erlebten mentalen Zuständen. In Gesprächen mit Bens Eltern wurde deutlich, dass ein innerfamiliärer Austausch über mentale Zustände nicht stattfindet. Im Gegenteil: Bens Belastungen im schulischen Kontext haben keinen Platz, wohingegen für ihn die elterlichen Sorgen (z. B. finanzielle Existenzängste) zu einer parentifizierenden Rollenumkehr führen. Ben gelingt es auch in der Schule nicht, mentale Zustände zu verbalisieren, seine Konflikte finden zumeist in Form von körperlichen Auseinandersetzungen statt. Ben fällt es sichtlich schwer, in sozialen Interaktionen mentale Inhalte anderer Personen einzuschätzen oder gar in sein Denken und Handeln einzubeziehen. In massiver Weise zeigte sich seine Mentalisierungsschwierigkeit, als er eines Morgens mit einem Messer vor dem Schulgebäude stand und scherzend eine Suizidabsicht gegenüber anderen Schülerinnen und Schülern äußerte. Wie kann diese Szene hinsichtlich Bens Mentalisieren verstanden werden? Es kann angenommen werden, dass Ben sich in diesem Moment in einem prämentalisierenden Modus befand. Die Regression auf den teleologischen Modus scheint vorstellbar, hier werden mentale Zustände nur anhand beobachtbarer Resultate sichtbar (Diez Grieser u. Müller, 2018). Ein Selbstmentalisieren war für Ben in dieser Situation nicht möglich, seine inneren Zustände konnte er nur noch agierend ausdrücken. Die Belastung durch die derzeitige innerfamiliäre Situation war für ihn wohl so groß, dass Worte und Gedanken gegenüber seinem konkreten Handeln Mentalisierungsförderung im Lernhilfekontext

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nicht ausreichend verfügbar schienen. Die Ernsthaftigkeit, die hinter einer solchen Handlung steht und Ben zunächst nicht bewusst war, war für ihn offensichtlich erschreckend, und auch die anderen Jugendlichen waren sichtlich aufgeregt. Die Situation wurde aus diesem Grund im Klassenverband thematisiert. Der Idee der mentalisierungsfokussierten UE folgend, sollte ein Raum geschaffen werden, in dem es möglich wurde, über innere Zustände zu sprechen. Zunächst schien es hierfür wichtig, dass die Lehrkräfte eine Balance finden konnten zwischen modellhafter Selbstoffenbarung (besorgt sein) einerseits und Containing andererseits. Der Schreck, der für alle Beteiligten sehr groß war, musste mentalisiert und gehalten werden. Ben, dessen eigene Entscheidung es war, die Situation gemeinsam im Klassenverband zu »erforschen«, war sichtlich interessiert an den Ideen, die seine Mitschülerinnen und Mitschüler zu ihren eigenen, aber auch seinen inneren Zuständen hatten. Erstaunlich war, dass es allen Jugendlichen gelang, sehr empathisch miteinander umzugehen. Anders als sonst wurde in der gemeinsamen Situa­ tion des Erforschens nicht provoziert, es wurden keine kränkenden Äußerungen gemacht, wäre es doch nicht verwunderlich gewesen, wenn Äußerungen wie »Der muss in die Klapse!« gefallen wären. Ben konnte den offenen und haltgebenden Raum nutzen, um erstmals über die ihn belastende häusliche Situation zu sprechen. Im Kollegium und gemeinsam mit der Schulsozialarbeit wurde eingeschätzt, welche Hilfsmaßnahmen für Ben hinsichtlich der Suizidäußerungen in Betracht kämen. Das mentalisierungsfokussierte Vorgehen war für die Fachkräfte in dieser Situation hilfreich, die Gefühlsbildkarten waren hier eine gute Unterstützung. Die Besprechung der morgendlichen Situation eröffnete noch mehr: Anderen Schülerinnen und Schülern wurde es möglich, ebenfalls über Belastungen zu sprechen, die derzeit im häuslichen Umfeld bestanden, ohne dass Bens Belastungen an Bedeutung verloren. Es zeigte sich jedoch zugleich, welch hohe Anforderung es ist, als Lehrkraft in aufwühlenden Situationen wie diesen das eigene Mentalisieren beizubehalten und offen zu sein für das Mitteilen eigener Gedanken und Gefühle, und dies bei gleichzeitiger unterschwelliger Risikoabschätzung.

5  Fallvignette: Ricardo Für den 13-jährigen Ricardo steht ein Wechsel von der SFL an die Allgemeine Schule an. Dieser Wechsel wird von den Eltern und von Ricardo selbst forciert, während die Lehrkräfte ihn kritisch einschätzen. Ricardo ist während des Unterrichts inhaltlich und insbesondere hinsichtlich seiner sozial-emotionalen Entwicklung oftmals überfordert. Die Thematisierung von inneren Zuständen scheint ihn teilweise zu ängstigen, und eine positive Kontaktaufnahme mit anderen fällt ihm äußerst schwer. 158

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In Besprechungen nach Konfliktsituationen wird beobachtet, dass sich Ricardos basales Mentalisieren meist darin zeigt, anderen Personen feindselige mentale Inhalte, die ihm gelten, zuzuschreiben. So weigert er sich, an einem Klassenritual teilzunehmen, bei dem es darum geht, einer Mitschülerin oder einem Mitschüler etwas Freundliches zu sagen (»freundliche Minuten«). Stattdessen möchte er ein Ritual umsetzen, bei dem es darum geht, selbst einzuschätzen, ob man sich schwer wie ein Stein oder leicht wie eine Feder fühlt. Dieses Ritual regt basal die Fähigkeit zum Selbstmentalisieren an, was Ricardo teilweise zu gelingen scheint. Das Ritual der »freundlichen Minuten« hingegen verlangt einen Perspektivenwechsel, um zu antizipieren, welche Worte die anderen Jugendlichen als freundlich empfinden könnten. Hier scheint Ricardo an seine Grenzen zu geraten. Die Lehrkräfte lassen den Raum dafür, auch Floskeln zu benennen, die zu einem freundlichen Miteinander gehören (z. B. »Bitte«, »Danke«). Hier scheint sich seit der Überlegung, dass Ricardo die Schule wechseln möchte, eine Veränderung vollzogen zu haben: Ricardo möchte an diesem Ritual nicht mehr teilnehmen, »keine freundlichen Sachen mehr zu denen sagen«. Wie kann Ricardos Verweigerung verstanden werden? Es wirkt so, als müsste er die positiven, wohltuenden zwischenmenschlichen Aspekte in der Klassengemeinschaft abwehren, um innerlich den Abschied anzubahnen. Das Verlassen der Klasse wäre vielleicht zu schmerzhaft, wenn er die positiven Aspekte weiterhin akzeptieren, ja gar integrieren würde. Die Vermutung der Lehrkräfte nach den Elterngesprächen und den Gesprächen mit Ricardo ist, dass Ricardos mentale Zustände in seiner familiären Umgebung zu wenig Raum finden: Der viel beschäftigte Vater und die psychosozial selbst sehr belastete Mutter versorgen Ricardo mit teuren Konsumgütern. Die Familie äußert sich teilweise offen ablehnend ihm gegenüber, weil er die Sonderschule besucht. Ricardos Schilderungen wie auch die der Eltern beinhalten nur wenig Bezugnahme auf mentale Zustände. Es kann erahnt werden, dass die mentalisierungsfördernden Bedingungen (wie Bindung und markierte Affektspiegelung) nicht ausreichend für den Jungen waren. Dies zeigt sich beispielsweise in seinem vermeidenden Bindungsverhalten und seinen Schwierigkeiten in der Affektwahrnehmung und -regulation. Die Tatsache, dass Ricardo im schulischen Alltag immer wieder »explodiert«, kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass seine negativen Affekte nicht mentalisiert sind. Sie überfordern ihn, bleiben unreguliert und müssen aus diesem Grund agierend geäußert werden. Interaktionen versteht Ricardo deswegen leicht im Sinne des teleologischen Modus, er bezieht z. B. mentale Zustände selten in seine Äußerungen bei Klärungsgesprächen ein und benötigt große Unterstützung dabei, fremdpsychische Inhalte zu erkennen. Auch zeigt sich, dass seine mentalen Zustände deutlich in Abhängigkeit von beobachtbaren Dingen variieren: Die Versorgung mit Konsumgütern ist für ihn von großer Bedeutung, denn dies scheint Mentalisierungsförderung im Lernhilfekontext

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primär die Kontaktart zwischen ihm und seinen Eltern zu sein. Auch in schulischen Interaktionen nimmt Ricardo dann Bezug auf diese Form des Miteinanders, provoziert und beleidigt andere Schülerinnen und Schüler, die offensichtlich weniger Konsumgüter zur Verfügung haben. Immer wieder kommt es jedoch zu positiven Überraschungen, wenn es darum geht, eigene Bedürfnisse zu verbalisieren. Insbesondere, wenn Ricardo ihm zugetane Ungerechtigkeiten empfindet, gelingt es ihm, dies zu äußern. Der Bezug zu seinen Gefühlen bleibt dabei jedoch aus. Der verlässliche Rahmen der UE ermöglichte es Ricardo zunehmend, Wünsche und Absichten besser in angemessener Weise zu äußern und probeweise Äußerungen zu fremden mentalen Zuständen zu machen. Besonders eindrücklich zeigte sich dies, als Ricardo eine Situation, die ihn zum »Explodieren« brachte, anschließend reflektieren konnte. Nachdem er wegen Krankheit der Lehrkraft in eine andere Klasse aufgeteilt wurde, erklärte er, dass er es überhaupt nicht möge, wenn der Tag anders ablaufe als von ihm gewohnt. Zudem äußerte er, dass es dabei hilfreich für ihn sei, selbstständig einen ruhigen Sitzplatz auswählen zu können, um sich im ungewohnten Umfeld zurechtzufinden und wohlzufühlen.

6  Abschließende Gedanken Die drei Fallvignetten haben verdeutlicht, mit welchen Herausforderungen Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler an der SFL konfrontiert sind. Die Schülerinnen und Schüler zeigen verschiedene Formen des Mentalisierens. Immer wieder wird dabei Mentalisieren erschwert – teilweise situativ, nicht selten jedoch auch strukturell aufgrund schwieriger Entwicklungsbedingungen. Aufbauend auf der Annahme, dass sich die Mentalisierungsfähigkeit reziprok im interaktionellen Geschehen bedingt, scheint es besonders wichtig, dass sich Lehrkräfte die eigenen mentalen Zustände vergegenwärtigen, um handlungsfähig zu bleiben und zugleich die mentalen Zustände der Schülerinnen und Schüler bedenken, verbalisieren und teilweise auch stellvertretend im Sinne von Containing aushalten zu können. Dies alles sind Anforderungen an Lehrkräfte, die berücksichtigt werden sollten, da sie die Grundlage von kognitivem und sozialem Lernen sind. Das Verstehen des Verhaltens der Schülerinnen und Schüler auch in irrationalen, regressiven, übergriffigen und verstrickten Situationen kann durch die fortwährende Vergegenwärtigung von Mentalisierungsprozessen gelingen und so implizit verbessert werden. Eine zentrale Forderung kann daher sein, eine Haltung des Nichtwissens und des Verstehenwollens einzunehmen. Die beschriebene UE ermöglicht seitens der Lehrkräfte eine Beschäftigung mit den mentalen Zuständen des gesamten Klassen160

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verbandes und regt bei den Schülerinnen und Schülern auf basaler Ebene die Affektwahrnehmung und -verbalisierung an. Der sichere Rahmen ermöglicht die Thematisierung von gegenwärtigen Belastungen und ermöglicht antizipierend die Reflexion von wiederkehrenden konflikthaften Interaktionsverläufen. Kleinere Interventionen außerhalb einer spezifischen UE zum Mentalisieren, wie beispielsweise eine Situationsunterbrechung durch die »Mentalisierungshand« und das anschließende gemeinsame Erforschen von mentalen Zuständen, lassen sich ohne weitere Umstände im schulischen Alltag verankern, und so bleibt das Mentalisieren langfristig bei den Lehrkräften selbst und auch bei den Schülerinnen und Schülern präsent.

Literatur Allen, J. G., Fonagy, P., Bateman, A. W. (2011). Mentalisieren in der psychotherapeutischen Praxis. Stuttgart: Klett-Cotta. Bion, W. R. (1992). Lernen durch Erfahrung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Diez Grieser, M. T., Müller, R. (2018). Mentalisieren mit Kindern und Jugendlichen. Stuttgart: Klett-Cotta. Herz, B. (2013). Einführung in die schulische und außerschulische Erziehungshilfe. In B. Herz (Hrsg.), Schulische und außerschulische Erziehungshilfe. Ein Werkbuch zu Arbeitsfeldern und Lösungsansätzen (S. 9–49). Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Reich, K. (2008). Reflecting Team. http://methodenpool.uni-koeln.de/download/reflectingteam. pdf (Zugriff am 11.04.2019). Schultz-Venrath, U. (2013). Lehrbuch Mentalisieren. Psychotherapien wirksam gestalten. Stuttgart: Klett-Cotta. Taubner, S. (2016). Bindung und Mentalisierung. Grundzüge der mentalisierungsbasierten Therapie (MBT). Psychotherapie im Dialog, 17 (3), 54–59.

Mentalisierungsförderung im Lernhilfekontext

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Gelingen und Scheitern des Mentalisierens im sonderpädagogischen Arbeitsfeld einer Förderschule Jochen Willerscheidt

In diesem praxisbezogenen Beitrag zu einer mentalisierungsbasierten Pä­­da­­ gogik schildere ich zunächst das niederschwellige Angebot einer frühzeitigen Mentalisierungsförderung an einer Förderschule. Anschließend wird anhand von zwei kurzen Ausschnitten aus Tiefeninterviews mit Förderschullehrerinnen auf strukturelle Hintergründe verwiesen, die die Mentalisierungsfähigkeit von pädagogischen Fachkräften erschweren bzw. zusammenbrechen lassen. In this practical contribution to a mentalization-based pedagogy, I first describe the low-threshold offer of early mentalization support at a special needs school. Subsequently, two short extracts from in-depth interviews with special school teachers are used to refer to structural backgrounds which make the mentalization ability of pedagogical specialists difficult or collapse.

1 Von der Bedeutung eines niederschwelligen Angebots für eine frühzeitige Mentalisierungsförderung Die psychosoziale Beratung – zu der eine individualpsychologische Beratung ebenfalls zählt – ist als ein entwicklungsförderlicher Faktor einzustufen, der kindliche Entwicklungsrisiken minimieren kann. Unterstützt wird dieser Ansatz von der Kosten-Nutzen-Analyse Früher Hilfen. Die Gießener Wissenschaftlerinnen Maier-Gräwe und Wagenknecht (2011) untersuchten im Zuge der bundespolitischen Initiative zur Stärkung des Kinderschutzes in einer Expertise die Kosten und den finanziellen Nutzen durch frühe und rechtzeitige Unterstützung von kindeswohlgefährdeten Kindern in ihrer psychosozialen Entwicklung. Es zeigte sich deutlich, wie vergleichsweise gering die Präventionskosten gegen162

über den Folgekosten, die durch eine Kindeswohlgefährdung entstehen, sind: »Denn das Verhältnis der Kosten Früher Hilfen beträgt gegenüber den Kosten von Kindeswohlgefährdung unter den getroffenen Annahmen bei einem moderaten Szenario 1:13 und 1:34 beim pessimistischen Szenario«(Maier-Gräwe u. Wagenknecht, 2011, S. 9). Rechnet man nachfolgende finanzielle Aufwendungen bzw. die Kosten, die z. B. durch eine Sonderbeschulung, Heimunterbringung oder kriminelle Entwicklung entstehen, dazu, kommen die Wissenschaftlerinnen zu dem Schluss, dass die gesellschaftlichen und individuellen Folgekosten 60- bis 159-mal höher ausfallen als recht- und frühzeitige Hilfeangebote. Wie sich im nachfolgenden Fallbeispiel zeigen wird, wirkt das niederschwellige psychosoziale Angebot einer pädagogisch-therapeutischen Beratung (PTB) unterstützend für den Schulbesuch und den Lernfortschritt dieser Kinder. Will man Lernfortschritte optimieren, gilt es, sowohl im Unterricht als auch in begleitenden psychosozialen Beratungsangeboten, wie der PTB, epistemisches Vertrauen (vgl. den Beitrag von Ramberg und Nolte in diesem Band) aufzubauen, d. h., vor dem Hintergrund einer mentalisierenden Haltung der Beraterin werden Kinder und Jugendliche in die Lage versetzt, Informationen und Reflexionen der Beraterin als für sie relevant und hilfreich einzuschätzen.

2 PTB an der Förderschule ES/LE als Raum für eine mentalisierungsbasierte Beziehungskultur Schülerinnen und Schüler, die eine Förderschule im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung (ESENT) bzw. in der Kombination ESENT und Lernen besuchen, zeigen alle sozial-emotionalen Beeinträchtigungen, die, wie zu zeigen sein wird, passend für den Schulalltag durch das Modell der »sequenziellen Traumatisierung« (Keilson, 2005) und das entsprechende Beratungs­angebot (PTB) verstanden werden können (s. Warzecha, 1997; Zimmermann, 2018). Das Angebot der PTB wird von einer ausgebildeten individualpsycholo­gi­ schen Beraterin (Deutsche Gesellschaft für Individualpsychologie) angeboten. PTB stellt für die Schülerinnen und Schüler unter dem Aspekt möglicher Mentalisierungsprozesse einen »Übergangsraum« (Winnicott, zit. nach Phillips, 2009, S. 152) zwischen Schule, Familie und Freizeit zur Verfügung. Dieses freiwillige, niederschwellige Förderangebot an einer Förderschule kann einstündig pro Woche zu einem fest vereinbarten Termin angenommen werden. Es findet in einem möglichst abseits gelegenen Raum der Schule, der entsprechend kindgerecht attraktiv eingerichtet ist, statt. Mentalisierens im sonderpädagogischen Arbeitsfeld einer Förderschule

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Bei Gesprächen, Spiel und Handlungsdialogen wird eine Beziehungsatmosphäre kreiert, um möglichst angstfrei die psychische Realität der Schülerinnen und Schüler und der Beraterin explorieren und mentalisieren zu können. In diesem Klima kann die Beraterin erfahrbar machen, dass heftige Affekte aushaltbar, benennbar und veränderbar sind. 2.1 Vom Finden eines Fokus zur mentalisierungsfördernden Beratung mithilfe von ProDiBez In diesem Übergangsraum (Winnicott zit. nach Phillips, 2009, S. 152.) kann das Anliegen einer mentalisierungsbasierten Pädagogik, Schülerinnen und Schüler bedürfnisorientiert zu begleiten und eine mentalisierende Haltung einzunehmen, gezielter gelingen als im oftmals stressinduzierten Schulalltag. Dieses Anliegen kann vom neuen projektiven Verfahren »Projektives Diagnostikum zum Beziehungserleben von Kindern« (ProDiBez; Sticker, Willerscheidt u. ­Fooken, 2018) unterstützt werden. In seiner theoretischen Konzeption basiert es u. a. auf basalen menschlichen Grundbedürfnissen und arbeitet zentral mit Bildkarten. Zielführend können mentalisierungsgeeignete Anregungen für die Beratung herausgefiltert werden. Sie ergeben Chancen für mentalisierungs­ förderliche Impulse in der beraterischen Kommunikation. Im Weiteren wird Jans Fall vorgestellt. Von 16 Narrativen wurden vier bera­ tungsrelevante Erzählungen des Jungen zu den jeweiligen Bildtafeln ausgewählt. Ebenso wie Jan entwickelt jedes Kind im Laufe seines Lebens in der Beziehung zu anderen Menschen Vorstellungen darüber, was es von anderen zu erwarten hat und wie es ihnen deswegen begegnet (Zimmermann, 2016). Um diesen theoretischen Ansatz zu präzisieren, greift ProDiBez auf das Entwicklungskonzept des Säuglingsforschers Daniel Stern zurück. Die nach ProDiBez codierten Bedürfnisse und die darauffolgenden Umwelterfahrungen stellen einen mentalen Niederschlag immer wiederkehrender Interaktionserfahrungen des Kindes dar. Diese wechselseitigen Beziehungseinflüsse werden als unbewusste emotional-­ kognitive Konstruktion (Repräsentanz) im Gehirn gespeichert und können sich in projektiven Verfahren, wie z. B. ProDiBez, aktualisieren (s. Küchenhoff u. Agarwalla, 2013). Diese unbewussten Vorstellungsbilder (Repräsentanzen) inszenieren sich immer wieder im Beziehungsalltag. Für die Beratungsbeziehung ist es daher hilfreich, mithilfe der erschlossenen Beziehungsfantasien einen Blick auf mögliche innere Repräsentanzen des Kindes werfen zu können. Vor dem Hintergrund einer begrenzten Auswahl der durch ProDiBez erho­ benen Narrative lassen sich aktuelle Beziehungsfantasien des Schülers Jan erheben, der später in einigen Fallvignetten vorgestellt wird. 164

Willerscheidt

Abbildung 1: Bildtafel 3 (Vater – Kind), ProDiBez1

B:  »Was kann hier sein, Jan?« J:  »Der Vater hängt am Laptop und der Junge steht daneben.« B:  »Ja, das wäre jetzt eine Bildbeschreibung. Sagen die Personen auch etwas?« J:  »Der Junge würde sagen: ›Papa, darf ich auch mal zehn Minuten an den Laptop?‹ Der Vater würde wahrscheinlich ›Ja‹ oder ›Nein‹ sagen.« B:  »Ja, das ist ja hier dein Bild. Was würde der Vater denn nun sagen?« J:  »Überlege ich mir noch.« B:  »Alles klar, nächstes Bild.«

Abbildung 2: Bildtafel 4 (Mutter – Kind), ProDiBez 1

Die Verwendung der Abbildungen 1 bis 3 erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hogrefe Verlages Bern. Mentalisierens im sonderpädagogischen Arbeitsfeld einer Förderschule

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B:  »Was haben wir hier für eine Situation?« J:  »Die Mutter ist am Spülen, der Junge guckt zu … und die Mutter wird wahrscheinlich fragen: ›Was ist los, Junge, ähem Kind?‹ Der wird wahrscheinlich sagen: ›Der Papa lässt mich nicht am Laptop spielen‹ oder so – oder: ›Soll ich dir helfen beim Spülen?‹« B:  »Also zwei Möglichkeiten siehst du hier?« J: »Hmm.« B:  »Okay, nehmen wir mal an, der Junge würde sagen: ›Der Papa lässt mich nicht am Laptop spielen‹, was nimmst du an, würde sie antworten? (längere Pause) Du hast ja jetzt hier schon ’ne richtige Geschichte entwickelt. Was wirst du vermuten?« J:  »Wahrscheinlich wird sie auch sagen: ›Nein‹. Vielleicht hat der Junge Scheiße gebaut.« B:  »Okay, nächstes Bild.«

Betrachtet man die Narrative zu Bild 3 und 4 in den Abbildungen 1 und 2 gemeinsam, dann wird in Jans Kommentaren zu den Bildkarten eine hinderliche Resonanz der Eltern auf Jans Bindungs- und Selbstbehauptungsbedürfnis deutlich. Der selbstständige Impuls Jans, seine Interessen zu artikulieren, erfährt in den Assoziationen zu den Karten eine negative Resonanz. Im ProDiBez werden diese negativ beantworteten Bedürfnisse Jans als seelischer Stressfaktor kategorisiert. Auf seiner inneren Landkarte kann die Abweisung möglicher Bindungswünsche oft mit Affekten von Traurigkeit und einer Angst, zurückgewiesen zu werden, verknüpft sein. Hier bieten sich für die Beratung zwei Ansätze an, erstens die Bedürfnisse und zweitens die dazugehörigen Affekte – sofern sie sich in der Beratungsstunde aktualisieren – durch Mentalisierung aufzugreifen. B:  »So, Jan, was ist hier los?« J:  »Die Mutter kümmert sich um das Baby. Der Junge kommt rein.« B:  »Hm, genau (längere Pause) Ja … die reden sicher auch?« J:  »Der Junge wird fragen: ›Soll ich, kann ich mit dem … Stefan‹, sagen wir einmal, ›spielen‹?« B:  »Mit dem Baby?« J: »Hmm.« B: »Okay.« J:  »Vielleicht wird die Mutter dann auch sagen: ›Nee, lass mal, vielleicht fällt dir das Baby noch aus der Hand‹ oder so.« B:  »Dass die Mutter Sorge hat, dass der Junge das Kind fallen lässt, oder so?« 166

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Abbildung 3: Bildtafel 5 (Geschwister – Kind), ProDiBez

J: »Hmm.« B: »Okay.«

Auch im Narrativ zu Bild 5 in Abbildung 3 wird eine negative Resonanz der Be­­ zugs­­person auf Jans Wunsch, mit dem Baby spielen zu wollen, geschildert. Auf seiner inneren mentalen Landkarte wird Jan solche Zurückweisungen, wenn sie häufiger auftreten, z. B. mit einer Schamangst, also in den Augen anderer zu versagen, verknüpfen. Die Beraterin ist nun für den Fall sensibilisiert, dass im Beratungsprozess z. B. Schamaffekte auftreten könnten, die von ihr gespiegelt, d. h. implizit mentalisiert werden können. In den anschließenden Beratungsausschnitten werden Jans herausgefilterte Impulse aus den Bedürfnissystemen Bindung, Zugehörigkeit und Exploration/ Selbstbehauptung eher intuitiv von der Beraterin aufgegriffen. In einer reso­ nanten Objektbeziehung (Rosa, 2018) geht sie »mindful« (Diez Grieser u. Müller, 2018) damit um, ermöglicht so eine förderliche Antwort und baut in kleinen Schritten epistemisches Vertrauen auf. 2.2  Wie kann epistemisches Vertrauen aufgebaut werden? Allerdings haben Kinder und Jugendliche, die die Förderschule im FSP ESENT/ Lernen besuchen, häufig komplexe traumatisch belastende Beziehungserfahrungen gesammelt (Julius, 2009). Der Aufbau epistemischen Vertrauens zu Bindungspersonen ist darum stark erschwert, wenn nicht sogar blockiert. »Werden in der individuellen Entwicklung vor allem missbräuchliche und gewaltMentalisierens im sonderpädagogischen Arbeitsfeld einer Förderschule

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volle (Beziehungs-)Erfahrungen gesammelt, so kann sich dies in einer generalisierten Form epistemischen Misstrauens manifestieren« (Gingelmaier u. Schwarzer, 2018, S. 129). Epistemisches Misstrauen blockiert oft auch Lernen, wenn Kinder bzw. Jugendliche weder Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten noch Vertrauen zu Beziehungspersonen (z. B. Lehrerinnen) aufbauen konnten und können (s. Reiser, 2016; Zimmermann, 2016). Sie wollen verstanden werden, d. h., sie brauchen ein Gegenüber, das versucht, ihre innere Welt bezogen auf die äußere Welt mentalisierend zu verbinden. In der nachfolgenden Fallepisode bietet sich die Beraterin in ihrer mentalisierenden Funktion an und schafft so in vielen ähnlichen Mikroepisoden die Grundlage für ein epistemisches Vertrauen in ihrer Beratungsbeziehung. Der jetzt 14-jährige Jan besucht seit eineinhalb Jahren regelmäßig einmal wöchentlich die Beratung. Zu einer Sitzung kommt Jan unterwürfig und in gedrückter Haltung in die Stunde. Die Beraterin nimmt seine spezifische Körperhaltung wahr und fragt ihn: »Na, wie geht es dir? Es scheint dir ja nicht gut zu gehen, oder?« Jan nickt zustimmend und nimmt Platz.

In einer nicht wahrgenommenen intuitiven Mitbewegung (Heisterkamp, 2002) fragt die Beraterin, von der Körperhaltung Jans inspiriert, nach seiner emotionalen Stimmung. Ausgerichtet an seinem möglichen Erleben hat sie sein nonverbales Kommunikationssignal mentalisiert und direkt kommuniziert. Die Beraterin geht »mindful« mit Jan um und ermöglicht so in der Folge viele ähnliche feinfühlige Beziehungserfahrungen, wenn sie vorsichtig affektive Zustände benennt und validiert. Somit erscheint sie in Jans Augen vertrauenswürdig und legt den Grundstein für ein epistemisches Vertrauen des Jungen in die sich sukzessiv-interaktionell aufbauende Beziehungs- und Problemlösungskompetenz. Neben der behutsamen Spiegelung seiner Gefühle profitiert Jan auch von der humorvollen Haltung seiner Beraterin, worauf schon Kirsch (2014) hinweist: »Gelingendes Mentalisieren vermittelt Sinn und Bedeutung in Beziehungen, es ermöglicht Nähe, Verstandenwerden und liebevollen Humor« (S. 30). Auf die Frage der Beraterin »Was machen wir denn heute?«, antwortet Jan kurz, dass er heute nichts machen wolle. Die Beraterin solle was aussuchen. Darauf lässt sich die Beraterin allerdings nicht ein und fügt humorvoll hinzu, dass sie ja auch warten könnten, bis ihm etwas einfalle. Zeit sei ja eben bis ein Uhr. Diese unerwartete humorvolle Resonanzerfahrung öffnet für Jan neue Handlungsräume. Nach einer kurzen Zeit der Unentschlossenheit sucht er sich unter den Spielen 168

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Mikado raus. Das Spiel ist sehr knifflig für ihn. Aber letztendlich besiegt er seine Beraterin. Mit strahlendem Gesicht fügt er stolz hinzu, dass er das seiner Freundin Maja erzählen wolle.

Mit dieser intuitiv-paradoxen Intervention einer nichtablehnenden Weigerung, nämlich, ein passendes Spiel zu suchen, eröffnet die Beraterin einen Raum, sodass Jan seine eigenen Interessen spüren und äußern kann. Im weiteren Verlauf macht er eine wichtige Selbstwirksamkeitserfahrung mit dem passenden angenehmen Affekt (Stolz). In einer der folgenden Beratungsstunden zeigt sich ein vergrößerndes epistemisches Vertrauen Jans zu seiner Beraterin. Panisch erzählt Jan, dass er Angst vor einer schulischen Teilkonferenz wegen Körperverletzung, die ihm zur Last gelegt wird, habe. Gemeinsam exploriert die Beraterin mit Jan den Vorfall: Während der Pause sprach Jan mit Janina, einer Schülerin im Autismus-­ Spektrum. Versehentlich trat er ihr auf den Fuß und entschuldigte sich direkt bei ihr. Sie erzählte ihm, dass sie keine Schmerzen spüre. Er könne es aber auch noch einmal probieren. Im gemeinsamen Einverständnis testete Jan ihre Behauptung, indem er sie zunächst leicht schubste, dann fester anpackte und ihr schließlich auf den Oberarm schlug. Janina zeigte keinen Schmerz. Nach der Pause schilderte Janina ihrer Einzelfallhelferin, ohne den gesamten Zusammenhang zu erwähnen, dass Jan sie in der Pause auf den Arm geschlagen habe. In diesem Bericht tat er ihr auch weh. Die Integrationshelferin war empört und schaltete die Klassenlehrerin ein. Sie stellte Jan zur Rede und kündigte ein Gespräch mit der Schulleiterin an. Die Beraterin schlägt Jan vor, in einer Aktennotiz für die Klassenlehrerin die gesamte Pausenszene aus seiner Sicht zu schildern. Jan stimmt dem vertrauensvoll zu und wirkt deswegen erleichtert. Dann plaudern sie über die anstehende Klassenfahrt, und Jan verlässt freudig diese Stunde.

Bislang hat sich die Beraterin in ihrer mentalisierungsbasierten Kommunikation empathisch auf Jan eingestellt. In feinfühligen Abstimmungsprozessen spiegelt sie sein inneres Erleben und geht so auf sein Beziehungsbedürfnis ein. Ebenso verhilft sie ihm in einer humorvollen Szene zu einem Erleben seiner Selbstwirksamkeit. Für beide Beratungsschwerpunkte wurde sie durch die Analyse der ProDiBez-Narrative sensibilisiert. Viele solcher korrektiven Erfahrungen ermöglichen es Jan, epistemisches Vertrauen in die Beziehungskompetenz seiner Beraterin zu entwickeln. Mentalisierens im sonderpädagogischen Arbeitsfeld einer Förderschule

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Jan scheint seine Beraterin als »vertrauensbesetzte Person« zu akzeptieren (Nolte, 2018, S. 158). Behutsam geht die Beraterin zum Ausgangspunkt des Vorwurfs (Körperverletzung) zurück und exploriert gemeinsam mit ihm den Kontext des Vorfalls. Dass Jan anschließend ihrem Problemlösungsvorschlag zustimmt, scheint ebenfalls auf sein größer werdendes epistemisches Vertrauen in seine Beraterin hinzuweisen. Meist kann man erst nach einer Beratungssitzung explizit mentalisieren. Im Handlungsdialog (Heisterkamp, 2002) mit Kindern kann die Beraterin in ihren spontanen Eingaben die Perspektive des anderen berücksichtigen und diese durch gezieltes Nachfragen erkunden. Explizites Mentalisieren dagegen würde hölzern und gerade bei Adoleszenten aufgesetzt wirken und zudem den Fluss des Gesprächs unterbrechen. Explizites Mentalisieren ist oft »nur die Spitze des Eisbergs; wir mentalisieren in interpersonalen Interaktionen vorwiegend implizit – automatisch und nicht-reflexiv« (Allen, Fonagy u. Bateman, 2008, S. 51). Im Beratungsalltag bleibt den Beraterinnen meistens »keine Zeit[,] explizit zu mentalisieren, während sie mit anderen interagieren; sie mentalisieren implizit – das heißt, spontan und intuitiv, ohne darüber nachzudenken. Dabei orientieren sie sich an ihrem Bauchgefühl« (Allen et al., 2008, S. 395). Folgt man Allen et al. (2008) und Heisterkamp (2002), dann kann geschlussfolgert werden, dass die Beraterin ihren Klienten Jan in den Sitzungen aus einer Haltung der intuitiven Mitbewegung und des Nichtwissens heraus, nicht nur explizit, sondern darüber hinaus auch implizit mentalisiert. In der nun folgenden Episode aus einer Beratungssitzung reflektiert die Beraterin intuitiv Jans komplizierte Beziehung zu seiner Freundin. Jan kommt aus einer Regenpause direkt zur Beratungssitzung. Kaum hat sich Jan hingesetzt, kommentiert er das wechselhafte Wetter draußen: »Immer ist es so ein Hin und Her.« – »Gutes Stichwort«, erwidert die Beraterin, »Bei ›Hin und Her‹ fällt mir was ein, was ich dich fragen wollte. Ahnst du, was ich meine?« Er lächelt: »Wir sind wieder zusammen!« Es folgt ein Gespräch über Jans Beziehung zu seiner Freundin, während er mit der Beraterin in einer entspannten Atmosphäre Uno spielt.

Zunächst greift die Beraterin Jans apokryph erscheinenden Kommentar zum Wetter wie eine Metapher auf und zieht vorsichtig eine Parallele zu seinem vermuteten Erleben. Auch wenn die Beziehung zur Freundin nicht direkt angesprochen wird, fühlt sich Jan von seiner Beraterin verstanden. In der nachfolgenden Episode wird erneut deutlich, wie sanfter Humor für weitere mentalisierungsbasierte Reflexionen hilfreich ist.

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Jan kommt oft in bedrückter Stimmung zur Stunde, die von der Beraterin mit folgenden Worten symbolisiert wird: »Na, dein Gesicht hängt ja gerade knapp über dem Boden.« Wie in einigen vorangegangenen Sitzungen wirken solche humorvollen Umschreibungen wie ein Türöffner für das weitere Gespräch mit Jan. So erzählt Jan anschließend, motiviert durch sein epistemisches Vertrauen in die Beraterin, direkt von einer schwierigen Situation mit seiner Freundin Maja in seinem Zimmer. Er schildert, dass sie einvernehmlich Zärtlichkeiten miteinander austauschten. Sexuellen Kontakt wollte Maja nicht, was Jan auch respektierte. Als sie gehen wollte, fühlte sich Maja dennoch wie zurückgehalten und blieb noch einen Moment. Sein Dilemma drückt er so aus: »Ich wollte ja aufhören, aber mein Körper wollte nicht.« Dennoch respektierte er Majas Wunsch, nach Hause zu gehen, und brachte sie noch zum Bus. Die Beraterin beschließt Jans Schilderung intuitiv mentalisierend mit den Worten: »Wenn du so erzählst, habe ich folgende Frage: Kann es sein, dass du denkst, jeder will was vom andern, aber keiner weiß, wie es gehen soll?« Jan nickt vor sich hin, was die Beraterin zustimmend interpretiert. Außerdem empfiehlt sie ihm für die in letzter Zeit immer häufiger auftauchenden »Männerthemen« ein Gespräch mit einem männlichen Berater. Jan stimmt erneut zu. Auch hier finden sich erneut Hinweise zu Jans epistemischen Vertrauen in die Problem- und Lösungskompetenz seiner Beraterin.

Im Übergangsraum einer pädagogisch-therapeutischen Beratung (PTB) kann, wie die Fallepisoden deutlich machen, ein mentalisierendes Klima entstehen. Die optimalen Rahmenbedingungen, unter denen PTB stattfindet, ermöglichen es der Beraterin, eine reflexive Haltung einzunehmen und aufrechtzuerhalten. Dieser Spielraum ist vor allem im schulischen Raum nicht immer gegeben.

3 Über die tägliche Not von Förderschullehrkräften, eine mentalisierende Haltung im Schulalltag aufrechtzuerhalten Die aktuellen institutionell-schulischen Rahmenbedingungen im Zuge der In­­klu­ sion für die Förderschulen im Förderschwerpunkt ESENT und Lernen sind suboptimal. Die hier geschilderten Umstände beziehen sich auf Nordrhein-Westfalen (NRW), sind aber ohne Weiteres auf ähnliche Entwicklungen anderer Bundesländer übertragbar (Rubrik »Forum Kurzberichte aus den Ländern«; Gingelmaier, Bleher, Hoanzl u. Herz, 2019). Zentral ist die Feststellung, dass eine pädagogische Institution die belasteten Hintergründe der Schülerinnen und Schüler eher weiter verschärft, anstatt sie durch institutionelle Gegengewichte zu entlasten. In den letzten zwei Jahren haben sich die Rahmenbedingungen (z. B. KlassenMentalisierens im sonderpädagogischen Arbeitsfeld einer Förderschule

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größe) an den Förderschulen in NRW gravierend verändert. Im Rahmen der Inklusion von Kindern mit Behinderungen an Allgemeinen Schulen musste jede Förderschule einen Teil ihrer Sonderschullehrkräfte an die inkludierenden Allgemeinen Schulen abordnen. Förderschulen wurden aufgelöst oder zusammengelegt. Allerdings schickten enttäuschte Eltern und überforderte Allgemeine Schulen Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf wieder vermehrt in die Förderschulen – aber dort fehlten jetzt die (abgeordneten) Lehrkräfte, um sie angemessen zu versorgen. Im gleichen Zeitraum erhöhte das Ministerium für Schule und Bildung in Nordrhein-Westfalen die Richtwerte zur Klassenbildung. Derzeit sind Klassengrößen bis zu 16 (!) Schülerinnen und Schüler an den Förderschulen vom Ministerium als zulässig erklärt, wobei das Spektrum der Behinderungen an einer Schule und in einigen Klassen immer heterogener wird. Für diese Form der Inklusion ist die Institution nicht ausgestattet. Aufgrund solcher veränderten Rahmenbedingungen steigt für das an der Förderschule arbeitende Lehrpersonal die gesundheitsgefährdende Stressbelastung am Arbeitsplatz, was sich mentalisierungstheoretisch zwangsläufig eben auch darin ausdrückt, dass die Förderschulkollegien eine mentalisierende Haltung im Schulalltag schwieriger aufrechterhalten können. Mittels Auszügen aus zwei emotionsfokussierten Interviews – orientiert an dem Modell der morphologischen Interviews nach W. Salber (2001) – mit dort tätigen berufserfahrenen Förderschullehrerinnen wird deutlich, wie aufgrund der strukturell angelegten Überlastung tägliche, immer wiederkehrende Ohnmachts- und Hilflosigkeitserfahrungen zum Einbruch der Mentalisierungs­ fähigkeit führen. Diese Gespräche fanden zeitlich nach der Erhöhung der Richtwerte zur Klassenbildung an Förderschulen statt. 3.1 Tägliches Scheitern und Ohnmachtserfahrungen der Förderschullehrerin A. Zunächst führte ich das Interview mit Frau A., einer Kollegin mit 18 Dienstjahren Erfahrung. Auf die eingangs gestellte Frage, was sie als schulische Belastung erlebe, antwortete sie: A.:  »Als Belastung empfinde ich die Vielzahl der Schüler in meiner Klasse mit umfänglichem Förderbedarf. Ich hab’ immer das Gefühl, ich kann gar nicht allen gerecht werden. Das empfinde ich als extrem belastend.« JW:  »Wenn du noch mal an die Zeiten denkst, als du 15 Schüler in der Klasse hattest, wie hat sich das angefühlt?« 172

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A:  »Das waren sehr viele schwierige Schüler, die ich damals zu dem Zeitpunkt hatte, und ich weiß, dass ich einfach nur gestresst war, dass ich den Kindern nicht gerecht geworden bin und dass ich einfach nur noch reagiert habe.« JW:  »Woran hast du gemerkt, dass du den Kindern nicht gerecht geworden bist?« A:  »Weil ich mit meinen Aktionen wirklich nichts bewirkt habe. Ich konnte die … die Situation nicht wesentlich entschärfen.« JW:  »Kannst du dazu mal ein Beispiel nennen?« A:  »Ha, da gab es so viele Beispiele. Zum Beispiel, wenn zwei sich gestritten haben und ich versucht habe, es draußen zu klären, vor der Tür – dann ging es drinnen eben weiter. Dann hörte ich schon, dass drinnen auch weiter Streitereien waren. Oder wir haben den Streit dann vermeintlich gelöst, und es ging dann in der Pause weiter, ja und so. Dass man nicht wirklich Ruhe hatte, sich um etwas richtig zu kümmern.« JW:  »Und wie lief dann so ein Gespräch draußen ab?« A:  »Ja, unter Zeitdruck, ne. Ja, ich habe im Grunde nur mit einem halben Ohr hinhören können, weil das andere Ohr letztendlich immer im Klassenraum war. Das war mir zu diesem Zeitpunkt auch immer bewusst, aber ich wusste mir ja nicht anders zu helfen.« JW:  »Wie fühlt sich das denn für dich an?« A:  »Ja, unzulänglich zu sein, ja, den Kindern auch keine wirkliche Stütze zu sein.« JW:  »Wie ist es denn für dich, wenn du siehst, dass du zu wenig Zeit für diese Kinder hast?« A:  »Das ist auch so ein Gefühl der Ohnmacht. Ich kann nur gucken, dass ich immer nur einigermaßen allen gerecht werde.« JW:  »Gibt es Tage, wo du das Gefühl hast, du wirst allen gerecht?« A:  »Es gibt so Tage, ja. Wenn ich genauer darüber nachdenke, hab’ ich das, glaube ich, nie!«

Lehrerinnen, die oft mit komplex traumatisierten Kindern arbeiten, werden auch immer wieder wie bereits oben beschrieben in traumainduzierte Beziehungsszenarien verwickelt, wie z. B. sich vehement hin- und hergerissen zu erleben und diese Situation als ausweglos zu empfinden. So konnte – unter Beachtung des tiefenpsychologischen Fokus auf die Affekte – das Ohnmachtserleben der Kollegin in seinem Kontext reflektiert werden. Ein haltender Rahmen – als Voraussetzung zur Mentalisierung – kann unter den genannten Bedingungen kaum über den Verlauf eines Vormittags aufrechterhalten werden. Zimmermann (2016) empfiehlt, diesen Interaktionsmodus »im Sinne einer Grenzüberschreitung« (S. 161) gegenüber den dort tätigen Förderschullehre­ rinnen zu deuten. Nach meiner eigenen beruflichen Erfahrung und vielen Mentalisierens im sonderpädagogischen Arbeitsfeld einer Förderschule

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Gesprächen mit Förderschulkolleginnen komme ich zu dem Eindruck, dass durch hohe Stundenbelastung, zu große Klassen und nicht zusammenpassende Störungsbilder von hoch seelisch belasteten Kindern diese Grenzverletzung im Setting Schule strukturell angelegt ist (s. auch Hillert, Koch u. Lehr, 2013). Die zitierte Kollegin ist mit der Regulation ihrer eigenen intensiven Affekte beschäftigt. Es fällt ihr unter diesen Umständen schwer, einen inneren Raum aufrechtzuerhalten, um die Innenwelt ihrer Schülerinnen und Schüler mentalisieren zu können. Frau A. geht über ihre eigenen Grenzen hinaus. Sie beutet sich selbst aus, um trotz des nicht zu erfüllenden Bildungsauftrags es dennoch immer wieder versuchen zu wollen. Ich schließe mich Zimmermann (2016) erneut an, wenn er schlussfolgert: »In diesem Kontext muss deshalb begründeter Weise von institutioneller Verantwortungslosigkeit gesprochen werden « (S. 163). Peter Heesen, der ehemalige Bundesvorsitzende des Deutschen Beamtenbundes (dbb) greift den Aspekt der institutionellen Verantwortung vor dem Hintergrund der »Potsdamer Lehrerbelastungsstudie« (Schaarschmidt u. Kieschke, 2007) auf: »Die Verantwortung für die Gesundheit der Lehrerinnen und Lehrer liegt nicht nur bei ihnen selbst, sondern auch bei denen, die das Maß der Belastung zu verantworten und über Entlastungsstrategien zu entscheiden haben« (S. 10). Förderschullehrkräfte wie Frau A. scheitern fast täglich an dieser institutionell bedingten Überforderung, mit den schwer bewältigbaren emotionalen Erfahrungen der Hilflosigkeit, des täglichen Ausgeliefertseins und der Ohnmacht konfrontiert zu sein. Stattdessen generieren sie die Erfahrung, an diesem chronisch leidvollen Erleben etwas ändern zu können. Die Kollegin schildert darüber hinaus spiegelbildlich die traumatischen Vorerfahrungen ihrer anvertrauten Schüler! 3.2  Die alltägliche Erschöpfung der Förderschullehrerin B. In einem weiteren Gespräch mit einer Förderschullehrerin, Frau B. (26 Dienstjahre), wird deutlich, wie diese chronische Stresserfahrung zur gesundheitsgefährdenden Erschöpfung führt. Anfänglich schildert sie einen ähnlichen alltäglichen stressinduzierenden Unterrichtsalltag. JW:  »Taucht so eine Situation täglich auf?« [Schlägereien, laute Unterrichtsstörungen, Beleidigungen, Beschimpfungen, Anm. des Verf.] B:  »Mehrfach, zig-fach, ständig … Was mich so unglaublich erschöpft, was ich erst nachher merke, dass diese vielen Schüler, die da sitzen, jeder einzelne etwas anderes braucht.« 174

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JW:  »Und es kommt nicht jeder zum Zuge, oder wie muss ich mir das vorstellen?« B.:  »Es kommt nicht jeder zum Zuge – ist ja nicht so tragisch, weil jeder von ihnen weiß, dass er irgendwann dran ist. Sie wissen, dass sie drankommen. Und das ist für mich hochanstrengende Arbeit. Ich muss immer glaubwürdig sein.« JW:  »Inwiefern spielt in dieser anstrengenden Arbeit die Größe der Klasse – du hast 15 Schüler erwähnt – spielt das bei der anstrengenden Arbeit auch ’ne Rolle?« B.:  »Ganz bestimmt.« JW:  »Woran merkst du das?« B.:  »Es sind einfach viele unterschiedliche Anforderungen. Jedes einzelne Kind ist sehr individuell. Und wenn ich jetzt nur zehn hätte – manchmal ist es ja so, es fehlen dann so viele, dann hat man weniger, zwölf oder elf oder so –, dann merke ich, wie unglaublich entspannt ich bin, dann ergibt sich plötzlich so ein Raum, und diese enorme Beanspruchung von diesen Kinderaugen oder atmosphärischen Dingen, die da im Raum sind, die nimmt dann auch gleich ab.« JW:  »Und wenn du das mit 15 dir vorstellst, wie würde das Bild von dem Raum, der sich da geöffnet hat – du hast die Arme ausgebreitet – wie würde der sich dabei verändern?« B.:  »Er wird ganz eng! Und ich merke, dass mich das sehr anstrengt. Die Anstrengung ist enorm hoch.« JW:  »Woran merkst du die Anstrengung?« B.:  »Ich weiß nicht, das ist schon fast so ein Stress, weil ich versuche, alle in mich aufzunehmen. Das ist sehr anstrengend.« JW:  »Macht sich das auch körperlich spürbar?« B.:  »Ja, im Gegensatz zu dieser Entspanntheit, der Körper ist nicht mehr so entspannt. Im Gegensatz dazu, wenn da weniger Schüler sind, zehn oder so, bin ich sehr viel gelöster.« JW:  »So wie du gerade gesessen hast, dass sich die Enge, die du eben beschrieben hast, dass der Raum ganz eng wird, es wird ganz eng für dich bei den 15 dann, dass sich das auch in Verspannungen niederschlägt.« B.:  »Was sich entwickelt hat, seit ungefähr zwei Jahren habe ich immer mal wieder Migräneattacken, die sich etablieren.« Anschließend fokussiere ich das Gespräch auf die Zeit vor dem nächsten Unterricht. JW:  »Und wenn du morgens aufstehst, wie ist dann dein Blick zur Schule hin?« B.:  »Im Moment weiß ich, dass ich alle Aufgaben, die ich habe, kann ich schaffen. – Aber es ist schon so, dass ich morgens aufwache und es bedaure, dass ich wieder meine ganze Kraft in diesen Schulalltag stecke, stecken werde und eigentlich von dem restlichen Tag so wenig habe. Das ist etwas, was ich Mentalisierens im sonderpädagogischen Arbeitsfeld einer Förderschule

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sehr bedaure, das Lehrersein für mich heute bedeutet, es ist wirklich schwere Arbeit – und es bleibt eigentlich nichts mehr anderes. Das ist etwas, was mich morgens traurig macht.« JW:  »Du betontest, es ist schwere Arbeit. Kannst du das einmal mit einem Bild beschreiben?« B.:  »Ich glaube, diese schwere Arbeit, das sind diese unterschiedlichen Anforderungen und diese Erschöpfung, die ich so spüre, nach der Schule. Dass es mich so sehr erschöpft. Wenn ich dann manchmal auf dem Parkplatz stehe und zehn Minuten schlafe oder so und nicht mehr kann, habe ich das Gefühl, ich komme aus dem Steinbruch. Ich bin so erschöpft, dass ich nicht mehr weiterfahren kann. Ich muss jetzt zehn Minuten schlafen.« JW:  »Steinbrucharbeit stelle ich mir auch so vor, ja, jeder Muskel ist lahm.« B.:  »Ja, Steinbrucharbeit. Es ist ja nicht so, dass man es nicht schaffen könnte.«

Mit ihrer Erschöpfung beschreibt die Kollegin eine seelisch-körperliche Ver­­ fassung, die sich nach einem spannungsreich erlebten Schultag einstellt. Sie scheint stark gefordert zu sein, ihre als überwältigend erlebten inneren Spannungszustände regulieren zu können. Um ihre Schülerinnen und Schüler mentalisieren zu können, braucht sie allerdings einen inneren spannungsarmen Raum, in dem die meist spannungsreichen Zustände der anvertrauten Lernenden gehalten werden können. Hier schließe ich mich Ramberg (2018, S. 116) an, wenn er sich auf Gerspach (2009) bezieht: »Denn um, verstehend und haltend arbeiten zu können, müssen wir uns selbst durch den institutionellen Rahmen gehalten fühlen.« Erst in einem hinreichenden schulorganisatorischen Rahmen, in dem v. a. personelle und räumliche Ressourcen vorhanden sind, können Lehrkräfte eine basale mentalisierende Haltung aufbauen.

4 Fazit Taubner (2015, S. 160) beschreibt ähnliche Erfahrungen in einem Mentalisierungsprojekt an berufsbildenden Schulen (BBW), dass die starke psychische Stressbelastung bei den pädagogischen Fachkräften mit einer »erhebliche(n) Einschränkung ihrer Mentalisierungsfähigkeiten« einhergeht:

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»Eine berufliche Rehabilitation mit lern- und psychisch-behinderten jungen Menschen stellt erhebliche Anforderungen an die damit befassten Mitarbeiter, insbesondere wenn die jungen Menschen sowohl kognitiv als auch in ihren Beziehungs- und Reflexionsfähigkeiten eingeschränkt sind« ­(Taubner, 2015, S. 161). Diesem Fazit ihrer Untersuchung an einer Institution des BBW kann auf dem Hintergrund der Falldarstellung in einer pädagogisch-therapeutischen Beratung und den tiefenpsychologisch geführten Gesprächen mit zwei Förderschullehrerinnen uneingeschränkt zugestimmt werden. Mit einem leicht ergänzten Zitat aus der Begleitforschung zur traumapädagogischen Lehrerfortbildung soll dieser Artikel abgeschlossen werden: »Denn fachlich gut begründet kann davon ausgegangen werden, dass nur Fachkräfte, die nicht zu sehr erschöpft sind, transparente und kontinuierliche [d. h. auch mentalisierende, Anm. d. Verf.] Beziehungen mit schwer belasteten Kindern und Jugendlichen gestalten können« (Zimmermann, 2016, S. 17).

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Willerscheidt

»Lasst uns über psychische Gesundheit sprechen« – Schulpraxisbericht eines mentalisierungsbasierten Präventionsprogramms Nicola-Hans Schwarzer und Elena Johanna Koch

Aufbauend auf der Tatsache, dass ein substanzieller Anteil an Kindern bereits im Grundschulalter mindestens einmal unter erheblicher psychischer Belastung leidet, wird in diesem Beitrag die Arbeit mit dem mentalisierungsbasierten Präventionsprogramm »Lasst uns über psychische Gesundheit sprechen« beschrieben und diskutiert, das mit einer Grundschulklasse erstmalig in Deutschland durchgeführt wurde. Hierzu wird die konzeptionelle Grundlage des Präventionsprogramms erläutert, ebenso wie dessen konkrete praktische Umsetzung. Based on a school practice report, this article describes and discusses working with the mentalization-based prevention program »Lasst uns über psychische Gesundheit sprechen«. In a theoretical introduction, the current state concerning the mental health of young people in Germany is presented and in the next step, the conceptual basis of the prevention program is explained. The practical implementation of the program is described below based on a specific teaching unit. Finally, these observations are classified based on the theoretical foundation.

1 Vorbemerkung Psychische Gesundheit von Kindern und Heranwachsenden repräsentiert ein Thema, dem angesichts der empirischen Datenlage – annähernd zwanzig Prozent aller Kinder in Deutschland leiden während ihrer Grundschulzeit mindestens einmal unter erheblicher psychosozialer Belastung und weisen psychische Auffälligkeiten auf – ein gesondertes Maß an Aufmerksamkeit zuzugestehen ist. Die Grundschule bietet als Umsetzungsfeld für universalpräventive Maß179

nahmen hierbei ideale Voraussetzungen. Neben der erforderlichen Infrastruktur und der nahezu flächendeckenden Erreichbarkeit aller Kinder bietet sie zudem den Vorteil, dass junge Menschen hier viel Zeit verbringen (Eschenbeck et al., 2019). Aktuell fehlt es jedoch an Maßnahmen zur psychischen Gesundheitsförderung, die die Vorzüge von Schulen als Präventionsfeld nutzen, wenngleich diese dringend benötigt werden (Eschenbeck et al., 2019). Mentalisierungsbasierte Interventionen außerhalb des klinischen Kontexts stellen die vorbeugenden Aspekte des Mentalisierungskonzepts in den Vordergrund (Ramberg, 2018) und erscheinen damit besonders attraktiv für gesundheitsfördernde Interventionen. In diesem Beitrag soll erstens ein Überblick über die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen skizziert werden. Aufbauend erfolgt zweitens die Darstellung des konkreten umgesetzten mentalisierungsbasierten Präventionsprogramms »Lasst uns über psychische Gesundheit sprechen« (englischer Originaltitel: »Talking Mental Health«).

2  Theoretischer Hintergrund 2.1  Psychische Gesundheit im Kindes- und Jugendalter Psychische Gesundheit ist ein weitläufiges Konstrukt – zurückzuführen auf den unklaren Gesundheitsbegriff, für den bisher keine einheitliche Definition vorliegt (Franke, 2012). Döring-Seipel und Dauber (2013) definieren psychische Gesundheit als das Ereignis eines komplexen Wechselwirkungsprozesses zwischen verschiedenen Einflussfaktoren. Dabei wird sie maßgeblich von Anforderungen, die einerseits von außen an die Person herangetragen werden, und andererseits aus ihren eigenen Ansprüchen und Bedürfnissen resultieren, beeinflusst. Ebenso zentral erscheinen verfügbare Ressourcen, die die Person in der Auseinandersetzung mit den Anforderungen mobilisieren kann, und die Formen der Bewältigung, die die Person auf der Basis der ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen wählt. Psychische Gesundheit beschreibt demnach einen subjektiven Zustand, der neben einem positiven Grundgefühl (Wohlbefinden) zudem durch ein als stabil erlebtes Handlungs- und Funktionsniveau insbesondere in Anforderungssituationen gekennzeichnet ist. Großflächige epidemiologische Untersuchungen wie das Kinder- und Jugendgesundheitssurvey des Robert Koch-Instituts (KiGGS; Klipker, Baumgarten, Göbel, Lampert u. Hölling, 2018) zeigen, dass gegenwärtig etwa 17 Prozent aller Heranwachsenden in Deutschland unter erheblicher psychischer Belastung leiden und psychische Auffälligkeiten zeigen. Diese Befunde decken 180

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sich mit Daten aus internationalen Untersuchungen (z. B. Belfer, 2008; Morrison Gutman, Joshi, Parsonage u. Schoon, 2015; Polanczyk, Salum, Sugaya, Caye u. Rohde, 2015). Aus entwicklungspsychologischer Perspektive wird vermutet, dass der Übergang von der Kindheit in die Phase der Adoleszenz einen erheblichen Risikofaktor im Hinblick auf die Entwicklung psychischer Auffälligkeiten darstellt (z. B. Herpertz-Dahlmann, Bühren u. Remschmidt, 2013). In der Tat dokumentieren klinische Studien geschlechterunabhängig deutliche Zuwächse psychischer Auffälligkeiten und Erkrankungen von der Kindheit bis zum Ende der Adoleszenz (Costello, Mustillo, Erkanli, Keeler u. Angold, 2003; Ravens-Sieberer et al., 2008), was die Notwendigkeit hervorhebt, sich auch im schulischen Kontext mit der psychischen Gesundheit von Kindern und Heranwachsenden zu befassen. 2.2  Das Programm »Lasst uns über psychische Gesundheit sprechen« Das vom Anna Freud National Centre for Children and Families in London entwickelte »Talking-Mental-Health«-Programm (deutsch: »Lasst uns über psychische Gesundheit sprechen«) wird seit mehreren Jahren flächendeckend an Grundschulen in Großbritannien durchgeführt. Seit Ende 2018 arbeitet ein kooperativer Zusammenschluss, bestehend aus der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, der Universität Heidelberg und der Universität Koblenz-Landau, an einer Übersetzung des bis dato englischsprachigen »Talking-Mental-Health«Programms. Die hierbei erstellten Arbeitsmaterialien sind deutschsprachige Übersetzungen – ebenso wurde eine Fortbildung für interessierte Lehrkräfte entwickelt. Beginnend nach den Herbstferien 2019 wird das Programm gegenwärtig in insgesamt zwölf Grundschulklassen (dritte/vierte Jahrgangsstufe) im süddeutschen Raum erstmalig implementiert und in einem Forschungsprojekt empirisch begleitet. Grundlegende Annahmen und Ziele des Programms: Das Programm »­ Talking Mental Health« (Anna Freud National Centre for Childen and Families, 2019) verfolgt das Ziel, durch die bewusste und angeleitete Auseinandersetzung mit psychischer Gesundheit bei Schülerinnen und Schülern im Grundschulalter eine Sensibilisierung für das Thema psychische Gesundheit anzustoßen. Wichtige Bausteine des kindgerechten Programms sind »kleine Gefühle« und »große Gefühle«, die nach einer angeleiteten Einführung für die Kinder greifbare Konstrukte darstellen und zudem mithilfe eines Films visualisiert werden. Das Programm zeigt den teilnehmenden Kindern, dass Gefühle alltäglich sind und unser Wohlbefinden, unsere Stimmungen und unser Verhalten ständig beeinflussen. Zwar ist es erwartbar, dass man im Laufe des Tages »gute« Schulpraxisbericht eines mentalisierungsbasierten Präventionsprogramms

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und »schlechte« Gefühle erlebt. Insbesondere unangenehme Gefühle wie Wut, Angst oder Trauer sind demnach keinesfalls »schlecht« und können durch je individuelle Regulationsmöglichkeiten eigenmächtig bewältigt werden. Gelingt es den Kindern allerdings nicht mehr, die »schlechten« Gefühle eigenständig zu überwinden, kann aus einem »kleinen Gefühl« ein »großes Gefühl« werden. Große Gefühle wiederum können, wenn sie lange Zeit überdauern, die psychische Gesundheit beeinflussen. Das Programm führt den Kindern vor Augen, dass man sich – ähnlich, wie man sich um seine körperliche Gesundheit kümmert – auch um seine psychische Gesundheit kümmern kann/muss. Als besonders wichtige Maßnahmen werden im Programm das Sprechen und das Zuhören herausgearbeitet. Die Schülerinnen und Schüler lernen, dass sie sich, sobald sie ihre eigenen Gefühle als überfordernd erleben, Hilfe holen können – hierzu stellt das Sprechen über die herausfordernden Gefühle die Grundlage dar. Ebenso zielt das Programm darauf ab, das gegenseitige Zuhören der Schülerinnen und Schüler zu fördern, um so erkennen zu können, ob andere Hilfe benötigen. Mittels ausgearbeiteter Unterrichtsstunden wird über kreative, spielerische und handlungsorientierte Zugänge ein grundlegender Wortschatz geschaffen. Dabei werden die Kinder zusehends befähigt, eigenes Erleben selbst zu formulieren. Hintergrund bildet die Fähigkeit zur Symbolisierung innerpsychischer Zustände, was in jüngerer Zeit als Mentalisieren (ausführlich: Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2015) bezeichnet wird. Mentalisierungsfähigkeit: »Lasst uns über psychische Gesundheit sprechen« fokussiert neben der Enttabuisierung von psychischer Krankheit auch die Förderung der kindlichen Mentalisierungsfähigkeit. Mentalisieren ist bekanntermaßen definiert als das imaginative Wahrnehmen oder Interpretieren von Verhalten unter Bezugnahme auf intentionale mentale Zustände (Allen, Fonagy u. Bateman, 2011). Aufbauend auf der klinischen Relevanz des Mentalisierungskonzepts befasst sich eine Reihe von theoretischen und empirischen Arbeiten in letzter Zeit mit der protektiven Funktion der Mentalisierungsfähigkeit (z. B. Stein, 2013; Chiesa u. Fonagy, 2014; Fonagy, Luyten, Allison u. Campbell, 2017; Ballespi et al., 2019; Borelli et al., 2019; Schwarzer, 2019). Als zentral kann in diesem Zusammenhang die Annahme bezeichnet werden, dass eine präventive Stärkung der Mentalisierungsfähigkeit das Individuum vor Belastungen schützt (Taubner, 2015) und es diesem gestattet, sich angesichts belastender Umstände resilient anzupassen (Stein, 2013), indem bei stressinduzierter affektiver Anspannung erstens ein ganzheitliches Selbsterleben möglich ist und in der Folge zweitens Stress- und Belastungszustände trotz des induzierenden affektiven Arousals innerpsychisch verarbeitet (metabolisiert; Ballespi et al., 2019) sowie drittens als regulier- und kontrollierbar erlebt werden (Staun, 2017). Diese 182

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Annahme qualifiziert das Mentalisierungskonzept als relevantes und anschlussfähiges Konzept für die Arbeit in präventiven Settings (z. B. Adkins, Luyten u. Fonagy, 2018) sowie in (sonder-)pädagogischen Zusammenhängen (Gingelmaier, Taubner u. Ramberg, 2018; Schwarzer u. Gingelmaier, 2018, 2019). Verlauf: »Lasst uns über psychische Gesundheit sprechen« umfasst 17 Unterrichtseinheiten sowie eine einführende und eine abschließende Sitzung. Alle Unterrichtsstunden dauern je 45 bis 90 Minuten. Tatsächlich sind die vorgeschlagenen Stundenverläufe eher als Idee einzuordnen, die der Lehrkraft konkrete Umsetzungsmöglichkeiten vorschlagen. Folglich orientiert sich die praktische Durchführung zwar an den Inhalten des Manuals, dabei kann die Lehrkraft die Reihenfolge der einzelnen Modulinhalte oder auch die didaktisch-methodische Aufbereitung der einzelnen Unterrichtsstunden allerdings frei wählen. Im Vorfeld der Umsetzung wurden mit den Lehrkräften in einer Fortbildung von 4 × 45 Minuten grundlegende Programmaspekte erarbeitet. Didaktisch-methodische Grundsätze: Da vielen Kindern der erforderliche Wortschatz zunächst fehlt, um über eigenes Empfinden und eigene Belastung zu sprechen, nutzt das Programm vielfältige gestalterische, spielerische und handlungsorientierte Zugänge, die eine mentalisierende Annäherung an das Kon­ strukt »psychische Gesundheit« schrittweise ermöglichen. Mit zunehmendem Wortschatz und dem damit einhergehenden Verständnis, dass psychische Gesundheit als dynamisches und subjektives Konstrukt zu begreifen ist, steigt das Abstraktionsniveau der einzelnen Unterrichtsstunden. Rollenspiele und kreative Aufgabenstellung, die stets von einem reflektierenden Unterrichtsgespräch begleitet werden, erlauben den Schülerinnen und Schülern eine kindgerechte und niederschwellige Auseinandersetzung mit dem anspruchsvollen und emotionalen Lerngegenstand.

3 Praxisbericht1 3.1  Vorbereitende Maßnahmen Vorbereitungen während des Projekts: Im Zuge der Programmvorbereitung fand zunächst eine enge Orientierung am Manual statt. Bereits unmittelbar nach der ersten Stunde wurde deutlich, dass eine exakte Umsetzung des Programms in 1

Die im Praxisbericht beschriebene Unterrichtseinheit wurde von Nicola-Hans Schwarzer während seines Vorbereitungsdienstes im Lehramt Sonderpädagogik durchgeführt und fand im Rahmen des beschriebenen Forschungsprojekts statt. Schulpraxisbericht eines mentalisierungsbasierten Präventionsprogramms

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der Lerngruppe nicht zielführend war. Da die Lerngruppe für die verschiedenen Lerninhalte bisweilen deutlich mehr Zeit benötigte, entzerrte ich jede der im Manual »straff« geplanten Einzelsitzungen und ergänzte stattdessen ritualisierte Phasen zu Beginn und Ende jeder Sitzung, die den Kindern Verlässlichkeit und Struktur bieten sollten. Angesichts der zum Teil erheblichen Emotionalität, die durch das Programm angestoßen werden kann, schien dies zwingend erforderlich. Zudem erleichtert es den Kindern, sich auf die Auseinandersetzung mit eigenen Gefühlen einzulassen. 3.2  Exemplarischer Verlauf einer Sitzung Zur Veranschaulichung der Umsetzung von »Lasst uns über psychische Gesundheit sprechen« soll im nun anschließenden Teilkapitel der Verlauf einer Sitzung beispielhaft dargestellt werden. Begrüßung: Das etwa zehnminütige Begrüßungsritual war fester Bestandteil jeder Sitzung und nicht im Manual von »Lasst uns über psychische Gesundheit sprechen« vorgesehen. Zentrales Element war, dass alle Kinder die Möglichkeit erhalten, der Gruppe zu berichten, wie es ihnen an diesem Tag ging. Dazu kamen die Kinder einzeln nach vorn und wählten einen der auf einem Tisch zur Verfügung gestellten Gegenstände. Üblicherweise handelte es sich hierbei um zwanzig verschiedene Schleichfiguren (enthalten waren beispielsweise ein mächtiger Drache, ein kleiner Hase, ein wütender Bär, ein vergnüglich aussehender Kanarienvogel etc.) oder die »Heute-bin-ich«-Fischkarten von Mies van Hout (2013). Die ritualisierte Begrüßung schaffte als festes Stundenelement eine sicherheitsgebende Struktur, leitete eine Annäherung an die eigene emotionale Verfasstheit ein und diente der Symbolisierung und Versprachlichung eigener mentaler Zustände. Einstieg: Zur Wiederholung diente ein Quiz, bei dem jedes Kind eine Aussage erhielt, die laut verlesen wurde. Die Lerngruppe beantwortete dann die Frage, was dann durch die Lehrkraft mit weiterem Material (Poster, Emotionskarte etc.) an der Tafel ergänzt wurde. Die spielerische Überprüfung hatte einen motivierenden Einfluss auf die Lerngruppe – zugleich traten Wissenslücken Einzelner nicht hervor, da die Gruppe als Ganzes befragt wurde. Durch meine Ergänzungen im Anschluss an die Antworten konnte bestehendes Wissen aktiviert, aktualisiert und vertieft werden. Das Quiz endete mit dem in der vorausgegangenen Stunde neu eingeführten Thema »Darüber sprechen«. Hier sollte den Schülerinnen und Schüler vor Augen geführt werden, dass insbesondere Situationen, in denen Emotionen und Gefühle als erhebliche Belastung erlebt werden und nicht mehr regulierbar sind, es erforderlich machen, sich Hilfe zu 184

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holen. Dies wiederum wird möglich, wenn die Schülerinnen und Schüler über diese Belastungen mit wichtigen Personen sprechen. Erarbeitung: Aufbauend auf der im Zuge des Einstiegs zunächst aktivierten Einsicht, dass bei erheblicher psychischer Belastung ein Gesprächspartner gesucht werden soll, dem man vertraut und mit dem man über die Notlage sprechen kann, erhielten die Schülerinnen und Schüler den Arbeitsauftrag, einen eigenen Helferkreis zu erstellen. Hierzu erhielten sie ein Arbeitsblatt, das aus dem Arbeitsmaterial (Tool Kit) von »Lasst uns über psychische Gesundheit sprechen« entnommen war. Die Kinder bearbeiteten in Einzelarbeit das Arbeitsblatt und formulierten für sich einen eigenen Helferkreis, der vertiefend eine Differenzierung in insgesamt drei Gruppen von Helfern zulässt. Das Arbeitsblatt unterstützt die themengebundene Auseinandersetzung mit bedeutungsvollen Personen, die die Schülerinnen und Schüler in Notlagen ansprechen und um Hilfe bitten können. Sicherung: Zur Sicherung der Arbeitsergebnisse präsentierten die Schülerinnen und Schüler reihum ihre Arbeitsergebnisse. Sie benannten für sie wichtige Bezugspersonen, die sie in psychischen Notlagen um Hilfe bitten können und denen sie vertrauen. Das gewählte Sicherungsformat – alle Kinder, die es wollten (es wollten alle) traten je einzeln vor die Gruppe und präsentierten allen Anwesenden ihr Arbeitsergebnis – wurde bewusst gewählt, um der Bedeutsamkeit des Stundeninhaltes gerecht zu werden. Während der Ergebnispräsentation zeigten die Kinder großes Interesse an den Helferkreisen der Mitschülerinnen und Mitschüler und überarbeiteten noch während der Sicherungsphase ihre eigenen Helferkreise zum Teil mehrfach. Abschluss: Der Abschluss der Unterrichtsstunde entsprach ebenfalls einem festen Ritual. Die Kinder erhielten reihum eine Wäscheklammer, die sie mit der Bitte, ihr aktuelles Befinden zu beurteilen, an einer Ampel über die Farben Rot, Orange, Gelb und Grün einordneten. Aus pädagogischer Perspektive diente die ritualisierte Abschlussphase zweierlei Zielsetzungen: Erstens konnte zunächst die Einordnung der Schülerinnen und Schüler aufgegriffen und spontan zum Gegenstand von Reflexionsprozessen genutzt werden. Hatte eine Schülerin beispielsweise zu Stundenbeginn den Drachen gewählt, weil sie wütend und verärgert war, und verortete sie am Stundenende ihre Befindlichkeit in der Mitte der Ampel (orange-gelb), konnte den Schülerinnen und Schülern unmittelbar vor Augen geführt werden, wie hochgradig dynamisch und veränderbar mentale Zustände sind. Zugleich wurde den Kindern deutlich, dass bereits kurze Gespräche über innerpsychisches Erleben einen positiven Einfluss auf ihre mentale Verfasstheit ausüben können. Zugleich hatte das ritualisierte Stundenende einen stabilisierenden Einfluss auf die Kinder, die sich während der Unterrichtsstunde wiederholt Schulpraxisbericht eines mentalisierungsbasierten Präventionsprogramms

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mit emotional anspruchsvollen Themen auseinandersetzten. Die Schülerinnen und Schüler wurden abschließend per Handschlag verabschiedet.

4 Reflexion Im anschließenden Kapitel wird geprüft, inwieweit die praktische Durchführung des Programms tatsächlich einen präventiven Beitrag im Erhalt psychischer Gesundheit leisten könnte. Darüber hinaus erfolgt eine Beurteilung der grundsätzlichen Umsetzbarkeit des Programms. Dabei wird an die Ergebnisse der Pilotierungsstudie angeknüpft (Koch u. Elsässer, 2019a; 2019b), die die prinzipielle Umsetzbarkeit belegen. 4.1 Kriterium 1: Interventionsinduzierte Beiträge des Programms im Erhalt psychischer Gesundheit bei Kindern der Lerngruppe – eine Einschätzung Die Beurteilung, inwieweit auf Basis von »Lasst uns über psychische Gesundheit sprechen« präventive Beiträge im Erhalt psychischer Gesundheit bei teilnehmenden Schülerinnen und Schülern geleistet werden, kann im Rahmen dieser Arbeit lediglich auf Basis einer subjektiven Einschätzung erfolgen. Hintergrund hierbei bildet die Tatsache, dass diese Arbeit noch keine empirische Untersuchung darstellt und auch noch keine wissenschaftlichen Testinstrumente zum Einsatz kamen. Dennoch ist ein höchstmögliches Maß an Objektivität angestrebt, wozu eine Reihe von Indikatoren formuliert werden soll. Ȥ Indikator 1 – Motivation der Teilnehmerinnen und Teilnehmer: Die teilneh­ menden Schülerinnen und Schüler arbeiteten mit sehr großem Engagement und großer Motivation an den Lerninhalten der einzelnen Sitzungen. Dies zeigt, dass die thematisierten Lerninhalte offenbar von großer subjektiver Bedeutung für die Schülerinnen und Schüler waren. Besonders motivierend schien dabei der Stundeneinstieg zu sein. Offenbar gelang es den Teilnehmenden zusehends, diesen als Raum zu nutzen, um eigene Befindlichkeiten zum Ausdruck zu bringen. Ȥ Indikator 2 – Lernzuwächse: Als weiterer Indikator dient der sich einstellende Lernzuwachs auf kognitiver und emotional-sozialer Ebene, der bei den Schülerinnen und Schülern beobachtbar war. Sie verfügten am Ende der Einheit über ein elaboriertes Konzept von psychischer Gesundheit, das sich am Wohlbefinden und an der selbst erlebten Aktivität orientierte, dabei eine dichotome und reduktionistische Kategorisierung hinter sich ließ und psy186

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chische Gesundheit als komplexes Phänomen anerkannte. Zugleich wurde auf übergeordneter Ebene eine Enttabuisierung des Themas angestoßen, indem ihnen vor Augen geführt wurde, dass Phasen psychischer Belastungserscheinungen kein Zeichen von Schwäche sind. Zudem konnten auf emotional-sozialer Ebene Lernzuwächse im Bereich der Haltung gegenüber psychischer Gesundheit festgehalten werden. Auch die bewusste Reflexion von mentalen Befindlichkeiten (»Wie fühle ich mich gegenwärtig und wie kann ich dies zum Ausdruck bringen?«) sowie die damit korrespondierende Einsicht, dass mentale Zustände komplex, dynamisch und vielgestaltig sind, verweisen auf wichtige emotional-soziale Entwicklungsschritte, die durch das Programm zumindest angestoßen worden sein könnten. Ȥ Indikator 3 – spürbare Nutzung des Programms: Als weiteren wichtigen Indikator wurde die wahrnehmbare Übertragung der Lerninhalte in den Alltag der Schülerinnen und Schüler beurteilt. Exemplarisch zeigte sich dies in einer Sequenz während des Begrüßungsrituals. Eine der Schülerinnen hatte den Tiger ausgewählt und ihre Wahl folgendermaßen begründet: Der Tiger stehe für Ärger und Wut aufgrund eines Musiktests, der zuvor unangekündigt stattfand. Die Schülerin merkte zudem an, dass diese Wut lediglich ein kleines Gefühl sei und man sich keine Sorgen machen müsse, da sie sich, sobald sie zu Hause sei, einfach ausruhen werde und die Wut spätestens dann wieder verpufft sei. Insbesondere das Ausruhen habe sie in letzter Zeit als Möglichkeit ausgemacht, um mit negativen Gefühlen gut umgehen zu können. Zusammenfassend könnte das durchgeführte Präventionsprogramm »Lasst uns über psychische Gesundheit sprechen« einen präventiven Beitrag im Erhalt psychischer Gesundheit bei teilnehmenden Schülerinnen und Schülern veranlassen. Auch wenn diese Annahme lediglich auf den subjektiven Eindrücken basiert und empirische Befunde zur profunden Einordnung der interventionsinduzierten Wirksamkeit zwingend erforderlich sind, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein positiver Einfluss des Programms angenommen werden. Eine solche empirische Untersuchung wird aktuell im Kontrollgruppendesign ebenfalls durchgeführt, derzeit liegen noch keine Ergebnisse vor. 4.2 Kriterium 2: Beurteilung der schulpraktischen Umsetzbarkeit des Programms Zuletzt gilt es, die konkrete Umsetzbarkeit von »Lasst uns über psychische Gesundheit sprechen« im schulischen Alltag zu beurteilen. Bereits sehr rasch wurde deutlich, dass eine manualtreue Umsetzung des Programms nicht möglich ist. Zu Schulpraxisbericht eines mentalisierungsbasierten Präventionsprogramms

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deutlich traten verschiedene Aspekte und Bedürfnisse der Teilnehmenden auf, die eine erneute oder vertiefende Thematisierung einzelner Lerninhalte erforderlich machten. An dieser Stelle wurden folglich zum Teil große Abweichungen von den Stundenverläufen in Kauf genommen. Weiterhin erscheint die Ergänzung der ritualisierten Stundeneinstiege von großer Wichtigkeit, da sie den Kindern Struktur und Sicherheit zugesteht. Dies gilt uneingeschränkt auch für das ritua­ lisierte Stundenende. Angesichts der zum Teil hochgradig emotional besetzten Themen scheint dies unerlässlich, da diese Schülerinnen und Schüler ansonsten stark fordern oder sogar überfordern könnten. Zu fragen ist zudem, inwieweit das angebotene Präventionsprogramm noch zu einer (sonder-)pädagogischen Maßnahme zu zählen ist, da die starke Affektfokussierung als Kernmerkmal psychotherapeutischer Interventionen gelten könnte. Diese Frage ist keinesfalls einfach zu beantworten, zumal semitherapeutische Herangehensweisen in der sonderpädagogischen Arbeit stets vertreten waren (zusammenfassend: Hillenbrand, 2011; Stein, 2017; exemplarisch: Bettelheim, 1979). Tatsächlich enthält das Programm klare psychotherapeutische Interventionstechniken, kann aber aufgrund der schulischen Rahmenstruktur ebenso dem (sonder-)pädagogischen Tätigkeitsfeld zugeordnet werden. Zuletzt ist anzumerken, dass »Lasst uns über psychische Gesundheit sprechen« für Adaptionen offen ist und die gewählten Anpassungen der Lerninhalte an die Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler erwünscht sind. Indem die Lehrkraft angeregt wird, die Lerngruppe in der Planung und Durchführung zu bedenken, intendiert das Programm – ganz im Sinne einer mentalisierungsbasierten Pädagogik –, die notwendige Brücke zwischen Lehrenden und Lernenden zu bauen (Fonagy, 2018). Folglich eignet es sich insgesamt zur Umsetzung im schulpädagogischen Handlungsfeld.

5 Fazit Wenngleich sich eine manualtreue Umsetzung des Programms als nicht zielführend erwies, kann die thematische Ausrichtung von »Lasst uns über psychische Gesundheit sprechen« als hoch bedeutsam eingeschätzt werden. Das Programm greift die ernst zu nehmende Problemlage im Feld der psychischen Gesundheit junger Menschen auf und richtet seine Interventionsvorschläge an mentalisierungsorientierten Überlegungen aus. Damit könnte »Lasst uns über psychische Gesundheit sprechen« einen wichtigen Beitrag in der Prävention psychischer Erkrankungen leisten. Um diese subjektive Einschätzung wissenschaftlich zu untermauern, bedarf es jedoch dringend empirischer Befunde, die diese weiter belegen. 188

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Drittes Feld: Mentalisieren in der Sozialen Arbeit Mentalisierungsprozesse im Kontext der stationären Kinder- und Jugendhilfe Theoretische Rahmung und reflektierende Überlegungen zu exemplarischen Alltagssituationen Noëlle Behringer

Der Beitrag zeigt die Bedeutsamkeit von Mentalisierungsprozessen im Kontext von Heimerziehung als Teil der stationären Kinder- und Jugendhilfe auf. Neben allgemeinen Überlegungen zum Mentalisieren in Heimeinrichtungen werden Ideen zur Mentalisierungsförderung umrissen. Die Fallvignette eines fünfjährigen Mädchens beleuchtet mentalisierungsfokussiert biografische und interaktionelle Dynamiken, und sozialpädagogisches Handeln wird anhand einer wiederkehrenden Beispielsituation mentalisierend verstanden. The article shows the importance of mentalizing as part of residental child and youth welfare. To show some ideas of mentalization-based pedagogical interventions, common considerations on mentalizing in this context are outlined. With the case study of a five-year-old girl, mentalization-focused biographical and interactional dynamics are examined and pedagogical actions are understood in a mentalizing way based on a recurring example situation.

1 Mentalisieren im Kontext der stationären Kinder- und Jugendhilfe Die Erziehung von Kindern und Jugendlichen in einer Heimeinrichtung nach § 27 i. V. m. § 34 SGB VIII impliziert, dass es deren Eltern eingeschränkt oder nicht möglich ist, eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung zu gewährleisten. Die Gefährdungen in den Familien führen dazu, dass die Kinder und Jugendlichen nicht in ihrer Familie leben können (Hechler, 2011). Neben der Abwesenheit der Eltern oder den Belastungen durch diese können massive Ent191

wicklungsprobleme und problematische Verhaltensweisen die Unterbringung indizieren (Jordan, ­Maykus u. Stuckstätte, 2012). Die Akkumulation psychosozialer Belastungsfaktoren bewirkt, dass viele dieser Kinder und Jugendlichen zu einer Hochrisikogruppe für psychische Störungen gehören (Schmid, 2010). Oftmals liegen frühe Traumatisierungen vor, die massive Störungen in der Persönlichkeits­entwicklung und in Erlebens-, Verhaltens- und Leistungsbereichen mitbedingen können (Hechler, 2011). Destruktive Bindungs-, Beziehungs- und Erziehungsdynamiken können als Kennzeichen der gesamten Problematik zu Störungen im Bereich der Mentalisierungsfähigkeit führen (Hopf u. Schmid, 2010). Stabile innerpsychische Prozesse, allen voran die Fähigkeit zu mentalisieren, können nämlich auch als Voraussetzung für den Beziehungsaufbau und eine gelingende Beziehungsgestaltung zwischen den jungen Menschen und den Fachkräften in der Heimeinrichtung verstanden werden. Die Einschränkung der Kinder und Jugendlichen in diesen Prozessen kann sich in der gesamten Bandbreite herausfordernder Verhaltensweisen zeigen. Die Annahme, dass dysfunktionales Mentalisieren sowohl die Folge wie auch die Ursache von psychischen Störungen sein kann (Schultz-Venrath, 2015), lässt vermuten, dass das Mentalisieren in der Interaktion zwischen den Fachkräften und den jungen Menschen leicht scheitern kann. Sich zuspitzende, nichtmentalisierende Interaktionsprozesse mit den Kindern und Jugendlichen können auch bei den Fachkräften zu Ohnmachts- und Selbstunwirksamkeitsgefühlen führen (Schmid, 2010). Die subjektive Alltagswahrnehmung kann infolgedessen für beide Seiten stress- und anspannungsbelastet sein und auch an möglicherweise unverarbeiteten biografischen Episoden der Fachkräfte »andocken«, was wiederum hemmenden Einfluss auf deren Mentalisierungsfähigkeit nimmt (Taubner, 2016b). Es kann als Chance der Heimerziehung verstanden werden, den intensiven Beziehungsraum der dauerhaften Unterbringung zu nutzen, um die innerpsychischen Fähigkeiten der jungen Menschen weiterzuentwickeln. Gingelmaier (2016) sieht die Beziehung zu Kindern und Jugendlichen als Grundlage jeder Form der pädagogischen Arbeit und versteht sie als »Trägerin« der affektiven, kognitiven und lebenspraktischen kindlichen Entwicklung im pädagogischen Prozess. Die Fachkräfte sollten daher interaktionelle Prozesse in den täglichen Beziehungs- und Erziehungssituationen reflektierend untersuchen können, um Einflüsse von früheren und aktuellen Bindungserfahrungen der jungen Menschen auf deren Denken, Handeln und Fühlen zu erkennen. Denn: »Gelingendes Mentalisieren stellt entwicklungspsychologisch eine wichtige Einflussgröße für das Zustandekommen von Beziehungen dar, dies gilt auch für ältere Kinder und Jugendliche« (Gingelmaier u. Ramberg, 2018, S. 96). Zugleich sollten die Fachkräfte diese Aspekte selbstreflexiv ergründen, um so die Zusammenhänge mit eigenem beruflichem Stress besser verstehen zu können. 192

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2  Ideen zur mentalisierenden Haltung Über gelingendes Mentalisieren bei Fachkräften kann interpersonell auch die Mentalisierungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen aufgebaut und verbessert werden, wodurch sich eine förderliche Beziehungsgestaltung konstituiert. Gelingendes Mentalisieren ist somit als zentrale pädagogische Anforderung in der Alltagsgestaltung der Heimerziehung zu verstehen, da es ermöglicht, Kinder und Jugendliche in allen Facetten wahrzunehmen und die Beziehung zu ihnen differenziert zu reflektieren. Zudem wird es so möglich, alternative Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten zu erwägen, um insbesondere herausfordernde Situationen professionell bewältigen zu können (Hartmann, 2015). Mentalisieren stellt dabei zunächst eine Einstellung dar, von der sich konkrete Fertigkeiten über eine forschende Haltung ableiten lassen (Fearon et al., 2016). Wie kann Mentalisieren im heimpädagogischen Alltag umgesetzt werden, und wie sieht eine solche Haltung aus? Eine mentalisierende Haltung einzunehmen, bedeutet, dass Verhalten, gerade auch vordergründig dysfunktionales oder herausforderndes Verhalten, verständlicher wird, wenn die zugrunde liegenden Gefühle, Gedanken, Fantasien und Wünsche anerkannt werden. Die Fachkräfte berücksichtigen, verbalisieren und validieren mit und für die Kinder und Jugendlichen haltend deren affektiven Zustand in Situationen, die intensive Emotionen auslösen, wie beispielsweise Scham, Schuld, aber auch bei Missverständnissen. Durch die bewusste Exploration und den Versuch, die mannigfaltigen Beziehungseinflüsse im sozialpädagogischen Alltag zu verstehen, können Reifungsprozesse, Integrationsprozesse und gelingende Entwicklung unterstützt werden (Kirsch, 2014a). Kommt es in der alltäglichen päda­ gogischen Interaktion nicht zu positiven Beziehungserfahrungen, besteht die Gefahr einer Eskalationskette, die zu einem weiteren Beziehungsabbruch führen kann. »Erweist sich diese sichere Lebenswelt Tag für Tag im konkreten Alltagsgeschehen also als tragfähig und zuverlässig, stellt sie permanent eine große Zahl von Mentalisierungs- und Veränderungschancen bereit« (Gahleitner, 2013, S. 106). Konkrete Unterstützungsmöglichkeiten entstehen durch die Ermutigung zum Mentalisieren im Hier und Jetzt (Kirsch, 2014b). Die Fachkräfte sollten bemüht sein, im Sinne der Haltung des Nichtwissens mehr über fremde und eigene Gefühle und die damit zusammenhängenden Gedanken, Erfahrungen und Bedeutungen herauszufinden. Diese beziehungsintensive Form der Heimarbeit benötigt differenzierte Trainings und andauernde Supervisionsprozesse: Innerhalb des Teams sollten Situationen des Nichtmentalisierens rückblickend besprochen werden, um in Zukunft Hinweise für nichtmentalisierende Kreisläufe zu identifizieren und antizipatorisches Mentalisieren zu trainieren. Mentalisierungsprozesse im Kontext der stationären Kinder- und Jugendhilfe

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3  Fallvignette: Charlotte und ihre Mutter Charlotte ist fünf Jahre alt, als sie gemeinsam mit ihrem zehnjährigen Bruder Finn in einer Wohngruppe untergebracht wird. Die Wohngruppe, in die die beiden Geschwister eingezogen sind, ist eigentlich eine Wohngruppe für männliche und weibliche Jugendliche ab 13 Jahren. Aufgrund mangelnder Alternativen für ihre Unterbringung wurden sie in der Jugendwohngruppe aufgenommen.

Anamnestische Daten zu Charlotte Die anamnestischen Daten beruhen auf Informationen aus Gesprächen mit der Mutter, den zuständigen Fachkräften des Jugendamtes und dem Kindergarten bzw. der Schule. Charlotte wurde geboren, als ihre Mutter gerade 27 Jahre alt war. Die unverheirateten Eltern von Charlotte und Finn sind deutscher Abstammung. Sie haben sich getrennt, als Charlotte wenige Wochen alt war. Die Mutter berichtet, dass es zwischen dem Vater der Kinder und ihr zu gewaltvollen Auseinandersetzungen gekommen sei. Mit den beiden Kindern sei sie nur schwanger geworden, da der Vater der Kinder dies so gewollt habe. Kurz nach Charlottes Geburt habe er jedoch nach einem heftigen Streit die gemeinsame Wohnung verlassen und sei seither verschwunden. Die Mutter habe die Kinder dann zunächst allein versorgt und ihr Leben durch Prostitution finanziert. Aus dieser Betätigung heraus habe sie immer wieder Kontakte zu den Freiern intensiviert, die teilweise zu Partnern wurden und zeitweise auch im Haushalt lebten. Immer wieder sei es zu körperlich und sexuell gewaltvollen Auseinandersetzungen gekommen, auch vor den Kindern und an den Kindern. Das Jugendamt habe beide Kinder in Obhut genommen, als Charlotte vier Jahre alt war, nachdem die Kinder mehrere Tage nicht in Kindergarten und Schule erschienen waren und Charlotte davor zunehmend auffälliges Verhalten gezeigt hatte (Einnässen, Sexualisierung, Anzeichen von Vernachlässigung). Charlotte habe dann gemeinsam mit ihrem Bruder knapp zwei Jahre in wechselnden Pflegefamilien gelebt, die die beiden Geschwister jedoch aufgrund ihrer Auffälligkeiten nicht hätten »behalten« wollen. In diesen Pflegefamilien sei es ebenfalls zu sexuellen und körperlichen Übergriffen unter den Pflegekindern gekommen, weshalb die beiden Geschwister letztlich in die Wohngruppe gezogen seien. In den Gesprächen mit der Mutter fällt auf, dass diese den bisherigen Verlauf sehr ambivalent schildert: Teilweise bricht sie in Tränen aus und kann vor allem dann, wenn sie über die Konflikte zwischen ihr und verschiedenen Männern berichtet, kaum sprechen. In anderen Momenten wiederum wirkt es für die Fachkräfte so, als wäre sie von den grausamen Geschehnissen wie unberührt, was bei den Fachkräften teilweise heftige Gefühle von Fassungslosigkeit, Wut, in anderen Momenten aber auch Mitleid auslöst. Diese Dynamiken können so verstanden werden, dass die 194

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Erfahrungen bei der Mutter selbstschützend noch nicht verarbeitet sind und die damit zusammenhängenden Affekte teilweise auf die Fachkräfte projiziert und von diesen wahrgenommen werden. Die Mutter schildert weiterhin, dass Charlotte in der Familie die Rolle der versorgenden Mutter einnahm. Anzeichen von Parentifizierung zeigen sich auch in der Wohngruppe und werden vor allem in der Geschwisterbeziehung deutlich: Charlotte fühlt sich verantwortlich für Finn. Sie verteidigt ihn in Streitsituationen mit den Jugendlichen und äußert diesen gegenüber Drohungen, wenn sie ihren Bruder nicht in Ruhe ließen. In ihrer kindlichen Rolle zeigt Charlotte Ambivalenzen, die durch die Parentifizierung in der Herkunftsfamilie erklärbar sein könnten. Einerseits übernimmt sie leicht und ungefragt Verantwortung für sich und andere Personen in einer Quasi-Erwachsenenrolle und pflegt so z. B. ihren Bruder, der darauf jedoch mit Ablehnung reagiert. Andererseits zeigt sie frühkindliche Bedürfnisse und Verhaltensweisen wie etwa das Bedürfnis nach körperlicher Nähe, Getragenwerden oder Trotzreaktionen. In der Wohngruppe kann sie sich gut in der Rolle des Kindes wiederfinden, solange sie die Sicherheit hat, dass es ihrem Bruder gut geht. Charlotte zeigt zugleich auffälliges Verhalten in der Nähe-Distanz-Regulation, ist teilweise aggressiv und berichtet von Ängsten verschiedener Art (wie z. B. vor Monstern, »Kinderklauern«, dem Alleinsein und vor Duschbrausen).

Wie ist der Fall biografisch hinsichtlich der Mentalisierungsentwicklung zu verstehen? Aufgrund der unstrittig dokumentierten frühkindlichen destruktiven Entwicklungsbedingungen ist bei Charlotte davon auszugehen, dass innerpsychische Fähigkeiten, die als Vorläufer der Mentalisierungsfähigkeit verstanden werden, nur bedingt entwickelt werden konnten. Mentalisieren entsteht am besten in der sicheren Bindung zur primären Bezugsperson, da deren kontingent responsives Mentalisieren die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit des Kindes fördert (Allen, Fonagy u. Bateman, 2011). Aufgrund dessen ist die Mentalisierungsfähigkeit abhängig von Beziehungserfahrungen, Bindung und dem affektiven Austausch mit den ersten Bezugspersonen und kann durch dysfunktionale und traumatische Bindungs­erfahrungen eingeschränkt sein (Taubner, 2016a). Charlottes Mutter berichtet in den Elterngesprächen davon, dass sie selbst stark belastet, wohl auch seit der Kindheit traumatisiert sei und es ihr in der Vergangenheit schwergefallen sei, Finn und Charlotte angemessen zu versorgen. Charlottes Verhalten im heimpädagogischen Alltag lässt den Eindruck entstehen, dass sie keine sichere Bindung aufbauen konnte. Die starke Belastung der Mutter lässt erahnen, dass die frühe Affektabstimmung zwischen ihr und Charlotte problembelastet war. Die ersten Bezugspersonen müssen das Kind in der frühen Entwicklung als mentalen Urheber anerkennen, seine mentalen Mentalisierungsprozesse im Kontext der stationären Kinder- und Jugendhilfe

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Zustände (intuitiv) erkennen und nonverbal oder verbal danach handeln. Dadurch wird signalisiert, interessiert an den kindlichen mentalen Zuständen zu sein und mit dem Kind in Kontakt zu treten (Allen et al., 2011). Eigene Belastungen und Verstrickungen in den Beziehungen, aber auch Stress erschweren das Gelingen dieser Prozesse (Allen et al., 2011). Die Mutter war auch durch die gewaltvollen Erfahrungen mit ihren wechselnden Partnern vermutlich wenig in der Lage, Charlottes mentale Bedürfnisse zu mentalisieren und einen Blick für die Welt aus Charlottes Augen zu haben. Da die Mentalisierungsfähigkeit durch traumatische Ereignisse beeinträchtigt sein kann (Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2011) und durch Stressoren negativ beeinflusst wird, wurde die Wahrnehmung von Charlottes Signalen in der frühkindlichen Interaktion verzerrt, sodass es der Mutter wohl nicht ausreichend gelingen konnte, Charlottes Affektäußerungen markiert zu spiegeln. Dadurch konnte Charlotte ihr Selbst zu wenig als intentional und abgegrenzt erfahren, da sie anstelle ihrer eigenen gespiegelten Affekte die mütterlichen Affektzustände internalisierte (Potthoff, 2008). Charlottes aggressives Verhalten, das sich im Gruppenalltag zeigt, könnte darauf hindeuten, dass die mütterlichen Affekte, die Charlotte internalisierte, nach außen gebracht (also externalisiert) werden müssen, weil sie für Charlotte unerträglich sind. Bei erhöhtem Stress gelingt es Charlotte dann oft nicht, ihre Affekte zu regulieren, sodass sich ihre Impulse in Form von aggressiven Durchbrüchen, bizarrem Beziehungsverhalten und selbstentwertenden Aussagen zeigen (»Ich tauge nichts, ich bin eine Schlampe!«). Charlotte wird psychisch wohl immer wieder mit verinnerlichten mütterlichen Affekten konfrontiert, die sie zwar wahrnehmen kann, die sie aber zugleich daran hindern, sie als eigene Affekte oder Wünsche zu verstehen – sie fühlen sich fremd an. Im Sinne des Mentalisierungskonzepts ist es vorstellbar, dieses innerpsychische Geschehen und Charlottes Verhalten als Folge eines fremden Selbst (Bateman u. Fonagy, 2006) zu verstehen.

Welche Mentalisierungsprozesse sind in der Elternarbeit beobachtbar? Die beeinträchtigte Mentalisierungsfähigkeit von Charlottes Mutter wird auch in den Besuchskontakten mit Charlotte deutlich: Die Mutter befindet sich meist im teleologischen Modus, also einem sehr frühen prämentalisierenden Modus. So werden im Kontakt mentale Zustände zwar thematisiert, dies geschieht aber nicht altersgerecht und ist zugleich konkretistisch. Darauf deutet z. B. hin, dass sie Charlotte bei den Kontakten reichlich beschenkt und verbalisiert, dass sie die Geschenke mitgebracht hat, weil sie Charlotte so sehr lieb habe. Im Gegenzug bittet sie Charlotte immer wieder darum, ihr durch gemalte Bilder, Umarmungen und andere Geschenke zu zeigen, dass sie ihre Mama lieb habe. Verdeutlicht Charlotte ihre Affekte, indem sie zum Beispiel darüber spricht, dass sie Angst habe, ihrer Mama könne wieder etwas zustoßen, muss die Mutter den Raum verlassen, ohne 196

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dabei sichtbar affektiv belastet zu sein. Ihre Affektregulation, so scheint es, gelingt also nur durch die Veränderung der äußerlichen Bedingungen. Im Elterngespräch fällt es der Mutter schwer anzuerkennen, dass sie selbst für ihre Gefühle und ihre Gedanken verantwortlich ist und Charlotte als Kind nicht verantwortlich für die Gefühle ihrer Mutter ist. Hier wird deutlich: Die Mutter erlebt sich möglicherweise selbst nicht als Urheberin ihrer mentalen Zustände. Mentale Zustände müssen durch die Fachkräfte exemplarisch benannt werden und können auch dann von der Mutter nur als von außen bedingt erfahren werden. Es scheint, als erlebte sie mentale Zustände als etwas, das einem zustößt, und Verhalten als etwas, das nicht durch innerpsychische Prozesse bedingt ist. All dies lässt den Schluss einer Regression auf den teleologischen Modus vorstellbar werden (Schultz-Venrath u. Felsberger, 2016). Für die Fachkräfte sind die Elterngespräche immer wieder eine Herausforderung, da sie mit heftigen eigenen Affekten konfrontiert werden. Im Team wurde daher besprochen, dass die Elterngespräche nicht mehr nur von einer Fachkraft geführt werden und dass im Anschluss an die Gespräche ein gesondertes Zeitfenster eingeplant wird, um die teilweise heftigen Affekte zu reflektieren und die Interaktionsdynamik mit der Mutter besser zu verstehen. In den Reflexionen wird dabei immer wieder deutlich, dass die Fachkräfte starke Rettungsfantasien im Umgang mit Charlotte, vor allem aber auch nach Treffen mit der Mutter, bekommen. Dabei geht das Verständnis für die mentale Welt der Mutter zeitweise verloren. Ein Grund dafür könnte sein, dass sich die Fachkräfte zu stark mit Charlotte identifizieren, wodurch sie empfinden, dass sie selbst die bessere Mutter oder der bessere Vater sein würden. Die gemeinsame Reflexion hilft, sich diese Dynamik bewusst zu machen und immer wieder die mentalen Zustände der Mutter, wie etwa Überforderung, Hilflosigkeit, Scham, die Hoffnung, die Kinder wieder selbst versorgen zu können, zu vergegenwärtigen. Neben den Rettungsfantasien kann so auch ein Zugang zu anderen heftigen Affekten gelingen, die die Fachkräfte im Umgang mit Charlotte erleben. Etwa könnte die oftmals empfundene Hilflosigkeit und Überforderung auch als Identifizierung mit der Mutter verstanden werden, die bei dieser eintritt, sobald sie mit den Kindern zusammen ist, und im Alltag von den Fachkräften erlebt wird. Die Durchführung der Gespräche zu zweit ermöglicht es außerdem, dass abwechselnd das Gespräch geführt wird, sodass je eine Fachkraft kurze Momente für sich hat, in denen sie sich nach innen richten und explizit ihre gegenwärtigen mentalen Zustände wahrnehmen kann, um so in einem reflexiven Modus bleiben zu können. Diese werden dann wiederum im Gespräch verbalisiert, so kann zumindest phasenweise gemeinsam mit der Mutter »online« mentalisiert werden. Hierbei ist es jedoch wichtig, feinfühlig darauf zu achten, die Mutter nicht mit mentalen Zuständen zu überfordern und zu ängstigen, sodass ihre Abwehr Mentalisierungsprozesse im Kontext der stationären Kinder- und Jugendhilfe

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gegen mentale Inhalte stärker werden könnte. Diese zeit- und kraftintensive Form der Elternarbeit kann unbewussten Dynamiken entgegenwirken, die aufseiten der Fachkräfte die Ablehnung der Mutter und damit zusammenhängend die Verschärfung der Rettungsfantasien und Verstrickungen bewirken und aufseiten der Mutter unter anderem Scham, Schuld und Neid verstärken könnten.

Wie sind die Interaktionen mit Charlotte im heimpädagogischen Alltag mentalisierungsfokussiert zu verstehen? In den täglichen Interaktionen mit Charlotte wird deutlich, dass ihre innerpsychischen Fähigkeiten auch für eine Fünfjährige eingeschränkt sind. Neben der bereits beschriebenen Ambivalenz in der Beziehungsgestaltung ist erkennbar, dass Charlottes Mentalisierungsfähigkeit noch nicht den reflexiven Modus (Taubner, 2016b) erreicht hat. Für Charlotte haben innerpsychische Prozesse wie beispielsweise Fantasien eine Qualität der äußeren Realität. Damit sind sie übermächtig und unveränderbar, wodurch sie stark ängstigend sein können (Diez Grieser u. Müller, 2018). Dies wird z. B. daran deutlich, dass sich Charlotte oftmals im Modus der psychischen Äquivalenz zu befinden scheint: Ihre starke Angst vor Monstern, »Kinderklauern« und vor Duschbrausen kann sie nicht regulieren, im Gegenteil: Sie erlebt die starke innerpsychisch empfundene Angst als übermächtig und kontrollierend. Eine Beruhigung durch die Fachkräfte ist schwer möglich, auch mit symbolischer Unterstützung (z. B. einer Monsterjagd) lässt sich Charlotte kaum beruhigen. Im Kontakt mit ihrer Mutter kontrolliert sie stets deren Handgelenke und andere Körperstellen auf Verletzungen und berichtet im Anschluss, sie habe geträumt, ihrer Mutter gehe es nicht gut. Charlotte gelingt es aufgrund realer Erfahrungen psychisch noch nicht, zu begreifen, dass die innerpsychische Welt und das Äußere zweierlei Dinge sind. Die besonders eindrückliche Verteidigung ihres Bruders in Konfliktsituationen mit anderen Jugendlichen in der Wohngruppe lässt sich angesichts des biografischen Hintergrunds der beiden nachvollziehen: Finn ist zwar der Ältere, dennoch übernahm Charlotte ein von der Mutter vertretenes Rollenbild und versorgte parentifiziert die Familie. Auch aus dem Blickwinkel des Mentalisierungskonzepts kann Charlottes Verteidigungsverhalten verstanden werden: Im psychischen Äquivalenzmodus können alternative Sichtweisen nicht anerkannt werden, denn die innere Welt der Gedanken und Gefühle wird als Realität empfunden (Bolm, 2015). Charlotte kann daher in Konfliktsituationen die Perspektive der Kontrahenten ihres Bruders nicht altersadäquat erkennen bzw. bedenken. Bedingt durch die destruktiven Entwicklungsbedingungen werden die äußeren Bedrohungen als überreal und kaum kontrollierbar erlebt. Die heftigen Konflikte in der Wohngruppe bestehen seit dem Einzug von Finn und Charlotte. Dieser löste sehr unterschiedliche Reaktionen bei den Jugend198

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lichen aus und ist ein wiederkehrendes Thema zwischen den Jugendlichen, den beiden Geschwistern und dem gesamten pädagogischen Team. Ein Teil der Jugendlichen versorgt vor allem Charlotte sehr rührend. Dies könnte darin begründet sein, dass ihre eigenen Erfahrungen des Versorgtwerdens, des Versorgens (z. B. von Geschwister­kindern), aber auch der Vernachlässigung angestoßen werden und bei ihnen die Fantasie entsteht, als große, versorgende Schwester oder versorgender Bruder aufzutreten oder gar, ähnlich wie bei den Fachkräften, als Retterin zu fungieren, was mitunter durch Prozesse der Reinszenierung aller Beteiligten bedingt sein könnte. Andere Jugendliche zeigen hingegen seit dem Einzug ablehnendes Verhalten, was möglicherweise aus Abwertungs- und Rivalitätsempfindungen resultiert. Sie beleidigen Charlotte und Finn und ärgern sich, dass die beiden augenscheinlich mehr Zuneigung erhalten als sie selbst. Die Rivalitätsempfindungen könnten in eigenen Erfahrungen emotionaler Unterversorgung begründet sein und Neid und Ungerechtigkeitsfantasien auf den Plan rufen, die durch Abwertung abgewehrt werden müssen, da sie zu schmerzhaft sind. Auch unter den Jugendlichen kommt es aufgrund der unterschiedlichen Einstellungen zum Einzug der beiden kleineren Kinder vermehrt zu Konflikten und Fragen nach Loyalität und Freundschaft. All diese Dynamiken müssen von den Fachkräften mentalisierend verstanden und begleitet werden, da die jungen Menschen die hinter ihrem Verhalten stehenden mentalen Zustände, wie etwa Neid, Fantasien, Wünsche, nur schwer verbalisieren und regulieren können. Gelingt es jedoch, die mentalen Inhalte nach solchen Konfliktsituationen zu thematisieren und stellvertretend zu regulieren, können die Jugendlichen eigene biografische Themen in der Beziehung zu Charlotte und Finn im Hier und Jetzt bearbeiten und auf diese Weise soziale Lernerfahrungen machen.

Duschroutine: Wiederkehrende Herausforderungen Eine wiederkehrende Situation mit Charlotte, die sich für das gesamte Team als He­rausforderung darstellt, ist, dass sie beim Duschen bzw. Baden auf die Unterstützung von einer Fachkraft angewiesen ist, was zunächst aufgrund Charlottes Alter adäquat erscheint. Ihre starke Angst vor Duschbrausen trägt dazu bei, dass die Situa­tion vor der Duschroutine zu einem Kampf wird: Charlotte rennt schreiend durch die Wohngruppe, lacht und weint abwechselnd. Für die Fachkräfte ist es schwer, zu erkennen, ob Charlotte ein Fang- und Versteckspiel aus der Situation macht und daran Freude hat oder ob ihre Angst so sehr im Vordergrund steht, dass sie deshalb die Duschsituation derart meidet. In der sich oftmals zuspitzenden Situation ruft Charlotte häufig, dass die Fachkräfte ihr etwas Böses antun wollten. Biografisch ist diese Besorgnis zu verstehen, doch auch aus der Mentalisierungsperspektive wird klar: Der Duschkopf und der offensichtlich intime Zwangskontext des Duschens wecken bei ihr Panikaffekte. Psychoanalytisch könnte man vermuten, Mentalisierungsprozesse im Kontext der stationären Kinder- und Jugendhilfe

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dass es sich beim Duschkopf vielleicht um ein phallisches Symbol handeln könnte, das konkretistisch-panische Wiedererinnerungen (Intrusionen) an Zwangskontexte von Übergriffen und sexueller Gewalt evoziert. Eine Folge von Charlottes destruktiven Beziehungserfahrungen kann zudem sein, dass ihr die Begriffe für Gefühle fehlen und sie die Mimik des Gegenübers zwar erkennt, aber die dahinterliegenden Motive verzerrt oder aggressiv getönt interpretiert (Uhl, 2013). Charlotte selbst bleiben ihre mentalen Zustände in diesen Situationen erhöhten Stresses also völlig unzugänglich, der Affekt überschwemmt sie, Regulation tritt in weite Ferne, was vermutlich mit den Gewalterfahrungen und den vernachlässigenden Mentalisierungsprozessen zwischen ihr und ihrer Mutter, aber auch mit ihrem altersgerechten Entwicklungsstand zusammenhängt. Die mentalen Absichten der Fachkräfte kann Charlotte ebenfalls nicht begreifen, fehlt ihr hierzu unter Stress zudem der wesentliche Entwicklungsschritt zum reflexiven Modus des Mentalisierens. Für die Fachkraft ist in diesen Situationen eine mentalisierende, containende Haltung besonders wichtig, die bei der Arousalregulierung hilft, um Charlotte so gelingende und schützende Beziehungserfahrungen zu ermöglichen. Doch gerade die Rahmenbedingungen im heimpädagogischen Alltag erschweren dies: Die enge Taktung der Termine und Schichtwechsel führt bei den Fachkräften zu zeitlichem Druck. Der Umstand, dass die Fachkräfte der Wohngruppe normalerweise mit Jugendlichen zusammenarbeiten, die keine Unterstützung bei der Körperhygiene benötigen, und Charlottes herausforderndes Verhalten lösen Stress, Verunsicherung sowie Anspannung aus und lassen das Mentalisieren leicht scheitern. Für die Fachkräfte ist es daher wichtig, zu verstehen, dass Charlotte als gewalterfahrenes und missbrauchtes Kind in ihrem (Selbst-)Mentalisieren noch entwicklungsbedürftig ist: Sie benötigt die Unterstützung der Fachkraft, die für sie in diesen brenzligen, ängstigenden Situationen stellvertretend mentale Zustände verbalisiert und verschiedene Perspektiven auf die Situation kindgerecht aufzeigt. Es sollte gefördert werden, dass Charlotte sich in den Als-ob-Modus entwickelt und dann die Duschroutine zu einem Spiel macht: Die Verfolgungsjagd vor dem Duschen könnte spielerisch aufgenommen und kommentiert werden. Hier können Affektzustände der verfolgten, aber auch der verfolgenden Person von der Fachkraft benannt werden (wie etwa: »Hah, gleich schnappe ich dich – wie aufregend. Du schlägst dich tapfer. Du bist dann sicher ganz geschafft«). Versteht die Fachkraft nicht, dass Charlotte sich im spielerischen Als-ob-Modus befindet, weil sie beispielsweise aufgrund von Zeitdruck selbst in Stress geraten ist und es ihr nicht gelingt, Charlottes Absichten zu erkennen, drohen Eskalationen: Dies kann dazu führen, dass die Kommentare der Fachkraft aus dem spielerischen Modus herausfallen, »ernst« werden und »nicht zur Regulierung des aggressiven Impulses beitragen, sondern zu Eskalation, Angst oder Verwirrung« (Dornes, 2006, S. 182). Das gemeinsame Mentalisieren im Team kann dabei helfen, Charlottes 200

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Verhalten in diesen Situationen besser zu verstehen, zu begleiten und, da wo es nötig ist, vorsichtig zu regulieren. Um für Charlotte einen entwicklungsfördernden Rahmen zu schaffen, ist es wichtig, zu begreifen, dass das Weglaufen und Lachen und die starke, für Charlotte unregulierbare Angst (Äquivalenzmodus) biografisch bedingt sind und zugleich mentalisiert werden müssen, da Charlotte dies selbst noch nicht kann und darüber ein Lernprozess initiiert wird. Auf der Handlungsebene hatte eine Fachkraft aus dem Team die Idee, mit Charlotte zu besprechen, dass der Waschvorgang statt mit der Duschbrause auch mit einem großen, bunten Becher funktionieren könnte: Sie nahm die Angst von Charlotte also ernst, verbalisierte sie und hatte eine Idee davon, welche mentalen Zustände Charlotte wohl haben mag, es wurde also mentalisiert. Für sich selbst konnte sie gemeinsam mit dem Team reflektieren, dass die Situationen nicht nur aufgrund des zeitlichen Drucks Stress auslösen, sondern auch, weil Charlottes herausforderndes Verhalten in diesen Situationen zu »Kurzschlussreaktionen« führen kann. Die Reaktion ist es dann oftmals, zu agieren und die Situation so um jeden Preis kontrollieren zu können, Charlotte zu packen und in die Dusche zu »zerren«. Bei diesen aggressiven Handlungsimpulsen kommen jedoch schnell tiefe Gefühle von Schuld auf, scheinen sie doch mit Vorstellungen von professionellem pädagogischem Handeln nur schwer vereinbar. Gemeinsam im Team können also nicht nur Charlottes innere Zustände mentalisiert werden, gerade auch das Selbstmentalisieren zeigt, dass die Ohnmacht und Hilflosigkeit unter Stress dazu führt, Charlottes mentale Zustände nicht mehr anerkennen zu können. Der Blick auf den Mentalisierungsmodus, in dem sich die Fachkraft und Charlotte in diesen Interaktionen befinden, geht verloren. Für Charlotte wiederholen sich dann tragischerweise übergriffige Erfahrungen, und das Team fühlt sich schnell an seine Grenzen gebracht. Die Idee jedoch, z. B. einen großen, bunten Becher zu verwenden, verdeutlicht Charlotte, dass die Fachkräfte ihre mentalen Zustände bedenken. Sie kann auch spüren, dass die Fachkräfte sich weniger ohnmächtig und wieder handlungsfähig fühlen. Eine mentalisierungsfokussierte Haltung, also die Bereitschaft zur Reflexion, kann eingeübt werden. Dies gelingt vor allem dann, wenn Fachkräfte um ihre eigene Neigung zu impulsivem Handeln wissen und ein kurzes Zurücktreten aus der Situation möglich wird. So wird ein rein handlungsorientiertes Reagieren weniger wahrscheinlich (Uhl, 2013). Mit Charlotte kann gemeinsam das Vorgehen besprochen werden (Handlungsebene). Auf der Verstehensebene kann langsam kindgerecht mit Charlotte exploriert werden, welche Gefühle und Gedanken sie wohl in diesen Situationen hat, und auch, was sie sich wünscht, immer dem Rechnung tragend, dass Charlotte darüber mentalisieren lernt. Zugleich können die Fachkräfte mit ihr darüber sprechen, wie sie selbst die Situationen erleben, denn »wichtig ist, dass das Kind das Gefühl bekommt, mit einem Erwachsenen zusammen zu sein, der aufrichtig, wertneutral, empathisch Mentalisierungsprozesse im Kontext der stationären Kinder- und Jugendhilfe

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ist und sich mit einem bestimmten Grad an Selbstoffenbarung wohlfühlt. Dies alleine genügt wahrscheinlich nicht, um als Behandlung [und auch pädagogisches Handeln; Anmerk. d. Verf.] effektiv zu sein, aber ohne wären die Aussichten auf Erfolg mit Sicherheit viel kleiner« (Midgley, 2015b, S. 5 f. zit. nach Diez Grieser u. Müller, 2018, S. 104). Mentalisierungsfokussiertes Reflektieren und Handeln zielt also weniger auf Verhalten als vielmehr auf die Ursachen von bestimmten Verhaltensweisen. Auf diese Weise kann eine Haltung ganz im Sinne von »Verstehen und Handeln« etabliert werden (Twemlow u. Fonagy, 2016).

4  Abschließende Gedanken Mentalisieren gilt allgemein als ein Schlüsselbegriff psychischer Gesundheit und Widerstandsfähigkeit (Taubner, 2016a). Aus diesem Grund spielt es auch im Alltag der Heimerziehung eine entscheidende Rolle, um dem gesetzlichen Ziel dieser Maßnahme, nämlich der Entwicklungsförderung und Etablierung von positiven Lebensbedingungen, nachzukommen. Nicht selten haben die Kinder und Jugendlichen in den Einrichtungen traumatische Erfahrungen gemacht, die herausforderndes Verhalten hervorbringen können und das Mentalisieren beeinträchtigen. Das Leben in der Einrichtung eröffnet die Chance, die Folgen der frühen destruktiven Entwicklungserfahrungen zumindest teilweise abzumildern. »Bei Kindern und Jugendlichen mit traumatischen Erfahrungen in der Entwicklung ist es wichtig, dass der ursprünglich traumatischen und unberechenbaren Objekterfahrung ein neues, anderes Entwicklungsobjekt entgegensteht, das unmittelbar, feinfühlig, empathisch und ihre Belange wahrnehmend antwortet« (Streeck-Fischer, 2008, S. 234). Durch die Reflexion von eigenem Verhalten erhalten sie die Möglichkeit, eigene Überforderung und Hilflosigkeit besser wahrzunehmen und zu regulieren.

Literatur Allen, J. G., Fonagy, P., Bateman, A. W. (2011). Mentalisieren in der psychotherapeutischen Praxis. Stuttgart: Klett-Cotta. Bateman, A. W., Fonagy, P. (2006). Mentalization-based treatment for borderline personality disorder. A practical guide. Oxford: Oxford University Press. Bolm, T. (2015). Mentalisierungsbasierte Therapie. München: Reinhardt. Diez Grieser, M. T., Müller, R. (2018). Mentalisieren mit Kindern und Jugendlichen. Stuttgart: Klett-Cotta. Dornes, M. (2006). Die Seele des Kindes. Entstehung und Entwicklung. Frankfurt a. M.: Fischer.

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Mentalisierungsprozesse im Kontext der stationären Kinder- und Jugendhilfe

203

Mentalisieren auf mehreren Ebenen? Zum Fall einer exemplarischen Maßnahmenkarriere in der Kinderund Jugendhilfe Andrea Dlugosch und Melanie Henter

In diesem Beitrag wird entlang eines Maßnahmenverlaufs am Fall »Charly« exemplarisch diskutiert, inwieweit Einbrüche der Mentalisierungsfähigkeit auf unterschiedlichen Ebenen zu einem Scheitern verschiedenster Hilfeangebote führen können und welche Relevanz sich dadurch für eine mentalisierungsförderliche pädagogische Arbeit in und mit Multiproblemkonstellationen ergibt. Als Heuristik dient hierzu der Ansatz des Adaptive Mentalization-Based Integrative Treatments (AMBIT; Bevington, Fuggle, Cracknell u. Fonagy, 2017), der unterschiedliche Interaktions- und Reflexionsebenen in einem Konzept integriert. The article discusses exemplarily along a youth welfare measure in the case of »Charly«, to what extent breakdowns of the ability to mentalize on different levels can lead to a discontinuation of different offers of help and which relevance results for a supportive mentalization-based work in and with multiproblem constellations. As a heuristic, the Adaptive Mentalization-Based Integrative Treatment (AMBIT) approach is used (Bevington et al., 2017). This approach integrates different levels of interaction and reflection in one concept.

Zur Einführung Im Folgenden wird »Charly«1 als ein exemplarischer Fall einer Maßnahmenkarriere unter der Perspektive des Mentalisierens betrachtet. Dabei kann Unterschiedliches in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Zum einen 1 Anonymisiert.

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kann eine Fallreflexion erfolgen, bei der eine in der Genese unzureichend entwickelte Fähigkeit des Mentalisierens (prämentalisierende Modi) bei Kindern und Jugendlichen als erklärungsmächtig für unterschiedliche Ausprägungen auffälligen oder verstörenden Verhaltens angesehen wird. Diese Perspektive dient hierbei als eine mögliche Hypothese neben anderen zur Erklärung von Multiproblemkonstellationen, die jedoch im Hinblick auf diverse Auffälligkeiten in den letzten Jahren prominent diskutiert wird (Taubner, Zimmermann, Ramberg u. Schröder, 2016; Fonagy, Luyten, Allison u. Campbell, 2017). Zum anderen kann die Perspektive des Mentalisierens dafür sensibilisieren, inwieweit es die Umgebungsbedingungen im professionellen pädagogischen Rahmen zulassen, dass eine mentalisierungsförderliche Kultur angebahnt bzw. (wieder-)­hergestellt wird. In diesem Beitrag liegt der Schwerpunkt auf dem letztgenannten Punkt, auch wenn andeutungsweise Bezüge zur Entwicklung der Mentalisierungs­fähigkeit im Fall Charly hergestellt werden. Nach der Nennung der eingeleiteten Jugendhilfemaßnahme erfolgt deshalb eine grobe, zunächst chronologisch angelegte Skizze zum Fall.

1  Der Fall »Charly« und der Beginn einer Maßnahmenkarriere Charly (geb. 2004) wird mit elf Jahren in einer vollstationären Jugendhilfeeinrichtung2 aufgenommen. Durch die Aufnahmegespräche mit seiner primären Bezugsperson (Mutter, im Folgenden Frau H.), dem Jugendamt und Charly sowie aus unterschiedlichen (schul-)pädagogischen Berichten ergibt sich die folgende Informationsbasis: – Bis zu seinem elften Lebensjahr lebt Charly mit seiner Mutter in einer Zweizimmerwohnung. Er verbringt sehr viel Zeit allein, auch nachts, da seine Mutter als Reinigungskraft eines größeren Betriebs oft berufsbedingt abwesend ist. Weitere Bezugspersonen stehen nicht zur Verfügung. Frau H. verhindert den Kontakt zu Charlys leiblichem Vater bzw. blendet diesen aus. Der biologische Vater ist ihr selbst möglicherweise nicht definitiv bekannt und Charly somit auch nicht. Zu den Großeltern, anderen Familienmitgliedern oder nahestehenden Personen (z. B. Nachbarn) besteht ebenfalls keine engere Verbindung. – Charly besucht den Kindergarten, verbringt die Zeit dort jedoch sehr zurückgezogen und isoliert. 2010 erfolgt für ihn der Übergang in die Grundschule. Auch hier wirkt er isoliert und hat keine Freunde (Information aus Gesprächen mit Frau H.). 2 Vgl. SGB VIII § 27 Hilfen zur Erziehung/§ 34 Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform. Mentalisieren auf mehreren Ebenen?

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– Zwischen Charly und seinen Mitschülern, oder auch mit Lehrpersonen, kommt es häufig zu Auseinandersetzungen verbaler, aber auch körperlicher Art (Information aus der Schulakte). – Weitere (beobachtbare) Auffälligkeiten (Unaufmerksamkeit, Impulsivität, Lernrückstand von eineinhalb Schuljahren, Adipositas) münden 2013 in eine psychiatrische Diagnose (ADS) und einen sonderpädagogischen Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen. – Charly wird mit neun Jahren auf eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen überwiesen. – 2013 wird zudem eine sozialpädagogische Familienhelferin (SPFH)3 eingesetzt. – In der Förderschule macht Charly ähnliche Erfahrungen des Alleinseins (z. T. auch von Mobbing durch Mitschüler, körperliche und verbale Konflikte mit Lehrpersonen treten wiederholt auf; Information aus der Schulakte). – Charly zeigt ein zunehmendes Schulvermeidungsverhalten. – Anfang 2015 wird ein Krisengespräch mit dem Jugendamt geführt, das durch die Förderschule initiiert wurde. Daran nehmen Charlys Klassenlehrer, die zuständige Sachbearbeiterin des Jugendamts, Charlys SPFH und seine Mutter teil. – Ende 2015 erfolgt der Übergang in eine vollstationäre Maßnahme einer K ­ inderund Jugendhilfeeinrichtung4 (womit die Fallschilderung beginnt) sowie die Be­­ schulung auf einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung/Schule für Erziehungshilfe.

Bei aller Komplexität des Falls und der Notwendigkeit einer detaillierten kasuistischen Analyse sollen an dieser Stelle gemäß der einleitenden Ankündigung zwei Aspekte hervorgehoben werden, die wir im pädagogischen Kontext vor dem Hintergrund des Mentalisierungskonzepts als relevant erachten. 1. Die Spiegelung der kindlichen Affekte durch die primäre Bezugsperson bedingt in der weiteren Entwicklung die Fähigkeit, die eigenen Gefühle selbst regulieren zu können (Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2015b). Diese Kompetenz konnte Charly möglicherweise nur eingeschränkt entwickeln, da wichtige Bezugspersonen emotional und sozial aufgrund der Lebensumstände qualitativ und quantitativ nicht ausreichend verfügbar waren. Hypothesengeleitet kann deshalb in Betracht gezogen werden, dass Charly eine unterkomplexe oder auch verzerrte Mentalisierungsfähigkeit entwickelte. So kann z. B. im Modus der psychischen Äquivalenz die innere Realität nicht als Repräsentation wahrgenommen werden, sondern sie wird mit 3 Vgl. SGB VIII § 31 SGB VIII Sozialpädagogische Familienhilfe. 4 Vgl. SGB VIII § 27 Hilfen zur Erziehung/§ 34 Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform.

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Dlugosch / Henter

der äußeren Realität gleichgesetzt (Fonagy et al., 2015b). Innere Zustände wie Gedanken, Wünsche, Ängste werden als real erfahren (Brockmann u. Kirsch, 2010) und daher gegebenenfalls auch »potenziell als schrecklich erlebt« (Kotte u. Taubner, 2016, S. 4). Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass aufgrund widriger Umstände in den Förderschwerpunkten Lernen und emotionale und soziale Entwicklung gehäuft Kinder mit einer unterkomplex ausgebildeten Mentalisierungsfähigkeit anzutreffen sind. Im Fall Charly tritt weiterhin das Vakuum der (realen und auch symbolisch repräsentierten) dritten Position des Vaters oder einer anderen weiteren nahen Bezugsperson in den Vordergrund. Dieser strukturorientierte Blick lässt eine Verwandtschaft zum Mentalisierungskonzept erkennen: »Aus entwicklungspsychologischer Perspektive stellt die Triangulierung einen Prozess dar, in dem die Erfahrungen des kleinen Kindes mit der Mutter alleine, mit dem Vater alleine und mit Mutter und Vater als Paar verinnerlicht werden und als innere Objektrepräsentanzen die intrapsychische Struktur des Kindes bestimmen. […] Aus struktureller Perspektive ist die Triangulierungskompetenz verwandt mit der Reflexionskompetenz und der Mentalisierung, bezieht sie sich doch auf die intrapsychische Fähigkeit, aus einer dritten Position heraus auf sich selbst in Beziehung zum anderen zu schauen« (­ Dammasch, Katzenbach u. Ruth, 2008, S. 9 f.). 2. In Maßnahmen der (stationären) Kinder- und Jugendhilfe wird eine erhöhte Abbruchquote (Drop-out), je nach Studie von 28,9 Prozent (Schmidt et al., 2002, S. 402) bis zu 42,7 Prozent (Tornow, 2014, S. 16) beschrieben. Dabei werden für das Scheitern von Maßnahmen u. a. eine Verengung des Blickwinkels auf die Interaktionsebene und damit auch das Ausblenden unterschiedlicher Ebenen eines Falls (fallrelevante Einzelakteure, aber auch die Organisationsebene) und eine fehlende Abstimmung oder Synchronisation der Helfersysteme verantwortlich gemacht (Tornow, Ziegler u. Schwing, 2012). Wir gehen davon aus, dass auch die emotionale und soziale Verfasstheit des (pädagogischen) Kontextes für die Arbeit mit Charly entscheidend sind. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden mit der Perspektive des Mentalisierens unterschiedliche Ebenen der Interaktion und des pädagogischen Unterstützungssystems (Charly, Schule, Jugendhilfe/institutionelle Ebene) reflektiert. Als heuristischer Bezugsrahmen dient das Adaptive Mentalization-Based Inte­ grative Treatment (AMBIT), das explizit auf unterschiedliche Ebenen eines Falls aufmerksam macht.

Mentalisieren auf mehreren Ebenen?

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2 Das Adaptive Mentalization-Based Integrative Treatment (AMBIT) Das Adaptive Mentalization-Based Integrative Treatment (AMBIT)5, das von Dickon Bevington und Peter Fuggle am Anna Freud National Centre for ­Children and Families (AFNCCF) in London entwickelt wurde, ist ein sich stetig weiterentwickelndes team- und mentalisierungsbasiertes Konzept für die Arbeit mit schwer erreichbaren Kindern und Jugendlichen (Bevington et al., 2017). »›Hard to reach‹ young people with complex and severe mental health problems comorbid with multiple social vulnerabilities present some of the h ­ ighest risks, have among the worst prognoses, and are offered services often poorly equipped to provide for their needs […]« (Bevington, Fuggle, Fonagy, Target u. Asen, 2013, S. 46). Schwer erreichbare Kinder, wie es Charly zu sein scheint, haben aufgrund (früherer) emotionaler und sozialer Erfahrungen funktionale Strategien entwickelt, die oftmals »bei den (professionellen) Bezugspersonen Irritation und/oder Ablehnung hervorruf[en]« (Henter u. Dlugosch, 2018, S. 27). Maßnahmenverläufe mit biografisch bezeichnenden, häufigen institutionellen Wechseln von Kindern und Jugendlichen, die im »konventionellen« System von (Förder-)Schule und Jugendhilfe scheitern, sind vielfach, auch empirisch, belegt (Herz, 2013; Hußmann, 2013; Tornow, 2014; Fuggle, Bevington, Duffy u. Cracknell, 2016). Der Rekurs auf das AMBIT-Konzept erlaubt an dieser Stelle eine entscheidende Perspektiverweiterung, weg von einer einseitigen Betrachtung des vermeintlichen »›Problemkindes‹ […] hin zu einer mehrere Ebenen umfassenden [pädagogischen Arbeit]« (Henter u. Dlugosch, 2018, S. 31), die wie folgt zusammengefasst werden kann: »AMBIT […] applies the principle of mentalization to relationships with clients, team relationships and working across agencies. It places a high priority on the need for locally developed evidence-based practice, and proposes that outcome evaluation needs to be explicitly linked with processes of team ­learning using a learning organization framework« (Fuggle et al., 2014, S. 419; Hervorh. A. D./M. H.).

5 Vgl. weiterführend https://manuals.annafreud.org/ und https://www.youtube.com/user/ambitafc.

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Dlugosch / Henter

Ma

nag

ing

Ris

Working with your CLIENT

g in ins a rkin Wo e dom l ltip

(Active Planning, etc)

Working with your TEAM

k

mu

Ind ivid ua rela l key tion wor k shi p er

Exi

Working with your NETWORKS

Mentalizing

lwel m ker he tea t wor Key ted to nec con

(Supervisory structures, etc)

Key wor k for er res p inte gra onsibl e tion

ing ps fold ionshi f a Sc elat gr stin

(Adressing Dis-integration, etc)

LEARNING at work (wiki-manualisation, etc)

R Pra espec ctic t e a for Lo nd Exp cal erti se

or ct f e p Res idence Ev

Abbildung 1: AMBIT Wheel (Fuggle et al., 2016, S. 63)

Im Folgenden wird entlang des Falls Charly weiter erörtert, inwieweit die vier Hauptfelder von AMBIT (»Working with your CLIENT«, »Working with your TEAM«, »Working with your NETWORKS«, »LEARNING at work«) hätten genutzt werden können bzw. in Zukunft zu nutzen wären, um die Mentalisierungsfähigkeit aller Beteiligten zu stärken und aufrechtzuerhalten. Im Hinblick auf die aufgeführten Antinomien der pädagogischen Praxis (vgl. den äußeren Ring von Abbildung 1) sei an dieser Stelle auf weitere Literatur von Bevington et al. (2013, 2017) verwiesen.

Mentalisieren auf mehreren Ebenen?

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2.1 Pädagogisches Arbeiten mit Charly – mentalisierungsbasiert? (»Working with your CLIENT«) Charly sollte (wieder) an das Lernen, den Unterricht und an eine angemessene Teilnahme an soziale Interaktionen herangeführt werden. Deshalb wurde von seinen Betreuungs- und Lehrpersonen ein sogenannter Verstärkerplan ausgearbeitet, der an die Heimfahrtwochenenden zu seiner Mutter gekoppelt war. Wenn Charly es nicht schaffte, in der Schule zu bleiben, oder in verbale/körperliche Auseinandersetzung mit seinen Mitschülern, Gruppenbewohnern, Betreuern oder Lehrkräften geriet, folgten unangenehme Konsequenzen bzw. blieben angenehme aus (Schulverweis, keine Handyzeit, Zimmerzeit). Es wurden Fördermaßnahmen im Bereich der Aufmerksamkeit (Marburger Konzentrationstraining, MKT, für Schulanfänger; D. Krowatschek, G. Krowatschek u. Reid, 2011) und ein Lese-Rechtschreib-Training (»Wir werden Lesedetektive«; Rühl u. Souvignier, 2006) angesetzt. Damit wurde versucht, eine Verhaltensanpassung und Fokussierung auf Lerninhalte zu begünstigen. Letztlich führten die anberaumten Maßnahmen und Programme jedoch nicht zu dem gewünschten Erfolg. 6

Beelmann, Pfost und Schmitt (2014) kommen auf Basis einer Metaanalyse von 146 Forschungsberichten zu unterschiedlichen Präventionsprogrammen von der mittleren Kindheit bis zur Adoleszenz zu dem Schluss, dass nur geringe Effektstärken auf der Ebene von »Verhaltensaspekten (Verhaltenskompetenz, Verhaltensprobleme)« (S. 11) bestehen. Auch im Fall Charly werden die im Schwerpunkt am Verhalten orientierten pädagogischen Maßnahmen seinem inneren Erleben kaum gerecht. »Insofern machen kognitive Interventionen, die nur an die Vernunft appellieren oder Techniken zur Kontrolle von Emotionen durch Lernen vermitteln, wenig Sinn« (Schultz-Venrath u. Felsberger, 2016, S. 93). Des Weiteren kann sich Charly – im Sinne eines epistemischen Misstrauens – nicht ohne Weiteres darauf verlassen, dass die pädagogischen Angebote und die eingeleiteten Interventionen für ihn gleichermaßen ertragreich bzw. sinnvoll sind (Schultz-Venrath u. Felsberger, 2016). Auch eine alleinige »Darbietung anderer Handlungsstrategien […] führt nicht automatisch zu deren Annahme, schon gar nicht zur Verinnerlichung. Dieser Prozess ist bedeutend komplexer« (Popp, 2018, S. 263). 6 Was durch den instruktiven Charakter der pädagogischen Maßnahmen und eine Abstinenz mentalisierungsförderlicher bzw. affektregulierender Angebote erklärt werden kann, wobei an dieser Stelle durchaus auch die Güte und Konzepttreue der vorgenommenen Interventionen infrage gestellt wird (vgl. weiterführend: Henter u. Dlugosch, 2018).

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Dlugosch / Henter

2.2 Unterstützung im pädagogischen Team – mentalisierungsbasiert? (»Working with your TEAM«) Charlys Betreuungspersonen verwickelten sich immer wieder in körperliche und verbale Konflikte mit ihm. Die Situationen wurden emotional als äußerst angespannt erlebt. Vor allem nach der Schule und abends, wenn Charly nicht schlafen konnte, eskalierte es. Charly rief z. B. seine Betreuer ständig in sein Zimmer mit dem Hinweis, es befänden sich Monster unter seinem Bett (Modus der psychischen Äquivalenz). Diese Aktionen konnten aufgrund des hohen Stresspegels von den Betreuungspersonen nicht als funktionale, wenn auch nach außen hin wenig nachvollziehbare Anpassungsstrategien erkannt werden (Charly wurde gesagt, es befänden sich keine Monster unter dem Bett, und er wurde deshalb des Lügens bezichtigt). »Dies bedeutet, dass in Situationen starker emotionaler Belastung, wie z. B. einem Streit […], Individuen ab einem spezifischen Belastungsgrad nicht mehr auf ihre sonst vorhandenen Mentalisierungsfähigkeiten zurückgreifen können« (Kotte u. Taubner, 2016, S. 6). Die Betreuer erschienen sichtlich überfordert. Ohnmacht und Hilf­ losigkeit machten sich breit. Diese wurde zusätzlich dadurch verstärkt, dass auch die Fallbesprechungen inhaltlich ins Leere liefen. Charlys Betreuende diskutierten zwar wöchentlich diverse pädagogische Lösungen das Verhalten betreffend, die allerdings im weiteren Verlauf keinen Effekt zu zeigen schienen und somit eher die überfordernden Gefühle der Beteiligten forcierten.

So kann sich z. B. »[d]as niedrige Mentalisierungsniveau […] darin [äußern], dass der [Jugendliche, A. D./M.H.] es zwingend so erlebt, dass eine Regulation innerer Spannungen nur so [also durch vermeintliche Provokation, A. D./M.H.] möglich sei. Hierdurch kann sich der Pädagoge manipuliert fühlen. In Interaktionen kommt es darauf an, sich mit diesem Gefühl auseinanderzusetzen. Geschieht dies nicht ausreichend, drückt der [Pädagoge, A. D./M.H.] eigene starke Affekte möglicherweise unmarkiert aus« (Schultz-Venrath, 2013, S. 103, Herv. i. O.). Die Fähigkeit zu mentalisieren steht dabei in einem antagonistischen Verhältnis zum eigenen Stressempfinden, sodass bei enormer Belastung zunächst ein Verlust der selbstregulatorischen Fähigkeiten von Emotionen und Verhalten erfolgt (Luyten, Fonagy, Lowyck u. Vermote, 2015). Dies gilt vielfach auch für die Arbeit in (sonder- und sozial-)pädagogischen Settings (Henter u. Dlugosch, 2018). Hierbei ist es zuträglich, wenn Professionelle »zunächst eine auf sich selbst fokussierte mentalisierende Haltung einnehmen. Indem sie die mentalisierende Haltung auf sich selbst richte[n], wird es [ihnen] möglich, eigenes persönliches emotionales Erleben zum einen besser zu verstehen und damit zum anderen zu steuern« (Ramberg u. Harms, 2014, S. 170). Damit solche Mentalisieren auf mehreren Ebenen?

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Arbeitsweisen entwickelt werden oder Bestand haben können, ist eine bestimmte Form der Unterstützung im Team hilfreich, wahrscheinlich sogar notwendig, die durch eine mentalisierungspräsente Ausrichtung auf das (Wieder-)Herstellen von Arbeitsfähigkeit abzielt. Teamkolleginnen haben hiernach die explizite Aufgabe, das (Wieder-)Erlangen der Mentalisierungsfähigkeit zu begünstigen. Indem die eigenen Emotionen sowie die der Teamkolleginnen beachtet und kommuniziert werden, ist es möglich, Informationen auszutauschen und Entscheidungen zu treffen (Barczak, Lassek u. Mulki, 2010). Hoch strukturierte Gesprächsformate, wie das »Thinking Together«7 in AMBIT (Bevington et al., 2017; Henter u. Dlugosch, 2018; Dlugosch u. Henter, i. V.) böten so im Fall »Charly« einerseits die Möglichkeit, seine Situation, seine möglichen Bedürfnisse und Motive, die in seinem Verhalten ihren Ausdruck finden, durchzuspielen. Andererseits wäre es möglich, auch die (negativen) Emotionen und Ohnmachtsgefühle der Betreuungspersonen in den Blick zu nehmen und sich darüber hinaus nicht in endlosen und entgrenzten Fallbesprechungen zu verlieren, die zudem oftmals vorschnelle und vermeintliche Gewissheiten8 produzieren (Allison u. Fonagy, 2016): »In some discussions colleagues may come up with a list of very good ideas, but these may not be easily applicable to the state of the casework at the time of the discussion, or may not necessarily address the worker’s underlying (perhaps unspoken) feelings about the work« (Bevington et al., 2017, S. 185). In einem (emotional) geschützten Rahmen trägt die strukturierte Kommunikation dazu bei, »die eigenen Anteile […] besser verstehen zu können und auch Hypothesen über die (emotionalen) Beweggründe des Gegenübers anzustellen, wohlweislich, dass diese auch ganz anders aussehen können« (Dlugosch, 2018, S. 155). 2.3 Arbeiten mit unterschiedlichen Helfersystemen – mentalisierungsbasiert? (»Working with your NETWORK«) Nach knapp eineinhalb Jahren der vollstationären Maßnahme wurde im Hilfeplangespräch zwischen Charlys Mutter, Charlys Betreuern und dem Jugendamt eine Rückführung diskutiert. Das Jugendamt und Charlys Mutter konnten sich diese 7 Die Bedeutsamkeit, die der Mentalisierungsfähigkeit von pädagogisch Professionellen (gerade im Kontext hoch belastender Interaktionen) zugesprochen wird, wird im »Thinking Together« deutlich herausgearbeitet. »It is designed to provide a method of explicitly supporting mentalizing in a colleague« (Bevington et al., 2017, S. 184). Das Gesprächsformat ist in vier Phasen gegliedert, die hier nur am Rande erwähnt werden können: »Marking the Task«, »Stating the Case«, »Mentalizing the Moment«, »Returning to Purpose« (Bevington et al., 2017, S. 186 ff.). 8 Quick-Fixing: Schnelle Gewissheit über die Gründe, die hinter dem Verhalten des Kindes stecken (Bevington et al., 2017).

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Dlugosch / Henter

im Rahmen einer ambulanten Betreuung vorstellen. Charly sollte infolgedessen weiterhin die Förderschule mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung/Schule für Erziehungshilfe besuchen. Im Rahmen der ambulanten Familienhilfe wechselte die Zuständigkeit innerhalb des Jugendamtes und vor allem der ausführenden pädagogischen Fachkräfte (neuer, unbekannter Betreuer). Der Kontakt zu seinen bisherigen Betreuungspersonen der stationären Hilfe fand aufgrund des Wechsels der Maßnahme nur noch sporadisch statt. Schon nach kurzer Zeit, in der Charly wieder zu Hause war, kam es zu einer starken Verschlechterung der Symptome. Charly gelang es nur selten, in die Schule zu gehen. Wenn er dennoch dort ankam, erfolgten aufgrund seiner Verspätung oftmals Reaktionen in Form von negativen Konsequenzen (er durfte nicht mehr am Unterricht teilnehmen, bekam zusätzliche Hausaufgaben auf u. a.). Charly wies ein zunehmendes Schulvermeidungsverhalten auf, das letztlich dazu führte, dass er nach zwei Monaten aus der Schule und damit auch aus der ambulanten Betreuung entlassen und im Rahmen der nächsten intensivpädagogischen Jugendhilfeeinrichtung auf einer neuen Förderschule beschult wurde. Es ist zu erwarten, dass sich die Spirale des Scheiterns hier, wie in vergleichbaren Fällen auch, weiter fortsetzt, wenn der Charakter der pädagogischen Maßnahmen keine grundlegende Änderung erfährt.

Birgit Herz (2013) beschreibt die für den Maßnahmenverlauf im Fall Charly bezeichnende Problematik wie folgt: »Deutsche Institutionen denken und verhalten sich in ›Zuständigkeitsbereichen‹, nicht in Netzwerken« (S. 224). Von Freyberg und Wolff sprechen in diesem Zusammenhang vom »Charakter parzellierter Interventionen« (von Freyberg u. Wolff, 2006, S. 170), die auch als ein Auseinanderdriften (Desintegration) von Hilfeelementen erkannt werden können. Aufgrund der unzureichenden Kooperation zwischen fallverantwortlichen Institutionen und Personen entsteht auf der Organisationsebene eine fehlende (personelle) Zuständigkeit, »die die Übergänge und Zwischenräume zwischen den einzelnen Maßnahmen verantwortlich integrier[en könnte]« (von Freyberg u. Wolff, 2006, S. 170). Zumal gerade die Rückführung in die Familie nach einer stationären Unterbringung als kritisches Ereignis betrachtet werden muss (Yampolskaya, Armstrong u. Vargo, 2007). Das Adaptive Mentalization-Based Integrative Treatment (AMBIT) stellt mit einer bestimmten Idee des »Keyworkers« eine Schwerpunktverschiebung vor, die eben jene Problematik »der ›Maßnahmenkarrieren‹ […] und Drop-out Biographien« (Herz, 2013, S. 220) eher abzufedern vermag. »The word ›Keyworking‹ […] denote[s] the client’s sense that ›this person is key to helping me‹ rather than as an organizational role, and that it emerges when the worker has shown their ability to mentalize the client’s mental state […]« (Bevington et al., Mentalisieren auf mehreren Ebenen?

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2017, S. 171–172; Hervorh. A. D./M.H.). Die Verschiebung erfolgt an der Stelle, wo es nicht mehr primär um administrative Zuständigkeiten geht, sondern darum, dass der Jugendliche sich aus einer Anzahl von unterschiedlichen Fachkräften (unabhängig vom Status der jeweiligen Berufsgruppen) die Ansprechperson auswählen kann, bei der er das Gefühl hat, verstanden worden zu sein. Diese Person kann im Kontakt als Schlüsselperson und auch als Modell für eine kompensatorisch-zukunftsträchtige Beziehungsanbahnung angesehen werden (Hußmann, 2013; Bevington et al., 2017; Henter u. Dlugosch, 2018). Im Fall Charly hätte damit, anstelle der primär administrativen Rolle des Bezugsbetreuers, innerhalb des Professionellen-Netzwerks die Person ermittelt werden können, die eine vertrauens- und verständnisvolle Beziehung zu Charly aufbauen konnte. Entsprechend geht es hier nicht mehr darum, das Kind und »seine Probleme« zu fokussieren (»Team around the Child«), sondern den »Keyworker« in der Arbeit mit dem Kind und mit seiner Familie zu unterstützen. Die Unterstützung erfolgt dabei durch diejenigen Professionellen, die für den jeweiligen Fall relevant sind (»Team around the worker«; Bevington et al., 2013, S. 48). 2.4  Adaptives Lernen in Organisationen (»LEARNING at work«) Eine neben anderen Konsequenzen, die sich aus den bisherigen Ausführungen ergeben, ist die der Adaptivität von Konzepten. Oftmals erscheint eine konzepttreue Umsetzung von Programmen oder Trainings im alltäglichen pädagogischen »Geschäft« eher unwahrscheinlich, zudem die Effekte nicht immer oder für alle Bereiche überzeugend ausfallen (Beelmann et al., 2014). Demgegenüber ginge es vielmehr um »eine gezielte Anpassung der Maßnahme an kontextspezifische Erfordernisse« (Beelmann u. Karing, 2014, S. 132). So wird die »Idee einer 1:1-Umsetzung eines Trainings oder Programms in einen pädagogischen Rahmen […] bei AMBIT zugunsten der Berücksichtigung der je einzelfallspezifischen Bedingungen (in) einer pädagogischen Organisation mit ihren jeweiligen Umgebungsbedingungen verlassen, ohne dabei z. B. auf bisherige, durchaus auch evidenzbasierte Erkenntnisse zu verzichten« (Henter u. Dlugosch, 2018, S. 32). Adaptives Lernen meint dabei auf der Ebene des professionellen Handelns, dass letzteres stetig überprüft und gegebenenfalls eine damit einhergehende Adaption an individuelle Bedürfnisse vorgenommen werden muss (Henter u. ­Dlugosch, 2018). Bevington und Kolleginnen beschreiben die Bedeutsamkeit von Adaptivität und Weiterentwicklung unter dem Aspekt des »Learning at work« und resümieren diesbezüglich wie folgt: »It is useful to recognize the fact, that the success that is achieved will vary between different clients, and we some­ times don’t know why this is« (Bevington et al., 2017, S. 176). Demnach gilt es, 214

Dlugosch / Henter

die mentalisierungsbasierten Methoden und Techniken stets für den jeweiligen Fall (auch in Bezug zu den eigenen Kolleginnen und Netzwerken) zu überprüfen (Bevington et al., 2017). Neben diesen »Tools« ist eine grundlegend mentalisierungsbasierte Haltung (»mentalizing stance«) in pädagogischen Interaktionen mit Kindern und Jugendlichen, den Kollegen sowie den Kooperationspartnern (in Charlys Fall die Betreuungs- und Lehrpersonen gleichermaßen) unabdingbar. Problematisch ist dabei aber vor allem die Fokussierung auf Ereignisse (auch Tools) innerhalb von Organisationen, die es erschweren, langfristig eine mentalisierende Haltung zu entwickeln (Bevington et al., 2017). Die Fokussierung auf (beobachtbare) Ereignisse im Fall Charly (z. B. Konflikte mit Mitschülern und Lehrpersonen, Zuspätkommen, ADS, Lernrückstand) – bei gleichzeitig vorgenommenen verhaltensorientierten Maßnahmen – verliert dabei vielfach die mentalen Zustände eines jeden der im Fall Beteiligten aus dem Blick. An dieser Stelle wären damit eine Evaluation der pädagogischen Prozesse und gleichzeitig eine Anpassung an Charlys (Lern-)Bedürfnisse ebenso unabdingbar für einen wahrscheinlicheren Erfolg der Maßnahme gewesen wie ein Bewusstsein für die Dauer von Veränderungsprozessen. Im Sinne des »mentalizing stance« wäre es damit, entgegen einer gängigen Vorstellung von Expertise, ebenso wichtig, sich als Institution zu »erlauben«, nicht zu wissen, was im Gegenüber vorgeht (»opaqueness«), um damit der Verführung in Richtung von vermeintlichen Gewissheiten widerstehen zu können: »Instead, the worker tries to hold in mind the truth that all minds are opaque to one another, accepting the fact […] that they do not, and cannot, ever fully know« (Bevington et al., 2017, S. 125, Herv. i. O.). Lernen kann nur dann gelingen, wenn im (erweiterten) Team die Möglichkeit besteht, das eigene Nichtwissen (Dlugosch, 2003), die eigenen Fehler, Sorgen und Ängste in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, Kooperationspartnern und anderen Teammitgliedern zu teilen (Bevington et al., 2017). »These rather ›negative‹ experiences are the precon­ ditions for learning, and a climate that disallows acknowledging or thinking about them will hamper team learning« (Bevington et al., 2017, S. 265).

3 Fazit: Zur Notwendigkeit einer mentalisierungsförderlichen Kultur in pädagogischen Organisationen Das Adaptive Mentalization-Based Integrative Treatment (AMBIT) mit seinen hier skizzierten Ebenen und Schwerpunktverschiebungen verhilft dazu, ein mentalisierungsförderliches Klima oder besser eine mentalisierungsförderliche Kultur in der Arbeit mit (hoch belasteten) Kindern und Jugendlichen sowie Mentalisieren auf mehreren Ebenen?

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insbesondere in Team- und institutionellen Prozessen anzubahnen und zu verstetigen. Um die eigenen mentalen Befindlichkeiten und die der anderen besser verstehen zu lernen und damit auch in besonders herausfordernden Situationen handlungsfähig bleiben zu können, müssen Mentalisierungs- und Lernprozesse im Team und mit den Kooperationspartnern gleichwertig in den Blick genommen werden (Henter u. Dlugosch, 2018). Die starke Fokussierung von Interventionen oder Techniken, die zu einem erwünschten Verhalten führen sollen bzw. die sich verstärkt daran orientieren, ergeben vielfach eine Fokussierung auf die äußere Realität des Kindes oder Jugendlichen, anstelle eines Einbezugs der inneren Realität aller am Prozess Beteiligten, oftmals auch gepaart mit ungeliebten Ohnmachtsgefühlen im Team (Bevington et al., 2013). Demnach würde es, auch im Fall Charly, helfen, eine mentalisierungsbasierte Reflexion der eingeleiteten pädagogischen Maßnahmen (bzw. Tools, Programmelementen oder Techniken) zu initiieren. Es gilt also zu prüfen, »what has worked (and what has not worked), and why, for individual clients in a specific local setting. This may require some courage to recognize mistakes and occasions when a team loses engagement with a client« (Bevington et al., 2017, S. 176–177; Fonagy et al., 2015a). Dadurch können Prozesse des Scheiterns auf unterschiedlichen Ebenen frühzeitiger erkannt werden und führen im glückenden Fall zu einer (Wieder-) Herstellung von Mentalisierungsfähigkeit seitens der pädagogischen Fachkräfte, des Teams, der Kooperationspartner, der Organisation und damit wahrscheinlicher auch (der Mentalisierungstheorie folgend) des jungen Menschen. Charly sucht auch heute noch sporadisch immer wieder den Kontakt zu seinen ehemaligen Betreuerinnen der vollstationären Jugendhilfe und erzählt von einer neuen Intensivwohngruppe, die er allerdings häufig verlasse, um auf der Straße zu leben. Inwieweit diese »Provokationen« als Beziehungsangebot zu werten sind, kann an dieser Stelle nur vermutet werden. Nichtsdestotrotz sollte das Potenzial gerade eben jener Beziehungen auch zur Weiterentwicklung der Mentalisierungsfähigkeit (des Jungen) nicht unterschätzt werden.

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Mentalisieren auf mehreren Ebenen?

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»Immer Ärger mit der Hausordnung« – Mentalisieren im Kontext einer vollstationären Mutter-Kind-Einrichtung Christiane Wiggeshoff und Annika Junker

Basierend auf dem Konzept der Mentalisierung nehmen wir in unserem Beitrag die Arbeit in einer vollstationären Mutter-Kind-Einrichtung in den Fokus. Anhand einer Alltagsdiskussion über (vordergründig zugrunde liegende) Unzufriedenheiten über die Hausordnung wird die mentalisierungsfördernde Haltung der pädagogischen Fachkraft dargestellt und als grundlegende Haltung für den pädagogischen Alltag diskutiert. Based on the concept of mentalization, the focus is on work in a fully inpatient mother-child facility. On the basis of an everyday discussion about (underlying) dissatisfactions with the house rules, the mentalizing attitude of the educational specialist is presented and discussed as a fundamental attitude for everyday interaction in pedagogy.

1 Voraussetzung, Inhalte und Schwierigkeiten der Arbeit in einer Mutter-Kind-Einrichtung Die hier beschriebene Mutter-Kind-Einrichtung ist eine vollstationäre Jugendhilfeeinrichtung mit 44 Plätzen, seit 1904 werden hier Mütter (und in jüngster Vergangenheit auch Väter) mit ihren Kindern betreut. Gesetzesgrundlage für die heutige Arbeit ist der § 19 Sozialgesetzbuch (SGB VIII Gemeinsame Wohnformen für Mütter/Väter und Kinder), in dessen erstem Absatz die Anspruchsberechtigten beschrieben werden: (1) Mütter oder Väter, die allein für ein Kind unter sechs Jahren zu sorgen haben oder tatsächlich sorgen, sollen gemeinsam mit dem Kind in einer geeigneten Wohnform betreut werden, wenn und solange sie auf Grund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung 219

des Kindes bedürfen. Die Betreuung schließt auch ältere Geschwister ein, sofern die Mutter oder der Vater für sie allein zu sorgen hat. Eine schwangere Frau kann auch vor der Geburt des Kindes in der Wohnform betreut werden. (Da überwiegend Frauen von weiblichen Mitarbeiterinnen betreut werden, wird im Folgenden zur Vereinfachung nur die weibliche Form benutzt.) Die Schicksale, Geschichten und Beeinträchtigungen, die sich hinter der Be­­ schreibung »auf Grund ihrer Persönlichkeitsentwicklung« verbergen, sind vielfältig und zeigen sich in der Realität u. a. als psychische Erkrankungen, Persönlichkeitsstörungen, Intelligenzminderung und/oder Suchterkrankung, allen gemein sind die deutlichen Auswirkungen auf das Fürsorgeverhalten gegenüber den Kindern. In der Regel sind ihre eigenen Kindheitserfahrungen geprägt von traumatischen Beziehungserfahrungen in Form von Vernachlässigung, sexueller, psychischer und körperlicher Gewalt, und ihre Fähigkeiten bezogen auf Alltagsbewältigung, Antrieb, Selbstregulation und Reflexion sind häufig stark gemindert. Wie erheblich solche Beziehungserfahrungen die Reflexionsfähigkeit und das Selbstbild beeinträchtigen, beschreiben Fonagy, Gergely, Jurist und Target ausführlich (2004, S. 354 ff.). Diese Auswirkungen sind im pädagogischen Alltag täglich spürbar. Auch die Auffälligkeiten bei den Kindern sind vielfältig. Ältere Kinder zeigen häufig erhebliche Defizite in verschiedenen Entwicklungsbereichen, herausforderndes, distanzgemindertes, unruhiges oder überfürsorgliches Verhalten, aber auch mangelndes Interesse an Umwelt und sozialen Kontakten. Bei Säuglingen zeigen sich Schwierigkeiten in der Selbstregulation und eine leichte Irritierbarkeit oder eine deutlich geminderte Aufmerksamkeit, ein hohes Schlafbedürfnis und vermeidende Reaktionen auf Kontaktangebote. Die Aufnahme in der Einrichtung geschieht nur bedingt freiwillig, in der Regel ist entweder ein längerer ambulanter Hilfeverlauf (Familienhilfe) gescheitert, eine akute Gefährdungssituation eingetreten oder die Unterbringung per Gerichtsbeschluss angeordnet. Fast immer haben »andere« (Fachkräfte des Jugendamtes, Richter, Gutachter) die Einschätzung getroffen, dass das elterliche Fürsorgeverhalten unzureichend oder sogar gefährdend für das Kind ist und der Einzug in die Einrichtung die einzige Möglichkeit darstellt, um nicht vom Kind getrennt zu werden. Sehr häufig teilen die Frauen diese Einschätzung nicht, fühlen sich ungerecht behandelt und stimmen dem Aufenthalt nur »zähneknirschend« zu. Sie berichten entweder, dass die Beschreibungen der Fachkräfte nicht der Wahrheit entsprechen oder dass die bisherige Unterstützung nicht hilfreich war, weil nie verständlich gesagt wurde, »was denn falsch läuft«. 220

Wiggeshoff / Junker

Die Auffälligkeiten der Kinder beeinträchtigen sie in erster Linie, wenn es sich um herausforderndes Verhalten handelt, dann gibt es den Wunsch der Mütter, dass »er/sie lernt, auf mich zu hören«. Bei sehr autarken oder scheinbar »pflegeleichten« Kindern gibt es häufig keine Übereinstimmung mit den Fachkräften, wenn dieses Verhalten als entwicklungsbeeinträchtigend für die Kinder eingeschätzt wird. Aufgrund der multiplen Belastungen weisen die Frauen eine hohe Stressvulnerabilität auf. Sehr schnell »kleben« sie an der »Decke«, und häufig ist Außenstehenden nicht klar, was genau die Eskalation verursacht hat. Es erstrecken sich auch leicht endlose Diskussion (oder Monologe) über scheinbare Nichtigkeiten. Für die Frauen verändert sich mit der Aufnahme ihr Lebensumfeld komplett, und sie stehen vor der Herausforderung, sich in einer fremdbestimmenden Umgebung mit sich selbst und ihrem Verhalten auseinandersetzen zu müssen. Generell ist festzustellen, dass das emotionale Arousal der Bewohnerinnen aufgrund des erlebten chronifizierten Kontrollverlustes und der an sie gestellten institutionellen Anforderungen deutlich erhöht ist, bei gleichzeitig geminderter Fähigkeit zur Selbstregulation. Da die kindeswohlgefährdenden Verhaltensweisen, wie feindseliger Umgang oder Vernachlässigung, mit Aufnahme in die Einrichtung nicht gänzlich verschwinden oder nur in enger Begleitung unterbleiben, ist aufgrund des Kinderschutzes eine intensive Kontrolle des Alltags durch die Fachkräfte gegeben. Diese Rahmenbedingungen, mit dem eigenen Kind unter permanenter Beobachtung zu stehen (tagsüber durch die Anwesenheit der Fachkräfte, nachts durch Überwachung mit einem Babyfon), erhöhen ebenfalls den Stress. Diese komplexen Belastungsfaktoren bedeuten für die Fachkräfte neben allen anderen Aufträgen eine besondere Herausforderung, nämlich die Wahrnehmung des eigenen Stresses und eng damit verbunden des Arousals. Die intensive Zusammenarbeit mit Menschen, deren Fähigkeit zu mentalisieren und zu reflektieren gemindert ist, hat auch Auswirkungen auf die eigene Reflexionsfähigkeit. Fachkräfte laufen Gefahr, diese Fähigkeit »schneller, als ihnen lieb ist« zu verlieren. Dies gilt insbesondere für dieses Arbeitsfeld, in dem neben der Unterstützung der Mütter gleichzeitig auch die möglichst ungefährdete Entwicklung des Kindes zu gewährleisten ist und das elterliche Verhalten entweder schon zu einer deutlichen Entwicklungsbeeinträchtigung des Kindes geführt hat oder es zumindest zu beeinträchtigen droht (Vernachlässigung/Bedrohung). Es ist aufseiten der Pädagoginnen immer wieder außerordentlich schwierig, nicht allzu schnell von einer Verweigerungshaltung (»Die will ja gar nichts lernen«) auszugehen, wenn Erklärungen scheinbar nicht ankommen oder ein »Immer Ärger mit der Hausordnung«

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erwünschtes Verhalten nur so lange gezeigt wird, wie die Mitarbeiterinnen anwesend sind. Dies kann eher ein Hinweis darauf sein, dass die Informationen der Fachkräfte aufgrund des vorherrschenden epistemischen Misstrauens (im Gegensatz zu epistemischem Vertrauen: basales Vertrauen in eine Person als sichere Informationsquelle; Sperber u. Wilson, 1995; Sperber et al., 2010) als nicht vertrauenswürdig und bedeutsam für das eigene Leben wahr- und wichtig genommen werden können. Wenn Inhalte und vermitteltes Wissen aus Begleitungs- oder Gesprächssituationen sich im Verhalten der Frauen nicht verankern (obwohl es ein »fleißiges Nicken« und Zustimmen zu den Erklärungen der Mitarbeiterinnen gibt) und Strukturen, die mit Begleitung und Kontrolle gehalten wurden, bei Um- oder Auszug wieder auseinanderfallen, zeigen sich eher enorme Adaptionsleistungen der Frauen an die Vorgaben der Einrichtung als eine Veränderung aufgrund von Integration von neuem Wissen in die eigene Psyche und das daraus resultierende Handeln. Wie ist es bei dieser schwierigen Ausgangslage möglich, Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Stress reduzieren und mit Herstellung der Mentalisierungsfähigkeit auch Problemkongruenz und Hilfeakzeptanz ermöglichen? Wie können unter diesen Voraussetzungen, in denen zeitgleich auch die Bedürfnisse der Kinder, die sich manchmal eklatant von den Bedürfnissen der Mütter unterscheiden, berücksichtigt werden? Es müssen Bedingungen geschaffen werden, die neue, bedeutsame und nachhaltige Lernerfahrungen möglich machen.

2 »Immer Ärger mit der Hausordnung« – ein Putzplan verursacht Ärger Anhand der im Folgenden beschriebenen Gesprächssituation lässt sich beispielhaft eine mentalisierungsfördernde Intervention durch eine pädagogische Fachkraft erkennen. Diese Gesprächssituation ist mit Einverständnis der Beteiligten gefilmt und trans­ kribiert worden. Es nehmen zwei Frauen (Frau D.; Frau F.) und eine Mitarbeiterin (MA) teil. Anlass des Gesprächs war die Unzufriedenheit mit der Regelung des Hofdienstes/Waschplanes, der für insgesamt vier Frauen gilt, die in einem Gebäude­ komplex mit vier Appartements wohnen und sich Waschmaschine und Trockner teilen. Auch für die Ordnung des Hofes sind sie verantwortlich, den Plan erstellen die Mitarbeiterinnen. Von Zeit zu Zeit werden Hof- und Waschplan überarbeitet, z. B. aufgrund wechselnder Belegung. Zwei der vier Frauen waren bei dem Gespräch nicht anwesend. 222

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Zu Beginn des Gesprächs zeigte sich bei den beteiligten Frauen ein deutlich erhöhtes Arousal, erkennbar an motorischer und sprachlicher Unruhe, und eine konkretistische Detailversessenheit, die auch beim Lesen zu Verwirrung führen kann. MA:  »Okay. So. Thema ist der …« (Frau D. unterbricht sie.) Frau D.:  »Ich kann dir den Plan geben.« MA:  »Ich habe den hier.« (Sie schlägt den Block auf, nimmt den Plan heraus und legt ihn auf den Tisch.) Frau D.:  »Ah, okay.« MA:  »Thema ist der Hofdienst, ne?« Frau D.: »Mmh.« (Sie blickt ernst auf den Plan.) MA: »Okay.« Frau D.:  »Ich bin nicht zufrieden damit und damit.« (Sie tippt wiederholt auf den Plan.) MA: »Okay.« Frau D.:  »Und ich will das und das behalten, immer noch. Und ich möchte AUCH, wenn ich morgens nicht da bin, dass nicht gewaschen wird.« (Sie tippt energisch mit dem Finger auf den Tisch, zuckt mit den Schultern und zieht die Augenbrauen hoch, stützt ihren Kopf in ihre Hand und schaut die MA auffordernd an. Sie macht eine kurze Pause.) »Weil DIE (gemeint ist eine andere Bewohnerin) hat gewaschen (wieder tippt sie energisch auf den Plan), und dann musste ich den Waschraum machen und (atmet tief ein, tippt wieder auf den Tisch) den Schuppen auch. Die hat am Samstag auch zu Miriam (eine weitere Mitarbeiterin) gesagt – Miriam hat mir [sic!] gefragt: ›Was machen Sie denn am Hofdienst?‹ (Sie schnipst mit dem Finger und beginnt, mit den Fingern aufzuzählen) Waschraum … äh … Schuppen, Aschenbecher und so weiter und sofort. Und DIE (gemeint ist wieder die andere Bewohnerin) hat auch gesagt, ich mache das auch, und ich wollte eiskalt laut lachen. Ich habe sie nie gesehen, äh, ich habe gestern gesehen, wie sie Hofdienst gemacht hat.« (Beim Sprechen zieht sie immer wieder die Augenbrauen hoch und hebt den rechten Zeigefinger). Frau F.:  »Sie macht das oberflächlich.« (Sie zupft an ihrer Kleidung, streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, kratzt sich am Arm, rutscht auf dem Stuhl hin und her.) Frau D.:  »Schuppen hat sie nur ein bisschen von außen so gefegt (nimmt das Etui der MA, schiebt es hin und her über den Tisch und lässt es schließlich auf den Tisch zurückfallen) – das ist Schuppen fegen « (sie zieht die Augenbrauen hoch, nimmt einen Schluck Kaffee). Frau F.:  (Atmet ein, beginnt zu sprechen und wird dabei immer schneller. Dabei gestikuliert sie und tippt ebenso immer wieder auf den Plan oder stützt ihren »Immer Ärger mit der Hausordnung«

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Kopf in die Hand.) »Also um alles herum. Also Schuppen gar nicht. Nur die Tür, wenn man die öffnet, hat sie rausgefegt und das andere halt einfach oberflächlich. (Sie schlägt mit dem rechten Handrücken in die Innenseite der linken Hand, dass es klatscht.) Was wir jetzt zum Beispiel machen, wir schieben ja wirklich alles weg, und ich helf dann auch E. dabei, weil ich selber gesagt hab, […] und sie wollte montags unbedingt waschen, obwohl sie dienstags auch Zeit hat, weil sie dienstags auch zu Hause ist, […] also ich hab’ da was ganz anderes angesprochen, wie da jetzt eigentlich gemacht worden ist. […] vielleicht kann man das so machen, dass jeder mal eine Woche lang dran ist, damit man sieht, da wird was gemacht und da wird nichts gemacht. Damit man das besser im Überblick hat. Oder dass […] E., N. und J. die Heimfahrten machen, dass die dann anstatt Sonntag einen Wochentag kriegen, wo alle waschen können. Oder J. und N. einen Tag tauschen. Weil, sonst war ja eigentlich jeder zufrieden. Es ging ja nur darum, dass J. und N. da so’n bisschen …« (unterbricht ihren Satz). MA:  »Also J. und N. waren unzufrieden mit dem Waschplan?« Frau F.: »Genau.« MA:  »Weil hier (zeigt auf den Plan) sind ja zwei Sachen drauf, es geht ja um zwei Sachen. Einmal geht es ja um die Waschtage und einmal geht’s um den Hofdienst.« (Sie schaut abwechselnd erst zur einen, dann zur anderen, beide Frauen nicken.) […] Frau F.:  »Genau, genau. Weil es N. gestört hat, dass sie freitags und samstags hat, wenn sie Heimfahrten macht. Deshalb habe ich gedacht, dass man eine Woche lang guckt, wo die dann alle waschen können, die die Heimfahrten machen, weil es fährt auch nicht jeder regelmäßig und äh mit den Hofdiensten, dass da wirklich – äh – selbst wenn E. Waschtag hat oder ich oder was weiß ich, dass da jeder immer einer den Hofdienst macht, damit das übersichtlicher ist weil – äh – (sie verhaspelt sich mehrfach) J. sagt, wenn sie nicht den Waschtag hat, aber waschen muss, würde sie immer fragen. Aber das macht sie auch nicht, und sie würde immer helfen beim Hofdienst, das macht sie nämlich auch nicht. Wir machen das immer alleine. Wenn wir gerade fertig sind, kommt sie erst raus.« MA: »Okay.« Frau F.:  »Und J. sagt vorher schon, ›Ja ich leg die (ihre Tochter) erst um 21.00 Uhr hin, weil ich glaub, die (Tochter) ist noch gar nicht müde‹, und dann kommt J. auch erst, erst immer wenn sie weiß, sie ist dran und sie muss mithelfen oder sie weiß, sie muss den Hofdienst überhaupt machen, und genauso ist es bei dem Müll auch.« MA:  (Blickt beide Frauen an.) »Okay.« […] Frau F.:  »Ja, wir sollen alle … –« 224

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Frau D.:  »– … alle helfen.« Frau F.:  »Ja […]. Ich hab auch den anderen beiden geholfen, obwohl die J. eigentlich mit saubermachen musste, und dann hab ich das gemacht, weil das eh nie funktioniert oder eh nie gemacht wird.« MA:  »Okay. Lasst uns mal einmal kurz überlegen, was das Problem ist, und dann können wir vielleicht später noch mal darüber reden, wie ihr euch das anders vorstellt (sie schaut abwechselnd beide Frauen an), weil sonst kommen wir immer durcheinander mit den Waschtagen, mit dem Hofdienst (mit dem Oberkörper unterstreicht sie das Hin und Her) und dann wird’s irgendwie ein bisschen schwierig.« (MA macht sich Notizen.) (Die Klientinnen reden nun langsamer. Die MA hört zu, stellt teilweise Nachfragen und macht sich Notizen.) MA:  »Ich höre raus, manche machen den Hofdienst und andere nicht.« Frau F.: »Genau.« (Kurze Pause – die MA macht sich Notizen. Die Frauen warten, während die MA schreibt.) MA:  »Und das findet ihr unfair, ne?« Frau F.: »Ja.« Frau D.:  »Und da war ich wirklich auch stinksauer, und da hab’ ich auch die M. angemault, angeschrien, und da hab’ ich auch mit dem Wischmobstiel gezeigt, jeder hinterlässt den Waschraum ordentlich, und das ist nicht ordentlich, hab’ ich auch gesagt.« (Sie unterstreicht ihre Erzählungen mit Gestik und Körperhaltung.) MA:  »Okay. Also, Hofdienst, eigentlich meint ihr Waschraumdienst, ne?! Oder meint ihr den Hofdienst generell? (Schaut fragend erst die eine dann die andere Klientin an.) – Auch das Fegen im Schuppen? Weil, eben habt ihr gesagt, die fegt nur vorne.« Frau F.:  »Genau, weil das keine gründliche Arbeit ist. (Sie reibt kurz mit der Hand übers Kinn, fängt dann wieder deutlich an zu gestikulieren.) Sie hätte ja nur den Waschraum machen sollen, das hat sie nämlich auch nicht gemacht, das haben wir dann gemacht, und doof ist dann aber auch, dass obwohl, ne, sie den Hofdienst auch, – was weiß ich, – ich fand das vorher einfach besser, die Regelung, dass Waschraum, Schuppen und Hof gemacht worden sind und nicht der eine macht den Waschraum und der eine muss dann hinterher fegen.« (Die MA macht sich währenddessen Notizen.) […] »Immer Ärger mit der Hausordnung«

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Die Klientinnen beginnen, über die Waschtage zu sprechen, werden wieder aufgeregter, reden schnell und durcheinander und gestikulieren stärker. Die MA unterbricht. MA:  »Okay, ich geh gerade noch mal einen Schritt zurück, weil wir sind ja gerade nicht nur bei der Idee, was man anders machen kann, sondern ich höre jetzt auch noch mal raus, eigentlich seid ihr auch noch unzufrieden mit der Verteilung der Waschtage. Also soll ich das noch mit aufschreiben?« Frau D.:  »Ja, gerne.« (Die MA macht sich Notizen, und die Klientinnen werden ruhiger beim Sprechen.) […] (Das Thema »Waschen« ist vorerst beendet. Die MA schaut beide Klientinnen an, beide schweigen. Es entsteht eine kurze Pause.) MA:  »Müll war eben noch was. Mülltonnen rausbringen (sie schaut Frau D. an), weil der Müllplan ist auch geändert worden.« Frau D. und Frau F.: »Ja!« MA:  »Und das ist irgendwie, – ist das in Ordnung für euch? – Oder?« Frau F.: »Nein!« Frau D.:  »Ist besser, wenn man alle Woche einmal dran ist.« MA:  »Also, muss ich auch noch mal den Müllplan aufschreiben (schaut beide fragend an)?!« Frau D. und Frau F.:  »Ja, genau.« (Die MA lächelt und macht sich Notizen. Die Klientinnen sprechen noch kurz über dieses Thema, dann geht es wieder um den Hofdienst.) Frau F.:  »Ja, ja, aber es geht ja darum, dass ich möchte, dass auch gesehen wird, der eine macht’s und der andere halt nicht, damit das übersichtlicher ist. Damit es nicht immer heißt, äh, ich hab’s gemacht und dabei wurde es aber gar nicht gemacht. (Die MA schreibt mit.) Weil diese erst rauskommen, wenn man gerade weiß, die sind fertig mit fegen oder so, das äh geht nicht. Das finde ich nicht gut. Das war ja gestern auch so.« MA:  »Okay, hab’ ich jetzt mit als Wunsch aufgeschrieben, ne ›Ich möchte sehen oder ich möchte, dass gesehen wird, wer den Hofdienst gemacht hat‹, ne?« Frau F.:  »Genau. Und das ist vielleicht auch mal […] ’nen Wunsch an euch, dass vielleicht auch richtig geguckt wird, also danach. Nicht, dass man sieht, der Hof ist sauber, kann man abhaken, dass man auch die anderen Sachen beachtet.« (Die MA nickt.) 226

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[…] MA:  »Okay, das könnte ich dann noch mal weitergeben ans Team. Also noch mal ’ne bessere, genauere Kontrolle von den einzelnen Ämtern, ne?« Frau F.: »Ja.« (MA notiert.) […] MA:  »Okay. Es geht einfach noch mal darum, dass ihr euch wünscht, dass wir besser kontrollieren, also der Spätdienst besser kontrolliert, weil der der Ansprechpartner ist und halt auch noch mal ganz genau bei den einzelnen Ämtern guckt. Also auch noch mal guckt: Ist der Aschenbecher leer oder der Tisch abgewischt?« Frau F.:  »Ist der Schuppen gemacht worden?« MA:  »Genau, ist der Schuppen gefegt worden […]. Okay, gut. Hab’ ich noch was vergessen?« Frau D.: »Nein.« […] MA:  »Also, jetzt noch mal zurück zu dem Wasch- und Hofdienstplan.« Frau D.:  »Ich war zufrieden mit meinem Montag und Mittwoch.« Frau F.:  »So wie der Plan vorher, bevor der sich geändert hat, so war der eigentlich okay. Aber dass man vielleicht guckt, die fahren, dass man inne Woche, den Sonntag inne Woche verlegt, dass alle waschen können, und äh Sonntag macht dann ein anderer, dass man zum Beispiel guckt, J. kann dann, oder was weiß ich, N. will dann freitags oder samstags nicht, dass man dann irgendwie guckt, dass man das auch zusammen bespricht und guckt, wie man sich dann einigt. Aber diesen ganzen Plan, die Struktur finde ich doof.« (Gestik und Erzähltempo sind nun deutlich ruhiger.) MA:  »Okay, wie können wir das jetzt am besten lösen?« (Pause) Frau F.:  »Ja, wir müssen da ja mit allen sprechen. Also ich fand den Plan vorher besser. Auch was die Hofdienste betrifft.« MA:  »Also, wir müssen einen Termin zur Hausversammlung machen?!« (Pause – die MA notiert.) Frau F.:  »Mit dem Müll haben wir jetzt schon, ne?« MA:  »Ja, ich kann das noch mal vorlesen, was wir aufgeschrieben haben. Also […] »Immer Ärger mit der Hausordnung«

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(die Mitarbeiterin führt alle Punkte auf, die besprochen wurden, und liest auch die Wünsche der Klientinnen nochmals vor. Die Klientinnen stimmen zu, nicken immer wieder) […] und lösen können wir es eigentlich nur, indem wir einen Termin zur Hausversammlung machen und uns alle zusammensetzen.« Frau F.: »Ja.« MA:  »Weil, sonst wird’s schwierig, ne?!« Frau F.: »Ja.« […] (Mitarbeiterin und Klientinnen überlegen, wann ein Termin mit allen für das Gespräch relevanten Personen möglich wäre.) MA:  »Was ich damit sagen möchte, ist, dass wir wahrscheinlich nicht so schnell einen Termin finden, wo wir uns alle zusammensetzen können.« Frau F.:  »Ja, uns war ja wichtig, das schon mal gesagt zu haben, bevor es wieder drüber und drunter und drüber geht oder es ganz durchgeht.« Frau D.:  »Wir können dann auch so machen – wir tauschen die Waschtage dann, aber nicht so wie hier (deutet energisch auf den Plan), z. B. wenn J. Dienstag nicht waschen kann, dann, dass die Montag wäscht und ich Dienstag.« MA:  »Wann machen wir das?« Frau F.:  »In der Hausversammlung.« MA:  »Okay. Aber bis wir einen Termin für die Hausversammlung haben … –« Frau D.:  »Müssen wir damit klarkommen.« MA:  »… würde der Plan bestehen bleiben. Gibt’s irgend ’ne Idee, die ihr habt, was bis dahin, bis das noch mal durchgesprochen und evtl. verändert würde?« Frau F.:  »Mit dem Hofdienst kontrollieren und Waschraum?« Frau D.: »Ja.« […] MA:  »Okay, wir können auf jeden Fall die Hofdienste besser kontrollieren.« (Die MA notiert dies.) (Die Klientinnen sprechen weiter. Die MA hört zu, gibt kurze Erklärungen oder stellt Nachfragen. Schließlich teilt sie mit, was sie verstanden hat, und fragt, als die Klientinnen im Thema nicht weiterkommen, ob sie einen Vorschlag machen darf. Dies wird bejaht. Die Verantwortung bleibt bewusst bei den Klientinnen, verbunden mit dem Angebot, sich jederzeit bei jeglicher »Störung« melden zu dürfen. Frau F. fasst dies zusammen, formuliert so noch mal klar die Übergangslösung bis zu einer großen Hausversammlung. Die MA notiert dies sofort. Die Klientinnen warten und gucken mit, was die MA notiert. Zum Schluss fasst die MA alle im Gespräch genannten Punkte 228

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zusammen und wiederholt ebenfalls die von Frau F. formulierte Übergangslösung. Die Klientinnen stimmen zu.) MA:  »Ist das okay so?« Frau D. und Frau F.: »Ja!« MA:  »Okay, prima, dann haben wir es ja.« (Die Klientinnen stimmen zu – es gibt keine weiteren Einwände.)

3  Die Nachricht hinter der Nachricht Das oben zusammengefasste Gespräch dauerte eine knappe Stunde und wurde um einige Gedankenschleifen gekürzt. Hinter den offen angesprochenen Themen Hofdienst und Waschtage liegen sehr deutlich andere Themen wie z. B. Konkurrenz, Zu-kurz-Kommen, Ungerechtigkeit oder Beeinflussung der Autorität und der Wunsch nach mehr Anerkennung. In ihrer fachlichen Haltung, die im Wesentlichen durch ein empathisches, validierendes, nichtwissendes Nachfragen geprägt ist, verzichtet die Mitarbeiterin auf verfolgende und beschuldigende Fragen und wertende Äußerungen und auch darauf, die nicht anwesenden Personen in Schutz zu nehmen. Sie bleibt ausreichend gut distanziert und allparteilich. Dabei nimmt sie den Ärger der Frauen wahr und strukturiert das Gespräch, indem sie immer wieder zu den angesprochenen Themen zurückkommt, zusammenfasst und sich rückversichert, die Äußerungen richtig verstanden zu haben. Diese Haltung trägt deutlich zu einer Arousalreduzierung der Beteiligten bei. Sowohl körperlich als auch sprachlich werden beide immer ruhiger, fühlen sich verstanden und wahrgenommen. In diesem beruhigten Zustand gelingt es ihnen, im Sinne einer verbesserten Kooperation konstruktive Lösungen für ihr Anliegen zu finden, in der sie partizipatorisch Teil der Lösung werden (Hausversammlung). Auch ohne direktes Leiten der Situation durch die Mitarbeiterin, ohne die Zugabe von Anregungen und Hinweisen gelangen die Klientinnen zu der Lösung, die auch die Fachkraft (innerlich, ohne sie anzusprechen) präferiert hat. Durch das eigene Erarbeiten der Lösung entsteht eine wesentlich höhere Akzeptanz bei den Beteiligten, sowohl für die Durchführung eines gemeinsamen Gesprächs als auch bezüglich der Absprache, wie bis zu diesem Gespräch verfahren werden kann.

»Immer Ärger mit der Hausordnung«

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4  Erkenntnisse für die pädagogische Arbeit im Alltag Welche Hinweise lassen sich aus diesem Gespräch, das sich von der Vielzahl alltäglicher Gespräche deutlich unterscheidet, da für die Durchführung ausreichend Zeit und Ruhe zur Verfügung standen, bezogen auf mentalisierungsfördernde Haltung und Methodik herausziehen? Im pädagogischen Alltag erleben die Fachkräfte häufig eine Notwendigkeit der Steuerung von problematischen Situationen, um schädigendes oder vernachlässigendes Verhalten gegenüber den Kindern zu unterbinden. Schnelle, lösungsorientierte Reaktionen der Fachkräfte sind gefragt, begleitende Erklä­ rungen sollen diese Reaktionen für die Klientinnen nachvollziehbarer machen und deren Einsicht fördern. Eine nichtwissende Haltung und Allparteilichkeit scheinen fehl am Platz, wenn die Nahrung zu heiß, die Aufsichtspflicht gefährdet ist oder eine invalidierende, entwertende Ansprache die Not des Kindes erhöht. In diesen Situationen sind die Fachkräfte aufgrund ihres Auftrags durch das Jugendamt, den Kinderschutz im Rahmen der Einrichtung sicherzustellen, tatsächlich häufig zum konkreten Handeln im Sinne des Kindes aufgefordert. Dies kann bedeuten, dass sie eingreifen oder Handlungen verbal unterbinden. Wenn sich die Wahrnehmungen der Klientinnen von denen der Fachkräfte unterscheiden, können solche Situationen zu einem Anstieg des Arousals auf beiden Seiten und zu konfliktbehafteten Gesprächen führen. Je besser jedoch die Vorund Nachbereitung solcher Lebenssituationen gelingt, umso besser können zukünftige Situationen »gehändelt« oder sogar vermieden werden. Der pädagogische Alltag braucht Gesprächsatmosphären, in denen ausreichend Zeit und Stimmung für ein geduldiges, interessiertes, nichtwissendes Nachfragen über die Intentionen und die inneren Zustände der Klientinnen zur Verfügung steht. Und in diesen Gesprächen ist die oben beschriebene Gesprächshaltung möglich und notwendig, um die mentalen Zustände der Klientinnen zeitnah zu erkennen, Nichtmentalisieren zu stoppen, das emotionale Arousal zu regulieren und gelungene Mentalisierung zu bestätigen (Kirsch, 2014, S. 38). Eine interessierte, nichtwissende Haltung über das innere Erleben der Klientinnen kann das Gefühl des Verstandenwerdens erhöhen, den Zugang zu den eigenen innerpsychischen Zuständen ermöglichen, die Abwehr verringern und schließlich zu einer Öffnungsbereitschaft gegenüber den Informationen der Fachkräfte führen. Die »Themen hinter den Themen« können erkannt werden, und für nachfolgende Situationen kann auf dieser gemeinsamen Erfahrung aufgebaut werden. Bedeutsam für die mentalisierungsfördende Haltung ist aufseiten der Fachkraft das Gewahrwerden des eigenen emotionalen Arousals. Wie oben erwähnt, kann die Fähigkeit des reflexiven Denkens durch die andauernde 230

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Auseinandersetzung mit Menschen, deren Mentalisierungsfähigkeit leicht beeinträchtigt wird, leiden. Und auch im Innern von Fachkräften kann dann das geschehen, was über Menschen mit Persönlichkeitsstörungen beschrieben ist: »Bei […] hohem Arousal wird oft im Äquivalenzmodus oder im teleologischen (kontrollierenden) Modus reagiert« (Kirsch, 2014, S. 47), die reflexiven Fähigkeiten gehen zuungunsten des Wunsches nach Kontrolle verloren. Aufseiten der Fachkräfte ist es daher wichtig, den eigenen »Umschaltpunkt« (Kirsch, 2014, S. 35) vom reflexiven Modus hin zu prämentalen Denkzuständen wahrzunehmen, um nicht durch die dadurch entstehende Erhöhung des Kontrollbedürfnisses den Stress bei den Klientinnen und bei sich selbst weiter zu erhöhen. Nur, wenn man seine Reflexionsfähigkeit erhält (oder rasch zurückgewinnt), hat man auch den Nutzen dieser Fähigkeit: »Die Reflexionsfähigkeit fördert die Selbstregulierung von Stress und emotionalen Erregungszuständen […]. Sie fördert flexibles Denken, das gedankliche Experimentieren mit Alternativen sowie die Antizipation ihrer Wirkung auf das Selbst und andere« (S. 42) und ist damit in der Lage, mentalisierungsfördende Interventionen zur Erhöhung der eigenen Resilienz einzusetzen. Das Angebot einer »Bezugsbetreuung« und wissensvermittelnder S­ ettings, z. B. Einzel- oder Gruppenstunden mit Inhalten über Entwicklungsschritte, Bedürfnisse des Kindes oder Erziehungsempfehlungen, führen unserer Erfah­ rung nach nicht zu ausreichender Problemeinsicht und Öffnungsbereit­schaft. Das epistemische Misstrauen der Klientinnen und ein permanent erhöhtes Stressniveau behindern die Fähigkeit zur Einsicht eklatant. Da das Aufwachsen der Klientinnen sehr häufig von missbräuchlichen, gewaltvollen und überwältigenden Erfahrungen mit ihren engsten Bezugspersonen geprägt war, sind sie in der Regel mit einer erhöhten Wachsamkeit gegenüber den intentionalen Zuständen anderer Menschen ausgestattet, allerdings gibt es häufig keine Klarheit über die eigenen innerpsychischen Befindlichkeiten (Taubner, 2016, S. 31). Die Klientinnen nehmen die Hinweise und Absichten der Fachkräfte daher sehr wohl wahr und sind auch in der Lage, sich diesen anzupassen, allerdings fehlt aufgrund der mangelnden Wahrnehmung der eigenen inneren Zustände die Möglichkeit einer tatsächlichen Auseinandersetzung mit den Inhalten. Die Verhaltensanpassung an institutionelle Vorgaben (z. B. keine Herabwürdigungen des Kindes oder ausreichende Körperpflege) sind, zumindest zu Beginn der Hilfe, nicht als Ergebnis selbstreflexiver Erkenntnisprozesse zu verstehen, sondern eher als Anpassungsleistung an die Erwartungen der Fachkräfte. Das Konzept der Mentalisierung erweist sich als außerordentlich hilfreich, um genau die inneren (mentalen) Zustände bei und mit den Klientinnen besser »Immer Ärger mit der Hausordnung«

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verstehen zu können, die das Erarbeiten von neuen Handlungsmöglichkeiten oft so schwer erscheinen lassen. Und es bietet Wissen und praxisnahe Methoden für die Umsetzung im pädagogischen Alltag. In diesem Konzept finden sich ausführliche Informationen über die Entwicklung der mentalen Fähigkeiten, vom teleologischen Modus hin zu differenzierten reflexiven Fähigkeiten mit Perspektivübernahme und dem Verständnis von falschen Überzeugungen. Es zeigt auf, wie bedeutsam frühe Beziehungserfahrungen für die Ausbildung der Mentalisierungsfähigkeit sind und wie traumatische Erfahrungen diese beeinträchtigen (Fonagy et al., 2004). Darüber hinaus bietet es Erklärungsansätze dafür, wie stressvulnerabel diese Fähigkeiten auch im Erwachsenenalter sind, nicht nur bezogen auf Klientinnen, sondern auch in Bezug der »Ansteckung« professioneller Fachkräfte. Nur wenn es gelingt, dass die Klientinnen ihr von verschiedenen Fachkräften als gefährdend eingeschätztes elterliches Verhalten auch selbst als problematisch, aber beeinfluss- und veränderbar (z. B. über Mentalisierung) erkennen, können sie beginnen, mit Unterstützung daran zu arbeiten. In der Erfahrung des eigenen Verstandenwerdens liegt die Chance, auch die inneren Zustände der Kinder besser verstehen zu lernen, weniger schädigendes und mehr verstehendes Verhalten zeigen zu können und dem Kind so deutlich bessere Entwicklungsbedingungen mit auf den Weg zu geben. Es geht also vielmehr um einen Erkenntnis- als einen Anpassungsprozess.

5 Ausblick Da die Umschaltprozesse hin zu nichtmentalisierenden Denkmustern im pä­­da­­ gogischen Alltag häufig in Sekundenbruchteilen ablaufen, ist die Schulung der pädagogischen Fachkräfte von außerordentlicher Bedeutung. Regelmäßige Reflexion von Gesprächssituationen und das Einüben von mentalisierungsfördenden Gesprächstechniken sind daher elementarer Bestandteil der pädagogischen Arbeit, Videoaufzeichnungen von Gesprächen sind eine weitere Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Handeln und dienen der Verbesserung der eigenen Fähigkeiten mentalisierungsfördernder Interventionen. Da wir nur unsere eigene Perspektive (von innen heraus) auf die Realität wahrnehmen, ist diese Videoarbeit bedeutsam für den eigenen Perspektivwechsel und zum Erkennen eigener »blinder Flecken«. Voraussetzungen bei den Fachkräften sind in der Arbeit die Wahrung einer mittleren Distanz auf der Beziehungsebene, die Bereitschaft zur Selbstreflexion (Supervision) und ein ausreichendes Fachwissen. Auf Organisationsebene ist die 232

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Bereitstellung von Möglichkeiten zur Selbstreflexion (Supervision) und Wissen (Fortbildungen) notwendig. Derzeit erarbeiten die Mitarbeiterinnen gemeinsam ein »Wörterbuch«, in dem validierende Reaktionen auf die häufig im Alltag »wie aus der Pistole geschossenen« abwehrenden Äußerungen der Klientinnen (z. B. »Sie wollen mir eh nur mein Kind wegnehmen«, »Jeder sagt hier was anderes«, »Wenn Sie nicht dabei sind, klappt alles viel besser«) gesammelt und niedergeschrieben werden, um den eigenen Denkspielraum zu erweitern, die Handlungssicherheit zu erhöhen (und damit das Arousal reduzieren) und die Gesprächsführungsmethode weiter im Alltag zu implementieren. Ziel ist es, Gesprächsverläufe auch ohne optimale Voraussetzungen wie exklusive Zeit und planbare Inhalte für eher schwierigere Inhalte wie kindeswohlgefährdendes Verhalten mentalisierungsfördernd zu gestalten und möglichst viele Merkmale der zu Beginn beschriebenen Haltung der Fachkraft auch in noch schwierigeren Situationen sichtbar werden zu lassen. Es bleibt eine herausfordernde Aufgabe an die pädagogischen Fachkräfte in der Mutter-Kind-Arbeit, an der Verringerung transgenerationaler Weitergabe schädigender Beziehungserfahrungen gemeinsam mit den Klientinnen zu arbeiten, dies ist als Limitation ohne zusätzliche psychotherapeutische Behandlung häufig auch nicht möglich. Das Konzept der Mentalisierung bietet für den päda­ gogischen Alltag jedoch eine Vielzahl an Informationen und Ideen, um kreativ und neugierig dieser Herausforderung weiterhin hoffnungsvoll zu begegnen.

Literatur Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E., Target, M. (2004). Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta. Kirsch, H. (2014). Vorwort. In H. Kirsch (Hrsg.), Das Mentalisierungskonzept in der Sozialen Arbeit (S. 7–11). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Sperber, D., Clément, F., Heintz, C., Mascaro, O., Mercier, H., Origgi, G., Wilson, D. (2010). Epistemic vigilance. Mind & Language, 25 (4), 359–393. Sperber, D., Wilson, D. (1995). Relevance: Communication and cognition (2nd ed.). Oxford/Cambridge, MA: Blackwell Publisher. Taubner, S. (2016). Konzept Mentalisierung (2. Aufl.). Gießen: Psychosozial-Verlag.

»Immer Ärger mit der Hausordnung«

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Viertes Feld: Supervision und Beratung in der Pädagogik Beziehungsdynamiken eines Familiensystems mentalisieren: Pädagogische Frühförderung als Paarberatung1 Stephan Gingelmaier

Die Bedeutung der Frühförderung unter besonderer Beachtung von Prävention und Intervention steht im Fokus dieses Beitrags. Ein mentalisierungsbasierter Beratungsansatzes wird anhand eines Fallbeispiels eingeführt, veranschaulicht und zuletzt diskutiert, ob sich diese Form der Beziehungsberatung für die pädagogische Frühförderung als Teil der interdisziplinären Frühförderung mit belasteten Familien eignet. First, the importance of early intervention with special attention to prevention and intervention is shown. By introducing a mentalization-based approach of counselling in combination with a casuistic it will be argued if this way of relational counselling can be suitable for early interventions with harmed families.

Interdisziplinäre Frühförderung stellt seit über vierzig Jahren einen wichtigen pädagogisch-interdisziplinären Beitrag zur Förderung kleiner Kinder mit (drohender) Behinderung und psychosozialen Entwicklungsrisiken in Deutschland dar. Dies drückt auch die Frühförderungsverordnung aus, die 2003 von Bundestag und Bundesrat beschlossen wurde (Weiß, Neuhäuser u. Sohns, 2004). Frühförderung schließt dabei nicht nur die Gruppe der Kinder mit manifesten Behinderungen (Weiß et al., 2004, S. 61) ein, sondern zunehmend Kinder mit eher unspezifischen Entwicklungsverzögerungen: vernachlässigte und missbrauchte Kinder, Kinder, die familiär mit Armut und Benachteiligung konfrontiert sind, Kinder aus hochbelasteten Elternhäusern, mit psychisch erkrankten Eltern, Kinder als Opfer häuslicher Gewalt (Sohns, 2010; Sarimski, Hintermair u. Lang, 2013; Zimmermann, 2015). Der »Kommunikationskanal«, um diese 1

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Weite Teile des Beitrages sind entnommen aus: Gingelmaier, S. (2016). Schwierige Beziehungsdynamiken mentalisieren. Sonderpädagogische Förderung heute, 61, 203–216.

Belastungen zu vermitteln, sind direkt oder indirekt die Beziehungen der Kinder zu bedeutsamen anderen. Allgemein ist ein Trend im Umgang mit psychosozialen Belastungen zur Prävention auszumachen. Die Idee ist einfach und einleuchtend: Krankheiten, Störungen, Entwicklungsverzögerungen sollen verhindert, ausglichen werden, bevor sie förder- oder behandlungsbedürftig sind: »Deshalb setzen sich in den letzten Jahren in der psychosozial orientierten Prävention Maßnahmen im frühkindlichen Alter durch, um Kinder von Beginn ihres Lebens an verstärkt zu fördern. Die Maßnahmen setzen vor allem an den Beziehungssystemen an, in denen die Kinder leben, um für sie angemessene Entwicklungsbedingungen zu schaffen« (Cierpka, 2015, S. 10). Dieser Ansatz ist sinnvoll, weil er auf die Ursachen abzielt. Gleichzeitig darf die Ebene der Intervention in diesem Zusammenhang nicht vernachlässigt werden. Stein (2014) warnt vor der Gefahr, dass die Pädagogik sich über vordergründige Techniken der Verhaltensmodifikation einer »erzieherischen Auseinandersetzung entzieht. Ohne verlässliche, belastbare, behutsam entwickelte Beziehungen vor jeder Leistungsanforderung ist Erziehung jedoch nicht möglich« (Stein, 2014, S. 241). Neben der Prävention, die oftmals als mehr oder weniger standardisiertes Programm in Erscheinung tritt, muss Frühförderung gerade bei Kindern, die auffälliges Verhalten als Spiegel ihrer inneren und äußeren Verhältnisse (Hoanzl u. Weiß, 2010) zeigen, auch auf einer interventiven Alltagsebene ansetzen. Auch Kleins (2002; 2010) Zusammenschau der wichtigsten empirischen Ergebnisse zur Frage der Wirksamkeit von Frühförderung bei psychosozialen Risiken erscheint hier besonders relevant: erstens Alltagsbedürfnisse zur Verbesserung der Lebenslagen zu befriedigen und zweitens über emotionale Zuwendung und verlässliche Interaktion Schutz und Sicherheit bei einer Bezugsperson zu bieten. Sarimski, Hintermair und Lang (2013) folgern: »Alle vorliegenden Studien zu Entwicklungsverläufen behinderter oder von Behinderung bedrohter Kinder belegen, wie die Entwicklung sozialer, kognitiver und sprachlicher Kompetenzen der Kinder mit befriedigenden familiären Beziehungen im Zusammenhang steht und ihre Integration in die Gesellschaft beeinflusst« (S. 14). Dies bedeutet, dass alle Disziplinen der Pädagogik, insbesondere aber die Frühförderung und die Frühpädagogik sich stärker damit auseinandersetzen müssen, wie sie in Kontakt mit den oftmals stark belasteten Familien kommen können und wie über den Zugang von Beziehungsarbeit förderliche Kooperation mit den Familiensystemen aufzubauen ist. Folgerichtig stellt das wichtigste familienorientierte Frühförderinstrument eine entwicklungsorientierte Erzie­ hungs­beratung dar (Bittner, 2000; Datler, Figdor u. Gstach, 2005; Hechler, 2010), Beziehungsdynamiken eines Familiensystems mentalisieren

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die aufgrund der Bedeutung von Bindungen und Beziehungen für die kindliche Entwicklung beziehungsbasiert vorgehen muss. Hierzu gibt es bereits einige Überlegungen und Konzepte aus dem benachbarten Bereich der Jugendhilfe (Ziegenhain, Fries, Bütow u. Derksen, 2006). Im Bereich der Frühförderung ist eine Systematik dessen aber bisher eher am Anfang (Gingelmaier, 2015). Im Weiteren wird ein kasuistischer Einblick in eine beziehungsbasierte Beratung auf der Bindungs- und Mentalisierungstheorie aufbauend überblicksartig geschildert und das zugrunde liegende Konzept umrissen. Methodisch handelt es sich dabei um eine Kasuistik im Sinne Kraimers (2000). Als Forschungsansatz entspricht das Vorgehen in weiten Teilen einer Einzelfallstudie (Offenheit, Kommunikativität, Naturalistizität, Interpretativität) und dient unter anderem der Plausibilisierung und Illustration quantitativer Ergebnisse (Lamnek, 2010).

1 Familienberatung im Rahmen der Frühförderung – kasuistische Einblicke 1.1  Ein Paar- und Familienkonflikt und seine Symptome2 Familie Müller lebt in einem norddeutschen Mittelzentrum. Der Vater, 43 Jahre alt, stammt von dort. Die Mutter, 40 Jahre alt, kommt aus einer benachbarten Region. Die Bewohner der beiden Gebiete pflegen seit langer Zeit lebhafte Vorurteile und Ressentiments gegeneinander. Vorstellungsgrund in der Familienberatung ist der knapp fünfjährige (4,8 Jahre) Sohn Max. Er hat eine dreijährige Schwester, Sarah. Die Mutter ist Erzieherin und arbeitet mit wenigen Stunden in einer Kinderkrippe. Der Vater ist Schreiner und als Anleiter in der Ausbildungsabteilung einer Justizvollzugsanstalt beschäftigt. Die Schlüssel- und Problemszene ist Max’ Abholsituation aus der Kindertagesstätte. Die Erzieherinnen berichten im Anamnesebogen, dass Max ein unauffälliges Kind und ein kreativer Spielkamerad sei. In der Abholsituation entstehe jedoch immer folgende Szene: Die Kinder sind zu diesem Zeitpunkt alle in einem Raum und werden dort meist von den Müttern abgeholt. Sobald Frau Müller auftaucht, gerät Max völlig außer Kontrolle. Er schlägt andere Kinder, versteckt sich und ist nicht mehr zu regulieren. Es dauert sehr lange, bis der Junge dann mit nach Hause kommt.

2 Alle personenbezogenen Daten sind anonymisiert.

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Vor allem Frau Müller beschreibt in diesem Bogen, wie sehr sie die Situation belastet. Zum einen wünsche sie sich ein Kind, das ihr beim Abholen freudig in die Arme springt. Zum anderen fühle sie sich durch die anderen Mütter äußerst kritisch beäugt. Sie wisse, dass über sie und ihren Sohn schlecht gesprochen wird. Tatsächlich kommt es zu anonymen schriftlichen Drohungen gegen die Familie. Herr Müller holt seinen Sohn selten vom Kindergarten ab. Durch eine längerfristige Krankschreibung ergibt sich aber aktuell die Möglichkeit dazu. Beim Abholen durch den Vater sind die Schwierigkeiten weniger gravierend. Sarah wird als unauffällig beschrieben. Sie wird gerade in die Kita eingewöhnt.

1.2 Der zugrunde liegende mentalisierungsbasierte Beratungsansatz Aus der Familienforschung gibt es eindeutige Befunde zur Bedeutung des emotionalen Familienklimas für die kindliche Entwicklung (Hantel-Quitmann u. Weidtmann, 2016). Beispielsweise geht aus der BELLA-Studie (Teil der KiGGSStudie) hervor, dass vor allem ein ungünstiges Familienklima sowie ein niedriger sozioökonomischer Status als Risikofaktoren bedeutsam sind. Im Gegensatz dazu gilt ein positives Familienklima als wichtiger Schutzfaktor (Ravens-­Sieberer, Wille u. Erhart, 2007). »Zwischen Familienklima, elterlicher Paarbeziehung und dem Wohlerge­ hen aller in der Familie, insbesondere dem der Kinder, besteht ein komplexer Zusammenhang […]. Um die Bedeutung der Familie verstehen zu können, muss man die Bedeutung der Partnerschaft verstanden haben, da sie die Keimzelle der Familie bildet und wesentliche Einflussfaktoren für die kindliche Entwicklung direkt und indirekt konstituiert« (Hantel-Quitmann u. Weidtmann, 2016, S. 27). Um dieses beziehungsbasierte Familienklima zu verbessern, wird ein mentalisierungsbasierter Ansatz verfolgt (Hantel-Quitmann u. Weidtmann, 2016). Die Theorie des Mentalisierens (Fonagy, Gergely, Elliot u. Target, 2004) wird dabei als Metatheorie für das Verstehen z. B. von Paar- und Familienbeziehungen gesehen. Mentalisieren kann sowohl therapeutisch (z. B. als mentalisierungsbasierte Therapie oder mentalisierungsbasierte Familientherapie) wie auch für Pädagogik und Beratung (z. B. mentalisierungsbasierte Beziehungsberatung) oder für die Psychoedukation effektiv genutzt werden. Folgende Ziele verfolgt die familienorientierte Beratung in Anlehnung an die mentalisierungsbasierte Familientherapie: Ȥ Mentalisieren im Familienkontext anregen und verbessern, Ȥ Integration von Bindungstheorie und systemischer Praxis (Familie als Bin­ dungs­­raum, Familie als System), Beziehungsdynamiken eines Familiensystems mentalisieren

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Ȥ Verbindung der äußeren Beziehungen mit der inneren Welt von Familienmitgliedern (außen und innen, systemisch und psychodynamisch), Ȥ Suche nach Bedeutungen von Verhaltens- und Interaktionsmustern (mentale Zustände bei sich und anderen in den Blick nehmen), Ȥ Fokussierung auf Emotion als Bindeglied zum Verstehen mentaler Prozesse, Ȥ besonderes Augenmerk auf der Emotionsregulation, Ȥ Verbesserung des empathischen Verständnisses der Eltern für ihre Kinder und umgekehrt (Asen u. Fonagy, 2015, S. 136). Bittner (2000) merkt zur Abgrenzung von Therapie und Beratung an, dass eines der wichtigsten Überlappungsgebiete von Therapie und Beratung neben der Sonderpädagogik die Erziehungsberatung ist. Er stellt heraus, dass sich thera­peutische und pädagogische Vorgehensweisen hier nicht klar voneinander abgrenzen lassen (Bittner, 2000, S. 15). Die hier gemeinte Form der Erziehungsberatung sieht sich aber deutlich zum Bereich psychosozialer Beratung außerhalb des Feldes von Krankenbehandlung zugeordnet, da in diesem Ansatz weder Diagnosen gestellt werden, noch Hei-

Berater

Berater-MutterBeziehung

Berater-Paar-Beziehung Frau Müller/ Mutter

Herr Müller/ Vater

Vater-SohnBeziehung

Paarbeziehung Paar-Sohn-Beziehung

Max

Sarah

Abbildung 1: Für die Beratung als relevant erachtete Beziehungen

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Gingelmaier

Selbstbeziehung/Reflexion

Selbstbeziehung/Reflexion

Berater-VaterBeziehung

Mutter-SohnBeziehung

lung oder Linderung von Pathologien das Ziel sind. Vielmehr geht es – systemisch gedacht – um die Verbesserung von Kommunikations- und Verstehensmöglichkeiten innerhalb eines Familiensystems über das Anregen von Mentalisierungsprozessen. Abbildung 1 zeigt an einem Schaubild, welche Beziehungen in den Prozess der kasuistischen Paarberatung einbezogen werden. Dies verdeutlicht die Vielschichtigkeit der Beziehungsarbeit und dass in der Fallbeschreibung nicht genannte Beziehungen, z. B. wie die zur Schwester, trotzdem eine Rolle spielen. Insgesamt umfasst die Paarberatung zehn Sitzungen à 90 Minuten. Die kasuistischen Inhalte sind v. a. der Versuch des Beraters, die Kommunikationssituationen in Verbindung mit mentalen Zuständen zu bringen. Dabei handelt es sich nicht um ein Wissen, sondern um ein offenes Angebot, welches der Berater dem Paar immer wieder anbietet, das dieses aber in der Kommunikation validierend ablehnen, korrigieren und verändern kann. 1.3  Beziehungsbasiertes Mentalisieren eines Familienkonflikts Die gesamte Beratung folgt einem interessanten Zickzackkurs. In diesem Hin und Her werden nun bestimmende Dynamiken und Veränderungen skizzenartig zusammengefasst. Schön zu sehen ist, wie die Eheleute dem Berater wechselseitig Identifizie­ rungsangebote (Reich, Massing u. Cierpka, 2007) machen. Durch das Eingehen auf diese Angebote können viele das Paar trennende Themen besser wechselseitig verstanden, also mentalisiert werden, um so Raum für die Integration in die Paarbeziehung zu schaffen. So lassen sich die Treffen in fünf aufeinander aufbauende Stufen einteilen. 1) Symptompräsentation: Kind (Vorphase I)

Max wird als Symptomträger beschrieben. Auffällig sind das offensichtliche Werben der Mutter um die Gunst des Beraters und die Wahrnehmung der feindlichen Reaktionen der anderen Mütter in der Abholsituation vom Kindergarten. Frau Müller fühlt sich gegenüber den Frauen (im Wohnort ihres Mannes) feindlich beobachtet und isoliert. Der Mutter gelingt es, mit dem Berater in Kontakt zu treten, der Vater kann/will zunächst nicht dabei sein. 2) Terminverschiebung (Vorphase II)

Die Terminverschiebung der ersten Sitzung wird als Signal dafür verstanden, dass die Mutter den Vater doch bei der Beratung dabeihaben möchte. Es könnte Beziehungsdynamiken eines Familiensystems mentalisieren

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Ausdruck dafür sein, an ihrer Familie festzuhalten und sich nicht in Fantasien (z. B. Idealisierung des Beraters) zu flüchten. Dem Berater gelingt es, dies nicht als Abwertung seiner Person zu konnotieren, sondern sich als »mentalisierendes« Werkzeug zur Entwicklung und Klärung des Paares zu begreifen. 3) Werbung und Konkurrenz (erste bis vierte Sitzung)

Die Mutter ist dem Berater aufgrund ihrer Offenheit spontan sympathischer, sie wirbt weiter um seine Gunst. Der Vater tritt dagegen vulgär auf. Der Berater vertieft jedoch sein Interesse an ihm. Die einsame Mutter sucht im Berater wohl Verstehen für den Verlust der Heimat und ihr Bedürfnis nach Unterstützung für ihre eigene Familie. Frau Müller ist ihrem Mann gegenüber sehr kritisch eingestellt, während der Treffen nörgelt sie ohne Unterlass an ihm herum. Das Gespräch geht sehr schnell weg von der symptomhaften Problematik des Sohnes in eine verstrickte, schuldzuweisende Auseinandersetzung der Eheleute. Herr Müller wertet die Heimatregion seiner Frau und damit auch sie selbst kontinuierlich ab. Er schiebt das Problem seiner Frau zu, er sei aber bereit, ihr zu helfen. Der Grund für die problematische Abholsituation sei seine Frau. Ständig müsse der Junge »lieb« sein. Die Aggressionen des Sohnes verortet er als »normal« und geschlechtstypisch. Mit dem Berater versucht er, um die »Deutungshoheit« in Konkurrenz zu gehen. Der Berater unterstützt Herrn Müller dagegen in seiner väterlichen Erziehungsfunktion. Über das gemeinsame Mentalisieren der gegenseitig aufeinander bezogenen aversiven Affekte kann der Berater sich immer mehr zurücknehmen. Die Eheleute lassen sich zunehmend auf einen reflexiven Modus ein, so können sie in einen Austausch miteinander treten. Hypothese: Hinter dem Symptomträger Max stehen ein Paarkonflikt um Aggressionshemmung und die soziale Isolationsproblematik der Mutter in der Vaterumgebung. Dadurch werden der Vater und seine vulgäre Aggression aufgewertet und gewürdigt. Der Berater muss eine allparteiliche Ambivalenzspannung zu beiden Eheleuten aufbauen und halten. 4) Schwacher Vater (fünfte bis siebte Sitzung)

Herr Müller kann sich durch das zunehmende Verstehen seiner Beweggründe mit seiner »Schattenseite«, seiner Problematik, einbringen, wodurch das Ganze vertieft wird: Er zeigt sich als schwach, mit starken Selbstwertzweifeln, jemand, der in der Herkunftsfamilie nicht ausreichend gesehen wurde, dem der Bruder überlegen ist. Seine »Männlichkeit« erscheint auch durch eine abgeklungene Essstörung fragil und in ihrer Übertriebenheit aufgesetzt. 240

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Durch die Anerkennung seiner Lebensleistung und seiner (aggressiven) Funktion in der Kleinfamilie gelingt eine Stärkung der progressiven Anteile des Vaters. 5) Mütterlichkeit und Aggression (achte bis neunte Sitzung)

Der Berater vertieft sein Verständnis gegenüber der Mutter und mutet ihr dabei zu, für sie bedeutsame Themen (z. B. Umgang mit Aggression) kritisch zu hinterfragen. Sie erfährt dadurch konkrete Unterstützung im Umgang mit dem Sohn und der fremden sozialen Umgebung. Der Berater macht Angebote zur Identifizierung, nämlich die jeweils andere Seite als berechtigte und teilweise leidvoll begründete Möglichkeit zu mentalisieren und die Ehe als Hilfe zur Integration des Fremden bzw. abgelehnten Eigenen begreifen zu lernen. 6) Zusammenführung (zehnte Sitzung)

Frau Müller kann immer besser ihre eigenen Wünsche und Gefühle artiku­ lieren, sich aber auch zu ihren heimatlichen Wurzeln und der Sehnsucht nach Beheimatung bekennen. So kann sie dem Sohn mehr Raum für seine Geschlechtsentwicklung zum Jungen und seinen aggressiven Regungen eröffnen (z. B. in der Abholsituation). Ihren Mann muss sie nicht mehr kontinuierlich zurechtweisen. Herr Müller wirkt weniger derb. Er kommt in die Lage, auch seine weiche, beschädigte Seite als Teil seiner Identität anzunehmen und nicht mehr in Reaktionsbildung »hypermännlich« auftreten zu müssen. Er kann seine Frau als Gefährtin und Mutter seiner Kinder immer besser aushalten und wertet sie nicht mehr ständig ab. Zusammenfassend findet eine Anerkennung der Lebensleistung beider statt, das Bemühen um Veränderung und die Anerkennung des Fremden im anderen und vor allem bei sich selbst. Das Paar führt weiterhin keine unkomplizierte Beziehung. Die wichtigste Ressource dieser Beziehung ist, dass beide die Beziehung wollen und ihre Kinder lieben. Sie können durch einen mentalisierenden, reflexiven Modus emotional miteinander umgehen und verringern damit verletzende Kommunikation. Die Eheleute berichten, dass sie sich mehr Zeit zu zweit nehmen würden, auch mal ins Kino gingen und dass ihre Paargespräche neue Wendungen erhielten. Frau Müller erzählt, merklich erleichtert, dass sich die Abholsituation mit Max entspannt habe. Sie sagt, mit der Realität versöhnt: »Ich werde wohl nie ein Kind haben, das mir in die Arme springt, aber es werden jetzt viele Einladungen zum Miteinanderspielen ausgesprochen.« Die Symptomatik hat sich entschärft. Max fühlt sich vielleicht vordergründig Beziehungsdynamiken eines Familiensystems mentalisieren

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in der Übergangssituation des Abholens weniger mit der Erwartung konfrontiert, »irgendwie sein zu müssen«. Durch die hintergründige Annäherung der Eltern wird die Spannung des Loyalitätskonflikts geringer. Max erhält mehr Freiraum für seine Bedürfnisse. Er muss sich nicht zwischen den konträren affektiven Bedürfnissen seiner Eltern entscheiden, vermitteln oder richten. Ein altersgemäßer Umgang mit kindlicher Aggression wird möglich, der Ventilcharakter verschwindet, weil sich in der »nadelöhrartigen« Situation weniger Druck aufbaut. Das Paar ist einmütig der Meinung, dass es für sich viel erreicht hat und dass es aktuell keinen Bedarf für weitere Gespräche sieht.

2  Fazit und Ausblick Die Bedeutung der frühen Kindheit als Weichenstellerin in ihrer notwendigen Bezogenheit zu bedeutsamen anderen ist in den Entwicklungswissenschaften unumstritten. Psychosoziale und ökonomische Belastungen formieren sich deswegen immer in und über Beziehungen und können z. B. als Bindungsmuster oder Bindungsrepräsentanzen stark in das zukünftige Sozialverhalten, die Fähigkeit zur Emotionsregulation und die Leistungsfähigkeit hineinspielen. Dabei müssten auch Überschneidungen mit dem Feld der Frühen Hilfen (Sarimski et al., 2009; Cierpka, 2015) beachtet werden, die hier keine Beachtung finden konnten. Außerdem müssen die zeitlichen und finanziellen Schwierigkeiten, die das Erlernen eines solchen Ansatzes über Zusatzausbildungen, Selbsterfahrung und dauerhafte Supervision erfordert, in die Diskussion einbezogen werden. Eine mentalisierungsbasierte Erziehungsberatung von belasteten Paaren und Familien ist aber nichtsdestotrotz – auch wie in der Kasuistik gezeigt wird – ein vielversprechender Zugang für die pädagogische Frühförderung z. B. von Kindern mit sozialen und emotionalen Belastungen, der nicht nur präventiv und manualisiert, sondern konkret am Familienalltag an der Verbesserung der Familienkommunikation über Mentalisierung ansetzt.

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die frühe Kindheit Weichen? (S. 8–34). Köln: Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Datler, W., Figdor, H., Gstach, J. (2005). Die Wiederentdeckung der Freude am Kind. Psycho­ analytisch-pädagogische Erziehungsberatung heute. Gießen: Psychosozial-Verlag. Fonagy, P., Gergely, G., Elliot, L. J., Target, M. (2004). Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst (2. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Gingelmaier, S. (2015). Überlegungen zur sonderpädagogischen Frühförderung in der Erziehungshilfepädagogik. Pädagogische Impulse, 1, 25–31. Hantel-Quitmann, W., Weidtmann, K. (2016). Familienklima, elterliche Paarbeziehung und kindliche Symptombildung – Mentalisierungsbasierte Familientherapie bei kindlichem Kopfschmerz. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 65 (1), 22–39. Hechler, O. (2010). Pädagogische Beratung. Stuttgart: Kohlhammer. Hoanzl, M., Weiß, H. (2010). Frühförderung bei Kindern mit sozialen und emotionalen Belastungen. In B. Ahrbeck, M. Willmann (Hrsg.), Pädagogik bei Verhaltensstörungen. Ein Handbuch (S. 247–257). Stuttgart: Kohlhammer. Klein, G. (2002). Frühförderung für Kinder mit psychosozialen Risiken. Stuttgart: Kohlhammer. Klein, G. (2010). Frühförderung für Kinder mit psychosozialen Risiken. In C. Leyendecker (Hrsg.), Gefährdete Kindheit. Risiken früh erkennen, Ressourcen früh fördern (S. 48–56). Stuttgart: Kohlhammer. Kraimer, K. (2000). Die Fallrekonstruktion: Sinnverstehen in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Lamnek, S. (2010). Qualitative Sozialforschung (5. Aufl.). Weinheim/Basel: Beltz. Ravens-Sieberer, U., Wille, N., Erhart, M. (2007). Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse aus der BELLA-Studie im Kinder- und Gesundheitssurvey (KIGGS). Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 50, 871–878. Reich, G., Massing, A., Cierpka, M. (2007). Praxis der psychoanalytischen Familien- und Paartherapie. Stuttgart: Kohlhammer. Sarimski, K., Hintermair, M., Lang, M. (2013). Familienorientierte Frühförderung von Kindern mit Behinderungen. München/Basel. Reinhardt. Sohns, A. (2010). Frühförderung als System. Stuttgart: Kohlhammer. Stein, R. (2014). Psychische Störungen aus sonderpädagogischer Perspektive. Sonderpädagogische Förderung heute, 59 (3), 232–244. Weiß, H., Neuhäuser, G., Sohns, A. (2004). Soziale Arbeit in der Frühförderung und Sozial­pädiatrie. München/Basel: Reinhard. Ziegenhain, U., Fries, M., Bütow. B., Derksen, B. (2006). Entwicklungspsychologische Beratung für junge Eltern: Grundlagen und Handlungskonzepte für die Jugendhilfe. Weinheim: Juventa. Zimmermann, D. (2015). Das Leiden der anderen. Beziehungstraumatisierungen und institutionelle Abwehr. In B. Herz, D. Zimmermann, M. Meyer (Hrsg.), »… und raus bist Du!« (S. 49–65). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Beziehungsdynamiken eines Familiensystems mentalisieren

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»Manchmal habe ich das Gefühl, die Kinder kommen vom Regen in die Traufe« – Mentalisierungsprozesse in der Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen Agnes Turner

In diesem Betrag werden ausgehend von einer Supervision mit einer pädagogischen Leiterin in der Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen Beziehungsdynamiken im Spannungsverhältnis von Leiten und Begleiten von pädagogisch mitarbeitenden Pflegemüttern, Kindern und Jugendlichen thematisiert. Wie kann es der Pädagogin gelingen, in emotional belastenden Situation mentalisierend zu bleiben, und welchen Beitrag kann Supervision dabei leisten? Based on a supervision with a pedagogical leader of foster families in institutional care placement of children and adolescents, the article addresses the understanding of the challenging relationship dynamics in the triangle of leading and advising the pedagogical stuff, foster mother and children. How can the pedagogue succeed in staying mentalized in an emotionally challenging situation and what contribution can supervision make?

1 Vorbemerkung Supervision in sozialpädagogischen Einrichtungen kann auf eine lange Tradition zurückgreifen und wird als fixer Bestandteil für die Professionalisierung von Erziehenden gesehen. Nach Pühl (2017) wird Supervision allgemein als ein »reflexives und prozessorientiertes Beratungsformat« verstanden, in dem »Fragen, Problemfelder, Konflikte und Fallbeispiele aus dem beruflichen Alltag thematisiert [werden]. Dabei wird die berufliche Rolle und das konkrete Handeln der Supervisanden in Beziehung gesetzt zu den Aufgabenstellungen und Strukturen der Organisation und zu der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen mit Kunden und Klienten« (Pühl, zit. nach Gingelmaier, 2018, S. 236). Wird das Men244

talisierungskonzept (Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2004; Schultz-Venrath, 2013; Taubner, 2015) dem gegenübergestellt, so kann festgehalten werden, dass Supervision und Mentalisieren in einem Näheverhältnis zueinanderstehen, wie dies bei Gingelmaier (2018) im Handbuch zur mentalisierungsbasierten Pädagogik hergeleitet wurde. In supervisorischen Prozessen wird durch Bearbeitung von konkreten Problemstellungen aus dem beruflichen Kontext sowie durch die Anleitung des Supervisors explizites Mentalisieren (Allen, 2006) gefördert. Dafür werden Arbeitsprozesse aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet, um die Psycho- und Soziodynamik der Prozesse vertieft verstehen zu lernen: Welche inneren Motive haben die am Arbeitsprozess beteiligten Akteure und welche Rolle spielt die eigene innere Welt in Kontext zu Kolleginnen, Mitarbeitern, Klientinnen und wie stehen diese zur Organisation? In diesem Beitrag wird ausgehend von einer Supervision mit einer pädagogischen Leiterin einer Jugendhilfeeinrichtung für Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen anhand von Fallmaterial das Mentalisieren von belastenden Beziehungsdynamiken illustriert. Dabei wird Schritt für Schritt auf Mentalisierungsprozesse seitens der Supervisandin eingegangen und gezeigt, wie es gelingen kann, in herausfordernden beruflichen Situationen mentalisierend zu bleiben.

2 Leiten und Begleiten in einer Jugendhilfeeinrichtung für Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen Julia T. 1 ist pädagogische Leiterin einer Organisation für Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen und begleitet Pflegefamilien sowie sozialpädagogische Wohngruppen für Kinder und Jugendliche im Alter von 0 bis 21 Jahren. Als pädagogische Leiterin ist sie – anders als die Berufsbezeichnung »pädagogisch« vermuten ließe – für eine Reihe von administrativen und organisatorischen Angelegenheiten, wie für Qualitätsstandards in der Fremdunterbringung, Personalressourcen oder budgetäre Agenden hinsichtlich der Wohngruppen und Pflegefamilien, verantwortlich. Wenngleich jene Tätigkeiten einen Großteil ihrer Arbeit in Anspruch nehmen, so empfindet Julia diesen Teil als wenig emotional belastend. Sie beschreibt sich selbst als gut strukturiert und schnell in der Umsetzung von organisatorischen Agenden. Diesbezüglich wird sie von den Pflegefamilien und den Wohngruppen als Leiterin wahrgenommen, die Probleme und Themen abnimmt und unterstützend wirkt. 1 Name und Identität wurden anonymisiert. An dieser Stelle wird der Supervisandin für das Interview und das Fallmaterial gedankt. Das Datenmaterial wurde im Rahmen einer Interviewstudie zum Thema »Im Spannungsverhältnis von Leiten, Begleiten und Beraten in der pädagogischen Leitung« (Turner, 2019) generiert. Mentalisierungsprozesse in der Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen

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Die tatsächliche pädagogische Begleitung von Familien und Wohngruppen läuft über das ganze Jahr und ist durch regelmäßige Sitzungen und Hausbesprechungen gekennzeichnet. Julia ist um einen direkten Zugang zu allen Beteiligten bemüht und möchte mit ihrem Team (ca. 15 Personen) eine intensive Arbeitsbeziehung pflegen. Julia erzählt, dass sie so viel Zeit wie möglich in den Familien verbringe, um »mit den Augen aller Beteiligten«, wie sie sagt, sehen zu können. Da Julia viele Jahre selbst in der direkten Betreuung von Kindern und Jugendlichen gearbeitet hat, ist ihr die komplexe sozialpädagogische Arbeit mit den Betroffenen bekannt und deswegen ein großes Anliegen. Dass ihr »Herz vor allem für die Kinder und Jugendlichen schlägt«, hat sie in einer der ersten Supervisionssitzungen auf einem Plakat verdeutlicht, auf dem sie die Kinder und Jugendlichen mit vielen unterschiedlichen Farben fett eingekreist hat. Somit stehen diese im Fokus ihrer Arbeit. Ihr oberstes Ziel ist, den anvertrauten Kindern ein sicheres und stabiles Zuhause zu bieten. Gerade an diesem Punkt scheint die Beziehungsdynamik mit den Pflegefamilien komplexer zu werden. Sie erwähnt, dass das neue Zuhause nicht immer ein sicherer Ort sei und dass es auch in der Fremdunterbringung zu neuen oder Retraumatisierungen gekommen sei. Emotional schwierig erlebt Julia Fragen zu Erziehungsmethoden vor allem der Pflegemütter in den Familien. Sie meint, dass diese oftmals allein verantwortlich sein wollten und ihre Probleme nur selten teilten. Es sei schwierig, den Müttern unterstützend zur Seite zu stehen, da sie ihre Überforderung oftmals nicht offen aussprächen. Gleichzeitig versteht Julia, dass sie als pädagogische Leiterin hinsichtlich der Beziehungsdynamik zwischen Pflegefamilie und Kindern als Störfaktor erlebt werden könne. Sie erklärt, dass die Beziehung zu den sozialpädagogischen Fachkräften diesbezüglich unkomplizierter sei. »Da werden E-Mails weniger emotional gelesen und mit einer professionellen Distanz bearbeitet.« Hingegen fühlen sich vor allem Pflegemütter vielfach emotional angegriffen und in ihrer Art und Weise des Mutterseins beschnitten oder kontrolliert. Die Pflegefamilien versuchen, ihr Bestes zu geben, und verstehen die Organisation teilweise als bedrohliches Gegenüber. Diesbezüglich kommt Julia in ihrer beruflichen Arbeit an persönliche Grenzen. Julia nutzt das supervisorische Setting, um gerade über solche komplexen und belastenden Situationen nachzudenken.

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3 Mentalisieren von emotional belastenden Situationen in der Fremdunterbringung – ein Fallbeispiel Julia T. ist zur Zeit des Interviews für zwei Pflegefamilien und eine Wohngruppe verantwortlich. Bis vor wenigen Monaten waren es noch vier Pflegefamilien. Eine Pflegefamilie musste Julia wegen grenzüberschreitenden Verhaltens seitens der Pflegemutter in Bezug auf die Pflegekinder schließen. Die Entscheidung fiel Julia schwer, sie konnte allerdings die Supervision dazu verwenden, über die verschiedenen Aspekte, Vor- und Nachteile für die Kinder und die Organisation nachzudenken. Julia konnte diese Situation mental und organisatorisch gut planen und hat sich dadurch in ihrer Rolle als Leiterin über weite Strecken sicher gefühlt. An ihre Grenzen hat sie allerdings folgende Situation gebracht: Eine Pflegefamilie konnte nur ein Jahr geführt werden, da Silvia2 ihrer beruflichen Tätigkeit als Pflegemutter ein abruptes Ende gesetzt und damit ihre Pflegekinder von einem Tag auf den anderen verlassen hat. Silvia war zu Beginn ihrer Tätigkeit 32 Jahre alt und hatte einen intensiven Kinderwunsch. Da sie bis zum 30. Lebensjahr keine eigenen Kinder bekam, fasste sie den Entschluss, Pflegemutter zu werden. Julia sieht den Wunsch nach Kindern als einen treibenden Motor für Silvias Tätigkeit als Pflegemutter. In der Fremdunterbringung wurden dieser vier Geschwisterkinder zur Betreuung anvertraut. Die Geschwisterkinder sind mit ihren leiblichen Eltern aus einem Kriegsgebiet geflüchtet und hofften, eine neue sichere Heimat in Europa zu finden. Die leibliche Mutter dieser Kinder leidet unter einer psychischen Erkrankung, und der Vater zeigte gewaltsames Verhalten in der Familie. Deswegen kamen die vier geflüchteten Geschwister in die Fremdunterbringung zu Silvia. Die vier Geschwisterkinder mussten von Beginn ihres Lebens an viel Verantwortung übernehmen. Der älteste Sohn (13 Jahre) hat die Rolle des Familienoberhaupts über weite Strecken übernommen. Die Zweitgeborene (elf Jahre) hat sich mütterlich um die beiden kleineren Brüder (sechs und vier Jahre) gekümmert. Julia meint, dass die vier Kinder viel Resilienz aufgebaut hätten und sehr stark zusammengewachsen seien, »sonst hätten sie es wahrscheinlich nicht überlebt«. Silvia hatte nun auf einen Schlag vier Kinder zu betreuen, die sich zudem sehr nah stehen. In der Reflexion über die Beziehungsdynamik expliziert Julia aus der Sicht von Silvia, wie schwer es für die Pflegemutter war, in die Gruppe der vier Kinder aufgenommen zu werden. Silvia hat die vier Kinder als starke Einheit gesehen und sich selbst ausgeschlossen gefühlt. Julia vertieft ihren Gedanken und versucht, das Innere von Silvia nachzuvollziehen. Sie beschreibt die Pflegemutter als enttäuscht, da ihr Wunsch nach Kindern groß war. Julia bedient sich des Bildes, 2 Name wurde anonymisiert. Mentalisierungsprozesse in der Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen

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dass Silvia die Kinder am liebsten noch mal selbst geboren hätte. Sie wollte Kinder nach ihren Vorstellungen und musste bitterlich erkennen, dass die vier Kinder ihr eigenes (schwieriges) Leben mitgebracht hatten und ihr gegenüber teilweise eine harte Front bilden konnten. Die Pflegemutter schien dabei aus ihren Bedürfnissen heraus in ihren eigenen Gefühlen gefangen zu sein und konnte nur unzureichend die Perspektive der Kinder übernehmen. Gleichzeitig war die Pflegemutter über das ganze Jahr stets bemüht, Nähe zu den Kindern aufzubauen, indem sie ihnen »Küsschen« auf den Mund gab und versprach, immer für sie da sein zu wollen. Parallel dazu berichtet Julia von Szenen, in denen die Pflegemutter schreiend und weinend vor den Kindern stand und demütigende Worte ihnen gegenüber wählte. Silvia zeigt starke Ambivalenz gegenüber den Kindern und ihrer Tätigkeit als Pflegemutter. Julia erklärt sich den mentalen Zustand der Pflegemutter, dass diese wiederholt an ihre persönlichen Grenzen kam und enttäuscht war, da die Kinder nicht ihren imaginären Wunschvorstellungen entsprachen und damit nicht ihre Bedürfnisse erfüllen konnten. Sie schien eher eine romantisch-idealisierende Vorstellung vom Leben einer (Pflege-)Mutter gehabt zu haben. Parallel dazu wollte Silvia sich keine Blöße geben und eingestehen, dass sie mit der Situation durchaus überfordert war. Wiederholt suchte Julia das Gespräch, um ihr emotionalen Halt in der schwierigen Situation zu geben. Julia ergänzt, dass die Pflegemutter Gesprächen oft auswich und sie schwer Zugang zur emotionalen Welt von Silvia bekam. Die Pflegemutter war stets darauf bedacht, eine ideale Mutter zu sein, und wollte vieles allein schaffen. Ihr Haus kann als Spiegel der Überforderung verstanden werden, so Julia. So gab es zwar eine Menge an Gegenständen, aber vieles blieb in Kisten verpackt und kam nicht zum Vorschein. So als ob Silvia zwar viel anbieten wollte, aber keine Chance sah, ihre »Schätze« mit den Kindern zu teilen und sich schon seit Längerem auf das »Abhauen« innerlich vorbereitet hätte. Schließlich eskalierte die Situation: Nach nur einem Jahr sprach die Pflegemutter, bevor die Kinder in die Schule bzw. Kindergarten an jenem Morgen gingen, ihre Kündigung aus, und im selben Moment verließ sie die Kinder. Sie blieb keinen Tag länger bei den Kindern und stand ihnen auch nicht für Erklärungen zur Verfügung. In ihrem Abschlussgespräch mit der pädagogischen Leiterin sagte Silvia enttäuscht, dass »diese Kinder weder in einer Familie noch in einer anderen Form tragbar sind und außerdem würden die Kinder keine Mutter mehr brauchen«. In diesem Gespräch verteidigt die Pflegemutter ihren abrupten Abgang, indem sie vorgibt, dass die Kinder sie bestohlen und belogen hätten. Julia kommentiert dies als einen Akt der Verzweiflung und sieht in dem Verhalten der Pflegemutter die Abwehr ihrer zunehmend als Versagen empfundenen Interaktion mit den Kindern. Sie meint, Silvia möchte ihr Gesicht wahren, um den Schmerz, den Kindern nicht gewachsen zu sein, nicht mehr spüren zu müssen. Man kann es so sehen, dass sie 248

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selbst wieder zum Kind wird und zu ihren Eltern, bei denen sie vermutlich Schutz und Zuflucht sucht, flüchtet. Wenngleich es nicht dem Verhalten einer erwachsenen Frau entspricht, die zudem eine Ausbildung als Kindergartenhelferin hat, sehnt sich Silvia nach einem sicheren Hafen (Feeney u. Collins, 2004), den sie bei ihren Eltern zu finden hofft. Silvia scheint ihre Fähigkeit, einfühlsam gegenüber den Kindern zu sein, in diesem Prozess verloren zu haben und erlebt die vier Kinder zunehmend als bedrohliche Objekte, die ihr jeglichen Raum zum Mentalisieren rauben. Ausgehend vom Mentalisierungskonzept war die Pflegemutter hier nicht in der Lage, die innere Welt der Kinder als auch ihre eigene zu mentalisieren, um deren sozial-emotionalen Zustand zu betrachten. Da die Mentalisierungsfähigkeit durchaus störungsanfällig ist, kann es dazu kommen, dass Personen durch ein subjektives Übermaß an Disstress in prämentalisierende Modi zurückfallen (Gingelmaier u. Ramberg, 2018). Wäre die Pflegemutter in der Lage gewesen, ihren mentalen Zustand und den der Kinder reflexiv zu betrachten, hätte sie eventuell mithilfe einer außenstehenden Person wohl eine andere Reaktion gezeigt. Schließlich handelt es sich beim Mentalisieren in pädagogischen Feldern um eine professionelle Beziehungsgestaltung der Erziehenden, die zum Ziel hat, die Stärken, Ressourcen und Entwicklungsbedürfnisse der jungen Menschen zu unterstützen. Im Fall von Silvia scheinen allerdings nicht nur situative Einbrüche der Mentalisierungsfähigkeit vorzuliegen, vielmehr erkennt Julia in der Supervision, dass die von ihr eingestellte Pflegemutter erhebliche Defizite für eine pädagogische Tätigkeit hat. Der pädagogischen Leiterin gelingt es, die unterschiedlichen Perspektiven und inneren Motive der Beteiligten möglichst nachzuvollziehen. Insofern kann festgehalten werden, dass Julia hier im reflexiven Modus mentalisiert und die Fähigkeit hat, mentale Beweggründe des eigenen Verhaltens sowie die mentalen Zustände anderer zu interpretieren und darauf möglichst adäquat zu reagieren. Wenngleich Julia die Vorkommnisse kritisch sieht, so betont sie, dass Silvia über das Jahr gesehen auch Gutes für die Kinder geleistet habe und eine Reihe ihrer Anteile schätze. Julia ist trotz Enttäuschung in der Lage, die positiven Anteile von Silvia wertzuschätzen. Mit Blick auf die innere Welt der vier Geschwister kommentiert Julia, dass sie »manchmal das Gefühl habe, dass die Kinder aus dem Regen in die Traufe kommen. Die Kinder brauchen stabile Rahmenbedingungen, stabile Bezugspersonen, einen sicheren Raum und sie sind in der Fremdunterbringung, um nachgenäht zu werden.« Es geht ihr nicht darum, dass die Kinder und Jugendlichen keine Konflikte erleben dürfen, vielmehr betont sie die Notwendigkeit einer professionellen Begleitung. In einem supervisorischen Gespräch reflektiert sie die Vorkommnisse in der Pflegefamilie. Sie hält fest, dass die vier Geschwisterkinder aufgrund ihrer Erfahrungen eine starke Bindung zueinander haben und es daher der Pflegemutter Mentalisierungsprozesse in der Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen

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erschwert wurde, Kontakt aufzubauen. Gleichzeitig versteht sie dies als Abwehrmechanismus der Kinder. Aus Julias Sicht handelt es sich um eine Art Wiederholung der Beziehungsdynamiken der vier Kinder in ihrer Ursprungsfamilie. Die älteren Kinder übernahmen bereits bei ihren leiblichen Eltern die Rolle der Erwachsenen und kompensierten aufgrund der psychischen Erkrankung der Mutter für die jüngeren Kinder vieles, wie das Anziehen, Waschen, Schlafenlegen der jüngeren Geschwister. Julia vermutet in der Reflexion über die Situation, dass die Kinder bei Silvia eine gewisse emotionale Instabilität wahrgenommen haben. Julia denkt in der Supervision darüber nach, inwiefern die Kinder auf ihre tief verinnerlichten Verhaltensmuster zurückgeworfen wurden. Sie beschreibt diese Dynamik als Übertragungsphänomen (Freud, 1912/1999), in dem die Kinder ihren Schmerz und ihre Bedürftigkeit auf die Pflegemutter übertragen haben könnten. Parallel wird in der Supervision nachgedacht, inwiefern die Kinder durch die Übernahme nicht kindgerechter Kontrolle ein Gefühl der Sicherheit erlebt haben mögen. Insofern scheint sich die Situation verkehrt zu haben. Anstatt als hilfreicher Container (Turner, 2016) zu Verfügung zu stehen, wird Silvia von den Bedürfnissen der Kinder und ihren eigenen unerfüllten Bedürfnissen überwältigt und kann den Kindern nicht den nötigen Halt bieten. Julia erzählt weiter, dass die Kinder und auch die leibliche Mutter nach der abrupten Kündigung fassungslos waren und viel geweint hätten. Das ältere Mädchen der vier Kinder konfrontierte Julia am Tag nach der Kündigung mit den Worten: »Was ist mit der Silvia los? Sie hat gesagt, sie bleibt immer bei uns, und jetzt zieht sie zu ihren Eltern? Was ist mit ihr?« Dies scheint jedoch keine Frage im Sinne der Mentalisierungstheorie zu sein, sondern vielmehr kommt die Verletzung des Mädchens an die Oberfläche. Julia interpretiert die Reaktion durch den Supervisionsprozess als Abwehr, da ihrer Meinung nach das Kind »verführt« war, in die Rolle der Fürsorgenden zu schlüpfen, und meinte, man müsse sich nun um die Pflegemutter kümmern. Die Aktivierung von bekannten Abwehrmechanismen kann als ein Teil von Retraumatisierung verstanden werden. Im nächsten Moment brach das Mädchen in Tränen aus. Julia nahm sie in den Arm und symbolisierte ihr Sicherheit und das Gefühl, sich fallen lassen zu dürfen. Zweifelsohne war der überstürzte Abgang ihrer Pflegemutter äußerst bedrohlich. Besonders verletzend scheint die Fantasie, dass die Pflegemutter den Schutz und die Liebe ihrer leiblichen Eltern bekommt und dort einen sicheren Hafen hat. Nun versucht Julia, einen sicheren Hafen anzubieten, indem sie die Sorgen des Mädchens jedenfalls für den Moment lindert. Julia versucht, die inneren Motive des Mädchens zu verstehen, diese behutsam zu verbalisieren und durch emotionalen Halt zu entschärfen. Die Frage, wie das Vertrauen der Kinder nach dem Vorfall wieder gestärkt werden kann, beschäftigt Julia sehr. Sie fragt sich konkret, wie es bei Kindern mit 250

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Fluchterfahrung gelingen kann, Vertrauen in die Institutionen der Fremdunterbringung (wieder) aufzubauen. In diesem Kontext spielt epistemisches Vertrauen eine Rolle. Epistemisches Vertrauen wird als ein »Prozess der Informations- und Wissensvermittlung« verstanden, der durch ausreichendes Vertrauen in »die Authentizität und wohlmeinende Relevanz der primären Bezugsfiguren« geprägt ist (Nolte, 2018, S. 158). Dadurch steigt die Aufmerksamkeit und Aufnahmewahrscheinlichkeit gegenüber nachfolgend vermittelten Informationen. In der Beziehung zwischen Bezugsperson und Kind entsteht epistemisches Vertrauen, indem die Bezugsperson sich wiederholt als ein verlässlicher, vertrauenswürdiger Sender von Wissen und Informationen anbietet und somit eine Vielzahl an positiven Erfahrungen vermittelt. Im vorliegenden Fallbeispiel kam es zu einem enormen Vertrauensbruch, den es nun von anderen Personen in der Fremdunterbringung zu kompensieren gilt. Es braucht vermutlich und von nun an eine Reihe an lang anhaltenden, vertrauenswürdigen Erfahrungen, um diese neuerlichen Erfahrungen zu bewältigen. Dank eines guten psychotherapeutischen und sozialpädagogischen Netzwerkes sowie der Dolmetscherin für die leibliche Mutter und der Schule konnte Julia schnell reagieren. Konkret war es der pädagogischen Leiterin wichtig, an Ritualen und der Konti­ nuität der Räumlichkeiten festzuhalten. Das heißt, die Kinder konnten in dem von der Organisation zur Verfügung gestellten Haus bleiben und neue Bezugspersonen zogen bei ihnen ein. Zusätzlich zu psychotherapeutischer Begleitung ist es ihr wichtig, dass das ganze Bezugssystem über den Vorfall informiert ist und an einem Strang zieht. Sie war bemüht, mentalisierende Pädagoginnen für die Kinder zu finden. Julia bietet sich auch selbst als Konstante an und sichert ihnen darüber Verlässlichkeit in der Situation zu. Im Moment kann sie für die Kinder da sein, aber was in ein paar Wochen oder Monaten passiert, kann sie vor allem sich selbst nicht garantieren. Daraufhin erwähnt sie in der Supervision, dass es in Schwebe sei, ob der Familie eventuell ein Ausweisungsverfahren drohe. Julia nimmt sich Zeit, in der Supervision über das Thema Angst nachzudenken. Sie versteht, dass die Kinder möglichst viel Sicherheit und Halt im Hier und Jetzt brauchen. Sie versteht auch, dass es sich hier um einen Prozess handelt, der womöglich von Rückschlägen gekennzeichnet sein wird und in dem sie den Kindern die Angst nicht völlig nehmen kann. Die Angst vor einer Abschiebung äußert sich bei den Kindern beispielsweise in der Ablehnung ihrer Muttersprache, sie wollen diese weder sprechen bzw. lernen. Die pädagogische Leiterin interpretiert dies als zu großen inneren Schmerz: Die Kinder wollen den Gedanken, wieder in ein Land, in dem Krieg herrscht, zurückkehren zu müssen, gar nicht aufkommen lassen bzw. spüren. Gleichzeitig kann es auch auf die Enttäuschung und das Gefühl des Verlassenseins seitens der leiblichen Eltern hinweisen. In der Supervision wurde vor allem die innere Welt der Beteiligten zu verstehen versucht. Julia erlebt sich in der Supervision gut gehalten und mentalisiert. Mentalisierungsprozesse in der Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen

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Dieser Umstand ermöglicht ihr, zur Ruhe zu kommen und sowohl über die nächsten organisatorischen Schritte als auch über die Gestaltung von Beziehungsangeboten für die Kinder nachzudenken und diese zu planen. Wenngleich die Situation der vier Geschwisterkinder nach wie vor prekär scheint, so freut sich Julia über jeden Tag, an dem die vier möglichst viel Glück und Freude erleben können. Sie hofft, dass die schwierigste Zeit für die Kinder hinter ihnen liegt. Jetzt wohnen sie in den gleichen Räumlichkeiten in einer Wohngruppe mit einem sozialpädagogischen Team, mit dem sie nun neue und vertrauensbildende Erfahrungen sammeln können. Die Struktur mit dem neuen Team hat sich geändert. Es gibt eine klare Arbeitsstruktur mit einem größeren Betreuungsschlüssel von Professionellen, die zudem in engmaschigem Kontakt zu Therapierenden stehen. Julia sagt abschließend, dass mit dem sozialpädagogischen Team mehr Farbe ins Haus gekommen sei. Die Kinder haben einen gut strukturierten Alltag, sie gehen in die Schule bzw. den Kindergarten, und jedes der Kinder macht auf seine Art und Weise Fortschritte. Das neue Team gibt viel Hoffnung sowohl auf der Seite der päda­ gogischen Leiterin als auch bei den vier Geschwistern und deren leiblicher Mutter. Das Beispiel hat gezeigt, inwiefern Julia zwischen den anstehenden organisatorischen Fragen und dem nötigen emotionalen Halt für die Kinder in Krisensituationen hin- und hergerissen ist. Sie ergänzt abschließend, dass sie darüber viel nachgedacht, viel gelitten hat und parallel ständig mit Organisatorischem beschäftigt war. Das Organisieren eines neuen Zuhauses für die vier Kinder hat viel Kraft gekostet und verdeutlicht ihr einmal mehr das Spannungsverhältnis von Leiten und Begleiten. Einerseits muss Julia rasch auf der organisatorischen Ebene agieren, und gleichzeitig will sie für die Kinder emotional da sein und in gutem Kontakt mit ihnen stehen. Sie hat sich bewusst dafür entschieden, sich viel Zeit für die vier Kinder zu nehmen, um als Katalysator und Container für deren bedrohliche innere Spannungen zu fungieren. Sie sagt, dass es ihr in dieser Situation besonders wichtig war »durch die verschiedenen Augen der Beteiligten zu blicken und gleichzeitig auch durch ihre eigenen Augen« – all das habe sie versucht zusammenzutragen. Im supervisorischen Setting kann durch das Nachempfinden bzw. Nachzeichnen der verschiedenen Sequenzen des Prozesses auf die unterschiedlichen emotionalen Zustände der beteiligten Personen eingegangen werden. Julia konnte Schritt für Schritt in einem geschützten Rahmen, in dem sie anders als im Alltag keine organisatorischen Aufgaben rasch bearbeiten musste, in Ruhe und mit gezielten Nachfragen der Supervisorin über den Prozess retrospektiv nachdenken.

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3 Schlussbemerkung Julia fühlt sich in ihrer Arbeit gefordert und setzt sich zudem persönlich hohe Ziele. Auch wenn sie sich streckenweise für die Arbeit in gewissem Sinne aufopfert, versucht sie bewusst, auf eine gesunde Eigenfürsorge zu achten. Den für sie richtigen Umgang mit Stresssituationen hat sie noch nicht gefunden, aber sie arbeitet daran. Es hilft ihr, bewusst einen inneren Raum herzustellen, in dem sie die Dinge des Tages nochmals Revue passieren lassen kann, wie beispielsweise im Auto allein zu sein und dort über Arbeitsprozesse nachzudenken. Dies erlebt sie vorerst als hilfreich. Doch dann braucht sie ein Gegenüber, das zuhört und Raum für Nachdenken gibt, ohne dabei sofort Fragen zu stellen oder Antworten zu bieten. Die Supervision symbolisiert für Julia einen sicheren Hafen (Collins u. ­Feeney, 2000), denn hier, so sagt sie, muss sie nicht performen, sondern kann sich in Ruhe die Dinge von unterschiedlichen Seiten anschauen und ohne Druck überlegen. Es entsteht dadurch ein neuer Raum, um über ihr berufliches Handeln nachzudenken und die beruflichen Beziehungen besser verstehen zu lernen. Sie freut sich über den Perspektivenwechsel in der Supervision und meint, sich diesbezüglich schon einiges für ihr berufliches Handeln mitgenommen zu haben. Konkret für ihre Rolle als pädagogische Leiterin genießt sie den Umstand, in der Supervision nicht als die Wissende fungieren zu müssen. Sie kann sich hier fallen lassen, so wie sich die Kinder bei ihr fallen lassen können. Julia bringt viel Kompetenz zum Perspektivenwechsel und eine hohe Refle­ xionsfähigkeit in die Supervision mit. Sie scheint eine Person zu sein, die im Allgemeinen ein stabiles Vertrauen in sich und ihre Umwelt hat. Das kann sie auch in der Beziehungsdynamik in ihrer Arbeit zur Anwendung bringen. Die Supervisandin kann ihre Kompetenzen gut nutzen und gepaart mit dem Geschick eines Supervisors gewinnbringend für das Mentalisieren der beruflichen Situation einsetzen. In der Analyse konnte gezeigt werden, inwiefern die unterschiedlichen Per­ spektiven sowie die inneren Welten der Akteurinnen mentalisiert werden konnten, um sie mit dem beruflichen Handeln abzustimmen. Julia erwähnt einmal mehr, dass sie »mit vielen Augen sehen« muss, um die komplexen Dynamiken in ihrer Arbeit zu verstehen. Dabei versucht sie stets, bei sich zu bleiben und genügend Vertrauen aufzubringen, da sie als Leiterin nicht alle Situationen planen noch kontrollieren kann. Julia erläutert dies, indem sie versucht »darauf zu vertrauen, dass alle Kinder groß werden«, wenngleich sie »in Regenphasen« für ihr Team und vor allem für die Kinder und Jugendlichen emotional verfügbar ist und mit Organisationstalent zur Seite steht. Es muss nicht perfekt sein, Mentalisierungsprozesse in der Fremdunterbringung von Kindern und Jugendlichen

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aber im Sinne von Winnicotts (1965) »good enough« braucht es Personen, die ein einfühlendes Herz und wachsames Auge haben, um in kritischen »Regenphasen« überlegt – mentalisierend – zu handeln.

Literatur Allen, J. G. (2006). Mentalisieren in der Praxis. In J. G. Allen, P. Fonagy (Hrsg.), Mentalisierungs­ gestützte Therapie. Das MBT-Handbuch – Konzepte und Praxis (S. 23–61). Stuttgart: Klett-Cotta. Collins, W. A., Feeney, B. C. (2000). A safe haven: An attachment theory perspective on support-seeking and caregiving in intimate relationships. Journal of Personality and Social Psychology, 78, 1053–1073. Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E., Target, M. (2004). Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta. Feeney, B. C., Collins, N. L. (2004). Interpersonal safe haven and secure base caregiving processes in adulthood. In W. S. Rholes, J. A. Simpson (Eds.), Adult attachment: Theory, research, and clinical implications (pp. 300–338). New York: Guilford Publications. Freud, S. (1912/1999). Zur Dynamik der Übertragung. GW VIII (S. 364–374). Frankfurt a. M.: Fischer. Gingelmaier, S. (2018). Die Bedeutung des Mentalisierens für das Beratungsformat Supervision am Beispiel von Schulen. In S. Gingelmaier, S. Taubner, A. Ramberg (Hrsg.), Handbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik (S. 235–240) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Gingelmaier, S., Ramberg, A. (2018). Reflexion als Reaktion. Die grundlegende Bedeutung des Mentalisierens für die Pädagogik. In S. Gingelmaier, S. Taubner, A. Ramberg (Hrsg.), Handbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik (S. 89–106) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Klein, M. (1952). Gesammelte Schriften III. Stuttgart: Friedrich Fromm. Pühl, H. (2017). Das aktuelle Handbuch der Supervision: Grundlagen – Praxis – Perspektiven. Gießen: Psychosozial-Verlag. Nolte, T. (2018). Epistemisches Vertrauen und Lernen. In S. Gingelmaier, S. Taubner, A. Ramberg (Hrsg.), Handbuch mentalisierungsbasierte Pädagogik (S. 157–172). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schultz-Venrath, U. (2013). Lehrbuch Mentalisieren – Psychotherapien wirksam gestalten. Stuttgart: Klett-Cotta. Taubner, S. (2015). Konzept Mentalisieren. Eine Einführung in Forschung und Praxis. Gießen: Psychosozial-Verlag. Turner, A. (2016). Alex außer Rand und Band. Zum Erleben grenzverletzender Interaktionen in einer Kindergartengruppe und deren Auswirkungen auf den mentalen Raum der Pädagogin. In R. Rauh, T. Kreuzer (Hrsg.), Grenzen und Grenzverletzungen in Bildung und Erziehung (S. 113–124). Leverkusen: Barbara Budrich. Turner, A. (2019). Im Spannungsverhältnis von Leiten, Begleiten und Beraten in der pädagogischen Leitung. Klagenfurt: Institut für Unterrichts- und Schulentwicklung. Unveröffentlichtes Manuskript. Winnicott, D. (1965). Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. München: Kindler.

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Die Autorinnen und Autoren

Lorena Asseburg, Dr. phil., Diplom-Psychologin, ist psychologische Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin in eigener Praxis, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitseinheit Pädagogik bei erschwertem Lernen und auffälligem Verhalten in Landau sowie am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main. Sie war Doktorandin der Universität Kassel im Fachbereich Humanwissenschaften und befasst sich in ihrer Forschungsarbeit mit dem Schwerpunkt der Mentalisierungsfähigkeit und Mentalisierungsförderung von pädagogischem Fachpersonal. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Mentalisierungsforschung, Bindungsforschung, Präventionsforschung und Therapiewirksamkeit. Noëlle Behringer studierte M. A. Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Darmstadt, ist staatlich anerkannte Sozialpädagogin und in Ausbildung zur tiefenpsychologisch fundierten Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Im Rahmen ihrer Promotion an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg beforscht sie anhand eines Praxisprojekts Mentalisierungsprozesse bei Fachkräften der Heimerziehung. Sie ist Vertreterin der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg im Erasmus+­-Projekt CurrMentEd (Curriculum Mentalisierungstraining für pädagogische Fachkräfte). Zu ihren fachlichen Schwerpunkten gehören psychoanalytische Pädagogik und mentalisierungsbasierte Pädagogik, Kinder- und Jugendhilfe sowie psychische Gesundheit und Krankheit bei jungen Menschen. Andrea Dlugosch, Prof. Dr. phil., studierte Heil- und Sonderpädagogik für das Lehramt an Sonderschulen mit den Fachrichtungen Pädagogik bei Lernbeeinträchtigung und Pädagogik bei Verhaltensstörungen sowie Diplom-­Pädagogik mit dem Schwerpunkt sonderpädagogische Einrichtungen an der Goethe-­ Universität Frankfurt am Main und promovierte 2002. Seit 2012/13 ist sie Professorin für Sonder- und Inklusionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich in Linz, seit 2013 Professorin für Pädagogik bei erschwertem Lernen und auffälligem Verhalten in Landau. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Biografie als Leitkategorie für Bildungsprozesse, Professionalisierungsforschung, Inklusion als Mehrebenenkonstellation, Beratung, Adaptive Mentalization-based 255

Integrative Treatment (AMBIT) und soziale Netzwerkanalyse (SNA; SNAMBIT). Sie ist Mitglied des Erasmus+-Projekts CurrMentEd. Manfred Gerspach, Prof. Dr., Diplom-Pädagoge, lehrte bis 2014 Behindertenund Heilpädagogik am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt. Er lehrt heute als Seniorprofessor am Institut für Sonderpädagogik der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Stefanie Gingelmaier, Ergotherapeutin und Grundschullehrerin, arbeitet an einer Grundschule. Stephan Gingelmaier, JProf. Dr. sc. hum., M. Sc. Psych., Diplom-Pädagoge, Sonderschullehrer, ist, nach achtjähriger Tätigkeit an verschiedenen Förderschulen, seit 2015 Juniorprofessor für Psychologie und Diagnostik im Förderschwerpunkt soziale und emotionale Entwicklung an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Er verfügt über abgeschlossene Ausbildungen in Paar- und Familientherapie (BvPPF), Gruppenanalyse und Supervision (D3G) sowie mentalisierungsbasierter Therapie (Anna Freud National Centre for Children and Families, London). Er war 2017–2020 Sprecher des DFG-Netzwerkes MentEd (mentalisierungsbasierte Pädagogik, mented.de) und ist nun Mitglied des Erasmus+-Projekts CurrMentEd. Melanie Henter, Diplom-Pädagogin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitseinheit Pädagogik bei erschwertem Lernen und auffälligem Verhalten an der Universität Koblenz-Landau, Institut für Sonderpädagogik. Ihre Arbeitsund Forschungsschwerpunkte sind mentalisierungsbasierte Pädagogik, Lernprozesse im Kontext von Traumatisierung, Migration und Flucht bei Kindern und Jugendlichen. Sie ist Mitglied des Erasmus+-Projekts CurrMentEd. Annika Junker ist als Diplom-Sozialpädagogin/-arbeiterin, Trauma-Fach­ beraterin sowie Mitarbeiterin in einer Mutter-Kind-Einrichtung tätig. Holger Kirsch, Prof. Dr. med., Arzt für psychosomatische Medizin, Psychoanalytiker und Lehranalytiker (DGPT, DGIP), ist in eigener Praxis und als Professor am Fachbereich Sozialarbeit/Sozialpädagogik an der Evangelischen Hochschule Darmstadt tätig. Er war Gastprofessor am Arbeitsbereich Psychoanalytische Pädagogik des Instituts für Bildungswissenschaft der Universität Wien (Sommer 2017) und Koordinator des Erasmus+-Projekts CurrMentEd.

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Die Autorinnen und Autoren

Elena Johanna Koch ist Doktorandin an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg und derzeit im Vorbereitungsdienst für das Lehramt Sonderpädagogik mit den Förderschwerpunkten soziale und emotionale Entwicklung sowie geistige Entwicklung. Sie ist Mitglied im Erasmus+­-Projekt ­CurrMentEd (Curriculum Mentalisierungstraining für pädagogische Fachkräfte). Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich mentalisierungsbasierte Pädagogik und psychische Gesundheitsförderung junger Menschen. Tillmann F. Kreuzer, Dr. paed., Diplom-Pädagoge, Mag., ist akademischer Rat an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg am Institut für Erziehungswissenschaft in der Abteilung Allgemeine Pädagogik mit dem Schwerpunkt Psychoanalytische Pädagogik. Zudem arbeitet er als analytischer und tiefenpsychologisch fundierter Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in freier Praxis. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Kindheit, Jugend, Familie, psychoanalytische Pädagogik, Psychoanalyse und Literatur sowie mentalisierungsbasierte Pädagogik. Er ist DFG- sowie Erasmus+-gefördertes Mitglied im Netzwerk MentEd und im Nachfolgeprojekt CurrMentEd sowie Mit-Herausgeber der Zeitschrift »Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie – Zeitschrift für Psychoanalyse und Tiefenpsychologie«. Anke Lowin, Diplom-Pädagogin, ist als pädagogische Fachberatung für die Kitas der Elbkinder gGmbH in Hamburg tätig. Sie beschäftigt sich mit mentalisierungsbasierter Pädagogik insbesondere im Rahmen von Eingewöhnungsprozessen in die Kita und bietet Fortbildungen zum Thema Mentalisieren in der Frühpädagogik an. Tobias Nolte, MD, MSc, Arzt und Psychoanalytiker (IPA), ist als ­Clinical Research Associate am University College London tätig sowie als Senior ­Researcher am Anna Freud National Centre for Children and Families und lehrt dort den ­Reflective-Functioning-Kurs. Klinisch arbeitet er bei der Camden Psychotherapy Unit, als Psychoanalytiker in eigener Praxis sowie in mentalisierungsbasierter Therapie mit Patienten mit Borderline-Persönlichkeits­ störungen am St. Ann’s Hospital. Seine Forschungsschwerpunkte sind klinische Bindungs- und Mentalisierungsforschung, Persönlichkeitsstörungen, entwicklungspsychologische Aspekte zur Entstehung von epistemischem Vertrauen und den zugrunde liegenden neuronalen Prozessen. Er ist Mitglied des Erasmus+-Projekts CurrMentEd.

Die Autorinnen und Autoren

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Günther Opp, Dr., ist Professor em. für Erziehungswissenschaften an der Universität Halle-Wittenberg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit Gefühls- und Verhaltensstörungen, Resilienzforschung und Resilienzpraxis (positive Peerkultur). Axel Ramberg, M. A., Förderschullehrer und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, ist hauptberuflich Berater am Förderzentrum auf der Bult für den Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung. Daneben ist er als approbierter Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut (TfP) in einer Praxis in Hannover tätig sowie Lehrbeauftragter an der Universität Hannover (Institut für Sonderpädagogik) und Dozent am Winnicott-Institut. Josephin Louisa Scholz studierte Kindheitspädagogik (B. A.) und Soziale Arbeit (M. A.) an der Evangelischen Hochschule Darmstadt und befindet sich in Ausbildung zur tiefenpsychologisch fundierten Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin an der Wiesbadener Akademie für Psychotherapie. Nicola-Hans Schwarzer, Dr. phil., M. A., studierte Sonderpädagogik (Lehramt) und empirische Bildungsforschung. Er ist Lehramtsanwärter (Sonderpädagogik) in der zweiten Phase am Seminar für Ausbildung und Fortbildung der Lehrkräfte Stuttgart. Er ist Mitglied des Erasmus+-Projekts CurrMentEd. Agnes Turner, Assoc. Prof.in Mag.a Dr.in, ist Professorin für Pädagogik, stellvertretende Institutsvorständin am Institut für Unterrichts- und Schulentwicklung/ Universität Klagenfurt, Supervisorin (ÖVS) und Vorstandsmitglied der ANSE. Sie forscht zu emotionalen Prozessen beim Lernen und Lehren, Schüler-LehrerInteraktionen, Entwicklung von psychodynamisch-reflexiven Kompetenzen und ist Mitglied des Erasmus+-Projekts CurrMentEd. Lisa Weichel, Förderschullehrkraft, ist Lehrerin an einer Schule mit dem Förderschwerpunkt Lernen in Hessen, daneben ist sie beim regionalen Beratungs- und Förderzentrum tätig und arbeitet im Zuge dessen im Rahmen der inklusiven Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf in den Bereichen Lernen, emotional-soziale Entwicklung und Sprache an einer Grundschule. Christiane Wiggeshoff, Diplom-Sozialpädagogin, hat die Einrichtungsleitung einer vollstationären Mutter-Kind-Einrichtung gemäß § 19 SGB VIII mit insgesamt 44 Plätzen inne, die auf Hochrisikodyaden spezialisiert ist.

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Die Autorinnen und Autoren

Jochen Willerscheidt, Sonderschullehrer i. R., individualpsychologischer Berater (DGIP), Psychoanalytiker im Fachbereich Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (DGIP), ist Supervisor und Dozent am Alfred-Adler-­Institut Aachen-Köln und akkreditierter Supervisor und Selbsterfahrungsleiter der Psychotherapeutenkammer NRW. Als Mitglied der Arbeitsgemeinschaft körperorientierter Psychoanalyse/Psychotherapie und des Steißlinger Kreises publi­ zierte er mehrfach im Fachbereich der psychodynamischen Körperpsychotherapie.

Die Autorinnen und Autoren

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