Pragmatik der Literaturinterpretation: Theoretische Grundlagen - kritische Analysen 9783110924732, 9783484220669

The study develops a set of instruments for the analysis and criticism of literary interpretations and applies it to int

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German Pages 290 [292] Year 2005

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Sprechhandlungen der Literaturinterpretation
1.1. Propositionale Interpretationshandlungen
1.2. Illokutionäre Interpretationshandlungen
1.3. Handlungsbedingungen der Interpretation
1.4. Interpretationskritik. Erläuterungen zu ihrer Geltungsbasis
2. Untersuchung literaturwissenschaftlicher Interpretationen: Zur Allegorese der Wahlverwandtschaften
2.1. Transzendenter Sinn: W. Benjamins Theologie der Erlösung
2.2. Verborgener Sinn: Β. Buschendorfs Ikonographie des „Mythischen“
2.3. Negierter Sinn: J. H. Millers Dekonstruktion der Gleichnisrede
2.4. Andere typische Interpretationsmodi
2.5. Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
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Pragmatik der Literaturinterpretation: Theoretische Grundlagen - kritische Analysen
 9783110924732, 9783484220669

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Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Wolfgang Braungart, Peter Eisenberg und Helmuth Kiesel

Thomas Zabka

Pragmatik der Literaturinterpretation Theoretische Grundlagen kritische Analysen

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2005

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme ISBN 3-484-22066-X

ISSN 0344-6735

© M a x Niemeyer Verlag, Tübingen 2005 Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag G m b H , München http://www. niemeyer. de D a s Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: L a u p p & Göbel G m b H , Nehren Einband: Nadele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1

Fragen, Kategorien und Schritte der Untersuchung

1

Terminologische Vorklärungen

9

1 Sprechhandlungen der Literaturinterprertation 1.1 Propositionale Interpretationshandlungen

23 23

1.1.1 Erstbedeutungen (1) Inhalte (2) Strukturen

25 26 28

1.1.2 Zweitbedeutungen (1) Inhalte (2) Strukturen

33 34 36

1.1.3 Verweisungsmodus (1) Strukturverhältnis von Erst- und Zweitbedeutungen (2) Ambiguitätsverhältnis (3) Ähnlichkeitsverhältnis (4) Logisches und ontologisches Verhältnis (5) Wertverhältnis (6) Mentale Form des Verweises

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1.2 Illokutionäre Interpretationshandlungen

58

1.2.1 Kategoriale Vorüberlegungen (1) Thema und Rhema (2) Geltungsansprüche (3) Intention, Funktion und Bedeutung illokutionärer Akte . . .

59 60 63 67

1.2.2 Neun illokutionäre Sprechakte der Interpretation (1) Expressive Interpretation (2) Behauptende Interpretation (3) Explanative Interpretation (4) Epistemische Interpretation (5) Evaluative Interpretation (6) Legitimative/ verdiktive Interpretation

72 73 75 76 78 81 83

VI

(7) Appellative Interpretation (8) Künstlerisch-ästhetische Interpretation (9) Diskursiv-ästhetische Interpretation

1.3 Handlungsbedingungen der Interpretation 1.3.1 Interpretationskonventionen (1) Konventionen interpretatorischer Genres (2) Konventionen der interpretatorischen Interaktion

1.3.2 Bedingungen im Interpretationsgegenstand (1) Inhaltliche Eigenschaften (2) Strukturelle Eigenschaften (3) Kontext-Eigenschaften

1.3.3 Bedingungen im interpretierenden Subjekt (1) Kenntnisse und Interessen (2) Rezeptions- und Erkennisgewohnheiten

1.4 Interpretationskritik. Erläuterungen zu ihrer Geltungsbasis.... 1.4.1 Kritik der konventionalistischen Interpretationstheorie 1.4.2 Reformulierung des interpretatorischen Wahrheitsanspruchs 1.4.3 Vier Kategorien der Erkenntnis literarischer Bedeutung (1) (2) (3) (4)

Code Kontext Modus Subjekt

2 Untersuchung literaturwissenschaftlicher Interpretationen: Zur Allegorese der Wahlverwandtschaften 2.1 Transzendenter Sinn: W. Benjamins Theologie der Erlösung 2.1.1 Beschreibung der Interpretation 2.1.2 Propositionale Interpretationsakte (1) Erstbedeutungen (2) Zweitbedeutungen (3) Verweisungsmodus

2.1.3 Illokutionäre Interpretationsakte 2.1.4 Kritik der Interpretation

85 88 92

96 97 97 98

100 100 102 104

105 105 107

109 110 116 125 127 130 133 134

140 142 142 150 151 153 156

163 170

VII

2.2 Verborgener Sinn: Β. Buschendorfs Ikonographie des „Mythischen" 2.2.1 Beschreibung der Interpretation 2.2.2 Propositionale Interpretationsakte (1) Zweitbedeutungen (2) Erstbedeutungen (3) Verweisungsmodus

2.2.3 Illokutionäre Interpretationsakte 2.2.4 Kritik der Interpretation 2.3 Negierter Sinn: J. H. Millers Dekonstruktion der Gleichnisrede 2.3.1 Beschreibung der Interpretation 2.3.2 Propositionale Interpretationsakte (1) Zweitbedeutungen (2) Erstbedeutungen (3) Verweisungsmodus

2.3.3 Illokutionäre Interpretationsakte 2.3.4 Kritik der Interpretation 2.4 Andere typische Interpretationssmodi 2.4.1 Auswahl einer Minimalstruktur (H. Schlaffer) 2.4.2 Verweisung vom Besonderen aufs Besondere (G. Bersier) 2.4.3 Probleme der Symbolinterpretation (1) Entgrenzung des Sinns (W. Wiethölter) (2) Reduktion auf ein generierendes Prinzip

2.5 Zusammenfassung: 2.5.1 Propositionale Akte und Gegenstandsbestimmungen . . . 2.5.2 Illokutionäre Akte und Geltungsansprüche 2.5.3 Maximen fur Reflexionen Literaturverzeichnis

178 178 179 179 182 183

194 199 206 206 214 214 216 217

222 224 229 231 240 254 254 261

263 263 267 271 275

Einleitung

Fragen, Kategorien und Schritte der Untersuchung Wer dieses Buch aufschlägt, kennt vermutlich prekäre Diskurse über verborgene, symbolische, höhere, übertragene, eigentliche Bedeutungen literarischer Texte - sei es aus Unterrichtsgesprächen und Schulaufsätzen, sei es aus Seminardiskussionen und gelehrten Abhandlungen. Häufig zweifelt man: Zielt das Interpretieren auf eine Erkenntnis des Textsinns? Oder dient es eher dem Ausdruck individueller Erfahrungsgehalte, die der Interpret1 mit dem Text verbindet? Oder erfüllt es in erster Linie bestimmte Deutungskonventionen, die in einer Interpretengemeinschaft herrschen? Ist überhaupt ein interpretatorisches Handeln möglich, das nur eine dieser Funktionen erfüllt, oder sind stets alle drei Funktionen (Gegenstandserkenntnis, Ausdruck des individuellen Verstehens, Befolgung von Konventionen) miteinander verschränkt? Und angenommen, letzteres sei der Fall: Lassen sich die Funktionen gleichwohl analytisch trennen? Lässt sich jeweils bestimmen, welche Funktion die dominante ist? Sind Interpretationsprozesse diagnostizierbar und kritisierbar, in denen eine Funktion eine andere zurückdrängt oder an deren Stelle tritt in denen beispielsweise die Befolgung einer Konvention sich vor die Artikulation des Textverstehens oder vor die Erkenntnis des Gegenstands schiebt? Die vorliegende Untersuchung will diese Fragen - zunächst ausschließlich fur den Bereich der Literaturwissenschaft2 - theoretisch und praktisch durch die Analyse von Interpretationen beantworten sowie einige Vorschläge für die kritische Reflexion und Revision wissenschaftlicher Literaturinterpretationen formulieren. Zunächst aber sollen die Fragen und Kategorien der Untersuchung an einem fiktionalen Beispiel näher erläutert werden. In dem Jugendroman Das total normale Chaos von Sharon Creech (1997, S. 118) erinnert sich die dreizehnjährige Ich-Erzählerin Mary Lou

1

2

Lies: die Interpretin und der Interpret. Entsprechendes gilt für alle vergleichbaren maskulinen Kollektiv-Singulare und Pluralbildungen. Eine Untersuchung zur Interpretation im Literaturunterricht wird gesondert erscheinen.

2

an eine Stunde im muttersprachlichen Literaturunterricht. 3 Es geht um ein Gedicht von Robert Frost. Letztes Jahr gab es im Englischunterricht einen Riesenstreit, weil Mrs. Zollar über die Symbolik des Gedichts reden wollte und uns fragte, was der Weg und der Wald wohl bedeuten. Da kamen ein paar ziemlich abgedrehte Antworten. Ich konnte mir vorstellen, dass der verschneite Wald so was wie Tod bedeutet - aber warum findet er ihn dann so schön? Dann sagte jemand, vielleicht symbolisiert der Wald ja sowas wie „Spaß oder Fun" - also in dem Sinn, dass er sich amüsieren möchte, aber das geht nicht, weil er noch so weit gehen muss. Das fand ich dann ein bisschen weit hergeholt, aber irgendwie könnte es schon sein. Aber dann ging's erst los. Jemand sagte, vielleicht steht der Wald fur Vanilleeis oder für Surfen, und ein anderer meinte sogar, vielleicht geht es um Sex. Die Diskussion geriet völlig außer Kontrolle, und schließlich sagte Bonnie Argentini, das Ganze sei doch lächerlich - es könnte doch auch sein, dass Robert Frost mit dem Wald einfach den Wald meint. Sie fand es richtig blöd, dass alle herumspekulierten, was der Dichter gemeint haben könnte, wenn es doch keiner weiß. Dann sagte Billy Kroeger, sie soll den Mund halten, sie würde sowieso nichts peilen und könnte die „versteckte Bedeutung" gar nicht kapieren. Und danach ging echt die Post ab, alle schrien durcheinander, und Mrs. Zollar bedauerte sicher, dass sie das Thema überhaupt angesprochen hatte.

Diese Passage beschreibt in komischer Zuspitzung das Unterrichtsritual, Textelementen übertragene Bedeutung zuzuschreiben. Die Ritualisierung ist bereits daran erkennbar, dass der Impuls zur Interpretation weniger von den Interpreten selbst als vielmehr von der Lehrerin ausgeht. Sie gibt nicht nur den symbolischen Modus des Interpretierens vor, sondern wählt auch die Textelemente aus, die entsprechend gedeutet werden sollen: Wald und Weg. Beide Impulse, die Vorgabe der Interpretationsweise und die Fokussierung der vermeintlichen Symbole, verstehen sich keineswegs von selbst, wie die Lektüre des betreffenden Gedichts Stopping by Woods on a Snowy Evening (Frost 1928, S. 87) zeigt: Whose Woods these are I think I know. His house is in the village though; He will not see me stopping here To watch his woods fill up with snow. 5

My little horse must think it queer To stop without a farmhouse here Between the woods and frozen lake The darkest evening of the year.

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He gives his harness bells a shake To ask if there is some mistake. The only other sound's the sweep Of easy wind and downy flake. The woods are lovely, dark, and deep, But I have promises to keep, And miles to go before I sleep, And miles to go before I sleep.

Fragte man eine beliebige Gruppe von Lesern, was in diesem Gedicht unklar oder rätselhaft ist, oder ließe man Fragen formulieren, die bei der Lektüre aufkommen, so würden aller Erfahrung nach Textelemente the-

Für den Hinweis auf dieses Beispiel danke ich Martin Leubner.

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matisiert, die zu inhaltlichen Schlussfolgerungen und Vermutungen Anlaß geben: Wem gehören die Wälder? Welche Art Versprechen sind am Ende gemeint? Will der Sprecher im Wald bleiben? Will er dort schlafen? Warum findet das Pferd den Halt seltsam? Die Besprechung solcher Fragen gäbe Raum zur Artikulation und Weiterentwicklung des Textverstehens - nicht nur des symbolischen. Das im Roman karikierte Zuschreibungs-Ritual übergeht eine solche Artikulation. Allein der Einfall von Mary Lou, „dass der verschneite Wald so was wie Tod bedeutet", lässt eine Anknüpfung an ein tatsächliches Textverstehen erkennen. Denn das Eingeständnis der Schülerin, das Wort „lovely" mit einer möglichen Todessymbolik des Waldes nicht sinnvoll verbinden zu können, enthält die implizite Mitteilung, dass sie die anderen Eigenschaften des Waldes wie „dark and deep" sehr wohl auf den Tod zu beziehen vermag. Die Schülerin könnte - wäre dies eine reale Unterrichtssituation - durch die vollständige Explikation ihres Verstehens und durch ein weiteres Nachdenken über das Problem-Wort „lovely" vielleicht zu einem Fremdverstehen gelangen, nämlich zu der Einsicht, daß in einer andern Vorstellungswelt der Tod nicht nur als „dark" und „deep", sondern auch als „lovely" beschreibbar ist. Die übrigen Schüler fokussieren nun offenbar dieses eine Textelement, das zur Todesvorstellung Mary Lous nicht passt, und schlagen Bedeutungen vor, die sie persönlich mit dem Wort „lovely" verbinden. Zunächst wird der wenig konkrete Begriff „fun" genannt; sodann folgt eine Reihe konkretisierender Variationen dieses Begriffs: Vanilleeis, Surfen, Sex. Die Schüler knüpfen, im Unterschied zu Mary Lou, gar nicht mehr an ein mögliches spontanes Textverstehen an, sondern verbinden das aus dem Zusammenhang gerissenen Wort „lovely" mit beliebigen Alltagsvorstellungen. Diese erklären sie für die mögliche symbolische Bedeutung des Waldes, ohne danach zu fragen, ob die Vorstellungen auch mit den anderen Attributen wie „dark and deep" und mit der im Gedicht geschilderten Situation vereinbar sind. Wir wollen dieses literarische Beispiel noch überbieten, indem wir uns einen Literaturwissenschaftler vorstellen, der über die zitierte Passage des Jugendromans einen Aufsatz schreibt. Darin behauptet er, die Darstellung der Unterrichtsstunde habe ihrerseits eine übertragene Bedeutung: Sharon Creechs Text gebe ein Symbol literaturwissenschaftlicher Interpretationspraxis. Dieser indirekt mitgemeinte Diskurs zeichne sich, analog zum Gespräch der Schulklasse, dadurch aus, dass krampfhaft nach übertragenen Bedeutungen gesucht werde, dass die Teilnehmer einander an Ausgefallenheit zu überbieten versuchten, dass sie ihre eigenen Lieblingsthemen dem Text zuschrieben, dass der Text und sein primäres Verständnis unter den übertragenen Bedeutungen unkenntlich werde, dass in

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regelmäßigen Abständen jemand wie Susan Sontag (oder Bonnie Argentini) auftrete und mit Berufung auf die nicht rekonstruierbare Autorintention fordere, man solle den fraglichen Zeichen allein die wörtlichen Bedeutungen zuweisen und alles weitergehende Spekulieren lassen, woraufhin ein anderer entgegne, diese Position sei unbedarft. Auch in der Wissenschaft, so das Resümee des imaginären Aufsatzes, dienten Texte oft nur als Anlass zum Streit, und manch professionelle Interpretengemeinschaft ähnele einer außer Kontrolle geratenen Schulklasse. Unser Literaturwissenschaftler stützt seine Interpretation nicht auf eine etwaige Absicht der Autorin, sondern auf ihre unvermeidlichen Erfahrungen mit der Literaturwissenschaft - Erfahrungen, die jeder sammle, der das Fach studiere. Der Interpret handelt also in der literaturtheoretischen Überzeugung, dass Erfahrungen auch ungewollt und unterschwellig in literarische Texte als deren übertragene Bedeutungen einfließen können. Was genau tun die verschiedenen Personen in unserem Beispiel? Ein Bestandteil ihrer Interpretationshandlungen ist die Auswahl derjenigen Gegenstände, denen wörtliche oder übertragene Bedeutung zugeschrieben wird - kurz: des Interpretandums. Die Interpreten handeln in diesem Punkt selektiv: Sie schreiben nicht sämtlichen Textelementen solche Bedeutungen zu. Die Auswahl zweier Zeichen ist an der Textstruktur orientiert: „woods" kommt einschließlich der Überschrift fünfmal vor; „way" kommt zwar nicht wörtlich vor, ist aber ein Ausdruck, mit dem Mrs. Zollar die von den Zeichen „Stopping by Woods", „stopping here", „To stop without" und „miles to go" gebildete Isotopie bezeichnet. Unser fiktiver Literaturwissenschaftler nominiert verschiedene Schülerhandlungen sowie ebenfalls ein zusammenfassendes Zeichen (außer Kontrolle geratene Schulklasse) für die Zuschreibung übertragener Bedeutung. Was die Inhalte betrifft, so ist auffällig, daß Mrs. Zollar mit dem „Weg" einen Topos wählt: Reise und Weg werden in der allegorischen Tradition immer wieder mit dem Leben und Schicksal eines Menschen oder eines Volkes verbunden. (Dieser erste Handlungsaspekt wird eingehend in Kapitel 1.1.1 erörtert) Eine zweite Teilhandlung ist die Auswahl zugeschriebener Bedeutungen, mit denen der Gegenstand interpretiert wird - kurz: des Interpretaments. Aus welchen Wissensbereichen stammen sie? Die von den Schülern ins Spiel gebrachten Bedeutungen zählen allesamt zum Alltagswissen der Rezipienten. Die in unserer Erweiterung zugeschriebene Bedeutung entstammt der alltäglichen Erfahrungswelt des Literaturwissenschaftlers und zugleich seinem Fachwissen über die Theorie der Interpretation und über die Psychologie des Schreibens (vgl. Kap. 1.1.2). Die bisher beschriebenen Aspekte werden verbunden durch die Unterstellung der Art und Weise, in der die ausgewählten Zeichen des Textes

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auf die ausgewählten Bedeutungen verweisen. Steht in Robert Frosts Gedicht der „Wald" bloß stellvertretend fur den eigentlich gemeinten Tod? Oder meint „Wald" wörtlich Wald und verweist außerdem auf den Tod? Oder wird auf das Thema Tod nur vage angespielt? Oder ist „Wald" ausschließlich wörtlich gemeint und bedeutet „einfach nur den Wald"? Mit dem Verweisungsmodus, den eine Interpretation dem Interpretandum unterstellt, wird zugleich der Interpretationsmodus bezeichnet: Man sagt, dass ein literarischer Text einer allegorischen, symbolischen oder wörtlichen Interpretation unterzogen wird. Die Schüler bieten eine differenzierte Terminologie auf, um anzugeben, wie der Wald auf die unterstellte übertragene Bedeutung verweist: Der Jemand, der den wenig konkreten Begriffe „Fun" vorschlägt, nennt auch einen wenig konkreten Verweisungsmodus: der Wald symbolisiere dies. Bei den speziellen Bedeutungen „Vanilleeis" und „Surfen" wird ein Modus der Stellvertretung zugeschrieben, wie man ihn von mathematischen Platzhaltern kennt: Der Wald stehe für diese Dinge. Die kühnste Zuschreibung („Sex") ist verbunden mit einem eher vorsichtigen Verweisungsmodus: Bei dem Wald gehe es um dieses Thema. Unser erfundener Interpret bezeichnet die Art, in der die Erstbedeutung ,Unterricht' auf die Zweitbedeutung , Wissenschaft' verweise, mit der Formulierung unterschwellig mitgemeint (vgl. Kap. 1.1.3). Diese drei Bestandteile bilden zusammen eine propositionale Handlung im Sinne der Sprechakttheorie (vgl. Searle 1971, S.40): Die Interpreten referieren auf etwas („der Wald...") und nehmen eine Prädikation vor („...symbolisiert den Tod"). Jede Interpretation ist aber zugleich eine illokutionäre Handlung in der sprachlichen Interaktion: Was tun die Interpreten gegenüber ihren Kommunikationspartnern, indem sie einem Textelement eine Bedeutung zuschreiben? Unser Beispiel zeigt einige Handlungsmöglichkeiten - realisierte und nicht realisierte: Indem die Schüler den Wald als „fun" usw. interpretieren, befolgen sie die Aufforderung zur Symbolinterpretation und bringen zugleich einige Bedeutungen, die das Wort „lovely" in ihrem Alltag hat, zum Ausdruck. Jedoch erklären sie mit diesen Interpretationen nicht den Sinn des Textes. Denn obwohl die Schüler in behauptender Rede formulieren, der Wald „symbolisiere", „stehe für", habe die „versteckte Bedeutung von" etwas, sind diese Behauptungen als Erklärungen des aus dem Blick geratenen Textes vollkommen funktionslos und stehen ganz im Dienst der tatsächlich ausgeführten Handlung Aufforderung befolgen. Bonnie Argentinis Beitrag ist in illokutionärer Hinsicht einigermaßen komplex: Sie weist zunächst die symbolischen Interpretationen zurück, indem sie das Gespräch darüber als lächerlich beurteilt; nachfolgend zieht sie die wörtliche Bedeutung in Erwägung und sendet indirekt den Appell aus, die Mitschüler

6 sollten diese Erwägung prüfen. Erwägung und indirekter Appell sind zugleich auf die initiale Handlung der Lehrerin zurückbezogen: Bonnie Argentini zieht die Richtigkeit der Aufforderung zur Symbolinterpretation in Zweifel und die Richtigkeit eines davon abweichenden Handelns in Erwägung. Unser fiktiver Literaturwissenschaftler kritisiert mit seiner Interpretation bestimmte Handlungsweisen und Konventionen, die in seiner Interpretengemeinschaft herrschen (zum illokutionären Aspekt interpretatorischen Handelns vgl. Kap. 1.2). Schließlich lassen sich die Bedingungen untersuchen, unter denen eine Bedeutungszuschreibung stattfindet. Deren Beschaffenheit wird unter anderem von dem Medium und dem Genre beeinflusst, in dem die Äußerung erfolgt. In einem Pausengespräch auf dem Schulhof, in einem Unterrichtsgespräch und in einer wissenschaftlichen Diskussion gelten unterschiedliche Interpretationskonventionen; ein Schulaufsatz unterliegt anderen Normen als ein wissenschaftlicher Aufsatz und dieser wiederum anderen als ein kritischer Essay. Interpretatorische Äußerungen sind weiterhin bedingt von vorangegangenen Äußerungen - in unserem Beispiel von der Aufforderung der Lehrerin zur Bestimmung der Symbolik sowie von der beispielgebenden Interpretation „Spaß oder Fun", die eine Reihe von Konkretionen nach sich zieht. Auch kommunikative Bedingungen können zu Konventionen und Normen gerinnen: In Mrs. Zollars eigenem Literaturstudium könnte es üblich gewesen sein, die Frage nach symbolischen Bedeutungen zu stellen, und in dem für ihren Unterricht maßgeblichen Lehrplan könnte eine solche Interpretationsweise vorgeschrieben sein. Selbstverständlich zählt auch die Beschaffenheit des Interpretationsgegenstands zu den Bedingungen interpretatorischen Handelns. Die Konventionen des literarischen Schreibens sind mit den Konventionen des literarischen Lesens und Interpretierens dergestalt verbunden, dass Texte verschiedenartige Anlässe und Appelle für unterschiedliche Formen der Interpretation enthalten. Manche Autoren folgen z.B. der literarischen Konvention, an Schlüsselstellen die Möglichkeit eines Verständnisses in übertragener Bedeutung eigens zu markieren und zu signalisieren - etwa durch eine auffällige Wiederholung, die sich als Aufforderung begreifen lässt, das doppelt Gesagte auch einer doppelten Lektüre zu unterziehen. Die Wiederholung des Verses „And miles to go before I sleep" in Frosts Gedicht könnte ein Appell sein, über die Bedeutung dieses gewichtigen Satzes nachzusinnen (Meint das Gehen wirklich nur ein Gehen oder das Leben überhaupt? Meint das Schafen nur ein Schlafen oder den Tod?). 4 Außerdem gibt es in der Persönlichkeit der Interpre-

Dabei handelt es sich nicht um generelle Konventionen in dem Sinne, dass auffällige Wiederholungen in literarischen Texten stets einen entsprechenden Appell enthielten.

7 ten zahlreiche Bedingungen ihres spezifischen interpretatorischen Handelns. Erkennbar in unserem Beispiel sind unterschiedliche thematische Interessen, die das Feld zugeschriebener Bedeutung eingrenzen: Die Schüler sprechen gern über alltägliche Vergnügungen, der Literaturwissenschaftler spricht gern über die Literaturwissenschaft (zu den Bedingungen interpretatorischen Handelns vgl. Kap. 1.3). Unter den bisher skizzierten Gesichtspunkten lassen sich Interpretationshandlungen beschreiben. Ziel dieser Arbeit ist es, wie gesagt, aber auch, Interpretationshandlungen zu kritisieren bzw. deren Kritisierbarkeit aufzuzeigen. Worin die argumentative Basis von Interpretationskritik besteht, lässt sich ebenfalls an unserem Eingangsbeispiel skizzieren, und zwar an der Interpretationskritik, die Sharon Creech, die Autorin, mit den Mitteln literarischer Komik übt. Eine Pointe des fiktiven Unterrichtsgesprächs liegt darin, dass die Schüler überhaupt erst durch die Aufforderung zur Symbolinterpretation dazu gebracht werden, beliebige Alltagsvorstellungen {Spaß, Vanilleeis, Surfen, Sex) auf das Wort „lovely" zu projizieren. Komisch daran ist zum einen, dass nicht etwa - wie man erwarten könnte - irgendwelche Manifestationen eines spontanen Textverstehens banal sind, sondern jene Interpretamente, die sich die Schüler unter der Vorgabe, einen gerade nicht banalen Interpretationsmodus anzuwenden, ausdenken. Entsprechend komisch ist die Fallhöhe zwischen der elaborierten Terminologie, mit der die Erfüllung der Interpretationsnorm signalisiert wird (symbolisieren, stehen für usw.), und den banalen Interpretamenten. Komisch ist zum anderen die Diskrepanz zwischen diesen ebenso hochtrabenden wie banalen Auslegungen und den wörtlichen Bedeutungen des Textes: Das „Surfen" etwa steht als eine Tätigkeit, die man in der warmen Jahreszeit auf einer Wasseroberfläche ausübt, in genauem Gegensatz zu der Formulierung „frozen lake" (Vers 7). Entsprechendes gilt fur den Kontrast zwischen dem Verzehr von „Vanilleeis" und der wörtlichen Bedeutung von „woods fill up with snow" (V. 4) sowie zwischen dem Interpretament „Sex" und der Situation des einsamen, nur mit seinem Pferd kommunizierenden Sprechers. Hinter diesen Gegensätzen dürfte die Absicht der Autorin stehen, die Deutungen der Schüler von der Sache her zu falsifizieren und in der Tat als „lächerlich" auszuweisen. Die mit den Mitteln literarischer Komik hier geübte Interpretationskritik lässt sich dahingehend auf den Begriff bringen, dass die Interpretationen zwar (a) dem explizit von der Lehrerin gestellten Anspruch genügen, normativ richtig zu sein, insofern sie ein Reden „über die Symbolik des Gedichts" sind, dass sie jedoch (b) dem in einem Unterrichtsgespräch stets - zumindest implizit - gestellten Anspruch nicht genügen, konstativ wahr, also dem Interpretationsgegenstand angemessen zu sein, und dass sie (c) dem ebenfalls implizit gestellten An-

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spruch, ein wahrhaftiger Ausdruck des subjektiven, in individuellen Wissens- und Erfahrungsstrukturen verankerten Textverstehens zu sein, nur zum Scheine genügen. Als argumentative Basis einer Kritik, die der Komplexität interpretatorischen Handelns gerecht wird, erweisen sich - zumindest an unserem Eingangsbeispiel - die drei Geltungsansprüche der konstativen Wahrheit, der normativen Richtigkeit und der expressiven Wahrhaftigkeit (vgl. Kap. 1.2.1, Pkt. 2). Dabei ist die Konjunktion „und" nicht in einem aufzählenden, sondern in einem verknüpfenden Sinn gemeint: Interpretationskritik stützt sich nicht allein auf die je einzelnen Geltungsansprüche, sondern auf deren Zusammenhang, der oft konfliktträchtig ist und zu gravierenden Interpretationsproblemen fuhren kann. In unserem Beispiel liegt der eigentliche Witz der von Sharon Creech literarisch gestalteten Interpretationskritik ja gerade darin, dass die fraglichen Interpretationen durch das Bemühen der Sprecher, dem Anspruch normativer Richtigkeit zu genügen, unangemessen in Relation zum Gegenstand und pseudoauthentisch in Relation zum Textverstehen werden. Wenn der zu Creechs Roman hinzu erfundene Interpret Recht hat, dann verhält es sich in der Literaturwissenschaft mitunter nicht anders: Auch dort kann die Erfüllung oder Überbietung konventionell eingespielter Interpretationsmuster in Konflikt geraten mit dem Geltungsanspruch konstativer Wahrheit und mit dem in einigen Interpretationstheorien erhobenen Anspruch, eine Interpretation müsse dem Interpreten selbst evident sein, d.h. dem wahrhaftigen Ausdruck seines Textverstehens entsprechen.5 In wissenschaftlichen Interpretationen wird stets der Geltungsanspruch der Wahrheit erhoben, zugleich ist dieser Anspruch jedoch höchst umstritten: Können Interpretationen überhaupt wahr oder unwahr sein in dem Sinne, dass sie ihrem Gegenstand angemessen oder unangemessen sind, oder können sie immer nur richtig oder falsch sein in dem Sinne, dass sie mit geltenden Konventionen der Interpretation übereinstimmen oder davon abweichen? Die Klärung diese Frage ist unverzichtbar, will man sich der argumentativen Basis literaturwissenschaftlicher Interpretationskritik vergewissern (vgl. Kap. 1.4).

Der Zusatz zu Creechs Roman ist so formuliert, dass die Persistenz von InterpretationsKonventionen deutlich wird: Die kritische Pointe der erfundenen wissenschaftlichen Interpretation liegt in dem performativen Widerspruch, dass der Interpret in seinem propositionalen Handeln (Deutung der Roman-Passage als Symbol literaturwissenschaftlicher Interpretationspraxis) genau jenes Ritual exerziert, gegen das sich seine illokutionäre Handlung (Kritik an einer solchen literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis) richtet. Er selbst gehört gleichsam zu jener „außer Kontrolle geratenen Schulklasse", die ihre eigene Erfahrungswelt fur die symbolische Bedeutung eines Textes hält.

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Kapitel 2 enthält eine exemplarische interpretationskritische Untersuchung. Aus Gründen der Überschaubarkeit und Vergleichbarkeit erfolgt eine Fixierung zweier Parameter: Es werden Interpretationen analysiert, die denselben Gegenstand im selben Modus interpretieren, nämlich Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften im Modus der allegorischen Deutung. Dieser Roman, der als eines der am dichtesten texturierten Werke der deutschen Literatur gilt, ist mit so unterschiedlichen Interpretamenten, unter Hervorhebung so unterschiedlicher Textelemente, in so unterschiedlichen illokutionären Einstellungen und unter den Bedingungen so unterschiedlicher literaturwissenschaftlicher Rahmentheorien allegorisch gelesen worden, dass das Spektrum in allen anderen Parametern eine hohe Variationsbreite aufweist. Die fünf untersuchten Allegoresen repräsentieren außerdem unterschiedliche Möglichkeiten, diesen Interpretationsmodus zu realisieren. Typische Probleme eines anderen verbreiteten Modus, der Symbolinterpretation, werden in einem gesonderten Abschnitt (2.4) aufgezeigt - wiederum anhand der kritischen Analyse von Wahlverwandtschaften-Deutungen. Manche Einschränkungen, die mit der Festlegung auf einen einzigen Interpretationsgegenstand verbunden sind, lassen sich in einer begrenzten Untersuchung wie der vorliegenden nicht vermeiden und können nur in Folgestudien überwunden werden. Die Frage, welchen Einfluss die Eigenschaften des Interpretationsgegenstands - seine Gattung, Schreibweise, Epoche usw. - auf das interpretatorische Handeln haben, muss hier offen bleiben. Welchen Einfluss die ,Schulzugehörigkeit' der Interpreten, ihre Literaturauffassung, ihre Weltanschauung usw. haben, kann hier nur punktuell untersucht werden. Die Studie ist also keine wissenschaftsgeschichtliche oder wissenssoziologische Arbeit im eigentlichen Sinn, wiewohl sie entsprechendes Wissen einsetzt, um Interpretationen zu analysieren, zu beurteilen und - zu interpretieren.6

Terminologische Vorklärungen Wenn nun zentrale Termini der Untersuchung näher erläutert werden, so geschieht dies nicht in der Überzeugung, dass solche Definitionen immer vorangestellt werden müssten. Im Gegenteil: literaturwissenschaftliche Begriffe lassen sich ebenso gut an Ort und Stelle durch die eindeutige

Da die Wahlverwandtschaften-Attegoresen auf der Grundlage der in Teil I entwickelten Theorie untersucht werden, enthält Teil II Interpretationen von Interpretationen. Die Leser sind eingeladen, diese Interpretationen ihrerseits in den vorgeschlagenen oder in anderen Kategorien zu analysieren, zu beurteilen und zu interpretieren.

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Verwendung und gegebenenfalls durch zusätzliche Explikationen definieren. Freilich sind die Unterschiede zwischen den Termini (a) Interpretieren und Verstehen, (b) Interpretationsprozess, Interpretationsresultat und Interpretationshandlung sowie (c) Erstbedeutung und Zweitbedeutung so umstritten oder wenig befriedigend geklärt, dass es hilfreich ist, die eigene Begriffsverwendung vorab von einigen anderen abzugrenzen. (a) Interpretieren und Verstehen. Sowohl im Pragmatismus als auch in der Hermeneutik ist umstritten, ob jedes Verstehen schon ein Interpretieren ist oder ob zwischen beiden Begriffen eine ausschließende Unterscheidung getroffen werden muss. In der pragmatischen Tradition plädiert eine an Wittgenstein anschließende Linie von Autoren fiir diese Unterscheidung. So nennt Bernd Ulrich Biere das Verstehen kein sprachliches Handeln, sondern ein „Ereignis", einen „Zustand" oder eine „Disposition" zum Handeln. Das Verstehen erfolge unwillkürlich, es stelle sich ein; Interpretationen würden willkürlich vorgenommen, man stelle sie her (1989, S. 17ff.; ähnlich Hörmann 1976, S.205). Am Ende einer erfolgreichen Interpretation stelle sich ein neuer Zustand des Verstehens ein: „Das Interpretieren können wir dann als ein zwischen einem ereignishaften Verstehen auf der einen und einem als Handlungsergebnis begriffenen Verstehen auf der anderen Seite vermittelndes Handeln auffassen" (Biere 1989, S.21). 7 Das Verstehen, schreibt ähnlich Richard Shusterman, geschehe „automatisch und unbewußt", es sei kein „aktives, selektives Strukturieren des interpretativen Intellekts" (Shusterman 1996, S. 8Iff.). Unsinnig sei es, den „unartikulierten Hintergrund präreflexiven [...] Verstehens" (ebd., S. 88) ebenfalls als Interpretieren zu bezeichnen, da dieser Hintergrund es dem aktiven Bewusstsein allererst ermögliche, „sich zu konzentrieren und als ein Vordergrund hervorzutreten" (ebd., S. 86). Shusterman wendet sich hier gegen den pragmatischen Interpretations-Universalismus eines Richard Rorty, der aufgrund der unhintergehbaren „Sprachlichkeit jeder menschlichen Erfahrung von Welt" davon ausgehe, dass „nicht nur jedes Verstehen, sondern auch jede Erfahrung interpretativ ist" (ebd., S. 84). Dies ist die Position einer anderen Linie von Autoren, die auf den Perspektivismus Nietzsches und dessen Diktum „Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen" (1970ff., Bd. VIII/1, S. 323) zurückgehen. Nicht nur von Rorty und anderen amerikanischen Pragmatisten wird diese Position vertreten, sondern auch von den Vertretern der pragmatischen Interpretationsphilosophie in Deutschland wie

Das Verhältnis von Interpretieren und Verstehen entspricht der folgenden Unterscheidung aus den Philosophischen Untersuchungen·. „Deuten ist ein Denken, ein Handeln; Sehen ein Zustand" (Wittgenstein 1960, S. 524).

11 Günter Abel und Hans Lenk. Abel schreibt: „Das Identifizieren, der Gebrauch und das Verstehen sprachlicher wie nicht-sprachlicher symbolisierender Zeichen erfolgen in fortwährenden [...] Prozessen des Re-, Um- und Neu-Interpretierens. Verstehen kann darum als eine Weise des Interpretierens angesehen werden" (1993, S. 425f.). In der hermeneutischen Tradition gibt es entsprechende Unterschiede. Die Autoren des 18. Jahrhunderts grenzten „eine subtilitas intellegendi, das Verstehen, von einer subtilitas explicandi, dem Auslegen" ab (Gadamer 1972, S.290f.). In diese Tradition stellt sich im 20. Jahrhundert ausdrücklich Eric Donald Hirsch (1972, S. 167) mit dem Argument, dass „das Verständnis gegenüber der Interpretation den zeitlichen Vorrang besitzt und sich von ihr unterscheidet": „das Verständnis ist still, die Interpretation äußerst beredt" (ebd., S. 174). Hirsch wendet sich gegen den universalistischen Interpretationsbegriff Hans-Georg Gadamers. Jedes Verstehen, so Gadamer (1972, S. 366), ereigne sich innerhalb der intersubjektiven sprachlichen Kommunikation, in einem mündlich oder schriftlich geführten „Gespräch", und sei daher von den Auslegungen anderer abhängig. Mit dieser Einsicht habe bereits die Romantik „uns gelehrt, daß Verstehen und Auslegen letzten Endes ein und dasselbe sind". Axel Spree hat vorgeschlagen, beide Interpretationsbegriffe - den engen, der das Verstehen ausschließt, und den weiten, der es einschließt gelten zu lassen, aber in klar voneinander getrennten Bereichen bzw. Sprachspielen. Einen „technischen Interpretationsbegriff' verwende man immer, wenn ein „ Verfahren der Auslegung" gemeint sei (dies entspricht Shustermans Formel „aktives, selektives Strukturieren des interpretativen Intellekts"). Einen „erkenntnistheoretischen Interpretationsbegriff' hingegen verwende man, wenn gemeint sei, dass eine „interpretationsfreie Erkenntnis der Welt unmöglich ist" (1995, S.46f.). Allerdings trifft auch die pragmatische Interpretationsphilosophie diese Unterscheidung, wenn sie zwischen den „aneignenden Deutungen" im Sinne des technischen Interpretationsbegriffs und den epistemisch „in jeder Organisation von Erfahrung bereits vorausgesetzten] und in Anspruch genommenen]" sowie „durch Gewohnheit verankerten und habituell gewordenen" Interpretationen differenziert (Abel 1993, S. 14f.). Die Interpretationsphilosophie freilich hat gute Argumente dafür, diese Unterscheidung nicht so kategorial und trennscharf zu ziehen, wie Spree (1995, S. 49) es wünscht. Denn zum einen kann es sein, dass die Resultate bewusster Interpretationsoperationen in den selbstverständlichen Wissensbestand einer Kultur übergehen und von späteren Sprechern innerhalb ihrer Welterfahrung ganz unmittelbar reflexionslos verstanden werden; andererseits kann das selbstverständliche Wissen einer Kultur „im Laufe der Zeit seinen Status

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ändern, d.h. von einem fraglosen und nicht-bezweifelbaren Element zu einem solchen mit hypothetischem, prüfbarem und falsifizierbarem Charakter werden" (Abel 1993, S. 118). Es gibt Interpretationen, die sich auf der Schwelle zwischen dem einem und dem anderen Zustand befinden in denen also etwas Selbstverständliches problematisch wird oder etwas Problematisches selbstverständlich - und die sich nicht eindeutig einem der beiden Begriffe zuordnen lassen. Zwischen Erkenntnistheorie und Technik kann kein kategorialer Unterschied bestehen, und das nicht nur aus den genannten empirischen Gründen des diachronen Übergangs, sondern auch aus logischen Gründen: Jede Manifestation sprachlicher Technik hat einen epistemischen Gehalt, und epistemische Gehalte bedürfen einer Technik der sprachlichen Artikulation, sollen sie in Erscheinung treten. Alles, was im epistemischen Sinn als Interpretation gilt, ist technisch operationalisierbar, und jede technische Interpretation ist als Erkenntnis beschreibbar. Gleichwohl kann die Unterscheidung zwischen Interpretieren und Verstehen aufrecht erhalten werden, wenn man unartikulierte, stumme Verstehensereignisse aus dem Begriff der Interpretation ausgrenzt. Als Interpretation wird in dieser Studie die aktive geistige Herstellung oder die sprachliche Artikulation eines Verstehens bezeichnet, nicht aber dieses selbst. Bezeichnet man als „Interpretation" einen Bewusstseinsprozess, so muss er intentional gesteuert sein, darf also nicht den Status eines bloß passiven Ereignisses haben. Der weite, das Verstehen umfassende Interpretationsbegriff Gadamers, Rortys, Abels und anderer verwischt den Unterschied zwischen den Ausdrücken „auf Interpretation beruhen" und „Interpretation sein". Bezeichnet man als „Interpretation" die sprachliche Manifestation eines Bewusstseinsprozesses, so kann sie auch der Ausdruck eines bloßen Verstehensereignisses sein. Denn durch Shustermans Unterscheidung zwischen dem Verstehen als einem „unartikulierten Hintergrund" des Sprechens und dem Interpretieren als einem ,,aktive[n], selektive[n] Strukturieren des interpretativen Intellekts" fallen Äußerungen hindurch, die weder das eine noch das andere sind, in denen z.B. jemand über einen Text spricht und dabei unreflektiert ein spezielles Verständnis des Sinnzusammenhangs zum Ausdruck bringt. Bezogen auf das Gedicht von Robert Frost könnte ein Leser spontan, also nicht erst durch ein Nachdenken über den Text, den Ausdruck von Todessehnsucht wahrgenommen haben und dieses Verständnis als etwas Selbstverständliches, Unhinterfragtes zum Ausdruck bringen: „Mich wundert, dass er (der Sprecher) gar keine Angst vorm Sterben hat". Solche Äußerungen sind weder ein bloßes Verstehens-Ereignis noch eine willentlich gesteuerte Interpretation, wohl aber ein aktives Hervortreten des Verstehens in die sprachliche Artikulation. Von den Sprechern selbst werden solche

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Artikulationen zunächst nicht als Interpretationen verstanden, häufig aber von den Kommunikationspartnern („da steht doch gar nicht, dass es ums Sterben geht, das ist bloß deine Interpretation"), mit deren Hilfe die Sprecher zur reflexiven Einsicht in den de facto bestehenden Interpretationscharakter ihrer Verstehens-Äußerungen gelangen können (zum Phänomen expressiver Interpretationen vgl. Kap. 1.2.2, Pkt. 1). (b) Interpretationsprozess, Interpretationsresultat und Interpretationshandlung. In der alltäglichen und wissenschaftlichen Sprachpraxis wird unterschieden „between interpretation as a process and interpretation as a result of that process" (Hermeren 1984, S. 142). Es gibt Prozesse des Denkens, des Sprechens, des Schreibens und - nicht zu vergessen des künstlerischen Gestaltens, die als Interpretationen bezeichnet werden. Und es gibt Resultate solcher Prozesse, die ebenso heißen. Dabei kann es sich um manifeste Resultate wie Texte oder Aufführungen handeln, aber auch um rein gedankliche Resultate wie z.B. die Überzeugung, der Interpretationsgegenstand habe bestimmte Bedeutungen.8 Neben diesen beiden Verwendungen des Wortes gibt es eine dritte: Als „Interpretation" bezeichnet man auch eine bestimmte Art sprachlicher Handlungen, nämlich Äußerungen, in denen jemand etwas als etwas interpretiert. Man könnte der Auffassung sein, diese dritte Verwendung des Wortes bezeichne einfach sämtliche Bestandteile von Interpretationsprozessen und Interpretationsprodukten unter sprachpragmatischem Aspekt. Das ist aber nicht der Fall. Interpretationsprodukte bestehen nie ausschließlich aus interpretierenden Äußerungen. Sie enthalten immer auch Äußerungen wie Zitate, Referate, Beschreibungen, Analysen usw., die selbst nicht interpretierend sind. Entsprechend weisen die ebenfalls „Interpretation" genannten sprachlichen und geistigen Prozesse, durch die ein Interpretationsresultat entsteht, nicht ausschließlich interpretierende Anteile auf. Mit anderen Worten: Kognitive und sprachliche Prozesse sowie deren Resultate lassen sich nur dann als Interpretationen erkennen und bezeichnen, wenn ihre nicht interpretierenden Bestandteile um Äußerungen zentriert bzw. auf Äußerungen bezogen sind, die in einem spezifischen Sinn als „Interpretationen" gelten können. Wie anders wollte man sprachliche und geistige Prozesse, in denen ein Gegenstand nur zitiert, referiert, beschrieben, analysiert oder bewertet wird, von Interpretationen unterscheiden?

In der oben getroffen Unterscheidung zwischen Verstehen und Interpretation werden beide Begriffe verwendet: Kognitive Prozesse gelten nur dann als Interpretation, wenn sie intentional gesteuert sind, wogegen auch die sprachlichen Resultate nicht intentional gesteuerter Verstehensprozesse als Interpretationen gelten können.

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Für die Interpretationsanalysen in Kapitel 2 ist diese Überlegung unmittelbar relevant. Als „Interpretationen" gelten dort umfangreiche Texte, schriftliche Resultate hoch komplexer Interpretationsprozesse. Zum einen müssen diese Resultate und die ihnen zugrunde liegenden Prozesse überhaupt als Interpretationen und damit als einschlägige Untersuchungsgegenstände bestimmbar sein. Zum anderen müssen diejenigen Äußerungen der Texte, in denen das Interpretandum festgelegt, das Interpretament formuliert und der Interpretationsmodus realisiert wird, von allen anderen Äußerungen unterschieden werden, die auf diese zentralen Operationen zwar argumentativ bezogen, aber nicht mit ihnen identisch sind. Wo dies nicht geschieht und eine Interpretationsanalyse alles, was in dem fraglichen Text überhaupt geäußert wird, gleichermaßen als interpretatorisches Handeln auffasst, verliert die Untersuchung an Unterscheidungskraft und Schärfe: Im Extremfall werden literaturwissenschaftliche Texte, die ausschließlich die sprachliche Gestaltung oder ausschließlich den Entstehungskontext eines Textes beschreiben, aber keine einzige interpretatorische Handlung enthalten, für Interpretationen gehalten; Sätze nach der Art „Der auktoriale Erzähler gibt stellenweise die Begrenztheit seines Wissens zu erkennen" oder „Goethe konzipierte den Roman während einer intensiven Auseinandersetzung mit der romantischen Poetik" werden schon für interpretatorische Äußerungen gehalten. Die nachfolgende Definition, die Interpretation als Handlung bestimmt, konzentriert sich zunächst auf den propositionalen Kern der Handlung. Und sie bezieht sich zunächst auf Interpretationshandlungen überhaupt. Nachfolgend werden in Bezug auf den illokutionären Aspekt des Interpretierens und in Bezug auf literaturwissenschaftliche Interpretationshandlungen einige definitorische Ergänzungen und Einschränkungen formuliert. Die Interpretation ist eine im weitesten Sinne sprachliche, d.h. im Medium von Zeichen erfolgende Handlung, die einem Zeichen oder Zeichenzusammenhang oder einem aus Zeichen bestehenden oder als zeichenhaft verstandenen Gegenstand Bedeutungen zuweist. Die Interpretation richtet sich, nach allgemeiner Sprachverwendung, auf Zeichen (z.B. Wörter) oder Zeichenzusammenhänge (z.B. Wortverbindungen); man sagt aber auch, dass der Gegenstand interpretiert wird, der aus diesen Zeichen oder Zeichenzusammenhängen besteht (z.B. eine Äußerung oder ein Äußerungszusammenhang, bestimmte Stellen eines Gedichts oder das ganze Gedicht). Auf diese Weise wird das Interpretandum bezeichnet. Wortverwendungen von der Art „ich interpretiere die psychischen Beweggründe der Äußerung" oder „ich interpretiere den historischen Hintergrunds des Gedichts" sind ungenau, denn sie bezeich-

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nen nicht das Interpretandum, welches interpretiert wird, sondern das Interpretament, als welches bzw. mit welchem das Interpretandum interpretiert wird - vergleichbar etwa der nachlässigen Verwendung des Wortes „addieren" in dem Satz „Ich addiere die Summe". Ein Interpret weist einem Zeichen oder Zeichenzusammenhang nicht alle möglichen Bedeutungen zu, sondern trifft eine Auswahl. Die Schüler in unserem Beispiel interpretieren die besondere(n) Verwendung(en) des Wortes „woods" in dem besonderen Gedicht Robert Frosts. Spräche eine deutsche Schulklasse über die Bedeutungen, die das Wort „woods" im Englischen oder Amerikanischen überhaupt haben kann, so wäre das ebensowenig eine Interpretation wie die Aufzählung aller möglicher Bedeutungen, die „woods" in dem Gedicht von Robert Frost haben kann. 9 Die gegebene Definition ist sehr weit, und zwar in zwei Richtungen. Auf der einen Seite der umfasst sie nicht nur wortsprachliche, sondern auch ikonische, klangsprachliche, körpersprachliche und andere InterpreXdXionsgegenstände sowie nichtkonventionelle, natürliche Zeichen und Symptome. Wenn Richter über die Frage zu entscheiden haben: Mord oder Totschlag?, dann müssen sie die fragliche Tat als Anzeichen einer inneren Disposition des Täters (oder der Täterin) interpretieren: Erfolgte die Tat vorsätzlich und aus niederen Motiven wie z.B. aus Rache oder Habgier, oder geschah sie im Affekt, z.B. in einem plötzlichen Aufwallen der Eifersucht oder des Gefühls, jahrelang erniedrigt worden zu sein? In einer gerichtlichen Interpretation wäre dann das Interpretandum ein nicht-sprachliches Phänomen: das Tötungsdelikt. Das Interpretament lautete z.B.: „Totschlag im Affekt". Weit ist die Definition auf der anderen Seite, weil sie auch Interpretationshandlungen einschließt, die außerhalb der W'ortsprache vollzogen werden. Wenn eine Schauspielerin durch Stimme, Mimik, Gestik, Körperhaltung usw. eine von dem Gefühl der Erniedrigung getriebene Medea, nicht aber eine eiskalte Rächerin zeigt, dann interpretiert auch sie die Rolle, d.h. sie weist dem sprachlich verfassten Gegenstand ihrer Darstellung Bedeutungen zu, nur eben in einer Sprache, deren Zeichen keine Wörter sind. Komponisten können Gedichte durch Vertonung interpretieren, indem sie die Texte mit der Notensprache der Musik und den daran geknüpften Ausdrucksgehalten (d.h. mit musikalischer Bedeutung) verbinden. Musiker interpretieren wiederum die Kompositionen: Sie setzen die Klangsprache ihrer Instrumente oder Stimmen ein, um die in Notenschrift verfassten Kompositionen zu deuten, um aus den möglichen

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Das schließt k e i n e s w e g s den Fall aus, dass ein Interpret e i n e m Z e i c h e n alle m ö g l i c h e n B e d e u t u n g e n auch z u w e i s t u n d somit d e m Interpretandum eine m a x i m a l e Vieldeutigkeit unterstellt, i n d e m er die g r ö ß t m ö g l i c h e A u s w a h l der Interpretamente trifft.

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Ausdrucksgehalten, die einem Notentext zukommen können, bestimmte auszuwählen. Sie weisen einzelnen Stellen im Notentext z.B. einen heiteren, melancholischen, energischen, sanften, homogenen, zerrissen Ausdruck zu und dem gesamten Stück einen bestimmten Charakter.10 Musikund Theaterkritiker interpretieren künstlerische Interpretationen häufig, wenn sie Urteile darüber aussprechen: Beethovens Eroica sei in einem Konzert unangemessen tragisch gespielt worden; ein Remake von Rolling-Stones-Titeln lege einen Goldrand um die einst progressive Musik; die Spielweise einer Medea-Darstellerin habe einseitig den Ausdruck kalter Berechnung betont (kursiviert ist jeweils das im Werturteil enthaltene Interpretament). Bezogen auf die wissenschaftliche Literaturinterpretation muss die Definition selbstverständlich eingeschränkt werden. Die Literaturwissenschaft hat es stets mit Interpretationsgegenständen zu tun, die wortsprachlich verfasst sind und deren wortsprachliche Verfasstheit bestimmte ästhetische Eigenschaften aufweist, die als künstlerisch gelten (z.B. Fiktionalität, ästhetische Durchgestaltung). Literaturwissenschaftliche Interpretation sagt entweder, wie bestimmte Zeichen und Zeichenverbindungen literarischer Texte gemeint sind oder welche Kontexte sie verstanden als Symptome einer Kultur, einer Gesellschaft, einer Psyche usw. - anzeigen." Zeichen und Zeichenzusammenhänge werden in der Literaturwissenschaft stets im Zusammenhang des Textes interpretiert, in dem sie stehen. Die Interpretation eines Textelements, die mit anderen Stellen eines Textes nicht vereinbar ist, gilt in der Wissenschaft als unangemessen, unwahr. „Vereinbar" meint nicht, jede wissenschaftliche Interpretation müsse glatt aufgehen und dem Text einen einheitlichen, kohärenten Sinn zuschreiben. Das wäre literarischen Texten unangemessen, die selbst inkohärent oder widersprüchlich sind. „Vereinbar" meint, dass eine Inkohärenz, die bei der Interpretation verschiedener Stellen eines Textes auftritt, ebenso wie die Unterstellung eines kohärenten Sinns auf entsprechende Eigenschaften des Textes rückfuhrbar sein müssen. Die Behauptung, das Wort „Wald" in Robert Frosts Gedicht stehe für „surfen", hätte wissenschaftlich u.a. des-

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Zur Kontroverse über musikalische Bedeutung vgl. Falke 2001, S. 55-75. Das Postulat Gabriels (1992, S.240ff.), literaturwissenschaftliche Interpretation müsse stets die Bedeutungsintention rekonstruieren und könne darüber hinaus auch die Symptomatik eines literarischen Textes untersuchen, ist eher eine Kritik denn eine Beschreibung der literaturwissenschaftlichen Praxis. Es gibt ganze Schulen der Interpretation, die sich ausschließlich fur die historische, kulturelle oder psychische Symptomatik von Texten interessieren. Darüber kann und muss gestritten werden; eine Beschreibung dessen, was Interpretation in der Literaturwissenschaft tatsächlich ist, kann mit der genannten Setzung nicht operieren, so gut ihre wissenschaftstheoretische Begründung auch sein mag.

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halb keinen Bestand, weil sich - wie schon gezeigt - mit „surfen" keine denkbare Interpretation des Ausdrucks „frozen lake" in Übereinstimmung bringen lässt und weil es keinen Grund zu der Annahme gibt, der Text sei semantisch derart inkohärent, dass die Interpretation „Wald steht fur surfen" mit dem Ausdruck „frozen lake" vereinbar ist.12 Was das Medium der Interpretationshandlung betrifft, so pflegen Literaturwissenschafter die Texte, die sie interpretieren, weder zu vertonen noch in Szene zu setzen. Sie bedienen sich der Wortsprache, und diese behandeln sie nicht primär poetisch-gestalterisch, wie Schriftsteller es tun, sondern primär diskursiv-argumentierend, eben als Wissenschaftler. Daraus geht hervor, was im vorigen Absatz bereits vorausgesetzt wurde: dass literaturwissenschaftliche Interpretation stets mit dem Anspruch auftritt, als konstativ wahr zu gelten. Das ist auch dann der Fall, wenn ein Interpret in der begleitenden literaturtheoretischen Reflexion die Überzeugung vertritt, der Anspruch sei unerfüllbar. Nur weil wissenschaftliche Interpretationen unhintergehbar den Wahrheitsanspruch stellen, ist die reflexive Aussage, interpretatorische Wahrheit sei unerreichbar, nicht trivial, sondern theoretisch bedeutsam. Diese Bemerkungen über das wissenschaftliche Interpretationshandeln und den ihm inhärenten Geltungsanspruch gehen über den propositionalen Kern von Interpretationen, auf den die oben gegebene Definition sich beschränkt, schon hinaus und rekurrieren auf die Bestimmung der illokutionären Handlung, also dessen, was jemand kommunikativ tut, indem er einem Gegenstand Bedeutung(en) zuschreibt. Wissenschaftliches Interpretieren erhebt stets den Anspruch konstativer Wahrheit, weil es nicht der bloße Ausdruck eines Verstehens oder die bloße Befolgung von Interpretationsnormen ist. Geltungsansprüche wohnen nicht dem propositonalen Kern einer Äußerung, sondern ihrer kommunikativen Funktion oder Intention inne (vgl. Kap. 1.2.1, Pkt. 2). Ist Interpretation ebenso klar als illokutionäre Handlung definierbar, wie sich ihr propositionaler Kern bestimmen lässt? Bernd Ulrich Biere (1989, S. 30) bejaht dies und sagt Jedes Interpretieren sei unter illokutionärem Aspekt ein Verständlich-Machen: Indem eine Person 1 behauptet, eine von einer Person 2 getätigte Äußerung Y habe die Bedeutung Z, mache sie einer Person 3 diese Äußerung verständlich. Auf viele interpretatorische Sprechakte trifft Bieres Bestimmung zweifellos zu; als generelle Definition ist sie eine falsche Verallgemeinerung. An der fikti-

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Aus der Tatsache, dass eine Interpretation unter Hinweis auf ihre Unvereinbarkeit mit einer anderen Textstelle und auf die dem Gegenstand zugeschriebene Kohärenz falsifiziert werden kann, lässt sich nicht die Forderung ableiten, Interpretationsgegenstand müsse stets der gesamte Text sein. Zu diesem Trugschluss vgl. u. Kap. 1.1.1, Pkt. 2.

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ven Unterrichtsstunde in Sharon Creechs Jugendroman hatten wir gesehen, dass mit interpretatorischen Äußerungen ganz unterschiedliche illokutionäre Akte ausgeführt werden können: den Sinn des Gegenstands erklären (d.h. ihn verständlich machen); das individuelle Textverstehen ausdrücken; Vorstellungen ausdrücken, die von dem Textverstehen entkoppelt sind; eine Interpretationsnorm befolgen und anderes mehr. In Kapitel 1.2.2 werden insgesamt neun illokutionäre Handlungen beschrieben, die mit der Interpretation literarischer Texte ausgeführt werden können.13 Der zweite Teil der Definition lautet deshalb: Der Begriff Interpretation bezeichnet keine bestimmte illokutionäre Handlung, sondern all jene Handlungen, die ausgeßihrt werden, indem jemand einem Zeichen oder Zeichenzusammenhang oder einem aus Zeichen bestehenden oder als zeichenhaft verstandenen Gegenstand bestimmte Bedeutungen zuweist. Bei aller Offenheit dieser Definition für die unterschiedlichsten illokutionären Handlungen lassen sich doch bereichspezifische Definitionen des Interpretationsbegriffs ableiten, die eine deskriptive Bestimmung dessen, was Interpretation alles sein kann, um normative Sätze ergänzt und einschränkt. Literaturinterpretation im Schulunterricht etwa kann alles Mögliche sein, von der Erklärung des Textsinns über die Darlegung angeeigneten Wissens bis zur Befolgung eines Interpretationsmusters, aber sie muss auch authentisch zum Ausdruck bringen, wie der jeweils interpretierende Schüler den Text auf der Basis seiner Kenntnisse und Einstellungen versteht - anderenfalls ist sie pädagogisch verfehlt. Die Interpretation in der Literaturkritik kann alles Mögliche sein - manche Rezensenten bemühen sich um die Wissenschaftlichkeit ihrer Exegesen, andere um eine ästhetische Stimmigkeit, wie man sie sonst von künstleri13

Die diskursive Interpretation wortsprachlicher Gegenstände kann nach Axel Bühler (1999, S. 122ff.) mindestens 17 unterschiedliche Funktionen haben. Sie fungiere u.a. „als Herausfinden von Absichten der sprachlichen Gestaltung", „als Herausfinden von Gedanken einer Person", „als Erschließen nicht explizit geäußerter Gedanken einer Person", „als Zuweisung von Sachbedeutungen", „als Strukturbeschreibung", „als Beschreibung der Wirkungen eines Textes", „als Beurteilen der Richtigkeit eines Textinhalts". Bühler hält „die Aktivitäten, die mit dem Wort .Interpretation' bezeichnet werden", für „so verschiedenartig, daß keine aussagekräftige Charakterisierung eines spezifischen gemeinsamen Bedeutungskerns möglich" sei: Jede „gedankliche Beschäftigung mit [...] Texten und sprachlichen Äußerungen" könne als Interpretation gelten (ebd., S. 132). Indes werden die von Bühler aufgelisteten Aktivitäten gemeinhin nur dann als „Interpretation" bezeichnet, wenn sie den von uns definierten propositionalen Kern haben. Keineswegs gelten alle Strukturanalysen, Textbeurteilungen und Wirkungsanalysen als Interpretationen, sondern nur solche, die mit Bedeutungszuweisungen operieren. Dasselbe lässt sich gegen die ältere Forderung Siegfried J. Schmidts (1979) einwenden, man solle auf den Ausdruck „Interpretation" verzichten und stattdessen jeweils „Analyse", „Wertung" usw. sagen.

19 sehen Interpretationen kennt - aber eine solche Interpretation muss auch die (zumindest indirekte) Funktion eines Werturteils haben, anderenfalls ist sie journalistisch verfehlt. Wissenschaftliche Interpretation kann alles Mögliche sein, vom Werturteil bis zur Verkündung einer Lehrmeinung, aber sie muss eben auch erklären, dass die zugeschriebenen Bedeutungen dem Gegenstand angemessen sind - anderenfalls ist sie philologisch verfehlt. Eine Begründung dieser Forderung findet sich sowohl in Kapitel 1.4 als auch am Ende des Untersuchungsteils in Kapitel 2.5.2 - dort gefolgt von einigen Vorschlägen für die Verbesserung literaturwissenschaftlicher Interpretationspraxis. (c) Erstbedeutung und Zweitbedeutung. Eine weitere terminologische Unklarheit, die vorab ausgeräumt werden soll, betrifft zwei Bedeutungsebenen, die sich beim literaturwissenschaftlichen Interpretieren fast immer unterscheiden lassen, und die mit Ausdrücken wie Erst- und Zweitbedeutung oder wörtliche und übertragene Bedeutung bezeichnet werden. Nach Klaus Weimar (2002, S. 110) zielt Literaturinterpretation auf „ein Verstehen des Verstandenen, ein Verstehen zweiten Grades". Interpreten suchten „nach einer Antwort auf die Frage, als was etwas sehr wohl Verstandenes sonst noch zu verstehen sei". Zwar unterschlägt Weimar hier den keineswegs außergewöhnlichen Fall, dass durch Interpretation etwas verständlich gemacht werden soll, das einem Verstehen ersten Grades nicht zugänglich ist - man denke an verrätselte Allegorien oder hermetische Gedichte. Ergänzt man die Bestimmung jedoch um diesen ausgeblendeten Normalfall, so erscheint sie zunächst plausibel: Literaturinterpretation gibt eine Antwort auf die Frage, als was etwas zu verstehen sei, das in einem ersten Schritt bereits verstanden oder noch nicht verstanden wurde. Literaturinterpretation, so könnte man zu definieren versucht sein, fügt den verstandenen oder nicht verstandenen Erstbedeutungen ihres Gegenstands Zweitbedeutungen hinzu und setzt beide in Relation zueinander. An dem Gedicht von Robert Frost lässt sich diese Auffassung gut illustrieren: Wir setzen wie selbstverständlich voraus, dass Interpreten mit „woods" und „miles to go" zunächst wörtliche Bedeutungen verbinden, bevor sie diesen Zeichen zudem übertragene Bedeutungen wie „Tod" und „Lebensweg" oder eben auch „Vanilleeis", „Surfen" und „Sex" zuschreiben. In der Tradition der Allegorese ist die Rede vom elementaren physischen oder historischen Schriftsinn, zu dem dann noch mehrere andere Schriftsinne hinzukommen. Im Zusammenhang mit der Symbolinterpretation14 spricht Gerhard Kurz (1993, S. 74) von einem „pragmatischen Verstehen", das dem Symbolverstehen vorausgehe: 14

Zum Unterschied zwischen Allegorese und Symbolinterpretation vgl. Kap. 1.1.3.

20 Pragmatisches Verstehen ist eine elementare Form des Verstehens in der Alltagswelt. Wir wenden dabei Prozeduren an, die sich z.B. von Fragen nach Gründen und Motiven, nach instrumenteilen Mittel-Zweck-Relationen, nach empirischen Gegebenheiten leiten lassen. Solche Prozeduren konstituieren Zusammenhänge von Handlungen und Ereignissen.

Das Symbolverstehen setze „dieses pragmatische Verstehen voraus" und beziehe die bereits verstandenen Zusammenhänge auf andere, ähnliche oder allgemeinere Zusammenhänge. Ähnlich lassen sich auch symptomatologische Interpretationen beschreiben: Basierend auf einem wörtlichen, pragmatischen Verständnis von „Wald" und „Weg" könnte man diese Textstellen zudem als Anzeichen bestimmter historischer Naturvorstellungen oder der seelischen Verfassung des Autors deuten. Der Makel all dieser zunächst plausiblen Bestimmungen liegt darin, dass sie das wörtliche, pragmatisch-alltägliche Verstehen für das kognitiv und zeitlich erste Verstehen halten, die anderen Formen aber für das kognitiv und zeitlich zweite. Konträr zu dieser Annahme sind - bezogen auf unser Textbeispiel - Individuen oder ganze Kulturen denkbar, die mit „Wald" spontan und nicht erst auf den zweiten Blick die Bedeutung großer Schrecknisse oder des Todes verbinden. Immerhin sind auch Angehörige einer Kultur bekannt, die mit der Darstellung eines historischen Hinrichtungsgestells spontan und nicht erst auf den zweiten Blick die Bedeutung einer Erlösung vom Tode verbinden. In solchen Fällen darf man bezweifeln, dass das symbolische Verstehen ein pragmatisches Verstehen kognitiv und zeitlich voraussetzt; die Behauptung eines generellen Vorausgesetztseins ist allenfalls in Bezug auf die kulturgeschichtliche, nicht aber auf die individuelle Symbolbildung plausibel. Kleinkinder lernen über die Darstellung unbekannter Tiere in Bilderbüchern zuerst, welche menschlichen Eigenschaften diese Tiere in unserer Kultur symbolisieren; später erfahren sie dann etwas über die realen Eigenschaften der Tiere. Dennoch wird niemand, der ein Märchen oder eine Fabel oder eben ein Bilderbuch interpretiert, zögern zu sagen, welches die „übertragenen" Zweitbedeutungen der Tiere sind: die anthropomorphen. Schließlich gibt es Experten, unter anderem Literaturwissenschaftler, die bei der Textwahrnehmung symbolische oder symptomatische Bedeutungen spontan vor allen anderen Bedeutungen verstehen und durch ein weiteres Nachdenken erst zu einem Verständnis der pragmatischen Erstbedeutungen gelangen. Diese Einwände zeigen: Die Unterscheidung zwischen Erst- und Zweitbedeutung ist eine reflexive Unterscheidung der Interpretation. Sie kann mit der spontanen, im Verstehen erfolgten Unterscheidung identisch sein. Sie kann diese Unterscheidung aber auch umkehren. Und sie kann in Fällen, in denen das spontane Verstehen zwei Bedeutungen ne-

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beneinander stehen lässt, überhaupt erst eine Unterscheidung treffen und eine als unstrukturiert und nicht-hierarchisch verstandene Ambiguität in eine hierarchisch strukturierte verwandeln. Auch in den Fällen, in denen ein einfaches, wörtliches, pragmatisches Verstehen am Anfang steht, kann eine Interpretation, die fragt, als was ein dergestalt „Verstandenes sonst noch zu verstehen sei" (Weimar), zu dem Ergebnis gelangen, das wörtliche, pragmatische Verstehen sei angemessen. In dem fiktiven Unterrichtsgespräch zieht Bonnie Argentini diese Möglichkeit in Erwägung: „es könnte doch auch sein, dass Robert Frost mit dem Wald einfach den Wald meint". Diese Interpretation ist keineswegs trivial, denn sie setzt das, was Robert Frost wörtlich mit „Wald" meint, nicht mit dem spontanen eigenen Verstehen gleich. Die genaue Bestimmung des Wörtlich-Meinens als Bedeutungsintention ist keine Bestimmung dessen, was Bonnie Argentini beim Lesen selbst wörtlich unter „Wald" verstanden hat, und es ist auch keine Bestimmung dessen, was „Wald" kontextfrei wörtlich bedeutet, denn kontextfreie Wortbedeutungen gibt es nicht (vgl. Searle 1982). Man müsste also interpretieren, was „Wald" im Kontext der Textentstehung wörtlich bedeutet. Zusätzlich müsste man klären, ob das Gedicht tatsächlich auf seinen Entstehungskontext referiert, oder ob es - was ja gelegentlich als eine Eigenart des künstlerischen Sprechens überhaupt gilt - seinen Entstehungskontext referentiell überschreitet. In diesem zweiten Fall wäre zu klären, ob „Wald" all das wörtlich bedeuten kann, was es in jedem Kontext bedeutet, oder ob die Kontexte, auf die sich der Text beziehen lässt, durch Textsignale eingeschränkt sind. Die Interpretation in wörtlicher oder pragmatischer Bedeutung ist also nicht nur nicht trivial; sie ist wegen des Problems der Referentialität literarischer Texte sogar äußerst schwierig. Klaus Weimar hat zwar Recht, wenn er sagt, dass Interpretation stets auf ein Verstehen „als was" zielt, doch er hat Unrecht, wenn er dieses „was" auf ein „was sonst noch" einschränkt. Interpretation kann auch darauf zielen, das spontane erste Verstehen zu bestärken und zu begründen, es also in ein Wissen über den Gegenstand zu transformieren.15 Zudem existiert die Möglichkeit, dass ein spontanes Symbolverstehen interpretatorisch zugunsten eines pragmatischen Verstehens revidiert wird: Wer z.B. mit dem Vorkommnis irgendeines Kreuzes in einem literarischen Text spontan christliche Vorstellungen assoziiert, könnte inter15

Glücklicher ist folgende Formulierung von Heinrich Gomperz (1992, S. 347) über wissenschaftliche Interpretation: „Der Gelehrte gibt sich nicht damit zufrieden, den Text so, wie er dasteht, zu verstehen. Er bemüht sich, darüber hinauszugehen und seine eigentliche Bedeutung' zu ermitteln". Diese Formulierung lässt die Möglichkeit zu, dass die eigentliche Bedeutung mit der spontan verstandenen konvergiert, wenn das Resultat des gelehrten Bemühens, über das ,Dastehende' hinauszugehen, negativ ist.

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pretierend zu dem Ergebnis gelangen, dass dieses Verständnis unangemessen ist. Zu untersuchen, welche wörtliche Bedeutung das „Kreuz" an der fraglichen Stelle hat, ist dann wiederum eine nicht-triviale Aufgabe. Bei der Interpretation (nicht beim Verstehen) sind Ausdrücke wie „wörtliche", „pragmatische" oder „erste Bedeutung" als Produkte einer reflexiven Unterscheidung logisch und zeitlich neben den Gegenbegriffen „allegorische", „symbolische" oder „zweite Bedeutung" angesiedelt. Von Erst- und Zweitbedeutungen ist in dieser Studie immer dann die Rede, wenn jemand einem Element oder mehreren verbundenen Elementen eines Textes Bedeutungen zuschreibt, die auf mehr als einer Ebene angesiedelt sind, und zwar so, dass die Bedeutungen in der Interpretation (nicht unbedingt im vorausgehenden Textverstehen) in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen: im Verhältnis des ersten und zweiten, des uneigentlichen und eigentlichen, des pragmatischen und symbolischen, des wörtlichen und allegorischen Sinns usw. Dieser Definition zufolge implizieren die Termini Erst- und Zweitbedeutung nicht, dass ein einfaches, wörtliches, pragmatisches Verstehen der Zuschreibung anderer Bedeutungen kognitiv und zeitlich vorausgeht; sondern die Termini beschreiben lediglich Unterscheidungen, die beim Interpretieren zwischen den zwei Bedeutungsebenen getroffen oder eben nicht getroffen werden. Gerade wegen dieser Neutralität gegenüber der Beschaffenheit des ersten, spontanen Verstehens erlaubt unsere Verwendung der Begriffe Erst- und Zweitbedeutung eine Beschreibung der Unterschiede und Übereinstimmungen zwischen der Interpretation und dem ursprünglichen Textverstehen - falls dieses dokumentiert ist oder aus dem Interpretationsresultat sich erschließen lässt. So ist z.B. die Feststellung möglich, dass eine bestimmte Interpretation auf dem Feld eines zunächst ungeordneten Verstehens oder Wissens über den Gegenstand eine Ordnung der Bedeutungen herstellt. Auf der Grundlage derartiger Feststellungen lassen sich unsere zentralen Fragen beantworten: Integriert die Interpretation die unterschiedlichen Elemente des Verstehens bzw. des Wissens, damit ein besseres Verstehen, eine bessere Erkenntnis sich einstellt, oder erhebt sie eine im Verstehen bzw. Wissen marginale Komponente zur eigentlichen Bedeutung, weil ein solches Interpretieren unabhängig von dem besonderen Gegenstand als normativ richtig gilt?

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Sprechhandlungen der Literaturinterpretation

Interpretation is not orte game but a family of games; and as in other families, there are sibling rivalries where the value and even legitimacy of certain members of the family are bitterly contested. It is not the job of the philosopher of criticism, as analyst, to award the birthright. Richard Shusterman, The Logic of Interpretation

Dieses Kapitel entfaltet handlungstheoretische Kategorien zur Untersuchung von Interpretationen. Im Sinne der Sprechakttheorie 1 wird das Interpretieren zunächst als propositionaler Akt (1.1) und nachfolgend als illokutionärer Akt (1.2) beschrieben. Weiterhin werden Bedingungen des interpretatorischen Handelns reflektiert (1.3); schließlich wird die Geltungsbasis literaturwissenschaftlicher Interpretationskritik bestimmt (1.4).

1.1

Propositionale Interpretationshandlungen

In seiner Typologisierung unterschiedlicher Arten von Interpretationen hat Göran Hermeren (1984, S. 142) folgende allgemeine Formel geprägt: „X interprets Y as Ζ for U in order to V" - ein Sprecher X interpretiert einen Gegenstand Y als Ζ gegenüber einem Adressaten U mit dem Zweck V. Die persönlichen und intersubjektiven Voraussetzungen, die Sprecher und Adressat (X und U) in die Kommunikation einbringen, interessieren uns erst in Kapitel 1.3. Die Handlungszwecke V gehören zu dem, was die Sprechakttheorie „illokutionären Akt" nennt, also zu der mit einer Äußerung vollzogenen kommunikativen Handlung. Diesen Bereich erörtern wir in Kapitel 1.2. Hier in Kapitel 1.1 wollen wir nur das Interpretieren von Y als Ζ erörtern, also das, was Searle (1971, S. 114) den „propositionalen Akt" nennt. Dieser besteht aus einem „Akt der Zur Terminologie der Sprechakttheorie vgl. Austin 1972; Searle 1971; Wunderlich 1976; sowie, als nach wie vor hilfreiche Einfuhrung, Hindelang 1983.

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Referenz" (ebd.) und einem „Sprechakt der Prädikation" (ebd., S. 189).2 Der in Hermerens Formel enthaltene propositionale Akt referiert auf das Interpretandum Y und prädiziert diesem das Interpretament Z. In unserem Beispielsatz „Der Wald symbolisiert den Tod" (vgl. die Einleitung) ist das grammatische Subjekt Wald das Interpretandum Y und das Objekt Tod das Interpretament Z. Es fallt unmittelbar auf, dass Hermerens Formel nicht unterscheidet zwischen der zugeschriebenen Bedeutung Ζ und der Art und Weise, wie Y auf Ζ verweist. 3 Dieser Verweisungsmodus heißt in unserem Beispielsatz „symbolisieren", und er hat dort die grammatische Funktion des Prädikats. Zwischen diesen drei Bestandteilen des propositionalen Gehalts eines Interpretationsakts wollen wir unterscheiden, wenn wir im Folgenden das Spektrum der Möglichkeiten untersuchen, 4 literarischen Texten Bedeutung zuzuschreiben. Wie zuletzt in der Einleitung gezeigt, unterscheiden Interpreten, die ihr Verstehen nicht nur zum Ausdruck bringen, sondern darüber reflektieren, zwischen der Ebene einfacher, wörtlicher, pragmatischer oder erster Bedeutungen und der Ebene weiterer, übertragener, symbolischer oder zweiter Bedeutungen. Und zwar unterscheiden sie diese Ebenen auch dann, wenn sie zu dem Resultat gelangen, der Text habe keine anderen als die einfachen Bedeutungen. Die als Interpretationsmöglichkeit stets mitbedachte Möglichkeit einer zweiten Bedeutung wird in solchen Fällen bewusst negiert - eben auf der Basis der reflexiv getroffenen Unterscheidung. Die Aussage, ein literarisches Phänomen habe eine Zweitbedeutung, referiert auf mindestens ein Textelement, dem zugleich eine Erstbedeutung zugeschrieben wird (1.1.1), und sie prädiziert diesem Element mindestens eine weitere Bedeutung (1.1.2) sowie einen Modus, in dem das mit einer ersten Bedeutung belehnte Zeichen auf die zweite Bedeutung verweist - und dies kann auch der Modus der Wörtlichkeit mit dem Resultat einer Identität von Erst- und Zweitbedeutung sein (1.1.3).5

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Wir wollen zunächst die sprechakttheoretische Auffassung ignorieren, dass der propositionale Akt im Kem von der spezifischen kommunikativen Handlung bestimmt ist, weil „die Prädikation [...] niemals selbständig, sondern immer nur in der einen oder anderen illokutionären Form" vorkommt (Searle 1971, S. 188). Wir kommen auf diese Frage im Abschnitt über die illokutionären Handlungen zurück (vgl. 1.2.1, Pkt. 3). Tatsächlich setzt Hermeren (1984, S. 143) beide Variablen gleich: „What is the object of interpretation interpreted as? What is, in other words, the relation between the variables Y and Ζ in the schema above?" (Hervorh. T.Z.). Die Relation kann nicht dasselbe sein wie das in Relation Gebrachte. Unsere Beschreibung ist also im Unterschied zu Searles Erörterung inhaltlicher, nicht prinzipieller Art: Es geht hier nicht um eine Rekonstruktion von Handlungsregeln der Referenz und der Prädikat ion, sondern um ein Raster zur Beschreibung konkreter Handlungen. Die zugeschriebene Bedeutung und der zugeschriebene Verweisungsmodus sind zwei Bestandteile des „Prädikatsausdrucks" (Searle 1971, S. 154).

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Zu dem Versuch, das propositionale Spektrum unseres Handlungstyps zu beschreiben, gibt es in der pragmatischen Theorie der Interpretation kaum Vorarbeiten. 6 Deshalb müssen wir hier an Systematiken anknüpfen, die nicht das Interpretieren selbst, sondern literarische Gegenstände betreffen. Beispielsweise werden in Gerhard Kurz' hermeneutischen, Umberto Ecos semiotischen und Paul Michels rhetorisch-sprechakttheoretischen Untersuchungen zu Symbol und Allegorie verschiedene Modi des Verweises zwischen Erst- und Zweitbedeutung beschrieben (vgl. Kurz 1993; Eco 1985; Michel 1987). Darauf können wir zurückgreifen bei der Bestimmung von Interpretationsakten, die Texten solche Modi zuschreiben. Sätze über Literatur werden also als Sätze über Literaturinterpretation reformuliert. Dabei kommen wir nicht umhin, an theoretisch und terminologisch stark heterogene Arbeiten anzuknüpfen und sie unter dem Dach einer Theorie der Interpretationshandlungen zu homogenisieren.

1.1.1 Erstbedeutungen Interpreten wählen Zeichen des interpretierten Textes aus und stellen eine Kombination der ausgewählten Zeichen her. Diese Handlung wollen wir unter einem inhaltlichen und einem strukturellen Gesichtspunkt betrachten: (1) Welche Erstbedeutungen wählen die Interpreten für eine weitere, übertragene Interpretation aus? (2) Wie lässt sich die interpretatorische Auswahl und Kombination von Zeichen in Relation zum Ausgangstext beschreiben? Die Erörterung dieses Punktes soll keine ontologische oder semantische Ordnung der möglichen Erstbedeutungen entwerfen, sondern nur an einigen Beispielen den Blick für Bevorzugungen und Ausgrenzungen von Textstellen in realen Interpretationshandlungen schärfen: Warum hält jemand bestimmte Inhalte, eine bestimmte Thematik eines Textes für besonders bedeutsam, warum nicht auch andere? Kann ich als Lehrer meinen Schülern durch Akzentsetzungen dabei helfen, die Bedeutsamkeit anderer Inhalte als der fokussierten in Erwägung zu ziehen? Wie erkenne ich in der Rezeptionsgeschichte eines Textes Vereinseitigungen bezüglich der Auswahl interpretierter Inhalte, und welche Inhaltskategorien kann ich dann als Alternativen vorschlagen?

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So beschreibt Werner Strube in seinem Buch Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft die unterschiedlichen Interpretationsakte äußerst knapp (1993, S. lOOff.; 116ff.), wesentlich breiter deren Synthese und Vertextung (ebd., S. 103ff., 119ff.).

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(1)

Inhalte

Fragt man, welchen Inhalten eines Textes eine Zweitbedeutung zugeschrieben werden kann, so lässt sich feststellen, dass es in dieser Hinsicht keine Begrenzung gibt: Alles kann in einem übertragenen, weiteren (oder aber wörtlichen) Sinn verstanden werden. Dennoch handeln Rezipienten bei der Auswahl der Inhalte nicht völlig frei. Vielmehr gibt es Selektions-Konventionen, die oft ganz explizit zur Geltung gebracht werden, wenn z.B. ein Lehrer dazu auffordert, das Dingsymbol der Novelle zu bestimmen und zu deuten, oder wenn eine Literaturwissenschaftlerin sich mit einer paradigmatisch gewordenen allegorischen Interpretation eines Gedichts auseinandersetzt. Auch sind die Interpreten nicht völlig frei in der Wahl der Konvention, welcher sie folgen, vielmehr korreliert die gewählte Konvention häufig mit der literarischen Konvention, die sie dem Text selbst zuschreiben. .Geschulte' Rezipienten machen es von Genre, Thema, Epoche und Autor eines Textes abhängig, welchem Inhalt sie eine Zweitbedeutung zuschreiben: einem Ereignis, einer Handlung, einer Ereignis- oder Handlungsfolge, einer Eigenschaft, einem Gegenstand, einer Lokalität, einer Figur, einer Figurenkonstellation - um nur einige Beispiele zu nennen. In der Theorie der Exegese künstlerischer, aber auch heiliger Texte wird seit jeher versucht, die mit Zweitbedeutungen belehnten oder belehnbaren Inhalte unabhängig von den genannten spezifischen Kontexten nach allgemeinen Gesichtspunkten systematisch zu ordnen. Um nur zwei Beispiele herauszugreifen: Die Scholastik fragte, in welchen Dingen der Natur und der Heiligen Schrift - sich Gott allegorisch offenbart. Im 12. Jahrhundert zählte Hugo von St. Victor sechs Kategorien: Gegenstand, Person, Zahl, Raum, Zeit, Ereignis (vgl. Freytag 1982, S.40). Im 20. Jahrhundert versuchte die Sprachfeldforschung (Trier 1932), die Inhalte nicht ontologisch zu kategorisieren, sondern sie semantisch zu bündeln (z.B. Wetter, Landschaft, Jahreszeit). Solche der Intention nach kontextübergreifenden Systematisierungen sind gleichwohl abhängig von den subjektiven Verstehenskontexten der Interpreten, von den Weltbildern und Sprachauffassungen einer Epoche, einer Denkschule oder eines Individuums. Wer die überhaupt möglichen Gegenstände von Bedeutungszuschreibung auswählt und ordnet, rekurriert notwendig auf jene Ordnung des Seienden oder der Sprache, in der er sich immer schon bewegt. Werden beispielsweise in biblischer Tradition Wortpaare wie „Spelze - Korn, Wabe - Honig, Wolke - Wasser" ganz selbstverständlich als Signale allegorischer Rede verstanden (Kurz 1993, S. 64), so ist diese Konvention zum einen bedingt vom alltäglichen Handlungswissen einer agrarischen Gesellschaft, zum anderen von einer

27 Weltdeutung, die dem Gegensatz Substanz — Akzidenz folgt. Wenn Link u.a. in ihrer Bibliographie zur neueren Symbolforschung die bedeutsamen Inhalte den drei Kategorien Situation, Prozess und Struktur zuordnen (Drews/ Gerhard/ Link 1985, S. 335-360), so zeigt sich daran eine weltbildliche Bevorzugung von Zusammenhängen bzw. von komplexem Seienden gegenüber Einzelnem und Einfachem. 7 Neben der Bevorzugung von Gesamtheiten gegenüber Einzelnem findet sich in der gerade erwähnten Symboltheorie Jürgen Links eine auch von anderen Autoren vorgenommene Ausgrenzung nicht-ikonischer Inhalte aus dem Bereich des Symbolfahigen. Angeblich sind Erstbedeutungen, die auf ein zweites, symbolisiertes Signifikat verweisen, stets gekennzeichnet durch „visuelle Darstellbarkeit, Repräsentierbarkeit, also (zumindest potentielle) Überschreitung des sprachlichen auf ein ikonisches Zeichensystem hin" (Drews/ Gerhard/ Link 1985, S. 260f.). Dagegen ist einzuwenden, dass in religiösen Traditionen der Exegese, aber auch in vielen literarischen Interpretationen, nicht-bildliche Signifikate wie Zeitvorstellungen, Zahlen oder Klänge gleichermaßen als Indiz für eine zweite Bedeutung angesehen werden. 8 Die Verabsolutierung ikonischer Inhalte ist in diesem Fall vermutlich von zeichentheoretischen Grundannahmen bedingt. 9 Um die in einer Theorie oder einer Interpretationspraxis herrschende Bevorzugung oder Verabsolutierung bestimmter Kategorien beschreiben und kritisieren zu können, muss eine Theorie der Interpretation die vernachlässigten oder verdrängten Kategorien in ihr eigenes Untersuchungsraster ausdrücklich einfuhren. So können wir - um die vorstehenden Beispiele aufzugreifen - Interpretationen unter anderem danach unterschei7

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Aus der Ordnung fallen sämtliche Gegenstände, Eigenschaften und Ereignisse heraus, deren Erstbedeutung nicht als Situation, Prozess oder Struktur verstanden werden kann, und versammeln sich ungeordnet in einer Restkategorie mit dem Titel „Verschiedenes". Diese umfasst disparate Inhalte wie Spiegel, Farben, Werkzeuge oder Waffen (ebd., S. 360). Zu Zeit und Zahl s.o. das Beispiel aus der Scholastik. Die Tradition der etymologischen Allegorese des Wortklangs hat ihren Ursprung in der Mythos-Deutung der Stoa (vgl. Blönningen 1992, S.23f.). Dass strukturalistische Autoren die Ikonizität der Erstbedeutung für ein allgemeines Kriterium halten, mag damit zusammenhängen, dass Saussure und seine Nachfolger das Signifikat als Ikone darstellten. In Links Symboltheorie gilt zudem das barocke Emblem als „Musterbeispiel" von Symbolik überhaupt (vgl. z.B. Drews/ Gerhard/ Link 1985, S.265). Auf sprachliche Symbole bezogen, ist dieses Paradigma indes eine Metapher: Embleme enthalten bereits auf der Ebene des Signifikanten eine ikonische Darstellung, die pictura, die in der erläuternden subscriplio begrifflich ausgelegt wird. Sprachliche Symbole jedoch enthalten auf der Ebene der Signifikanten keine Ikonen, sondern Wörter, denen ikonisch darstellbare Signifikate zugeschrieben werden können - aber nicht zugeschrieben werden müssen.

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den, ob sie komplexen oder einfachen, ob sie ikonischen oder nichtikonischen Signifikaten eine zweite Bedeutung hinzufügen. Ähnlich lassen sich weitere Kategorisierungen kritisieren und erweitern, etwa Paul Michels Unterscheidung „biomorpher", „soziomorpher" und „technomorpher" Inhalte auf der „Bildseite" von Gleichnissen (1987, S.254). In dieser semantischen Reihe, die von der belebten Natur über die menschliche Gesellschaft hin zu unbelebten menschlichen Erzeugnissen führt, fehlt das erste Glied: die unbelebte Natur. Setzte man einen entsprechenden in die Reihe passenden Terminus ein, z.B. „geomorph", so fiele auf, was diese Reihe wegen der ihr zugrunde liegenden Ontologie überhaupt ausgrenzt: die Kategorie des Amorphen. Auch Phänomene, die im 18. Jahrhundert als erhaben galten, weil sie unserem Verstand und unserer Einbildungskraft inkommensurabel bleiben - Meere, Steinwüsten, Stürme, das Firmament - können mit einer Zweitbedeutung belehnt werden. Nicht nur von allgemeinen weltbildlichen Bedingungen hängt die inhaltliche Auswahl jener Erstbedeutungen zusammen, denen eine Zweitbedeutung zugeschrieben wird, sondern selbstverständlich auch von den besonderen Wissenszusammenhängen, in die ein interpretierter Text eingeordnet wird. Stellt beispielsweise ein Interpret Goethes Wahlverwandtschaften in psychoanalytische Wissenszusammenhänge, so ist es nicht ganz unwahrscheinlich, dass er oder sie auf das Vorkommen länglicher Gegenstände achtet (vgl. u. Kap. 2.3.2, Pkt. 3). Die Zuschreibung von Zweitbedeutungen steuert die Auswahl von Erstbedeutungen. (2)

Strukturen: Auswahl und Kombination von Erstbedeutungen

Interpreten grenzen die Signifikanten, denen sie mehr als eine Bedeutung zuschreiben, von den Signifikanten ab, denen sie keine Zweitbedeutung zuschreiben, und stellen innerhalb eines interpretierten Textes eigene Verknüpfungen zwischen den Signifikanten mit Mehrfachbedeutung her. So konstruieren sie einen allegorischen, symbolischen oder symptomatischen Text im Text. Der Zusammenhang zwischen dem interpretatorisch hergestellten tropischen Text zum gesamten Text kann als ein intertextueller verstanden und bestimmt werden: Das Interpretandum ist der eine Prätext der Interpretation (der zweite ist das Interpretament; wir kommen darauf zurück). Daher werden im Folgenden einige der Kategorien verwendet, die Manfred Pfister zum Zwecke einer kategorialen Differenzierung und Skalierung von Intertextualität vorgeschlagen hat (Pfister 1985, S. 25-30). Zunächst kann ein interpretatorisch hergestellter tropischer Text mit unterschiedlich starker Selektivität - wie Pfister (ebd., S. 27) es nennt auf den interpretierten Ausgangstext bezogen sein: Die Interpretation

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wählt im einen Extremfall bestimmte Signifikanten, im anderen Fall den gesamten Text für eine Zuschreibung übertragener Bedeutungen aus. In der Forschung ist umstritten, ob es eine Mindest- und Höchstmenge von Zeichen gibt, die in einem gegebenen Text interpretatorisch markiert werden müssen bzw. dürfen. Jürgen Link und seine Mitarbeiter bestreiten die Möglichkeit, dass ein einzelner Signifikant bereits eine zweite Bedeutung haben kann, und postulieren, ein Symbol müsse wenigstens eine „minimale Isotopie", also eine Verbindung mindestens zweier paradigmatisch verbundener Signifikanten enthalten (Drews/ Gerhard/ Link 1985, S.264). Gegen dieses Postulat spricht allerdings die - in Kognitionspsychologie, Rezeptionsästhetik und Semiotik reflektierte - Erfahrung, dass die Verbindung eines Zeichens mit einem semantisch verwandten Zeichen nicht im Text selbst enthalten sein muss, sondern von den Rezipienten „inferentiell" bzw. „elaborativ" (vgl. Schnotz 1988) hinzugefügt werden kann. Um es an einem der gebräuchlichsten Symbole zu zeigen: Ein im Text nicht isotopisch eingebundenes „Kreuz" dürfte die meisten, nicht nur christliche Rezipienten dazu veranlassen, verwandte Vorstellungen (Schmerz, Tod, Erlösungsglaube o.ä.) hinzuzufügen und im Textverstehen eine Text-Kontext-Isotopie zu erzeugen. Einzelne Zeichen können daher sehr wohl als Symbole verstanden werden; auch im Bereich der poetischen Sinnfiguren lässt sich mit Quintilian zwischen rhetorischen Figuren „in pluribus" und „in singulis verbis" unterscheiden (Quintilian 1988, Bd. 2, S. 154 [=VIII, 3, 15]).10 Auf andere Weise problematisch ist die Setzung einer „oberen Grenze" bei der Selektion symbolischer Zeichen. Obwohl Link u.a. feststellen, dass „Symbole immer wieder in symbolische Narrationen übergehen", wenden die Autoren sich gegen die Bestimmung ganzer Texte als Symbole und gelangen zu dem Postulat, dass „.allegorische Erzählungen', .Parabeln' und .Fabeln' [...] außerhalb des engeren Bereichs der Symbole fallen" (Drews/ Gerhard/ Link 1985, S.264f.). Nun ist es wiederum eine Tatsache der Erfahrung, dass bei der Interpretation von Gleichnissen, von symbolischen Gedichten oder von dicht gewobener allegorischer Prosa in der Tat dem Zusammenhang sämtlicher Zeichen eine zusammenhängende übertragene Bedeutung zugeschrieben werden kann. Gleichwohl ist der Satz, Parabeln seien keine Symbole bzw. Allegorien, vollkommen zutreffend - nur auf einer ganz anderen Ebene: Mit dem Begriff Parabel wird das Genre bestimmt, mit dem Begriff Allegorie die Sinnfigur. Auch wenn sich die Figur über den ganzen Text er-

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N u r fur die Allegorie, die Link als S o n d e r f o r m des S y m b o l s behandelt, gilt d e r Satz Melanchtons, sie sei eine Figur i m Satz, nicht im einzelnen Wort (vgl. Alt 1995, S . 4 9 . Z u r Unterscheidung von S y m b o l und Allegorie vgl. u. 1.1.3).

30 streckt, ist sie nicht mit dessen Genre identisch. Die Setzung quantitativer Grenzen erweist sich also in beiden Richtungen als unbegründet: Interpreten können einem einzelnen oder sämtlichen Zeichen eine Zweitbedeutung zuschreiben. Unter dem Aspekt der Selektivität stellt sich weiterhin die Frage, welche der im Ausgangstext gestalteten strukturellen Zusammenhänge zwischen den Zeichen interpretatorisch ausgewählt werden. Auch in diesem Punkt gibt es unterschiedliche Verstehens-Konventionen, die meist als Eigenschaft der literarischen Texte beschrieben werden. So heißt es bei Kurz (1993, S. 50): „Vereinfachend lassen sich zwei Formen literarischer Allegorien unterscheiden: die narrative und die deskriptive Allegorie." Der Unterschied, ob die zeitliche Abfolge oder das räumlich-situative Nebeneinander von Elementen für bedeutsam erklärt wird, ist kein ausschließlich inhaltlicher, denn in beiden Fällen ist die grammatische und somit auch strukturelle Verknüpfung der Zeichen eine andere. Michel, der die „formale Struktur" von Allegorien anhand einer Untersuchung beliebter „Bildspenderbereiche" zu differenzieren versucht, unterscheidet „strukturelle", „chronologische", „situative" und „lose" Relationen, die zwischen den Elementen bestehen. Als Beispiele solcher Relationen nennt er: „A ist Teil von B", „A ist in B", „A ist größer als B", „A ist notwendige Grundlage für B", „A bewirkt B", „[erst] Α und dann B", „A, damit B". Auch die Relationen, die Michel als lose bezeichnet, lassen sich ähnlich ausdrücken: Die allegorisch verstandenen sieben Planeten stehen im Verhältnis „A befindet sich neben Β usw." zueinander, die Einzelteile einer Rüstung im Verhältnis „A und Β sind gemeinsame Teile (bzw. Eigenschaften) von X" (1987, S.456ff.). Man sieht, dass diese Differenzierung auf eine Liste syntaktischer Relationen hinausläuft. Die Verhältnisse zwischen den Elementen lassen sich unter anderem adverbial ausdrücken, nämlich als Bestimmung von räumlichen, zeitlichen, modalen, kausalen, konsekutiven, adversativen, finalen Verhältnissen usw.; sie lassen sich aber auch mit den anderen syntaktischen Relationen ausdrücken: „Subjekt, Prädikat, Objekt, Prädikatsnomen oder Attribut von". Der Tatsache, dass Sätze und Texte vollständig in (allegorischen) Zweitbedeutungen verstanden werden können, da keine obere quantitative Selektionsgrenze existiert, entspricht die Einsicht, dass eine vollständige Bestimmung möglicher Verknüpfungen der für die Zuschreibung von Zweitbedeutungen ausgewählten Zeichen nur als vollständige Bestimmung der Syntax einer Sprache möglich wäre. Dadurch, dass die Interpretation nicht alle, sondern eben nur die zur Deutung ausgewählten Signifikanten miteinander verbindet, gewinnt die ausgewählte Textmenge eine eigene grammatische und damit zugleich eine eigene semantische Struktur, die mit der Struktur des kompletten

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Textes normalerweise nicht identisch ist. Pfister spricht von der intertextuellen Strukturalität, und meint damit die „syntagmatische Integration" der Prätexte in den Text. Wir fragen zunächst einmal nur nach der Teilstruktur der in die Interpretation aufgenommenen Elemente des Textes." Bei der Interpretationsanalyse ist nämlich von Interesse, in welchem Verhältnis die hergestellten Verbindungen zwischen den ausgewählten Zeichen zu deren ursprünglicher grammatischer Verknüpfung im Ausgangstext stehen. Nehmen wir als Beispiel das in der Einleitung zitierte Robert-Frost-Gedicht. Wer dieses Gedicht als Allegorie eines negierten Todeswunsches liest, stellt vermutlich eine Verknüpfung her zwischen dem ersten Wort des Gedichttitels, dem Verb „to stop", und dem letzten Wort des Gedichts, dem Verb „to sleep". Im Lichte der genannten Interpretation lässt sich ein kausaler bzw. finaler Zusammenhang der beiden Elemente konstruieren: Das Ich, von dem hier gesprochen wird, hält am Waldrand, weil es ,müde' ist bzw. um dort ,einzuschlafen'. Diese Grammatik der interpretierten Allegorie ist aber nicht mit der Grammatik des Textes identisch. Hinsichtlich der Konjunktionen gibt es dort nur ein adversatives Verhältnis zwischen den Wald-Eigenschaften und dem Schlafen: „The woods are lovely, dark an deep, / But I have promises to keep,/ And miles to go before I sleep" [Hervorh. T.Z.]. Ein Kausalverhältnis zwischen dem Anhalten und einem Schlafen-Wollen ist nicht gestaltet, kann aber ohne logischen Bruch oder Widerspruch schlussfolgernd behauptet werden. Es gibt indes auch Texte, in denen Satzglieder so montiert sind, dass die syntaktischen Verhältnisse mehrdeutig und nicht einfach zu erschließen sind. Interpreten solcher Texte stehen vor dem Problem, nicht einmal mit relativer Sicherheit angeben zu können, welche Relationen der Elemente impliziert sind.

1

'

An dieser Stelle sei die Behauptung zurückgewiesen, das Resultat literaturwissenschaftlicher Interpretation sei stets „das Verstehens von Texten in ihrer Ganzheit", eine Deutung beziehe sich immer „auf den ganzen Text" (Spree 2000, S. 168f.). Dieses u.a. aus der Untersuchung konstruierter Gedichtinterpretationen abgeleitete Postulat (vgl. Strube 1993, S. 107) erweist sich in Bezug auf Texte wie Goethes Wahlverwandtschaften oder Musils Der Mann ohne Eigenschaften als schlechterdings unerfüllbar. Auch bei weniger komplexen Texten ist es eine verbreitete und in der Literaturwissenschaft anerkannte Praxis, ein einzelnes Kapitel, die Konstellation bestimmter Figuren, eine Isotopie oder ähnliche Ausschnitte eines Textes zu deuten. Jenes Postulat, das von Methodologen aufgestellt wurde, die selbst keine Interpretationspraktiker sind, hat weder in deskriptiver noch in normativer Hinsicht einen Wert. Vielmehr handelt es sich um die falsche Schlussfolgerung einer unerfüllbaren Aussagenorm aus einem erfüllbaren Falsifikationsprinzip. Richtig ist, dass jedes Element einer Deutung mit allen Elementen des fraglichen Textes vereinbar sein muss; ein Trugschluss ist es, deshalb zu meinen, die Vereinbarkeit mit der Ganzheit des Textes müsse in jeder Interpretation auch aufgezeigt werden.

32 Nun kann man Interpretationsakte nicht allein deshalb zurückweisen, weil die in ihnen hergestellte grammatische Verknüpfung eine andere ist als diejenige des Interpretandums. Veränderungen im Bereich der Zeichenverknüpfung lassen sich aus dem Sprachspiel der Interpretation nicht exkommunizieren. Interpretationen stehen immer in einem Verhältnis der „Dialogizität" (Pfister 1985, S.29) zu ihren Ausgangstexten. Weil Interpretationen angeben, was mit der Textaussage gemeint ist, kommen sie ohne grammatische und semantische Differentialität nicht aus.' 2 Wer meint, die Interpretation müsse sich dem Ausgangstext eigentlich anähneln, hat die Regeln des Sprachspiels nicht verstanden. Wer eine bestimmte Differenz als unangemessen zurückweisen will, muss im Einzelfall die Selektion, Ergänzung und Verknüpfung von Zeichen, denen Bedeutung zugeschrieben wird, an einer der Instanzen messen, mit deren Hilfe man philologisch für oder gegen die Angemessenheit von Interpretationen argumentieren kann (vgl. u. Kap. 1.4.2): Passt die Unterstellung eines verborgenen Kausalverhältnisses zwischen zwei aufgezählten Zeichen zum Individualstil Robert Frosts? Passt die damit vollzogene inhaltliche Verbindung von Naturbetrachtung und Todessehnsucht zum Gattungs- bzw. Entstehungskontext? Mit der Lizenz zur syntaktischen und semantischen Abweichung des interpretatorisch hergestellten Textes vom Ausgangstext ist aber auch die Möglichkeit eröffnet, vom Wortlaut der einzelnen Signifikanten abzuweichen und diese in einer interpretatorischen Paraphrase oder Inhaltsangabe durch Synonyme oder durch zusammenfassende Begriffe zu ersetzen, die beispielsweise eine Gruppe oder Abfolge von Zeichen oder eine Isotopie benennen. In dem fiktionalen Beispiel, das wir in der Einleitung untersuchten, fragt die Lehrerin nach der symbolischen Bedeutung des „Wegs", obwohl dieses Wort in dem Gedicht Robert Frosts gar nicht vorkommt. Das Zitat, die Subsumption eines Ausdrucks unter einen Begriff und die Ersetzung durch ein paraphrasierendes Synonym lassen sich mit Pfister als Formen einer gleichermaßen starken intertextuellen Kommunikativität (1985, S.27) bezeichnen: In all diesen Fällen wird deutlich mitgeteilt, dass die Interpretation sich auf das Interpretament bezieht. Wird von einer Interpretation hingegen gesagt, sie entferne sich an bestimmten Stellen vom Text, kann dies daran liegen, dass sie den 12

Schwach dialogisch nennt Pfister (1985, S.29) die bloße Wiederholung einer früheren Aussage, stärker dialogisch deren Negation und besonders stark dialogisch deren Abwandlung. Lachmann (1990, S.38f.) spricht in diesen drei Fällen von kompilatorischer, tropischer (gemeint ist: das Gegenteil aussagender) und transformatorischer Intertextualität. Der Begriff Dialogizität ist etwas unglücklich, weil zu allgemein: Er benennt das Faktum des intertextuellen Bezugs überhaupt, nicht den gemeinten Aspekt semantischer Differenz.

33 Lesern nicht mehr verständlich macht, auf welche Weise sie ihren Gegenstand zum Prätext hat. Interpretationen zeigen in unterschiedlichem Maße ein reflexives Bewusstsein von der Tatsache, dass sich der von ihnen hergestellte Text von dem Ausgangstext unterscheidet und dass bereits jeder interpretatorischen Wiederholung von Textelementen unweigerlich eine hermeneutische Differenz eingeschrieben ist.13 Pfister spricht von intertextueller Autoreflexivität, um den Grad bestimmen zu können, in dem sich ein Bewusstsein von der Intertextualität des Textes zeigt. In unserem Zusammenhang stellt sich mithin die Frage: Wissen die Interpreten, dass sie die Zeichen des Textes in einen anderen Text einbinden? Geben sie ein solches Wissen zu erkennen?14 Die bei Pfister zuerst genannte Kategorie muss bei uns an letzter Stelle stehen: die intertextuelle Referentialität, deren Stärke sich danach richtet, ob sich die späteren Texte „vorgegebener Texte [...] entweder einfach bedienen oder aber auf sie referieren" (ebd., S. 25). Interpreten wählen, wie gesehen, immer Elemente des gegebenen Interpretandums aus - auch dann, wenn sie diese in anderen Worten wiedergeben. Der Bezug auf die Erstbedeutungen ist zwangsläufig hoch referentiell, wenn ein bestimmter Text interpretiert wird.

1.1.2 Zweitbedeutungen Bei der Interpretation übertragener Bedeutung werden bestehende Wissensinhalte aktiviert und kombiniert. Auch diesen Vorgang wollen wir unter einem inhaltlichen und einem strukturellen Gesichtspunkt betrachten: (1) Aus welchen Wissensbereichen stammen die übertragenen Bedeutungen? (2) Wie lässt sich die interpretatorische Auswahl und Kombination von übertragenen Bedeutungen in Relation zu ihrer Herkunft beschreiben? Ein genaues Differenzierungsvermögen hinsichtlich zugeschriebener Bedeutungen ist von Nutzen, wenn man rekonstruieren will, wie jemand - z.B. man selbst - zu einer bestimmten Bedeutungszuschreibung gelangt ist, oder wenn man eine Zuschreibung begründen will 13 14

Diese Differenz meint de Man, wenn er jede Lektüre allegorisch nennt (1993, S. 104). Schwache intertextuelle Autoreflexivität von Interpretationen kann die Ursache haben, (a) dass die Autoren ihre Zitate, Paraphrasen usw. nicht als einen eigenen Text durchschauen, sondern meinen, dieser sei dem Prätext eigentlich gleich, (b) dass die Differenz ihnen zwar bewusst ist, aber als unproblematisch gilt (in manchen Formen essayistischen Schreibens wird die selbstverständliche Differenz nicht reflektiert, weil der Text primär ein Anlass ist, ausgreifende Fragen zu erörtern), oder (c) dass sie die wahrgenommene und als problematisch empfundene Differenz aus Sorge um die Validität ihrer Interpretation verschleiern.

34 oder wenn man nach einer angemesseneren Bedeutung sucht und das Feld der Suche strukturieren möchte. (1)

Inhalte: Wissensbereiche von Zweitbedeutungen

Wer unter diesem Aspekt literarische Texte selbst untersucht, stellt die Frage, „welche Deutungshorizonte die Allegorie [oder das Symbol, T.Z.] jeweils anpeilt" (Alt 1995, S. 7). Wer Äußerungen über Texte untersucht, fragt hingegen: In welchen Deutungshorizont oder Kontext stellt ein Interpret die Zeichen, die er zur Interpretation auswählt und verbindet? Zunächst wollen wir unterscheiden, ob das aktivierte Wissen einem Entstehungskontext oder einem Verstehenskontext angehört: Handelt es sich um ein Wissen über die Welt, in welcher der Text produziert wurde, oder um ein Wissen über die Welt, in welcher der Text rezipiert wird?15 In beiderlei Hinsicht sei zwischen vier idealtypischen Wissensfeldern unterschieden, die sich allerdings - da jedes Wissen mehrfach indiziert ist - in der Empirie überschneiden. (a) Alltagswissen. Beim Rekurs auf den Entstehungskontext wird ein Wissen über die historische Lebenswelt aktiviert, nicht nur biographisches Wissen über das Leben des Autors, sondern überhaupt alltagsgeschichtliches Wissen über die Epoche, Kultur und Gesellschaft, in der ein Text entstand. Überschreitet der Rezipient seinen Verstehenskontext nicht, so projiziert er lebenspraktisches Wissen über den eigenen Alltag auf den Text. Weil es meist ein nicht als solches durchschautes Wissen ist, wird es häufig mit unreflektierter Selbstverständlichkeit zugewiesen. Auch geübte Leser, die mit einer für sie neuen Epoche, einem neuen Kulturkreis oder einem neuen Autor konfrontiert sind, stellen mitunter fest, dass ihr Textverstehen mangels Gegenstandswissen von der Aktivierung eigener Alltagsvorstellungen bestimmt ist, aber da sie dies bemerken, wissen sie um die Vorläufigkeit ihres Verstehens. (b) Artefaktwissen. Dieser Begriff ist hier in einem weiten Sinn gemeint, nämlich als ein Wissen, das ästhetische Produkte betrifft - seien es Romane, Theaterstücke, Gedichte, Gemälde, Filme, Opern, Musicals, Comics usw. 16 Artefaktwissen bezieht sich auf die Inhalte oder auf die Form, die Gemachtheit künstlicher Welten. Beim Rekurs auf den Entstehungskontext aktivieren wir Wissen über Stoffe, Motive und Topoi, über Gattungseigenschaften, Stile, literarische Formen usw., in deren Kontext ein Text objektiv stehen könnte. Wird Artefaktwissen aus dem Verste15 16

Danneberg (1990, S. 101 f.) spricht von „Interpretationskontext" und „Einflußkontext". Die Grenze zwischen lebenspraktischem Alltagswissen und Fiktionswissen ist fließend: Kunstprodukte legen die Alltagswelt aus; alltägliche Wahrnehmungen und Handlungen sind von Kunstprodukten geprägt.

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henskontext aktiviert, so stellen die Rezipienten meist Ähnlichkeitsrelationen zwischen den Bedeutungen her. Das Verständnis eines schon bekannten Textes, Films usw. wird so auf eine neue Rezeptionssituation ausgedehnt. Stellen wir uns einen Rezipienten vor, der eine bestimmte Filmfigur für einen Mörder hält, weil Aussehen, Stimme und Bewegung der Figur ihn an den Täter Norman Bates aus Hitchcocks Psycho erinnern. Die Elemente des Prä-Films haben für diesen Rezipienten eine symbolische oder symptomatische Bedeutung gewonnen; sie zeigen z.B. den Mutterkomplex als Tatmotiv an. Sobald der Zuschauer sein aktiviertes Artefaktwissen am Gegenstand misst und zu der Überzeugung gelangt, dass der Film tatsächlich eine Hitchcock-Anspielung enthält oder eben nicht, hat er jenes Wissen in ein Wissen über den Entstehungskontext verwandelt. Auch Wissenschaftler gehen immer wieder auf diese Weise vor: Der Barock-Experte, der ein romantisches Gedicht zunächst wie ein Gryphius-Sonett liest, ohne dies im Entstehungskontext zu begründen; der Fin-de-siecle-Kenner, der Celan zunächst symbolistisch liest - sie setzen ihr bestehendes Fiktionswissen heuristisch ein, bis sie auf Unverträglichkeiten stoßen, die eine gezielte Verfeinerung des Fiktionswissens erforderlich machen. (c) Sachwissen. Betrachten wir zunächst ein Beispiel für die Zuschreibung von Sachwissen aus dem Verstehenskontext: Ein wachstumskritischer Ökonom liest Goethes Faust und meint, dort würden zentrale Erkenntnisse über die moderne Geldwirtschaft und Naturausbeutung nicht nur dargestellt, sondern auch kritisiert (Binswanger 1985). Im Unterschied zum Alltagswissen, das unser Verhältnis zu der permanenten Umwelt unseres Handelns bestimmt, und im Unterschied zum Artefaktwissen, das uns als Wissen über künstliche Welten bewusst ist, wird hier ein Wissen aktiviert, das von einer versachlichenden Einstellung zu unserer Umwelt sowie von einem Primat der Erkenntnis vor dem Handeln bestimmt ist. Sachwissen vergegenwärtigt uns Ausschnitte der Umwelt, die uns als solche nicht permanent bewusst und verfügbar sind.17 Bei einem interpretatorischen Rekurs auf den Entstehungskontext gibt es zweierlei aktivierbares Sachwissen: Historisches Wissen, dem ein heutiger Interpret die Zweitbedeutung eines Textes entnimmt, oder heutiges Wissen über den historischen Text und seine Kontexte. Die als Ökonomie-Symbolik verstandenen Stellen des Faust lassen sich entweder mit dem historischen ökonomischen Wissen oder aber mit dem heutigen

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Da Fachwissen unser Alltagswissen mitbestimmt, ist auch diese Grenze fließend: Wer wollte z.B. die denkbare Interpretation, der Kontrast von Schweigsamkeit und Schreibwut in Goethes Ottilie-Figur sei Zeichen einer Persönlichkeitsspaltung, eindeutig dem Fachwissen (Psychoseforschung) oder dem psychologischen Alltagswissen zuordnen?

36 Wissen über das historische Wirtschaften näher bestimmen. Im ersten Fall betreibt die Interpretation das, was Link (1988) „Interdiskursanalyse" nennt: Die sprachlichen Bezüge zwischen dem literarischen und dem ökonomischen Diskurs um 1820 werden beschrieben. (d) Sinnwissen. Insbesondere beim spontanen Verstehen werden oft komplexe Weltdeutungen aktiviert, die verschiedene Wissensinhalte integrieren. Religionen, profane Ideologien und sinnstiftende philosophische Lehrgebäude enthalten neben Welterklärungen häufig auch generelle Handlungsorientierungen und -anweisungen. Vom Alltagswissen unterscheidet sich das Sinnwissen nicht, wie das Artefaktwissen, durch die Irrealität seiner Gegenstände und nicht, wie das Sachwissen, durch die kognitive Vergegenwärtigung der im Alltag verborgenen Bestandteile der Umwelt, sondern durch die integrative und häufig zugleich normative Einstellung zur gesamten Umwelt und die reflexive Einstellung zum übrigen Wissen. Dass Interpreten das Sinnwissen ihres Verstehenskontextes aktivieren und dieses in literarischen Texten wiederfinden oder vorweggenommen finden, ist der Normalfall; auch Philologen lesen Texte häufig im Lichte ihres gegenwärtigen Sinnwissens identifikatorisch. Hier kann die Identifikation wiederum eine Heuristik zur Bestimmung des Divergenten und zur Aktivierung historischen Wissens sein. Beim Rekurs auf den Entstehungskontext werden dann historische Sinnsysteme benannt, auf die der Text nach Auffassung des Interpreten allegorisch, symbolisch oder symptomatisch verweist. Häufig wird eine Abweichung des Textes von dem Sinnsystem konstatiert, auf das er sich beziehe: Literaturwissenschaftler behaupten dann, ein Text erweitere oder kritisiere die historischen Sinnsysteme (oder das historische Sachwissen). Durch die Behauptung solcher Abweichungen werden nicht selten Entstehungskontext und Verstehenskontext stillschweigend in Übereinstimmung gebracht; interpretatorische Selbstreflexion oder externe Interpretationskritik hat dann zu prüfen, ob die Übereinstimmung triftig ist oder trügerisch.

(2)

Strukturen: Auswahl und Kombination von Zweitbedeutungen

Interpretationen sind doppelt intertextuell: Ihr Prätext besteht aus dem Referenztext und aus den Texten oder textübergreifenden Wissensformationen, aus denen der Interpret die zugeschriebenen Bedeutungen - erinnernd oder gezielt nachlesend - entnimmt. Auch dieser zweite intertextuelle Bezug lässt sich in den von Pfister (1985, S. 25-30) vorgeschlagenen Kategorien beschreiben. (a) Referentialität. In welchem Maße referiert eine Interpretation auf entsprechende Texte oder Wissensformationen? Bedient sie sich nur des

37 Wissens oder verweist sie darauf? Man kann vermuten, dass der Bezug auf Sachwissen häufig stark referentiell, der Bezug auf Alltagswissen und Sinnwissen häufig schwach referentiell ist. (b) Kommunikativität. In welcher Form und in welchem Maß wird eine Referenz mitgeteilt? Interpreten können das verwendete Wissen zitieren, paraphrasieren, zusammenfassend referieren, darauf anspielen usw. (c) Selektivität. Wird die Bedeutung vom Interpreten überhaupt (noch) mit bestimmten einzelnen Texten in Zusammenhang gebracht? Oder überlagern sich in seinem Bewusstsein mehrere Texte? Oder gilt ihm die Herkunft der Bedeutung als eine eigenständige, von Texten abgelöste Wissensformation? Tendenziell schwach selektiv wäre im Sinne dieser Skalierung die Symbolinterpretation, denn sie bezieht - so Kurz (1993, S. 84) - einen „thematischen Zusammenhang als Ganzen" auf den Text. Tendenziell stark selektiv wäre die allegorische Interpretation, denn sie bezieht - so Eco (1985, S.207) - Wissen in bestimmten „ausgewählten Zügen" auf den Text. (d) Strukturalität. Wie verhält sich die Verknüpfung des aktivierten Wissens innerhalb der Interpretation zu der Verknüpfung dieses Wissens in den anderen Texten oder Denkzusammenhängen, aus denen es stammt? Gibt es charakteristische Unterschiede? Erinnern wir die (grammatischen) Differenzen zwischen dem interpretatorisch hergestellten Teil-Text und dem Gesamttext. Auch zwischen einer Interpretation und ihren anderen Prätexten bestehen notwendigerweise solche Unterschiede. Die Auswahl weniger Elemente aus einer komplexen Theorie nötigt Interpreten z.B. dazu, den Zusammenhang zwischen diesen Elementen (vereinfachend) abzuändern: Komplizierte argumentative Relationen zwischen einzelnen Elementen einer Theorie werden in der Interpretation z.B. in einfache Ableitungsverhältnisse transformiert - ein Grund dafür, dass Literatur- und andere Kunstwissenschaftler bei den Sachwaltern der betroffenen Wissensgebiete nicht immer hoch angesehen sind. Die Art der strukturellen Einbindung hängt außerdem davon ab, ob Bedeutungen aus einem einzelnen Wissenszusammenhang oder aus unterschiedlichen Zusammenhängen aktiviert werden. Die Verbindung von psychoanalytischen und marxistischen Theorie-Elementen war in der Literaturwissenschaft um 1970 sehr verbreitet; als dann einige Jahre später eine mythologische Betrachtungsweise hinzukam, wurde die Strukturierung des Interpretandums zuweilen etwas überkomplex. Werden Bedeutungen unterschiedlicher textueller Provenienz kombiniert, so ist für die Struktur entscheidend, ob ein Element des Interpretandums in mehrfacher Bedeutung verstanden wird - vergleichbar der Deutung des Alten Testaments im mehrfachen Schriftsinn - oder ob Zeichen, die im interpretierten Text

38 aufeinanderfolgen, auf unterschiedliche Weise interpretiert werden. Wir kommen darauf im nächsten Abschnitt (1.1.3) zurück. (e) Semantische Differentialität (Pfister: Dialogizität). Wie stark differieren die interpretatorischen Aussagen von dem Wissen, das sie aktivieren? Ist die Interpretation in Relation zu diesem Wissen eher heteronom oder eher autonom? Abweichungen vom aktivierten Wissen und von einzelnen Prätexten können im Verlauf der Interpretation selbst entstehen, insbesondere dann, wenn eine Kombination mehrerer Wissensschemata auf einen Gegenstand bezogen werden. Weiterhin kann sich das Wissen unter der Bedingung gelingenden Fremdverstehens wandeln, wenn nämlich die Deutung eines literarischen Textes die Deutung der Welt verändert, das aktivierte Wissen umordnet oder erweitert und die Autorität der Prätexte relativiert. (f) Autoreflexivität. Reflektiert die Interpretation, dass ihr Wissen aus bestimmten Zusammenhängen stammt; dass es ein ausgewähltes Wissen ist; dass es eigens kombiniert wurde; dass es sich von seiner Herkunft semantisch unterscheidet? Je deutlicher an eine Interpretation der Anspruch der Überprüfbarkeit ihrer Zuschreibungen gestellt wird, desto stärker sind folgende Forderungen wirksam: Die Interpretation soll auf das aktivierte Wissen explizit referieren, und zwar in klar verständlicher kommunikativer Form und durch einen stark selektiven Bezug auf einzelne Texte. Diese Forderung wird durch Zitate mit Kennzeichnung und Nachweis erfüllt. Dabei kann es allerdings geschehen, dass zugeschriebene Bedeutungen, deren textuelle Herkunft nicht eindeutig bestimmbar sind, aus der Interpretation ausgegrenzt werden. Essayistische Interpretationen etwa, die sich nur schwach selektiv auf bestimmte Prätexte, aber semantisch stark different, also einigermaßen autonom, auf den Denkzusammenhang des Interpreten beziehen, werden womöglich wegen des (berechtigten) Zunftzwangs, hochgradig referentielle, kommunikative und selektive Bezüge auf bestimmte textuelle Formationen Interpretaments herzustellen (auf die bestimmte Formulierung einer Theorie), im gedanklichen Kern verändert: Prätexte, die zum Zwecke des Nachweises eigens gesucht und neu rezipiert werden, können die tatsächlich aktivierten, weniger genau herleitbaren Wissensgehalte verdrängen und ersetzen. Solche sekundären Operationen müssen dem Verstehen nicht zwangsläufig abträglich sein: Sie können, im Gegenteil, auch zu dessen Bereicherung und zur Erweiterung des Wissens beitragen.

39 1.1.3 Verweisungsmodus Wir wollen nun die Arten der Verweisung zwischen Erst- und Zweitbedeutung erörtern, die Interpreten einem Text zuschreiben können. Dazu werden wir die möglichen Gemeinsamkeiten, Unterschiede und sonstigen Relationen beider Seiten in insgesamt sechs Kategorien einordnen. Mit Hilfe dieser Kategorien lässt sich der interpretatorisch unterstellte Verweisungsmodus differenziert bestimmen. Die Sprache der Interpretation verfugt über äußerst feine Nuancen, in denen sich das Verhältnis zwischen Erst- und Zweitbedeutung ausdrükken lässt. Die folgenden thesaurisch, wenn auch nicht vollständig gesammelten Ausdrücke zeigen unterschiedliche Verweisungsmodi an: stehen für, stellvertreten, eigentlich bedeuten, verschlüsselt bedeuten, Chiffre sein für, allegorisieren, exemplifizieren, Bild sein für, versinnlichen, veranschaulichen, darstellen, kennzeichnen, charakterisieren, auch bedeuten, zugleich bedeuten, symbolisieren, verweisen auf, anspielen auf, deuten auf, hindeuten auf, andeuten, ausdrücken, evozieren, anzeigen, Symptom sein von, ähneln, gleichen, sein, wörtlich meinen.1* Neben dieser Vielfalt nuancenreicher Ausdrücke gibt es das Bemühen, die möglichen Modi auf die einfache Dichotomie von symbolischem und allegorischem Verweis zu reduzieren bzw. - nimmt man den wörtlichen Modus als Nullstufe der Verweisung hinzu - auf eine Trias. Orientiert man sich bei einer Bestimmung unterschiedlicher Verweisungsmodi an den vielen Ausdrücken bzw. an deren interpretatorischer Verwendung, so steht man vor der Notwendigkeit, Kategorien zu benennen, mit deren Hilfe sich beschreiben lässt, was die Ausdrücke meinen, worin sie sich ähneln und worin sie sich unterscheiden. Setzt man hingegen bei den existierenden Definitionen und Verwendungen der Wörter Wörtlichkeit, Symbol und Allegorie an, so steht man vor dem doppelten Problem, dass mit diesen

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Wollte man in der Analyse interpretatorischer Sprechakte im Stile Searles deutlich machen, dass die zugeschriebene Zweitbedeutung und der zugeschriebene Verweisungsmodus zwei Bestandteile des Prädikatsausdrucks sind, so müsste man jede Äußerung von der Art „Y symbolisiert Z" bei der Analyse in eine Äußerung mit dem Kopulaverb „sein" übersetzen: „Y ist symbolisch fur Z", „Y ist ein Symbol für Z" oder „Y ist eine Symbolisierung von Z". Dieser analytische Brauch, jeden Prädikatsausdruck als adjektivisches oder substantivisches Prädikatsnomen zu formulieren, fuhrt allerdings zu semantischen Veränderungen: In vielen Sprechakten wird dem Y ein Handeln bzw. ein Ereignis prädiziert (z.B. durch das Verb „symbolisieren"), woraus die Analyse jedoch eine Qualität („symbolisch") oder eine Sinnfigur („Symbol") macht. Überdies verstellt die generelle Verwendung von „sein" als Kopulaverb die Tatsache, dass „sein" in Interpretationen häufig die Funktion eines Vollverbs hat. „Y ist Z " meint dann: „Y ist nicht nur Symbol fur Z, sondern mit Ζ identisch". Wir wollen dem besagten Brauch daher nicht folgen.

40 Begriffen mehrere, in ganz unterschiedlichen Kategorien angesiedelte Dichotomien zur Deckung gebracht werden und dass die beiden Ausdrücke überdies alles andere als trennscharf verwendet werden - was mit dem ersten Problem zusammenhängt. 19 Unsere Aufgabe ist es, eine Reihe von Kategorien zu erörtern, mit denen sich zum einen die Bedeutungen der mannigfachen VerweisungsAusdrücke bündeln und zum anderen die verschwommenen Bedeutungen der dichotomischen Ausdrücke Symbol und Allegorie klären lassen. Beschrieben werden im Folgenden zwei Kategorien zur Bestimmung der formalen und vier Kategorien zur Bestimmung der inhaltlichen Relation zwischen Erst- und Zweitbedeutungen, die ein Interpretationsakt unterstellt: (1) Das strukturelle Verhältnis der auf beiden Seiten des Verweises vorgenommenen Selektion bedeutsamer Zeichen; (2) die Anzahl der einander jeweils zugeordneten Bedeutungen bzw. das Ambiguitäts-Verhältnis beider Seiten; (3) das semantische Ähnlichkeitsverhältnis der Ausdrücke auf beiden Seiten; (4) deren logisches und ontologisches Verhältnis; (5) der vom Interpreten unterstellte semantische Wert beider Seiten bzw. deren Anteil am Sinn der sprachlichen Figur; (6) der mentale Status des vom Interpreten hergestellten Verweises: Ist dieser im begrifflichen Denken, im strukturellen Denken, in der Vorstellung, in der Anschauung oder im Glauben (bzw. in der Ahnung) lokalisiert? (1)

Strukturverhältnis von Erst- und Zweitbedeutungen

Wie verhält sich die Auswahl und Kombination der interpretierten Textelemente zur Auswahl und Kombination des dem Text zugeschriebenen Wissens? Gerhard Kurz (1979, S. 19) konstatiert für die Allegorie, genauer für den Fall, dass eine Geschichte eine andere allegorisiert, „eine vertikale Korrespondenz der relevanten Motive/ Ereignisse und Akteure der ersten und der zweiten Geschichte" sowie „eine horizontale Analogie der relevanten Beziehungen zwischen den Motiven, Ereignissen und Akteuren der beiden Geschichten." Für unsere interpretationsanalytischen Zwecke können wir diese Unterscheidung so übersetzen, dass die Interpreten im einen Fall Bezüge zwischen einzelnen Signifikaten der Erstbedeutung und einzelnen Signifikaten der Zweitbedeutung herstellen,

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Wer die Verwendung des Wortes symbolisieren untersucht, findet nach Eco (1985, S. 194) eine babylonische Sprachverwirrung vor und muss zu dem Ergebnis kommen, „daß ein Symbol alles sein kann oder nichts". Die Verwirrung zumindest der Begriffsnamen sei an zwei konträren Auffassungen veranschaulicht: Link und seine Mitarbeiter fassen die Allegorie als eine Spezialform des Symbols auf (Drews/ Gerhard/ Link 1985, S.259); Böning (1999, S. 170) bestimmt umgekehrt das Symbol als missverstandene Allegorie. Für Link ist das Symbol alles, für Böning ist es (nahezu) nichts.

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im anderen Fall jedoch Bezüge zwischen Bedeutungszusammenhängen beider Seiten. 20 Dante bringt in seiner berühmten Modell-Allegorese im Gastmahl zum einen die Gestirne der neun Himmelssphären in eine vertikale Einzelkorrespondenz zu den neun seinerzeit anerkannten Wissenschaften, zum anderen analogisiert er den Zusammenhang der Sphären, den gesamten Himmel also, mit der Wissenschaft als ganzer (Dante 1965, S. 8 6 f f ) . Dieser reiche Verweisungsmodus, bei dem sowohl Einzelelemente als auch komplexe Isotopien und narrative Strukturen beider Seiten miteinander in Beziehung gesetzt werden, folgt dem scholastischen Verfahren der typologischen Auslegung: Die „Dinge, Gestalten, Geschehnisse und Einrichtungen" des alten Testaments, der Metamorphosen Ovids und anderer Großerzählungen werden „so gut wie ohne Rest" als Präfigurationen oder Prophezeiungen verstanden und auf ihre Wiederkehr oder Erfüllung im Neuen Testament bezogen (Ohly 1979, S. 126). Neben diesem reichen Modus gibt es zahllose andere Möglichkeiten der Verbindung. Die Selektionen können auf beiden Seiten sehr unterschiedlich sein: Im einen Extremfall wird ein einzelnes Element der Erstbedeutung auf einen großen Sinnzusammenhang bezogen; im anderen Extremfall werden komplexe Isotopien oder Erzählzusammenhänge auf eine knappe, in einem kurzen Hauptsatz formulierte Sinnaussage gebracht. Link u.a. stellen in der Symbolforschung folgende Tendenz fest: „Je verkürzter die Isotopie" auf Seiten der Erstbedeutung ist, desto weiter sei die zugeschriebene Zweitbedeutung. Werde im „Extremfall" bloß einem einzigen Wort wie z.B. „Granit" übertragene Bedeutung zugeschrieben, so sei die Zweitbedeutung häufig eine „globale" - „Granit" kann fur alles stehen, was irgend beständig ist; je mehr Elemente auf Seiten der Erstbedeutung verbunden seien, desto eingeschränkter sei die Auswahl der Zweitbedeutungen (Drews/ Gerhard/ Link 1985, S. 277). In genau diesem Punkt wird ca. seit 1800 der formale Unterschied zwischen Symbol und Allegorie gesehen: Im Symbol verweise ein einzelnes Zeichen auf eine Gesamtheit von Vorstellungen; in der Allegorie verweise eine Reihe von Zeichen auf eine bestimmte Aussage. Mit Betonung des zeitlichen Aspekts dieser Unterscheidung schreibt Friedrich Creuzer (1810, Bd. I, S. 83): „In einem Augenblicke und ganz geht im Symbol 20

Michel (1987, S.365) unterscheidet entsprechend zwischen „Eigenschafts-Analogie" und „Isomorphie-Analogie" und grenzt das Gleichnis, bei dem stets eine Isomorphie auf das Gemeinte verweise, von der „amorphen" Allegorie ab, bei der angeblich nur Einzelelemente auf das Gemeinte verweisen. Aus Sicht der Allegorieforschung lässt sich diese verallgemeinernde Entgegensetzung nicht bestätigen: Auch Allegorien sind meist dadurch gekennzeichnet, dass eine Isotopie auf Seiten der Erstbedeutungen mit einer Isotopie auf Seiten der Zweitbedeutungen verknüpft ist.

42 eine Idee auf und erfaßt alle unsere Seelenkräfte. [...] Die Allegorie lockt uns aufzublicken, und nachzugehen dem Gang, den der im Bilde verborgene Gedanke nimmt. Dort ist momentane Totalität: hier ist Fortschritt in einer Reihe von Momenten." Für eine klare empirische Distinktion reicht diese Unterscheidung allerdings nicht hin, denn es gibt, wie gesagt, zahlreiche Zwischenformen. So beschreiben Link und Parr einige Verweisungsmodi, bei denen auf einer der Seiten oder auf beiden Seiten syntaktische „Lücken" zwischen den Elementen existieren (Link/ Parr 1993, S. 68ff.): Wollen die Rezipienten die ausgewählten Erstbedeutungen nach Maßgabe der Zweitbedeutungen miteinander verbinden, stellen sie oft fest, dass Elemente fehlen. Nehmen wir an, jemand finde in einem Roman verstreute Anspielungen auf den Leidensweg Christi, kann jedoch ein entscheidendes Element nicht finden, sagen wir: die Verhöhnung. Der Rezipient kann nun versuchen, die Lücke interpretatorisch zu schließen, indem er entweder (a) annimmt, der Autor habe die Verhöhnung gezielt ausgelassen, um den Leser zu einer schlussfolgernden Lektüreanstrengung anzureizen, zum Phantasieren eines „Phantomkapitels" (Eco 1990, S.276), das die Verhöhnung enthält; oder indem er (b) nach einer Textstelle sucht, die sich in irgendeinem Sinne doch als stark verschlüsselter Hinweis auf die Verhöhnung deuten lässt; oder indem er (c) die Lücke als sinnvoll auffasst und den allegorischen Sinn als „Leidensweg ohne Verhöhnung" reformuliert. Der Rezipient wird vermutlich nicht versuchen, sämtliche Elemente des Romans auf die Leidensgeschichte zu beziehen oder umgekehrt sämtliche Elemente der Evangelien auf den Roman, doch in jedem Fall muss er bei der Interpretation entscheiden, in welchem Maße das eine oder das andere angemessen ist und wo die Grenzen der Beziehbarkeit liegen. Die Aussage darüber, wie lückenhaft Erst- und Zweitbedeutung aufeinander verweisen, ist, mit anderen Worten, stets eine Interpretationsentscheidung; der formale Verweisungsmodus wird Texten zugeschrieben; er versteht sich nie von selbst. Das heißt nicht, Rezipienten seien völlig frei bei der Zuschreibung eines Verweisungsmodus. Ihre Entscheidungsmöglichkeiten sind unter anderem begrenzt durch das Verhältnis der Struktur des interpretierten Textes und des Textes bzw. des Wissens, dem die übertragenen Bedeutungen entstammen. In diesem Punkt sind wiederum Erkenntnisse über den Gegenstandsbereich Literatur für unsere Zwecke reformulierbar: Die Allegorie- und Gleichnisforschung konstatiert häufig eine „Inkonzinnität zwischen der logischen Struktur" der Zweitbedeutung und der „natürlichsprachlichen und narrativen Oberflächenstruktur des konkreten Texts" - eine Unverträglichkeit zwischen den diskursiven und den narrativen Strukturen, die sich entweder in einer stark selektiven „Abbrevia-

43 tur" der Erzählung des gemeinten Gedankens manifestiere oder in der Existenz ,,überschüssige[r] Züge, ,stumpfe[r] Motive', die nichts beitragen zum Zustandekommen der sprechaktlichen Pointe" der Doppelrede (Michel 1987, S.248). Wir können schlussfolgern: Wenn sich die Strukturen eines Textes und eines interpretatorisch aktivierten Wissens stark voneinander unterscheiden, so sind für den Interpreten die Möglichkeiten einer lückenlosen Selektion von Elementen eingeschränkt; die Zuschreibung eines stark selektiven Verweisungsmodus ist dann wahrscheinlicher als das Gegenteil. (2)

Ambiguitätsverhältnis von Erst- und Zweitbedeutungen

Ein weiterer formaler Aspekt der Verweisung zwischen Erst- und Zweitbedeutung ist an der um 1800 emphatisch postulierten „Globalversion" (Drews u.a.) des Symbolbegriffs erkennbar. Wenn Creuzer, Goethe und einige ihrer Zeitgenossen von „Idee" und „Totalität" sprechen, so meinen sie nicht allein die Gesamtheit eines Vorstellungsbereichs, sondern auch die Einheit verschiedener Vorstellungsbereiche und die so entstehende „Multiplikation, Chaotisierung und Explosion von Sinn" (Drews/ Gerhard/ Link 1985, S. 292). In einem viel zitierten Brief vom 16. August 1797 an Schiller fordert Goethe von symbolischen Gegenständen, dass sie „Ähnliches und Fremdes in meinem Geiste aufregen" und so „an eine gewisse [...] Allheit Anspruch machen". Als Beispiel eines symbolischen Falls beschreibt er das Frankfurter Grundstück seines Großvaters, das während der Revolutionskriege durch ein Bombardement zerstört worden war, gegenwärtig (also 1797) als Marktplatz genutzt wird und in der Zukunft „von einem neuen Unternehmer gekauft und hergestellt" werden könnte (Goethe 1985 ff.; Bd. 11,4, S.389f.). Im „Geiste" des Betrachters würden durch diesen Gegenstand nicht nur ähnliche Fälle aus der politischen und ökonomischen Geschichte, sondern auch fremde Fälle - vermutlich aus den Bereichen Natur, Kunst, Religion und Wissenschaft - aufgeregt, so dass eine allheitliche Vorstellung entsteht, die beispielsweise einen allgemeinen Zusammenhang von Zerstörung und Erneuerung betrifft (vgl. Zabka 1998, S. 160ff.). Die Zahl der Weltbereiche, aus denen das ,im Geiste aufgeregte' Wissen stammen kann, gibt Goethe nicht an, doch sind solche Angaben durchaus möglich und üblich: Der Verweis zwischen Erstbedeutung und Zweitbedeutung(en) kann als eindeutig, mehrdeutig, vieldeutig, aber auch - wie hier - als unendlich bedeutsam aufgefasst werden. Um 1800 wird der Gegensatz von bestimmter und unbestimmter Bedeutsamkeit zu einem festen Kriterium der Unterscheidung von Symbol und Allegorie: „Das Symbol tritt als das unerschöpflich, weil unbestimmt Deutbare dem

44 in genauerem Bedeutungsbezug stehenden und sich darin Erschöpfenden der Allegorie ausschließend entgegen" (Gadamer 1972, S. 79).21 Bei der Symbolinterpretation werden Zweitbedeutungen in dem Bewusstsein bestimmt, dass noch viele andere Bedeutungskontexte gefunden werden könnten; bei der Allegorese werden Zweitbedeutungen in dem Bewusstsein bestimmt, dass diese und keine anderen Kontexte gemeint und angemessen sind. In der alexandrinischen Exegese Homers und des Alten Testaments wird die Erstbedeutung als der physische Schriftsinn aufgefasst, der genau zwei weitere Bedeutungen hat, nämlich eine psychische und eine pneumatische. Die alexandrinische Allegorese stiftet so eine Einheit des philosophischen Weltwissens, das sich in die drei Disziplinen Physik, Ethik und Metaphysik ausdifferenziert hat (zu Clemens v. Alexandrien vgl. Blönningen 1992, S. 202; zu Origenes vgl. Freytag 1982, S. 30). Strukturalistisch gesprochen, haben wir es mit unterschiedlichen Graden der Ambiguität zu tun: In der Tradition der Allegorese haben die Zeichen neben der Erstbedeutung noch einen zweiten, dritten und - da in der Scholastik der typologische Schriftsinn (Verweis vom Alten auf das Neue Testament) hinzukommt - vierten Wert; in der Symbolinterpretation tendiert die Wertigkeit gegen unendlich. Wir können aber auch die andere Seite ins Auge fassen und von der Ambiguität einer Zweitbedeutung sprechen: Diese kann nämlich einer einzelnen Erstbedeutung oder mehreren Erstbedeutungen zugewiesen werden. Sie ist dann mehrdeutig im Sinne von mehrdeutend·, es sei gestattet, auch dies als Ambiguität zu bezeichnen. Je allgemeiner eine formulierte Zweitbedeutung ist, desto mehr Erstbedeutungen lassen sich auf sie beziehen. Wollte man eine Formel angeben, in der die hier und im vorigen Punkt erörterten formalen Verweisungsmodi integriert sind, so müsste die Formel folgende Verbindungen bezeichnen: auf Seiten des Interpretandums und auf Seiten des Interpretaments jeweils die Verbindung von Strukturierung und Ambiguität sowie die Verbindung dieser beiden Verbindungen. Tatsächlich haben Drews/ Gerhard/ Link eine entsprechende Formel aufgestellt (1985, S.267). Sie sei hier wiedergeben mit veränderten Platzhaltern, die unserer Terminologie entsprechen. Die Zahlen 1 bis η stehen für bedeutungstragende Elemente der Erst- bzw. der Zweitbedeutung; die weiteren Platzhalter bedeuten: VM = Verweisungsmodus; Ε = Erstbedeutung; Ζ = Zweitbedeutung; s = Selektion und Strukturie-

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Ähnlich Eco (1985, S. 237): „Der Inhalt des Symbols ist ein Nebel möglicher Interpretationen, offen für eine semiosische Verschiebung von Interpretant zu Interpretant, das Symbol hat keinen autorisierten Interpretanten".

45 rung der Elemente; a = Ambiguitätsgrad der Elemente. 22 Die Formel lautet mit diesen Platzhaltern: VM = (E S (1, ...,n) a(l, . . . , n ) . Z s ( l , ...,n) a(l, ...,n)) Mit dem formalen Verhältnis zwischen Selektion und Ambiguität ist freilich nichts über die Qualität einer Verweisung gesagt. Die inhaltlichen Verknüpfungen der Bedeutungen auf jeder einzelnen Seite und zwischen den beiden Seiten werden in dieser Formel durch das (wie bei der mathematischen Multiplikation) ausgesparte Verbindungszeichen innerhalb der Terme Ε und Ζ sowie durch ein Komma zwischen den beiden Termen ausgedrückt, also durch vollkommen unbestimmte Funktionszeichen. Der mögliche Nutzen einer solchen Formel für die Analyse von Interpretationen (und von literarischen Texten) kann sich erst erweisen, wenn sie in Relation zu den Inhalten gebracht wird. (3)

Ähnlichkeitsverhältnis von Erst- und Zweitbedeutung

Erst- und Zweitbedeutung sind stets durch inhaltliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten miteinander verbunden - abgesehen natürlich vom Fall der zugeschrieben Wörtlichkeit, wo beide Seiten konvergieren. Es muss mindestens eine semantische Ähnlichkeit bestehen, die eine Zuschreibung von Zweitbedeutung rechtfertigt, und mindestens eine semantische Ungleichheit, die eine solche Zuschreibung überhaupt ermöglicht. Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich auf zweifache Weise beschreiben: In diesem Punkt (3) skizzieren wir das lexikalische Verhältnis (bzw. das Similaritätsverhältnis), das die Zeichen der Erstbedeutung und die Zeichen der Zweitbedeutung innerhalb der vom Interpreten verwendeten Sprache paradigmatisch trennt und verbindet, im nächsten Punkt (4) die besondere inhaltliche Qualität, die entsteht, wenn nicht bloß einzelne Zeichen, sondern syntagmatische Zusammenhänge aufeinander bezogen werden. Erst- und Zweitbedeutungen stehen dann in bestimmten logischen Verhältnissen zueinander. Beide Punkte zusammengenommen gestatten es, die von einem Interpreten unterstellte inhaltliche Differenz zwischen Erst- und Zweitbedeutungen zu bestimmen. Wenn eine rhetorische Analyse von einem metonymischen, synekdochischen oder metaphorischen Verhältnis zwischen zwei Zeichen spricht, meint sie damit jeweils eine lexikalische Relation. Greifen wir auf das Beispiel aus dem vorigen Abschnitt zurück - auf die von Goethe erwähnte Geschichte des während der Revolutionskriege zerstörten, als Marktplatz

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Link spricht von „Pictura und Subscriptio", nicht von Erst- und Zweitbedeutung, sowie von „semantischen Teilkomplexen", nicht von „Selektion".

46 genutzten und mit den dort erwirtschafteten Mitteln möglicherweise neu zu bebauenden großväterlichen Anwesens in Frankfurt. Diese Geschichte lässt sich einem Wissensschema zuordnen, das man auf den Begriff .historischer Wandel der 1790er Jahre' bringen kann. Innerhalb dieses Schemas existieren andere, durch Realbeziehungen mit dem Frankfurter Anwesen verbundene Fälle, etwa der Wandel des französischen Staatswesens, das nach der Auflösung der Jakobinerherrschaft 1795 in die Konsolidierungsphase des Direktoriums übergegangen war und auf dessen Fundament dann - was Goethe noch nicht wissen konnte - die napoleonische Herrschaft errichtet werden wird. Behauptet man nun, die Geschichte des großväterlichen Anwesens verweise auf die Geschichte des französischen Staatswesens, so ist dies ein metonymischer Verweis, denn beide Fälle stehen innerhalb desselben Wissensschemas in einer Realbeziehung zueinander (die Zerstörung des Hauses hängt tatsächlich mit der Geschichte des französischen Staates zusammen). Behauptet man, die Geschichte des Anwesens stehe für den historischen Wandel der 1790er Jahre überhaupt, so ist dies ein synekdochischer Verweis, denn der besondere Fall verweist auf das Schema, in dem er enthalten ist. Eine unterstellte Zweitbedeutung kann aber auch einem anderen Wissensschema bzw. Oberbegriff angehören; die Pointe des Verweises kann gerade die Verletzung einer vorausgesetzten Ordnung des Wissens sein. In unserem Beispiel gibt es andere Wissensschemata, die demjenigen des politisch-ökonomischen Wandels in bestimmter Hinsicht ähneln, beispielsweise hinsichtlich des Merkmals Wandel. Ein solches Schema könnte heißen: ,Veränderung in der Natur'. Alle Elemente dieses anderen Schemas teilen mit unserem Ausgangsfall dass Merkmal Wandel. Zu denken wäre an das Erdbeben von Lissabon oder an den Wechsel der Jahreszeiten. Auf das eine oder das andere, so könnte ein Interpret behaupten, spiele die Geschichte des Frankfurter Anwesens an. Wir hätten es dann mit einem metaphorischen Verweis zu tun: die Grenze zwischen zwei Schemata wird aufgrund einer Ähnlichkeitsbeziehung verletzt. In dem folgenden Diagramm bezeichnen a, b, c und d die besonderen Elemente von Wissensschemata; S1 und S2 bezeichnen die Wissensschemata; ÄM bezeichnet das Ähnlichkeitsmerkmal, welches die Wissensschemata verbindet. gemeinsames Merkmal: Wandel S l : historischer Wandel um 1790 a: Großväterliches Anwesen

b: Französisches Staatswesen

S2: Veränderung in der Natur c: Erdbeben von Lissabon

d: Wechsel der Jahreszeiten

Überschreitet ein horizontaler Verweis die Schemagrenzen nicht, so ist er metonymisch; überschreitet er sie, so ist er metaphorisch. Überschrei-

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tet ein vertikaler Verweis die Schemagrenzen nicht, so ist er synekdochisch. Es gibt weiterhin den Fall, dass ein vertikaler Verweis die Schemagrenzen überschreitet: Verschiedene Interpreten lesen Kleists Erzählung Das Erdbeben in Chili als eine Allegorie der Geschichte, konstatieren also einen Verweis zwischen dem Fall c und dem Schema S l . Hierbei muss man ebenfalls von einem metaphorischen Verweis sprechen, denn innerhalb des Metaphernbegriffs gibt es keinen gesonderten Ausdruck für den Hierarchiesprung, also keine Entsprechung des Begriffs Synekdoche. 23 In einer Interpretation müssen die Erstbedeutungen nicht immer auf der unteren Ebene der besonderen Fälle bzw. Schema-Elemente angesiedelt sein. Auch ein allgemeines Wissensschema kann die Rolle der Erstbedeutung einnehmen. Wenn Goethe in dem zitierten Brief schreibt, dass der „Raum meines großväterlichen Hauses, Hofes und Gartens" sich vor dem Bombardement in „dem beschränktesten, patriarchalischen Zustande" befunden habe, so könnte ein Kenner dieses Autors das Wissensschema patriarchalischer Zustand' beispielsweise mit dem beschränkten Zustand der deutschen Kunst und Literatur um 1770 in Zusammenhang bringen, den Goethe in seiner Autobiographie ausfuhrlich schildert: Er könnte sich die patriarchalischen Zustände in Gottscheds, nicht in Großvater Textors Haus vorstellen. Käme dieser Interpret nun auf die Idee, Goethes Frankfurt-Schilderung als eine verschlüsselte Botschaft über den literarischen Wandel in Deutschland zu deuten, so wäre das von Goethe bloß benannte, nicht in den Elementen beschriebene Wissensschema „patriarchalische Zustände" die Erstbedeutung; sie verwiese metaphorisch auf das Schema „literarische Zustände" oder sogar auf dessen einzelne, in Dichtung und Wahrheit beschriebene Elemente als Zweitbedeutung. Lässt sich nun auf der Grundlage des lexikalisch-figurativen Verhältnisses eine klare Unterscheidung zwischen Symbol und Allegorie treffen? Die folgende Aussage von Gerhard Kurz scheint dies nahezulegen:

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Hermeren (1984, S. 143) nennt in der Rubrik „The aspect of interpretation" unter anderem folgende Möglichkeiten eines Verhältnisses von Erst- und Zweitbedeutung: „Y is interpreted as a part of the larger whole Z", „Y is interpreted as being analogous whith Z" und „Y is interpreted as being distinct from Z". Stellt man Kombinationen zwischen diesen logischen Grundformen her, so gelangt man zu den figurativen Verweisungsmodi: Analogie bei gleichzeitiger Unterschiedlichkeit des Wissensschemas ist metaphorisch; Analogie ohne Schema-Unterschied ist metonymisch; Teil eines Ganzen bei gleichzeitigem Schema-Unterschied auf der Ebene des Ganzen ist ebenfalls metaphorisch im oben zuletzt genannten Sinn; Teil eines Ganzen ohne Schema-Unterschied ist synekdochisch.

48 Zwischen Symbol und Symbolisiertem herrscht eine notwendige Kontinuität, beide gehören demselben Geschehenszusammenhang an, demselben raum-zeitlichen Erfahrungsfeld. Die Allegorie dagegen, das diversiloquium oder alieniloquium, erzählt oder setzt zwei Bedeutungszusammenhänge, die diskontinuierlich miteinander verbunden sind. (Kurz 1993, S.77)

Der symbolische Modus ist dieser Definition zufolge der metonymische, der allegorische ist der metaphorische Modus. In einer andern Formulierung legt Kurz das „symbolische Verständnis von Handlungen und Dingen" sogar auf den Spezialfall der Synekdoche, des Hierarchiesprungs innerhalb derselben Kategorie fest: „Etwas wird Symbol, weil es in Analogie zu oder als Teil von einem Ganzen aufgefaßt wird" (ebd., S. 68). An einer weiteren Stelle ist dann jedoch ausdrücklich von einer metaphorischen Form der Symbolik die Rede (ebd., S. 76). Diese schwankenden Bestimmungen durchziehen die neuere Geschichte des Symbolbegriffs; schon Goethe spricht in dem Brief an Schiller von Ähnlichem (metonymischer Modus), Fremdem (metaphorischer Modus) und Ganzheitlichem (synekdochischer Modus). Eine Abgrenzung von Symbol und Allegorie mittels lexikalisch-figurativer Bestimmungen bleibt problematisch, denn in der historischen und aktuellen Sprachverwendung hält sich zumindest der Symbolbegriff an keine Grenze dieser Art. Das Problem dürfte dadurch entstehen, dass das inhaltlich-lexikalische Verhältnis mit dem zuvor beschriebenen formalen Verhältnis der Ambiguität konfundiert wird. Als ein trennscharfes und praktikables Unterscheidungskriterium zwischen allegorischem und symbolischem Modus hatte sich das Kriterium der Begrenztheit oder Nicht-Begrenztheit der Zweitbedeutungen erwiesen. Bei der festen Zuordnung des Symbols zum metonymischen und synekdochischen Modus wird offenbar davon ausgegangen, dass das Interpretament entweder auf eine unbegrenzte Gesamtheit oder auf eine unbegrenzte Zahl ähnlicher Fälle verweist, nicht aber (metaphorisch) auf eine unbegrenzte Zahl unähnlicher Fälle. Gerade die Unbegrenztheit des übergeordneten Schemas ist jedoch die Brücke für den unbegrenzten „symbolischen" Verweis auf „Fremdes" (Goethe). Andererseits ist im allegorischen Modus begrenzter Zweitbedeutung auch der (metonymische) Verweis auf bestimmte Fälle möglich, die demselben unmittelbar übergeordneten Begriffs-Schema angehören. Sogar der (synekdochische) Verweis auf einen übergeordneten Begriff wird allegorisch genannt, etwa wenn eine ganze Reihe von Autoren jede (Sprach-) Bildwerdung eines Begriffs als Allegorie bezeichnet (vgl. Alt 1995).24

24

Bereits der Herennius-Rhetorik zufolge kann die Allegorie entweder (quasimetaphorisch) ein Ähnliches oder (quasi-synekdochisch) ein Allgemeines veranschaulichen (Herr. IV, 34, 46f.).

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(4)

Logisches und ontologisches Verhältnis von Erst- und Zweitbedeutung

Wenn eine Interpretation die Erstbedeutungen und die Zweitbedeutungen, die in einem bestimmten Similaritätsverhältnis zueinander stehen, unter syntagmatischem Gesichtspunkt aufeinander bezieht, so erhält der inhaltliche Zusammenhang beider Seiten seine eigene Logik. Das formale Verhältnis der jeweils vorgenommenen Selektionen und Strukturierungen (vgl. Pkt. 1 und 2) wird hier für die Inhalte relevant. Erinnern wir uns: Bei der Strukturierung der ausgewählten Erstbedeutungen konstituieren Interpretationen eigene syntaktische (und zugleich inhaltliche) Verhältnisse zwischen den einzelnen Zeichen (vgl. 1.1.1, Pkt. 2), und auch bei der Auswahl der Zweitbedeutungen aus den vorhandenen kognitiven Schemata entstehen eigene, möglicherweise neue Zusammenhänge. Beispielsweise können auf beiden Seiten bestimmte adverbiale Relationen zwischen den Elementen hergestellt werden, und genau das wäre dann eine der hier gemeinten logischen Akzentuierungen des inhaltlichen Verhältnisses von Erst- und Zweitbedeutung. In unserem Goethe-Beispiel könnte ein Interpret eine Verbindung zwischen der Erstbedeutung a (großväterliches Anwesen) und der Zweitbedeutung b (französisches Staatswesen) bzw. S1 (politischer Wandel) dadurch herstellen, dass er an beiden Seiten den kausalen Zusammenhang von Zerstörung, Konsolidierung und Erneuerung hervorhebt. Ein Verweis von α auf c (Erdbeben von Lissabon) könnte durch Hervorhebung des jeweiligen räumlichen Zusammenhangs (Zerstörung und Wiederaufbau innerhalb einer Stadt) geschehen. Unter dem Gesichtspunkt des zeitlichen Zusammenhangs könnte α sogar auf d (Jahreszeiten) verweisen. Der Zusammenhang zwischen Erst- und Zweitbedeutung kann in allen denkbaren grammatischen Verhältnissen bestehen: konditionale (Bedingung der Erneuerung: es gibt Unternehmer/ Pflanzentriebe, die den Krieg/ den Winter überlebt haben), konzessive (trotz der Zerstörung erneuert sich etwas), modale Bestimmungen (Zerstörung durch Bomben); Attribute quantitativer (Dreizahl der Phasen) und qualitativer Art (kriegerische, heftige, unvorhersehbare Zerstörung, heilsame Erneuerung) usw. Auf dieselbe Weise lassen sich die Unterschiede beschreiben. Nehmen wir nur den Verweis von α (großväterliches Anwesen) auf Fall d (Jahreszeiten): Zwar gibt es hier bestimmte Gemeinsamkeiten der Qualität (tot-lebendig) und der zeitlichen Folge, doch zugleich bestehen Unterschiede hinsichtlich der Qualität (Menschliches verweist auf Pflanzliches), der Ursache (der Wechsel von Krieg und Frieden verweist auf den wechselnden Abstand von der Sonne), der zeitlichen Kontinuität (etwas Unvorhersehbares verweist auf etwas immer Wiederkehrendes).

50 Entscheidend für die Logik eines interpretatorisch unterstellten Verweises ist nicht die Zahl und Stärke der zwischen den Bedeutungen überhaupt aufzählbaren Gemeinsamkeiten und Unterschiede, sondern die von einem Interpreten tatsächlich vorgenommene Selektion. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden fur bedeutsam erklärt, welche nicht? Bei dem Verweis von Fall α auf Fall d könnte ein Interpret sagen, die Verbindung der unterschiedlichen Attribute (Pflanzliches, Gesellschaftliches) sei zwar bedeutsam, die mögliche Verbindung der unterschiedlichen Ursachen (Krieg und Frieden, Abstand von der Sonne) sei jedoch bedeutungslos. Oder er könnte die gemeinsame Qualität (tot und lebendig) sowie die gemeinsame Ursache (Metamorphose) fur bedeutsam erklären, ein mögliches gemeinsames Ziel (z.B. göttlicher Wille zur Erneuerung) jedoch nicht. Dies ist genau der oben angekündigte systematische Punkt, an dem das Selektionsverhältnis zwischen Elementen der Erstund der Zweitbedeutung an Inhalte gebunden ist und interpretatorische Relevanz erhält. Unter syntagmatischem Gesichtspunkt ist nicht - wie unter paradigmatischem Gesichtspunkt - entscheidend, ob Erst- und Zweitbedeutung demselben oder einem anderen Wissensschema angehören. Auch wenn beide Seiten lexikalisch weit voneinander entfernt sind, kann z.B. eine starke Ähnlichkeit der Kausalverhältnisse zu dem Urteil fuhren, Erstund Zweitbedeutung lägen inhaltlich nah beieinander. Dies dürfte die Ursache sein fur die Tatsache, dass Interpreten auch zwischen lexikalisch weit voneinander entfernten Bedeutungen einen „symbolischen" Zusammenhang behaupten können, dass also quasi-metaphorische Zweitbedeutungen nicht automatisch als allegorisch gelten, sondern häufig auch als symbolisch bezeichnet werden. Für das Symbol wird in der gegen Ende des 18. Jahrhunderts erfolgenden Neubegründung dieses Begriffs (vgl. Todorov 1995, S . 2 ) auch dann eine schwache semantische Differenz zwischen Erst- und Zweitbedeutung in Anspruch genommen, wenn beide Seiten vollkommen unterschiedlichen Wirklichkeitsbereichen angehören; für die - komplementär neubestimmte - Allegorie wird stets eine starke semantische Differenz behauptet. Wer im Sinne der bis heute virulenten Terminologie von 1800 sagt, die Entwicklung des Anwesens von Goethes Großvaters stehe in einem symbolischen Verhältnis zu eruptiven Veränderungen der Natur, hebt die inhaltlichen Gemeinsamkeiten hervor, die in analogen grammatischen Verhältnissen temporaler und kausaler Art ihren Ausdruck finden, und vernachlässigt zugleich die Unterschiede, die u.a. in modaler und finaler Hinsicht bestehen. Wer dagegen einen allegorischen Verweis behauptet, schreibt den Unterschieden die Funktion einer kategorialen semantischen Trennung beider Seiten zu.

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Dies fuhrt uns zur ontologischen Bestimmung des logischen Verhältnisses von Erst- und Zweitbedeutung. Wird behauptet, dass Erst- und Zweitbedeutung aufgrund einer gemeinsamen kausalen, modalen (oder einer anderen) Relation ihrer Elemente einander substantiell verwandt seien, so muss ein solches Urteil in grundlegenden ontologischen Überzeugungen verankert sein. Die hohe Wertschätzung des „symbolischen" Verweisungsmodus um 1800 ist begründet in einer Weltanschauung, die alle Gegensätze des Seienden immer schon vermittelt sieht in einer ursprünglichen Einheit - sei es in der Substanz Spinozas, sei es in dem Einen Plotins. Aus neuplatonischer Sicht ist „das Symbol keine beliebige Zeichennahme oder Zeichenstiftung", kommentiert Gadamer, sondern es setzt einen „metaphysischen Zusammenhang von Sichtbarem und Unsichtbarem" voraus, der den Verständigen in die Gunst versetzt, „vom Sinnlichen aus zum Göttlichen hinaufgeführt zu werden. Denn das Sinnliche ist nicht bloße Nichtigkeit und Finsternis, sondern Ausfluß und Abglanz des Wahren" (Gadamer 1972, S.69). 25 Das Symbol verbindet also zwei Bedeutungen, die ursprünglich zusammengehören, was genau der Etymologie dieses Terminus' entspricht: symballein, zusammenbringen, meint unter anderem das Zusammenfugen der getrennten Hälften einer Kugel. Nun identifizieren - der Darstellung Paul de Mans zufolge sowohl das Symbol als auch die Allegorie die beiden Seiten ihres Bedeutungsgefuges miteinander. Während jedoch „das Symbol die Möglichkeit einer Identität in der Identifikation postuliert, bezeichnet die Allegorie in erster Linie eine Distanz in bezug auf ihren eigenen Ursprung" (1993, S. 104). Die Allegorie lässt, so wiederum Gadamer (1972, S. 70), ihre „bedeutungsvolle Einheit nur durch das Hinausdeuten auf ein anderes zustande kommen". Worin liegt aber das Fundament des allegorischen Hinausdeutens bzw. der allegorischen Identifikation, wenn dabei etwas verbunden wird, das als ontisch getrennt gilt? Offensichtlich folgen Gadamer und de Man hier dem nominalistischen Allegorie-Begriff, der um 1800 kritisiert bzw. zum Zweck der Nominalismus-Kritik überhaupt erst herausgebildet wurde. Der Dichotomie von Symbol und Allegorie wurden Begriffspaare wie „organisch-mechanisch, natürlich-künstlich, lebendig-erstarrt" (Kurz 1979, S. 13) zugeordnet; die Allegorie galt als die willkürlich, unnatür25

Mit diesen metaphysischen Implikationen hängt der Umstand zusammen, dass mit den Begriffen von Symbol und Allegorie in den Poetiken um 1800 primär das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem bestimmt wird, selten - wie in Goethes SymbolBrief an Schiller - auch das Verhältnis zu „anderen Fällen". Das Symbol gilt, am deutlichsten in Schellings 1802/03 gehaltenen Vorlesungen zur Philosophie der Kunst, als eine Figur „völliger Indifferenz" von Besonderem und Allgemeinem (1980, S.55). Das Allgemeine wird dabei neuplatonisch als „Idee" verstanden (ebd.).

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lieh, mechanisch gesetzte Sinnfigur einer verkehrten nominalistischen Weltsicht. Allerdings geht diese Entgegensetzung beiderseitig nicht auf. Würde auf der einen Seite das Symbol zwei Bedeutungen als restlos identisch darstellen, die doch qua Ausfluss aus der Einheit voneinander geschieden sind, so enthielte die im symbolischen Zeichen vollzogene Rückwendung zur Einheit ihrerseits ein deutliches Moment von Willkür. Wenn das Symbol ein nicht-willkürliches Zeichen sein soll, kann es die Identität nicht dar- sondern nur herstellen. Das konstatiert auch Gadamer, wenn er schreibt: „Die Einheit von Bild und Bedeutung" im Symbol „hebt die Spannung zwischen Ideenwelt und Sinnenwelt nicht einfach a u f , vielmehr erhalte sich diese Spannung in einer charakteristischen „Unentschiedenheit zwischen Form und Wesen" (1972, S. 74). Einerseits zeigt das Symbol die Identität, als wäre sie das Wesen des Dargestellten, andererseits erscheint die Identität als die vom Symbol selbst erst geschaffene Form einer identifizierenden Herstellung.26 Auf der anderen Seite entstammen die um 1800 als künstlich geschmähten Allegorien keineswegs einem nominalistisch grundierten Weltbild, sondern - folgt man Peter-Andre Alts an Foucault anknüpfenden Ausführungen - einem streng begriffsrealistischen Denken, dem die substantielle Einheit der Welt als so gewiss galt, dass die zentrale ästhetische Sinnfigur, eben die Allegorie, die entferntesten Seinsbereiche ohne Willkür miteinander zu verbinden vermochte (Alt 1995, S. 134; vgl. Foucault 1971, S.46ff.). Die Allegoriekritik um 1800, so darf man resümieren, schreibt der Allegorie einseitig jenes Moment der Willkür zu, das jeder Verbindung unterschiedlicher Bedeutungszusammenhänge wesentlich ist und von dem auch das für natürlich erklärte Symbol nicht frei sein kann. Die besondere inhaltliche Qualität eines Verweises hängt also nicht nur davon ab, in welchem Maße die Interpreten die Semantik der grammatischen Gemeinsamkeiten oder Unterschiede hervorheben, sondern auch von ihrer ontologischen Beurteilung solcher Gemeinsamkeiten und Unterschiede: Gehen sie davon aus, dass die von ihnen selektiv hervorgehobenen Gemeinsamkeiten von Erst- und Zweitbedeutung einen Realgrund haben, etwa in einer angenommenen substantiellen Einheit der Phänomene, oder gehen sie davon aus, dass es sich um akzidentielle, zufällige Ähnlichkeiten handelt, die ihre Bedeutsamkeit allein durch das Kunstwerk bzw. durch dessen Interpretation erhalten? Eine Entscheidung in dieser Frage hängt jeweils an sprachlichen Nuancen. Goethes zitierte Briefaussage, symbolische Fälle machten „an eine gewisse Einheit und 26

Auch fur Eco (1985, S.213) herrscht im Symbol keine „strikte und absolute Identität zwischen Ausdruck und Bedeutung", sondern „eine gewisse Disproportion, eine Spannung, eine Ambiguität, eine analogische Unsicherheit".

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Allheit Anspruch", und sein späteres Apergu „Was ist das Allgemeine?/ Der einzelne Fall" (1985ff., Bd. 13, S. 46; = Maximen und Reflexionen Nr. 558; Hervorh. T.Z.) unterscheiden sich darin, dass die Identifikation von Bedeutungen zunächst in einer bloßen Tendenz, später in einer tatsächlichen Koinzidenz begründet wird. Kurz (1993, S. 32) weist darauf hin, dass eine Identifikation oder Differenzierung von Erst- und Zweitbedeutung bereits daran erkennbar ist, ob ein Interpret die Formel „dies ist" oder die Formel „dies bedeutet" verwendet. Die zu Beginn dieses Punktes aufgelisteten Verweisungs-Termini ließen sich - in typischen Verwendungszusammenhängen betrachtet - nach dem Grad der Identifikation von Erst- und Zweitbedeutung ordnen. (5)

Wertverhältnis von Erst- und Zweitbedeutung

Interpretatorische Handlungen enthalten oft Werturteile über den unterschiedlichen Anteil, den die Erst- und die Zweitbedeutungen am Sinn eines Textes haben. Die Äußerung „Y meint eigentlich Z" schreibt der Erstbedeutung einen geringeren Wert zu als der Zweitbedeutung; die Äußerung „in Y klingt Ζ an" bescheinigt der Erstbedeutung einen hohen Eigenwert und der Zweitbedeutung einen schwächeren Wert, als es in der Eigentlichkeits-Behauptung der Fall ist. Es gibt gewissermaßen eine Skala der Wertschätzung, auf deren einer Seite sich Interpretationen eintragen lassen, denen die Erstbedeutung als die Hauptsache und die Zweitbedeutung als Nebensache gilt, in deren Mitte Interpretationen stehen, die beide Bedeutungen gleich wichtig nehmen, und auf deren anderer Seite Interpretationen eingetragen werden, denen die Erstbedeutung als unwichtig, etwa als bloßes Mittel zum Zweck gelten. Formulierungen wie stehen für, stellvertreten, exemplifizieren, eigentlich bedeuten, verschlüsselt bedeuten signalisieren eine instrumentelle, auf anderes zielende Funktion der Erstbedeutung und eine entsprechend hohe Wertschätzung der Zweitbedeutung. Dem gegenüber signalisieren Wendungen wie anspielen auf, hinweisen auf, auch bedeuten, zugleich bedeuten eine stärkere Eigenständigkeit und somit einen höheren Wert der Erstbedeutung, aber sie schließen eine gleichermaßen hohe Bewertung der Zweitbedeutung nicht aus. Wendungen wie evozieren oder anklingen signalisieren hingegen, dass ein Verstehen der Zweitbedeutung nicht für unabdingbar gehalten wird, dass man Zweitbedeutungen potentiell, unverbindlich, ausschnittweise zuschreiben kann, dass die Erstbedeutungen kein Instrument sind, nicht auf anderes zielen. Die unterschiedliche Wertschätzung von Erst- und Zweitbedeutung hat eine reiche Tradition in poetologischen Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Symbol und Allegorie sowie im Streit über den Vor-

54 rang des wörtlichen oder des allegorischen Schriftsinns in der BibelExegese. Wir können hier nur versuchen, die interne Logik dieser Debatten knapp zu skizzieren mit dem Ziel, ein handhabbares Differenzierungskriterium für unsere Interpretationsanalyse zu rekonstruieren. Der Pionier der Allegoriekritik im ausgehenden 18. Jahrhundert, Karl Philipp Moritz, bezog 1789 sein Urteil der Künstlichkeit vor allem auf die (vermeintliche) Abwertung des allegorischen Bildes, also der Erstbedeutungen, zur „Nebensache" (1962, S. 113). Schon die frühe protestantische Allegorese-Kritik hatte ähnlich geurteilt und mit dem eigenen Deutungsprinzip der sola scriptum eine extreme Abwertung der Zweitbedeutungen vorgenommen. 27 Tatsächlich war der sensus litteralis in der scholastischen Exegese häufig gegenüber den anderen Schriftsinnen abgewertet worden. Dante referiert diese Position, wenn er in seiner berühmten Erläuterung des vierfachen Schriftsinns im Gastmahl schreibt, der allegorische Sinn stelle „eine Wahrheit dar, die unter dem Mantel einer schönen Lüge sich verhüllt" (1965, S. 50). Allerdings ist die Allegorese- und Allegoriekritik sowohl der frühen Neuzeit als auch des 18. Jahrhunderts einseitig, denn es existierten bereits im Mittelalter, vollends im 17. Jahrhundert, äußerst unterschiedliche ,,Einschätzung[en] des Literalsinns nach seinem Wert oder Unwert" (Meier 1976, S. 39). Wenn einer Allegorie oder einer Allegorese die - im vorigen Punkt erwähnte - weltbildliche Überzeugung einer substantiellen Einheit aller Seinsbereiche zugrunde liegt, dann ist in der Exegese prinzipiell die Möglichkeit eröffnet, auch der Sphäre des wörtlichen oder historischen Schriftsinns einen eigenen substantiellen Wert zuzuerkennen und die Erstbedeutungen als fur sich genommen „lebensfähig" (Henkel/ Schöne 1967, S. XIV), d.h. als sinnvoll auch ohne die Zuschreibung einer Zweitbedeutung, anzuerkennen. 28 27

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„Ich weiß, das ein lauter dreck ist, den nuhn hab ich fahren lassen, vnd diß ist mein letzte und beste kunst: Tradere scripturam simplici sensu, denn litteralis sensus, der thuts, da ist leben, trost, krafft, lehr vnd kunst inen. Das ander ist narren werck, wie wol es hoch gleist." (Luther 1883 ff., Bd. II, 5, S.45). Freytag (1982, S. 24) behauptet sogar: „In der Betonung des buchstäblichen, geschichtlichen Sinns als eines notwendigen Bestandteils der Gesamtaussage der Allegorie ist ein spezifisch christliches Merkmal des Allegorie-Begriffs zu sehen". Dieser Auffassung zufolge verstand die christliche Allegorese die Figuren und Geschehnisse eines interpretierten Textes, etwa des Alten Testaments, als Kinder und Handlungen des einen Gottes, der sich auf unterschiedliche, niemals aber auf wertlose Weise offenbart. Dem ist jedoch entgegenzuhalten: In dem Maße, in dem die Allegorese die Funktion hatte, kulturell obsolet gewordene Inhalte eines gleichwohl kanonischen älteren Textes zu plausibilieren, werden die Erstbedeutungen offenkundig marginalisiert. Das gilt insbesondere für die Auslöschung sämtlicher Elemente jüdischer Orthodoxie: Die alexandrinische Uminterpretation der mosaischen Speisevorschriften etwa (vgl. u. 1.2.2, Pkt. 5) ist eine groteske Form der Abwertung von Erstbedeutungen. In diesem Punkt ist die Aussage über die christliche Wertschätzung des historischen Sinns ein Euphemismus.

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Auf der anderen Seite schreibt die Ende des 18. Jahrhunderts neu konstituierte Poetik des Symbols dieser Sinnfigur keineswegs eine Wertlosigkeit der Zweitbedeutungen und den alleinigen Wert der Erstbedeutungen zu, sondern lediglich einen sinnkonsitutiven Wert der Erstbedeutungen gewissermaßen deren Unabwertbarkeit. Nach Goethes Aussage ist im Symbol die Erstbedeutung immer Hauptsache, und erst deren Wertschätzung eröffnet die Möglichkeit einer weiteren Bedeutung: Indem das Symbol „vollkommen sich selbst darstellt, deutet es auf das übrige" (1985ff., Bd. 11,8, S. 187; 2.4.1818 an Schubarth). Es wäre also der historischen Diskussion über Symbol und Allegorie unangemessen, wollte man dem Symbol grundsätzlich eine Abwertung der Zweitbedeutungen, der Allegorie grundsätzlich eine Abwertung der Erstbedeutungen zusprechen. Die in der Poetik um 1800 erreichte Entgegensetzung beider Sinnfiguren lässt sich in Anlehnung an Todorov dahingehend reformulieren, dass fur die Semiose des symbolischen Zeichens ein Zielen auf die Erstbedeutung konstitutiv ist, fur die Semiose des allegorischen Zeichens aber ein Zielen auf die Zweitbedeutung: „Heterotelismus" kennzeichne die Allegorie, „Autotelismus" das Symbol (1995, S. 207).29 Beide Sinnfiguren zielen jeweils auch auf die andere Seite, und zwar in ein einem sehr flexiblen Ausmaß, das mit dem Begriffspaar „symbolisch" und „allegorisch" gar nicht bestimmbar ist. Denn die Ausdrücke bezeichnen nur die konstitutive positive Wertung entweder der Erst- oder der Zweitbedeutungen, nicht aber die Wertung der jeweils anderen Seite. Diese Bestimmung nun können wir für unsere Zwecke der Interpretationsanalyse reformulieren. Interpretationen, die eine Zuschreibung von Zweitbedeutungen vornehmen, die aber der Erstbedeutung einen konstitutiven, unverzichtbaren und primären Wert zuerkennen, können unter dem Aspekt des Wertungsverhältnisses symbolisch genannt werden, Interpretationen, die einen konstitutiven, unverzichtbaren und primären Wert der Zweitbedeutung zuerkennen, können unter dem Aspekt des Wertungsverhältnisses allegorisch genannt werden. An eine Sequenz von Interpretationsakten lässt sich dann beispielsweise die Frage stellen: Gibt der Interpret eher eine hohe, „symbolische" Wertschätzung der Erstbedeutungen zu erkennen, indem er sie zu einem eigenständigen Sinn verbindet? Oder gibt er eher eine hohe, „allegorische" Wertschätzung der

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Dieser Gegensatz wird häufig an eine andere, auf die Richtung der literarischen Produktion bezogene Unterscheidung geknüpft: Beginnt diese bei der Zweitbedeutung (Drews/ Gerhard/ Link 1985, S.268 sagen: bei der Subscriptio), zu der ein Bild (Erstbedeutung) gesucht wird, oder beginnt die Produktion bei der Gestaltung ihres Gegenstands (Pictura), der für die Zuschreibung von Zweitbedeutung geöffnet wird? Die erstgenannte Produktionsrichtung gilt um 1800 als allegorisch, die zweite als symbolisch.

56 Zweitbedeutungen zu erkennen, indem er deren Zuschreibung zur Voraussetzung für das Verständnis eines Textes oder einer Textstelle erklärt? Der Nutzen solcher Fragen sei im Vorgriff auf Kapitel 2 an einem Beispiel erläutert. Viele Interpreten von Goethes Wahlverwandtschaften schreiben diesem Roman Erstbedeutungen mit einem eigenständigen konsistenten Sinnzusammenhang zu, der (symbolisch) auf anderes verweisen kann, aber nicht darauf verweisen muss. Andere, wie Walter Benjamin, betonen die (symbolische bzw. mythische) Eigenständigkeit der Erstbedeutungen und zugleich die Notwendigkeit einer auf anderes gerichteten (allegorischen bzw. kritischen) Interpretation. In einer neueren Interpretation, die den Roman als (allegorisch) verrätselte Parodie auf die Poetik Friedrich Schlegels liest, spielt ein eigenständiger Zusammenhang der Erstbedeutungen, spielt etwa die erzählte Geschichte der zwischengeschlechtlichen Beziehungen, kaum eine Rolle. Die symbolische Wahlverwandtschaften-Deutung nimmt auf unserer Wertungs-Skala die eine Extremposition ein; die rein allegorische Deutung ist auf der entgegengesetzten Seite angesiedelt; die Deutung Benjamins hingegen lässt sich nahe der Mitte verorten. 30 (6)

Mentale Form des Verweises

Bisher haben wir gesehen, dass Interpreten einem Text unterschiedliche Modi zuschreiben, in denen die Strukturen und Inhalte der Erstbedeutungen auf Strukturen und Inhalte von Zweitbedeutungen verweisen. Darüber hinaus können Interpreten unterstellen, dass ein Text auf eine bestimmte mentale Form der zugeschriebenen Zweitbedeutungen verweist. Es wird z.B. gesagt, ein bestimmter Text appelliere an die Entwicklung bildhafter Vorstellungen, ein anderer an das begriffliche Denken. Fünf unterschiedliche mentale Formen, in denen literarische Bedeutung verstanden werden kann, sind aus kognitionspsychologischer Sicht beschrieben worden: (a) bildhafte Vorstellung, (b) Prototyp, (c) formale Struktur, (d) Analogiebildung, (e) Begriffsschema (Hölsken 1987, S. 68ff.). Nehmen wir zur Veranschaulichung wiederum Goethes Beispiel eines symbolischen Falles und ordnen die soeben genannten Repräsentanzformen fünf fiktiven Lesern zu. (a) Der erste Rezipient stellt sich den auf einem Trümmerfeld errichteten Marktplatz bildlich vor, wobei sein Alltagswissen über Märkte und sein Medienwissen über Ruinenfelder aktiviert wird, (b) Bei einem zweiten Rezipienten wird durch das Wort „Bombardement" nicht eine einzelne Bildvorstellung geweckt, sondern ein ganzes Feld von 30

Allerdings nicht in der Mitte, denn Benjamin hält den konsistenten Sinn der Erstbedeutungen fur mythisch, scheinhaft, unwahr; die allegorische Lesart gilt der symbolischen als überlegen.

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Vorstellungen; das von Goethe erwähnte Bombardement wird prototypisch als Repräsentant dieses Schemas verstanden, (c) Ein dritter Leser bildet nicht einzelne oder gebündelte Vorstellungen, sondern prägt sich das bei Goethe geschilderte Verlaufsschema: älterer geordneter Zustand, Zerstörung, Wiederaufbau, neue Ordnung, (d) Ein vierter Rezipient bringt mit der Schilderung des Frankfurter Ruinenplatzes die Vorstellung eines Erdbebens in Zusammenhang, weil ihn die Lektüre an einen Bericht über die Folgen eines Erdbebens oder an Kleists Erzählung Das Erdbeben in Chili erinnert - also an ähnliche Fälle, (e) Der letzte Interpret bringt den von Goethe geschilderten Fall in Zusammenhang mit seinem Wissen über politische Veränderung, wobei dieses Wissen nicht bloß die Form gebündelter Vorstellungen hat, für die der einzelne Fall prototypisch steht, sondern die Form eines begrifflichen Schemas, das ein Wissen über die logischen Verhältnisse zwischen den Elementen umfasst. Diese analytischen Unterscheidungen haben idealtypischen Charakter; in der Empirie sind meist mehrere Formen der mentalen Repräsentanz miteinander verbunden. Wie gesagt können Interpreten einem Text die Eigenschaft zuschreiben, auf eine oder mehrere dieser mentalen Formen von literarischer Bedeutung zu verweisen. Derartige interpretatorische Zuschreibungen gibt es bereits in älteren Traditionen der Rhetorik und Poetik. Greifen wir wiederum die um 1800 unternommenen Bestimmungen von Symbol und Allegorie heraus. In dem zitierten Brief an Schiller schreibt Goethe über die symbolischen Fälle, dass sie „als Repräsentanten von vielen andern dastehen, [...] Ähnliches und Fremdes in meinem Geiste aufregen und so von außen wie von innen an eine gewisse Allheit und Einheit Anspruch machen." Das großväterliche Anwesen müsse „als Symbol vieler tausend andern Fälle [...] besonders vor meinem Anschauen dastehen." Goethe ordnet dem symbolischen Verweisungsmodus ganz deutlich zwei der oben genannten mentalen Formen literarischer Bedeutung zu: die prototypische Form („Repräsentanten von vielen andern") und die analogische Form („Ähnliches und Fremdes in meinem Geiste aufregen"). Die begriffliche Form ist dem symbolischen Modus, wie er um 1800 verstanden wird, dagegen fremd. Nicht das symbolische, sondern das allegorische Verstehen erkennt „den Begriff im Bilde" und vermag ihn „vollständig [...] an demselben auszusprechen". Das symbolische Verstehen hingegen ahnt „die Idee im Bild" - eine Idee, die dem Verstand „unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe" (Goethe 1985ff., Bd. 13, S.207; Maximen und Reflexionen Nr. 1112).31 Goethe und seine Zeitgenossen unterscheiden zwischen dem 31

Moritz hatte die Allegorie k n a p p „ B e g r i f f s b i l d " genannt, und Alt (1995, S. 33), d e r dies

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„intuitiven Wesen des Symbols" und dem „rationalen Charakter der Allegorie" (Todorov 1995, S. 201). In diesem Zusammenhang kann der oben referierte Katalog mentaler Formen, in denen literarische Bedeutung sich verstehen lässt, eine Erweiterung erfahren. In den zitierten und vielen anderen Bestimmungen gewinnt das Symbol die Dignität des Heiligen.32 Goethes Wendungen „Allheit und Einheit", „Idee", „Offenbarung des Unerforschlichen" sind deutlich religiöser Terminologie verpflichtet. Es gibt neben den genannten Formen auch geahnte oder geglaubte Zweitbedeutungen. Interpreten können die Ahnung einer Zweitbedeutung haben, und sie können einem Text unterstellen, auf die Ahnung einer Zweitbedeutung zu verweisen. Die mentale Form des Verweises hängt mit den quantitativen Kriterien der Selektion und der Ambiguität zusammen. Die Formen des prototypischen, analogischen und ahnenden Verstehens, die der Symbolbegriff von 1800 zusammenbringt, entsprechen auf der Seite der Erstbedeutungen einer starke Selektion: Als symbolisch gelten entweder einzelne Zeichen oder aber mehrere Zeichen, deren Erstbedeutungen auf unmittelbar verständliche Weise zusammenhängen. Auf Seiten der Zweitbedeutung begünstigt dieser Modus eine schwache Selektion: Zugeschrieben wird im Extremfall eine „Allheit" (Goethe). Dies hat auf der Seite der Erstbedeutung wiederum die höchstmögliche Ambiguität zur Folge: Die Zeichen können alles bedeuten.

1.2.

Illokutionäre Interpretationshandlungen

Wir kommen nun zu der Frage, welche kommunikative Handlung Interpreten ausführen, indem sie einem Textelement Y die übertragene Bedeutung Ζ zuschreiben. Zunächst sollen einige kategoriale Fragen zur Bestimmung solcher Handlungen geklärt werden (1.2.1). Im Hauptabschnitt folgt eine differenzierte Beschreibung von Illokutionen der Interpretation (1.2.2).

32

referiert, resümiert die Bestimmungen des gesamten 17. und 18. Jahrhunderts, wenn er schreibt: „Die Allegorie möchte die Welt mit sinnlichen Mitteln auf den Begriff bringen". Walter Benjamins Symbol-Kritik ist in der Abneigung gegen eine Kunst motiviert, die eine falsche, vormessianische Ordnung - schlimmstenfalls die Ordnung der Natur - mit solcher Dignität ausstattet (vgl. 1974, Bd. I, S. 147ff.; 336ff.).

59 1.2.1 Kategoriale Vorüberlegungen Für die vorab notwendigen kategorialen Erörterungen sei folgendes Beispiel konstruiert. Die letzte Strophe des zu Beginn der Einleitung wiedergegebenen Gedichts von Robert Frost lautet: „The woods are lovely, dark an deep,/ But I have promises to keep,/ And miles to go before I sleep". Unterstellen wir ein Interpretationsgespräch mit folgenden vier Äußerungen: A: Das Nachdenken des Ich über die Schönheit des Waldes auf der einen Seite, die noch zu gehenden Meilen und die zu haltenden Versprechungen auf der anderen Seite, also der Zwiespalt zwischen Bleiben-Wollen und Weitergehen-Müssen, versinnbildlicht nach meinem Verständnis den Konflikt zwischen einer plötzlich empfundenen Verlokkung des Todes und einer Verpflichtung gegenüber den Mitmenschen sowie gegenüber der eigenen Existenz, die uns auferlegt ist und deren Dauer wir nicht willkürlich bestimmen dürfen. B: Das leuchtet mir nicht ein. Man könnte mit dem Wald doch auch jede andere augenblickhafte Verlockung verbinden, die uns von unserem Weg und von den Mitmenschen abzubringen droht. C: Ich finde die Interpretation gut. Wir gehen tatsächlich gegenüber unseren Nächsten die unausgesprochen Verpflichtung ein, uns selbst zu erhalten, damit wir ihnen erhalten bleiben. D: Warum muss der Wald überhaupt für etwas anderes stehen? Dieses sinnbildliche Lesen ist eine echte deformation professionnelle. Nichts spricht dagegen, dass der Autor plötzlich den verrückten Wunsch verspürte, die Nacht in einem wunderschönen verschneiten Wald zu verbringen, und dass er genau darüber und über nichts anderes ein Gedicht geschrieben hat.

Die Äußerung des Sprechers Α wird von den Gesprächspartnern als ein Sprechakt ganz unterschiedlicher Art verstanden. Β geht davon aus, dass Α ihm (und den anderen) den Gegensatz zwischen der Schönheit des Waldes und den Verpflichtungen des Ich erklärt, indem er dem Wald die Verlockung des Todes als Zweitbedeutung zuschreibt; Β greift die Erklärung auf und bezweifelt sie. C geht davon aus, dass Α ihn (und die anderen) in ein gemeinsames Nachdenken über die moralische Problematik des Freitods verwickelt, indem er Frosts Formulierung „promises to keep" entsprechend interpretiert; C greift den Gedanken zustimmend auf und fuhrt ihn weiter. D geht davon aus, dass Α ihm (und den anderen) gegenüber eine charakteristische Interpretationsweise, eine berufstypische Lesehaltung zum Ausdruck bringt, indem er den Wald sinnbildlich deutet; D nimmt an diesem Symptom Anstoß und weist auf eine mögliche andere Lesehaltung hin. Vollzieht A also eine texterklärende, eine problemerörternde oder eine die Interpretationsweise ausdrückende Handlung oder all das zugleich? Wir wollen in diesem Abschnitt zunächst Kriterien aufzeigen, nach denen sich die interpretatorischen Sprechakte analytisch voneinander unter-

60 scheiden lassen, nämlich (1) das Kriterium der Themensetzung und (2) das Kriterium des primären Geltungsanspruchs. Anschließend wollen wir (3) fragen, nach welchen Kriterien sich entscheiden lässt, welcher Sprechakt mit einer Äußerung tatsächlich ausgeführt wird: Hängt die illokutive Bedeutung nur von der Sprecherintention oder von sämtlichen kommunikativen Funktionen ab? (1)

Thema und Rhema interpretierender Sprechakte

In unserem Beispiel heben die Gesprächspartner am propositionalen Gehalt der Äußerung des Sprechers Α jeweils etwas anderes hervor: Β akzentuiert das Interpretandum, das Gedicht Robert Frosts; C akzentuiert das Interpretament, die Problematik des Freitods; D akzentuiert die Interpretationsweise, das „sinnbildliche Lesen". Diese Hervorhebungen lassen sich als unterschiedliche Setzungen von Thema und Rhema bezeichnen. 33 Β behandelt den Wald in Robert Frosts Gedicht (Erstbedeutung) als Thema und die Verlockung des Todes (Zweitbedeutung) als Rhema: Die eigentliche Neuaussage in der Äußerung von A, die Aussage von höchstem Mitteilungswert, ist fur Β die (so verstandene) Behauptung, der Tod, keine andere Verlockung, sei in dem Gedicht gemeint. C hingegen behandelt die Problematik des Freitods (Zweitbedeutung) als Thema und die besondere Aussage des Gedichts (Erstbedeutung) als Rhema: Für C liegt die eigentliche Neuaussage nicht in der Behauptung, dass der Wald und das Weitergehen die Zweitbedeutungen Tod und Weiterleben haben, sondern in der Behauptung, dass Frosts Gedicht zu dem Thema Freitod den Gedanken einer Verpflichtung zum Weitergehen beiträgt. Die dritte mögliche Themensetzung von Interpretationsakten zeigt sich an der Äußerung von Sprecher D. Hier wird, wie gesagt, die stereotype sinnbildliche Interpretationsweise thematisiert, die der Äußerung von Α zugrunde liege. Das eigentlich Neue, das Rhema, ist für D die Tatsache, dass A Frosts Gedicht und die Problematik des Freitods der bekannten (hier thematisierten) Interpretationsweise unterwirft. Unser Beispiel zeigt: die innerhalb des propositionalen Akts bestehende Unterscheidung zwischen Interpretandum (der Text mit seinen Erstbedeutungen) und Interpretament (die zugeschriebenen Zweitbedeutungen) ist keineswegs deckungsgleich mit der Unterscheidung zwischen Thema und Rhema; bei der Zuschreibung einer Zweitbedeutung wird die Position des Themas keineswegs immer vom Text und seinen Erstbedeutungen eingenommen

33

Das Thema ist definiert als „der (kommunikative) Ausgangspunkt, das Bekannte, durch Situation und Kontext Gegebene; die Basis zur Entfaltung des Mitteilungsgehalts bzw. der eigentlichen Kommunikation", das Rhema als „die eigentliche Mitteilung, das Neumitzuteilende, der höchste Mitteilungswert" (Lewandowski 1976, S. 837ff.).

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und die Position des Rhemas keineswegs immer von den Zweitbedeutungen. Die Unterscheidung von Thema und Rhema gehört dem Bereich der kommunikativen Sprechhandlungen an und ist nicht mit deren propositionalem Gehalt bereits gesetzt. 34 Es wäre dem Sprachspiel der Literaturinterpretation mithin unangemessen, betrachtete man Interpretationen, die nicht das Interpretandum, sondern das Interpretament zum Thema haben, als Abweichungen von der eigentlichen Aufgabe des Interpretierens. 35 Die illokutive Pointe der Äußerung von C ist nicht die Erklärung des Textes, sondern das Nachdenken über die Problematik des Freitods. Zwar birgt eine solche Themensetzung die Gefahr einer Abwendung vom Interpretament: „Du sprichst" - so könnte z.B. ein Teilnehmer wie B, der das Interpretandum thematisiert, dem Teilnehmer C vorwerfen - „gar nicht mehr über den Text, sondern nur noch über den Freitod". Doch bietet die thematische Konzentration auf das Interpretandum die Chance einer propositionalen Ausdifferenzierung der Interpretation, die bei einer thematischen Rückwendung auf das Interpretament sehr hilfreich ist: „Das stimmt nicht", könnte C entgegnen, „denn der Gedanke, dass man seinen Nächsten insgeheim immer und quasi jeden Tag auf Neue verspricht, sich selbst zu erhalten, um ihnen erhalten zu bleiben, ist eine Erklärung dafür, dass hier eine alltägliche Naturerfahrung zum Sinnbild einer existentiellen Verpflichtung wird: auch diese ist alltäglich und wird von uns nur selten wahrgenommen". Um es mit der von Frege getroffenen (und von Eric D. Hirsch aufgegriffenen) Unterscheidung zwischen Bedeutung und Sinn eines sprachlichen Ausdrucks zu sagen: Die Frage nach dem Sinn, den eine fragliche Textstelle in unterschiedlichen Kontexten hat, kann ein nützlicher interpretatorischer Beitrag zur Beantwortung der Frage sein, welche Bedeutung die Stelle im Gedicht hat. Über den Aspekt der Nützlichkeit hinausgehend kann man mit einem transzendentalhermeneutischen Argument sagen: ohne die Unterstellung (und Thematisierung) eines Kontextes, in dem die Stelle Sinn macht, ist keine Aussage über die Bedeutung der Stelle im Gedicht möglich. 36 34

35

36

Die Differenzen in der Thema-Rhema-Bestimmung werden ganz deutlich, wenn wir uns vorstellen, dass die Äußerung von Α in drei unterschiedlichen Aufsätzen enthalten sein könnte: Zur Naturlyrik Robert Frosts·, Zum Motiv des Todes in der Lyrik Robert Frosts', Das Verfahren der Allegorese am Beispiel eines Gedichts von Robert Frost. Hermeren (1984, S. 137ff.) setzt sich mit der extremen Gegenposition auseinander, der zufolge „interpretations, or at least good critical interpretations, state or suggest some important truths about human life". Hermeren zeigt, dass es keine linguistischen, soziologischen oder normativen Gründe dafür gibt, Interpretationen auf Wahrheitsaussagen über jenen Weltbereich zu verpflichten, dem die zugeschriebenen Bedeutungen entstammen. Mit diesem Argument lässt sich die Forderung Hirschs nach einer strengen Arbeitstei-

62 Wenn ein Interpretationsakt das Interpretandum (hier: den Freitod) thematisiert, muss im Rhema stets ein Referenzbezug auf den literarischen Gegenstand erkennbar sein; anderenfalls wäre es kein Interpretationsakt mehr, sondern eine unabhängig vom Gegenstand erfolgende Aussage über das Interpretament. Die Äußerung von C muss wenigstens implizit die Behauptung enthalten, dass das Gedicht selbst - wie indirekt auch immer - etwas über die erörterten existentiellen Verpflichtungen aussagt. Je weniger die am thematisierten Interpretament vorgenommenen propositionalen Differenzierungen der Gesamtheit des interpretierten Textes angemessen sind, desto weniger akzeptabel ist der Interpretationsakt. Genau das führt die zu Beginn der Einleitung zitierte Textstelle aus dem Roman von Sharon Creech vor: Einige Schüler behaupten, mit dem verschneiten Wald seien Fun, Vanilleeis, Surfen oder Sex gemeint, denn sie thematisieren losgelöst vom Zusammenhang des Gedichts eine Reihe von Zweitbedeutungen, die ihnen bei dem Wort „lovely" einfallen und die sich in Relation zu den anderen Zeichen des Gedichts als vollkommen unpassend erweisen - ein Grund für die Komik der Stelle. Aus dem zuvor Gesagten können wir folgende Vermutung ableiten: Eine vorwiegende Thematisierung des Interpretaments geht mit der Gefahr einer partiellen Vernachlässigung des interpretierten Gegenstands einher, eine vorwiegende Thematisierung des Interpretandums hingegen mit der Gefahr eines geringen Zuwachses an Wissen und Reflexion. Eine häufig wechselnde Thematisierung beider Seiten dürfte zum Gelingen einer Sequenz von Interpretationsakten beitragen. 37

lung zwischen dem Interpreten, der bloß nach der Wortbedeutung (meaning) im Text fragt, und dem Kritiker, der nach dem Sinn (relevance) in Kontexten fragt, zurückweisen. Hirsch will das transzendentalhermeneutische Problem lösen, indem er dem Interpreten eine einzige sinnstiftende Kontextualisierung bei der Bildung von Deutungshypothesen zugesteht: die Einbindung einer literarischen Äußerung in ihr Genre. Mit dem Genre werde ein sinnhafter „allgemeiner Horizont" gesetzt, von dem ausgehend sich die intentionale Bedeutung einer Textstelle deduktiv prüfen lasse (ebd., S. 277ff.). Durch diese Einschränkung soll verhindert werden, dass der Interpret den philologischen Arbeitsbereich verlässt und als critic seine Hypothesen in Erkenntnissituationen bildet, in denen die Konzentration auf den Objektbereich gelockert ist. Genau das jedoch wird in den .harten' Wissenschaften aus Gründen der Originalität empfohlen. Dass die originellen semantischen Kontextualisierungen, die critics vornehmen, angeblich nichts zur Hypothesenbildung beitragen, lässt Hirsch unbegründet. - Zu seiner Interpretationstheorie vgl. Gelder 1985. 37

Die alltägliche literaturdidaktische Erfahrung stützt diese Vermutung: Interpretationsgespräche gelten als misslungen, wenn entweder keine Äußerung mehr auf den Textzusammenhang gestützt wird oder wenn sämtliche Äußerungen am Wortlaut ,kleben'.

63 (2)

Geltungsansprüche interpretierender Sprechakte

Die in unserem Beispiel von den Teilnehmern B, C und D der Äußerung von Α zugeschriebenen Sprechakte unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich der Thematisierung von Interpretandum, Interpretament und Interpretationsweise voneinander, sondern auch hinsichtlich ihres Anspruchs, auf eine spezifische Weise als geglückt bzw. gelungen zu gelten. Jürgen Habermas (1981, Bd. 1, S.427ff.) klassifiziert Sprechakte - abweichend von Austin (1972) und Searle (1980) - nach den vorrangig in ihnen erhobenen Geltungsansprüchen. Da wir Habermas hierin mit einer Ausnahme, die in Abschnitt 1.2.2 zu erörtern sein wird, folgen, soll zunächst seine universalpragmatische Unterscheidung der drei Geltungsansprüche kommunikativer Sprechhandlungen (vgl. 1976, S.237ff; 1981, Bd. 1, S. 397ff.) so knapp wie möglich skizziert werden. Ein Anknüpfungspunkt der besagten universalpragmatischen Unterscheidung ist Karl Bühlers Sprachtheorie, der zufolge jedes kommunizierte sprachliche Zeichen drei Funktionen hat (1934, S. 28): Es ist Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, Symptom (Anzeichen, Indicium) kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt, und Signal kraft seines Appells an den Hörer, dessen äußeres oder inneres Verhalten es steuert wie andere Verkehrszeichen.

Habermas fragt nun danach, was eine Äußerung unter der Voraussetzung, dass jedes Zeichen als Symbol, Symptom und Signal fungiert, „akzeptabel" macht.38 Jeder Äußerung inhäriert, so Habermas, der Anspruch, in Bezug auf die Sachverhalte als konstativ wahr, in Bezug auf die Innerlichkeit des Sprechers als expressiv wahrhaftig und in Bezug auf das intersubjektive Handeln der Sprecher als normativ richtig zu gelten. Diese Bedingungen müssen erfüllt sein, „damit ein Hörer zu dem vom Sprecher erhobenen [dreifachen, T.Z.] Anspruch mit ,Ja' Stellung nehmen kann" (1981, Bd. 1, S. 400f.). Die Geltungsansprüche sind die Grundlage des rationalen Urteilens über sprachliche Äußerungen: Wir können jede Äußerung daraufhin prüfen, ob sie wahr oder unwahr, gerechtfertigt oder ungerechtfertigt, wahrhaftig oder unwahrhaftig ist, weil in der Rede, gleichviel mit welcher Hervorhebung, grammatische Sätze so in Realitätsbezüge eingebettet werden, dass in der akzeptablen Sprechhandlung stets Ausschnitte der äußeren Natur, der Gesellschaft und der inneren Natur zugleich zur Erscheinung gelangen. (1976, S. 258)

Auch die Aussage Α in unserem Beispiel enthält einen dreifachen Bezug auf die „Welt existierender Sachverhalte", auf die „Welt legitimer Ordnungen" und auf die dem Sprecher „privilegiert zugängliche subjektive 38

Zur Anknüpfung an Bühler vgl. Habermas 1981, Bd. 1, S. 372.

64 Welt" (1981, Bd. 1, S.413), und sie erhebt, wie implizit auch immer, die entsprechenden Geltungsansprüche. Sobald der Gesprächspartner Β die Texterklärung für unzutreffend (unwahr) hält, zeigt sich an dieser Zurückweisung des Wahrheitsanspruchs, dass Α durch die behauptende Redeform implizit die Verpflichtung eingegangen ist, seine Aussage an den „Sachverhalten" des interpretierten Textes und des zugeschriebenen Wissens zu begründen,39 Wenn Gesprächspartner D einwendet, es sei nicht richtig, ein solches Gedicht im übertragenen Sinn zu deuten, zeigt sich an dieser Zurückweisung des Richtigkeitsanspruchs, dass Α durch den regulativen Anteil seiner Äußerung implizit die Verpflichtung eingegangen ist, seine Aussage zu rechtfertigen mit den Auslegungsnormen, die in der Interpretengemeinschaft herrschen. Angenommen, ein weiterer Gesprächsteilnehmer unterstellt A, er habe das Gedicht gar nicht authentisch als allegorischen Text über die Freitod-Problematik verstanden, sondern konstruiere diese Deutung, um bei den Gesprächspartnern mit der vermeintlich wahrgenommenen Bedeutsamkeit Eindruck zu schinden, so zeigt sich an dieser Bezweiflung des Wahrhaftigkeitsanspruchs: Α ist durch den subjektiven Anteil seiner Äußerung, den er mit der Formulierung „nach meinem Verständnis" auch ganz explizit reklamiert, die Verpflichtung eingegangen, aufzuzeigen, dass die Interpretation sich als Ausdruck seines tatsächlichen subjektiven Textverstehens bewährt (vgl. Habermas 1976, S.241). In der empirischen Kommunikation sind mit einer Äußerung allerdings nicht immer alle drei Geltungsansprüche - Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit - gleich stark verbunden. Eine Leistung der illokutionären Akte besteht gerade darin, jeweils einen der Geltungsansprüche hervorzuheben und die anderen kommunikativ gleichsam zu deaktivieren und implizit zu machen. Deshalb ist es möglich, die Sprechakte nach jeweils dem Geltungsanspruch zu klassifizieren, der in ihnen primär erhoben wird. Habermas (1981, Bd. 1, S.435ff.) unterscheidet daher zwischen konstativen Sprechakten, die den Anspruch hervorheben, als wahr zu gelten, regulativen Sprechakten, die den Anspruch hervorheben, als richtig zu gelten, und expressiven Sprechakten, die den Anspruch hervorheben, als wahrhaftig zu gelten. 40 Normalerweise erwartet man 39

40

Auch wenn man der Auffassung ist, dass es in ästhetischen Zusammenhängen keine außersubjektiven und außerkonventionellen Fakten gibt, konstituiert jede interpretatorische Rede gleichwohl eine solche Sphäre, denn anderenfalls könnte sie keine Rede über etwas sein. In deutlicher Nähe zur Universalpragmatik steht die Unterscheidung dreier Sprachspiele der Interpretation bei Richard Shusterman (1978, S. 312-316): Zum „Descriptivism" rechnet er alle konstativen Interpretationen, die als „true or false" beurteilt werden, zum „Prescriptivism" alle regulativen Interpretationen, die als „right or wrong" beurteilt

65 z.B. von einer informierenden Äußerung nicht, dass sie ein wahrhaftiger Ausdruck der Subjektivität des Sprechers ist: Sie soll in erster Linie eine wahre Aussage über den Sachverhalt sein. Für das Gelingen eines Sprechakts setzt Habermas (1976, S. 254) zwei Kriterien an: (a) das von Austin und Searle übernommene Kriterium, dass die Illokution vom Hörer verstanden und als solche (und nicht als eine ganz andere) angenommen wird, und (b) das Kriterium, dass der Sprechakt hinsichtlich des mit der Illokution verbundenen Geltungsanspruchs als gültig, d.h. wahr, richtig oder wahrhaftig, akzeptiert wird. Wenn wir in unserem Beispiel davon ausgehen, dass der Sprecher Α mit seiner Äußerung ausschließlich eine Texterklärung leistet, dann ergibt sich folgendes Bild eines kompletten Misslingens auf unterschiedlichen Ebenen: Nur Sprecher Β versteht und akzeptiert den Sprechakt von Α als Erklärung, C und D hingegen verstehen und akzeptieren den Sprechakt als eine ganz andere Handlung (als Nachdenken über den Freitod, als Ausdruck der Interpretationsweise). Während jedoch Β den als Erklärung richtig verstandenen und angenommenen Sprechakt zurückweist als eine ungültige (unwahre) Erklärung, akzeptiert C den falsch verstandenen Akt als ein wahres Nachdenken, und D akzeptiert den falsch verstandenen Akt zumindest als einen authentischen Ausdruck der Sprecherdisposition (wenn auch nicht als richtige Interpretationsweise). Vorausgesetzt, der Sprechakt von Α ist eine Texterklärung, so wird er in unserem Beispiel nur als falsch verstandener akzeptiert, als richtig verstandener aber nicht akzeptiert. Das Beispiel legt die Vermutung nahe, dass Sprecher das Recht haben, ein und dieselbe Äußerung unter verschiedenen Geltungsaspekten zu betrachten und als unterschiedliche Illokutionen aufzufassen. So kann man von einer wissenschaftlichen Erklärung aus gutem Grund auch erwarten, dass sie in einer subjektiven Evidenzerfahrung wahrhaftig verbürgt ist. Sie wäre dann auch eine expressive Handlung. Aus der Einsicht, dass ein empirischer Interpretationsakt nicht jede der drei rationalen Geltungen für sich beanspruchen muss, sondern eine von ihnen bis zur Exklusivität hervorheben kann, ergibt sich eine wichtige Konsequenz für die Interpretation von Interpretationsakten. Diese Konsequenz betrifft das Prinzip des interpretatorischen Wohlwollens, das von Donald Davidson (1990, S. 196ff.) als „principle of charity" und von Gadamer (1972, S. 59) als hermeneutisches Prinzip des „Guten Willens" formuliert wird.41 Um eine Äußerung verstehen zu können, sind wir

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werden, und zum „Performativism" alle darstellend-expressiven Interpretationen, die als „convincing or unconvincing" beurteilt werden. Davidson knüpft an Neil L. Wilson, Quine, David Lewis und Richard E. Grandy an (vgl. Abel 1993, S.397); Gadamer (ebd.) stützt sich auf die Piatons Formel „eumeneis elenchoi". In der hermeneutischen Tradition ist das Prinzip seit dem 18. Jahrhundert, als

66 gezwungen, (zunächst) zu unterstellen, dass die Äußerung innerhalb der Sprachverwendung des Sprechers einen Sinn macht und dass der Sprecher uns in dieser Hinsicht nicht täuschen will. Diese Unterstellung ist die Bedingung der Möglichkeit jeglichen Fremdverstehens. Wenn man dieses Prinzip nun im Sinne Davidsons auf den Geltungsanspruch der konstativen Wahrheit einschränkt und zunächst unterstellt, dass jeder Sprecher für wahr hält, was er äußert, so kann die Befolgung des Prinzips in ein Dilemma fuhren. Es wäre alles andere als wohlwollend, unterstellte man beispielsweise einem Schüler, der einen Interpretationsaufsatz mit dem Ziel einer möglichst guten Benotung verfasst, dass er nicht nur seine Interpretationsweise für richtig hält (und deshalb eine Interpretationsthese ,schulmäßig' am Text belegt), sondern dass er die Interpretation in Relation zum Gegenstand auch für wahr hält. Wohlwollend wäre es in diesem Fall vielmehr, zunächst zu unterstellen, dass die Äußerung in Relation zum Geltungsanspruch normativer Richtigkeit sinnvoll ist. Entsprechendes gilt für Äußerungen, die mit dem Geltungsanspruch expressiver Wahrhaftigkeit erfolgen. Es stellt sich dann allerdings die Frage, ob man das Wohlwollen, mit man dem einzelnen Sprecher (hier: dem Schüler) durch die Anerkennung des dominanten Geltungsanspruchs seiner Rede begegnet, auch dem Diskurs „Interpretationsaufsatz" zukommen lassen kann, welcher den einzelnen Sprecher dazu bringt, den Geltungsanspruch der konstativen Wahrheit zugunsten des Geltungsanspruchs der normativen Richtigkeit zu deaktivieren. Erhebt, mit anderen Worten, jede Interpretation nicht zumindest implizit den Anspruch, eine wahre Aussage über das Interpretandum zu treffen? Und wenn ja: Können wir die systematische Deaktivierung des Wahrheitsanspruchs in bestimmten pragmatischen Zusammenhängen auch unter der Bedingung kritisieren, dass wir dem einzelnen Sprecher zunächst nur die Orientierung an der Richtigkeit oder an der Wahrhaftigkeit unterstellen, um seine Äußerung als sinnvoll verstehen zu können? Die Lösung dieses Problems liegt darin, dass man, um eine interpretatorische Äußerung verstehen zu können, nicht allein den dominanten Geltungsanspruch anerkennen und akzeptieren muss, sondern das jeweilige pragmatische Dominanzverhältnis der Ansprüche. Dem einzelnen Interpretationsaufsatz mit dem Prinzip des Wohlwollens zu begegnen bedeutete dann, zu verstehen, dass und aus welchen Gründen der (möglicherweise implizit vorhandene oder sogar explizit vorgetäuschte) Wahrheitsanspruch für die Äußerungen des Schülers nicht bestimmend ist. Das Verständnis der jeweiligen Geltungsbasis einer Äußerung ist also

Grundsatz der ,,hermeneutische[n] Billigkeit" bekannt (Meier 1757, S.20; vgl. Szondi 1975, S. 109).

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die Voraussetzung eines interpretatorischen Wohlwollens, das nicht abstrakt bleibt, sondern die Eigenart der Äußerung betrifft. (3)

Intention, Funktion und Bedeutung illokutionärer Akte

Welche der von B, C und D verstandenen Handlungen vollzieht der Sprecher Α in unserem zu Beginn von Kapitel 1.2 gegebenen Beispiel denn nun tatsächlich? Die meisten Vertreter der Sprechakttheorie versuchen die Illokution mit der vom Sprecher im Moment des Äußerns bewusst beabsichtigten Handlung gleichzusetzen: „Unter Illokution wird die Redeabsicht eines Sprechers verstanden, die dieser mit seiner Äußerung [...] primär verbindet. [...] Die Redeintention ist dabei eine spezifische Teilmenge der wesentlich umfangreicheren Gesamtmenge der kommunikativen Funktionen der Äußerung", heißt es in einer Studie über das sprachliche Handeln von Lehrern (Diegritz/ Fürst 1999, S. 47). Searle bestimmt die Intention dreifach: Der Sprecher beabsichtige, (a) dass der Hörer den Sprechakt (also z.B. die Handlung des Erklärens) erkennt, (b) dass er nicht nur den Sprechakt, sondern darüber hinaus die Absicht des Sprechers erkennt, den Sprechakt zu erkennen zu geben, und (c) dass der Hörer Sprechakt und Absicht „vermöge seiner Kenntnis der Bedeutung" der Äußerung versteht (1971, S. 76ff.; 93).42 Diese Überlegungen gehen von folgendem Verhältnis zwischen Proposition und Illokution aus. Grundsätzlich können, so stellt Searle fest, „verschiedene illokutionäre Akte einen gemeinsamen [propositionalen, T.Z.] Inhalt haben" (ebd., S. 188). Weil damit die Gefahr des pragmatischen Missverstehens gegeben ist, muss jeder Sprecher die Absicht haben, im propositionalen Akt selbst die Illokution möglichst deutlich erkennbar zu machen. Searle hält die Illokution also nicht nur für vollständig ausdrückbar, sondern er unterstellt eine für jedes Sprechen konstitutive Absicht ihres vollständigen Ausdrucks. Aus diesem Grund sieht er den propositionalen Gehalt im Kern durch die performative Verwendung einer Äußerung, den illokutionären Art, geprägt: „Die Prädikation [...] kommt niemals selbständig, sondern immer nur in der einen oder anderen illokutionären Form vor" (ebd., S. 188).43 Mithin lasse sich vom propositionalen Gehalt auf die performative Absicht schließen.

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Auf Searles Anknüpfung an die intentionale Semantik von Grice (1979) kann hier ebensowenig eingegangen werden wie auf das Problem der indirekten Sprechakte, bei denen der Sprecher gerade nicht intendiert, dass sie allein an der Bedeutung der Äußerung erkannt werden (vgl. Sökeland 1980), sowie das Problem der strategischen Sprechakte, bei denen der Sprecher intendiert, dass eine Illokution wirksam ist, ohne vom Hörer erkannt zu werden. Austins Grundeinsicht, dass der propositionale Gehalt durch die performative Verwen-

68 Unser zentrales Beispiel ist mit Bedacht so konstruiert, dass eine Analyse des propositionalen Akts gemäß den in Abschnitt 1.1.3 entwickelten Kategorien keine eindeutige Ableitung der Illokution aus der Bedeutung ermöglicht und dass auch die Gesprächspartner Schwierigkeiten haben, eine eindeutige Absicht im Sinne Searles zu erkennen. Betrachtet man die Äußerung von Α unter dem Gesichtspunkt des logischen Verhältnisses von Erst- und Zweitbedeutung, so behauptet A, dass zwischen den Gegensätzen auf der Seite der Erstbedeutung und den Gegensätzen auf der Seite der Zweitbedeutung eine Analogie besteht: Das Verhältnis von Bleiben-Wollen und Weitergehen-Müssen entspreche dem Verhältnis von Sterben-Wollen und Leben-Müssen. Ob damit primär der Text erklärt oder die Lebensweisheit dargestellt wird, bleibt unklar. Außerdem schreibt Α dem Gedicht Sinnbildhaftigkeit zu, ohne dessen Erstbedeutungen abzuwerten; es gibt also keinen Anhalt dafür, dass der Sprecher in erster Linie eine wertende oder direktive Verkündigung jener Weisheit intendiert. Diese mangelnde Erkennbarkeit des illokutionären Akts im propositionalen Akt kann nun unterschiedlich erklärt werden. Mit Searle könnte man sagen, der Sprecher Α habe seine illokutionäre Intention im propositionalen Akt nicht ausreichend kenntlich gemacht, sie also schlecht umgesetzt; eben darum sei der Sprechakt misslungen. Dagegen ließe sich einwenden, dass eine Intention dem Sprechakt überhaupt nicht logisch oder zeitlich vorausliegt, sondern sich im Äußerungsakt erst bildet, weshalb es widersinnig wäre, von einer realisierten oder nicht realisierten, einer misslingenden oder nicht misslingenden Intention zu reden. 44 Unter dieser Voraussetzung würde ein Verständnis der Illokution zugleich ein Verständnis der Intention ermöglichen, nicht aber wäre das Verständnis der Intention ein Mittel zum Verständnis der Illokution. Wir wollen die Sichtweise etwas ausfuhrlicher darstellen, und zwar aus der Warte des symbolischen Interaktionismus. Nach interaktionistischer Auffassung bildet sich die Intention einer Handlung im Vorgriff auf die Reaktionen der Interaktionspartner (vgl.

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dung bestimmt ist, wird von Derrida (1976, S. 142f.) als Dekonstruktion einer traditionellen Hierarchie im abendländischen Denken begrüßt. In Fragen der Semantik geht beispielsweise Eric Donald Hirsch (1972, S. 28) von einem solchen Intentionsbegriff aus, wenn er unter Berufung auf Husserl gegen die Auffassung streitet, es gebe einen Unterschied zwischen realisierten und nicht realisierten Bedeutungsintentionen: „Der Unterschied zwischen Intention und Verwirklichung" sei „von keinerlei Bedeutung für den Wortsinn", er spiele nur im Zusammenhang mit „normative[n] Kriterien [...] eine Rolle". Da die Sprechakttheorie die Semantik einer Äußerung im Kern vom illokutionären Akt bestimmt sieht, stellt sich die Frage, ob nicht auch für die Handlungsintention des Sprechers gelten müsste, dass sie sich ohne Differenz zwischen Absicht und Verwirklichung in der Semantik der Äußerung zeigt.

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Mead 1968, S. 112f.). Sprecher orientieren sich an den Erwartungen anderer Sprecher, nehmen deren Einstellung ein und richten ihre Rede, wenn die Situation es erfordert, an unterschiedlichen Erwartungen aus. Wenn Sprecher bereits im Entstehen eines Sprechaktes voraussehen, dass ihre Handlung bei unterschiedlichen Adressaten unterschiedlich a n kommt', so bildet sich möglicherweise eine Intention, die nicht ohne weiteres auf den Begriff einer der Funktionen zu bringen ist. Die Intention lässt sich als die Summe der handlungsbestimmenden Orientierungen des Sprechers definieren. Erst eine Analyse der Handlung im Zusammenhang der Interaktion ermöglicht die genaue Bestimmung der so verstandenen Intention. Die Illokution ist in dieser theoretischen Perspektive nicht im Rekurs auf die Intention identifizierbar, weil auch diese erst aus dem Funktionszusammenhang der Sprechakte verstehbar ist.45 Was Searle mit dem Begriff der Intention meint, ist nur ein Moment der intentionalen Orientierung, nämlich der bewusste Vorsatz des Sprechers, einen bestimmten Sprechakt auszufuhren. Ein solcher bewusster Vorsatz muss aber nicht jedem Sprechakt zugrunde liegen, und er lässt sich nicht gleichsetzen mit dem, was die Handlung tatsächlich ist. Auch von der Universalpragmatik, die in diesem Punkt an den symbolischen Interaktionismus anknüpft, wird eine derartige Gleichsetzung zurückgewiesen: Sprechakte enthalten objektive Geltungsansprüche, die den subjektiven Vorsatz des Sprechers übersteigen; die „Anmeldung" der Geltungsansprüche einer Äußerung ist „nicht Ausdruck eines kontingenten Willens" des Sprechers (Habermas 1981, Bd. 1, S. 405).46 Die Aussage, dass die Handlungsintention erst im Geflecht des kommunikativen Handelns sich herausbildet, meint nun keineswegs, dass sie eine Synthese sämtlicher Handlungsorientierungen eines Sprechers sei. Vielmehr ist jegliches Handeln eine Selektion bestimmter Handlungs45

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Im Kontext der analytischen Philosophie formuliert am prägnantesten Donald Davidson (1990, S. 186) die entsprechende Einsicht, „daß die Interpretation der Intentionen, Überzeugungen und Worte eines Handelnden zu einem einzigen Vorhaben gehören, von dem man kein Teil für sich vollständig erachten kann, ehe der Rest beisammen ist", und dass es keine Möglichkeit gibt, „der Zuschreibung fein unterschiedener Intentionen unabhängig von der Interpretation der gesprochenen Sprache Sinn beizulegen". Mit dieser Fassung des Intentionsbegriffs wird der Maßstab für das Gelingen oder Misslingen eines Sprechakts nicht preisgegeben. Wenn die illokutionäre Intention verstanden wird als die gesamte handlungsbestimmende Sprecherdisposition, in der ein Sprechakt erfolgt, dann lässt sich zwar nicht unterscheiden zwischen dem, was der Sprecher eigentlich hat tun wollen, und dem, was er tatsächlich getan hat. Wohl aber lässt sich im Sinne der im vorigen Punkt genannten universalpragmatischen Kriterien für das Gelingen von Sprechakten angeben, ob ein illokutionärer Akt (a) verständlich und (b) in Relation zu den impliziten Geltungsansprüchen der Wahrheit, Richtigkeit oder Wahrhaftigkeit gültig ist (vgl. Habermas 1976, S. 254).

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weisen (oder einer bestimmten Handlungsweise) aus dem Feld der Handlungsmöglichkeiten, die einem Sprecher unter situativ gegebenen Bedingungen offen stehen. Illokution und Intention sind zwar nur im funktionalen Zusammenhang der Kommunikation erkennbar, sie fallen mit diesem Kontext aber nicht in eins und sind aus ihm auch nicht deduzierbar.47 Bei der Bestimmung illokutionärer Sprechakte geht es darum, (a) die Handlungsbedingungen daraufhin zu untersuchen, welche tatsächlich handlungsbestimmend sind, und (b) die Handlung als eine Selektion von Handlungsmöglichkeiten zu begreifen. An unserem Beispiel lässt sich ein Mangel an Kontextinformation konstatieren, der es uns unmöglich macht, den illokutionären Akt von A angemessen zu bestimmen. Hat das Gespräch ein bestimmtes Thema oder eine Leitfrage? Welches sind die Handlungsgewohnheiten der Interpretengemeinschaft? Welche Reaktionen konnte der Sprecher Α erwarten? Wusste er vielleicht, dass Β sich meist auf die Texterklärung konzentriert, C aber meist auf die Lösung philosophischer Probleme? Lässt sein Sprechakt möglicherweise implizite Orientierungen an beiden Rezeptionsgewohnheiten und Reaktionsweisen erkennen? Und wenn ja: Richtet sich die Äußerung tatsächlich an beiden erwarteten Reaktionen aus oder ignoriert sie eine der beiden, die dann als ein erwartbares Missverständnis in Kauf genommen wird? Weiterhin: Hat der Sprecher sich in Kenntnis der Vorbehalte von D geäußert und möglicherweise in einer Art Trotz gegenüber der obligaten Unterstellung eines berufsbedingten Schematismus den Text nachdrücklich allegorisch gedeutet - auch wenn ihm diese eigene affektive Disposition und die daraus resultierende expressive Handlung im Moment der Äußerung gar nicht bewusst war? Erst die Beantwortung derartiger Fragen gestattet es, die Illokution eines Sprechakts zu bestimmen und ein angemessenes von einem unangemessenen Verstehen zu unterscheiden. Illokution und Intention sind nicht nur von der Gesamtheit der Handlungsorientierungen unterschieden, sondern auch von der Gesamtheit der Handlungswirkungen. Es gibt einen logischen und zeitlichen Unterschied 47

Eine deduktive Subsumption der einzelnen Handlungen unter die Zusammenhänge komplexer „Handlungsmuster" leistet die funktionale Pragmatik (vgl. Ehlich/ Rehbein 1986). Standardisierte Kommunikationen lassen sich auf diese Weise relativ angemessen untersuchen; wenn einzelne Handlungen vom Muster abweichen, ist die MusterAnalyse aber gezwungen, sie negativ zu bestimmen als Verweigerung, Störung oder partielle Übernahme eines anderen Musters (ebd., S. 163). Die vom Standpunkt konventionell verfestigter Handlungszusammenhänge aus erfolgende Betrachtung erlaubt es nicht, die besondere Orientierung des einzelnen Handelns an den unterschiedlichen Einstellungen und Erwartungen der Interaktionspartner und anderen situativen Bedingungen zu erforschen. Konventionell verfestigte Handlungsmuster sind in unserer Perspektive Bestandteile des Bedingungsfelds, nicht Determinanten der einzelnen Handlung.

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zwischen Illokution und Perlokution, also zwischen dem, was jemand tut, indem er etwas äußert, und dem, was er dadurch tut, dass er es äußert.48 Die bewirkende Kraft einer Sprechhandlung kann jenseits der Wirkungserwartungen des Sprechers liegen. Ein solcher Bruch zwischen Illokution und Perlokution lässt sich als pragmatisches Missverstehen bezeichnen. Um in unserem Beispiel den Fall eines derartigen Missverstehens zu konstruieren, wollen wir uns einen weiteren Gesprächspartner Ε vorstellen, den das Gespräch zu folgendem Gedanken veranlasst: „A und C scheinen von meinen Selbstmordgedanken zu wissen. Sie wollen mir mitteilen, wie sie darüber urteilen, und mich davon abbringen". Ε unterstellt eine indirekte regulative Handlung: Indem Α den Gedanken des Weitergehen-Müssens im Gedicht als Abkehr von der Todesverlockung deutet, wolle er dem Gesprächspartner sagen, dass ein Handeln gemäß dieser Interpretation richtig wäre. Wenn Ε sich irrt und die anderen Sprecher von seiner Lebenskrise nichts ahnen, stellt sich der Zusammenhang von Illokution und Perlokution wie folgt dar: Indem Α und C das Gedicht interpretieren, denken sie über den Freitod nach, aber dadurch, dass sie dies tun, versetzen sie Ε in den Glauben, sie wollten ihn beeinflussen, obwohl diese Wirkung für Α und C vollkommen unerwartbar ist. In diesem Fall muss es möglich sein, durch eine Analyse der Handlungsorientierungen von Α und C das bei Ε bewirkte Verständnis, die Äußerungen der anderen seien regulative Handlungen, zu falsifizieren. In diesem Fall wäre es abwegig, aus der Perlokution die Illokution abzuleiten. Handlungswirkungen sind, ebenso wie Handlungsbedingungen, bei der Bestimmung des illokutionären Akts zwar von hohem heuristischem Wert, aber sie sind niemals mit dem spezifischen Verhältnis einer Handlung zu ihren Bedingungen und Möglichkeiten identisch. Zusammenfassend gesprochen: Bei der hermeneutischen Bestimmung von Illokutionen geht es darum, die bestimmenden Handlungsorientierungen eines Sprechers aus dem Interaktionszusammenhang zu rekonstruieren und dabei folgende Ausfluchten aus den sich ergebenden Bestimmungsproblemen zu vermeiden: (a) die Gleichsetzung der Illokution mit dem Handlungsvorsatz des Sprechers, (b) die Gleichsetzung der Illokution mit der anfänglichen Gesamtheit der Handlungsorientierungen und (c) die Gleichsetzung der Illokution mit den Handlungswirkungen.49 48

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Zur Unterscheidung zwischen der illokutiven indem-Relation und der perlokutiven dadurch-dass-Relation vgl. Hindelang 1983, S. 12ff. Derrida (1976, S. 150f.) unterstellt die „irreduzible Abwesenheit der Intention [...] in der performativen Äußerung": Keine Äußerung könne die Intention „vollkommen gegenwärtig" machen. Deshalb sei es der Normalfall und sogar die Möglichkeitsbedingung jeder sprachlichen Interaktion, dass illokutionäre Sprechakte misslingen (S. 145ff.). Aus hermeneutischer Perspektive geht auch Ricceur (1978, S. 89) von der

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1.2.2 Neun illokutionäre Sprechakte der Interpretation Illokutionäre Sprechhandlungen lassen sich, so das Ergebnis der zweiten Vorüberlegung, nach ihren immanenten Geltungsansprüchen klassifizieren. Doch „nicht nur die Bezugnahme auf einen Geltungsanspruch überhaupt, sondern die Art und Weise, in der ein Sprecher" für einen (interpretatorischen) Sprechakt „Wahrheit, Richtigkeit oder Wahrhaftigkeit in Anspruch nimmt", lässt sich systematisch erfassen, so Habermas (1981, Bd. 1, S.437): Die „illokutionären Modifikationen der Geltungsansprüche" hängen ab von „pragmatische[n] Indikatoren", etwa dem „Themenschwerpunkt" (vgl. unsere erste Vorbemerkung) oder der speziellen kommunikativen Funktion einer Äußerung. Im Folgenden sollen solche „Modifikationen" fur jene Gruppe sehr unterschiedlicher illokutionärer Sprechakte beschrieben werden, denen der propositionale Akt der Interpretation gemeinsam ist. Die Handlungen, die mit dem Anspruch expressiver Wahrhaftigkeit erfolgen, lassen sich als (1) expressive Interpretationsakte bezeichnen, mit denen ein Textverstehen zum Ausdruck gebracht wird. Zu den illokutionären Interpretationsakten, die primär mit dem Anspruch propositionaler Wahrheit erfolgen, zählen das Behaupten, das Erklären und das erörternde Nachdenken; wir wollen von (2) behauptenden, (3) explanativen und (4) epistemischen Interpretationsakten sprechen. Zu den Handlungen, die mit dem Anspruch normativer Richtigkeit erfolgen, zählen das Werten, das Rechtfertigen bzw. Verurteilen und das Auffordern; wir wollen von (5) evaluativen, (6) legitimativen/ verdiktiven und (7) appellativen Interpretationsakten sprechen. Neben den genannten Handlungen gibt es solche, die sich keinem der drei Geltungsansprüche ohne weiteres zuordnen lassen und deren entsprechender Status nicht hier, sondern erst in der nachfolgenden Erörterung benannt werden soll: künstlerische oder kunstartige Interpretationsakte, die je nach ihrem Vorkommen in Kunstwerken oder in nichtkünstlerischen Texten entweder (8) ästhetisch-künstlerische oder (9) ästhetisch-diskursive Interpretationsakte sind.50

50

„Dissoziation von Wortbedeutung und Intention [...] bei der Fixierung des Diskurses" aus. Als unüberwindlich wird der Abstand zwischen Intention und Äußerung bereits von Schleiermacher eingeschätzt, zugleich aber auch als Bedingung der Möglichkeit und als Movens von Interpretation. Jede Auslegung sei vom „Mißverstand" (1974, S. 82) bedingt, keine könne ihn ganz ausräumen, doch jede folge der Notwendigkeit, ihn zu reduzieren. Man könnte mit Austins (1972) und Searles (1980) Sprechakt-Klassifikationen die an den Geltungsanspruch propositionaler Wahrheit gebundenen Handlungen (2 bis 4) den Konstativa (Searle) zurechnen, die an den Geltungsanspruch normativer Richtigkeit gebundenen Handlungen (5 bis 7) den Direktiva (Searle) bzw. Verdiktiva (Austin) und das

73 Sprechakt der Interpretation

Beispiele

Sprechakttypus

Geltungsanspruch

1

expressiv

Textverstehen zum Ausdruck bringen

expressiv

wahrhaftig

2

behauptend

Interpretationsthese äußern

konstativ

wahr

3

explanativ

schwer verständliche Textstelle erklären

4

epistemisch

Textsinn erörtern, Theorie erörtern

5

evaluativ

ästhetischen Wert beurteilen

regulativ

richtig

6

verdiktiv/legitimativ

Textverbot begründen, Text gegen Verdikt rechtfertigen

7

appellativ

Lektüre empfehlen, davor warnen

8

künstlerischästhetisch

Text inszenieren, verfilmen, vertonen

ästhetisch

stimmig

9

diskursivästhetisch

Interpretationsthese mit künstlerischer Sprachverwendung stützen

Ließe sich diese Tabelle in der dritten Dimension darstellen, so könnte man zusätzlich die Unterscheidung treffen, was eine Interpretation thematisiert: das Interpretandum, das Interpretament oder die Interpretationsweise. (1)

Expressive Interpretation

Expressiv sind Sprechakte, in denen ein Textverstehen zum Ausdruck gebracht wird, ohne dass die Aussage in Form der Behauptung „Y bedeutet Z" explizit den Anspruch propositionaler Wahrheit erhebt. Der Sprecher teilt bloß die Erfahrung des Verstehens mit, ohne in objektivierender Einstellung zwischen dem eigenen Verstehen und dem verstandenen Gegenstand zu unterscheiden. 51 Expressiv in diesem Sinn ist jede Äußerung, in der ein Interpret selbstverständlich und unreflektiert davon

51

expressive Interpretieren (1) den Expressiva (Searle). Allerdings sind expressive Handlungen in unserer Typologie nicht, wie bei Searle, nur Äußerungen von Gefühlen, Stimmungen usw., sondern auch Wissensäußerungen, in denen nicht der Sach-, sondern der Subjektbezug hervorgehoben ist. Ästhetische Handlungen haben in den sprechakttheoretischen Klassifikationen - anders als in Wittgensteins Beispielen für die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele (1960, S. 300f.) - keinen Ort. Das unreflektierte, „ereignishafte Verstehen" (Biere 1989, S.21), das sich von selbst einstellt und das wir an einem „Gefühl des Verstandenhabens" erkennen (Hörmann 1978, S.205), lässt sich jenem Bereich zurechnen, den Habermas, die „innere Natur" nennt (1976, S. 256f.) und auf den die Sprecher sich nicht mit dem Anspruch objektiver Wahrheit, sondern mit dem Anspruch subjektiver Wahrhaftigkeit beziehen.

74 ausgeht, dass Ζ gemeint ist, ohne überhaupt in Erwägung zu ziehen, dass Ζ nicht gemeint sein könnte. Vorstellbar sind Leser des Frost-Gedichts, die spontan eine Todessehnsucht des lyrischen Ich wahrnehmen und dieses Verständnis nebenbei erwähnen, ohne sagen zu können, welche Stelle des Gedichts auf den Tod verweist: „Er beschließt weiterzugehen, denn er denkt: ich bin noch zu jung". Bereits die Präsentation eines Textes bringt meist ein Textverstehen zum Ausdruck und kann als eine expressive Interpretation bezeichnet werden, die von den Sprechern normalerweise nicht als solche durchschaut wird. Wer einen Text zitiert, vorträgt, übersetzt, paraphrasiert, beschreibt oder zusammenfasst, handelt nicht in dem Bewusstsein, einem Y ein Ζ zuzuschreiben. Und doch geschieht dies fast immer: beim Zitieren durch die Einbindung der Stelle in einen anderen syntagmatischen Zusammenhang, beim Vortragen durch die Verbindung mit einem anderen Zeichensystem (dem akustischen der Stimmgebung), beim Übersetzen durch die notwendigen Bedeutungsdifferenzen der einander entsprechenden Wörter in Ausgangs- und Zielsprache (d.h. durch deren paradigmatische Ungleichheit), 52 beim Paraphrasieren, Beschreiben und Zusammenfassen durch die Verwendung von ähnlichen Zeichen und von Oberbegriffen. 53 Im spontanen Verstehensereignis gibt es keine Unterscheidung zwischen Interpretandum, Interpretament und Interpretationsweise. Es kommt zu einer Verschmelzung der wahrgenommenen Zeichen, des aktivierten Weltwissens und des aktivierten Textwissens (vgl. Ballstaedt u.a. 1981; Schnotz 1988). In der bloßen Expression des Verstehens ist daher keine objektivierende Einstellung gegenüber dem Text oder einem der Wissensschemata erkennbar, eben weil die Aussagestruktur „Y bedeutet Z" nicht explizit wird. Diese Struktur ist in der Aussage aber implizit enthalten und kann von einem Gesprächspartner erschlossen werden. Auf den Satz „Er beschließt weiterzugehen, denn er denkt: ich bin noch zu jung" könnte die Explikation folgen: „Wenn das Ich weitergeht, weil es meint, es sei noch zu jung, muss es mit dem Gedanken, im Wald zu bleiben, den Tod in Ver52

53

Vortrag und Übersetzung können auch genuin ästhetische Sprechakte der künstlerischen Nachgestaltung sein, wenn in ihnen der Geltungsanspruch der internen Stimmigkeit Vorrang hat vor dem Geltungsanspruch der konstativen Angemessenheit jeder Einzelaussage gegenüber dem Interpretandum (vgl. u. Pkt. 8 dieses Abschnitts). Die terminologischen Reihen „Lesung, Vortrag, Rezitation" und „Übersetzung, Übertragung, Nachdichtung" bezeichnen Skalen, die zwischen den polaren Geltungsansprüchen der konstativen Wahrheit und der ästhetischen Stimmigkeit gespannt sind. Hermeren (1984, S. 140) zeigt am Beispiel der Kunstbeschreibung, dass es vom pragmatischen Kontext abhängt, ob die in jeder Beschreibung implizit enthaltene Deutung auch explizit als Interpretation aufgefasst wird oder nicht: „What in one cultural or pictorial context is a description, may in another be an interpretation, and conversely".

75

bindung gebracht haben". Der Sprecher selbst kann auf diese Weise die Artikulation des selbstverständlichen Verstehens in eine bewusst gelenkte Interpretation verwandeln - wenn er einen Grund dazu hat.54 Bereits im sprachlichen Ausdruck des nicht zwischen Interpretandum und Interpretament unterscheidenden Verstehens ist aber erkennbar, welche Gewichtung im Verstehen zwischen den wahrgenommenen Zeichen des Textes und den darauf bezogenen kognitiven Schemata besteht. Häufig sind gerade spontane Artikulationen des Textverstehens besonders frei gegenüber dem Zeichenbestand; es wird gewissermaßen ungehemmt das Interpretament thematisiert, weil ein kognitives Schema sich übermächtig aufdrängt. Expressive Interpretationshandlungen können auch erfolgen, nachdem das Resultat einer bewusst operierenden (explanativen oder epistemischen) Interpretation zur Selbstverständlichkeit geworden ist: „Was jetzt unmittelbar verstanden wird, mag einst das Produkt einer ausgefeilten Interpretation gewesen sein" (Shusterman 1996, S. 92).55 Diese Einsicht lässt sich mit dem zu Beginn von Kapitel 1.2 gegebenen Interpretationsbeispiel veranschaulichen: Sprecher D behauptet, der Interpret A interpretiere das Gedicht Robert Frosts einem berufstypischen Muster entsprechend und bringe eine automatisierte allegorische Lektüre zum Ausdruck. D unterstellt, dass auch bewusst operierende Interpretationen Momente eines reflexiv nicht durchdrungenen, durch Gewohnheit bewirkten Verstehens enthalten können. (2)

Behauptende Interpretation

Beim Übergang vom Ausdruck des Verstehens zu einer Feststellung über den Gegenstand gewinnt die Interpretation eine Behauptungsstruktur. Sie tritt mit dem Anspruch auf, der Gegenstand sei so, wie der Sprecher ihn versteht, auch gemeint oder zumindest verstehbar. „Der Wunsch, im Wald zu bleiben, steht für Todessehnsucht" - dies ist eine behauptende Äußerung, in der nicht bloß ein Verstehen zum Ausdruck kommt und die nicht nur wahrhaftig, sondern auch wahr zu sein beansprucht. Die Funktion der Äußerung ist es aber nicht, den interpretierten Text durch die Zuschreibung von Todessehnsucht zu erklären oder ein Problem des Textverstehens zu erörtern. Behauptende Interpretationen können sowohl das Interpretandum thematisieren als auch - wie im folgenden Beispiel - das Interpretament: 54

55

„[...] in vielen Fällen sind wir einfach zufrieden mit unserem Anfangsverständnis und interpretieren gar nicht weiter; es gibt immer andere - und normalerweise bessere Dinge zu tun", formuliert Shusterman (1996, S. 91). „[...] über Sinn verfugen, heißt, immer schon über eine Interpretations-Praxis verfugen und diese in Anspruch nehmen" (Abel 1993, S. 114).

76 „Todessehnsucht ähnelt, wie Frosts Gedicht zeigt, dem Wunsch, nachts in einem verschneiten Wald zu bleiben". Interpretationen, deren primäre Funktion es ist, ein Interpretament (z.B. eine Theorie, mit der ein Text ausgelegt wird) angemessen darzustellen, bleiben oft beim bloßen Behaupten stehen. Das Interpretandum hat dann die Funktion, das Interpretament (die Theorie) zu illustrieren, zu exemplifizieren usw., sodass allein schon die Behauptung „Y bedeutet Z" zum Gelingen des Sprechakts fuhren kann: Die Theorie Ζ wird angemessen präsentiert, indem man sie dem Text Y als Bedeutung zuschreibt. Darstellungen eines Interpretaments mit Hilfe des Interprertandums erfolgen insbesondere dann, wenn Interpreten in einem fasslichen Text eine komplexe Lehre versinnfalligt oder eine begrifflich schwer beschreibbare Erfahrung veranschaulicht finden. Solches Handeln geschieht oft in pädagogischer Einstellung: Ein neues Wissen soll durch die Bindung an vorhandenes Wissen vermittelt, etwas Geistiges mit Hilfe gewohnter Bilder und Erzählungen veranschaulicht werden. So war die „Verinnerlichung der Heilsgeschichte" (Michel 1987, S. 558) eine Hauptaufgabe christlicher Allegorese: Diejenigen Völker, denen die Erstbedeutungen ihrer eigenen mythischen oder religiösen Erzählungen vertraut waren, sollten vermittels der Exegese die neue Religion mit ihrer ureigensten Vorstellungswelt verbinden und auf diese Weise erlernen. Gelang es den Exegeten, auf diese Weise die christliche Lehre (das Interpretament) angemessen darzustellen, so war der Sprechakt gelungen, da er fur die Operation „interpretierende Darstellung der christlichen Lehre" den Anspruch auf konstative Wahrheit erfüllte. Unabhängig von der „kontingenten Absicht" (Habermas) eines Sprechers erhebt auch ein solcher Interpretationsakt den Anspruch, angemessen in Bezug auf das Interpretandum zu sein (in unserem Beispiel: in Bezug auf die fremden Mythologien und Religionen). Interpreten, die den Geltungsanspruch konstativer Wahrheit in Bezug auf beide Seiten (Y und Z) der Interpretation argumentativ stützen wollen, müssen vom behauptenden zum erklärenden Interpretieren übergehen. (3)

Explanative Interpretation

Ist das Interpretandum Thema einer Interpretationshandlung, so kann die Zuschreibung übertragener Bedeutung ein Sinn-erklärendes „Verständlich-Machen" (Biere 1989) sein: Was auf der Ebene der zugeschriebenen Erstbedeutungen nicht (vollständig) verständlich wird, weil es als widersprüchlich, unzusammenhängend, unmotiviert usw. erscheint, erhält einen Sinn dadurch, dass ihm eine übertragene Bedeutung zugeschrieben wird.56 56

Hermeren (1984, S. 144) listet ohne systematischen Anspruch eine Reihe möglicher ,,pupose[s] of the interpretation" auf und unterscheidet unter anderem zwischen folgen-

77 Die einem Text unterstellte semantische Kohärenz wird mit einer kohärenten Deutung erklärt. 57 Auch wenn die Erstbedeutungen sinnvoll miteinander zusammenhängen, können Leser den Eindruck haben, dass noch etwas anderes bzw. eigentlich etwas anderes gemeint sein muss, weil sie auf der Ebene der Erstbedeutungen Hinweise auf die Existenz von Zweitbedeutungen wahrnehmen oder weil sie mit dem Genre oder einer anderen kontextuellen Einbettung eines Textes die Erwartung von Zweitbedeutungen verbinden. Eine explanative Interpretation kann auch die Funktion haben, nicht den literarischen Text, sondern das Interpretament zu erklären; letzteres ist dann das Thema der Interpretation. Alle Wissensbereiche und kognitiven Schemata, aus denen die Zweitbedeutungen entstammen, sind mögliche Gegenstände explanativer Interpretation: historisches Wissen über den Entstehungskontext ebenso wie aktuelles Sinnwissen, das an einen Text herangetragen wird. 58 Bei der interpretativen Erklärung des Interpretaments wird zwangsläufig dem Interpretandum selbst eine explanative Kraft zugeschrieben: Der Text führe „Weltbilder in action vor" (Pfeiffer 1977, S. 584); er kleide „Ideen in veranschaulichenden S t o f f (Meier 1976, S.44); seine bildliche Rede könne „in Kürze" vermitteln, „was sonst längerer Darlegung bedürfte" (Killy 1972, S. 95); er könne die Auffassung widerlegen, eine Lehre sei unanschaulich, leer, paradox, unwahr, irrelevant oder grundlos (Michel 1987, S. 92ff.). Der Geltungsanspruch propositionaler Wahrheit, den die Interpretation bei der Erklärung von Weltbildern, Ideen usw. erhebt, ist mithin nicht zu trennen von demselben Geltungsanspruch in Bezug auf das Interpretandum: An einem literarischen Text kann eine Lehre sich nur dann angemessen erklären lassen, wenn der Text die erklärende Kraft, die ihm unterstellt wird, auch tatsächlich hat. Diese Kraft muss das Interpretandum bei der bloßen Darstellung des Interpretaments in der behauptenden Interpretation nicht besitzen; dort genügt eine illustrative Kraft.

57

58

den Zwecken: „to make a text [...] understandable", „to create coherence and connections", „to call attention to underlying structures and processes". Das Aufzeigen textueller Tiefenstrukturen und -prozesse dürfte stets der Erzeugung von Zusammenhang und Kohärenz dienen und diese wiederum dem Verständlich-Machen. Es handelt sich jeweils um explanative Handlungen. Aus kritisch-rationalistischer Sicht definiert Eibl (1976, S. 69) dies als „Explikation und Erklärung der dem Text zu Grunde liegenden Regelmäßigkeitsannahmen und ihrer Verwendung mittels unserer Regelmäßigkeitsannahmen". In diesem Punkt können wir mithin die folgenden von Hermeren (1984, S. 144) aufgelisteten Interpretationszwecke zusammenfassen: „to reconstruct a historical process", „to explain actions in the past", „to illuminate ideas and values in the society of the author of the text", „to understand the author of the object of interpretation", „to shed light on a contemporary personal, moral or social problem".

78

Allerdings ist es bei einer explanativen Interpretation, die das Interpretandum thematisiert, nicht unbedingt erforderlich, dass der interpretierte Text in seiner vollen semantischen Komplexität erklärt wird: Es dürfen jene Aspekte und Bedeutungsebenen hervorgehoben werden, die sich für die Erklärung der Lehre eignen. Wenn etwa ein Lehrstück Brechts eine Bedeutungsebene enthielte, die der dialektisch-materialistischen Schicht widerspräche und diese in Zweifel zöge, so wäre das Übergehen einer solchen Schicht bei einer Thematisierung des Stückes sträflich, und die explanative Interpretation müsste als misslungen gelten. Bei einer Thematisierung der Lehre wäre das Übergehen der Gegentendenz lässlich, und die explanative Interpretation könnte als gelungen gelten, denn tatsächlich ließe sich ja mit den ausgewählten Stellen des Stückes die Lehre erklären. (Anders verhielte es sich, wenn die Lehre mit dem Text erörtert würde, ohne dass der Interpret die von der Lehre abweichende Tendenz berücksichtigte - vgl. dazu den nächsten Punkt.) Die Funktion von Interpretationen kann schließlich auch darin liegen, an einem Beispieltext eine bestimmte Interpretationsweise zu erklären. Genau dies geschieht etwa, wenn Wissenschaftler unterschiedlicher Provenienz eingeladen werden, einen gemeinsamen Text wie Kleists Erzählung Das Erdbeben in Chili (Wellbery 1985) oder Kafkas Erzählung Vor dem Gesetz (Bogdal 1993) mit ihren je typischen Interpretationsverfahren und thematischen Kontextualisierungen zu traktieren.59 Was den Geltungsanspruch propositionaler Wahrheit betrifft, so zielen solche Interpretationsakte zwar in erster Linie auf eine wahrheitsgemäße Erklärung des Sachverhalts ,Interpretationsweise' anhand eines Beispiels, doch dürfen die Leser einer derartigen Modellinterpretation mit Recht erwarten, dass die erklärte Interpretationsweise sich auch am ausgewählten literarischen Beispiel explanativ bewährt. Anderenfalls würde nur die Technik des Interpretierens erläutert, nicht aber der Sinn, Zweck oder Nutzen dieser Technik. (4)

Epistemische Interpretation

Von der explanativen unterscheidet sich die epistemische Interpretation dadurch, dass sie das Thema durch den im Rhema gegebenen Aussageteil nicht zu erklären, sondern zu problematisieren und zu erörtern versucht. Während die explanative Interpretation das im Rhema vorhandene Wissen nicht erweitert, sondern es dem Thema nur zuordnet, entwickelt die 59

Oftmals werden Interpretationen erst in späteren Zusammenhängen der literaturwissenschaftlichen Forschung und Lehre als mustergültig bezeichnet, so dass nicht die Interpreten selbst, sondern bestimmte Leser das Interpretationsverfahren zum Thema erheben.

79 epistemische Interpretation das rhematische Wissen über das Thema erst während der Zuordnung. Thematisiert eine epistemische Interpretation das Interpretandum, so erörtert sie mittels vorläufig und oft nur versuchsweise zugeschriebener Zweitbedeutungen die Verstehensprobleme, die ein Text aufwirft. Bei der Interpretation schwieriger literarischer Texte kommt es häufig vor, dass Interpreten eine Reihe plausibler Zweitbedeutungen in Erwägung ziehen, um zu zeigen, dass der Text in diesen Bedeutungen ,nicht aufgeht'. Oft greifen Interpreten die explanativen Interpretationsakte anderer Interpreten kritisch auf, um die Erklärungen und mit ihnen den Text wieder problematisch zu machen. Wenn die Zweitbedeutungen aus historischen Entstehungskontexten entnommen werden, dann geht eine epistemische Interpretation meist mit der Behauptung einher, der literarische Text bereichere oder übersteige das zeitgenössische Wissen und Denken. Während Interpreten, die den Sinn mit dem Interpretament zu erklären versuchen, von der bloßen „Versinnfalligung" eines schon vorhandenen Wissens ausgehen, schreiben die ,epistemischen' Interpreten meist den Texten selbst die epistemische Funktion einer „Sinnerschließung" zu (vgl. Meier 1976, S.41). Diese Zuschreibung erfolgt in unterschiedlich radikaler Form: (a) Die figurative poetische Rede wird als direkte Bezugnahme auf das begriffliche Denken verstanden, als Umordnung, Uminterpretation, Erweiterung oder Kritik diskursiver Weltauslegungen. Paul Michel (1987, S. 350) hebt besonders an Gleichnissen hervor, dass sie ein fixiertes Vorverständnis von Sinn aufbrechen können; Meier (1976, S. 66f.) zeigt, dass Allegorien ein „Instrument der Kritik" an inadäquat gewordenen Denksystemen sein können, (b) Dem ästhetischen Zeichen wird die Bearbeitung eines unendlichen Problems zugeschrieben. Hans Blumenberg spricht von der ,,absolute[n] Metapher", die anstelle einer überlebten Metaphysik eine Darstellung des Unbegreiflichen versuche: Sie „springt in eine Leere ein, entwirft sich auf der tabula rasa des theoretisch Unerfüllbaren" (Blumenberg 1960, S. 142). Wird die Seite des Interpretaments thematisiert, so hat die epistemische Interpretation die Funktion, die zugeschriebenen Zweitbedeutungen mit Hilfe des Textes zu problematisieren. In unserem Interpretationsbeispiel zu Robert Frosts Gedicht denkt der Gesprächsteilnehmer C über den Freitod nach, indem er den Vers „But I have promises to keep" auf dieses Problem bezieht und eine neue Einsicht in die Pflicht zu leben formuliert. Das Nachdenken über ein philosophisches Problem am Gegenstand von Kunstwerken wird von einigen Autoren sogar zum höchsten Ziel des Nachdenkens erklärt. Schelling (1927, S.627) bezeichnet im System des transzendentalen Idealismus die Kunst als „das einzige wahre und ewige Organon [...] der Philosophie"; und Walter Benjamin

80 formuliert in seinem Essay Goethes Wahlverwandtschaften das Postulat, die „echten Werke" der Kunst seien für die Philosophie „die Gestalten, in welchen das Ideal ihres Problems erscheint" (1974, Bd. I, S. 172; vgl. u. Kap. 2.1.3). An solchen Äußerungen kann man sehen, dass Interpreten, die über ein Interpretament - z.B. eine philosophische Position - nachdenken, dem Interpretandum zumindest partiell ein epistemisches Potential zuschreiben müssen. Die Meinung, ein literarischer Text gestatte die besonders weitgehende Erörterung eines Problems, ist nur bei der gleichzeitigen Unterstellung sinnvoll, die Problemstruktur des Textes entspreche dem gedanklichen Fortschreiten bei der Problemerörterung. Solange nicht der Text, sondern das Problem Thema der Interpretation ist, kann die Hervorhebung der zur Problemerörterung tauglichen Textstruktur zwar einseitig, ja sogar abseitig sein - dies ist die Lizenz essayistischer Interpretation zu ungewöhnlicher Akzentuierung. Jedoch ist eine sehr frei akzentuierende Interpretation dem Verdacht ausgesetzt, gerade jene Aspekte des Textes auszublenden, die mit den entwickelten Erkenntnissen nicht in Übereinstimmung stehen. Wer an einem literarischen Beispieltext ein Problem erörtert, ohne zugleich jene Verstehensprobleme zu berücksichtigen, die von der Interpretengemeinschaft an dem Text ausgemacht wurden, bleibt häufig auch in der eigenen Sache hinter dem möglichen Reflexionsniveau zurück, weil er etwas übersieht, das vom Interpretandum zu lernen wäre. Ähnliches gilt für den Vorgang der Überfrachtung des Textes mit den ihm zugeschriebenen Problemen. Gegen epistemisch-essayistische Interpretationen wird, einer Beobachtung Theodor W. Adornos zufolge, häufig der Vorwurf erhoben, sie seien „nicht philologisch erhärtet und besonnen, sondern prinzipiell Überinterpretationen" (1997, Bd. 11, S. 10). Adorno sieht hierin ein Indiz der Geistfeindlichkeit, doch dieser Spieß lässt sich im Sinne unseres vorstehenden Einwands umkehren: Ein Geist, der nicht bereit ist, die eigenen Gedanken von der Beschaffenheit des Gegenstands korrigieren und auch einschränken zu lassen, muss damit rechnen, dass ihm möglicherweise eine wichtige Perspektive auf das Problem entgeht. Der vermeintlich geistfeindliche Einwand, in einem Text verhalte es sich auf eine bestimmte Weise viel einfacher, als der philosophische Interpret es will, kann ein wichtiger Schritt auch zur gesuchten philosophischen Wahrheit sein, denn das Problematischere liegt nicht notwendig der Wahrheit näher als das weniger Problematische. Auch die Interpretationsweise kann das Thema einer epistemischen Interpretation sein. An einem literarischen Beispieltext wird dann über die Möglichkeiten und Probleme, über die Fruchtbarkeit und Reichweite eines Ansatzes nachgedacht. Geht dieses Nachdenken über formaltechnische, von den besonderen Inhalten abgezogene Probleme hinaus,

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so müssen die Gegenstände, also die Beispieltexte und die auf sie bezogenen Wissenszusammenhänge, ebenfalls unter dem Geltungsanspruch propositionaler Wahrheit thematisiert werden, soll der selbstthematisierende epistemische Sprechakt gelingen. (5)

Evaluative Interpretation

Wertende Interpretationsakte thematisieren meist das Interpretandum. Konstruieren wir zu unserem zentralen Beispiel folgenden Satz eines Sprechers F: „Unaufdringlich spielt Frosts scheinbar simple Naturbeschreibung auf den seelischen Abgrund der Todessehnsucht an". Das Thema ist der Text in seiner Erstbedeutung, das Rhema umfasst die Zweitbedeutung und den Verweisungsmodus. Die Wertung operiert zunächst mit einer hypothetisch-rhetorischen Abwertung des thematisierten Interpretandums: Das Gedicht wäre sowohl hinsichtlich des Inhalts (Natur) als auch des Verweisungsmodus (Wörtlichkeit) simpel, gäbe es das als Rhema angeführte Interpretament nicht. Der Kontrast zwischen dem vermeintlich Simplen und dem zugeschriebenen Bedeutsamen erzeugt dann die inhaltliche wie ästhetische Aufwertung des Gegenstands: Das Schema „Todessehnsucht" lasse sich gerade wegen der behaupteten Harmlosigkeit des Schemas „Natur" als „abgründig" bewerten, die poetische „Anspielung" gerade wegen der behaupteten Einfachheit der wörtlichen Verweisung als „unaufdringlich". (In Kapitel 2 wird uns das rhetorische Muster ,Abwertung der Erstbedeutungen zwecks Aufwertung der Zweitbedeutungen' wiederholt begegnen.) An einem weiteren fiktiven - und im Dienste unserer Erörterung übermäßig negativen - Beispielsatz seien zwei weitere Eigenschaften evaluativer Interpretationsakte, die das Interpretandum thematisieren, aufgezeigt: „Wenn es zutrifft, dass Umberto Eco im Namen der Rose nicht nur auf eine Reihe philosophischer Probleme, sondern mit den verschiedenen Mönchsorden auch noch auf die italienischen Parteien anspielt und etwa mit der bissigen Darstellung der Dominikaner die Christdemokraten treffen will, dann ist der Roman nicht nur allegorisch überfrachtet, sondern auch ein typisches Exemplar jener konstruierten Thesenromane, in denen ein Wissenschaftler oder Essayist seine philosophischen und politischen Ansichten verbreitet, und zudem eine historische Überhöhung des modernen Parteiensystems." Dieser Satz zeigt zum einen, dass Interpretationen die Funktion der Wertung nur dann erfüllen können, wenn sie zugleich den Geltungsanspruch der konstativen Wahrheit erfüllen: Dass die Mönchsorden für die Parteien stehen, ist die notwendige Bedingung fur die Richtigkeit der Wertung (der Roman sei überfrachtet, konstruiert und überhöhend). Erst wenn sich das Urteil nicht nur als konstativ wahr,

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sondern auch als richtig in Relation zu den Wertungskonventionen erweist, die in einer Interpretengemeinschaft herrschen, ist auch die hinreichende Bedingung dafür erfüllt, den evaluativen Interpretationsakt als gelungen zu bezeichnen. Weiterhin zeigt der Satz, dass evaluative Interpretationen über das thematisierte Interpretandum hinausgreifen und den Autor, eine Autorengruppe, eine literarische Mode, ein literarisches Epochenmerkmal usw. - kurzum: Elemente des Entstehungskontextes mitbewerten können. Eine evaluative Thematisierung des Interpretaments könnte - um das letzte Beispiel positiv wertend zu variieren - folgendermaßen aussehen: „Wie Umberto Ecos allegorische Kritik am italienischen Parteiensystem zeigt, waren die politischen Machenschaften der jüngst vergangenen Epoche von geradezu mittelalterlicher Durchtriebenheit und Brutalität". Bewertet werden die Zweitbedeutungen, nämlich die politischen Machenschaften der Gegenwart. Entsprechend sind die Konventionen, auf die sich der Geltungsanspruch der normativen Richtigkeit hier bezieht, keine ästhetischen, sondern moralische und politische. Die Beschreibung des Interpretandums („mittelalterliche" Machenschaften der Mönchsorden) ist das Rhema: Der Roman trage eine bestimmte Bewertung zum Diskurs über die Parteien bei. Gelingen kann der Sprechakt wiederum nur, wenn die Adressaten das moralisch-politische Urteil als normativ richtig einschätzen und die Bedeutungszuschreibung als propositional wahr (wer bei einer philologischen Überprüfung zu dem Resultat gelangt, dass der Roman das Parteiensystem überhaupt nicht allegorisiert, kann auch den evaluativen Interpretationsakt nicht akzeptieren). Bewertet man mit einer Interpretation das thematisierte Interpretament, so muss man unweigerlich dem Interpretandum eine evaluative oder normative Kraft unterstellen. Paul Michels Analyse der direktiven Sprechakte gleichnishafter Rede (1987, S. 112ff.) gestattet es, zwischen den möglichen Eigenschaften zu unterscheiden, die Interpreten einem Text zuschreiben können, wenn sie mit ihm das Interpretament bewerten: Interpreten können behaupten, der Text stelle Normen, Normenhierarchien oder Normenbegründungen dar; er beschreibe die passende Anwendung einer Norm auf eine Situation; er widerlege die Ansicht, eine Regel oder Norm sei falsch, untergeordnet, irrelevant oder unpassend. Eine evaluative Thematisierung der Interpretationsweise könnte am Eco-Beispiel folgendermaßen aussehen: „Die meist übersehene zeitkritische Bedeutungsebene, die fur ein Verständnis des Gesamtsinns von Umberto Ecos Rose-Roman unverzichtbar ist, zeigt sich erst bei einer konsequenten allegorischen Lektüre, die den unterschiedlichen Mönchsorden die unterschiedlichen Kräfte des italienischen Parteiensystems zuordnet". Die eigene Interpretationsweise wird hier als ein Handeln

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beurteilt, das wegen eines unverzichtbaren Erkenntnisgewinns und wegen des konsequenten Vorgehens bei der Erkenntnisgewinnung wertvoll sei. Auch diese Wertung kann nur dann als richtig anerkannt werden, wenn die Zuschreibung „Mönchsorden bedeuten Parteien" von den Adressaten zugleich als konstativ wahr anerkannt wird. Die Anerkennung der propositionalen Wahrheit einer Zuschreibung übertragener Bedeutung ist also die notwendige Bedingung dafür, dass die Adressaten einen evaluativen Interpretationsakt auch als richtig anerkennen. Die hinreichende Bedingung ist die Überprüfung an Normen, deren Art jeweils von der Themensetzung abhängen: Eine Wertung des Interpretandums wird an (formalen und inhaltlichen) ästhetischen Normen geprüft, eine Wertung des Interpretaments an den Normen, die mit dem zugeschriebenen Wissensschemata verbunden sind (Moralität oder Zweckmäßigkeit einer Handlungsweise, praktischer Nutzen eines Wissens), und eine Wertung der Interpretationsweise an Normen des interpretatorisehen Handelns. Die Verankerung der normativen Geltung von Interpretationsakten in ihrer konstativen Geltung gilt gleichermaßen für die beiden folgenden Illokutionen, die ebenfalls unter dem Geltungsanspruch der normativen Richtigkeit stehen. (6)

Legitimative/ verdiktive Interpretation

Eine evaluative Interpretation wird zu einer legitimativen oder verdiktiven Interpretation, wenn es ihre Funktion ist, den thematisierten Gegenstand mit einem Verbot oder einer anderen Ausgrenzung aus einem Diskurs zu belegen oder ihn davor zu bewahren. Die evaluative Interpretation urteilt über ihren Gegenstand, die verdiktive Interpretation hingegen verurteilt ihn, und die legitimative Interpretation rechtfertigt ihn gegen eine Verurteilung. 60 Während die Urteilsskalen einer evaluativen Interpretation zwischen den Polen ästhetisch wertvoll und wertlos, moralisch gut und schlecht oder exegetisch normgemäß und normverletzend viele graduelle Abstufungen enthalten können, ist das legitimative oder verdiktive Urteil immer ein binäres Entweder-Oder. Im Folgenden werden einige Beispiele dieses Handlungstyps beschrieben. Indem eine Zensurbehörde einem Interpretandum die allegorische Zweitbedeutung verbotener Meinungsäußerungen zuschreibt, belegt sie es mit einem Veröffentlichungsverbot. Die Denker der Stoa deuteten die wegen der sinnlichen Darstellung der Götterwelt umstrittene antike My60

Der Begriff „verdiktiv" meint hier also nicht, wie bei Austin (1972, S. 107f.), die gesamte Klasse urteilender Sprechakte. - Einen verdiktiven oder legitimativen Sprechakt indiziert z.B. der von Hermeren (1984, S. 144) genannte Interpretationszweck, „to present a basis for decisions to be made, e.g. in court".

84 thologie „als verhüllte Vorwegnahme ihres eigenen philosophischen Systems" (Blönningen 1992, S.23) und rechtfertigten durch diese Zuschreibung übertragener Bedeutung die Beschäftigung vernünftiger Menschen mit den mythologischen Erzählungen. 61 Der von Lot und seinen Töchtern begangene Inzest musste, wie viele andere Stellen des Alten Testaments, in bestimmten Interpretengemeinschaften allegorisch gelesen werden, um mit einer christlichen Sittenlehre vereinbar und überhaupt dem Bestand der Heiligen Schrift zurechenbar zu sein (vgl. Blönningen 1992, S.211). Auch Kritiker, Philosophen und Wissenschaftler können Verdikte über Texte aussprechen oder Texte dagegen verteidigen. Die Frage, ob ein bestimmter Text eines Autors, der einem totalitären Regime nahestand, eine unterschwellige allegorische Systemkritik enthält oder nicht, kann auch viele Jahrzehnte nach der Entstehung entscheidend dafür sein, ob der Text bzw. der Autor verpönt oder anerkannt ist. Nicht nur an den Klippen politischer und moralischer Verdikte kann die Reputation von Texten und Autoren nachhaltig scheitern. Daneben gibt es ästhetische Verdikte, die sich auf inhaltliche oder auf formale Eigenschaften eines Textes beziehen. Am Beispiel des Frost-Gedichts lässt sich eine Interpretengemeinschaft vorstellen, in der Naturlyrik als eine politisch rückständige Verharmlosung gesellschaftlicher Probleme gilt und die Beschäftigung mit solchen Texten verpönt ist. Wir können uns in dieser Gemeinschaft nun einen Interpreten vorstellen, der behauptet, bei Frost werde indirekt ein kleinbürgerliches Subjekt gezeigt, das den Tod ersehne, aber immer weiter reisen müsse, weil soziale Verträge einzuhalten seien. Hier würde der Text durch eine Zuschreibung sozialgeschichtlicher Zweitbedeutungen gegen ein Verdikt verteidigt. Bleiben wir bei diesem Beispiel und stellen uns eine Gesellschaft vor, in der zwar die Lyrik Robert Frosts hoch angesehen, der Freitod aber verpönt und jedes Sprechen und Schreiben darüber tabuisiert ist. In einem solchen Kontext hätte die Thematisierung des Interpretaments die Funktion, die Rede über dieses Thema zu rechtfertigen bzw. das Verbot zu brechen. Wo entsprechend über Sexualität nicht gesprochen werden darf, hat deren Thematisierung als die unterschwellige Zweitbedeutung anerkannter literarischer Werke dieselbe Funktion eines Tabubruchs. Eine Interpretation kann über die thematisierte Zweitbedeutung auch ein Verdikt aussprechen. Beispielsweise kann ein Gegner eines politischen Regimes, indem er einen Text als regimekritische Allegorie interpretiert, eine moralische und politische Verurteilung des Regimes vornehmen

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Es handelte sich um eine „Strategie [...], die es einer aufklärerischen Bildungselite ermöglichte, ohne intellektuellen Identitätsverlust an einer traditionellen Religion weiter teilzuhaben" (Baudy 1998, S.253).

85 (während die Zensurinstanz den Text thematisiert und mit demselben propositionalen Gehalt der Interpretation ein Verdikt über Text und Autor ausspricht). Je schwächer in einer Kultur die Denk- und Redeverbote sind, desto seltener sind auch die verdiktiven oder legitimativen Interpretationshandlungen, die sich auf ein Interpretament richten, welches dieser Kultur entstammt. Funktion einer legitimativen Interpretation kann auch die Rechtfertigung einer verpönten oder noch nicht etablierten Interpretationsweise sein. Dem Interpretationsgegenstand wird dann eine legitimative Kraft hinsichtlich der eigenen (z.B. allegorischen) und eine verdiktive Kraft hinsichtlich der fremden (wörtlichen) Auslegungsweise zugeschrieben. Hierzu ein kurioses Beispiel, das Christoph Blönningen in seiner Studie zur jüdisch-hellenistischen und alexandrinischen Allegorese referiert: Im Zuge der Allegorese des Alten Testaments lasen die alexandrinischen Kirchenschriftsteller die mosaischen Speisevorschriften als verschlüsselte Hinweise nicht nur auf richtiges und falsches moralisches Handeln, sondern auch auf das richtige und falsche Studium der Heiligen Schrift. Für Origenes versinnbildlichen die zum Verzehr geeigneten paarhufigen Wiederkäuer „denjenigen Menschen, der sich beständig dem Schrifttum widme und den biblischen Text allegorisch auslege" - das Wiederkäuen steht fur die Beharrlichkeit des Studiums, die Paarhufigkeit für den allegorischen Doppelsinn. Bereits Clemens von Alexandrien hatte von dieser richtigen Weise des Studiums zwei falsche Weisen abgegrenzt und behauptet, ihre Vermeidung sei mit dem Verzehr-Verbot allegorisch gemeint: Die Wiederkäuer ohne gespaltene Hufe stünden für „die Juden, die das Wort Gottes im Munde führen, ohne an Christus zu glauben, während die nicht wiederkäuenden Tiere mit gespaltenen Hufen auf die Häretiker wiesen, die an Christus glaubten, ohne das Alte Testament anzuerkennen" (Blönningen 1992, S.255f.; vgl. 5Mos 14, 6-8). Die selbstreferentielle Allegorese verurteilt die anderen Interpretationsweisen und erhebt das eigene Verfahren zum Gebot.

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Appellative Interpretation

Die evaluative Interpretation, so hatten wir gesagt, urteilt über ihren Gegenstand, die verdiktive/ legitimative Interpretation hingegen verurteilt ihn oder rechtfertigt ihn gegen eine Verurteilung. Die appellative Interpretation sagt dem Adressaten, wie er mit dem Interpretationsgegenstand umgehen oder wie er sich in jenem Handlungsfeld verhalten soll, aus dem das Interpretament stammt. Eine appellative Interpretation kann mit einer wertenden, verurteilenden oder rechtfertigenden Interpretation verbunden oder darin bereits implizit enthalten sein.

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Bei der Thematisierung des Interpretandums kann die Zuschreibung der Zweitbedeutung zur Lektüre, Würdigung, Verehrung oder verpflichtenden Kanonisierung des Textes aufrufen oder im Gegenteil zur Vernachlässigung, Geringschätzung, Tabuierung oder gar Indizierung.62 Solche Appelle können sich über den Text hinaus auf eine Textgruppe, einen Autor, eine literarische Strömung usw. richten. Appelle sind häufig auf bestimmte soziale Gruppen, Handlungszusammenhänge und Handlungsweisen beschränkt, z.B. auf die Lektüre im Deutschunterricht einer bestimmten Altersstufe und Schulform. Hierfür zwei konstruierte Beispiele (das erste spricht die Sprache einer bevormundenden Pädagogik): „Die in Robert Frosts Gedicht gestaltete Erfahrung eines tief verschneiten Winterwalds, der bei dem Betrachter eine Art Todessehnsucht weckt, könnte adoleszente Lebenszweifel bestärken und sollte im Unterricht der Sekundarstufe nicht besprochen werden." - „In die Liste der einhundert Romane des 20. Jahrhunderts, die wir unseren Lesern besonders empfehlen, haben wir Umberto Ecos Der Name der Rose aufgenommen, weil dieses Buch nicht nur ein spannender historischer Roman ist, sondern auch anspielungsreiche Auseinandersetzungen mit verschiedenen, nicht zuletzt politischen Problemen der Gegenwart enthält." Die Thematisierung des Interpretaments kann die Funktion haben, an eine bessere Kenntnisnahme, Würdigung oder Kanonisierung des einem Text zugeschriebenen Wissens zu appellieren oder - was kaum geschieht - davor zu warnen. Wer den Schriften des „dezidierten Nichtchristen" Goethe eine allgegenwärtige unterschwellige Auseinandersetzung mit christlichen Motiven, Erzählungen und Lehren zuschreibt, verbindet damit den Appell, sich mit der für unsere Kultur so prägenden christlichen „Botschaft" auch dann zu beschäftigen, wenn der „Glaube" als Ziel gar nicht in Betracht kommt. Dies wäre eine besonders schwache, liberale Form des appellativen Interpretierens. Im entgegengesetzten Extremfall werden Kunstwerke vollständig zu einem appellativen Vehikel für die Beschäftigung mit einem Wissenssystem funktionalisiert: Man liest Schnitzler, zeigt Hitchcocks Marnie - und will auf Freud hinaus. Einen anderen „pragmatischen Indikator" (Habermas) weisen jene appellativen Interpretationsakte auf, die weniger an die Kenntnisnahme und Würdigung als vielmehr an die praktische Befolgung jener Erkenntnisse und Lehren appellieren, welche dem Text als Zweitbedeutungen zugeschrieben werden. Interpreten nehmen dann die Rolle des Vermittlers ein, der eine dem Text zugeschriebene Lehre so formuliert, dass die Ad62

Hierhin gehört der von Hermeren (1984, S. 144) angeführte Interpretationszweck, „to influence the judgements and evaluations of the addressees".

87 ressaten zu deren Befolgung aufgefordert werden. Das angestammte Genre solcher Handlungen ist die Predigt. Auch der Literaturunterricht war in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, in der Phase der Lebenshilfe-Didaktik, von diesem Handlungstyp geprägt (Schober 1977, S. 34-58). - „Robert Frost will uns mit seinem Gedicht Stopping by woods sagen, dass ein lebensmüder Mensch nicht einfach dem Wunsch nachgeben darf, ,im Wald zu bleiben', weil es immer andere gibt, die sich auf seine Rückkehr verlassen, und er nie weiß, wie viel Gutes auf dem langen Lebensweg noch vor ihm liegt". Hält man sich vor Augen, was dieser Gedanke für einen Menschen bedeuten kann, der ihn in einer Lebenskrise aus eigener (Lebens- und Lese-) Erfahrung gewinnt, dann werden die Intentionen der Lebenshilfepädagogik nachvollziehbar. Hält man sich jedoch die normale Praxis vor Augen, in der ein solcher Gedanke während eines gelenkten Lehrgesprächs mehr vom Lehrer denn von den Schülern entwickelt und als „Tafelanschrieb" fixiert wird, dann zeigt sich die Kontraproduktivität des appellativ-didaktischen Interpretierens: Es entmündigt das Subjekt, das nicht durch Appelle, sondern nur durch eigene Erfahrungen und Erkenntnisse zu konstanten moralischen Handlungsweisen finden kann, die in der lebensgeschichtlichen Identität verankert sind. Überdies dürfte eine moralisch-appellative Literaturdidaktik nicht selten die Möglichkeit verstellen, dass Kunsterfahrungen einen Anteil an der Herausbildung solcher Handlungsweisen gewinnen. 63 Mit appellativen Interpretationsakten kann auch eine Thematisierung der Interpretationsweise erfolgen. Modellinterpretationen haben nicht nur die oben bereits erörterten Funktionen, eine Interpretationsweise, zu erklären, zu reflektieren, zu bewerten oder zu legitimieren, sondern auch die schulbildende Funktion, zu einer bestimmten Interpretationsweise aufzurufen. Mitunter wird dabei dem interpretierten Text selbst der an die Leser gerichtete Aufruf zu eben jener Deutungsweise zugeschrieben, derer sich der Interpret bedient (vgl. u. Kap. 2.2.3). Eine Textstelle wird z.B. als eine allegorische Aufforderung zur Allegorese gelesen. Die im vorigen Punkt referierte alexandrinische Auslegung der mosaischen Speisevorschriften lässt sich als ein indirekter Appell zur Allegorese auffassen. Die zirkuläre Struktur einer Deutung dieser Art verfuhrt leicht

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Dass „in den Schulstuben" literarischen Texten „die Moral ausgequetscht" wird, bezeichnet Brecht zwar als „Mißbrauch", gibt aber zu bedenken, der „Mißbrauch" halte die Werke wenigstens „am Leben" (1967, Bd. 7, S.335). Dem würde heute wohl kaum jemand mehr zustimmen: Das Herausziehen moralischer Lehren kann Leser von Literatur wegfuhren. - Die neuere Literaturdidaktik ersetzt den moralisch-appellativen Unterricht durch eine kognitiv ausgerichtete, an Lawrence Kohlbergs Untersuchungen zur Entwicklung des moralischen Urteils (1971) anknüpfende Erörterung der moralischen Probleme, die in fiktionaler Literatur gestaltet sind (Spinner 1989).

88 zu dem Glauben, der eigene Auslegungsmodus, der dem vermeintlichen Gebot folgt, bedürfe keiner weiteren Begründung. (8)

Künstlerisch-ästhetische Interpretation

Auch Inszenierungen eines Dramas, Verfilmungen eines Romans, Vertonungen eines Gedichts usw. werden als Interpretationen bezeichnet. Literarische Bearbeitungen, Parodien und andere intertextuelle Bezüge von Literatur auf Literatur enthalten (oder sind) interpretatorische Handlungen. Auch die Unterrichtsverfahren eines künstlerischen, z.B. poetischen Umgangs mit literarischen Texten können als implizit bzw. latent interpretierend gelten (vgl. Zabka 1995b, S. 143). Künstlerische Interpretationen übertragen auf ihren Gegenstand oft wissentlich Bedeutungen, die aus einer den primären Textbedeutungen fremden Vorstellungswelt stammen, so dass es gerechtfertigt ist, sie als Zuschreibung von Zweitbedeutungen zu bezeichnen: Zu einem Satz wird eine Bildeinstellung oder eine Klangfolge gefunden, zu einem historischen Sprachzeichen ein modernes theatrales Zeichen usw. Unter drei Voraussetzungen freilich wäre es überflüssig, eine eigene Kategorie ästhetischer Interpretationsakte zu eröffnen: (a) wenn man Kunst im Sinne der Aristotelischen Poetik primär als nachahmende Darstellung verstünde; (b) wenn man Kunst im Sinne der aufklärerischen Ästhetik primär als „sinnliche Erkenntnis" der Wahrheit bestimmte und die besondere kognitive Kompetenz hervorhöbe, die den „unteren" Gemütskräften (Gefühl, Empfindung, Einbildungskraft, Geschmack u.ä.) eigen sei (Baumgarten 1983, S.2); (c) wenn man in Kunstwerken vor allem die „Verkörperung eines Anspruchs auf Authentizität" sähe und behauptete, ästhetisches Sprechen folge dem primären Geltungsanspruch, „authentischer Ausdruck einer exemplarischen Erfahrung" zu sein (Habermas 1981, Bd. I, S.41). Unter diesen Voraussetzungen müsste man ästhetische Sprechakte (d.h. auch ästhetische Interpretationsakte) anderen Illokutionen zuordnen, nämlich (a) den behauptenden, (b) den epistemischen oder (c) den expressiven Interpretationsakten. Innerhalb dieser drei bereits beschriebenen Handlungen würden sich die ästhetischen Äußerungen dann nicht durch ihren primären Geltungsanspruch, sondern durch ihr Aussagemedium, ihre Aussageweise und die zugrunde liegenden mentalen Prozesse von den anderen Äußerungen unterscheiden. Wir wollen hier gegen keine der drei genannten Verwendungsweisen des Begriffs „ästhetisch" argumentieren (bei anderen Erörterungszielen wäre eine Kritik an der Einseitigkeit zumindest der dritten Auffassung geboten), sondern anerkennen, dass diese drei Sprachspiele nicht nur in der Beschreibung künstlerischen Handelns, sondern auch im künstlerischen

89 Handeln selbst nebeneinander existieren. Es gab und gibt Künstler, Kritiker und Kunstwissenschaftler, die Kunst in erster Linie als Darstellung, als Erkenntnis oder als Ausdruck erachten. 64 Es gibt allerdings ein weiteres, auf die Autonomieästhetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts zurückgehendes Sprachspiel, das es nicht nur möglich, sondern erforderlich macht, eine eigene Kategorie ästhetischer Interpretationsakte zu eröffnen und einen eigenen Geltungsanspruch ästhetischer Sprechakte zu bestimmen. In diesem Sprachspiel wird davon ausgegangen, dass das Spezifikum ästhetischen Sprechens die Unterordnung von Außen-Referenz unter den primären werkinternen Bezug der Äußerungen aufeinander ist. Sprachästhetische Aussagen sind dann gekennzeichnet durch das, was Roman Jakobson in seiner von der Frühromantik beeinflussten Theorie 65 die poetische Funktion des sprachlichen Zeichens genannt hat: durch den primären Bezug auf die „Ähnlichkeit und Unähnlichkeit", die „Synonymie und Antinomie" der Zeichen eines Textes in Relation zueinander (1979, S.94). Bei seinem Versuch, die Rationalität ästhetischer Äußerungen zu bestimmen, schreibt ähnlich Martin Seel: „Die gelungenen Kunstwerke nehmen die [...] Themen, auf die sie interpretierend bezogen werden, in den Artikulationszusammehang ihrer internen Korrespondenzen zurück" (1985, S. 271). Die ästhetische Rationalität bemisst sich deshalb an der Stimmigkeit der internen Textur. 66 Die interne Stimmigkeit wird von den unterschiedlichen Autoren, die an diesem Sprachspiel teilnehmen, unterschiedlich benannt und beschrieben. Adorno (1997, Bd. 7, S. 18) spricht z.B. von dem „immanenten Formgesetz", das die Teile des Werkes, „sei's auch mit Brüchen", integriert; Luhmann (1995, S. 301-340) verwendet in seiner engagierten Reformulierung der Autonomieästhetik den systhemtheoretischen Begriff

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Sprachspiele, in denen der Kunst ein primär wertendes, rechtfertigendes, verurteilendes oder aufforderndes Weltverhältnis zugesprochen wird, sollen hier vernachlässigt werden. Diesen Einfluss kann Todorov (1995, S. 272) nachweisen. Auch der traditionelle ästhetische Geltungsanspruch lautete nicht Wahrhaftigkeit, sondern Schönheit. Der Begriff des Schönen war an bestimmte Gestaltungskonventionen gebunden (harmonischer Ausgleich der Momente, architektonische Balance, einheitliche Ordnung usw.). Nachdem solche Konventionen unverbindlich geworden waren und die ,nicht mehr schönen Künste' sich etabliert hatten, wurde der an bestimmte ästhetische Werte gebundene Geltungsanspruch der Schönheit durch einen ihm übergeordneten allgemeineren und wertneutralen Geltungsanspruch ersetzt, der unterschiedliche gestalterische Konventionen zu übergreifen vermag: Ein Ausgleich von Gegensätzen muss als gleichermaßen gelungen gelten können wie eine vermittlungslose Montage von Gegensätzen. Als stimmig kann eine Integration disparater ästhetischer Muster in einem Über-Muster gelten: Phänomene der „Fragmentierung und Inkohärenz" können in „komplexeren Formen der Kohärenz" aufgehoben sein (Shusterman 1996, S. 53).

90 der „Programmierung", um das von Werk zu Werk unterschiedliche Verfahren zu beschreiben, mit dem Künstler die Kontingenz ihrer einzelnen Gestaltungsentscheidungen reduzieren. In diesem Sprachspiel wird nur selten bestritten, dass künstlerische Äußerungen auch konstativ, expressiv oder regulativ sind, also Sachverhalte darstellen, Dispositionen ausdrücken oder soziale Konventionen erfüllen bzw. mit ihnen brechen. „Der Vorrang der poetischen Funktion vor der referentiellen löscht den Gegenstandsbezug nicht aus, sondern macht ihn mehrdeutig" (Jakobson 1979, S. 111). Die Geltungsansprüche der referentiellen Rede werden in ästhetischen Äußerungen zwar erhoben, aber durch die Subordination unter den primären Geltungsanspruch der internen Stimmigkeit in den Status der Uneigentlichkeit versetzt: „Weder Wahrheit noch Wahrhaftigkeit lassen sich dem Kunstwerk unmetaphorisch zusprechen" (Wellmer 1985, S. 36). Kunst erweckt, diesem Sprachspiel zufolge, den Eindruck, als ob sie sich wahr, wahrhaftig und normativ richtig auf die Welt bezöge, tatsächlich aber ist sie von diesen Geltungsansprüchen entlastet. Denn je dichter die Innenbezüge sind, desto problematischer und vieldeutiger werden die Außenbezüge. Genau dies gilt als der Grund dafür, dass die gelungensten Kunstwerke die vielfaltigsten Interpretationen provozieren oder, nach einem Apercu Ecos, Fabriken zur Herstellung von Interpretationen sind. Bei der Untersuchung ästhetischer Interpretationsakte wollen wir uns an dem zuletzt beschriebenen Sprachspiel orientieren. Die Unterscheidung zwischen den drei Themensetzungen erweist sich auch bei der Beschreibung ästhetisch-künstlerischer Interpretationsakte als möglich und sinnvoll: Es gibt künstlerische Handlungen, die das Interpretandum, das Interpretament oder die künstlerische Interpretationsweise zum Zentrum haben. Von einer Thematisierung des Interpretandums kann man sprechen, wenn ein Kunstwerk die Bedeutung oder die Machart eines anderen Kunstwerks mit den Mitteln der eigenen ästhetischen Sprache möglichst genau zu treffen versucht. Eine Vertonung des Frost-Gedichts könnte beispielsweise zu dem (konventionellen) Mittel greifen, die Erstbedeutung der schönen, dunklen Tiefe des Waldes durch Akkorde zu illustrieren, die in einfachen harmonischen Verhältnissen zueinander stehen, zugleich aber den Tritonus einfügen, der früher einmal die Bedeutung eines Todesintervalls hatte. Diese Interpretation erhöbe den Anspruch, das musikalische Werk auf eine dem sprachlichen Werk entsprechende Weise zu gestalten. ,Werktreue' Theaterauffuhrungen versuchen, die Mittel ihrer eigenen theatralen Sprache dem Formgesetz oder der Aussage des inszenierten Dramas gemäß zu gestalten. In Zusammenhängen der intertextuellen Interpretation eines literarischen Textes durch einen ande-

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ren wird von einem „partizipatorischen" Verhältnis des späteren Textes zum Prätext gesprochen (Lachmann 1990, S. 38). Auch an den kreativen Be- und Verarbeitungen, die Schüler im produktionsorientierten Unterricht leisten, gilt als ästhetisch gelungen, was der Ästhetik des Ausgangstextes ähnelt. Den Unterschied zur Thematisierung des Interpretaments kann man sich im Fall der musikalischen Vertonung an der geläufigen Auffassung vergegenwärtigen, Friedrich Zelters Goethe-Vertonungen seien Versuche der musikalischen Annäherung an die Goethesche Sprachästhetik, während Franz Schubert die Texte Goethes dazu verwendet habe, seine eigene romantische Gestaltungsweise zu realisieren. Nehmen wir frühe Vertonung (1814) der Dom-Szene des Faust I, und hier speziell des von der Gemeinde gesungenen dies irae. In Goethes Drama besteht zwischen den drei Aussage-Teilen der Szene ein Kontinuum sowohl hinsichtlich der Psychologie als auch hinsichtlich der sprachlichen Gestaltung: Einerseits reagiert Margarete mit einer Reihe von Angstbekundungen auf die Rede des bösen Geistes, der ihr individuelles Unheil voraussagt und dessen Worte sie als Ausdruck ihrer eigenen „Gedanken" bezeichnet; andererseits werden diese subjektiven Befürchtungen gespiegelt in der überindividuellen, gleichsam objektiven Schilderung jenseitiger Schrecken durch die besagten Chorverse, in denen es heißt, am Tag des Zornes bleibe keine Sünde ungesehen und unvergolten (Goethe 1985ff., Bd. 7/1, S. 164ff.). Diesem Kontinuum setzt Schuberts Vertonung ein Diskontinuum entgegen: Das dies irae klingt friedlich, beruhigend und geradezu beschwichtigend. Der hier von einer Stimme vollzogene Wechsel zwischen Margaretes Erregung und dem beruhigenden dies irae erinnert an Schuberts berühmte Vertonung von Claudius' Gedicht Der Tod und das Mädchen mit dem Schlussvers: „Sollst sanft in meinen Armen schlafen!" (1984, S. 86f.). Der Komponist ordnet Goethes kontinuierliche Gestaltungsweise seiner eigenen Gestaltungsweise eines diskuntinuierlichen musikalischen Ausdruckswechsels unter. Nicht nur Vertonungen seit der Romantik, auch die Arbeiten des modernen Regietheaters sind autonome Werke; sie unterwerfen die Vorlage dem eigenen Gestaltungsprinzip (vgl. Zabka 1995a, S.22ff.). Bei intertextuellen Interpretationen wird in solchen Fällen von einem „tropischen" oder einem „transformatorischen" Verhältnis des Textes zum Prätext gesprochen (Lachmann 1990, S.39). Die Verbindung der interpretierten Vorlage mit fremden, andersartigen Bedeutungen ist nicht nur Lizenz, sondern geradezu eine notwendige Pointe solcher ästhetischen Interpretationen. Sie leben vom Kontrast der unterschiedlichen ästhetischen Gestaltungsprinzipien (bzw. vom Kontrast der unterschiedlichen künstlerischen Außenreferenz).

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Es gibt schließlich das Phänomen einer ästhetischen Selbstthematisierung der künstlerischen Interpretationsweise, und zwar an Stellen einer selbstreferentiellen Bezugnahme auf den eigenen ästhetischen Umgang mit dem Bezugstext. Man könnte behaupten - und einige Kritiker würden dies gewiss tun - es gebe Theaterinszenierungen, deren Ästhetik primär darauf ziele, die eigene künstlerische Freiheit im Umgang mit dem Drama zur Schau zu stellen. (9)

Diskursiv-ästhetische Interpretation

Es gibt den Typus diskursiver Interpretationen, die sich künstlerischer Mittel bedienen. Der Streit in der Familie interpretatorischer Handlungsweisen (vgl. das Motto zu Kapitel 1) wird besonders laut, sobald diese letzte Verwandte auftritt. Sie gilt vielen als unvermögend, hochstaplerisch und unseriös. Aussichtslos eifere sie, so wird geurteilt, ihrer nächstgeborenen Schwester nach, der künstlerischen Interpretation, und mehr noch der Erbtante selber, dem interpretierten Kunstwerk. Sie wolle sein wie dieses oder zumindest so ähnlich. Beargwöhnt wird ihre Überzeugung, das Sprechen über Kunst müsse sich eines künstlerischen Stils und künstlerischer Gestaltungsprinzipien bedienen, da die Theorie vor der Alternative stehe, entweder ästhetisch zu werden oder grau. Hätten Kritiker die Absicht, dieser Interpretationsweise ein Emblem verliehen, so könnte ihre Wahl auf eine verirrte Eule der Minerva fallen, die bei Einbruch der Dämmerung ins Abendrot fliegt, um zu leuchten. Der schlechte Ruf darf uns indes nicht von einer Untersuchung diskursiv-ästhetischer Interpretationsakte abhalten. Im Unterschied zu künstlerischen sind «/c/tfkünstlerische Interpretationen niemals in erster Linie ästhetische Handlungen. Die diskursive Textsorte gibt den Ton an.67 Ästhetische Interpretationsakte können in Kritiken, Essays, Aufsätzen usw. allerdings eine spezifische Funktion in Relation zu den anderen Handlungen haben. Auch in diesem Punkt lässt sich unterscheiden, ob ein ästhetischer Interpretationsakt die Ästhetik des interpretierten Textes thematisiert oder - was seltener ist - eine andere Ästhetik, die auf eine näher zu bestimmende Weise diejenige des Interpretaments ist. Über diese Einteilung hinaus sollen die diskursiv-ästhetischen Interpreta-

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Gerade Adorno, der in seinem Essay Der Essay als Form die Auffassung vertritt, „von Ästhetischem" lasse sich nicht „unästhetisch, bar aller Ähnlichkeit mit der Sache" reden, „ohne dass man der Banauserie verfiele und a priori von jener Sache abglitte" (1997, Bd. 11, S. 11), stellt klar: „Die Trennung von Wissenschaft und Kunst ist irreversibel" (ebd., S. 13). Deshalb müsse der Essay mit Begriffen und an Begriffen arbeiten wenn auch auf partiell ästhetische Weise.

93 tionsakte danach geordnet werden, auf welche anderen Handlungen sie funktional bezogen sind. Nähert eine Interpretation sich partiell dem Stil oder Gestaltungsprinzip des Interpretandums an, so können ästhetische Handlungen die Funktion haben, die hermeneutische Differenz zwischen Gegenstandssprache und Beschreibungssprache zu verschleiern (vgl. Fricke 1977, S. 170-184). Ein Interpretieren im Stil des Interpretandums suggeriert dann ein inniges Verstanden-Haben, welches nurmehr ästhetisch gestaltet, nicht aber erklärt zu werden brauche. Die ästhetische Imitation des Interpretandums dient in diesem Fall einerseits einer Expression des Verstehens, andererseits einer Ersetzung des explanativen Interpretierens durch die implizite Behauptung: Liest man den Text so wie der Interpret, gibt es keinen Erklärungsbedarf mehr. Wenn diese Einstellung mit institutioneller Macht einher geht, kann es geschehen, dass - im interpretatorischen Prüfungsgespräch beispielsweise - ein Mächtiger dem Machtlosen (indirekt) vorschreibt, die eigene Sprechweise zu übernehmen, anstatt mit ihm in einen explanativen, epistemischen oder auch nur behauptenden Diskurs über den Gegenstand zu treten. Wenn es von allen Seiten „Ja" ruft, befindet man sich womöglich im Dickicht eines ästhetisch verbrämten Missverstehens. Ästhetische Interpretationsakte haben in Relation zum explanativen Handeln nicht notwendig die Funktion der Ersetzung oder Erschleichung. Vielmehr können Äußerungen, die Stil und Gestaltungsweise des Gegenstands partiell imitieren, die Funktion haben, das Interpretament am Interpretandum zu veranschaulichen und zu plausibilieren. Stellen wir uns folgende interpretatorische Aussage vor: „Dass in Robert Frosts Gedicht der alltägliche Gegensatz zwischen dem Verweilen in der Natur und dem Weitergehen zu einer existentiellen Frage erhoben wird, lässt sich dadurch erklären, dass hinter der Anschauung der Natur die Empfindung der Todessehnsucht steht. Am schwärzesten Punkt (,the darkest evening') des Lebens sehnt sich das lyrische Ich nach den Reizen der Nichtexistenz, ihrer Dunkelheit und Tiefe." Im ersten dieser beiden Sätze löst das Interpretament „Todessehnsucht" ein Verstehensproblem, es erklärt den adversativen Zusammenhang von angeschauter Naturschönheit und Pflicht des Weitergehens. Diese logische Erklärung beantwortet freilich nicht die Frage, ob das Wissensschema, aus dem die Zweitbedeutungen stammen, mit der ästhetischen Gestaltung des gesamten Gedichts verträglich ist. Der zweite Satz der Äußerung ist ein Versuch, das Schema „Todessehnsucht" mit ästhetischen Mitteln auf die Bildlichkeit des Gedichts und deren innere Folgerichtigkeit zuzuschneiden. Metaphorisch wird von der Dunkelheit der Lebenssituation und der Tiefe des Todes gesprochen. Der Interpret wählt diese Worte nicht etwa deshalb, weil es

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in seiner Beschreibungssprache keine anderen gäbe, sondern weil er die Verträglichkeit des zugeschriebenen Schemas mit der zentralen Isotopie des Gedichts, dem Naturbild, aufweisen will. Dieses Vorgehen ist genau dann keine bloße Erschleichung von Evidenz, sondern ein legitimes rhetorisches Mittel der Interpretation, wenn im Äußerungszusammenhang deutlich wird, dass hierdurch eine Erklärung nicht ersetzt, sondern unterstützt werden soll. Der Sprechakt kann nicht allein wegen der ästhetischen Sprechweise zurückgewiesen werden, sondern er ist als ein diskursiver Sprechakt annehmbar, wenn die Adressaten erkennen können, dass die gestaltete Stimmigkeit zwischen Interpretament und Interpretandum dem Aufweis der Angemessenheit dient. Die Adressaten müssen also die Möglichkeit haben, die beiden Geltungsansprüche auseinanderzuhalten und die Frage zu stellen, ob die Stimmigkeit in ein Argument transformierbar ist. Nur von Fall zu Fall lässt sich entscheiden, ob die ästhetischen Sprechakte dieses etablierten Sprachspiels geglückt oder missglückt sind. Diskursive Interpretationen können auch bei der Thematisierung des Intepretaments ästhetische Mittel verwenden. Interpreten können zu der Überzeugung gelangen, dass die möglichen begrifflichen Schemata, die einer Textstelle als Zweitbedeutungen sich zuschreiben lassen, allesamt inadäquat sind. So könnte einem Interpreten jede Behauptung von der Art, der Wald stehe für „Todessehnsucht" oder für ein ähnlich konkretes Wissensschema, als eine unangemessene Einschränkung der Bedeutungsweite erscheinen, während ihm abstraktere Schemata von der Art „Verlockungen, die uns von der Fortsetzung unseres Lebensweges abbringen könnten" wiederum zu weit entfernt sind von der konkreten Sprache, von der bildlich gestalteten Erfahrung des Gedichts. Ein solcher Interpret könnte nun zu unterschiedlichen Mitteln des ästhetischen Interpretierens greifen. (a) Er könnte die Sprache des Gedichts benutzen, um auszudrücken, dass im Grunde kein anderes Sprechen als eben das des literarischen Gegenstands geeignet ist, die Bedeutung auszusagen. Dieses ästhetische Handeln wäre entweder gar kein Interpretieren, wenn nämlich durch die Mimesis an die Gedichtästhetik nicht kenntlich würde, dass der Text nach Meinung des Interpreten auf einen begrifflich nicht adäquat bestimmbaren Vorstellungskomplex verweist. Oder es wäre wiederum ein Interpretieren, das die Evidenz des Verstanden-Habens erschleicht, indem es dem Adressaten (implizit) signalisiert: ,Man kann den Sinn nicht begreifen, aber wenn auch dir bedeutsam vorkommt, was ich bedeutsam finde, dann wirst du den Sinn schon ahnen': „Der ,kalte' und schöne ,Wald' erscheint dem Betrachter so verlockend ,dunkel' und , t i e f , dass er beinahe vergisst, welche , Versprechungen' er anderen gegenüber ein-

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gegangen ist und wieviel,Meilen' er vor dem ,Schlafen' noch zu ,gehen' hat." Ein solcher Satz verharrt in der Ästhetik des Gedichts, weil er sich um die begriffliche Bestimmung der Zweitbedeutungen herumdrückt, die er als unaussprechlich markiert. (b) Der Interpret könnte, wie Theodor W. Adorno es vorschlägt, die in Frage kommenden Begriffe in eine „Versuchsanordnung" oder „Konfiguration" bringen und sie beziehungsreich miteinander ,,koordinier[en]", statt sie einander zu „subordinieren" (1997, Bd. 11, S. 15; 21; 31 f.). Eine solche Interpretation würde versuchen, das ästhetisch Gemeinte nicht mit den Begriffen zu identifizieren, sondern es mit Hilfe eines ästhetisch strukturierten Begriffsnetzes kenntlich zu machen, das nach dem Prinzip der Ähnlichkeit und des diskreten ,,Übergang[s]" (ebd., S. 31) zwischen den Begriffen geflochten ist. Das „Kunstähnliche" solcher Interpretationsakte liegt nicht zuletzt in ihrer „Standpunktlosigkeit" hinsichtlich der Entscheidung für ein bestimmtes begriffliches Schema (ebd., S. 26f.). Bei dieser Handlungsweise muss sich der Interpret weder um eine Nennung der verwendeten begrifflichen Schemata noch um eine genaue Bestimmung des Interpretationsproblems drücken. Eine gelungene Interpretation dieser Art verschleiert das erörterte Problem keineswegs, denn sie erhebt in letzter Konsequenz nicht den Anspruch, ästhetisch stimmig, sondern darüber hinaus den Anspruch, konstativ wahr zu sein. Eine (philosophische) Wahrheitsaussage ist gleichsam ihr Fluchtpunkt; sie funktionalisiert das ästhetische Handeln für ein primär epistemisches Handeln. Bei gelungenen Sprechakten dieser Art ist der Geltungsanspruch ästhetischer Stimmigkeit, mit dem die Begriffs-Konfiguration hergestellt wird, deutlich unterscheidbar von dem Geltungsanspruch konstativer Wahrheit, dem das ästhetische Handeln dient. Am Gegenstand des FrostGedichts könnte ein Interpret beispielsweise versuchen, das Gemeinte einzukreisen mit einer beziehungsreichen Verknüpfung von Begriffen wie Selbstaufgabe, Entgrenzung, Erhabenheit, Erstarrung, Tod. Ein solches Beispiel können wir hier nicht ausformulieren, denn ästhetische Interpretationsakte dieser Art bedürfen einer dichten Vertextung; wir müssten einen Essay schreiben, um einen einzelnen Interpretationsakt, der in dem von Adorno genannten Sinn ästhetisch ist, aufzeigen zu können. Denkbar ist die Existenz ästhetischer Interpretationen, deren primäre Funktion es ist, die ästhetische Interpretationsweise selbst aufzuzeigen. Der Grund einer derartigen Thematisierung des Verfahrens könnte - wie bei den anderen illokutionären Akten - sein, dass ein Interpret seine Zugehörigkeit zu einer entsprechenden Schule der Interpretation mitteilt. Interpreten bestimmen, anders gesagt, bei einer Thematisierung der Interpretationsweise stets ihre soziale Interpretenrolle. Aus diesem Grund werden wir in Kapitel 2 übergreifend von rollenbestimmender Interpre-

96 tation sprechen, wenn eine Interpretationsweise thematisiert wird - sei es erklärend, erörternd, wertend, rechtfertigend, auffordernd, ausdrückend oder ästhetisch gestaltend. Abschließend sei an zwei Probleme erinnert, die bereits in unseren kategorialen Vorüberlegungen erörtert wurden und die auch nach Hermeren (1984, S. 155) jede Bestimmung empirischer Interpretationen schwierig machen: (1) many of the types of interpretation outlined above can be combined with each other, and this frequently happens in practice; (2) many proposed interpretations are ambiguous in the sense that they can be interpreted as instances of several different types of interpretations, and combinations of such types.

Mit einer interpretatorischen Äußerung können in bestimmten kommunikativen Zusammenhängen mehrere illokutionäre Sprechakte gleichzeitig ausgeführt werden. Um noch einmal auf unser zentrales Beispiel zurückzukommen: Vorstellbar ist eine komplexe Situation, in der Sprecher A mit der Zuschreibung der Zweitbedeutung „Verlockung des Todes" die adversative Syntax des Gedichts erklärt, zugleich die Problematik des Freitods mit Hilfe der Erstbedeutungen erörtert, weiterhin die Abwendung vom Freitod positiv wertet und schließlich an die Leser appelliert, seine Interpretationsweise zu teilen. Den illokutionären Akt bzw. das Bündel illokutionärer Akte einer interpretatorischen Äußerung zu bestimmen bedeutet, die Äußerung im Kontext jener sozialen Interaktion zu interpretieren, an der sich der Sprecher orientiert. Der Interaktionszusammenhang gehört zu dem Bedingungsfeld, in dessen Rahmen die einzelne Handlung erst verständlich wird.

1.3

Handlungsbedingungen der Interpretation

Die Bedingungen interpretatorischen Handelns sind lokalisierbar in den sozialen Interpretationskonventionen, im Interpretationsgegenstand und in der Interpretenpersönlichkeit. Konventionen liegen den typischen Gattungen interpretatorischen Sprechens und Schreibens sowie den Formen interpretatorischer Interaktion zugrunde (1.3.1). Der Gegenstand enthält strukturelle, inhaltliche und kontextuelle Bedingungen (1.3.2). Vorwissen und thematische Interessen sowie Rezeptions- und Erkenntnisgewohnheiten sind Bedingungen, die die Interpreten mitbringen (1.3.3).

97

1.3.1 Interpretationskonventionen (1)

Konventionen interpretatorischer Genres

Literaturinterpretation erfolgt in gesprochener und geschriebener Sprache, in ikonischer Sprache, in Klangsprache, ja sogar in Körpersprache etwa durch theatrale Gesten, die einer Figurenrede einen anderen Sinn geben. Die unterschiedlichen Medien und Genres der Interpretation sind mit Interpretationskonventionen verknüpft, die das Handeln der Interpreten lenken. Das erkennt man z.B. an einigen der Textsorten, in denen schriftliches Interpretieren stattfinden kann: assoziative Gedankensammlung, Essay, Interpretationsaufsatz, intertextuelle literarische Bezugnahme.68 Es ist offenkundig, dass Interpretationen, die in den genannten Textsorten geschrieben werden, sich unter zahlreichen der oben (Kapitel 1.1 und 1.2) erörterten Aspekten voneinander unterscheiden: Bei der Gedankensammlung, beim Essay und bei der literarischen Aktualisierung herrscht eine größere Freiheit hinsichtlich der Selektion von Textelementen und deren Erstbedeutung als beim Interpretationsaufsatz. Ähnliches gilt fur die Auswahl der zugeschriebenen Zweitbedeutungen: Gedankensammlung, Essay und literarische Bezugnahme konzedieren die Projektion eigener Gedanken auf den Text; die Textsorte Aufsatz verlangt eine stärkere Prüfung solcher Gedanken an der Form, am Entstehungskontext usw. Essay und Interpretation verlangen eine stärkere Homogenität der Zweitbedeutungen als die Gedankensammlung, in der disparate Einzelbedeutungen versammelt werden dürfen. Was den Verweisungsmodus und genauer deren mentale Form betrifft, so fordert die Gedankensammlung eine begriffliche Bestimmung der Zweitbedeutungen, das verwandte „Brainstorming" lässt bildliche Vorstellungen und Analogien zu. Einem Essay wird man zugestehen, dass er eine systematische Ordnung der Gedanken vermeidet und den Gegenstand durch eine experimentelle „Konfiguration" von Begriffen einzukreisen versucht (Adorno 1997, Bd. 11, S.21); von einem Interpretationsaufsatz wird man verlangen, dass er die Bedeutung auf den Begriff bringt. Von einer literarischen Aktualisierung erwartet man hingegen eine nicht-begriffliche Repräsentanz der Zweitbedeutung. Auch die illokutionäre Handlung hängt von der Textsorte ab: Der Kommentar fordert eine explanative Einstellung; der Essay hingegen fordert eine Unterordnung der explanativen Einstellung unter das offene Nachdenken, d.h. das Genre transportiert die Konven-

68

Ein Beispiel ist die Übertragung eines Plots auf einen anderen Kontext. Man denke an die literarischen Odyssee-Aktualisierungen, die in Joyces' Roman Ulysses gipfeln, und die allesamt indirekte Homer-Interpretationen sind.

98 tion eines epistemischen Interpretierens. Die literarische Bezugnahme verlangt eine ästhetische Interpretation usw. Auch die Genres anderer Interpretationsmedien enthalten bestimmte Interpretationsbedingungen. Eine freie Aussprache über das subjektive Verstehen ermöglicht und verlangt andere Selektionen, Verweisungsmodi und illokutionäre Akte als ein Interpretationsgespräch oder eine szenische Improvisation, die den unter den Erstbedeutungen eines Textes verborgenen Subtext dialogisch ausspricht. Die bildliche Illustration eines einzelnen Handlungsmoments, z.B. auf einem Buchumschlag, verlangt andere Selektionen als eine Verfilmung. Eine aktualisierende Theaterinszenierung, die den Text gezielt mit anderen Wissensschemata (bzw. ikonischen Schemata) verbindet, bringt andere Verweisungsmodi mit sich als eine historisierende Inszenierung. Die an bestimmte interpretatorische Genres gebundenen Konventionen sind nie automatisch gültig, und sie sind nie eindeutig. Vielmehr spielen sie sich in jeder Interpretengemeinschaft eigens ein, sie werden in jeder Situation selektiv behandelt und interpretiert. Bezüge zwischen einem historischen Text und aktuellen zeitgeschichtlichen Fragen in den Mittelpunkt einer philologischen Abhandlung zu stellen, ist in einigen Interpretengemeinschaften verpönt, in anderen erwünscht. In manchen literaturwissenschaftlichen Schulen dürfen Interpretationsaufsätze selbst mit Formen poetischen Sprechens operieren, in anderen Schulen wird dies geächtet. In manchen Lerngruppen hat sich bei der Textsorte „Ideensammlung" ein primär begrifflich-gedankliches Vorgehen etabliert, in anderen Lerngruppen ein Sammeln bildlicher und szenischer Einfalle. Hat sich in einer Gruppe die Konvention etabliert, Texte in appellativer Einstellung zu interpretieren und nach einer verborgenen Lehre zu fragen, kann diese Einstellung in der tausend-und-ersten Interpretationshandlung einer epistemischen Einstellung weichen: Die Existenz einer Lehre und mit ihr das ganze Verfahren wird bezweifelt; die Konvention verändert sich. (2)

Konventionen der interpretatorischen Interaktion

Das Genre einer Interpretation gibt Verhaltenserwartungen vor, die innerhalb der einzelnen interpretatorischen Interaktion neu aktiviert, interpretiert und angewandt werden. Die Sprechakte, die einem untersuchten Interpretationsakt vorausgehen, und die vom Sprecher erwarteten nachfolgenden Sprechakte haben immer eine normative Kraft. Vorangegangene Äußerungen oder erwartete Folgeäußerungen können auf unterschiedliche Weise eine Handlung normativ beeinflussen: (a) direktiv, wenn sie eine bestimmte Interpretationsweise fordern, (b) paradigma-

99 tisch, wenn sie eine Interpretationsweise praktisch vorgeben, und (c) initiatorisch, wenn sie eine Interpretationsweise ohne Aufforderung und Beispielgabe in Gang setzen. Am Beispiel der fiktiven Unterrichtsstunde über das Gedicht von Robert Frost in Sharon Creechs Jugendbuch (vgl. die Einleitung) sei dies erläutert. Die Frage der Lehrerin Mrs. Zollar nach der „Symbolik" des Gedichts und speziell danach, „was der Weg und der Wald wohl bedeuten", ist in doppelter Hinsicht direktiv gemeint: Diese Frage bestimmt die zu interpretierenden Textelemente und den Verweisungsmodus (Wald und Weg symbolisieren etwas), und sie wirkt auf fast alle Schüler als Lektüreanweisung. Bezogen auf die spätere Äußerung der Schülerin Bonnie Argentini, „es könnte doch auch sein, dass Robert Frost mit dem Wald einfach den Wald meint", ist die Frage der Lehrerin nur von initiatorischer Wirkung: Die Schülerin weicht von dem vorgegebenen Bedeutungsmodus ab, der Impuls setzt ein anderes Interpretieren in Gang. Eine paradigmatische Äußerung ist in diesem Schülergespräch die weit hergeholte Äußerung, der Wald symbolisiere „Spaß oder Fun": Die späteren Äußerungen, der Wald symbolisiere „Vanilleeis und Surfen" bzw. „Sex", folgen dem Beispiel „Fun". Die Wirkung eines bedingenden Sprechakts (z.B. die Frage von Mrs. Zollar) hängt ab von seiner Interpretation und Anerkennung in den davon bedingten Handlungen. Handlungskonventionen werden nicht automatisch oder mit kausaler Notwendigkeit wachgerufen, sondern sie werden immer akzeptiert oder nicht akzeptiert. 69 Die Handelnden wirken also immer durch den Grad der Anerkennung, die sie einem vorausgehenden Sprechakt zollen, an der bedingenden Kraft dieser Handlungen mit. Werden in einer Interpretengemeinschaft die Impulse bestimmter Personen stets als direktive oder paradigmatische Äußerungen anerkannt, niemals jedoch als bloß initiatorische Impulse aufgenommen für eine von der Konvention abweichende oder anderen Konventionen folgende Handlung, so haben die Handlungsorientierungen der Interpreten den Status starrer Konventionen, die nicht zur Disposition stehen; eine ritualisierte Kommunikation in fest geprägten „Mustern" schleift sich ein. Es kann für die Diagnose institutionell erstarrter Kommunikation sehr nützlich sein, die Logik solcher Muster zu rekonstruieren, wenn dabei nicht vergessen wird, dass Interaktionsmuster niemals mit kausaler Notwendigkeit ablaufen, sondern in jedem Moment durch die Teilnehmer normativ anerkannt werden. Das Gesagte gilt nicht nur für den Bereich des Unterrichts, aus dem unser (fiktionales) Beispiel stammt, sondern auch für den literaturwissenschaftlichen Diskurs. Hier werden häufig poetologische, literaturtheoreti69

Zur Frage der Gültigkeit von Interpretationskonventionen vgl. u. Kap. 1.4.1.

100 sehe oder interpretationspraktische Positionen schulbildender Vordenker als direktiv anerkannt, und es gibt Interpretationen, die als paradigmatisch gelten. Für manche Interpreten haben solche bedingenden Handlungen nur den Status einer Initiative fur abweichendes Interpretieren. Damit sei nicht behauptet, dass jede Abweichung von einer Norm per se geistige Autonomie, jede Befolgung der Norm Heteronomie anzeige. Vielmehr kommt es in der Wissenschaft allein auf die Explikation der Gründe an, aus denen eine vorgegebene Interpretationsweise anerkannt und befolgt oder zurückgewiesen und nicht befolgt wird. Wollte man bei der Untersuchung literaturwissenschaftlicher Interpretationen die bedingenden Handlungen anderer Interpreten und die Geltungskraft von Interpretationskonventionen genau untersuchen, müsste man auf eine dichte Beschreibung des jeweiligen (historischen) Wissenschaftsdiskurses zurückgreifen, denn anders ließe sich der Komplexität der in diesem Feld wirksamen Konventionen nicht gerecht werden. Kapitel 2 wird dies nur in geringen Ansätzen leisten können.

1.3.2 Bedingungen im Interpretationsgegenstand Jeder Leser macht irgendwann in der literarischen Sozialisation die Erfahrung, dass unterschiedlich beschaffene Texte auf unterschiedliche Weisen zu verstehen sind. Strukturelle, inhaltliche und kontextuelle Eigenschaften bedingen das interpretatorische Handeln. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bestimmte Eigenschaften niemals per se ein bestimmtes Verstehen bedingen, sondern nur vermittelt über entsprechende Rezeptionsweisen, genauer: über Konventionen, die zusammen mit dem Fiktionswissen erworben werden. Mithin steht dieser Abschnitt in unmittelbarem Zusammenhang mit den vorausgegangenen Bemerkungen über die Interpretationskonventionen. (1)

Inhaltliche Eigenschaften

Eine inhaltliche Ähnlichkeit, die zwischen unterschiedlichen Sujets eines Textes besteht, kann von Lesern als ein Anzeichen dafür gedeutet werden, dass die Erstbedeutung des einen die Zweitbedeutung des anderen ist (z.B. Natur symbolisiert Gesellschaft oder umgekehrt). Der Interpret könnte behaupten, dass ein Text die Zweitbedeutung einer fraglichen Stelle an anderer Stelle selbst enthält und durch die inhaltlichen Ähnlichkeiten beider Stellen einen Hinweis auf den symbolischen oder allegorischen Status gibt.

101 In vielen Texten wird die Zweitbedeutung hingegen auch explizit ausgesprochen. Link und seine Mitarbeiter weisen auf Texte mit Selbstauslegungen hin, in denen die übertragene Bedeutung „ganz" oder „partiell denotiert" ist (Drews/ Gerhard/ Link 1985, S. 268). In der rhetorischen Tradition existiert hierfür Quintilians Ausdruck der „permixta allegoria", die im Gegensatz zur „tota allegoria" ihre Bedeutung zumindest partiell offenlegt und die eigene kommentierende Selbstentschlüsselung betreibt (1988, Bd. 2, S. 236ff.; [=VIII, 6, 47ff.]). Renate Böschenstein schlägt für diesen Unterschied die Benennung „implikative und explikative Allegorie" vor (zit. nach Kurz 1993, S . 4 0 u. S. 88, Anm. 22). Ein gutes Beispiel für diese Differenz ist Schillers Lied von der Glocke (1943ff., Bd. 2, S. 227ff.): Isoliert man die Strophen, die das eigentliche GlockengießerLied bilden, so lassen sich diesem Text keine oder nur sehr indirekte Selbstinterpretationen ablesen; es handelt sich um eine tota allegoria. Nimmt man die ausgedehnten Betrachtungen der übrigen Strophen hinzu, so handelt es sich um eine zur Gänze ausgelegte permixta allegoria, deren Autor oder lyrisches Ich mitteilt, was ihm - mit A.W. Schlegel gesprochen - bei „Glocken" alles einfallt.70 Von einer „partiellen Denotation" oder Explikation der Zweitbedeutung kann gesprochen werden, wenn ein Interpret die Selbstinterpretation des Textes fortsetzt und inferenziell auf weitere Zeichen ausdehnt. Ein Beispiel: „Der spiegelt ab das menschliche Bestreben/ Ihm sinne nach, und du begreifst genauer:/ Am farbigen Abglanz haben wir das Leben" (Goethe 1985ff, Bd. 7/1, S. 206). Diese begriffliche Subscriptio am Ende einer poetischen Pictura des Regenbogens verleiht Fausts Eingangsmonolog zum 2. Teil des Dramas die Form eines Emblems. Die Explikation bleibt partiell, sie bestimmt bloß den thematischen Bereich der Zweitbedeutung: Der Regenbogen steht für das menschliche Bestreben. Das genauere Begreifen der Allegorie wird dem angesprochenen Du aufgetragen. Der Leser soll ausdeuten, inwiefern „des bunten Bogens Wechseldauer" das menschliche Bestreben abspiegelt. Statt einer kompletten und partiellen Auslegung kann ein Text den bloßen Hinweis darauf enthalten, dass etwas überhaupt in übertragener Bedeutung zu verstehen sei. Dabei lassen sich mehrere Spielarten unterscheiden: (a) Nennung eines Verweisungsmodus: etwas wird im Text als Gleichnis, Allegorie usw. bezeichnet, (b) Nennung der Interpretationshandlung in wörtlicher oder in metaphorische Rede: Goethe greift auf eine Lehrgedicht-Formel zurück, wenn Faust über den Regenbogen sagt: „Ihm sinne nach"; im Neuen Testament ist die „Weckformel" (Michel 70

„Dem fallt bei Glocken vieles ein./ Der Dichter weiß in's Glockengießen/ Das Looß der Menschheit einzuschließen." (Schlegel 1846, S . 2 1 1 ) .

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1987, S. 114) „Wer Ohren hat, der höre" geläufig.71 (c) Erwähnung der Deutbarkeit einer Stelle in Figurenrede, Erzählerrede oder im Paratext: Im Gespräch über die Legende Vor dem Gesetz in Kafkas Proceß referiert der Geistliche eine Auslegung, wonach der Türhüter „über das Aussehn und die Bedeutung des Innern" des Gesetzes „nichts weiß und sich darüber in Täuschung befindet" (1990, S. 299). Diese Formulierung kann von Rezipienten so verstanden werden, dass sie selbst über die Bedeutung des Inneren und die mögliche Täuschung der Figuren nachdenken sollen. Leseanweisungen dieser Art sind nur qua Interpretation zu haben: Der Leser kann die Kafka-Stelle ebenso gut als Hinweis darauf deuten, dass er über die Bedeutung nichts erfahren kann und sich bei einer Interpretation notwendig täuschen würde.72 (2)

Strukturelle Eigenschaften

Interpreten können auch strukturelle Phänomene als Indizien dafür nehmen, dass eine Zuschreibung von Zweitbedeutungen angemessen oder sogar erforderlich ist. Eco schreibt: „Sowohl das Symbol als auch die Allegorie werden [...] von einem Gefühl der Wortverschwendung signalisiert, von dem Verdacht, daß es pragmatisch ,unökonomisch' ist, so viel Textenergie aufzuwenden, um bloß dieses zu sagen" (1985, S.237). Als eine solche Energieverschwendung kann (a) eine besonders starke Integration eines Zeichens in den Textzusammenhang oder im Gegenteil (b) eine besonders starke Profilierung einzelner oder mehrerer Zeichen gegenüber dem Textzusammenhang verstanden werden: (a) Gerhard Kurz schreibt, dass durch „die Wiederholung und die Antithese?" sowie durch die „parallele Anordnung" von Zeichen „traditionell symbolische Deutungen provoziert werden" (1993, S.77ff.). Wird beispielsweise ein Zeichen auffallig häufig wiederholt, taucht ein Ding, ein Lebewesen, eine Handlung, eine Eigenschaft oder dergleichen in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder auf, so kann allein dies als Hinweis auf symbolische Bedeutung verstanden werden. Das Ding-Sym71 72

Mt 11,15; Mk 4,23; Lk 14,35; Apk 2,7 u.ö. Die inhaltliche Explikation oder Andeutung einer Zweitbedeutung kann an verschiedenen Orten eines Textes geschehen, beispielsweise - wie in Fausts Monolog - auf der Ebene der Figurenrede, auf der Ebene des Erzähler-Rede bzw. des lyrischen Ichs oder in Paratexten (vgl. Genette 1989) wie einem Titel oder einem Motto. Arthur Schnitzlers Erzählung Geschichte eines Genies (1961, S.959ff.) beschreibt das Leben eines Schmetterlings; der Titel gibt also den thematischen Kontext der zuschreibbaren Zweitbedeutungen vor. Der Schlachthof-Beschreibung im vierten Buch von Döblins Roman Berlin Alexanderplatz ist mit ähnlicher Funktion das Bibelzitat als Motto vorangestellt: „Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh; wie dies stirbt, so stirbt er auch" (Döblin 1961, S. 145; Prediger Salomo 3, 19).

103 bol der Novelle ist hierfür ein Beispiel. Auch die strukturanaloge Gestaltung zweier Sujets desselben Textes - etwa eines Naturereignisses und eines sozialen Handlungszusammenhangs - kann zu dem Eindruck fuhren, die Elemente beider Sujets ließen sich sowohl auf den einen als auch auf den anderen Zusammenhang, sowohl auf Natur als auch auf Gesellschaft beziehen (ebd., S. 78).73 (b) Als ein Indiz für Zweitbedeutung können Rezipienten auch die „Inkongruenz von formaler Profilierung und Eigenbedeutung" von Zeichen verstehen (ebd. S. 78), also eine deutliche Akzentuierung formaler, stilistischer, narrativer Art bei gleichzeitiger schwacher struktureller Integration in den Textzusammenhang. Dazu gehören die „Angabe und Betonung von Ereignissen und Situationen, die nicht durch die Handlung motiviert sind" (ebd.) Nach Eco (1985, S.231) erschienen im symbolischen Modus „Ereignisse, Gesten, Dinge plötzlich als merkwürdige, unerklärliche, zudringliche Zeugnisse innerhalb eines Kontextes, der zu schwach ist, um ihre Anwesenheit zu rechtfertigen. So enthüllen sie, daß sie da sind, um etwas anderes zu enthüllen, und am Leser ist es zu entscheiden, was das ist". Ähnlich beschreibt Empson (1991, S. 176) einen Typus von Mehrdeutigkeit, der die Zuschreibung anderer Bedeutungen provoziert: „by tautology, by contradiction, or by irrelevant statements" sei der Leser „forced to invent statements of his own". Eine derartige Inkongruenz kann von den Rezipienten stärker als eine Unterdeterminiertheit des Zeichenzusammenhangs oder stärker als eine Überdeterminiertheit der einzelnen Zeichen wahrgenommen werden. In unserem Eingangs-Beispiel zu Beginn von Kapitel 1.2 nehmen die Interpreten A und C am dem Gedicht Stopping by Woods von Frost den adversativen Zusammenhang zwischen der Schönheit des Waldes und den zu haltenden Versprechungen als unterdeterminiert wahr. Sie substituieren die fehlende Bestimmung mit dem unterstellten Wunsch des lyrischen Ichs, fur immer im Wald zu bleiben - sie setzen die Zweitbedeutung „sterben" ein.74 Eine andere Stelle desselben Gedichts könnte als überdeterminiert 73

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Die Beziehbarkeit eines Zeichens auf zwei unterschiedliche Bedeutungsebenen gehört zum ersten der von William Empson (1991, S. 1-47) beschriebenen Seven Types of Ambiguity. Mit Empson lässt sich der Eindruck der Überdeterminiertheit eines einzelnen Zeichens unterschiedlich erklären: dadurch, dass „two or more meanings are resolved into one" (1991, S.48), dass „two ideas, which are connected only by being both relevant in the context, [are] given in one word simultaneously" (S. 102), dass „two or more meanings of a statement do not agree among themselves, but combine to make clear a more complicated state of mind in the author" (S. 133) oder dass „the two meanings of the word, the two values of the ambiguity, are the two opposite meanings defined by the context, so that the total effect is to show a fundamental division in the writer's mind" (S. 192). Der Unterschied zwischen diesen vier Typen von Mehrdeutigkeit hängt ab von der

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wahrgenommen werden, weil dort eine Information nicht unmittelbar relevant ist für den syntagmatischen Zusammenhang der Erstbedeutungen. Es ist die Aussage über den Wohnort des Waldeigentümers: „His house is in the village". Ein Interpret könnte diese Überdetermination mit der Zuschreibung einer Zweitbedeutung zu erklären versuchen: Mit dem Eigentümer sei Gott, der Herr über Tod und Leben, gemeint, und erst bei diesem Verständnis werde die Information, dass sein Haus, nämlich die Kirche, im Dorf steht, bedeutsam. (3)

Kontext-Eigenschaften

Interpreten können der Auffassung sein, dass ein Text, dem sie keinerlei strukturelle oder inhaltliche Hinweise auf die Existenz übertragener Bedeutungen entnehmen können, gleichwohl auf die Zuschreibung von Zweitbedeutungen drängt, und zwar aufgrund eines bestimmten Kontextes, in dem er stehe. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn ein Interpret davon überzeugt ist, dass ein Autor, unter den Bedingungen eines zugeschriebenen Entstehungskontextes, ein bestimmtes Thema behandelt haben muss, welches sich jedoch auf der Ebene der Erstbedeutungen nicht auffinden lässt.75 Dem Text werden dann z.B. biographische Bezüge auf unterschwellig bedeutsame Erfahrungen oder intertextuelle Bezüge auf thematisch ganz anders gelagerte Texte zugeschrieben. 76 Bekannt ist die Unterstellung kontextueller Hinweise auf eine Schicht von Zweitbedeutungen vor allem aus der Religionsgeschichte: Die christliche Exegese las das Alte Testament beharrlich in der Erwartung, es stimme mit der doctina Christiana des Neuen Testaments überein. 77 Gemessen an dieser Erwartung erschienen zahlreiche Passagen wie z.B. das Hohelied Salomos auf der wörtlichen Ebene als banal oder anstößig, so dass ihnen - trotz struktureller und inhaltlicher Verständlichkeit auf der

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Schärfe des im Zeichen erkennbaren Bedeutungsgegensatzes (S. 102) und von der Frage, ob der Gegensatz im Bewusstsein des Autors aufgelöst, unaufgelöst oder vollkommen disparat ist (S. 194). Vladimir Nabokovs Roman Pale Fire, eine Pathographie der Über- und Feh]interpretation, besteht aus einem stark autobiographischen Gedicht eines fiktiven Lyrikers namens Shade und einem darauf bezogenen voluminösen Zeilenkommentar, den Shades wahnsinniger Nachbar Kinbote in dem Glauben verfasst, das Gedicht enthalte unterschwellig seine, Kinbotes, Lebensgeschichte. Der Kommentator fuhrt als Beleg für die vermeintlichen Zweitbedeutungen den Entstehungskontext an: Shades Ehefrau habe, quasi als Zensurinstanz, den Lyriker daran gehindert, das Leben des Freundes (zu dem Kinbote sich stilisiert) direkt darzustellen. Zur interpretatorischen Kontextualisierung und zum Verhältnis von Kontextualität und Intertextualität vgl. u. Kap. 1.4.3, Pkt. 2. Paradigmatisch ist Augustinus' Schrift De doctina Christiana·, vgl. insbes. Kapitel XVff.

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Ebene der historischen Erstbedeutungen - weitere Bedeutungen im (mehrfachen) Sinn der erwarteten Lehre zugeschrieben wurden. Der unterstellte Kontext ist häufig ein generischer. Mit einigen Gattungen ist die Zuschreibung von Zweitbedeutungen konventionell fest verbunden. Am deutlichsten ist dies der Fall, wenn eine Gattungsbezeichnung wie „Parabel" oder „Gleichnis" bereits den Hinweis auf die Doppeldeutigkeit in sich trägt. In anderen Fällen ist die Doppel-Lektüre fast obligatorisch an eine Gattung gebunden: Von einer Novelle erwartet man mindestens ein zentrales Symbol, das über den „pragmatischen" (G. Kurz) Zusammenhang der Handlungsmotivation und -logik hinaus weist auf eine Sphäre allgemeiner Bedeutung; von einem Lehrstück erwartet man, dass die Lehre (noch) andere als die dargestellten Zusammenhänge betreffen soll. Bei vielen Genres, vor allem lyrischen, halten literarisch gebildete Leser eine figurative Rede für sehr wahrscheinlich angemessen (vgl. Svensson 1985), bei anderen Genres zumindest für möglich (eine Satire kann sich vordergründig auf einen anderen als den gemeinten Gegenstand beziehen). Dabei ist zu bedenken, dass die Bedeutungs-Konventionen, die mit einer generischen Textreihe verbunden sind, von dem einzelnen Text nicht zwangsläufig erfüllt werden: Generische Reihen folgen dem Prinzip Wittgensteinscher „Familienähnlichkeit" (vgl. Strube 1993, S. 21 ff.), und daher kann es sein, dass dem Text, mit dem man es jeweils zu tun hat, das erwartete Merkmal .allegorische Bedeutung' objektiv nicht zukommt. Oder, um es weniger naturwüchsig als mit der WittgensteinMetapher zu bestimmen: Der einzelne Text verhält sich immer selektiv und manchmal innovativ zu dem hochkomplexen Konventionen-Bündel einer Gattung. Das gilt allemal für historische Unterschiede: Wer von einem Gryphius-Sonett ähnliche Sprachfiguren erwartet wie von einem Goethe-Sonett, sollte der generischen Kontextualisierung eine historische hinzufügen. Kurzum: Wenn Interpreten auf ein Gattungssignal mit unverzüglicher Symbolbildung reagieren, können sie noch etwas dazulernen.

1.3.3 Bedingungen im interpretierenden Subjekt (1)

Kenntnisse und Interessen

Die Wissensstrukturen eines Rezipienten sind entscheidende Bedingungen seines Interpretationshandelns. Das gilt zunächst für das Wissen über literarische Texte und andere künstlerische Dokumente. Das diesbezügliche Wissen ist die Voraussetzung für die Wirkung der im vorigen Ab-

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schnitt aufgelisteten Eigenschaften des Gegenstands: Ein Text kann noch so sehr auf die Zuschreibung von Zweitbedeutungen „drängen" (Link/ Parr 1993, S. 71) - ein Rezipient, der von solchem Drängen noch nichts gehört hat, nimmt es nicht wahr. Mithin können alle Ausführungen des vorigen Punktes hier wiederholt werden, nämlich unter dem Vorzeichen „Kenntnisse des Rezipienten". Ob jemand einem Text Zweitbedeutungen zuschreibt, ist von früheren Rezeptionserfahrungen zwar bedingt, jedoch nicht in einseitiger Form: Die Rezeption eines neuen Textes bringt möglicherweise das vorhandene Wissen in eine neue Ordnung und verändert die Rezeptionsbedingungen selbst. Wer zum ersten Mal eine surreale Erzählung liest, etwa von Kafka, geht möglicherweise zunächst davon aus, dass sein bisheriges Medienwissen ihm nicht hilft. Es kann jedoch sein, dass er Surreales bereits aus dem Bereich der Malerei kennt und dass es ihm gelingt, dieses vorhandene Wissen zu aktualisieren und auf den neuen Bereich zu übertragen (vielleicht mit Hilfe eines Steuerungsimpulses im Unterricht: „Stellen Sie bildlich vor, was hier beschrieben wird. Kennen Sie ähnliche Bilder"). Mit anderen Worten: Die Rezeptionsbedingung Fiktionswissen determiniert das Handeln nicht, sondern ihre konkrete Aktualisierung wird vom Handeln selbst selektiv mitbestimmt; das Bedingte bedingt das Bedingende zum Teil. Das gilt auch für die weiteren persönlichen Handlungsbedingungen. Nicht nur das literarisch-ästhetische Vorwissen, sondern auch das übrige Weltwissen, das bei der Zuschreibung übertragener Bedeutung aktiviert wird (vgl. o. Kap. 1.1.2, Pkt. 1), hat in seiner Strukturiertheit und in seiner Bedeutsamkeit für das Subjekt entscheidenden Einfluss auf das Interpretationshandeln. Es ist eine Mitbedingung sowohl für die Auswahl von Erstbedeutungen, denen eine Zweitbedeutung zugeschrieben werden soll, als auch für die Wahl der Kontexte, aus denen die Zweitbedeutungen stammen. Dies wird von Unterrichtenden normalerweise bei der Textauswahl und bei der Reflexion auf mögliche Verstehenshorizonte berücksichtigt. Inhaltliche Interessen spielen auch in der akademischen literarischen Sozialisation und bei der Gegenstands- und Kontextwahl wissenschaftlicher Interpretationen eine entscheidende Rolle. Freilich sind Interpretationsprozesse nicht einseitig durch persönliche inhaltliche Interessen bedingt, sondern umgekehrt können Interessen durch die Interpretation geweckt oder verändert werden. Bedeutungszuschreibungen, die man bei der Untersuchung von Unterricht auf persönliche thematische Interessen zurückzuführen geneigt ist, können ebenso gut an Ort und Stelle neu entstanden sein oder durch das Einwirken des zufällig ,passenden' Unterrichtsgegenstands eine Art Befreiung erfahren haben aus einer lebensgeschichtlichen Verschüttung oder Latenz.

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Rezeptions- und Erkenntnisgewohnheiten

Die Bedingungen, die mit der Textvermittlung und -rezeption sowie mit dem Medium und dem Genre der Interpretation gegeben sind (s.o. 1.3.1, Pkt. 1 u. 2), stehen in Zusammenhang mit den Erfahrungen, die die einzelnen Interpreten in dieser Hinsicht bereits gesammelt haben. Das Zuhören, Sprechen, Schreiben, szenische Agieren im Unterricht kann nur insofern bedingend für die Interpretation sein, als solche Handlungen schon eingeübt sind. Eine tief in die literarische Sozialisation zurückreichende Gewöhnung an bestimmte Rezeptionsweisen wie genaues Zuhören, lektürebegleitende Ausbildung von Vorstellungen und Phantasien, ausdauerndes Lesen von Büchern usw. begünstigt die Bereitschaft zu einer intensiven Beschäftigung mit Bedeutungen (vgl. Wieler 1997). Entsprechendes gilt fur die Gewöhnung an Rezeptionstechniken während der schulischen Lesesozialisation. Freilich verfügt jeder Einzelne über höchst unterschiedliche Rezeptionsgewohnheiten, so dass die Gegebenheiten der aktuellen Handlungssituation wiederum eine aktivierende, selektierende und verändernde Wirkung haben. Rezeptionsgewohnheiten werden erst durch die selektive Kraft der von ihnen bedingten Interpretationshandlungen zu deren Bedingung. Zu bedenken ist weiterhin, dass in Zusammenhängen sowohl der schulischen als auch der wissenschaftlichen Interpretation nicht allein die Gewohnheiten der Literatur- und Medienrezeption aktiviert werden, sondern auch Erkenntnisgewohnheiten, die in anderen Fächern und auf anderen Gebieten erworben wurden bzw. aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen geläufig sind. Beispielsweise kommt es vor, dass Schüler meinen, man müsse bei der literarischen Interpretation ähnlich wie im Physikunterricht nach einer passenden Formel suchen, mit deren Hilfe sich ein Text erschließen und eine Interpretationsaufgabe lösen lässt. Auch in der Literaturwissenschaft gibt es Interpretationspraktiken, die auf die Arbeitsweise anderer, insbesondere hypothetisch-deduktiver Disziplinen zurückgreifen. Es kann also durchaus sein, dass Schüler, Studierende oder Wissenschaftler ihre fachspezifischen Rezeptionsgewohnheiten bei der literarischen Interpretation gezielt deaktivieren und andere Erkenntnisweisen an deren Stelle setzen - dies kann dem Gelingen von Interpretationen zu- oder abträglich sein. Nicht nur die Gewohnheiten der literarästhetischen Rezeption, sondern überhaupt die Erkenntnisgewohnheiten einer Person bedingen ihr Interpretationshandeln. Heiner Willenberg (1993, S.46ff.), spricht von unterschiedlichen „Lernpräferenzen". Er bündelt diese Präferenzen zu einer Rezipienten-Typologie, die hier in einer etwas abweichenden Ordnung referiert werden soll. Hinsichtlich der mentalen Verarbeitung von

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Texten kann unterscheiden werden zwischen (a) emotionalen, (b) bebildernden und (c) Wissen aktivierenden Rezipienten. Die „Emotionalen" empfinden in erster Linie die in Texten dargestellten Gefühle nach oder sind sensibel für die emotionale Wirkung einer Schreibweise. Die „Bebilderer" malen sich die in der Literatur dargestellten inneren oder äußeren Welten plastisch aus, aktivieren also primär ihre Vorstellung. Die „Wissenserwerber" aktivieren primär ihre Sachkenntnisse über die Welten, auf die ein Text referiert, sowie ihr Sprach- und Medien- bzw. Literaturwissen. Hinsichtlich der Wissens-Schemata, in die ein Text eingeordnet wird, lassen sich (d) die subjektiven und (e) die - bei Willenberg nicht genannten - objektiven Rezipienten unterscheiden: Die „Subjektiven" beziehen den Text stark auf sich selbst und die eigene Lebenswelt; die ,Objektiven' versuchen die Welt, auf die der Text referiert, als eine fremde, von ihrer eigenen Welt unterschiedene zu verstehen. Schließlich kann hinsichtlich der (interpretatorischen) Bearbeitung von Texten unterschieden werden zwischen (f) analytischen, (g) verknüpfenden und (h) den Text transformierenden (Willenberg sagt: aktionistischen) Rezipienten. Die „Analytiker" konzentrieren sich auf die Bedeutung einzelner Textstellen und den logischen Zusammenhang von Stellen; die „Verknüpfer" verbinden und vergleichen weit entfernte Textstellen miteinander; die „Aktionisten" sprechen und schreiben weder analytisch noch synthetisch über den Text, sondern verändern ihn eigenständig in Gesprächen, Rollenspielen, selbst geschriebenen Texten usw.78 Zweifellos lassen sich Korrelationen zwischen diesen Interpretationspräferenzen und verschiedenen Handlungsaspekten der Interpretation postulieren, etwa der Selektion von Textelementen, dem mentalen Status einer Bedeutungszuschreibung und der illokutionären Handlung. Auch bestimmten literaturwissenschaftlichen Interpretationskonventionen lassen sich einige der Präferenzen zuordnen, wenn z.B. bestimmte Autoren vor allem detaillierte Textanalysen, andere hingegen synthetische Textdeutungen und wiederum andere die Zuordnung von Texten zu Epochen-, Gattungs-, Stilbegriffen usw. präferieren. Auch unterschiedliche Grade subjektiver Einordnung von Texten gibt es in der Wissenschaft. Willenbergs Typologie erweist sich über das Feld des Unterrichts hinaus als erschließend. Handelte es sich bei den Präferenzen allerdings um Bedingungen, die fest an das jeweilige Persönlichkeitssystem gebunden sind, so ließe sich 78

Die drei Kategorien Text-Verarbeitung, -Einordnung und -Bearbeitung sind unsere Hinzufiigung. Sie ermöglichen es, Interpreten nicht jeweils nur einem einzelnen Typus zuzurechnen. Häufig sind „emotionale" zugleich „subjektive" und „verknüpfende" Rezipienten, „Wissen aktivierende" zugleich „objektive" und „analytische".

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postulieren, dass Schüler mit Präferenzen für Formales in einem inhaltlich orientierten Literaturunterricht unzufrieden sein müssten und umgekehrt, woraus dann wiederum fast kategorisch die Forderung der „Aufgabendifferenzierung nach Lernpräferenzen" (Willenberg 1993, S. 53) abzuleiten wäre. Weiterhin müsste man in diesem Fall davon ausgehen, dass sich Studierende, spätestens aber literaturwissenschaftliche Doktoranden einer Schule anschließen, die ihrer persönlichen Präferenz entspricht. Die alltägliche Erfahrung zeigt jedoch, dass Schüler und Studierende unter variierenden Handlungsbedingungen unterschiedliche Interessen zeigen und ausprägen; und kaum ein Literaturwissenschaftler wird - unabhängig von Gegenstand, Textsorte, Forum und Zielgruppe immer derselben Interpretationspräferenz folgen. Mit anderen Worten: Bei dem Versuch, die Präferenzen als Bedingungen zu bestimmen, die mit der jeweiligen Persönlichkeit fest gegeben sind, stößt man wiederum auf den Umstand, dass die Handlungsweisen der aktuellen Situation ihrerseits eine selektive Wirkung auf die niemals vollkommen einseitigen und eindeutig fixierten Lern- und Erkenntnispräferenzen haben. Anders könnten sich solche Präferenzen, wie persönliche Handlungsbedingungen überhaupt, nicht wandeln.

1.4

Interpretationskritik. Erläuterungen zu ihrer Geltungsbasis

Interpretatorische Sprechakte des Behauptens, Erklärens und Erörterns lassen sich kritisch an dem unweigerlich in ihnen enthaltenen Wahrheitsanspruch messen. Diese oben (Kap. 1.2) dargelegte Auffassung bedarf einer Begründung, denn der Wahrheitsbegriff ist in Zusammenhängen der Interpretation im Allgemeinen und der Literaturinterpretation im Besonderen höchst umstritten. Theoretiker unterschiedlicher Provenienz sind der Überzeugung, jegliches Interpretieren sei von relativen Konventionen der Bedeutungszuschreibung abhängig, die in einer jeweiligen Epoche, einer jeweiligen Interpretengemeinschaft gelten, und mithin lasse das Interpretieren sich allein unter dem Aspekt der normativen Richtigkeit beurteilen. Aus dieser Überzeugung wird von manchen die Forderung abgeleitet, die Literaturwissenschaft solle sich auf Operationen der Beschreibung und Analyse von Texten und Kontexten beschränken, da das Interpretieren als ein nicht wahrheitsfahiges Handeln außerhalb der Zuständigkeit von Wissenschaft liege (so Freundlieb 1992, S. 35f.). Von anderen wird die radikalere Schlussfolgerung gezogen, man solle bei der Untersuchung von Literatur den Geltungsanspruch konstati-

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ver Wahrheit überhaupt aufgeben, da jede Aussage über literarische Gegenstände interpretierend und mithin restlos konventionell geprägt sei auch das bloße Beschreiben und Analysieren. Stanley Fish meint, dass allein schon die Bezeichnung eines Textes als „literarisch" eine Interpretation ist, die nicht in der Sache, sondern allein in den jeweils geltenden Konventionen ihr Fundament hat. Die Interpretation generiere das Literarische, das sie ihrem Gegenstand unterstellt: „Interpreters do not decode poems; they make them" (1980, S. 327). Im Unterschied zu den genannten Positionen liegt unserer theoretischen Erörterung und den nachfolgenden Analysen die Auffassung zugrunde, dass die Interpretation eine zentrale Operation literaturwissenschaftlicher Erkenntnis ist und dass interpretatorische Äußerungen - wie alle Manifestationen wissenschaftlicher Erkenntnis - auf ihre Wahrheit oder Unwahrheit hin geprüft werden können. Warum das so ist und nach welchen Kriterien eine Wahrheitsprüfung erfolgen kann, soll in drei Schritten aufgezeigt werden. Zunächst wird die radikale Position eines interpretationstheoretischen Relativismus und Konventionalismus einer immanenten Kritik unterzogen: Die einschlägigen Untersuchungen, die den Interpretations-Relativismus begründen sollen, enthalten selbst interpretatorische Operationen, in denen die Autoren nolens volens den Geltungsanspruch der Wahrheit erheben (1.4.1). Der scheinbare Widerspruch, dass jedes Interpretieren konventionsabhängig ist und zugleich doch mit dem Geltungsanspruch der Wahrheit erfolgt, wurde bereits in allgemeinen Theorien der Interpretation erörtert und aufgelöst (1.4.2). Der im Rekurs auf diese Theorien begründete Wahrheitsanspruch literaturwissenschaftlicher Interpretation wird schließlich in vier Kategorien philologischer Erkenntnis konkretisiert und für die Belange der Interpretationskritik handhabbar gemacht (1.4.3).

1.4.1 Kritik der konventionalistischen Interpretationstheorie Um die Behauptung zu erhärten, dass sämtliche Zuschreibungen, die einem literarischen Text gegenüber erfolgen, ausschließlich von Konventionen bedingt sind und deshalb nicht am Gegenstand selbst gemessen werden können, haben unterschiedliche Autoren empirisch nachzuweisen versucht, dass schon die einfachste, fundamentale Zuschreibung, die Zuschreibung von Literarizität, auf keinerlei Gegenstandseigenschaften sich stützen lässt. Die Unterschiede zwischen einem poetischen und einem nichtpoetischen Text, so behauptet Fish, seien „a result of different interpretive operations we perform and not of something inherent in one or the other [text; T.Z.]" (1980, S. 330). Die „interpretive strategies",

Ill

mit denen die Rezipienten bei der Lektüre Literarizität herstellen, seien ausschließlich „social and conventional" (ebd., S. 331). Auch Petra Hoffstaedter kommt in ihrer Untersuchung Poetizität aus der Sicht des Lesers zu dem Ergebnis, „Poetizität" sei eine „Eigenschaft von Textverarbeitungsprozessen", nicht von Texten (1986, S.44). Dietrich Meutsch stellt in seiner Studie Literatur verstehen (1987, S. 160) gleichfalls fest, dass sich „sogenannte Literarizitätsmerkmale als Resultate spezifischer Verstehensprozesse explizieren" lassen. Und Rolf A. Zwaan schließlich behaupet in seiner Studie Aspects of literary Comprehension, dass die Entscheidung, ob wir einen Text als einen literarischen oder als einen nichtliterarischen verstehen, nicht von unserer Wahrnehmung des Textes (Bottom-up-Prozess) abhängt, sondern davon, ob wir einen literarischen oder einen nichtliterarischen Text erwarten und deshalb die entsprechende sozial präformierte Verarbeitungsweise aktivieren (Top-down-Prozess). Laut Zwaan (1992, S. 31 f.) gibt es im Gehirn konkurrierende Textverarbeitungsstrategien, über deren Aktivierung bzw. Deaktivierung übergeordnete „Kontrollsysteme" wachen. Bei der Erwartung eines literarischen Textes trete das „literary control system" in Kraft und filtere sämtliche Verarbeitungsstrategien aus, die nicht zur literarischen Rezeption passen.79 Wir wollen dieses einheitliche Ergebnis in einer exemplarischen Revision der Studien von Fish und Zwaan überprüfen. Fishs bereits 1971 durchgeführtes Experiment war spontan und ungeplant. In der Rolle des Hochschuldozenten hatte er auf der Tafel eines Seminarraums die Namen mehrerer Linguisten aufgelistet, die zu dem Thema einer sprachwissenschaftlichen Sitzung publiziert hatten. Fish ließ die Namen nach Beendigung des Seminars an der Tafel stehen, umrahmte sie, schrieb über den Rahmen „p. 43" und präsentierte sie dem ahnungslosen Folgeseminar - einer Gruppe von Studierenden, die mit religiöser Dichtung des 17. Jahrhunderts vertraut waren - als ein religiöses Gedicht und forderte das Seminar zur Interpretation auf. Da einige Namen religiöse Assoziationen zuließen (Jacobs-Rosenbaum, Thorne), gelang es den Probanden mühelos, eine komplexe Interpretation der Liste als religiöses Gedicht anzustellen. Fish kommentiert: „As soon as my students were aware that it was poetry they where seeing, they began to look with poetry-seeing eyes" (1980, S.326). Sie aktivierten ihr Regelwissen über Gedichte, beispielsweise die Konvention, „that poems are (or are supposed to be) more densely and intricately organized than ordinary communications". Daher achteten sie auf Beziehungen zwischen den Wörtern, auf Alliterationen und ähnliche Figuren. Weiterhin suchten die Interpreten „the poem's central insight", wobei sie auch auf „latent 79

Von weiteren Experimenten dieser Art berichtet Viehoff 1988.

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ambiguities" achteten, auf „meanings that subvert, or exist in a tension with the meanings that first present themselves" (ebd., S. 327). Diese literarische Verarbeitungsweise kommentiert Fish wie folgt: „It is not that the presence of poetic qualities compels a certain kind of attention, but that the paying of certain kind of attention results in the emergence of poetic qualities" (ebd., S. 326). Auch wenn die nachfolgenden Untersuchungen Fishs Experiment für beispielhaft erklärten (vgl. Zwaan 1992, S. 9), gelangten sie doch zu differenzierteren Ergebnissen. Von allen Studien, in denen Versuchspersonen nichtliterarische Texte als literarische vorgelegt wurden, ist die Untersuchung Zwaans die gründlichste und umfassendste; sie greift die früheren Ergebnisse auf und geht darüber hinaus. Zwaan präsentiert einer Gruppe von Probanden journalistische Texte mit den originalen Zeitungsüberschriften als journalistische Texte; einer Vergleichsgruppe präsentiert er dieselben Texte als poetische, wobei er die Zeitungsüberschriften durch literarische Titel ersetzt: Ein Bericht über einen Papstbesuch heißt im Original „I'd like to see the Pope, but I won't go this Time"; fur die literarische Lesergruppe wird der Text umbenannt in „The Representative" (ebd., S. 189). In verschiedenartigen Versuchen und Befragungen stellt Zwaan fest, dass die Leser mit Literatur-Erwartung wesentlich langsamer lesen als jene mit Zeitungs-Erwartung und dass sie die „Textoberfläche", den Wortlaut, besser in Erinnerung behalten. 80 Leser mit literarischer Erwartung bauen in geringerem Maße Situationsmodelle auf, fragen also weniger nach einer realen Situation, auf die sich der Text beziehen könnte. Stattdessen interessieren sich Literatur-Leser stärker als Nachrichten-Leser für die Disposition des Verfassers. Literatur-Leser stellen weniger Verknüpfungen zwischen den einzelnen Propositionen her, sie erwarten also in geringerem Maße wahre, zusammenhängende und widerspruchsfreie Aussagen über die Wirklichkeit. Ihre Kohärenzerwartungen richten sich mithin nicht auf die referentielle Leistung des Textes, wohl aber auf dessen thematische Einheitlichkeit (ebd., S. 148-155). 80

Dieser Befund könnte auf die Experimentsituation selbst zurückzufuhren sein. Die Probanden könnten überrascht gewesen sein, einen offenbar journalistisch geschriebenen Text als poetischen präsentiert zu bekommen, und einige Zeit darauf verwandt haben, poetische Qualitäten zu entdecken. Weiterhin könnte die Forderung, über das eigene Verstehen eines „literarischen" Textes im Rahmen eines wissenschaftlichen Versuchs Auskunft zu geben, die Probanden an den Literaturunterricht erinnert haben, zu dessen Maximen es zählt, Texte intensiv zu lesen, wogegen es bei der schulischen Lektüre von Sachtexten auf das zügige Erfassen des propositionalen Gehalts ankommt. Das von Zwaan für allgemein gehaltene „Kontrollsystem" literarischer Textverarbeitung könnte das spezielle Kontrollsystem des Literaturschülers sein, der für gründliche Lektüre belohnt wird.

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Beide Untersuchungen, die unsystematische von Fish und die systematische von Zwaan, können in folgenden Punkten kritisiert werden: (a) Ungeprüfte Hauptprämisse. Die Annahme, die Gattungszuschreibung „literarisch" vs. „nichtliterarisch" resultiere nicht aus der Wahrnehmung von Texteigenschaften, sondern aus dem aktivierten Textverarbeitungsmuster, wird in den Untersuchungen nicht als Hypothese überprüft, sondern auf eine unfalsifizierbare Weise vorausgesetzt. Die Probanden werden in die eindeutige Lage versetzt, entweder ein literarisches oder ein nicht-literarisches Verstehensmuster zu aktivieren. Selbst wenn es ihnen nicht gelänge, den als literarisch ausgegebenen Text als einen literarischen zu verstehen, 81 ließen sich doch in ihren Verstehensversuchen immer die Mechanismen des literarischen Verstehens ausfindig machen. Die Möglichkeit, den Text anders zu lesen, wird durch das Experiment systematisch verstellt. Nur wenn den Probanden ein Text ohne jede Textsortenfestlegung präsentiert würde, ließe sich die Gegenhypothese prüfen, dass Texteigenschaften doch einen Einfluss auf die Aktivierung des Textsortenwissens und auf die entsprechende Textverarbeitung haben. Erst die Falsifikation dieser Gegenannahme würde die Behauptung rechtfertigen, die Konventionen, nicht die Texteigenschaften bedingten das aktivierte Verstehensschema. In allen Experimenten, die mit Textsortenangaben arbeiten, wird der Nachweis dieser Behauptung man muss es so deutlich sagen - erschlichen. (b) Abstraktion vom Einfluss des Designs auf die Ergebnisse. Siegfried J. Schmidt, der eine Rahmentheorie für die empirische Rezeptionsforschung aufgestellt hat, bestimmt die vier Untersuchungsfelder sozialer Handlungen im „Literatursystem" als „Produktion, Vermittlung, Rezeption und Verarbeitung" von Texten (1991, S. 167). In den Untersuchungen von Fish, Zwaan und anderen hat der Experimentator die Rolle des Vermittlers: Er behauptet, der Text sei als ein literarischer bzw. nichtliterarischer produziert. Diese Vermittlungshandlung grenzt er aus dem Untersuchungsgegenstand jedoch aus und tut so, als analysiere er eine nicht vermittelte Rezeption. 82 Will man die tatsächliche Vermittlungshandlung der Experimentatoren näher beschreiben, so kann man sie als Täuschung über die außerexperimentelle Vermittlung des Textes (als 81

82

Dies ist in einem Experiment de Beaugrandes geschehen: Probanden vermochten eine in Verse eingeteilte Passage aus einem Biologiebuch in signifikanter Mehrheit nicht als Gedicht zu erkennen (1987; vgl. Zwaan 1992, S. 9) Sie verfallen mithin jener Kritik, die Jauß gegen Heinz Hillmanns (1974) Überlegungen zur Rezeption einer aus dem literarischen Kontext gerissenen Keuner-Geschichte durch Personen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten vorbrachte: „Die Analyse der Rezeption literarischer Werke verdient den Ehrentitel ,empirisch' erst, wenn sie dem Charakter einer ästhetisch vermittelten Erfahrung Rechnung trägt" (Jauß 1975, S. 332).

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Autorenliste, als Zeitungsartikel) bezeichnen. Die Vermittlungshandlung der Experimentatoren lässt sich allerdings auch als ein Akt der Neuproduktion des Textes bestimmen: Unter diesem Gesichtspunkt hat Fish, in der von ihm selbst nicht durchschauten Rolle eines modernen Autors, eine Namensliste durch Umdeklarierung tatsächlich zu einem Gedicht gemacht, so wie Zwaan den Zeitungsartikel tatsächlich in literarische Prosa verwandelt hat. In dieser Sicht wären Fish und Zwaan zugleich Produzenten und Vermittler der als literarisch deklarierten Texte. (c) Behavioristische Handlungstheorie. Fish unterstellt, die Leser hätten den Text automatisch mit „poetry-seeing eyes" wahrgenommen, sobald der Versuchsleiter ihnen die Reize Seitenzahl und Textsorte vorlegte. Auch Zwaan beschreibt die Aktivierung des literarischen oder des nichtliterarischen Kontrollsystems als einen zwangsläufigen Vorgang. Operationen wie Formulierung der zentralen Aussage, Zuschreibung mehrerer Bedeutungen und Belehnung sprachlicher Strukturelemente mit Bedeutung werden - um es in der Terminologie der funktionalen Pragmatik zu formulieren - als verborgene „Handlungsmuster" verstanden, die sämtliche „Einheiten" sowie die „Oberflächenabläufe" des interpretatorischen Handelns „determinieren" (Ehlich/ Rehbein 1986, S. 139). Im Lichte der Handlungstheorie des symbolischen Interaktionismus sind solche Beschreibungen unhaltbar. Handlungserwartungen und Konventionen, denen ein Sprecher folgt, haben in dieser Sicht niemals den determinierenden Status einer Handlungsursache, sondern den Status einer Handlungsorientierung, die der Sprecher in der jeweiligen Situation anerkennt (vgl. Krappmann 1969, S. 32ff.). Fishs Probanden verweigern der vom Dozenten vorgegebenen Definition des Kommunikationsgegenstands die Anerkennung nicht, doch wäre dies jederzeit möglich. Die einer Handlung zugrundeliegende Anerkennung der entsprechenden Konvention ist in dem Maße kontingent, wie auch eine andere Konvention befolgt werden könnte. Der Eindruck kausaler Determiniertheit kann nur dadurch entstehen, dass sich einem Handelnden in einer bestimmten Situation keine Alternative eröffnet. Dass Fishs Literatur-Studenten über keine Verstehens-Alternative verfugt haben könnten und deshalb quasideterminiert gehandelt haben sollten, ist äußerst unwahrscheinlich. Vermutlich haben sie den Auftrag zur religiösen Deutung der Namensliste an ihrem Welt- und Sprachwissen gemessen und mit guten Gründen als ausführbar anerkannt. Sehr wahrscheinlich wussten Sie, dass ihr Professor viele verrückte Texte kennt und dass in der Moderne auch ein Pissoir oder eben eine Namensliste Kunst sein kann.83 Deshalb beteiligten sie

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Ohne eine solche Gewöhnung dürften Versuche dieser Art schwerlich funktionieren. In früheren Jahrhunderten hätten die Teilnehmer die Objektdefinition nicht anerkannt,

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sich, anstatt die Aufgabe für unsinnig zu erklären. Im Zweifelsfall hätten sie prüfen können, ob ihr Wissen auf den vorliegenden Text tatsächlich passt: Ist diese Namensliste wirklich als Kunstwerk entstanden bzw. dazu gemacht werden oder will uns der Dozent nur Glauben machen, sie sei eines? (d) Objektivitäts-Annahmen der Experimentatoren. Während die Experimentatoren an den Versuchspersonen nachweisen wollen, dass Literarizität keine objektive Eigenschaft der Texte ist, sondern eine Konvention, die unsere Textverarbeitung steuert, stellen sie im Modus der wahrheits-orientierten Rede apodiktisch fest, um welche Art Text es sich ursprünglich handelt.84 Fish legt den Lesern seiner Studie zu Beginn dar, dass man es mit einer Liste von Wissenschaftler-Namen zu tun hat, die in einem bestimmten pragmatischen Kontext an die Tafel geschrieben wurde; er berichtet weiterhin, mit welchem Trick er diese Liste als ein Gedicht ausgab und die Studierenden des zweiten Kurses über die ursprüngliche Funktion des „Textes" täuschte. Zwaan weiß sehr genau anzugeben, dass es sich um Zeitungsartikel handelt und nicht um literarische Texte, und er beschreibt die Überschriften-Manipulation, mit der die Probanden über die ursprüngliche Textsorte getäuscht wurden. Die Textsortengewissheit der Experimentatoren steht im Widerspruch zu dem vermeintlichen Untersuchungsresultat, die Textsortenzuschreibung sei nicht vom Gegenstand bedingt.

sondern den Experimentator für verrückt erklärt. Diesem wäre das Experiment auch gar nicht eingefallen, denn er hätte jene künstlerische Richtung, die er mit dem Experiment imitiert, noch nicht gekannt. Ein Prätext von Fishs Versuch ist vermutlich das 11. Kapitel aus Nabokovs Roman Lolila, in dem der Erzähler Humbert Humbert die Namensliste von Lolitas Schulklasse als ein „poem" liest und ausdeutet. - Diese Liste enthält, wie diejenige Fishs, einige Namen, die innerhalb des zugeschriebenen Genres (Liebesgedicht) sprechend sind: Grace Angel, Stella Fantasia, Rosalie Herzfield, Kenneth Knight, Audrey McFatum und natürlich Dolores Haze (1989, S. 82ff.). 84

Ebenso verfahrt Hoffstaedter. Sie bezeichnet „Poetizität als Eigenschaft von Textverarbeitungsprozessen" (1986, S.44) und unternimmt den Versuch, „empirisch zu ermitteln, welche Texteigenschaften von bestimmten Lesergruppen unter bestimmten aktuellen Kontextbedingungen als poetisch empfunden und poetisch verarbeitet werden" (S. 16). Um dies beurteilen zu können, bestimmt Hoffstaedter zunächst die Eigenschaften der präsentierten Texte, und zwar im Rekurs auf zumeist strukturalistische Kategorien wie semantische Äquivalenz und Polyvalenz. Mithin lokalisiert die Experimentatorin vorab im Text, was angeblich erst in der Rezeption erzeugt wird: „Die Bereitschaft, Texte, die keine Äquivalenzen, Abweichungen oder Mehrdeutigkeiten enthalten, poetisch zu lesen, kann durch einen poetischen Kontext signifikant erhöht werden" (ebd., S.204). Die strukturanalytische Aussage, ein Text enthalte keine poetischen Eigenschaften, widerspricht dem vermeintlichen Untersuchungsergebnis, Poetizität sei eine Eigenschaft der Textverarbeitung.

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Allerdings argumentiert Fish, dass auch die ursprüngliche Genrebestimmung (Namensliste) eine reine Zuschreibungshandlung und als solche für spätere Bedeutungszuschreibungen nicht präjudizierend sei (1980, S.328f.). Dieses Argument geht an der entscheidenden Frage vorbei, welche Bedeutung die ursprüngliche Zeichenverwendung nach Auffassung der empirischen Rezipienten hat. Diese könnten nämlich der Meinung sein, dass es unzulässig ist, bei einer Interpretation eines Textes den ersten Verwendungszusammenhang zu missachten. Die Erforschung dieser Frage wird umgangen durch die Setzung einer literaturtheoretischen Überzeugung. Von den am Experiment beteiligten Personen hat nur der Experimentator die Möglichkeit, seine Auffassung in diesem Punkt darzulegen, und seine Auffassung lautet: Der erste Verwendungszusammenhang ist für jede weitere Bedeutungszuschreibung irrelevant. Diese Auffassung verschweigt der Forscher seinen Probanden ebenso wie den ursprünglichen Verwendungszusammenhang der Liste und verhindert so, dass sich abweichende Meinungen bilden. Der zweifellos vorhandene Wert derartiger Studien liegt ausschließlich in der Beschreibung der unterschiedlichen Lektüre- und Interpretationskonventionen, die aktiviert werden, wenn Probanden überzeugt sind, dass ein Text entweder ein literarischer oder ein nicht-literarischer ist. Um dies herauszufinden, bedürfte es freilich der experimentellen Camouflage nicht, Sachtexte oder Namenslisten als Literatur auszugeben. Den behaupteten Nachweis jedoch, dass die Zuschreibung von Literarizität bedingt ist von den aktivierten Interpretationskonventionen und nicht von Texteigenschaften, vermögen die Studien nicht zu leisten. Im Gegenteil: Wenn man die von den Experimentatoren hinzugefugten Textsortensignale als objektive Eigenschaften der manipulierten oder neu geschaffenen Texte versteht, dann sind genau diese Texteigenschaften die Auslöser der jeweils aktivierten Interpretationskonventionen.

1.4.2 Reformulierung des interpretatorischen Wahrheitsanspruchs Der vorige Abschnitt hat gezeigt: Zwar ist jede Interpretation an Konventionen gebunden und erhebt daher den Geltungsanspruch normativer Richtigkeit, doch zugleich ist jede Interpretation an ein Konzept der Gegenstands-Angemessenheit gebunden, das die Konventionalität überschreitet und mit dem Anspruch auf Wahrheitsgeltung einhergeht. Wie lässt sich der Wahrheitsanspruch in Abgrenzung vom Richtigkeitsanspruch genauer bestimmen und für die Interpretationskritik operationalisieren? Eine Antwort hierauf gibt die pragmatische Interpretationsphilosophie, die insbesondere Günter Abel und Hans Lenk entwickelt haben. Es ist die

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Antwort auf die „ K e r n f r a g e " der Interpretationstheorie, „wie die D i f f e r e n z zwischen der N o r m e n - und Wertgebundenheit einerseits und der NichtReduzierbarkeit des Prädikats ,ist w a h r ' auf j e w e i l s gegebene N o r m e n und Werte andererseits zu verstehen ist" (Abel 1993, S. 195). U m diese Kernfrage zu beantworten, reformuliert die Interpretationsphilosophie den Wahrheitsbegriff, indem sie innerhalb einer restlos konventionsgebundenen Weltauslegung Unterscheidungen trifft zwischen E b e n e n konventioneller Verbindlichkeit, nämlich zwischen Interpretationen, die wir nicht aufgeben können, ohne die Grundlagen unserer E r f a h r u n g aufzugeben, und anderen, zur Disposition stehenden Interpretationen. 8 5 Abels Antwort auf die Kernfrage lautet: „Wahrheit kann als ein Interpretationsverhältnis entfaltet w e r d e n " (Ebd.), und z w a r als ein Verhältnis des „Passens", das zwischen den einzelnen, auf bestimmte G e g e n s t ä n d e gerichteten interpretatorischen Aussagen und den grundlegenden, erfahrungskonstitutiven Interpretationen herrscht (S. 519). Wie ist diese Antwort zu verstehen und welche B e d e u t u n g hat sie f ü r unser Problem? Abel unterscheidet drei Ebenen der Interpretation: [...] die ursprünglich-produktiven und sich in den kategorisierenden Zeichenfunktionen selbst manifestierenden konstruktbildenden Komponenten, die in jeder Organisation von Erfahrung bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen sind, [können] „Interpretationen:" genannt werden. Dagegen heißen die durch Gewohnheit verankerten und habituell gewordenen Gleichförmigkeitsmuster „Interpretatione^". Und die aneignenden Deutungen, d.h. die Vorgänge des Beschreibens, Theoriebildens, Erklärens, Begründens oder Rechtfertigens, werden [...] „Interpretationen!" genannt. (S. 14f.)

Unterhalb der ersten Ebene gebe es keine E r f a h r u n g von Wirklichkeit, weil auch unsere „ W a h r n e h m u n g s f o r m e n " i m m e r schon „interpretativ geprägte" seien (Lenk 1993, S. 228). Das bedeute, dass „aus der Interpretation)-Praxis heraus erst formiert wird, welches die Referenten sind, die dann von den Formen des Interpretierens 2 + 3 unterschieden werden können". Und es bedeute weiterhin, dass wir zwar abgeschnitten sind „von der Idee einer objektiven Welt", die „gänzlich unabhängig von den Formen der Interpretativität," bestünde, es bedeute aber nicht, dass „die Rede von Objektivität sinnlos w i r d " (Abel 1993, S. 332f.). D e n n die elementare Weltauslegung erzeuge dasjenige, w a s uns als Objektivität gilt

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Mit ähnlichen Unterscheidungen geht Richard Shusterman (1992, S. 83) über den pragmatistischen Relativismus Richard Rortys hinaus: „Of course, in the sense of logical necessity, everything may be contingent. But some things are clearly more contingent than others, and failure to distinguish between these differing sorts of contingencies simply reflects our bad philosophical habit of absolutist thinking. [..!] For once we really break free of fundamentalist metaphysics, the notion of essential properties (and the distinction between essential and inessential) can be pragmatically reinterpreted and redeemed for use".

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und worauf wir uns in den anderen Interpretationen beziehen. Diese anderen Interpretationen seien zum einen all jene auf der mittleren Ebene angesiedelten Weltauslegungen, deren Richtigkeit uns ganz selbstverständlich ist, die wir aber in Situationen der Verunsicherung daraufhin prüfen können, ob sie mit den konstitutiven Basisinterpretationen vereinbar sind oder nicht. Zum anderen sind es die auf der oberen Ebene angesiedelten Deutungen, die wir zwar (normalerweise) für wahr und richtig halten, die wir aber als unsere Urteile über die Welt zur Disposition stellen und bei deren Äußerung wir immer schon davon ausgehen, dass jemand, der unsere grundlegenden Gewissheiten teilt, doch zu anderen Urteilen gelangen könnte. Die konventionelle Richtigkeit der auf der höchsten Ebene angesiedelten interpretatorischen Urteile kann geprüft werden an den Gewissheiten und Gewohnheiten, die auf der mittleren Ebene angesiedelt sind. Die „Wahrheitsdifferenz" jedoch bestehe zwischen den interpretatorischen Urteilen, die wir über die Welt fällen, und den „Gegenständen", die uns die elementare Weltauslegung überhaupt erst erschließt und die uns nicht nur als selbstverständliche Gewissheiten, sondern als unumstößliche (objektive) Tatsachen erscheinen. Dabei wissen wir, dass es für die Begründung des Wahrheitsanspruchs „kein Letztfundament" und „keine Letztevidenz" gibt, „die selber apriorisch interpretationsfrei" wären und außerkonventionelle Gültigkeit hätten (Lenk 1993, S. 247).86 Trotz der irreduziblen Interpretationsabhängigkeit jeglichen Wissens (und jeglichen Wissens über unser Wissen) widerspräche es unserer alltäglichen Verwendung des Wortes „wahr", wenn man aufgrund dieser Abhängigkeit sagte, ein Urteil über die Wahrheit oder Unwahrheit von Aussagen sei nicht möglich. Jegliches Wahrheitsurteil misst Aussagen nicht an einer außerinterpretatorischen Realität, sondern an konstitutiven Weltauslegungen. Der Interpretationismus reformuliert die „Korrespondenztheorie der Wahrheit" (Lenk 1993, S.263), indem er interpretatorische Aussagen über die Welt daraufhin prüft, ob sie den basalen, nicht zur Disposition stehenden Weltauslegungen entsprechen. Weil diese Korrespondenzen aber ausschließlich innerhalb unserer Interpretationen herrschen (nicht zwischen ihnen und einer Realität außerhalb), ist die so reformulierte Korrespondenztheorie zugleich eine „Kohärenztheorie" (ebd.) der Wahrheit: Als wahr kann eine Aussage über die Welt nur dann gelten, wenn sie den in ihr selbst vorausgesetzten Basisinterpretationen 86

„So kann z.B. etwas, das in früheren Zeiten zum fest-gewordenen und somit feststehenden, quasi analytischen Bestand unseres Interpretationssystems gehört, im Laufe der Zeit seinen Status ändern, d.h. von einem fraglosen und nicht-bezweifelbaren Element zu einem solchen mit hypothetischem, prüfbarem und falsifizierbarem Charakter werden" (Abel 1993, S. 118).

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der Welt nicht widerspricht. Dies ist das von Abel (1993, S. 519) gemeinte Kriterium des „Passens" von konstativen Sätzen zu jenen „Bedingungen empirischer Erfahrung", die ihrerseits Interpretationen auf fundamentaler Ebene sind. Weiterhin setzt der Interpretationismus als Wahrheitskriterium die interne Kohärenz von miteinander verbundenen Sätzen an, die auf der Ebene interpretatorischer Feststellungen angesiedelt sind: Dies ist das Kriterium des „Passens [...] von Sätzen zu anderen und für gültig gehaltenen Sätzen" (ebd.).87 Die hier referierten Bestimmungen sind sehr allgemein. Ihre Exemplifikation wird nicht eben erleichtert durch die konsequente Anwendung der Interpretationsphilosophie auf sich selbst, die zu der Einsicht fuhrt, dass nicht nur jede Einordnung einer empirisch beobachtbaren Weltauslegung in eine der Interpretationsebenen wiederum interpretierend ist, sondern dass sogar die Setzung der drei Ebenen von Interpretation selbst eine ,,heuristisch[e]" Interpretation darstellt (Abel 1993, S. 14), nämlich einen Versuch, differenzierende Schneisen in die empirisch verschlungenen Interpretationswelten zu schlagen. 88 Eingedenk dieser Probleme soll nun die Theorie der Interpretationsebenen an der oben kritisierten Rezeptionsstudie Fishs veranschaulicht werden. Sind dort unterschiedliche Interpretationsebenen erkennbar? Lassen sich die Ebenen so aufeinander beziehen, dass nicht nur der Geltungsanspruch normativer Richtigkeit, sondern auch der Wahrheitsanspruch anerkannt oder zurückgewiesen werden kann? Auf der obersten der von Abel unterschiedenen Ebenen lassen sich alle explizit interpretierenden Äußerungen eintragen, die Fishs Probanden über den ihnen vorgelegen Text formulieren. Also beispielsweise Behauptungen über die Bedeutung (oder die mehrfachen Bedeutungen) einzelner Stellen und ihres Zusammenhangs (z.B. von „Jacobs-Rosenbaum" und „Thorne"), über die zentrale Einsicht des Textes, über die Unterminierung des Sinns durch die abweichende Bedeutung bestimmter 87

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Hinzu kommt ein regulatives Wahrheitskriterium, das Abel von Hilary Putnam übernimmt. Nach Putnam sprechen wir so, als ob es ideale Bedingungen für die Erkenntnis der Wahrheit gäbe, und wir beurteilen die Wahrheit einer Äußerung danach, ob sie sich unter idealen Bedingungen als zutreffend erwiese (vgl. Abel 1993, S. 518). Putnam geht bei diesem Gedanken von den idealen Bedingungen naturwissenschaftlicher Experimente aus. Lenk (1993, S.259ff.) verdoppelt die Zahl der Interpretations-Ebenen, indem er auf der mittleren Ebene zwischen vorbegrifflichen und begrifflichen Gewissheiten und auf der dritten Ebene zwischen einordnenden und begründenden Urteilen differenziert und eine höchste Ebene erkenntnistheoretischer Metainterpretation einfuhrt, auf der auch das Handeln von Interpretationsphilosophen angesiedelt ist. Wir wollen einstweilen versuchen, mit Hilfe von Abels Dreiteilung die Welt der Literaturinterpretation zu interpretieren.

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Stellen. Auf dieser Ebene liegt auch Fishs eigene Interpretation des Textes, die er in dem Aufsatz formuliert: „Jacobs-Rosenbaum", „Thorne" usw. haben die Bedeutung von Nachnamen bestimmter Linguisten; der Zusammenhang dieser Namen hat den Sinn einer Information für Studierende. Hinzu kommt die Interpretation, die Fish selbst gegenüber den Probanden vornimmt, indem er den Text als religiöses Gedicht bezeichnet und indem er durch die Angabe der Seitenzahl 43 behauptet, der Text sei aus einem Buch zitiert. Es ist unmittelbar erkennbar, dass zwischen den beiden Interpretationen Fishs ein Widerspruch besteht, und wir versuchten, diesen Widerspruch durch eigene Interpretationen verständlich zu machen: Hat Fish den Text gegenüber den Probanden wissentlich fehlinterpretiert? Oder wurde der Text, der zuerst eine Namensliste war, später zu einem Gedicht? Oder ist der Text im Moment seiner Präsentation als Gedicht beides zugleich? Oder hatte Fish den Text möglicherweise bereits vor dem Linguistik-Seminar (in der Manier Nabokovs) konstruiert als ein aus sprechenden Namen zusammengesetztes Gedicht, und wäre Fishs Deutung des Textes als informierende Namensliste dann die eigentliche Fehlinterpretation? (In diesem Fall wären die Leser des Aufsatzes die eigentlichen Probanden, an denen sich testen lässt, ob alles, was Wissenschaftler als Experiment beschreiben, auch als Experiment akzeptiert wird). Schließlich gibt es Fishs eigene Interpretation des Widerspruchs. Sie lautet, dass es keinen Widerspruch gibt, weil der Text in jedem Verwendungszusammenhang ein anderer ist: „Interpreters do not decode poems; they make them" (1980, S. 327). Auf der mittleren Ebene lassen sich die tief verankerten Gewissheiten und Denkgewohnheiten eintragen, denen die Interpreten jeweils folgen, wenn sie sich über den Text äußern. Die Experimentatoren sprechen von der Gewissheit der Probanden, dass Gedichte und literarische Prosa sprachlich besonders dicht gestaltet sind, dass in ihnen die Kohärenz des internen Zusammenhangs wichtiger ist als der kohärente Bezug auf externe Referenten, dass sie mehrdeutig sein können, dass sie häufig eine zentrale Einsicht haben, dass ein Wissen um die Entstehungsbedingungen (z.B. den Autor) für das Sinnverstehen wertvoll sein kann (während von nichtliterarischen zeitgenössischen Texten erwartet wird, dass der Sinn auch ohne ein Wissen über die Entstehung verständlich ist). In Fishs Interpretation des Textes als Namensliste zeigt sich die Gewissheit, dass eine solche Liste eindeutig auf Personen referiert und dass die interne Sprachgestaltung dort ohne Relevanz ist. In seiner abweichenden Deutung der Liste als religiöses Gedicht gibt Fish keine eigenen Überzeugungen und Denkgewohnheiten zu erkennen, um nicht jene Gewohnheiten zu beeinflussen, denen die Probanden folgen, wenn sie den Text als Gedicht interpretieren. Allerdings gibt er Gewohnheiten der didaktischen

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Einflussnahme zu erkennen, nämlich die Gewissheit, durch ein bestimmtes Handeln Studierende in eine bestimmte Lesehaltung zu versetzen; und die Probanden zeigen wiederum die Gewohnheit, sich darauf zu verlassen, dass die Impulse des Dozenten dem Bildungsziel ihres Handelns im College dienen. Auf der elementaren Ebene können wir konstitutive, die Gegenstandserfahrung ermöglichende Annahmen eintragen, die im sprachlichen Handeln sowohl der Probanden als auch der Experimentatoren unhintergehbar vorausgesetzt sind. Zunächst gehört hierzu die Annahme, dass Wortbedeutungen abhängig sind von den Welten und Sprachen, in denen die Wörter verwendet werden. Weiterhin die Annahme, dass der Sinn, auf den hin man einen textuellen oder textartigen Zusammenhang von Wörtern befragen kann, abhängig ist von möglichen Situationen der Sprachverwendung innerhalb der angenommenen Welten. Die Probanden und der Experimentator unterstellen in ihren einzelnen Interpretationen, dass Wörter wie „Jacobs-Rosenbaum" und „Thorne" bestimmten lokalisierbaren Codes und Kontexten des Sprechens angehören. Fish geht in der ersten Interpretation von der Existenz einer Sprache bzw. mehrerer Sprachen aus, in der bzw. in denen die fraglichen Nachnamen vorkommen, sowie von der Existenz einer Welt, in der Linguisten so benannt sind. Die Probanden gehen von der Existenz einer Sprache aus, in der Wörter wie „Jacobs-Rosenbaum" existieren oder als Neologismen möglich sind, sowie von der Existenz religiöser Verwendungszusammenhänge, in denen diese Wörter Bedeutung haben. Fish berichtet von der Handlungssituation ,Linguisten-Namen im Seminar auflisten', in der die spezielle Namensverbindung Sinn macht; die Probanden suchen nach einer „central insight" (Fish), d.h. nach einer Situation im religiösen Bewusstsein, in der die lyrische Verknüpfung der Wörter Sinn macht. Die Beteiligten gehen weiterhin davon aus, dass die sprachlichen Ausdrücke auf diese Situation in einem bestimmten Modus verweisen, z.B. im Modus der direkten, wörtlichen Nennung von Linguisten beim Nachnamen oder aber durch indirekte Symbolisierung einer religiösen Aussage. Die Personen gehen schließlich davon aus, dass es jeweils ein Subjekt der Sprachverwendung gibt, nämlich eine Person (oder mehrere Personen), die den Text geschrieben hat (haben). Fishs Deutung im Aufsatz setzt als eine unhintergehbare Basisauffassung die Tatsache voraus, dass es jemanden gab - nämlich ihn selbst - , der die Namensliste ursprünglich verfasste; die Deutung der Studierenden setzt voraus, dass mindestens eine andere Person den Text schon einmal geschrieben hatte, bevor Fish ihn an die Tafel kopierte. Wie ist nun mit Hilfe der getroffenen Differenzierungen eine Überwindung des Relativismus möglich? Nach Abel sollen wir prüfen, ob die

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auf der oberen Ebene erfolgenden interpretatorischen Äußerungen (und die auf der mittleren Ebene befolgten Gewissheiten) „passend" sind zu der auf der elementaren Ebene angesiedelten Erfahrung des Gegenstandes als etwas. Fishs gesamte Darstellung ist unhintergehbar von der Einschätzung geprägt, dass der Text zunächst den objektiven Sinn und Zweck einer Namensliste hatte (es sei denn, er täuscht die Leser des Aufsatzes). Nur unter dieser Voraussetzung machen die Täuschung der Studierenden sowie der Verlauf und das Resultat des Experiments überhaupt einen Sinn. Ginge Fish tatsächlich davon aus, dass der Text im Verlauf des Experiments zu einem Gedicht geworden ist, dann wäre das Ergebnis des Versuchs (dass die Studierenden den Text als Gedicht interpretieren) nicht der Erwähnung wert. Fish geht überdies bei der Täuschung der Probanden davon aus, dass auch deren Interpretieren nur möglich ist, wenn sie einen ursprünglichen Verwendungszusammenhang des Textes unterstellen. Deshalb fingiert er mit mehreren Zeichen (mündliche Angabe des Genres, ikonische Wiedergabe einer Buchseite) die vermeintliche ursprüngliche Verwendung als religiöses Gedicht. Wenn wir Fishs konstante Einschätzung des Textes als Namensliste zugrunde legen, dann sind die vorgenommenen Manipulationen eine gezielt unwahre Interpretation, und die Interpretationen der Probanden wären allesamt Fehlinterpretationen; die befolgte Konvention wäre unangemessen. Wenn wir allerdings davon ausgehen, dass Fish im Moment der Manipulation die Namensliste in ein religiöses Gedicht verwandelte und somit das Genre veränderte, so sind die Interpretationen (hinsichtlich des Genres) keine Fehlinterpretationen, und die Befolgung der Konvention ist dem Gegenstand nicht unangemessen. Unwahr wäre in diesem Fall allerdings Fishs Interpretation des Vorgangs: Nicht, wie behauptet, die Probandengruppe, sondern er selbst hätte das Gedicht „gemacht". Für die Interpretationskritik in Kapitel 2 wollen wir festhalten: Ob die in einem Text enthaltenen Interpretationen im Sinne des reformulierten Wahrheitsbegriffs zueinander passen, lässt sich durch Vergleiche auf und zwischen allen Ebenen der Interpretation prüfen. Im Einzelnen kann man fragen: (a) Stimmen die unterschiedlichen interpretatorischen Operationen miteinander überein? (b) Stimmen die interpretatorischen Operationen mit den tief verankerten Überzeugungen (über den literarischen Gegenstand, über das richtige Interpretieren) überein? (c) Stimmen die unterschiedlichen tief verankerten Überzeugungen miteinander überein? (d) Stimmen die interpretatorischen Operationen mit den konstitutiven, die Erfahrung des Gegenstands ermöglichenden Annahmen überein?

123 (e) Stimmen die tief verankerten Überzeugungen mit den konstitutiven, die Erfahrung des Gegenstands ermöglichenden Annahmen überein? Diese Fragen sollen noch einmal kurz erläutert werden - beginnend mit der letzten. Ein Beispiel für mangelnde Übereinstimmung im Sinne der Frage (e) zeigte sich in den Texten von Fish und Zwaan: Auf einer elementaren, alles weitere Sprechen über den Gegenstand ermöglichenden Ebene unterstellen die Autoren durchgängig die Existenz eines genuinen Genres, einer genuinen Verwendung und genuiner Bedeutungen der fraglichen Texte; auf der Ebene der poetologischen bzw. textwissenschaftlichen Grundüberzeugungen sind die Autoren jedoch der Auffassung, dass es solche genuinen Eigenschaften nicht gibt. Hier führt der Hinweis auf die Relativität aller Konventionen nicht weiter, vielmehr lässt sich der Widerspruch nur im Rekurs auf den Wahrheitsanspruch auflösen: Die Befolgung welcher Konvention fuhrt zu Interpretationen, die den konstitutiven Gegenstandsbestimmungen angemessen sind? Die Prüfung im Sinne der Frage (d) haben wir an unserem Beispiel schon ausführlich demonstriert: Fishs Basisannahme, dass der Text einer ursprünglichen Textsorte (Namensliste) angehört, weist die durch Täuschung provozierten Gedichtinterpretationen der Probanden als unwahr aus; unterstellen wir hingegen, dass der Experimentator die Liste durch seine Eingriffe in ein Gedicht verwandelte, so können die Urteile wahr sein. Mangelnde Übereinstimmung im Sinne der Frage (c) besteht, wenn ein Interpret grundsätzlich davon überzeugt ist, dass - um nun das FishBeispiel zu verlassen - das Weltwissen von Autoren die alleinige Quelle möglicher Textbedeutung ist,89 zugleich jedoch annimmt, dass der ,Geist' einer Zeit in Texten auch unabhängig vom Autor-Wissen zum Ausdruck kommt. Im Widerstreit dieser Auffassungen führt eine relativistische Anerkennung beider Überzeugungen nicht weiter; nur im Rekurs auf den Geltungsanspruch interpretatorischer Wahrheit ließe sich das Problem lösen: Welche der fraglichen Deutungskonvention ist mit den vorhandenen Basis-Annahmen über den interpretierten Gegenstand vereinbar? Werden explizite interpretatorische Operationen im Sinne der Frage (b) mit tief verankerten Überzeugungen verglichen, so kann dies ebenfalls relevant sein für den Wahrheitsanspruch, auch wenn es zunächst so scheinen mag, als lasse sich dabei nur die normative Richtigkeit der Operationen in Relation zu einer Konvention prüfen. Ist eine falsche, von 89

Dies ist nach Finn Collin (1987, S. 141) eine epistemische Bedingung von Interpretationen: Was über die Erkenntnismöglichkeit des Autors hinausgeht, dürfe seinem Text nicht als Bedeutung zugeschrieben werden.

124 Grundüberzeugungen abweichende interpretatorische Operation ihrerseits in abweichenden Überzeugungen verankert, so lässt sich der Widerspruch auch auf der Ebene der Grundüberzeugungen formulieren: Enthält z.B. eine Interpretation, die durchgängig mit der Autorintention argumentiert, eine einzelne Operation, die dem Text eine außerhalb des Autorwissens liegende Bedeutung zuschreibt, so kann ein nicht reflektierter Widerspruch auf der Ebene interpretatorischer Überzeugungen die Ursache sein - etwa der im vorigen Absatz beschriebene Konflikt zwischen den Auffassungen, allein das Wissen des Autors oder aber der gesamte Zeitgeist könne die Quelle von Bedeutung sein. Konträre Auslegungskonventionen können im Sinne der Frage (c) nur im Rekurs auf den Wahrheitsanspruch beurteilt werden. Werden explizite interpretatorische Operationen im Sinne der Frage (a) mit anderen verglichen, so findet eine interne Kohärenzprüfung auf dieser Ebene statt. Widersprüche zwischen einzelnen Operationen falsifizieren eine Interpretation. Auch solche Widersprüche lassen sich häufig zurückzuführen auf Widersprüche zwischen den Grundauffassungen, die hinter den einzelnen Operationen stehen, sodass wiederum im Sinne der Frage (c) die Angemessenheit der konfligierenden Auslegungskonventionen zu prüfen wäre. Mit dem Kriterium des Zueinander-Passens der unterschiedlichen Aussagen und Annahmen einer Interpretation reformuliert die Interpretationsphilosophie, wie gesagt, die Kohärenz- und die Korrespondenztheorie der Wahrheit. 90 Daneben existiert als ein weiteres Kriterium der Wahrheitsprüfling das bereits erwähnte Postulat idealer Erkenntnisbedingungen von Hilary Putnam (1981, S. 55). In Zusammenhängen der Lite90

Auch Gerhard Pastemack sieht die „Prüfbarkeit hermeneutischer Interpretationen" darin begründet, dass „für die Gesamtmenge des beim Verstehen verwendeten Wissens" mehrere „Grade der Plausibilität zu unterscheiden" seien (1992, S. 161). Wenig hilfreich ist allerdings Pastemacks Versuch, den Plausibilitätsgrad eines Wissens an die Art des Wissens zu binden: „Für die Interpretation ästhetischer Werke ist davon auszugehen, daß das Strukturwissen als analytisches Wissen über kompositorische Ordnungen einen höheren Plausibilitätsgrad erreicht als das von subjektiven und sozialen Besonderheiten [...] abhängige enzyklopädische oder kontingente Wissen des Interpreten" (ebd.). Nicht jedes enzyklopädische Interpretationswissen ist indes gleich unplausibel. Vielmehr sind Bedeutungszuschreibungen, die mit dem existierenden Wissen über die Entstehungskontexte eines Werkes vereinbar sind, plausibler als Bedeutungszuschreibungen, die diesem Wissen widersprechen. Und nicht jedes Strukturwissen ist gleich plausibel. Unter ästhetischer Struktur versteht Pastemack die „Konsistenz" und „Funktionalität aller Elemente der kompositorischen Ordnung" (ebd.). Dieser historisch und generisch relative, vermutlich aus der Untersuchung kürzerer Texte bestimmter Epochen gewonnene Begriff ästhetischer Struktur ist keineswegs allgemein gültig - man denke nur an Romane des 17. Jahrhunderts. Strukturwissen, das der epochen- und gattungsspezifischen Poetologie entspricht, ist plausibler als anderes.

125 raturinterpretation können wir als Idealbedingung formulieren, dass ein Interpret vollständig über das vorhandene Wissen verfügt, welches fur die drei Faktoren seiner Interpretation (Interpretandum, Interpretament, Interpretationsweise) relevant ist. Bei dem Vergleich einer Interpretation mit diesem Wissen lässt sich feststellen, was ein Interpret übersieht, ignoriert oder vernachlässigt. Obwohl ideale Erkenntnisbedingungen empirisch unmöglich sind, gestattet dieses Postulat doch im Einzelfall eine Kritik am Nicht-Erfullen von Erfüllbarem. Als weitere Frage der Wahrheitsprüfung wollen wir daher formulieren: (f) Stimmen die einzelnen interpretatorischen Operationen sowie die einer Interpretation zugrunde liegenden Überzeugungen mit dem vorhandenen Wissen überein, welches für die Interpretation relevant ist? - Diese Formulierung versucht im Sinne Putnams zu berücksichtigen, dass kein Interpret alle anderen Interpretationen kennen kann, und sie will Rechtfertigungen nach Art der folgenden Argumentation ermöglichen: „A hat zwar jene Sichtweise auf den Gegenstand nicht berücksichtigt, die Β vorschlägt und die im Widerspruch steht zu seiner eigenen Interpretation. Hätte Α diese Sichtweise jedoch zur Kenntnis genommen, so hätte er auf der Grundlage seiner Beobachtung χ (oder seines Arguments y) sagen können, dass die Sichtweise von Β irrelevant (oder falsch) ist".91

1.4.3 Vier Kategorien der Erkenntnis literarischer Bedeutung Sämtliche Aussagen, Überzeugungen und Basisannahmen einer Literaturinterpretation lassen sich ebenso wie das relevante Wissen in vier Kategorien philologischer Erkenntnis verorten. Für die im vorigen Abschnitt beschriebene Prüfung des interpretatorischen Wahrheitsanspruchs 91

Dieser Satz betrachtet die Interpretation von A so, als wäre sie unter „epistemically ideal conditions" entstanden, nämlich in Kenntnis der anderen Sichtweise, und er enthält das Urteil: Die Interpretation von A „would be justified under such conditions" (Putnam 1981, S.55). - Eine Verbindung der Kohärenzforderung mit einer regulativen Forderung nach idealen Erkenntnisbedingungen leistet auch der Begriff der „Konsistenz" in der folgenden Definition von Uwe Japp (1977, S.73): „Eine Interpretation ist konsistent, wenn sie widerspruchsfrei ist und allen konkurrierenden Deutungen standhält", die es „zu einem bestimmten Zeitpunkt" gibt. Diese regulative Forderung ist empirisch erfüllbar, insofern mit „standhalten" gemeint ist, dass man aus der Perspektive der fraglichen Interpretation zu jeder abweichenden Deutung ein Gegenargument formulieren oder aber zeigen könnte, dass die abweichende Deutung fur das Problem irrelevant ist. - Das praktische Problem solcher Kriterien besteht freilich darin, dass kein Beurteiler einer Interpretation die von ihm als ideal definierten Erkenntnisbedingungen selbst erfüllen kann. Es muss also einen weiteren Beurteiler geben, der entscheidet, ob das erste Urteil idealen Bedingungen standhielte, usw.

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ist es hilfreich, diese Kategorien zu unterschieden und zu beschreiben. Das soll nun geschehen. Es handelt sich um die bereits erwähnten Kategorien Code, Kontext, Modus und Subjekt. Wer sich darum bemüht, die Bedeutungen oder den Sinn eines literarischen Textes zu verstehen, setzt in diesen vier Kategorien Basisinterpretationen voraus, die für die Erfahrung des Gegenstands als eines Bedeutung vermittelnden Textes konstitutiv sind. (1) Code: Bedeutungen sind abhängig von der historischen Semantik und Syntax der Sprache, in der die Kommunikation erfolgt. Der Code umfasst die möglichen Zeichenverwendungen in dieser Sprache. (2) Kontext: Bedeutungen sind abhängig von Verwendungszusammenhängen, in denen die Zeichen bei der Produktion eines Textes stehen. (3) Modus: Bedeutungen sind abhängig von der Art und Weise des Sprechens, etwa von der Art und dem Grad der Indirektheit. (4) Subjekt: Bedeutungen sind abhängig von einer intentionalen Instanz, die im Moment der Textkonstitution wirksam ist; die Unterstellung dieser Instanz ist erforderlich, will man entscheiden, ob von den möglichen Bedeutungen einer Textstelle, die unter den Bedingungen des Codes, der Kontexte und des Modus fur eine Textstelle plausibel sind, sämtliche oder nur ausgewählte Bedeutungen tatsächlich kommuniziert werden. 92 Aufbauend auf diesen Basisannahmen sind in jeder Kategorie ganz unterschiedliche Überzeugungen möglich. Das soll nun in vier exemplarischen Skizzen gezeigt werden. Die Skizzen zielen zum einen auf eine Anerkennung verschiedener literaturwissenschaftlicher Grundpositionen: Unsere Analysen in Kapitel 2 sind nicht von Präferenzen für bestimmte Auffassungen, Schulen usw. geleitet. Zum anderen sollen die Skizzen 92

Ähnliche Kategorien unterstellt bereits die Interpretationstheorie des 19. Jahrhunderts. Der Schleiermacher-Schüler August Boeckh (1966, S.93ff.) unterscheidet zwischen grammatischer, historischer, individueller und generischer Interpretation. Die grammatische Interpretation bestimmt die Bedeutungen der Wörter und Wortverbindungen mit Hilfe des historischen Lexikons, unterstellt also einen Code. Die historische Interpretation bestimmt die Bedeutungen mit Hilfe der historischen Referenten, unterstellt also Kontexte. Die individuelle Interpretation bestimmt die Bedeutung mit Hilfe des Wissens über den Verfasser, unterstellt also ein Subjekt. Die generische Interpretation bestimmt die Bedeutung mit Hilfe jener „Sprachform" oder „Stilform", die eine literarische Gattung traditionell mit sich bringt, unterstellt also einen Äußerungsmodus. Japp (1977, S. 64) zeigt, dass die feste Verknüpfung von Gattung und Sprachform ein Spezifikum altphilologischer Interpretationsgegenstände ist; eine allgemeine Theorie der Literaturinterpretation kann Äußerungsmodi nicht auf Gattungen fixieren. - In der Sprechakttheorie werden die beim Verstehen von Äußerungen unvermeidlichen Präsuppositionen ähnlich kategorisiert. Kent Bach und Robert M. Harnish (1979, S.3-15; 60ff.) zufolge unterstellen Hörer eine Intention des Äußerungssubjekts, einen Kontext, innerhalb dessen eine Äußerung gemeint und zu verstehen ist, die Sprache, in der die Äußerung getätigt ist, sowie einen bestimmten Modus der Äußerung: ihre Wörtlichkeit. In der Literaturinterpretation ist die Erwartung von Wörtlichkeit freilich ein Sonderfall.

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den Blick für den Zusammenhang der vier Kategorien schärfen. Interpretationsaussagen, die in einer Kategorie angesiedelt sind, stützen sich stets auf Aussagen und Überzeugungen in anderen Kategorien. (1)

Code

„Code" meint hier sowohl die enzyklopädische Verwendungsbreite der Zeichen einer Sprache als auch die grammatisch möglichen Wortverbindungen. Aus der Basisannahme, dass die Bedeutung einer Äußerung von dem Code bedingt ist, in dem sie getätigt wurde, lässt sich für Interpretationen der Anspruch ableiten, dass der Interpret aus der Sprache, die er selbst verwendet, Bedeutungen auswählt und miteinander kombiniert, die zur Explikation der Bedeutungen und Bedeutungskombinationen des interpretierten Textes geeignet sind. Das Wissen über den ÄußerungsCode muss mit den interpretatorisch zugeschriebenen Bedeutungen vereinbar sein. Die verbreitetste interpretationstheoretische Grundüberzeugung innerhalb der Kategorie Code findet sich mustergültig in der Formulierung Ecos, wer zum idealen Leser eines Textes werden wolle, gehe die Verpflichtung ein, „sich dem Code des Senders so weit wie möglich anzunähern" (1990, S. 78). Zur Erfüllung dieser Norm gelten unterschiedliche Verfahren als probat. In der alltäglichen Kommunikation gehen die Sprecher normalerweise davon aus, dass eine fremde Äußerung demselben Code angehört wie ihre eigenen Äußerungen. Sie unterstellen, dass die zu verstehende Bedeutung einen Ort in dem gemeinsamen Wissen um die Verwendungsmöglichkeiten eines Zeichens hat und sich im Rekurs auf das eigene Sprachwissen oder doch zumindest durch die Erweiterung eines lückenhaften Wissens über den Code, dem ihre eigene Rede angehört, ermitteln lässt. Anders verhält es sich, wenn die (schriftliche) Kommunikation über einen historischen oder kulturellen Abstand hinweg erfolgt. Leser, die wissen, dass eine Äußerung oder ein Text einer fremden Kultur oder einer vergangenen Epoche entstammt, gehen davon aus, dass sich nicht jede Wortbedeutung innerhalb der eigenen Enzyklopädie verorten und den aktuellen Sprachverwendungsregeln der eigenen Kultur zuweisen lässt: Sie wissen, dass es andere Code-Bedingungen gibt und ein Verständnis im eigenen Code nur begrenzt möglich ist. Der sicherste Weg, eine fremde Sprachverwendung zu verstehen, ist die Enkulturation, das zunehmende Hineinwachsen in eine Kultur, so wie es im Bereich der wissenschaftlichen Expertenkulturen durch ein Studium geschieht. Leser literarischer Texte gehen zunächst davon aus, dass dort die Sprachverwendung selbst mitgestaltet ist und dass sie die Verwendungs-

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regeln durch lesende Teilhabe an dieser Welt erlernen können. Lektüre ist, so verstanden, die Enkulturation in eine künstliche Welt. Wenn diese immanente Strategie nicht zum Verständnis fuhrt, haben Leser die Möglichkeit, philologisches Wissen einzusetzen, das ihnen vermittelt wird durch Kommentare, Vorworte, Interpretationen, Rezensionen, Biographien und andere Darstellungen, in denen ein Expertenwissen über die historischen Sprachverwendungsregeln erklärt wird - historische oder fremdsprachige Wörterbücher eingeschlossen. Expertenwissen kann das bei der Lektüre entstehende Sprachverwendungswissen verfeinern, es bereichern und von Irrtümern befreien. Jeder Einsatz solchen Wissens ist eine interpretatorische Operation, wenn er zu einer Entscheidung über die einer Textstelle zugeschriebenen Bedeutungen führt. Die mit dem Eco-Zitat verbundene Grundüberzeugung ist aber nicht die einzig möglich in der Kategorie Code. Zwei weitere seien hier umrissen. Erstens gibt es die Auffassung, Textbedeutung hänge nicht allein von dem im Moment der Textentstehung gültigen Code des „Senders" (Eco) ab, sondern überdies von den Codes bestimmter oder sogar aller Prätexte, die dem Text zugrunde liegen.93 Interpretatorische Operationen fußen in der Kategorie Code mithin auf den unterschiedlichen Grundpositionen, die Interpreten in dieser Frage einnehmen. Diese Positionen hängen wiederum ab von anderen Überzeugungen, die in den Kategorien Kontext, Modus und Subjekt lokalisierbar sind. In der Kategorie Kontext, zu der wir das Phänomen der Intertextualität rechnen werden, fallt nicht nur die Entscheidung darüber, welche anderen Texte für einen interpretierten Text bedeutsam sind, sondern auch die Grundentscheidung, ob die älteren Bedeutungen von Prätexten in den interpretierten Texten erhalten bleiben oder ob sie dort verwandelt werden in Bedeutungen, die dem Code der Entstehungszeit zugehören. In der Kategorie Modus fallt die Entscheidung, ob eine Textstelle so vieldeutig sein kann, dass sie sich sowohl im Code der Entstehungszeit als auch in dem Code mindestens eines Prätextes verstehen lässt, oder ob der Modus der Eindeutigkeit nahelegt, ausschließlich den Code der Entstehungszeit heranzuziehen. In der Kategorie Subjekt fällt die Entscheidung, ob die Instanz, die im Moment der Textkonstitution intentional wirksam ist, als ein überhistorisches Subjekt aufgefasst wird, das aus den Stimmen vieler (im Extremfall aller vorausgegangenen) Epochen zusammengesetzt ist, oder als ein Subjekt, das mit der Stimme einer einzigen Epoche spricht.

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Die zweite Möglichkeit markiert keineswegs eine Besonderheit postrukturalistischer Exegese. So ist es philologische Normalität zu behaupten, die Bedeutung einer Stelle etwa bei Goethe sei die Bedeutung der entsprechenden Stelle etwa bei Plotin.

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Zweitens gibt es die Auffassung, Textbedeutung hänge auch von dem aktuellen Code ab, in dem das Verstehen erfolgt. Leser gehen im Allgemeinen davon aus, dass es Autoren gibt, die erwarten, dass ihre Texte auch von einem unbekannten Publikum verstanden werden können, welches über einen fremden Code verfügt und in fremden kulturellen und historischen Zusammenhängen lebt. Solche Leser nehmen weiterhin an, dass die Autoren diese Erwartung bei der Wortwahl und Strukturierung berücksichtigt haben und dass die Texte davon geprägt sind. Dies beschreiben Phänomenologen und Hermeneutiker, wenn sie von Stellen semantischer „Unbestimmtheit" (Ingarden 1960, S.266) oder von „Leerstellen" sprechen (Iser 1975, S.234ff.). So wird klassischen Texten die objektive Eigenschaft zugeschrieben, durch Strategien semantischer Unbestimmtheit die historischen Wortbedeutungen und den Entstehungskontext zu transzendieren. Paul Ricoeur geht generell davon aus, dass Leser die aktuellen „Prädikate" ihrer „Situation" in jene „Bezeichnungen" einfügen, die ein historischer Text vornimmt: „Einen Text verstehen heißt gleichzeitig, unsere eigene Situation erhellen" (1978, S. 90). Die Rezeptionsästhetik zeigt allerdings, dass eine solche Wirkung der Texte von ihren besonderen Eigenschaften abhängt. Die „Freiheitsproblematik" der Interpretation (Brenner 1998, S. 110) lässt sich nicht pauschal lösen, sondern nur durch interpretatorische Entscheidungen, die das jeweilige Interpretandum betreffen. Ob und in welchem Umfang ein Text den Rezipienten die Möglichkeit eröffnet, den historischen Code zu transzendieren, hängt von Zuschreibungen in anderen Kategorien ab. Attestiert man Texten einer bestimmten Gattung ein höheres Maß an Unbestimmtheit als anderen, so ist dieses Urteil in den Kategorien Kontext und Modus angesiedelt, denn zum einen werden gattungspoetische Bedingungen benannt, unter denen ein Transzendieren des historischen Codes möglich ist, zum anderen wird bestimmten Texteigenschaften der Aussagemodus der Unbestimmtheit zugeschrieben. 94 Die Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Code, der zum Zeitpunkt der Textenstehung gültig war, und den anderen in Betracht kommenden Codes (der Prätexte, der Rezeption) hängt von interpretato94

Eine solche Begründung aktualisierender Interpretation ist etwas anderes als die folgende erkenntnistheoretische Einsicht in die Unhintergehbarkeit des aktuellen Verstehens beim historischen Verstehen: Die aktuellen semantischen Koordinaten, in die historische Bedeutungen eingetragen werden, verschieben sich beständig, weshalb ein und derselbe Gegenstand in jeder Epoche seiner Rezeption - zumindest in Nuancen - auf unterschiedliche Weise verstanden werden muss. Der eigene Horizont ist bei der Erkenntnis des fremden unhintergehbar „bestimmend" (Gadamer 1972, S.366), doch keineswegs bedeutet dies, dass die am Ende verstandenen Bedeutungen allein aus aktuellen Kontexten stammen können.

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rischen Entscheidungen in anderen Kategorien ab. Die Kohärenz solcher miteinander verbundener Interpretationsentscheidungen ist ein zentrales Kriterium der Wahrheitsprüfung. (2)

Kontext

Die möglichen Bedeutungen, die ein Zeichen unter den Bedingungen eines Codes haben kann, werden durch die Unterstellung spezieller Verwendungszusammenhänge eingeschränkt. Kontextualisierungen stellen einen Text in eine Umwelt seiner Entstehung (vgl. die systematische Skizze von Danneberg 1990). Auch Rezipienten, die der Meinung sind, dass die Kunst jede Signifikanz „in den Artikulationszusammenhang ihrer internen Korrespondenzen" zurücknimmt (Seel 1985, S.271), müssen doch zunächst Außenbezüge unterstellen, soll die Rede von deren Zurücknahme Sinn machen. Allein durch ein Verstehen der Außenbezüge wird, wie Seel betont, das Ästhetische „signifikant" (ebd., S.235). Es kann als eine unhintergehbare, für die Erfahrung literarischer Texte konstitutive Annahme gelten, dass Bedeutungen von Kontexten der Entstehung abhängen. Aus dieser Basisannahme lässt sich für wissenschaftliche Interpretationen der Anspruch ableiten, nur solche Wissensgehalte als Interpretamente zu verwenden, die zur Explikation der kontextuell bedingten Bedeutungen des interpretierten Textes geeignet sind. Interpretamente müssen mit dem Wissen über die Kontexte des Interpretandums vereinbar sein. In der alltäglichen Kommunikation sind die Äußerungskontexte meist unmittelbar durchsichtig, d.h. es gibt dort nur in Ausnahmefallen eine so gravierende hermeneutische Differenz zwischen Äußerungs- und Verstehenskontext, dass die Verständigung gestört ist. Interpreten literarischer Texte gehen häufig davon aus, dass die Äußerungskontexte bei der Lektüre erschlossen werden können, dass also die Texte selbst zu dem Wissen hinfuhren, auf das sie sich interpretatorisch beziehen lassen. Dies ist die Position der „Immanenten Interpretation", die hier nur erwähnt, nicht weiter diskutiert werden soll.95 In allen anderen Fällen wird Wissen über Kontexte eigens herangezogen. Auf der Ebene der Grundüberzeugungen und tiefsitzenden Gewohnheiten lässt sich beschreiben, welche Kontextbereiche Interpreten bevorzugen: biographische, gesellschaftliche, kulturgeschichtliche, philosophi95

Dass sich die Literaturwissenschaft oft „schwer damit getan" hat, „den Kontext als wesentliches Moment der Interpretation zu akzeptieren" (Brenner 1998, S.265), dürfte zum einen an dem oben diskutierten Irrtum liegen, aus der poetischen Zurücknahme von Außenreferenz lasse sich deren Inexistenz ableiten, zum anderen an der Auffassung, bedeutungsrelevante Kontexte seien im Text immanent mitgestaltet.

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sehe, geistesgeschichtliche Kontexte usw. 96 Weiterhin lässt sich beschreiben, welches Verhältnis zwischen Text und Kontext Interpreten unterstellen. Als Rahmentheorie einer diesbezüglichen Kategorisierung sei wiederum die Universalpragmatik vorgeschlagen. Kontextualisierungen lassen sich danach unterscheiden, ob die Rezipienten den Bezug des Textes auf seine Umwelt als einen (a) konstativen, (b) dialogischen oder (c) expressiven bestimmen. Zur Erörterung dieser Aspekte soll noch einmal auf das Gedicht Stopping by Woods... von Robert Frost zurückgegriffen werden, und zwar zunächst auf die erste Strophe: „Whose Woods these are I think I know./ His house is in the village though;/ He will not see me stopping here/ To watch his woods fill up with snow". (a) Schreibt jemand dem Gedicht eine konstative Referenz auf einen Kontext zu, so könnte es sich hierbei um einen weltanschaulichen, speziell religiösen Kontext handeln: In dem Gedicht ginge es, diesem Verständnis zufolge, um eine Welt, in der das „Haus" Gottes im Dorf steht und man im Naturleben eine intensive Begegnung mit Gottes Schöpfung hat. Dagegen könnte ein anderer Leser einwenden, diese Kontextualisierung sei ausgeschlossen, weil die Formulierung „He will not see me" der christlichen Vorstellung eines allwissenden Gottes widerspreche; der Kontext sei vielmehr ein sozialökonomischer. Das Gedicht referiere auf eine Gesellschaft, in der die Natur zum Eigentum einzelner Menschen wird. Der erste Leser könnte diesen Hinweis auf Vers 3 dankend annehmen und argumentieren, es sei eben ein Deus absconditus gemeint, der seine Geschöpfe nicht beobachtet. Dieser Leser könnte daraufhin einen entsprechenden biographischen Kontext postulieren und nachprüfen, wie wahrscheinlich es ist, dass in dem Gedicht ein solcher Glaube des Autors zum Ausdruck kommt. Der zweite Leser könnte sich kompromissbereit zeigen und sagen, die Welt der Waldeigentümer und einsamen nächtlichen Reisenden werde zugleich als eine gottverlassene Welt dargestellt, in der sich - dritte Bedeutung des Waldes - manche sensible Menschen nach dem Tod sehnen. Mit dieser Mehrfachkontextualisierung wäre zugleich eine Entscheidung über den Modus der Textstelle gefallen, die nun schon im dreifachen Schriftsinn (sozial-) historisch, psychologisch und geistlich verstanden wird. (b) Schreibt jemand dem Gedicht eine dialogische Partizipation an einem Kontext zu, so könnte es sich hierbei um den Kontext einer historischen Diskussion über die religiöse und ethische Problematik des Freitods handeln oder aber um eine bestimmte Tradition religiöser Naturgedichte, auf die das Gedicht antworte, oder sogar um einen einzelnen 96

Vgl. hierzu auch die Kategoriesierung des Wissensgehalte, die Texten als Zweitbedeutung zugeschrieben werden (Kap. 1.1.2).

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Bezugstext. Geläufig sind in diesem Zusammenhang Termini wie geistesgeschichtlicher Kontext, Gattungskontext, Einßusskonlext oder - auf allgemeinster Ebene - intertextueller Kontext. Intertextualität wollen wir für unsere Zwecke definieren als die unter dem Aspekt des dialogischen Verhältnisses zu anderen Texten betrachtete Kontextualität. 97 Kontextualisierungen dieser Art nimmt auch vor, wer unter Hinweis auf die Textentstehung, also auf den genetischen Kontext, Bedeutungen auswählt: Die Bedeutungen, die man der Letztfassung eines Textes zuschreibt, lassen sich als Antworten auf Probleme der früheren Fassungen lesen. Hinsichtlich der Pluralität der dialogischen bzw. intertextuellen Kontexte stellt sich hier wieder die bereits im Zusammenhang mit dem Code erwähnte Frage, ob die Bedeutungen sämtlicher (oder zumindest einiger) Prätexte im Text nebeneinander existieren oder ob der Text, indem er seine Prätexte interpretiert, deren Bedeutungen in eigenen Bedeutungen aufhebt. (c) Unterstellt jemand ein expressives, symptomatisches Verhältnis zwischen dem Gedicht und einem Kontext, so könnte es sich hierbei um einen biographischen oder individualpsychischen Kontext handeln. Der Leser fände im Text Symptome für die Disposition des Verfassers und könnte fragen: War der Autor Frost seines Lebens überdrüssig? Ein anderer könnte der Meinung sein, dass die Disposition einer ganzen Epoche oder zumindest einer sozialen Gruppe symptomatisch zum Ausdruck komme, gewissermaßen durch den Dichter hindurch. Dann wäre der sozialgeschichtliche oder sozialpsychologische Kontext ein expressiver Kontext, und dem Text würde unterstellt, er zeige die Disposition eines Kollektivsubjekts symptomatisch an. Deutlich wird hieran die Nähe der Unterstellung eines expressiven Kontextes zur Unterstellung eines Textsubjekts (vgl. Pkt. 4), denn wenn das Subjekt als ein individuelles oder kollektives, historisches oder überhistorisches aufgefasst wird, beeinflusst dies die Entscheidung über den zuschreibbaren Kontext. Auch für die Kategorie des Kontextes ist die im vorigen Abschnitt erwähnte Prämisse phänomenologischer, rezeptionsästhetischer oder hermeneutischer Provenienz folgenreich, dass Texte durch Unbestimmtheit ihre Entstehungsbedingungen transzendieren können. Einem Text lassen sich zumindest partiell Bedeutungen zuschreiben, die aus aktuellen Kontexten der Rezeption stammen. Solche Entscheidungen sind wiederum nur dann begründet, wenn sie sich auf passende Zuschreibungen eines poetologischen Entstehungskontextes, eines literarischen Äußerungsmodus oder eines Textsubjekts stützen. 97

Zum terminologischen Verhältnis von Einfluss und Intertextualität vgl. Pfister 1985, S. 15.

133 (3)

Modus

Die möglichen Bedeutungen, die ein Zeichen unter den Bedingungen eines zugeschriebenen Codes und zugeschriebener Kontexte haben kann, werden durch die Unterstellung literarischer Äußerungsmodi selten eingeschränkt, meist jedoch ausgeweitet. Denn auf literarische Texte trifft die Behauptung Searles nicht zu, „daß Fälle, in denen der Sprecher nicht genau sagt, was er meint - die wichtigsten Fälle dafür sind Unaufrichtigkeit, Vagheit, Ambiguität und Unvollständigkeit - für die sprachliche Kommunikation theoretisch unwichtig sind" (1971, S. 36). Searles Satz gilt fur die literarische Kommunikation nachgerade umgekehrt: Der direkte Ausdruck des Gemeinten ist ein theoretisch wenig relevanter Sonderfall, der am Rande eines reichen Spektrums poetischer Indirektheit gleichsam den Infrarot-Bereich markiert. Zur Beschreibung dieses Spektrums existieren unterschiedliche Begriffsreihen wie wörtlich - symbolisch - allegorisch', unironisch - ironisch negierend - ironisch relativierend', eindeutig - mehrdeutig - vieldeutig', erzählend - dialogisch - lyrisch', Textaussage - Erzähleraussage - Figurenaussage.9'1' Alltägliche Fragen des Literaturunterrichts und der Literaturwissenschaft lauten z.B.: Ist die Aussage der Romairfigur X eine direkte Aussage des Romans? Wenn nein, wie entsteht die Indirektheit: Durch gegensätzliche Aussagen anderer Figuren bzw. des Erzählers? Durch ironische Negation der Aussage? Durch Mehrdeutigkeit? Durch übertragene Bedeutung? - Und: Wie lässt sich die Erkenntnis des Verweisungsmodus' in eine Erkenntnis des Gemeinten überführen? Aus der Basisannahme, dass die Bedeutung einer Äußerung von dem Modus bedingt ist, in dem sie getätigt wurde, lässt sich für Interpretationen der Anspruch ableiten, dass der unterstellte Modus, in dem das Interpretandum auf das Interpretament verweist (vgl. Kap. 1.1.3), mit den Annahmen und dem Wissen über den literarischen Aussagemodus übereinstimmen muss. Wenn ein Interpret beispielsweise davon ausgeht, dass die Rede einer Romanfigur nur relative Gültigkeit im Zusammenhang aller Reden im Roman hat, zugleich jedoch einer Passage der Figurenrede die Bedeutung der zentralen symbolischen Aussage des Romans zuweist, so ist die Interpretation in der Kategorie des Äußerungsmodus inkohärent und hält der Wahrheitsprüfung nicht stand. Wenn Lesern literarischer Texte der Modus von Aussagen unklar ist, versuchen sie, die Art des Verweises aus dem Text selbst zu erschließen, oder sie aktivieren ihre Erfahrungen mit früherer Lektüre. Expertenwis98

Die literarischen Aussagemodi werden v.a. in einschlägigen Hinfuhrungen in die gattungsspezifische Literaturanalyse beschrieben (vgl. Vogt 1998; Martinez/ Scheffel 1999; Burdorf 1997; Pfister 1997).

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sen über Symbolik, Ironie usw. wird beim alltäglichen Lesen wohl kaum herangezogen. Gerade weil es sich bei der Unterstellung von Verweisungsmodi meist um Routineentscheidungen der Lektüre handelt, ist es wichtig, die Vielfalt der Modi und die Kultur ihrer Zuschreibung in der literarischen Sozialisation einzuüben, das Expertenwissen darüber am Leben zu erhalten und die methodischen Probleme solcher Zuschreibungen zu reflektieren. Unter dem Aspekt des Verweisungsmodus weitet sich, wie gesagt, die Zahl möglicher Bedeutungen einer Äußerung zunächst aus, weil zu den wörtlichen Verwendungsmöglichkeiten die unbegrenzten Bedeutungsverschiebungen hinzukommen, die sich aus den vielfaltigen rhetorischen und poetischen Sprechweisen ergeben. Freilich kann die Bestimmung des Modus durch Kontext-Unterstellungen eingeschränkt werden, etwa durch Themen- und Genrezuschreibungen: Von allegorischer Doppelrede auszugehen ist im Zusammenhang mit der Epoche des Barock oder der Gattung Fabel plausibler als im Zusammenhang mit der Epoche des Realismus oder der Gattung des Märchens. Unterstellt man den Modus der Unbestimmtheit oder - im Sinne der schon zitierten Theorie Roman Jakobsons - den Modus einer Vieldeutigkeit, die durch textinterene Bezüge und Binnenreferenzen entsteht, so muss man derartige ModusUnterstellungen mit dem Wissen über einen Kontext oder über das intentionale Subjekt der Textkonstitution begründen, sollen sie wissenschaftlich Bestand haben. Legt das über einen Autor oder eine Epoche vorhandene poetologische Wissen die Annahme nahe, dass Binnenreferenz produktionsästhetisch keine Bedeutung hat, die externe Referenz hingegen hohe Bedeutung, so ist die Unterstellung einer durch internen Beziehungsreichtum entstehenden Vieldeutigkeit so lange inkohärent, wie sie nicht durch andere Grundauffassungen plausibiliert wird - beispielsweise durch die Unterstellung eines Subjekts, das im Moment des Schreibens den poetologischeri Kontext seiner Zeit überschreitet.

(4)

Subjekt

Interpreten, die den Geltungsanspruch der Wahrheit erheben, gehen davon aus, dass im Moment der Textkonstitution schon einmal eine Auswahl aus den Bedeutungsmöglichkeiten erfolgte, und sie begreifen ihre eigene interpretatorische Aufgabe als eine Rekonstruktion dieser ersten Auswahl. Sie erheben den Anspruch, dass die eigene interpretatorische Entscheidung für Bedeutungen in Übereinstimmung steht mit dem Wirken des Subjekts jener ersten Auswahl. In der Kategorie des Subjekts haben wiederum die unterschiedlichsten Grundüberzeugungen Platz: Manche Interpreten unterstellen ein Subjekt,

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das alle plausiblen Bedeutungen zulässt, andere ein Subjekt, das bestimmte Bedeutungen auswählt. Diesen Überzeugungen entsprechen unterschiedliche Erkenntnisprinzipien. Für die moderne, erkenntnistheoretisch reflektierte Hermeneutik formuliert Friedrich Schleiermacher (1974, S. 138) folgende Verfahrensnorm: Aufgabe der Interpretation sei es, von dem Zustand der Gedankenerzeugung, in welchem der Autor begriffen war, ausgehend jenen schöpferischen Akt richtig nachzubilden, wie das Bedürfnis des Moments auf den dem Autor lebendig vorschwebenden Sprachschatz gerade so und nicht anders einwirken konnte.

Die innerhalb der Kategorie Subjekt erfolgende Erkenntnis heißt hier .Nachbildung des schöpferischen Akts'. Diese zentrale Erkenntnis ist für Schleiermacher von weiteren Erkenntnissen abhängig, die sich unschwer unseren drei anderen Kategorien zuordnen lassen: Der „dem Autor lebendig vorschwebende Sprachschatz" ist der im Moment der Textkonstitution gültige Code. Der „Zustand der Gedankenerzeugung" bezeichnet die Kontexte, innerhalb derer der Text entsteht. Die Formulierung „gerade so und nicht anders" bezeichnet die im Text realisierten sprachlichen Modi. Werden in diesen drei Kategorien Bestimmungen vorgenommen, so kann nach Schleiermacher der „schöpferische Akt" nicht nur nachgebildet, sondern auch begrifflich bestimmt werden als der individuelle „Styl" (ebd., S. 108) oder das „Combinationsgesetz des Menschen" (ebd., S. 113). Die Erkenntnisse über das Subjekt stützen sich zwar auf Erkenntnisse in den anderen Kategorien, erfolgen aber mittels einer Operation, bei der sich der Interpret „gleichsam in den andern verwandelt", und zwar auf dem Wege einer „Vergleichung mit sich selbst" (ebd., S. 109): Der Interpret tue so, als könne er unter den philologisch rekonstruierten Bedingungen des fremden Sprechens selbst so sprechen, dass seine interpretatorische Aussage der individuellen Besonderheit der interpretierten Aussage entspricht. Diese „Beobachtung", die „den innern Prozeß des Schriftstellers" verständlich machen will, „hat ihren Halt in der Selbstbeobachtung" des Interpreten (Schleiermacher 1977, S.214). Sie erfordert eine „Ahnung" oder „Divination" des unableitbaren schöpferischen Vorgangs. Der Hermeneutiker Peter Szondi (1978, S. 271) schreibt entsprechend, dass der Interpret seiner „subjektiven Evidenz" vertrauen muss, will er „den Weg zur Subjektivität der Dichtung, zu dem individuellen Vorgang" finden, „dessen Ergebnis die Stelle ist", die er interpretiert und „deren Gesetz" er „zu erkennen hat". 99

99

Der in diesem Punkt zweifellos vorhandenen „Gefahr des Irrationalismus" (Frank 1977, S. 328) begegnet die Hermeneutik mit der Stützung subjektiver Evidenz auf Erkenntnisse in anderen Kategorien und mit der erkenntniskritischen Reflexion, dass „das Nichtverstehen sich niemals gänzlich auflösen" lässt (Schleiermacher 1974, S. 141).

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Schleiermachers unterschiedliche Formulierungen des Erkenntnisziels zeigen zwei grundsätzliche Möglichkeiten an, die Instanz des Subjekts zu bestimmen: Einmal spricht Schleiermacher vom „Bedürfnis des Moments", welches den schöpferischen Akt bestimme (1974, S. 138), dann aber vom „Combinationsgesetz des Menschen" (ebd., S. 113). Im einen Fall hebt er den Einfluss situativer Bedingungen auf das schreibende Subjekt hervor, im anderen Fall dessen stilistisch-gestalterische Identität. In soziologischen Termini könnte man das eine als die „soziale Identität", das andere als die „persönliche Identität" des Subjekts bezeichnen. 100 Eine extreme Ausprägung des Modells persönlicher Identität ist die Gleichsetzung des Aussagesubjekts mit dem bewussten Autorwillen verstanden als ein Vorsatz, bestimmte Bedeutungen zum Ausdruck zu bringen. Als eine im Äußerungssubjekt verbürgte Interpretation gilt hier die Bestimmung jener Bedeutung, von welcher der Autor wollte, dass sie verstanden wird, und von welcher er wollte, dass man versteht, dass er wollte, dass sie verstanden wird - so, in vereinfachter Formel, die Fassung von Grice (1979). Dieses Konzept einer von der Äußerung gelösten und mit der Äußerung entweder realisierten oder verfehlten Intention lag in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dem landläufigen literaturwissenschaftlichen Verständnis von Autorintention zugrunde, das seit der Mitte des Jahrhunderts vehement zurückgewiesen wurde (vgl. Wimsatt/ Beardsley 2000; dazu Danneberg/ Müller 1983). Ein vermittelndes Modell ist der phänomenologische Intentionsbegriff, wie u.a. Eric Donald Hirsch ihn vertritt. In der Nachfolge Edmund Husserls versteht Hirsch (1972, S. 27Iff.) unter der Intention einer Äußerung deren objektives Gerichtetsein auf einen mentalen Gehalt der sich äußernden Person. Die Vorstellung, eine Äußerung könne von ihrer semantischen Intention differieren, ist unter dieser Voraussetzung abwegig.' 01 Gegen das andere Extrem eines Äußerungssubjekts, das gar keine Auswahl aus den situativ möglichen Bedeutungen trifft, ist Hirschs Position dadurch abgegrenzt, dass er die Intention nicht einfach als eine Summe aller semantischen Kräfte begreift, die auf den Verfasser einwir-

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e j n e r a n Jen symbolischen Interaktionismus anschließenden Bildungstheorie gesprochen: Durch die synchrone Zusammenflihrung von Kontexteinflüssen bilden schreibende Subjekte eine „soziale Identität" aus, durch die diachrone Stabilisierung von Stileigenschaften zugleich eine „persönliche Identität". Die komplexe Identität des schreibenden Subjekts könnte dann „als die Balance zwischen der Aufrechterhaltung beider Identitäten, der persönlichen und der sozialen, aufgefaßt werden" (Habermas 1973, S. 131; vgl. Krappmann 1969, S. 73ff.).

101

„Der Unterschied zwischen Intention und Verwirklichung spielt [ . . . ] nur bei der Frage [ . . . ] normativer Kriterien [ . . . ] eine Rolle", er „ist jedoch von keinerlei Bedeutung [relevance] für den Wortsinn [meaning]" (Hirsch 1972, S . 2 8 ) .

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ken, sondern als eine spezifische und selektive Ausrichtung der Äußerung auf das Einwirkende. Die Preisgabe einer solchermaßen als intentionale Ausrichtung verstandenen Subjektivität ist für Hirsch gleichbedeutend mit einem Verzicht auf die Frage nach Bedeutung überhaupt (ebd., S. 25ff.). Um eine Äußerung angemessen zu interpretieren, müssen wir diesem Konzept zufolge den „Horizont" (ebd., S.276) eines Sprechers oder Autors - sein Wissen, seine Vorstellungen und Empfindungen, also auch sein Unbewusstes (vgl. ebd., S. 74ff.) - rekonstruieren, denn nur eine solche Rekonstruktion der mentalen Identität des Subjekts mache eine Entscheidung darüber möglich, auf welche der unbegrenzt auf den Schreiber einwirkenden Einflüsse eine Äußerung tatsächlich semantisch bezogen ist. Gegen dieses Konzept wiederum wird aus unterschiedlichen Richtungen102 eingewendet, die Bedeutungen einer Äußerung seien nicht auf den mentalen Horizont des Sprechers begrenzt, da Sprecher nur Medien oder Schaltstellen anderer Kräfte seien, die durch sie hindurch sprechen. Tatsächlich wird die von Hirsch gezogene Grenze zwischen intentionalen und außerintentionalen Bedeutungen durch die Öffnung des Intentionsbegriffs für Gehalte des Unbewussten porös. 103 Aus der Sicht derer, die Bedeutung nicht an den mentalen Horizont des Autors gebunden sehen, stellt sich Autorschaft überhaupt als ein historisch relatives Konstrukt dar, dessen Funktion es ist, Bedeutung willkürlich zu begrenzen (vgl. Barthes 2000; Foucault 2000). So sieht Roland Barthes die semantische, pragmatische, referentielle und rhetorisch-symbolische Dimension von Texten ausdrücklich nicht durch ein hermeneutisches „Zentrum" (1987, S.23f.) begrenzt, und dem Autor schreibt er nicht die Funktion einer „Führung" und „Beherrschung des Sinns" zu, sondern die Rolle einer „verantwortungslose^] Figur [...], die in den Pluralen ihres eigenen Textes steht" (ebd. S. 209).

102 103

Unter Berufung etwa auf Marx, Freud, Heidegger, Derrida oder Foucault. Hirsch (1972, S.76f.) zählt unbewusste Bedeutungsanteile nur dann zur Autorintention hinzu, wenn sie mit den bewussten Bedeutungsanteilen der verwendeten Wörter „in Zusammenhang" stehen und deren Bedeutung mitbestimmen. Er schließt unbewusste Gehalte immer dann aus der Intention aus, wenn sie nicht an die bewusste Wortbedeutung gebunden sind, sondern bloß symptomatisch zum Ausdruck kommen. - In Texten können Symptome sich nur in der Sprachverwendung zeigen, und jede Sprachverwendung prägt, wie die Pragmatik zeigt, die Wortbedeutung. Mithin ist in Texten kein Symptom vorstellbar, das mit den bewussten Wortbedeutungen nicht „in Zusammenhang steht". Damit wird Hirschs Unterscheidung von Intentionalität und Symptomatik ebenso unhaltbar wie die postulierte Arbeitsteilung zwischen dem (philologischen) Interpreten, der bloß die Wortbedeutungen zu ermitteln habe, und dem Kritiker, der auch den symptomatischen Sinn der Aussagen und Texte aussprechen dürfe (ebd., S. 80f.).

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Statt des Autors nominiert Barthes andere Kandidaten für die Kategorie des Subjekts: „der Diskurs, oder besser noch: die Sprache spricht" (ebd., S. 46). Diese beiden Begriffe benennen Subjekte, die eine zeit- und objektübergreifende Identität haben: Indem Barthes von dem Diskurs und der Sprache als den möglichen Subjekten literarischer Äußerungen spricht, unterstellt er, dass diese Subjekte sämtliche diachronen Veränderungen und kontextuellen Divergenzen integrieren, die zwischen den vielen möglichen Bedeutungen eines Textes bestehen. Ähnliches gilt für die von Manfred Frank (1986, S. 13) kritisierten Auffassungen, das „Sein" oder der „Text" selbst könne sprechen, oder für die Position des New Historicism, wonach „soziale Energien" die Urheber der spezifischen Textkonstitution seien (Greenblatt 1993, S. 9). Nach hermeneutischem Urteil vollziehen solche Subjekt-Bestimmungen eine „Abstraktion" von der Subjektivität der empirischen Sprecher bzw. Schreiber und zugleich eine „Mystifikation" des Allgemeinen. Das Allgemeine könne sich niemals von selbst zu Äußerungen individuieren (Frank 1977, S. 318ff.). Genau das aber ist zwischen der Hermeneutik und den von ihr kritisierten Positionen strittig: Lässt sich der Impuls, den wir unterstellen müssen, um erklären zu können, dass die bloße Differentialität der Sprache im einzelnen Sprechen auch bedeutsam wird, - lässt sich diese „Kraft", ohne welche die „Sprache [...] nicht wäre, was sie ist" (Derrida 1972, S.47), nur als eine Kraft des individuellen Sprechers oder auch als eine Kraft verstehen, die durch den Sprecher hindurch wirkt? Und wenn letzteres möglich sein sollte - lässt sich mit der Annahme einer überindividuellen Subjektivität die besondere, einmalige Konstituiertheit eines Textes erklären? Wir wollen diese Debatte hier weder ausfuhrlich referieren noch eine bestimmte Position stützen. Für die momentanen Zwecke ist es erforderlich, in der Kategorie des Äußerungssubjekts ein Beschreibungsmodell zu wählen, mit dem alle Grundpositionen darstellbar und auf interpretatorische Einzeloperationen beziehbar sind. In einem solchen Modell müssen wir einerseits die Unterstellung eines Subjekts unterbringen können, welches die Bedeutung einer Textstelle auf eine dem AutorBewusstsein entsprechende Breite reduziert, andererseits die Vorstellung eines pluralen, jede Einschränkung verhindernden Subjekts im Sinne Barthes'. Eco spricht, ebenfalls im Rahmen der Frage vorausgesetzter Interpretations-Annahmen, von einem idealen, in der Interpretation regulativ wirkenden Autor-Konstrukt, dem „Modell-Autor". Diesem Konstrukt unterstellen Leser laut Eco die Subjektivität, den Text nach einer „Regel" konstituiert zu haben, aus der ersichtlich wird, welche Bedeutungen dem Text zuschreibbar sind. Die Leser hätten die Vorstellung, dass sie durch

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die Erkenntnis dieser Regel zu „Modell-Lesern" würden (1990, S. 76ff.). In Situationen der alltäglichen Rezeption, in denen Leser glauben, die fremde Subjektivität immer schon verstanden zu haben, nimmt das Modell die einfache Form an: Leser unterstellen, dass der Text so geschrieben und bedeutsam gemacht wurde, wie sie ihn verstehen. Wenn aber ein Verstehensproblem auftaucht, das durch Code-, Kontext- und ModusZuschreibungen nicht entscheidbar ist, unterstellen reflektierende Leser, dass eine Instanz existiert, die ihnen vorgibt (und sei es durch die vollkommene Öffnung für alle Interpretationsmöglichkeiten), wie der Text verstanden werden kann (nämlich im Extremfall beliebig). Mit dieser Unterstellung operieren autorintentionalistische Interpretationen ebenso wie poststrukturale Lektüren, die behaupten, dass im Text der Diskurs oder die Sprache selbst spreche und dass dieses Sprechen auch die besondere Beschaffenheit des Textes konstituiere (was nach hermeneutischer Überzeugung nicht möglich ist). Grundauffassungen über das Subjekt der Textkonstitution, von dessen Wirken die zuschreibbaren Bedeutungen abhängig sind, müssen übereinstimmen mit den Grundauffassungen, die in den anderen Kategorien angesiedelt sind, sowie mit den einzelnen interpretatorischen Operationen. Wie schwer diese Forderung zu erfüllen ist, wird sich nun an einigen Interpretationen von Goethes Wahlverwandtschaften zeigen.

2

Untersuchung literaturwissenschaftlicher Interpretationen: Zur Allegorese der Wahlverwandtschaften

Eine solche Analyse der hermeneutischen Praxis wird übergehen müssen in deren Kritik - das Wort im Königsberger, nicht im Dahlemer Sinne gebraucht - : in das Fragen nach den Prämissen jener Vorentscheidungen, die wir immer schon getroffen haben, wenn wir einen Text interpretieren [...]. Peter Szondi, Einführung in die literararische Hermeneutik, 7

Die im ersten Kapitel entwickelten Kategorien der Interpretationsanalyse sollen sich an einem komplexen Gegenstand bewähren. Die zur Untersuchung ausgewählten Interpretationen von Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften sind hoch komplex, was nicht zuletzt auf das Interpretandum zurückgeführt werden kann: Zahlreiche inhaltliche und strukturelle Eigenschaften des Romans provozieren die Zuschreibung von Zweitbedeutungen und erlauben deren philologische Begründung bis zu einem gewissen Grad, setzen der Belegbarkeit jedoch zugleich Grenzen. An den Interpretationen lassen sich einerseits zahlreiche gelingende Interpretationshandlungen aufzeigen, andererseits typische infelicities' der literaturwissenschaftlichen Zuschreibung von Zweitbedeutung. Angesichts ihrer Komplexität sollen die ausgewählten Interpretationen ausfuhrlich beschrieben, analysiert und kritisiert werden. Das Ziel ist jeweils die Beantwortung der Frage, ob eine Interpretation die in ihr erhobenen Geltungsansprüche erfüllt oder nicht. Wie bereits in der Einleitung angekündigt, werden vor allem Interpretationen untersucht, die dem Roman allegorische Verweisungen auf Zweitbedeutungen unterstellen und die deshalb als Allegoresen bezeichnet werden können. 1 Die Konzentration auf Allegoresen fuhrt zu keiner eingeOb die Autoren selbst ihr Vorgehen auf den Begriff der Allegorese bringen oder nicht, spielte bei der Auswahl keine Rolle. Entscheidend war, ob die Verweisungsmodi, die dem Roman jeweils de facto unterstellt werden, jenem Sammelbegriff des Allegorischen entsprechen, den wir oben in Kapitel 1.1.3 analysierten: Dem Verweis zwischen Erst- und Zweitbedeutungen schreiben allegorische Deutungen geringe Ambiguität, starke inhaltliche Differentialität, ein ungleiches Wertverhältnis zugunsten der Zweitbedeutung und den mentalen Status begrifflicher Repräsentation zu. Symbolinterpretatio-

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schränkten, sondern zu einer fokussierten Wahrnehmung des Untersuchungsfeldes, denn zum einen enthalten die untersuchten Allegoresen selbst Auseinandersetzungen mit alternativen (z.B. ,wörtlichen' oder symbolischen') Interpretationsmodi, zum anderen werden wir solche Modi vergleichend an die Allegoresen herantragen. In der Wahlverwandtschaften-Forschung sind drei Qualitäten allegorischer Bedeutungszuschreibung erkennbar: Das eigentlich Gemeinte wird interpretiert als transzendenter, als verborgener oder als negierter Sinn. Die ersten drei Teile dieses Kapitels untersuchen jeweils einen Vertreter dieser Deutungsrichtungen. Walter Benjamins kunstphilosophisch-theologischer Essay behauptet allegorische Verweise auf einen noch nicht offenbarten Sinn (2.1), Bernhard Buschendorfs literarhistorische Monographie will unterschwellige Sinntraditionen freilegen (2.2) und Joseph Hillis Millers dekonstruktivistische Studie unterstellt eine allegorische Löschung von Sinn (2.3). Es handelt sich um drei unterschiedliche Modi der Verweisung zwischen Erstbedeutung und Zweitbedeutung: Die Verweise auf etwas Transzendentes, auf etwas immanent Verborgenes oder auf etwas Negiertes unterscheiden sich hinsichtlich der inhaltlichen Differenzqualität, insbesondere hinsichtlich des logischen und ontologischen Verhältnisses von Erst- und Zweitbedeutung (vgl. Kap. 1.1.3, Pkt. 4). Einige der fur die literaturwissenschaftliche Allegorese typischen Interpretationsprobleme lassen sich an den drei Hauptdokumenten allerdings nicht aufzeigen. Das macht einen systematischen Nachtrag (2.4) erforderlich. An einem Aufsatz von Heinz Schlaffer wird ein problematisches Selektionsverhältnis zwischen Erst- und Zweitbedeutung untersucht, nämlich die Auswahl sehr weniger Textstellen und deren Verknüpfung mit Bedeutungen, die zum verborgenen Sinn des gesamten Textes erklärt werden (2.4.1). Eine Monographie von Gabrielle Bersier gestattet die Analyse eines problematischen Ähnlichkeitsverhältnisses zwischen Erst- und Zweitbedeutung, bei dem die ausgewählten Stellen des Romans auf spezielle Stellen einzelner Referenztexte bezogen sind; hier wird ein umständlicher figurativer Verweis von Besonderem auf ein anderes Besondere behauptet (2.4.2). Schließlich behandelt unser systematischer Nachtrag einige Probleme, die entstehen können, wenn Interpreten den Text im symbolischen Modus interpretieren. Die oben erwähnten Grenzen der Belegbarkeit von Wahlverwandtschaften-Interpretationen beherzigend, attestieren diese Interpreten dem Roman Qualitäten wie Vieldeutigkeit, Widersprüchlichkeit und begriffliche Unbestimmbar-

nen gehen hingegen davon aus, dass die gemeinte Zweitbedeutung vieldeutig und mit der Erstbedeutung annähernd gleichwertig ist und dass der Verweis zwischen Erst- und Zweitbedeutung einen vorbegrifflichen mentalen Status hat.

142 keit. Die Zuschreibung eines solchen Aussagemodus steht jedoch im Spannungsverhältnis zu einer grundlegenden Eigenschaft diskursiver Interpretationshandlungen: Diese schreiben Texten stets bestimmte Bedeutungen zu (2.4.3). Das Resümee (2.5) hebt die drei zentralen Aufgaben dieses Kapitels hervor. Die erste Aufgabe ist die Untersuchung der propositionalen Interpretationsakte und ihre Beurteilung nach Maßgabe des in ihnen erhobenen Wahrheitsanspruchs (2.5.1). Die zweite Aufgabe ist die Analyse der illokutionären Akte. Wie sich zeigen wird, haben Interpretationsakte, die im weitesten Sinne literaturwissenschaftliche sind, primär eine explanative Funktion in Relation zum Interpretationsgegenstand. Interpretatorische infelicities entstehen in der Literaturwissenschaft nicht allein schon durch die Existenz einer weiteren illokutionären Funktion (Behauptung einer Theorie, Rechtfertigung eines Auslegungsverfahrens usw.), sondern erst durch die Instrumentalisierung der Explanation für einen anderen illokutionären Akt (2.5.2). Die dritte Aufgabe ist das Ziehen praktischer Konsequenzen aus den analysierten Interpretationsproblemen. Weil solche Konsequenzen von den Lesern dieser Studie nur in ihren je eigenen Handlungszusammenhängen und in Bezug auf höchst unterschiedliche Gegenstände realisiert werden können, stehen am Ende keine bestimmten Handlungsrezepte, sondern einige Maximen und Leitfragen für die interpretatorische Selbstreflexion und Selbstkorrektur (2.5.3). 2

2.1

Transzendenter Sinn: W . B e n j a m i n s Theologie der Erlösung

2.1.1 Beschreibung der Interpretation Walter Benjamins in den Jahren 1921/22 entstandener Wahlverwandtschaften-Essay gliedert sich in drei Abschnitte, deren Themen und systematische Funktionen in einem Entwurf folgendermaßen benannt sind: „das Mythische als Thesis", „die Erlösung als Antithesis" und „die Hoffnung als Synthesis" (1974, Bd. I, S. 835f.). Im ersten Abschnitt zeigt der Interpret die Natur-, Schicksals- und Todesverfallenheit der Romanfigu2

Eine vierte Aufgabe ist die Beschreibung der (insbesondere historischen) Handlungsbedingungen, unter denen die Interpretationen erfolgen. Die eigentlich hierfür erforderlichen Verfahren einer differenzierten Wissenschaftsgeschichtsschreibung würden den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Zu den historischen Interpretationsbedingungen werden deshalb in den Kapiteln 2.1 bis 2.4 nur einige tentative, als Diskussionsvorschläge gemeinte Überlegungen angestellt.

143 ren auf; im zweiten Abschnitt behauptet er, dass die Protagonisten in der eingeschobenen Novelle „Die wunderlichen Nachbarskinder" eine Entscheidung fallen, die sie von der Macht des Schicksals und des Todes im Diesseits erlöst; im dritten Abschnitt behauptet er, dass es innerhalb der Romanhandlung ein Hoffnungszeichen für eine kommende Erlösung vom Tode gibt. Mit diesem Dreischritt greift der Interpret, so behaupte ich, die alexandrinische Lehre vom dreifachen Schriftsinn auf, die beginnend mit dem hellenisch-jüdischen Religionsphilosophen Philon von Alexandria im 1. nachchristlichen Jahrhundert - zwischen dem physischen, dem psychischen und dem pneumatischen, also dem körperlichen, seelischen und geistigen Schriftsinn unterschied (vgl. z.B. Freytag 1982, S. 30). Benjamin deutet das Mythische als den physischen bzw. historischen Sinn des Romans, die Erlösung als den moralischen, auf das richtige Handeln bezogenen Sinn und die Hoffnung als den mystischen, auf die Transzendenz bezogenen Sinn. 3 Anders als die alexandrinischen Exegeten sucht Benjamin freilich die beiden höheren Schriftsinne im Text nicht kontinuierlich, sondern äußerst punktuell auf. Der erste Abschnitt des Essays untersucht und kritisiert jene SinnEbene des Romans, die der Interpret mit dem Terminus „Sachgehalt" (S. 125)4 oder pejorativ: „die blinde Erdschicht bloßen Sachgehalts" (S. 163) belegt. Hier seien die Romanfiguren - Goethes monistischer Lehre entsprechend - „völlig der Natur", genauer: der „Naturgewalt" unterworfen (S. 133). Sowohl die Natur als auch die in den Naturkomplex eingebundene kulturelle Sphäre werde ihnen zu einem Zusammenhang von Symbolen (S. 154).5 Die „Einbeziehung sämtlicher Sachen ins Leben", die dann von den Figuren als Schicksalszeichen gedeutet werden, sei ein „Kriterium der mythischen Welt" (S. 139). Auch für den Leser stelle sich der mythische Verweisungszusammenhang als eine „Fülle vorankündigender und paralleler Züge" dar (S. 135). Goethe habe mit der „Technik" symbolischer Verweise zwischen den verschiedenen Sachgehalten eine „Betonung der mythischen Mächte in seinem Werke" hergestellt (S. 146). Ben-

4 5

„Für den Alexandrinismus, die auslegende Versenkung in überlieferte Schriften, spricht manches in der gegenwärtigen geschichtlichen Lage. Scham sträubt sich dagegen, metaphysische Intentionen unmittelbar auszudrücken; wagte man es, so wäre man dem jubelnden Mißverständnis preisgegeben", schreibt Adorno (1997, Bd. 11, S. 129) in einem Goethe-Essay. Manches spricht dafür, dass Adorno in diesem Punkt ganz bewusst an Benjamins Alexandrinismus, die Versenkung in den moralischen und den eschatologischen „Wahrheitsgehalt" der Dichtung, anknüpft. Seitenangaben dieser Art beziehen sich in Kapitel 2.1 auf Benjamin 1974ff. Bd. I. Nach Menninghaus (1986, S. 27) wird der im Wahlverwandtschaften-Essay entwickelte Gedanke einer mythischen „Topographie nicht nur der Natur, sondern auch der Gesellschaft und der Kulturlandschaft" später in Benjamins Passagen-Werk „geradezu ein Programm".

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jamin deutet die Verweise als „Todessymbolik" (S. 135). Die Figuren seien von Beginn an dem Tod verfallen, ohne ihrem Schicksal entgegenzutreten. Da sie dem Schicksal, das Benjamin in Anknüpfung an seine frühere Schrift Schicksal und Charakter als „Schuldzusammenhang von Lebendigem" bestimmt (S. 138; vgl. 1974ff., Bd. II, S. 175), nicht durch „Entschluß und Handlung" sittlich begegnen können, erstarren sie „entscheidungslos" (S. 176) und säumend (S. 139) im „Chaos der Symbole" (S. 154). Aus diesem Grund fehle ihrem Untergang die Qualität des Tragischen: Während der Tragödienheld den „Grat der Entscheidung" ersteige und sich jenseits des mythischen Abgrunds von „Verschuldung und Unschuld" im moralischen „Diesseits von Gut und Böse" befinde, sei diese Sphäre den Goetheschen Romanfiguren, auch der Ottilie, nicht erreichbar: „Untragischer kann nichts ersonnen sein als dieses trauervolle Ende" (S. 176f.). Wie man aus diesem Referat ersehen kann, ist das Mythische für den Benjamin des Wahlverwandtschaften-Essays nicht durch ein Vorhandensein bestimmter weltbildlicher Inhalte gekennzeichnet, die in Mythologien magaziniert sind, sondern durch eine strukturelle und eine epistemische Eigenschaft: durch die interne Verbundenheit aller Inhalte (vgl. Menninghaus 1986, S.68) und durch die Ausschließung eines zwischen gut und böse bzw. wahr und unwahr unterscheidenden Urteils. Die erste Eigenschaft bedingt die zweite: Wegen der nicht-linearen, uneindeutigen Mehrfachverbindung der Zeichen untereinander ist das „Verhältnis von Mythos und Wahrheit" fur Benjamin eines „der gegenseitigen Ausschließung. Es gibt keine Wahrheit, denn es gibt keine Eindeutigkeit und also nicht einmal Irrtum im Mythos", sondern bloß „Indifferenz gegen die Wahrheit" (S. 162).6 Benjamin stand bei seiner Allegorese vor der doppelten Aufgabe, einerseits das im Roman gestaltete mythische Denken zu kritisieren, andererseits durch den Aufweis einer außermythischen Wahrheit des Romans nachzuweisen, dass die Beschäftigung mit einem dermaßen vom Mythischen bestimmten Text gleichwohl lohnend und legitim ist.7 Das Ziel seiner Wahlverwandtschaften-Kritik ist die „Einsicht in einen Lichtkern

6

7

R.-P. Janz (1983, S.375) weist d a r a u f h i n , dass die dualistische Entgegensetzung von Mythos und Wahrheit in Benjamins Bachofen-Aufsatz von 1934 aufgelöst ist; Steiner (1989, S. 160ff.) zeigt, dass mythische Verwobenheit und unterscheidendes Urteil in Benjamins frühem Hölderlin-Aufsatz noch nicht schroff antithetisch entgegengesetzt, sondern in der Denkfigur des Übergangs vermittelt sind; für Hagestedt (2000, S. 161, Anm. 59) markiert der Wahlverwandtschaften-Essay eine „tiefgreifende platonische Umdeutung" des frühen Mythos-Begriffs. Dieses doppelte Bestreben verbindet Benjamins exegetisches Handeln mit den frühesten Dokumenten philosophischer Mythen-Allegorese in der Stoa.

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des erlösenden Gehalts" und „die Abhebung der Schicht, in der der Sinn des Romans selbständig", nämlich losgelöst vom Mythos, „waltet" (S. 158). Sollte sich der Nachweis, dass im Text die „lebendige Flamme" der „Wahrheit" lodert (S. 126), als unmöglich erweisen, so wären die Wahlverwandtschaften einer philosophischen Betrachtung unwürdig. In diesem Fall handelte es sich „nicht um Dichtung, sondern allein um deren Vorläufer, das magische Schrifttum" (S. 158). Dem Interpreten Friedrich Gundolf wirft Benjamin vor, den Roman in diesem Sinne als ein ausschließlich mythisches Dokument behandelt zu haben: „keine Denkart ist verhängnisvoller als die, welche selbst dasjenige, was dem Mythos zu entwachsen begonnen, verwirrend in denselben zurückbiegt" (S. 163). Das Versäumnis, die Frage nach der „Wahrheit" der Dichtung zu stellen, entspreche Gundolfs indifferenter, „verwirrend" tropischer ExegeseSprache, die nirgendwo den „Grund" des „Logos" erreiche (ebd.). Für seine eigene Deutung erhebt Benjamin mithin den Anspruch, die Wahrheit des zunächst mythisch-indifferenten Textes zu bestimmen. Die Allegorese tritt auf als eine doppelte Apologie: zum einen des Romans, den ein monistisch denkender, von der „Idolatrie der Natur" (S. 149) durchdrungener Dichter verfasste, zum anderen der Beschäftigung mit diesem Roman. Im Vorgriff auf Abschnitt 2.1.3 können wir die beabsichtigte Illokution bestimmen als epistemisch (Erörterung der Wahrheit) und legitimativ (Rechtfertigung des Romans und seiner Lektüre). Der zweite Abschnitt des Essays deutet zunächst den - wie es im ersten Teil ankündigend heißt - ,,moralische[n] Gehalt dieses Werkes" (S. 144). Benjamin versucht aufzuzeigen, dass der Text ein Modell des diesseitigen richtigen Handelns enthält und dass dieses Modell nicht durch den Eingriff einer transzendenten Macht in den Roman gelangt, sondern durch eine Steigerung des Lebens zur Wahrheit. Dem Interpreten zufolge habe der empirische Autor Goethe während der Entstehung des Romans begonnen, am „Wahren einzig" sich zu orientieren, dessen „Gesetze" in ihm schließlich die „allerhöchste Flamme seines Lebens" entfacht und „die Schlacken jeder Leidenschaft" verbrannt hätten. Goethes Spätwerk, das mit den Wahlverwandtschaften einsetze, „bezeugt und begleitet die Läuterung" zur Wahrheit (S. 165). Diese Läuterung ist im Kontext der Benjaminschen Theologie ein Indiz dafür, dass Goethes Leben nicht gänzlich dem Mythos angehört haben kann, sondern ursprünglichen Anteil an der Wahrheit gehabt haben muss: „Dem wahrhaft Göttlichen eignet nämlich der Logos, es begründet das Leben nicht ohne die Wahrheit, den Ritus nicht ohne die Theologie" (S. 163). Zwar postuliert Benjamin in Abgrenzung gegen Friedrich Gundolf, „Goethes Leben" solle „von dem der Werke streng geschieden werden" (S. 160), und er behauptet später im 3. Abschnitt ganz im Sinne dieses Postulats, dass

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an der entscheidenden Stelle des Romans „etwas jenseits des Dichters der Dichtung ins Wort" falle (S. 182), nämlich „die erhabne Gewalt des Wahren" (S. 181). Gleichwohl sieht Benjamin in der Tatsache, dass im Roman, „wie dunkel darin der Mythos auch walte, eine reinere Verheißung sichtbar" werde (S. 167),8 die Bezeugung und Begleitung jener Hinwendung zum Wahren, die sich im Leben des Autors ereignet habe. Ort der Verheißung ist für Benjamin die eingeschobene Novelle von den wunderlichen Nachbarskindern (WV 11,10, S. 471^478).' Nach seinem Urteil „waltet in dieser Novelle das helle Licht" (S. 169), denn „den mythischen Motiven des Romans entsprechen jene der Novelle als Motive der Erlösung. Also darf, wenn im Roman das Mythische als Thesis angesprochen wird, in der Novelle die Antithesis gesehen werden" (S. 171). Der Exeget deutet den Todessprung des Mädchens und den rettenden Sprung ihres Geliebten als einen „Augenblick der gemeinsamen Todesbereitschaft" (S. 188). Ihre „mutige Entschließung genügt, ein Schicksal zu zerreißen, das sich über ihnen ballen" wollte (S. 170). Der Sprung beider Figuren sei ein punktuelles, von der Gewalt der „wahren Liebe" (S. 188) bewirktes, sittliches Aufbegehren gegen das Schicksal eben jener „Kampf, zu dem Eduard und Ottilie nicht fähig seien (S. 184). Der Entschluss schafft die Bedingungen dafür, dass den Liebenden in der Novelle „durch göttlichen Willen das neue Leben" geschenkt wird (S. 188). Sie treten aus dem „Schuldzusammenhang" heraus in die „gänzliche Geborgenheit des Daseins". Die durch eigene Todesbereitschaft begünstigte „Erlösung" vom Schicksal ist „der Sinn ihres Handelns" (S. 171) und - wie gesagt - der „moralische Gehalt dieses Werkes" (S. 144). Goethe hat - folgt man dieser Lektüre - den als „Schemen" (vgl. S. 175) im Mythischen verharrenden Romanfiguren diametral die vom Schicksal erlösten Lichtgestalten der Novelle entgegengesetzt. Darin, dass sie sich dem Schicksal entgegenwerfen, ähneln diese Figuren Benjamins Bestimmung des Tragödienhelden - allerdings bei zwei Unterschieden: Während der Held untergeht, werden die Liebenden der Novelle gerettet; und während in der Erkenntnis des Tragödienhelden, „daß er besser ist als seine Götter" (Schicksal und Charakter, Benjamin 1974ff. Bd. II, S. 175), der Dualismus von Sittlichkeit und Natur fortbesteht, suspendiert die „gänzliche Geborgenheit des Daseins" den Gegensatz. 8

9

Dieses Argument ist innerhalb einer theologisch-apologetischen Interpretation von Goethes Spätwerk nicht neu. Aus katholischer Perspektive schrieb Joseph Görres (1845, S. 95) über die letzte Szene des Faust II, dort habe der Autor einen „Blick ins Land der Verheißung" geworfen. Seitenangaben dieser Art beziehen sich im gesamten 3. Kapitel auf die Frankfurter Ausgabe der Wahlverwandtschaften in Goethe 1985ff., Bd. I, 8.

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Diese Gemeinsamkeit und Unterschiedenheit in Relation zur Tragödie rückt die Deutung der Novelle in die Nähe eines anderen Genres, dem Benjamin in seinem zwischen 1928 und 1935 entstandenen Aufsatz Der Erzähler eine ähnliche Nachbarschaft zur Tragödie zugesprochen hat: „Der befreiende Zauber, über den das Märchen verfügt, bringt nicht auf mythische Art die Natur ins Spiel, sondern ist die Hindeutung auf ihre Komplizität mit dem befreiten Menschen" (1974ff., Bd. II, S.458; vgl. Menninghaus 1986, S. 87f.). Diese Bestimmung entspricht genau Benjamins Auffassung von der eingelassenen Novelle und liest sich wie eine Deutung des (im Wahlverwandtschaften-Essay nicht zitierten) Erzählerkommentars zur Rettung der Geliebten: „Das Wasser ist ein freundliches Element fur den der damit bekannt ist und es zu behandeln weiß. Es trug ihn, und der geschickte Schwimmer beherrschte es" (WV 11,10; S.476). Weil die Erlösung in der Novelle für Benjamin eine märchenhafte „Antithese" zur „These" des Mythischen ist, muss es eine „Synthese" geben, nämlich ein Aufscheinen der Erlösung innerhalb der mythischen Welt. Der „moralische Gehalt" der Novelle ist für Benjamin daher nur die Durchgangsstufe auf dem exegetischen Weg zum „Mysterium" des Romans (S. 200f.), das von der Hoffnung auf Versöhnung kündet. Ganz ausdrücklich deutet der dritte Abschnitt den mystischen Sinn, der in der alexandrinischen Tradition pneumatisch und in der Scholastik anagogisch hieß. Wörtlich meint Anagoge ein In-die-Höhe-Führen, und tatsächlich lenkt Benjamin den Blick des Lesers nicht nur auf die Transzendenz, sondern auch räumlich in die Höhe, wenn er das Mysterium des Romans in dem folgenden Erzählerkommentar lokalisiert: „Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel fallt, über ihre Häupter weg" (WV 11,13, S.493). Die Kühnheit von Benjamins Auslegung dieses Satzes lässt sich an dessen narrativer Einbettung ermessen. Eduard und Ottilie fassen Hoffnung auf eine baldige Liebesvereinigung und tauschen erstmals, wie es heißt, „entschiedene, freie Küsse" (ebd.). Das nachfolgende Unheil, der Tod des kleinen Otto, macht alle Hoffnung zunichte. Der Erzählerkommentar vergleicht also antizipatorisch die trügerische Hoffnung der beiden Geliebten mit einem fallenden Stern, einer Sternschnuppe. Benjamin jedoch schreibt: „Jene paradoxeste, flüchtigste Hoffnung taucht zuletzt aus dem Schein der Versöhnung, wie im Maß, da die Sonne verlischt, im Dämmer der Abendstern aufgeht, der die Nacht überdauert" (S. 200). Der Vergleich der subjektiven Hoffnung der Figuren mit einem fallende Stern bringt im Roman zunächst die objektive Hoffnungslosigkeit und - durchaus im Sinne von Benjamins Deutung der Symbole - die Todesverfallenheit der beiden Figuren zum Ausdruck; Benjamin deutet den von Goethe nicht etwa in einer Landschaftsbeschreibung, sondern nur im vergleichenden Erzählerkommentar erwähn-

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ten Stern als dauerhaften Stern, der fur die „wahre Versöhnung mit Gott" (S. 184) stehe sowie für „die Hoffnung auf Erlösung, die wir für alle Toten hegen" (S. 200). Wie lässt sich dieser Gegensatz zwischen der manifesten Textaussage und Benjamins Auslegung erklären? Bernd Witte zufolge belässt Benjamin es in seiner Interpretation des Sterns nicht dabei, „die vom Dichter gesetzten Zeichen mit neuem Sinn zu belehnen". Unter dem Druck seiner theologischen Intention habe er vielmehr die Zeichen „selbst angreifen und - unbewußt wohl - in seinem Sinne umformen" müssen (1976, S. 81). Diese Kritik übersieht Benjamins Unterscheidung zwischen der mythischen Welt des Sachgehalts, innerhalb der die Romanfiguren agieren, und der außermythischen Welt des Wahrheitsgehalts, die sich allein dem kritischen Leser darstellt. Auch für Benjamin ist den Romanfiguren fiktionsintern keine Hoffnung gegeben: „Sie gewahren sie freilich nicht" (S. 200), heißt es ausdrücklich. Eduard und Ottilie gehören zu den „Hoffnungslosen"; für sie ist der Stern, wie Benjamin wörtlich wiederholt, „der fallende Stern" (S.201) und eben nicht der die Nacht überdauernde Stern der Venus. In dem Motiv des Fallens nehme der „Erzähler" - einer Stelle in Dantes Göttlicher Komödie folgend - „die Hoffnungslosigkeit der Figuren in sich selber auf [...]" und erfülle konträr dazu „im Gefühle der Hoffnung den Sinn des Geschehens" (S. 200). Wie Dante stelle der Wahlverwandtschaften-Autor das falsche, tödliche Hoffen der Figuren als deren Hoffnungslosigkeit dar und bringe zugleich die wahre Hoffnung auf Erlösung mystisch zum Ausdruck. 10 Benjamins allegorische Operation besteht darin, den Stern, der innerhalb der Sphäre des „mythischen" Sachgehalts ein fallender Stern der Hoffnungslosigkeit ist, innerhalb des theologischen Wahrheitsgehalts als einen Dauerstern der Hoffnung zu deuten, den die Dichtung uns, nicht den Hoffnungslosen, gibt. So ist der letzte Satz des Essays gemeint: „Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben" (S.201). Die Behauptung, dass die Dichtung uns - nicht den Figuren - tatsächlich das Mysterium der Hoffnung vermittle, begründet Benjamin mit der

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Den Figuren selbst ist Benjamin zufolge der „Schein der Versöhnung" zwar ebenfalls gegeben, aber auf andere Weise. Als Liebende haben sie Anteil an der Idee der Versöhnung, denn der „Ursprung" der Liebe „ist die Ahnung des seligen Lebens" (S. 196). Diese Ahnung ist ihnen nicht positiv im Mysterium der Hoffnung gegeben, sondern ex negativo in der ,,tränenvolle[n] Klage" der „Rührung" über das eigene Schicksal (S. 192). Ihr Bezug auf die Idee der Versöhnung kann kein positiv-hoffender sein, denn die wahre Hoffnung ist nach Benjamin keine Hoffnung für das eigene Leben - solch eine falsche Hoffnung hegen Eduard und Ottilie an der fraglichen Stelle - , sondern allein „die Hoffnung auf Erlösung, die wir fur alle Toten hegen. Sie ist das einzige Recht des Unsterblichkeitsglaubens, das sich nie am eigenen Dasein entzünden d a r f (S. 200).

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Beobachtung, dass der fragliche Satz über den Stern der Hoffnung durch eine erzählerische „Cäsur" markiert sei, an der „alles inne hält" (S. 200).11 Dieses Innehalten erfasst - anders lässt sich Benjamins Argumentation an dieser Stelle nicht verstehen - auch den zeitlichen Ablauf des „mythischen" Geschehens und mithin auch das Fallen des Steins. Innerhalb der mythischen Welt ist der Stern bloß ein weiteres Todessymbol - deshalb sein Fallen. Zur „gemäßefn] Ausdrucksform dessen, was vom Mysterium im genauen Sinn dem Werke einwohnt", kann „das Symbol des über die Liebenden herabfahrenden Sterns" allein dadurch werden, dass die Vorstellung des Sterns - wie es in den von Benjamin zitierten Ausführungen Hölderlins über die „Cäsur" heißt - „dem reißenden Wechsel der Vorstellungen" enthoben ist (S. 182). Benjamin argumentiert, dass dem Dichter Goethe „unter dem Symbol des Sterns [...] die Hoffnung erschienen [ist], die er für die Liebenden fassen mußte" (S. 199), auch wenn das schicksalhafte Kontinuum der Erzählung ihm gebot, den Stern fallen zu lassen. Die Argumentation ist nicht schon darin problematisch, dass sie den fallenden Stern der Hoffnungslosigkeit in einen dauerhaften Hoffnungsstern verwandelt, sondern erst darin, dass sie - wie unsere Analyse zeigen wird - auf einen analytischen Nachweis der angeblichen Zäsur verzichtet. Evidenz sucht die Interpretation allein in einer Parallelstelle, die zu Beginn des zweiten Abschnitts interpretiert und bei der Deutung des Sterns knapp erinnert wird. Es handelt sich um das - später als der Roman entstandene - Stanzengedicht Urworte, orphisch. Mit seinen fünf Urworten „Dämon", „das Zufällige", „Liebe", „Nötigung" und „Hoffnung" stehe das Gedicht, so Benjamin, in der Tradition des Astralmythos', der das mythische Leben eines Helden symbolisch an den Sternenhimmel versetzt. Dem schicksalhaften Geschehenszusammenhang der Wahlverwandtschaften entspreche der Zusammenhang der angeborenen bzw. erlittenen Mächte Dämon, Tyche, Eros und Ananke. „Elpis allein weist über sie", die mythische Symbolik, „hinaus" (S. 158). Elpis, die Hoffnung, „entriegelt" in Goethes Gedicht die „widerwärt'ge Pforte" der „ehrnen Mauer", überwindet also den im Begriff der Ananke mitgemeinten Tod (Goethe 1985ff., Bd. 1,1/2, S.501f.). Benjamin fasst Elpis, die Hoffnung, als ein Mysterium auf, das die Ordnung des Mythischen transzendiert. Diese Kommentierung der Urworte mit dem Astral-Mythos und die Erhebung der Elpis-Stanze zu einer für die Wahlverwandtschaften sinnstiftenden Parallelstelle soll die mystische Umdeutung des fallenden Sterns plausibilieren, wenn es im dritten Abschnitt des Essays heißt:

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Zu Benjamins Begriff der Zäsur vgl. Steiner 1989, S. 299f. sowie unten Abschnitt 2.1.4.

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„Elpis bleibt das letzte der Urworte: [...] die Hoffnung auf Erlösung, die wir für alle Toten hegen" (S. 200). Den einzigen im Roman selbst erkennbaren Beleg für eine vom Autor gefasste Hoffnung für die Toten erklärt Benjamin hingegen für unbrauchbar. Es handelt sich um den letzten Halbsatz des Romans, in dem der Erzähler über die beigesetzten Liebenden sagt: „[...] und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen" (WV 11,18, S. 529). Als positiver Beleg scheide dieser Satz aus, weil die „christlich-mystischen Momente" am Ende des Romans - gemeint sind wohl die nazarenischen „Engelsbilder", die vom Gewölbe der Kapelle auf die Toten herabschauen - nur die Funktion hätten, „alles Mythische der Grundschicht zu veredeln", nicht aber es zu transzendieren. Diese Momente seien „fehl am Ort" (S. 200), weil Ottilies Tod nur als „Sühne im Sinne des Schicksals" gestaltet sei, nicht aber als eine durch göttliche Gnade geschehende „heilige Entsühnung" vom Schicksal (S. 176; vgl. Menninghaus 1986, S. 85f.). Die einzig „gemäße Ausdrucksform" des Hoffnungsmysteriums ist für Benjamin deshalb „nicht dies nazarenische Wesen, sondern das Symbol des über die Liebenden herabfahrenden Sterns" (S. 200). 12 Die moralische Deutung des Sprungs und die anagogische Deutung des Sterns sollen nun näher analysiert und in Relation zu Benjamins Grundannahmen über das Kunstwerk Die Wahlverwandtschaften gestellt werden.

2.1.2 Propositionale Interpretationsakte (1)

Erstbedeutungen

Betrachten wir zunächst die Selektion der allegorisch gedeuteten Stellen unter inhaltlichen und formalen Kriterien. Die beiden Stellen in Kapitel 11,10 („Die wunderlichen Nachbarskinder") und Kapitel 11,13 (Eduard und Ottilie) sind inhaltlich verbunden durch ein Motiv, das auch in dem von Stefan George stammende Motto des dritten Abschnitts enthalten ist: 12

Gustav Seibt und Oliver Scholz tragen einige Stellen zusammen, die zwar als Belege für Benjamins negatives Urteil über die aufs eigene, endliche Dasein gerichtete Hoffnung gelten können: „Hoffnung" sei im Roman an „Wahn" und falsche Projektion gekoppelt, sie werde „durch das Geschehen widerlegt" und erfahre durch den Erzähler eine „kalte Ironisierung"; Aussage des Werks sei die „Ablehnung von Hoffnung" (Seibt/ Scholz 1985, S.629f.). Die Behauptung jedoch, der Roman enthalte die Vorstellung einer das diesseitige Leben transzendierenden Hoffnung auf Erlösung, ließe sich sehr wohl auf den letzten Satz des Romans stützen, der aus oben genannten Gründen für Benjamin keinerlei Belegkraft hat.

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„den leib ergreif[en]" (S. 172). „Er faßte sie, wußte sie zu heben und zu tragen" (WV 11,10, S.476); „[...] indem er sie erst leidenschaftlich anblickte und sie dann fest in seine Arme Schloß. Sie umschlang ihn mit den ihrigen und drückte ihn auf das zärtlichste an ihre Brust" (WV 11,13, S. 493). In der Novelle geht der für Benjamin so bedeutsame Sprung dem Ergreifen des Leibs voraus; in der Romanhandlung folgt auf das Ergreifen unmittelbar jener Erzählerkommentar über die Hoffnung, den Benjamin zum Ort des „Mysteriumfs]" erklärt, welches „dem Werke einwohnt" (S.200). Die Selektion der mit einer höheren Bedeutung belehnten Elemente ist äußerst rigide: Im zweiten und im dritten Abschnitt konzentriert der Interpret sich jeweils auf ein Element. 13 Diese Exklusivität der Auswahl wird durch die beiden Motti unterstrichen, die genau auf die jeweils ausgezeichnete Situation verweisen: Im zweiten Abschnitt handelt es sich um ein Bruchstück einer späten Fassung von Hölderlins Hymne Patmos. Dort ist von den „Liebsten" die Rede, die „nahe" und doch auf „getrenntesten Bergen" wohnen und denen „unschuldig Wasser" sowie „Fittige" gegeben werden mögen, um „treuesten Sinns/ Hinüberzugehn und wiederzukehren" (S. 155). In diesem Motto ist die Erstbedeutung der Roman-Stelle (Verbindung der einander liebenden Nachbarskinder durch das vermittelnde Element des Wassers) mit der von Benjamin zugeschriebenen moralischen Zweitbedeutung (Unschuld, Treue) verbunden. Im dritten Abschnitt handelt es sich um zwei Verse aus einem Vierzeiler, den Stefan George für eine Tafel am Bonner Beethovenhaus verfasste: „Eh ihr den leib ergreift auf diesem sterne/ Erfind ich euch den träum von ewigen Sternen" (S. 172). Dieses Motto verweist genau auf die Situation, in der Eduard und Ottilie einander ergreifen und der Erzähler einen Stern erfindet, mit dem er die Hoffnung vergleicht. Auch hier ist die Erstbedeutung mit der eschatologischen Zweitbedeutung, die Benjamin dem Goetheschen Erzählerkommentar zuschreibt, im Motto bereits verbunden, und zwar durch den Begriff des Ewigen: Die „ewigen Sterne" Georges entsprechen dem Hoffnungsstern, der die mythische Nacht überdauert und auf „die Erlösung im ewigen Leben" (S. 154) verweist. Wie die Selektion der bedeutsamen Elemente, so ist auch deren Strukturierung von den zugeschriebenen moralisch-theologischen Gedanken bestimmt. Und zwar konstatiert Benjamin eine Antwortstruktur zwischen der einen Stelle, die qua Sprung auf das moralisch gute Leben im Diesseits verweist, und der anderen Stelle, die qua Hoffnung auf die Erlösung im Stande der „Offenbarung" (S. 195) verweist: „der Gewissheit des 13

Bekanntlich deutet B e n j a m i n im dritten Abschnitt ausführlich die Ottilie-Figur, aber eben nicht - w i e zu zeigen sein wird - als eine Allegorie.

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Segens, den in der Novelle die Liebenden heimtragen, erwidert die Hoffnung auf Erlösung, die wir fur alle Toten hegen" (S. 200). Diese Antwortstruktur ergibt sich aus der schon zitierten dialektischen Konstruktion Benjamins: Die im zweiten Abschnitt exegetisch aufgezeigte Erlösung sei lediglich eine Antithese zum Mythischen, die der nochmaligen Erwiderung bedürfe, damit die Erlösung, verwandelt in ein Mysterium der Hoffnung, in die mythische Welt des Romans hineingetragen werden könne. Es handelt sich um die Antwort der Synthese auf den Gegensatz von These und Antithese. Hinsichtlich der interpretatorischen Kommunikativität und Referentialität ist bemerkenswert, dass Benjamin in seiner Exegese der Novelle (S. 169-171) ohne jedes Zitat arbeitet; die paraphrasierende und mit eigenen, im Roman nicht enthaltenen Begriffen wie „Todessprung" und ,,lebendige[r] Strom" operierende Textbeschreibung ist alleinige Basis der Auslegung. Hingegen wird der Erzählerkommentar, in dem von der Hoffnung die Rede ist, vollständig zitiert. Die Belegstelle aus Urworte. orphisch wird wiederum überhaupt nicht zitiert; die für untauglich erklärte interne Belegstelle, der letzte Satz des Romans, wird falsch wiedergegeben. Benjamin schreibt: „[...] nur wie eine zitternde Frage klingt jenes ,wie schön' am Ende des Buches den Toten nach, die, wenn je, nicht in einer schönen Welt wir erwachen hoffen, sondern in einer seligen" (S. 200). Die Referenzstelle bei Goethe lautet: „welch ein freundlicher Augenblick" (WV 11,18; S. 529). Benjamin will zeigen, dass die „zitternde" Sprache Goethes der Größe des Mysteriums kaum gewachsen ist, welches der Dichtung an der früheren Stelle „ins Wort" fiel (S. 182). Diese Absicht fuhrt den Exegeten entweder dazu, den letzten Satz des Romans falsch zu exzerpieren resp. zu erinnern, oder sie bringt ihn sollten die Anführungsstriche kein Zitat, sondern eine Paraphrase anzeigen - zu der Auffassung, der Ausdruck „welch ein freundlicher Augenblick" lasse sich durch den Ausdruck „wie schön" sinngemäß, d.h. angemessen wiedergeben. Mit der Wiedergabe des Wortes „freundlich" durch das Wort „schön" stützt der Interpret die These, der intentionale Autor habe das seiner Dichtung von außen zugefallene Mysterium des seligen Lebens nicht vollkommen erfasst, sondern verharre noch mit dem letzten Satz in einer mythischen Vorstellung vom Leben. Allgemeiner und nüchterner formuliert: Die freie Wiedergabe des Referenztextes bewirkt, dass die interpretatorische Intertextualität an den untersuchten Stellen von hoher semantischer Dijferentialität ist. Nach Maßgabe der zugeschriebenen Theologie wird der Goethesche Text in Benjamins Text bruchstückhaft und durch andere Zeichen repräsentiert. Wird diese interpretatorische Intertextualität im Essay autoreferentiell reflektiert? In Benjamins Eingangsbemerkungen zur Aufgabe der Kritik

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könnte man eine Reflexion des Verfahrens sehen. Dort vergleicht der Exeget das Werk mit einem „flammenden Scheiterhaufen", dessen Materialien, nämlich der „Sachgehalt" der Dichtung, mit der Zeit verbrennt, während die „lebendige Flamme", nämlich der „Wahrheitsgehalt", „fortbrennt über den schweren Scheitern des Gewesenen und der leichten Asche des Erlebten". Den „Kommentator" vergleicht Benjamin mit einem „Chemiker", dem „Holz und Asche allein die Gegenstände seiner Analyse bleiben", während dem „Kritiker" - ähnlich wie dem „Alchimisten" - „nur die Flamme selbst ein Rätsel" ist: das Rätsel des „Lebendigen" bzw. der „Wahrheit" (S. 126). Man könnte diesen Vergleich so verstehen, dass der Kritiker allein auf die „Flamme" der Wahrheit achtet und das abgestorbene Material ignoriert. Das Bild des Alchemisten impliziert jedoch weit mehr als dies, nämlich in Opposition zur analytischen und bewahrenden Tätigkeit des Chemikers eine synthetische und verwandelnde Tätigkeit. Der Kommentator als Chemiker, der Kritiker als Alchemist - dieser Vergleich ist treffend für die zwei interpretatorischen Verfahren in Benjamins Essay. Während der erste, den Sachgehalten gewidmete Abschnitt immer wieder den Roman zitiert, die Zitate kommentiert und dabei zumindest partiell dem Handlungszusammenhang folgt, werden im zweiten und dritten Abschnitt die ausgelesenen sprachlichen Elemente des Romans miteinander verschmolzen und gleichsam ins Edelmetall heilsgeschichtlicher Begriffe verwandelt. (2)

Zweitbedeutungen

Die zugeschriebenen Zweitbedeutungen gehören jenem Bereich an, den wir als „Sinnwissen" bezeichnet haben (vgl. Kap. 1.1.2, Pkt. 1). Auffällig ist zunächst die Art und Weise, wie Benjamins Essay das Sinnwissen intertextuell einbindet (vgl. Kap. 1.1.2, Pkt. 2). Auf einen bestehenden Diskurs über die Begriffe Mythos, Schicksal, Schuld, Moralität, Entscheidung, Ausdrucksloses, Versöhnung, Erlösung und Hoffnung verweist der Essay in den entscheidenden Abschnitten nicht. Allein den Diskurs über die Ehe, insbesondere Kants Bestimmung in der Metaphysik der Sitten, referiert Benjamin explizit (S. 127ff.), doch geschieht dies um des Nachweises willen, dass die Sittlichkeit der Ehe nichts mit dem moralischen Sinn des Werkes zu tun hat. „Der Gegenstand der Wahlverwandtschaften" sei „nicht die Ehe", sondern es seien die mythischen „Kräfte" und Gewalten, die „im Verfall aus ihr hervorgehen" (S. 130f.).14 14

Die Ehe sieht B e n j a m i n im R o m a n nicht als Bestandteil der sittlich-göttlichen O r d n u n g dargestellt, sondern als bloßes Rechtsverhältnis. A l s solches sei sie den „ m y t h i s c h e n Gewalten des R e c h t s " untergeordnet, denen die natürliche, nicht-göttliche und d a r u m falsche Rechtsordnung generell verhaftet sei. - Z u r S u b s u m p t i o n der R e c h t s o r d n u n g

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Eine weitere Ausnahme bildet die Herkunft des Begriffs der Zäsur; hier zitiert Benjamin explizit „eine Stelle aus Hölderlins Anmerkungen zum Ödipus" (S. 181). Abgesehen von diesen Ausnahmen ist der referentielle und kommunikative Bezug auf die Interpretamente denkbar schwach. Der Grund hierfür ist vermutlich eine starke semantischen Differentialität des Essays gegenüber solchen Prätexten: In Benjamin-Kommentaren wird man vergeblich nach einer Theorie suchen, die der Exeget eindeutig übernommen hätte. Es ging ihm um eine Entwicklung originärer Gedanken. Das explizite Bezugsfeld dieses Nachdenkens ist nicht der philosophisch-theologische, sondern der literarische Prätext, also das Interpretandum. Aufgrund der schwachen Referentialität und starken semantischen Differentialität in Bezug auf seinen philosophisch-theologischen Prätext wurde der Essay selbst zum Gegenstand des Kommentars (Aufzeigen philosophisch-theologischer Quellen) und der Interpretation (philosophisch-theologische Auslegung). Durch eine vergleichende Untersuchung der Sekundärlitaratur über Benjamins Essay ließe sich die Selektivität, Strukturalität und Differentialität seiner Intertextualität genauer bestimmen: Welche Elemente aus den Prätexten greift er heraus, wie kombiniert und wie verändert er sie? Eine solche Untersuchung ist hier nicht möglich. Für unsere Analyse müssen wenige Hinweise genügen, die sich den drei zentralen Operationen von Benjamins Allegorese zuordnen lassen: (a) Negation des Mythischen, (b) Bestimmung des Moralischen und (c) Bestimmung des Mysteriums. (a) Der Kantische Dualismus von Naturgesetz und Moralität gilt einigen Forschern als entscheidend für „Benjamins Mythos-kritische Unterscheidung von natürlichem' und ,übernatürlichem Leben'" (Menninghaus 1986, S.74). Die kritische Abhebung einer wahren Sphäre des „Lichts" (S. 169) von einer mythischen Sphäre der „Schemen" (S. 175) markiert deutlich eine platonische Denktradition, deren Aktualisierung innerhalb der Literaturkritik möglicherweise durch Rudolf Kassner und Georg Lukäcs vermittelt ist (Witte 1976, S. 94). Eine Verwandtschaft mit der Religionsphilosophie Hermann Cohens wird in der Abwertung des Naturschönen gegenüber dem Erhabenen (Steiner 1989, S.304) und in der Mythoskritik gesehen (Deuber-Mankowski 2000, S. 97f.). Benjamins Mythosbegriff und seine Bestimmung des Verhältnisses von Mythos und Schönheit werden auf Franz Rosenzweigs Schrift Der Stern der Erlösung zurückverfolgt, wo die Rede ist von der „Geschlossenheit" und „rätselhaften Einheit des Lebendigen" als Merkmal des Mythos, in dem „das

unter die mythische Gewalt vgl. Benjamins 1920/21 verfasste Schrift Zur Kritik der Gewalt (Benjamin 1974ff., Bd. II, S. 179-203, insbes. S. 197ff.). Zu Benjamins Kritik an Kants Ehebegriff vgl. die Richtigstellung von Schödlbauer (1976, S. 95).

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Reich des Schönen" gegründet sei (zit. nach Steiner 1989, S. 292f.). Die von Benjamin intendierte Bannung und Stillstellung des natürlichen Lebens, welches die mythische Schicht des Kunstwerks durchwirke, wird als Kritik an der Lebensphilosophie Bergsons interpretiert (Wiesenthal 1973, S. 156f.). Dass Benjamin die mythische „Erfahrung unfaßbarer Naturzweideutigkeit" als eine Erfahrung der „Angst" bestimmt (S. 150f.) wird auf „die Angstanalyse Kierkegaards" zurückgeführt (Speth 1991, S. 138ff.). (b) Die Befreiung von der Angst ist nach Kierkegaard durch die Entscheidung für die ethische Existenz, durch den Sprung in sie möglich. Dass dies die entscheidende Quelle für Benjamins Deutung der Novelle sei, wurde verschiedentlich kommentiert (vgl. die ausfuhrliche Darstellung bei Speth 1991, S. 164-178). Zudem wurde daraufhingewiesen, dass Benjamin in seinem Aufsatz Schicksal und Charakter und auch im Wahlverwandtschaften-Essay an Hermann Cohens spezifisch jüdische Religions- und Moralphilosophie anknüpfe, indem er die Schuldhaftigkeit der natürlichen Existenz, die Lehre von der Erbsünde, zurückweise und ein Handeln außerhalb der mythischen Schuldverstrickung für möglich halte (Deuber-Mankowsky 2000, S. 98). Dem Messianismus Benjamins zufolge ist ein vollständig vom mythischen Bann befreites Handeln allerdings erst in einer unbestimmten Zukunft möglich. Dies lässt sich einwenden gegen die Gleichsetzung seiner Ethik sei es mit einem christlichen, auf Offenbarungsgewissheit beruhenden Denken (vgl. die entsprechende Kritik bei Wunder 1997), sei es mit Cohens neukantianischer Position (vgl. Wiesenthal 1973, S. 24ff.). (c) Dass die Hoffnung auf Erlösung und auf „Versöhnung mit Gott" (S. 184) von messianistischem Denken geprägt ist, wird in der Forschung kaum bezweifelt. Umstritten ist allerdings, ob Benjamin die messianische Erlösung jüdisch als Erlösung im Irdischen (Scholem 1968, S. 154ff.) oder gnostisch resp. christlich als Erlösung vom Irdischen denkt (Taubes 1986, S. 140). Der Streit könnte auf ein Schwanken Benjamins in diesem Punkt zurückgeführt werden sowie auf eine Uneinheitlichkeit und Überschneidung der entsprechenden Glaubenssysteme selbst, namentlich auf die gnostischen Elemente der Kabbalistik (vgl. Menke 1991, S. 395). Umstritten ist weiterhin, ob Benjamin im Sinne von Ernst Blochs Geist der Utopie die Erlösung als inneres Ereignis im Menschen (Taubes 1986, S. 140) oder gegen Bloch als transzendentes Ereignis denkt (Wunder 1997, S. 90f.). Diese Frage hängt wiederum mit der Bedeutung Kierkegaards zusammen. Auch wenn Benjamins „Hoffnung" für die „Hoffnungslosen" beeinflusst ist von Kierkegaards „Hoffnung" in der „Nacht der Hoffnungslosigkeit" - nämlich des Todes - (zit. nach Speth 1991, S. 185), so grenzt er sich von der christlichen Existenzphilosophie deut-

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lieh ab mit dem Satz, „daß die letzte Hoffnung niemals dem eine ist, der sie hegt, sondern jenen allein, für die sie gehegt wird" (S. 200). Entsprechend ist auch Benjamins „Versöhnung mit Gott" nicht zu verrechnen mit Kierkegaards „Gedanken der Selbstbegründung in und vor Gott", dem die Überzeugung von der „Innerlichkeit der Wahrheit" zugrunde liegt (so Speth 1991, S. 166). Dass Benjamin den Eingriff des „Wahren" in den Text an der sprachlichen Form und speziell an der Zäsur festmacht, ist nicht nur beeinflusst von Hölderlins zitierten Überlegungen zur Zäsur im Tragödienvers (vgl. Steiner 1993, S.297ff.), sondern auch von Scholems Aufsatz Lyrik der Kabbala?, der die Nüchternheit kabbalistisch-mystischer Hymnik als Gegensatz zur Sprache mythischer Magie bezeichnet und in der religiösen Hymnik „die Erlösbarkeit der Sprache und nicht nur der Sprache" verbürgt sieht (zit. nach Steiner 1993, S. 306).15 (3)

Verweisungsmodus

Betrachten wir nun den Verweisungsmodus zwischen Erst- und Zweitbedeutung. Hinsichtlich des Selektionsverhältnisses lässt sich sagen, dass sehr wenige ausgewählte Erstbedeutungen auf sehr komplexe moralphilosophische und theologische Gedanken verweisen. Dabei werden die Zeichen aus dem textuellen Zusammenhang herausgelöst und als einzelne der Exegese unterworfen. Dieses Verfahren wird in der BenjaminForschung kontrovers beurteilt. Für Witte (1976, S.74) handelt es sich um einen Willkürakt: Der „allegorische Kritiker" zerstöre den „intendierten Bedeutungszusammenhang" des Werkes, „um in dem übrig bleibenden leeren Gehäuse seinen eigenen konstruieren zu können". Für Kaulen (1987, S.267) handelt es sich hingegen um eine hermeneutische Freilegung objektiven Sinns, nämlich um die Technik, „von den einzelnen Teilen und besonderen Elementen der Sache aus, in grüblerischer Versenkung versuchsweise kritische, gegenwartsbezogene Zusammenhänge zu extrapolieren, die nicht nur dem Autor und seinen Zeitgenossen, sondern auch der Überlieferungsgeschichte in der Regel unbekannt geblieben sind". Auf die Frage, wie willkürlich das Verfahren ist, kommen wir zurück (vgl. u. 2.1.4). Entscheidend ist hier zunächst, dass Benjamin sein exegetisches Handeln mit einer poetologischen Bestimmung des besonderen Interpretationsgegenstands begründet: Der Sym15

Benjamin zitiert aus dem besagten Aufsatz Scholems den Satz, dass „eine Hymne selten (und mit ganzem Recht vielleicht niemals) ,schön' genannt werden wird" (S. 182), und er bezeichnet das mysteriöse Ereignis, „daß etwas jenseits der Dichtung dem Dichter ins Wort fallt", als den „Grund" fur die von Scholem wahrgenommene Ausdruckslosigkeit der Hymnik.

157 bolzusammenhang des Goetheschen Romans gilt ihm als ein Signum mythischer Indifferenz gegenüber der Wahrheit, und das einzelne Zeichen, das durch eine „Cäsur" aus dem Kontinuum herausgehoben wird, gilt ihm als ein bildlich-mystisches Korrelat des Logos, d.h. der einfachen, aber noch nicht zur „Offenbarung" gewordenen Wahrheit (S. 195). Dieser poetologischen Bestimmung entspricht die inhaltliche Deutung: Der Symbolzusammenhang des Romans steht für Schicksal und Tod, das Einzelzeichen des Sterns für die (Hoffnung auf) Versöhnung mit Gott. Benjamins interpretationstechnische Zerstörung der Zeichenzusammenhänge und seine Belehnung eines Einzelzeichens mit der höchsten Wahrheit verbindet zwei Antithesen miteinander: einerseits den poetologischen Gegensatz zwischen der unwahren Korrespondenz und dem auf die Wahrheit verweisendem Einzelzeichen (im Trauerspielbuch ist dies der Gegensatz von Symbol und Allegorie), andererseits den inhaltlichen Gegensatz von vergänglicher, todgeweihter Natur 16 und ewigem göttlichem Leben. Wir werden weiter unten die Frage erörtern, ob diese zweiseitige Verankerung des Verfahrens in der Poetik und in der inhaltlichen Auslegung ein Indiz der besonderen Schlüssigkeit oder ein Indiz der Kurzschlüssigkeit ist. Aus Benjamins Poetik ergibt sich auch das Ambiguitätsverhältnis, welches er dem Zusammenhang von Erst- und Zweitbedeutung unterstellt: Die allegorische Deutung ist eine Desambiguierung jener Zeichen, die innerhalb der mythischen Sphäre der Sachgehalte vieldeutig sind. Benjamin spricht vom „Chaos der Symbole" (S. 148) und von der „Erfahrung unfaßbarer Naturzweideutigkeit" (S. 150), die Goethes Weltbild bestimme und auch in den Wahlverwandtschaften als das „Geheimnis" mythischer Bedeutung wiederkehre (S. 146). Während die Romanfiguren - eingeschlossen in der mythischen Schicht und in ihrer eigenen „Verblendung" (S. 136) - an den Schicksalszeichen herumdeuten und mithin die Ambiguität des Mythos wahrnehmen und reproduzieren (worin ihnen der auf den Sachgehalt beschränkte Exeget Friedrich Gundolf folge), spricht der allegorische Exeget zwar keine offenbarte Wahrheit aus (weil sie noch nicht offenbar ist), wohl aber schafft er Eindeutigkeit im Verweis der mystischen Zeichen auf Wahrheit und Unwahrheit; er hebt die mythische „Indifferenz" (S. 162) auf. Unter dem Blick des allegorischen Exegeten lässt sich der mythische Verweisungszusammenhang in toto als eindeutige „Todessymbolik" (S. 135) und das aus dem Zusammenhang gelöste „Symbol des Sterns" als eindeutiges Hoffnungszeichen für die

16

„Denn messianisch ist die Natur aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis", lautet der entsprechende Glaubenssatz in Benjamins Theologisch-polilischem Fragment (1974, Bd. II, S. 204).

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Erlösung vom Tode begreifen. Damit ist eine formale, nicht inhaltliche Eindeutigkeit hergestellt: ein unzweideutiger Bezug des Symbols auf die Wahrheit, nicht ein positives Aussprechen dessen, was „Erlösung" einst sein wird. Das Ähnlichkeitsverhältnis von Erst- und Zweitbedeutung ist allerdings äußerst konventionell; ja man könnte sagen, dass Benjamin dem Roman eine sehr bescheidene figurative Rhetorik zuschreibt. Dem physischen Sprung der Liebenden in der Novelle verleiht der Interpret einen psychisch-moralischen Sinn - in der Moralphilosophie ist der Sprung eine geläufige, geradezu verblasste Metapher der Entscheidung. Auch Goethes Vergleich der Hoffnung mit einem Stern folgt einer denkbar konventionellen Metaphorik - Benjamins Auslegung des Sterns als Aufscheinen transzendenter Wahrheit steigert diese Konventionalität ins Klischee, da die unkonventionelle Pointe, der einschränkende Relativsatz „der vom Himmel fallt", durch die angebliche „Zäsur" suspendiert wird. Die von Benjamin zum Mysterium erklärte Vorstellung des Hoffnungssterns, der insgeheim über den Umschlungenen verharrt, ohne dass diese ihn wahrnehmen können, entspricht - wie das George-Motto zeigt einer neuromantischen, von Trivialität nicht freien TranszendenzBegeisterung, die den Weltkrieg nicht unbeschadet überlebt hatte.17 Der Wahlverwandtschaften-Essay steht - etwas verspätet - im Kontext der Neuromantik, das Trauerspielbuch im Kontext des Expressionismus. Jener Bezug wird durch die Wahl des George-Mottos ausgedrückt, dieser in der Erkenntniskritischen Vorrede expliziert: Die vorgelegte neue „Einsicht" ins Barock sei geschichtlich an den „Ausbruch des Expressionismus" gebunden und an dessen globale ästhetische „Umwertung", die „nicht unberührt von der Poetik der Georgischen Schule" erfolgt sei (Benjamin 1974ff., Bd. I, S.234f.). Benjamin reflektiert also ausdrücklich die Abhängigkeit seiner philosophischen Entwicklung von der literaturgeschichtlichen Entwicklung. 18 Das logische und ontologische Verhältnis zwischen Sachgehalt (Erstbedeutung) und Wahrheitsgehalt (Zweitbedeutung) ist weitaus komplizierter als das formale Verhältnis und weniger konventionell als das Ähnlichkeitsverhältnis. Der vergehende Schein (d.h. der fallende Stern) verweist auf den dauerhaften Schein (den Hoffnungsstern); etwas Vergehendes steht fur etwas Bleibendes. Hinter dieser Verweisungs-Logik steht ein Grundgedanke von Benjamins philosophisch-theologischer 17

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So entstand Schönbergs 2. Streichquartett, das ähnlich wie Benjamins Essay die George'sche Luft von anderem Planeten atmet, 1907/8 und kann durchaus als neuromantisch gelten; beim Expressionisten Schönberg verflüchtigt sich diese Luft. Mit die Nähe des Wahlverwandtschaften-Essays zur Poetik Georges erklärt Schödlbauer (1976, S. 103) die Heftigkeit der Polemik gegen „den allzu nahen Gegner" Gundolf.

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Ästhetik: die strenge Unterscheidung von Naturschönem und Kunstschönem. Sie zeigt sich im Wahlverwandtschaften-Essay deutlich an der Interpretation der Ottilie-Figur, die deshalb ausfuhrlicher referiert werden soll. Benjamin rechnet Ottilie des Seite des Naturschönen zu. Die Figur sei dem schicksalhaften Schuldzusammenhang verhaftet und daher von „zweideutiger Unschuld" (S. 179). Sie verkörpere die „lebendige Schönheit, welche stark, geheimnisvoll und ungeläutert als , Stoff in gewaltigstem Sinne" dem Dichter „sich aufdrängte" (ebd.). Die lebendige Schönheit gehört also zur Stoffschicht der Sachgehalte hinzu, sie ist der „höchste Sachgehalt" des Romans, dessen Bestimmung im ersten Abschnitt des Essays durch eine negative Formulierung angekündigt wird: „Nirgends ist [...] das Mythische der höchste Sachgehalt" (S. 140). Während die anderen Romanfiguren bloß „ein mythisches Schattenspiel" (ebd.) ausführen, ist Ottilie „unter Schemen der einzige Schein" (S. 175). Durch den schönen Schein der Ottilie-Figur wird die Sphäre des Sachgehalts allerdings nicht transzendiert, wie eine genaue Lektüre des Essays zeigt. Zwar ist für Benjamin jeder Schein, auch der Schein der natürlichen Schönheit, ein Anzeichen der Wahrheit, die er „lebendige Flamme" nennt (S. 126). In der Ottilie-Figur sei die Schönheit jedoch - im Unterschied zu einer Reihe anderer Protagonistinnen Goethescher Werke gänzlich an den ,,lebendige[n] Leib" gebunden. Der lebendigen Schönheit - also Ottilie - ist der Schein nicht wesentlich, weil er im Tod vergeht. In diesem Sinne deutet Benjamin Ottilies Sterben als einen „Untergang des Scheines". Wenn der Mensch, so Benjamin, im Tode „vor Gott tritt", gibt es kein Geheimnis mehr, welches sich unter dem Lebendigen verhüllt, und deshalb auch keinen Schein: „Unenthüllbar ist nur die Natur, so lange Gott sie bestehn läßt" (S. 126). Die Wahrheit, die sich im Untergang des Lebendigen enthüllt, bleibt transzendent; sie erscheint im Lebendig-Schönen nicht. Hiervon grenzt Benjamin die Bestimmung des Kunstschönen ab: Dieses sei nicht restlos vergänglich. „Ein Moment des Scheins jedoch bleibt noch im Unlebendigsten erhalten, für den Fall, daß es wesentlich schön ist - und dies ist der Fall aller Kunstwerke" (S. 194). Während die Verhüllung in der Sphäre des Lebendigen unwesentlich ist, weil dort die göttliche Wahrheit nur bis zum Moment des Todes verhüllt bleibt, macht die Verhüllung das Wesen des Kunstwerks aus.19 Die Fixierung des gött19

Benjamin sieht in Ottilie nicht das „Wesen der Kunst" allegorisiert (so Witte 1976, S. 73); und an der „Scheinhaftigkeit", die ihre „Schönheit bestimmt", lässt sich nicht „die Problematik [...] der Kunst allgemein fassen" (so Steiner 1989, S.287). Von Ottilies Schönheit bleibt nicht, wie vom Kunstwerk, ein „Moment des Scheins [...] noch im Unlebendigsten erhalten" (S. 194), sondern sie muss ganz „dem Tod [...] verfallen"

160 liehen Geheimnisses in künstlerischer Hülle ermöglicht es dem Kritiker, zwar nicht die Wahrheit, wohl aber ihre notwendige Hülle zu erkennen. Aufgabe der Kunstkritik ist es daher nach Benjamin, „zur Anschauung des Schönen als Geheimnis" des Wahren zu gelangen (S. 195). „Die Kunstkritik hat nicht die Hülle zu heben, vielmehr durch deren genaueste Erkenntnis als Hülle erst zur wahren Anschauung des Schönen sich zu erheben" (ebd.). Dass die Aufgabe der Kritik nicht darin besteht, die Hülle zu heben und den Schein zu zerstören (wie es dem lebendigen Schein im Tode widerfahrt), begründet Benjamin geschichtsphilosophisch, genauer: mit einer Theologie der Offenbarung. Wäre die Wahrheit des Kunstwerks vollständig zu enthüllen, d.h. vom Schein zu befreien, so würde vor der Zeit ausgesprochen, was erst im Stande der (messianischen) Offenbarung sagbar ist. „Göttlich notwendig ist solche Verhüllung zu Zeiten, wie denn göttlich bedingt ist, daß, zur Unzeit enthüllt, in nichts jenes Unscheinbare sich verflüchtigt, womit Offenbarung die Geheimnisse ablöst" (S. 195). Die Enthüllung des Lebendig-Schönen geschieht im Tode vor Gott und ist somit transzendent. Die Enthüllung des Kunstschönen geschähe im Diesseits und wäre die verfehlte Vorwegnahme einer „zu Zeiten" unmöglichen Offenbarung. Das „wesentlich Schöne" ist das Geheimnis dessen, was sich eines Tages offenbaren wird, es ist eine „geschichtsphilosophisch begründete Verhüllung der Wahrheit" (Steiner 1989, S. 309). Deshalb kulminiert der Wahlverwandtschaften-Essay in der exegetischen Operation, ein bestimmtes Zeichen des Romans als ein Mysterium, d.h. als ein Geheimnis der Hoffnung auf Erlösung zu bestimmen. Mit dem Begriff der Erlösung ist die göttliche Wahrheit nicht positiv, sondern negativ bezeichnet als eine Suspendierung der falschen Ordnung - der Ordnung des Todes, die ja zugleich als die Ordnung des Schicksals, des Mythos, der vergänglichen Natur und der indifferent aufeinander bezogenen Symbole gilt. Wohin die Erlösung positiv führt - das eben ist das vor der Zeit der Offenbarung nicht enthüllbare Geheimnis des Mysteriums. 20 (S. 198). Ottilies „pflanzenhaftes Stummsein" ist für Benjamin der natürliche Ort, an dem der schöne Schein sich „angesiedelt" hat (S. 175ff.). Deshalb muss dieser Schein mit dem natürlichen Leben vergehen. Zwar habe Goethe den Roman geschrieben, um in Ottilie „wahrhaft eine Vergehende zu erretten" (S. 199). Diese ästhetische Rettung erfolgt für Benjamin jedoch gerade nicht durch die Erhebung Ottilies zur Kunst-Allegorie - was der von ihm kritisierten ,Veredelung' des Mythischen in den „nazarenische[n]" Ottilie-Bildern der Kapelle gleichkäme (S. 200) sondern allein durch das vermeintliche Aufscheinen des Hoffnungssterns über der hoffnungslosen, mitsamt ihrer Schönheit dem Vergängnis geweihten Figur. 20

Es kann also kann keine Rede davon sein, dass der Wahlverwandtschaften-Essay „die Dichtung als Offenbarung der Wahrheit" beschreibt (so Witte 1976, S.68). Verfehlt ist auch die Behauptung, der Kritiker könne den Wahrheitsgehalt positiv darstellen, weil

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Auch für den mythischen Zusammenhang der „Todessymbolik" (S. 135) gilt aber der Satz: „Alle mythische Bedeutung sucht Geheimnis" (S. 146). Dem Dichter sei die Darstellung der mythischen Sachgehalte ein „Rätsel, dessen Lösung er in der Technik" symbolischer Verweise sucht. Die Aufgabe des theologischen Kunstkritikers besteht für Benjamin darin, diese Geheimnisse, die bloß auf den Schuldzusammenhang und den Tod alles Lebendigen verweisen, von jenen anderen Geheimnissen zu scheiden, die als Mysterien auf Erlösung vom Tode verweisen. In dem zentralen Gegenstand der Allegorese, dem fallenden Stern, verbinden sich das falsche, tödliche, und das wahre, dauerhafte Geheimnis. Der Stern gehört der mythischen Ordnung an und transzendiert sie zugleich. Das logische und ontologische Verhältnis zwischen Erst- und Zweitbedeutung ist hierbei nicht jenes von Schein und Wesen, sondern eines von vergänglichem und dauerhaftem, ephemerem und notwendigem Schein. Im Modus der Unterbrechung, eben der Zäsur, verweist das Fallen und Vergehen auf das Verharren und Bleiben des Scheins. Die eingehende Erörterung der semantischen Differenz (Ähnlichkeitsverhältnis, logisch-ontologisches Verhältnis) von Erst- und Zweitbedeutung erleichtert nun die Bestimmung des mentalen Status der von Benjamin unterstellten Verweisung zwischen Erst- und Zweitbedeutung. Die allegorische Verwandlung des fallenden Sterns in den überdauernden Stern wird, wie gesagt, einer Instanz zugeschrieben, die ,jenseits des Dichters der Dichtung ins Wort" fallt (S. 182): der ,,erhabne[n] Gewalt des Wahren" (S. 181), die sich im Kunstwerk als Negation des ästhetischen Ausdrucks manifestiert. Was dem „Schein Einhalt gebietet, die Bewegung bannt und der Harmonie ins Wort fallt ist das Ausdruckslose" (S. 181). Auch dies ist - wie das Suffix schon zeigt - eine negative Formulierung des Wahren: Dasjenige, „was im Kunstwerk im Gegensatze zum Schein als das Ausdruckslose bezeichnet werden d a r f , ist dadurch bestimmt, dass es „außerhalb dieses Gegensatzes in der Kunst [...] weder vorkommt, noch eindeutig benannt werden kann" (S. 194). Die Kunstkritik kann die Wahrheit nur ex negativo bestimmen, und zwar durch zwei Prozeduren: Indem sie rekonstruiert, wie die Zäsur dem unwahren Schein im Kunstwerk - hier: der Todessymbolik - Einhalt gebietet, und indem sie das wesentlich Schöne als eine notwendige Verhüllung der Wahrheit begreift, die sich erst in der Zeit der Offenbarung selbst enthüllt. Der mentale Status der Verweisung lässt sich somit als ein negativ-beder Schein „über dem historischen Abstand ,abgestorben'" sei (Wiesenthal 1973, S. 171). Die Offenbarung der reinen Wahrheit ist bei Benjamin an das „Messianische" gebunden, das sich „nicht begriffslogisch eindeutig bestimmen lässt. Es koinzidiert mit dem Ende der profanen Ordnung und hat insofern keinen angebbaren Ort" (Wunder 1997, S. 112).

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grifflicher bestimmen: Der Gegenstand der begrifflichen „Erkenntnis" kann nicht „eindeutig benannt", sondern nur als „Geheimnis" des Benennbaren formuliert werden. Die Erkenntnis, die das Geheimnis als solches bestimmt, ohne es begrifflich aufzulösen, findet in den beiden zentralen Allegoresen Benjamins die sprachliche Form von Substantiven, die das schlechthin Negative negieren: Der Sprung steht für Rettung (vor dem Tod) und Erlösung (vom Schicksal); der Stern steht für die Hoffnung auf Erlösung (vom Tod). Es gibt in beiden Fällen auch positive Begriffe, die das Wahre zu benennen versuchen: „gänzliche Geborgenheit des Daseins" (S. 171), „Seligkeit" (ebd.), das „selige Leben" (S. 196) und vor allem „Versöhnung" (S. 184, 192, 200). Diese Begriffe bleiben inhaltlich jedoch unbestimmt. Die „wahre Versöhnung" sei eine Versöhnung „mit Gott" und deshalb nur im Tode möglich. Sie sei „ganz überweltlich und kaum fürs Kunstwerk gegenständlich", habe allerdings in der „Aussöhnung der Mitmenschen ihre weltliche Spiegelung". Die Aussöhnung ist ihrerseits nicht positiv bestimmt, sondern als Negation des Streits. Im Unterschied zu den Figuren des Romans, die den „offenen Streit [...] stets vermeiden" und deshalb zu einer bloß „scheinhaften" Aussöhnung gelangen, suspendiert die Aussöhnung der Liebenden in der Novelle eine tiefe Zerrüttung und erfolgt durch die „todesmutigen" Sprünge ins Wasser, durch die Bereitschaft also, das irdische Leben zu „vernichten". Wegen dieser negativen Kraft kann sie zur weltlichen Spiegelung der Versöhnung werden (S. 184). Auf positive Weise gibt außer dem Novellenschluss, wo die Aussöhnung der Liebenden die Versöhnung mit Gott weltlich spiegelt (S. 184) allein der besagte Stern, „der die Nacht überdauert", einen „Schein der Versöhnung" (S. 200). Ins literarische Bild tritt die Versöhnung jeweils nicht durch eine realistische Ausgestaltung, sondern zum einen durch das „Verschwinden" der ausgesöhnten Novellen-Figuren „gleichsam in der unendlich fernen Perspektive" des Erzählens (S. 171) und zum anderen durch den mystischen Schein des Sterns (S. 196). Mit der mentalen Repräsentanz (Erkenntnis des Geheimnisses als notwendige Verhüllung eines noch nicht begrifflich Benennbaren) hängt das Wertverhältnis zusammen, das Benjamin zwischen Erst- und Zweitbedeutung herstellt. Auch in diesem Punkt tröge die Vermutung, es handle sich um einen einfachen Zusammenhang von falschem und wahrem Sinn. Obwohl der Interpret behauptet, die Sachgehalte seien der historischen Vergänglichkeit anheimgegeben, weist er der Sphäre der Erstbedeutungen einen hohen Rang zu, denn die kommentierende Versenkung in deren Details gilt ihm als Voraussetzung allegorischer Lektüre. Benjamins zu Beginn des Essays skizzierter Interpretationstheorie zufolge „fragt der Kritiker nach der Wahrheit, deren lebendige Flamme fort-

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brennt über den schweren Scheitern des Gewesenen" (S. 126). Am Ende ist dieser Dualismus von Flamme und Kohle dann überwunden: In natürlichen Geschöpfen zwar verzehrt die Flamme des göttlichen Lebens ihren natürlichen Stoff restlos; in Kunstwerken jedoch bleibt „ein Moment des Scheins" immer „erhalten" als notwendiger Schein der Wahrheit. Deshalb muss die Kritik sich auf die „genaueste Erkenntnis" des schönen Scheins „als Hülle" der Wahrheit konzentrieren (S. 194). An jeder Stelle des Textes könnte der vergängliche Schein auf den wesenhaften Schein der Wahrheit verweisen. In diesem Punkt ist Benjamins Verfahren diametral der Typologie scholastischer Exegese entgegengesetzt. Während die Scholastik sich in Besitz des offenbarten Wissens über das jenseitige Heil glaubt, auf das sie dann sämtliche Erstbedeutungen sämtlicher älterer Erzählungen als Präfigurationen beziehen kann, gibt es für Benjamin kein offenbartes metaphysisches Wissen. Solches ist allein durch die Versenkung ins Seiende zu gewinnen - zu dem auch die Sachgehalte der Dichtung zählen. Der Kritiker konzentriert sich ähnlich erwartungsvoll auf das künstlerische Dokument der Vergangenheit, wie die gläubigen Juden - den Thesen Über den Begriff der Geschichte zufolge - der Zukunft entgegensahen: „In ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte" (Benjamin 1974, Bd. I, S.704). Weil Ort und Gehalt des Mysteriums durch kein Offenbarungswissen definiert ist, wird jede einzelne Erstbedeutung zum potentiellen Ort einer notwendig verhüllten Wahrheit aufgewertet, während freilich der Zusammenhang der Erstbedeutungen zu einer Manifestation mythischer Indifferenz abgewertet wird.21

2.1.3 Illokutionäre Interpretationsakte Fragen wir nun nach dem, was Benjamin tut, indem er die genannten Stellen der Wahlverwandtschaften auf die analysierte Weise allegorisch liest. Explanativ, also texterklärend, ist die Deutung zunächst in Bezug auf die zentrale Thematik der Sachgehalte - der Erstbedeutungen - des Romans. Diese Thematik wird als „das Mythische" bestimmt; die verbindende Symbolik, die den gesamten Roman auf dieser Ebene „durchwebt", als „Todessymbolik" (S. 135f.). Mit diesen Begriffen will Benja21

Explizit reflektiert wird dieses Wertverhältnis im Trauerspielbuch, wo Benjamin über die Erstbedeutungen der barocken Allegorie schreibt, „daß jene Requisiten des Bedeutens alle mit eben ihrem Weisen auf anderes eine Mächtigkeit gewinnen, die sie den profanen Dingen inkommensurabel erscheinen läßt und sie in die höhere Ebene hebt, j a heiligen kann. Deshalb wird die profane Welt in allegorischer Betrachtung sowohl im Rang erhoben wie entwertet" (1974, Bd. I, S. 350f.).

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min „die Fülle vorankündigender und paralleler Züge im Roman" nicht in einer übertragenen, eigentlich gemeinten Bedeutung kritisch überschreiten, sondern er will die Erstbedeutungen darunter kommentierend zusammenfassen. Er nimmt an, der Autor habe den Roman seiner Naturauffassung entsprechend gestaltet: „Die Idee der Natur zu erfassen und sie damit tauglich zum Urbild der Kunst (zum reinen Inhalt) zu machen, das war im letzten Grund Goethes Bemühen in der Ermittlung der Urphänomene", heißt es in der Dissertation (1974ff., Bd. I, S. 112). Da es für Goethe jedoch „keine Hierarchie der Urphänomene" und keine Abgrenzung von Natur und Moral gebe, sei ihm das „Sein" der Natur ein „Chaos der Symbole", so der Wahlverwandtschaften-Essay (S. 148). Weil diese Erklärung sich an Goethes monistischer Naturauffassung22 orientiert, siedelt sie hinter der Natur keine andere, eigentlich gemeinte Bedeutungsschicht an. Vielmehr ist das Natürliche für Benjamin substantiell dem Tod verfallen; er spricht andernorts von der „ewigen und totalen Vergängnis" der Natur (Theologisch-politisches Fragment, 1974ff., Bd. II, S. 204). Bei der Interpretation der Todessymbolik unterstellt Benjamin daher keinen allegorischen Verweis der Natur auf den Tod, sondern nimmt - in Relation zu Goethe - eine Umdeutung dessen vor, was die Substanz der Natur ist. Auch Benjamins Allegorese hat eine partiell texterklärende Funktion. Das gilt für seine Hinweise auf die „Korrespondenzen, in denen mit unvergleichlich strenger Genauigkeit die Novelle dem Roman entspricht" (S. 196). Weil Benjamin den allegorischen Sinn der Novelle als Erlösung bestimmt, kann er behaupten, der Sprung ins Wasser zerreiße auf der Handlungsebene das Schicksal. Indem er diese allegorische Deutung vornimmt, erklärt er seinen Lesern den motivischen Zusammenhang von Roman und Novelle als Antithese von Mythischem und Erlösung. Mit gleichem Recht allerdings könnte man eine positive Ähnlichkeitsrelation zwischen dem Sprung des Jünglings und dem Sprung des Hauptmanns an Ottilies Geburtstag behaupten, durch den ebenfalls ein Leben gerettet wird. (WV 1,15, S.369). Daraus ergäbe sich dann keine kategorische Differenz zwischen Säumnis (Roman) und Entscheidung (Novelle), sondern eine irritierende Ähnlichkeit in moralischer Hinsicht bei diametral entgegengesetztem Ausgang (so Schödlbauer 1976, S. 104f.). Nicht in einem moralischen, rettenden Handeln einer Romanfigur sieht Benjamin die positive Entsprechung des Romans zur Novelle, sondern in dem besagten Erzählerkommentar „Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel fällt, über ihre Häupter weg". Denn der Stern gilt 22

Etwa an der Bemerkung, dass „überall nur eine Natur ist", aus Goethes berühmter Selbstankündigung des Romans (vgl. WV, S. 974).

165 ihm als die Synthese der zunächst antithetisch komponierten Motive von Roman und Novelle: Er entspricht wegen seines Fallens der Todessymbolik, und er verweist wegen der vermeintlichen Stillstellung auf die Erlösung vom Tode. Ordnet man allerdings den fraglichen Erzählerkommentar der von Benjamin als „mythisch" bezeichneten Sphäre des Romans zu, so ergibt sich keinerlei Verstehensproblem, das durch Allegorese erklärt werden müsste, geschweige denn durch Benjamins Allegorese erklärt würde. Der fallende Stern ist ohne Rest als Zeichen der Hoffnungslosigkeit und als Todessymbol verständlich. Sieht man in Ottilies scheiterndem Versuch, das Kind aus dem Wasser zu retten, eine Antithese zur Rettung der Geliebten in der Novelle, so ist es nur folgerichtig, den zuvor erwähnten fallenden Stern der Hoffnung allein symbolisch auf dieses traurige Geschehen zu beziehen, nicht aber allegorisch auf die Rettung in der Novelle. Ein Verstehensproblem ergibt sich erst aus dem vom Interpreten hergestellten Zusammenhang mit der Elpis-Stanze aus den Urworten: Die Deutung dieses Gedichts mit dem Interpretament ,Astralmythos' und die Gleichsetzung der den Urworten zugeschriebenen Vorstellung eines Hoffnungssterns mit dem fallenden Stern der Wahlverwandtschaften motiviert die Erklärung, aus dem fallenden Stern tauche ,jene paradoxeste, flüchtigste Hoffnung" auf, die als „Schein der Versöhnung" die „Nacht überdauert" (S.200). Erst daraus ergibt sich überhaupt die Möglichkeit, eine positive Beziehung zwischen dem Ausgang der Novelle und dem Satz über den Stern herzustellen. Erklärt wird durch die Allegorese mithin nicht der Ausgangstext, sondern dessen Verhältnis zu einer externen Parallelstelle - die freilich allein zur Begründung eben dieser Allegorese herbeigezogen wird. Wo aus den allegorischen Deutungen Benjamins keine Erklärungen der Romanhandlung resultieren, treten die behauptende und die epistemische Funktion in den Vordergrund. Wer von dem Essay primär explanative Handlungen erwartet, muss zwangsläufig Anstoß nehmen an der Diskrepanz zwischen der zentralen Stellung der Begriffe „Erlösung", „Versöhnung" und „Seligkeit" und der Flüchtigkeit entsprechender philologischer Nachweise. Wenn Benjamin die Seligkeit der Liebenden am Ende der Novelle erzählerisch in eine unendliche Ferne gerückt sieht und wenn er nicht am Text aufzeigt, inwiefern der fallende Stern den Schein der Versöhnung gibt, dann ist die primäre Funktion seiner Feststellungen die Behauptung oder Erörterung des Interpretaments mit Hilfe des Romans. 23 Benjamin entwickelt hier unter anderem eine Theologie der Erlö-

23

Nach Schödlbauers Urteil ist der Roman an solchen Stellen ein bloßes „Illustrationsobjekt" fur Benjamins Lesart (1976, S, 96); die Belege hätten dort „rein demonstrative, nicht verifizierende Funktion" (S. 100).

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sung und eine Philosophie des Verhältnisses von künstlerischem Schein und philosophischer Wahrheit. Dass die entsprechenden Interpretationsakte überwiegend eine behauptende und epistemische Funktion bezüglich der Interpretamente haben und keine Einzelstellen des Interpretandums erklären sollen, zeigt sich nicht zuletzt an Dokumenten, die in der Terminologie von Kapitel 1.3.1 Folgehandlungen der Interaktionspartner sind: Nur die Benjamin-Forschung, der es nicht um eine Interpretation von Goethes Roman, sondern um die Rekonstruktion und Weiterentwicklung der Kunstphilosophie geht, vermag an die Ausführungen über Zäsur, Schein, Versöhnung usw. anzuknüpfen. Die Wahlverwandtschaften-Forschung vermag daran wegen der fehlenden explanativen Funktion nicht anzuknüpfen. Benjamins epistemische Interpretationsakte, die das Schöne in eine Relation zur Wahrheit und zur göttlichen Offenbarung stellen, sind zugleich ein Nachdenken über die Rolle des Kritikers. Deshalb haben die betreffenden interpretatorischen Akte eine rollenbestimmende Funktion, indem sie die Interpretationsweise thematisieren. Die Bestimmungen werden an mehreren Stellen auch von den materialen Interpretationsakten gelöst und programmatisch expliziert. Besonders deutlich geschieht dies zu Beginn des dritten Abschnitts, wo Benjamin die Kritik als Aufgabe der Philosophie bezeichnet: Weil sich das Schöne auf das Wahre beziehe, müsse die Philosophie die Betrachtung „fuhren", wo diese „von den Grundlagen des Romans zur Anschauung seiner Vollkommenheit sich erhebt" (S. 173). Zu nennen sind weiterhin der Beginn des Essays, wo die Unterscheidung von Sachgehalt und Wahrheitsgehalt als interpretatorische Aufgabe bestimmt wird (S. 125f.), und das Ende dritten Abschnitts mit der bereits zitierten Maxime: „Die Kunstkritik hat nicht die Hülle zu heben, vielmehr durch deren genaueste Erkenntnis als Hülle erst zur wahren Anschauung des Schönen sich zu erheben" (S. 195). Während die Rolle des Kritikers zu Beginn durch den Vergleich mit dem Alchemisten illustriert wird, der nur auf die Flamme der Wahrheit, nicht aber auf die verbrennenden Stoffe achte, stellt sich an der späteren Stelle eine andere, vermittelndere Rollenbestimmung ein: Weil die schöne Hülle, obwohl sie noch dem Sachgehalt angehört, nicht restlos vergänglich ist (vgl. S. 194), bleibt der Untersuchungsgegenstand unhintergehbar stofflich. Der Kritiker ist nun gleichsam ein Alchemist, der die Handlung des Chemikers, die Analyse der Stoffe, ausführen muss, will er die Gestalt der Flamme erfassen. Anders gesagt: Der philosophische Kritiker kann die Rolle des philologischen Kommentators an keiner Stelle ablegen, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, es gehe ihm insgeheim doch um die Enthüllung und den direkten Zugriff auf die Wahrheit, nicht um die postulierte Erkenntnis der Hülle. Mit dieser Neu-

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bestimmung der Interpretenrolle erhebt Benjamin also pauschal und für jede Stelle seines Essays den Anspruch einer angemessenen Erkenntnis des literarischen Textes. Die Interpretamente müssen der Erklärung des Interpretandums dienlich sein. Benjamins Interpretationshandlungen sind nicht expressiv, denn sie treten nirgendwo im Duktus eines ,ich habe es wahrhaftig so verstanden' auf, sondern immer in dem behauptenden Duktus eines ,es verhält sich so'. Die Handlungen sind auch nicht ästhetisch, denn sie treten nirgendwo mit dem primären Anspruch auf, eine bloß in sich stimmige Kombination bzw. Kontrastierung von Gedanken und Vorstellungen zu gestalten. Dort, wo die Rhetorik des Essays ästhetische Muster verwendet, dient dies immer dem behauptenden oder epistemischen Aussprechen der Philosophie. Zwei Beispiele: (a) Wenn Goethes Erzähler am Ende der Novelle den dreifachen Ruf der Liebenden „Euren Segen!" mit den Worten kommentiert: „und wer hätte den versagen können?", so interpretiert Benjamin, dass die „Vereinten der Novelle unter dem Bogen einer letzten rhetorischen Frage gleichsam in der unendlich fernen Perspektive" verschwinden. Er kleidet seine Deutung dann selbst in eine rhetorische Frage: „Sollte nicht in der Bereitschaft zum Entfernen und Verschwinden Seligkeit, die Seligkeit im Kleinen angedeutet sein, die Goethe später zum einzigen Motiv der ,Neuen Melusine' gemacht hat?" Diese Frage des Exegeten ist eindeutig als positive Aussage gemeint: Ja, am Schluss der Novelle wird Seligkeit angedeutet. Die rhetorische Frage des Erzählers hingegen gewinnt im Zusammenhang des Romans eine spezifisch ästhetische Zweideutigkeit: Zum einen lässt sie sich - analog zu Benjamins Deutung - lesen als Umschreibung der Aussage „Niemand versagte ihnen den Segen". Zum anderen lässt sich die Frage als eine echte Frage wörtlich nehmen, wenn man sie auf die in Kapitel 1,1 von Charlotte erzählte Vorgeschichte ihrer Ehe mit Eduard bezieht.24 Die Antwort auf die Frage lautet dann: Ein Mensch wie Eduards Vater wäre dazu in der Lage gewesen, selbst diesem Paar seinen Segen zu versagen. Damit steht die Frage in ästhetischer Übereinstimmung mit der durchgängigen Ambiguität der Erzählerrede in diesem Roman; die Rhetorik des Interpreten vermeidet solche Uneindeutigkeit. (2) Gegen ein Verharren der literaturkritischen Terminologie in ästhetischer Ambiguität polemisiert Benjamin nachdrücklich, wenn er schreibt (S. 163), dass dem Goethe-Ausleger Gundolf „der Aufenthalt in der Wildnis der Tropen eben recht ist, in einem Urwald, wo sich die Worte als plappernde Affen von Bombast zu Bombast

24

„Wir liebten einander als j u n g e Leute recht herzlich; w i r w u r d e n getrennt: du von mir, weil dein Vater, aus nie zu sättigender Begierde des Besitzes, dich mit einer ziemlich älteren reichen Frau verband [ . . . ] " ( W V 1,1, S. 275).

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schwingen, um nur den Grund nicht berühren zu müssen, der es verrät, daß sie nicht stehen können, nämlich den Logos, wo sie stehen und Rede stehen sollten". Benjamin verwirft hier die ästhetisch-mythische, in der Zweideutigkeit verharrende Tropik Gundolfs, indem er selbst fur seine Kritik eine Rhetorik wählt, deren Verhältnis zum Logos eindeutig ist.25 Benjamins Essay ist reich an evaluativen Interpretationshandlungen. Indem der Sachgehalt vom Wahrheitsgehalt abgegrenzt wird, entsteht zunächst eine qualitative Dichotomie zwischen Erst- und Zweitbedeutung: hier die „blinde Erdschicht bloßen Sachgehalts" (S. 163), dort die „lebendige Flamme" der Wahrheit (S. 126). Enthielte der Roman nur den mythischen Symbolzusammenhang, so wäre er bloß als „magisches Schrifttum" indifferent gegenüber der Wahrheit. Erst durch die kritische Operation, die den Wahrheitsgehalt bestimmt, werden auch die Sachgehalte veredelt. Bezüglich der Sachgehalte des Romans insgesamt verfolgt Benjamin eine Intention, die er analog dem Autor bezüglich der OttilieFigur, der Trägerin des „höchstefn] Sachgehalt[s]" (S. 140), unterstellt: „wahrhaft eine Vergehende zu erretten" (S. 199). Die evaluative Handlung ist also eine doppelte: Indem Benjamin zwischen Sachgehalt und Wahrheitsgehalt unterscheidet, wertet er die Erstbedeutungen negativ und die Zweitbedeutungen positiv. Indem er beide Seiten allegorisch aufeinander bezieht, wertet er die Erstbedeutungen mittels der ihnen zugeschriebenen Zweitbedeutungen wieder auf. Diese zweite Wertungs-Operation hat zugleich legitimative Funktion: Die Aufwertung rechtfertigt die kritische, d.h. philosophische Beschäftigung mit dem Roman. Erforderlich wird diese Rechtfertigung überhaupt erst durch die Abwertung der Erstbedeutungen. Dies ist eine vielleicht allzu formalisierte Beschreibung eines in Grundüberzeugungen verwurzelten denkerischen Bedürfnisses. Der anstößige monistische Naturbegriff Goethes sowie jene Exegesen, die den Roman innerhalb des Naturbegriffs zu erklären versuchten, waren tatsächlich die für ihn inakzeptable „Thesis", von der Benjamin ausging. Sein interpretatorischer Weg bestand nun nicht etwa in einer Revision der Auffassungen über den Theoretiker Goethe und dessen literarische Intention, sondern in einer Festschreibung des negativen Bildes und der Behauptung einer im Roman sich zeigenden Gegentendenz: der beginnenden „Läuterung" des späten Goethe hin zum Wahren, die aber keine vollständige „Befreiung" 25

Die (geographischen) „Tropen" stehen für den homonymen Plural des (sprachlichen) Tropus, die „Wildnis" für Verworrenheit des Denkens. Der „Grund" des Urwalds nimmt die philosophische Metapher wörtlich, ebenso das Verb „stehen", das in Verbindung mit „Rede" gleichfalls eine verblasste Metapher ist. Der „Bombast" gehört, als wörtlich gemeinte Kritik an Gundolfs Stil, zur Seite des Gemeinten und ist auf der Bildseite (Urwald) eine wortspielerische Erweiterung von „Ast".

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vom mythischen Denken „mehr sein durfte" (S. 165). Hierdurch sieht Benjamin die Möglichkeit und sogar die Notwendigkeit eröffnet, dass jenes Göttliche, welches der mythischen Dichtung kontraintentional „ins Wort fallt" (S. 182), vom empirischen Autor wahrgenommen und versprachlicht wird, auch wenn er „die Wahrheit im Wesen der Sprache" nicht vollständig „entdeckt" habe (S. 197). In diesem Sinne behauptet der Exeget, unter dem - zunächst mythischen - „Symbol des Sterns" sei dem Dichter ein mystisches Zeichen des Wahren, nämlich die „Hoffnung erschienen, die er für die Liebenden fassen mußte" (S. 199). Die Wahl der Verben im letzten Relativsatz folgt streng den zuvor dargelegten ästhetischen und theologischen Positionen: Das Fassen meint nicht so sehr eine Gesinnung des Autors als vielmehr das sprachliche Festhalten der Erscheinung, die seiner Dichtung „ins Wort fällt"; Das Müssen resultiert aus der Unbedingtheit dieses von außen kommenden „Einspruchs", in dem sich die „erhabne Gewalt des Wahren" manifestiert, um „die Sprache der wirklichen" Welt „nach Gesetzen der moralischen Welt" zu bestimmen (S. 181). Dieser Gewalt habe Goethe sich nicht entziehen können; ihre Erscheinung sprachlich zu fassen habe seine Läuterung ihm gestattet; nur das Entdecken des Scheins der wahren Ordnung „im Wesen der Sprache" (S. 197) sei mangels Befreiung vom Mythos nicht ihm vergönnt gewesen - sondern erst dem Kritiker. Hier ist Benjamins Interpretation nun zugleich im engeren Sinne appellativ. Trivial wäre ein Konstatieren appellativer Interpretationsakte, wenn damit eine sekundäre, auf den Sprechakt selbst gerichtete Appellfunktion gemeint wäre, die andere Funktionen begleitet: Jede Erklärung impliziert ein obligates „finde mich schlüssig!", jede bloße Feststellung ein „vertrau mir!", jede Wertung und jede Legitimation ein „teile mein Urteil!". Benjamins Behauptung, dass Goethe die ihm erschienene Hoffnung für die Liebenden fassen musste, ist in einem über diesen Sprechakt selbst hinausweisenden Sinn appellativ, weil er die Leser des Essays und des Romans auffordert, es dem Dichter gleichzutun. Der Appell ist folgendermaßen aufgebaut: Über „die Hoffnung auf Erlösung, die wir für alle Toten hegen", schreibt Benjamin: „Sie ist das einzige Recht des Unsterblichkeitsglaubens, der sich nie am eigenen Dasein entzünden d a r f ' (S.200). Aus diesem Verbot einer Hoffnung auf die eigene Erlösung vom Tod folgt zwar nicht automatisch das Gebot, eine entsprechende Hoffnung für andere zu fassen. Doch der letzte Satz des Essays entspricht genau dieser Präskription: „Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben" (S.201). Sie ist uns nur gegeben, damit wir sie fur die Hoffnungslosen fassen. Und dies müssen wir tun, wenn auch wir der „erhabnen Gewalt des Wahren" folgen. Die Hoffnung ist „der Schein der Versöhnung", und dieser „darf, ja er soll gewollt werden"

170 (S. 200; Hervorh. T.Z.). Der Essay endet mit einem an die Leser gerichteten Sollen, einem theologischen Appell, der aus der behauptenden und epistemischen Deutung des Wahrheitsgehalts abgeleitet ist: mit dem Gebot, Hoffnung für die Hoffnungslosen und Toten zu fassen.

2.1.4 Kritik der Interpretation Im Sinne Walter Benjamins wäre es verkehrt, wenn die Literaturwissenschaft den Beitrag seines Essays zur Wahlverwandtschaften-Forschung bloß anerkennend würdigte, statt ihn einer genauen Kritik zu unterziehen: Die „Würdigung", heißt es in der Vorrede des Trauerspielbuchs, ersetze meist die „kritische Ergründung" eines Gegenstands und gerate schlimmstenfalls zu dessen „Entschuldigung" (Benjamin 1974ff., Bd. I, S. 233f.). Mit der Würdigung wird ein Gegenstand historisch erledigt, mit der Kritik geschichtlich im Gespräch gehalten. Die nun folgende Kritik wird die einzelnen Interpretationsakte an den Geltungsansprüchen messen, die mit ihren illokutionären Funktionen verbunden sind. Dabei wird es erforderlich sein, die interpretatorischen Operationen untereinander sowie mit Benjamins Grundüberzeugungen und konstitutiven Gegenstandsbestimmungen zu vergleichen (vgl. Kap. 1.4.2). Zu den interpretatorischen Grundüberzeugungen Benjamins gehört die Unterscheidung zwischen der Technik des Kunstwerks und seiner Form. Die „Technik" werde „durch die Sachgehalte allein entscheidend bestimmt", die „Form" hingegen „durch den Wahrheitsgehalt" (S. 145). Als Technik bezeichnet Benjamin die Symbolik „vorverkündigender und paralleler Züge im Roman" (S. 135), als „Form" ein „Ausdrucksloses", welches das „Chaos" des Symbolzusammenhangs „auf einen Augenblick zur Welt" „verzaubert", „bannt", „verewigt" und zugleich „zerschlägt" (S. 180f.). Das Ausdruckslose „zerschlägt, was in allem schönen Schein als die Erbschaft des Chaos noch überdauert: die falsche, irrende Totalität" (S. 181). Form ist die Stillstellung der Symbolbezüge und zugleich deren Zerstörung, nämlich ihre Verwandlung in „Stückwerk". Dank der Form werden die entbundenen Einzelstellen - Benjamin denkt hier konkret an den Satz über den Stern - „zum Fragmente der wahren Welt" (ebd.). Form ist somit auch die Negation der Technik. 26 Diese Bestim26

Die Unterscheidung zwischen Technik und Form entspricht dem ,,doppelte[n] Formbeg r i f f ' , den Benjamin in seiner Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik einfuhrt (1974ff., Bd. I, S.86): Über der ,,bestimmte[n] Form des einzelnen Werkes, die man als Darstellungsform bezeichnen möge", stehe die „absolute Form", die „das Überleben" und „Bestehen des Werkes als eines Mysteriums" gewähre. Die „bestimmte Form" heißt im Wahlverwandtschaften-Essay „Technik", die „absolute

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mung der Form stützt Benjamin auf Hölderlin, mit dessen Ausführungen über die Zäsur im Tragödienvers die Kategorie des Ausdruckslosen „definierbar" sei (ebd.). An der Stelle, die Benjamin zitiert, unterscheidet Hölderlin zwischen „der rhythmischen Aufeinanderfolge der Vorstellungen" und der „gegenrhythmische[n] Unterbrechung", eben der Zäsur im Vers, die den „reißenden Wechsel der Vorstellungen" unterbreche und die tragische „Vorstellung selber" zur Erscheinung bringe (S. 181f.). Im Vers der Tragödie und der Hymne lasse, so Benjamin, das Ausdruckslose „sich fassen", Goethes Roman hingegen könne nicht das Ausdruckslose, sondern nur die Schönheit, d.h. den Ausdruck fassen. Der Tragödienund Hymnendichter anverwandle die Form, als die das Ausdruckslose in seine Dichtung eingreift, der eigenen Technik, nämlich dem „Handwerksmäßigen", von dem Hölderlin spricht (vgl. Steiner 1989, S. 298). Genau dies sei dem Romandichter Goethe nicht möglich. Wegen dieser Überzeugung meint Benjamin, an der literarischen Technik der Wahlverwandtschaften lasse sich das Ausdruckslose nicht, wie an der Zäsur des Verses, aufweisen. Gleichwohl ist ein wie auch immer gearteter Aufweis des Ausdruckslosen an der sprachlichen Erscheinung des Romans erforderlich, will der Kritiker seiner eigenen Forderung genügen, die „genaueste Erkenntnis" der Hülle „als Hülle" zu leisten (S. 195).27 An der fraglichen Stelle leistet Benjamin indes keine „genaue Erkenntnis". Mit Ausnahme der Wörter „Hoffnung" und „Stern" behandelt er den fraglichen Satz wie eine akzidentielle Hülle; nur den beiden genannten Zeichen gesteht er die Funktion zu, notwendige Hülle der Versöhnungswahrheit zu sein. Um diese selektive Belehnung zu rechtfertigen, müsste der Interpret an der Romantechnik zeigen, inwiefern die herausgebrochenen Elemente des Textes im Unterschied zu den anderen Elementen eine „Verhüllung" des Wahren sind. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Benjamin die in seiner Dissertation rekonstruierte frühromantische Theorie der Prosa nicht auf die Wahlverwandtschaften bezieht. „Das Reflexionsmedium der poetischen Formen erscheint in der Prosa, darum darf sie die Idee der Poesie genannt werden"

27

Form" heißt hier emphatisch „Form". Der Dissertation zufolge erscheint die absolute Form in der romantischen „Ironisierung der Darstellungsform" (ebd.); dem Essay zufolge erscheint die Form in der „Cäsur", mit der das „Ausdruckslose" in die Technik symbolischer Verwobenheit eingreift. Ähnlich argumentiert Schödlbauer (1976): Benjamin gehe mit vollem „Vorsatz" die Verpflichtung ein, „die Wahrheit des Romans [...] an seinen Realien, also philologisch zu bestimmen" (S.94); die „Methode", derer er sich tatsächlich bediene, sei jedoch „keine philologische, da sie nicht vom Buchstäblichen des Textes ihren Ausgang nimmt, sondern eine detektivische, die von [...] einer verborgenen Wahrheit [...] ausgeht" (S. 102).

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(1974ff., Bd. I, S. 102). Auch hier stellt Benjamin den Zusammenhang zu Hölderlins Theorie der Nüchternheit der Kunst her (ebd., S. 103), schreibt aber der sprachlichen Prosa des Romans, nicht der Zäsur, jene Nüchternheit zu, die ihm als ein Mysterium der Wahrheit gilt: „Für diese mystische Konstitution des Werkes jenseits der eingeschränkten und in der Erscheinung schönen (im engern Sinn poetischen) Formen ist der Roman der Prototyp" (ebd., S. 106). Ähnlich wie an der Zäsur des Tragödien· und Hymnenverses müsste sich das Nüchterne bzw. Ausdruckslose auch an der Prosa des Romans als ein technisch-handwerksmäßig gefasstes' aufzeigen lassen. Benjamin geht offenbar davon aus, dass Stil und Technik des Goetheschen Romans nicht dem romantischen Begriff der Prosa entsprechen, sondern allein der mythischen, symbolischen, ausdrucksvollen, schönen Verbundenheit aller Vorstellungen dienen. Aus diesem Grund vermag er an der sprachlichen Prosa des Romans nicht aufzuzeigen, auf welche Weise die behauptete „Cäsur" die mysteriöse Vorstellung des Hoffnungssterns zur Erscheinung bringt. An die Stelle eines solch technischen Aufweises tritt die Ausmalung des herausgelösten und fixierten Vorstellungsbildes: „Jene paradoxeste, flüchtigste Hoffnung taucht zuletzt aus dem Schein der Versöhnung, wie im Maß, da die Sonne verlischt, im Dämmer der Abendstern aufgeht, der die Nacht überdauert. Jenen Schimmer gibt freilich die Venus" (S. 200). Das Bild der einander Umarmenden, über denen ein fallender Stern stehenbleibt und als Hoffnungsschimmer der Liebe auf die transzendente Seligkeit verweist, wird zusätzlich durch die am Ende des Aufsatzes wiederholten Verse des George-Mottos stabilisiert: „Eh ihr den leib ergreift auf diesem Sterne/ Erfind ich euch den träum bei ewigen Sternen" (S. 201). Dass die unterstellte Zäsur in Goethes Text tatsächlich enthalten ist und dass sie den schicksalhaften Fall des Sterns allegorisch transzendiert, wird nicht an der sprachlich-erzählerischen Form belegt, sondern durch ein Bild suggeriert, dessen neuromantischer Glanz nicht die dauerhafte Wirkung eines logischen Arguments hat. Warum vertraut der Interpret auf die Suggestivkraft des Bildes, anstatt die Form zu untersuchen? Der Grund könnte gerade in Benjamins Geschichtsdenken, nämlich in seiner Überzeugung liegen, es gebe objektive Konstellationen zwischen bestimmten Epochen. Benjamin lehnt sowohl die historistische Auffassung einer Gottesunmittelbarkeit jeder Epoche als auch jeglichen Fortschrittsglauben ab, setzt diesen Positionen aber nicht den Glauben an die ewige Wiederkehr des Immergleichen entgegen, sondern den Glauben an eine durch das Eintreffen des Messias begrenzte Wiederkehr des Differenten. Das Wahre zeigt oder kündigt sich in Ursprungsphänomenen an, die von Epoche zu Epoche verschieden sind und, gemessen am linearen Ablauf der Geschichte, diskontinuierlich

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erscheinen. Die Ursprungsphänomene ähneln einander über die Epochen hinweg, und diese Ähnlichkeit begründet fur Benjamin die objektiven geschichtlichen Konstellationen. Deshalb ist nicht in jeder Gegenwart der Wahrheitsgehalt jeder anderen Epoche gleichermaßen erkennbar, sondern es gibt geschichtliche Augenblicke der Erkennbarkeit. Im Trauerspielbuch gilt, wie bereits erwähnt, eine geschichtliche Konstellation zwischen Barock und Expressionismus (und Romantik) als Bedingung für die eigene neue „Einsicht" ins 17. Jahrhundert (1974ff., Bd. I, S. 234). Im Wahlverwandtschaften-Essay gibt es Hinweise darauf, dass Benjamin von einer entsprechenden Konstellation zwischen Dante, Goethes Spätwerk und der Ästhetik Georges ausgeht. Zu der explizierten Geschichtslehre, dass der Wahrheitsgehalt mit dem Absterben des Sachgehalts von selbst hervortritt, käme dann als eine weitere, in diesem Essay noch nicht explizierte Geschichtsauffassung die Überzeugung hinzu, dass es bestimmte Epochen der Rezeption gibt, in denen der zutage tretende Wahrheitsgehalt besonders angemessen erkennbar ist. Sollte diese Vermutung zutreffen und Benjamin sich in einem herausgehobenen geschichtlichen Augenblick der Erkennbarkeit gegenüber den Wahlverwandtschaften gewähnt haben, dann hätte er seine eigene Evidenzerfahrung, der zufolge der fallenden Stern das Mysterium der Erlösung von den Toten und der Versöhnung mit Gott enthält, auf ein objektives Sich-Zeigen der Wahrheit zurückgeführt. Eine solche geschichtsphilosophische Erklärung der Evidenz würde den Verzicht auf ein analytisches Erklären der fraglichen Stelle zugunsten eines bloßen Zeigens der Bezüge zu Dantes Hoffnung im Fallen, zu Goethes Elpis-Stanze und zu Georges „träum von ewigen Sternen" verständlich machen: Wenn die Konstellation eine objektive ist, genügt es, den Leser darauf hinzuweisen; angesichts der sich zeigenden Wahrheit wäre ein Überzeugen-Wollen überflüssig. 28 Ein Verfechter dieser geschichtlichen Erkenntnistheorie könnte gegen die hier vorgelegte Benjamin-Kritik einwenden, sie sei eben nicht in einem Augenblick der Erkennbarkeit verfasst. Ob man der These einer bereits im Wahlverwandtschaften-Essay erkenntnistheoretisch virulenten Theorie der geschichtlichen Konstellation zustimmt oder nicht - mit Benjamins Überzeugung, an einer bestimmten Stelle des Romans erscheine die Wahrheit in mysteriöser Verhüllung, stellt sich in jedem Fall das Problem des interpretatorischen Subjektivismus. Der Exeget muss aus den unzähligen Elementen der mythischen Symbolik diejenigen hervorheben, die seiner Ansicht nach Verhüllungen der Wahrheit sind und nicht den tödlichen Schicksalszusammenhang „Überzeugen ist unfruchtbar" heißt in Benjamins Einbahnstraße dem Titel „Für Männer" (1974ff„ Bd. IV, S. 87).

ein Aphorismus unter

174 anzeigen, sondern „rettende Korrespondenzen" bilden (S. 196). Er legitimiert seine kritische Unterscheidung damit, dass die behauptete Entgegensetzung im Werk selbst bereits den Status der Kritik habe: „Das Ausdruckslose ist die kritische Gewalt, welche Schein und Wesen in der Kunst zwar zu trennen nicht vermag, aber ihnen verwehrt, sich zu mischen" (S. 181). Die „erhabne Gewalt des Wahren" (ebd.) wirkt zum einen unmittelbar auf das Kunstwerk ein, zum anderen durch Unterscheidungen des Kritikers, der vom mythischen Denken nicht - wie Goethe bloß geläutert, sondern gänzlich frei ist. Literaturkritik gilt als der Nachvollzug des formenden göttlichen Einspruchs gegen den Symbolzusammenhang. In einem Expose zum Trauerspielbuch spricht Benjamin von der „Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst" (1974ff, Bd. I, S. 952). Benjamin glaubt an das göttliche Einwirken auf die indifferente „Erdschicht" des Romans, die nur im Vergehen der naturhaften Symbolverweisungen Wahrheit gewinnt, und er glaubt daran, dass sein eigenes kritisches Verfahren sich derselben Gewalt verdankt. 29 Sollte diese Gewissheit sich als Irrtum erweisen, so wäre das kritische Verfahren dem Vorwurf eines nicht im Objekt verbürgten Subjektivismus ausgeliefert. Diese Gefahr ist deshalb bedrohlich, weil der „Antisubjektivismus" für Benjamins Theologie und Philosophie konstitutiv ist (vgl. Wunder 1997, S. 91) und das Verdikt aus dem Theologisch-politischen Fragment, es könne „nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen" (1974ff., Bd. II, S.203), auch für das Handeln des Kritikers gilt. Sollte Benjamin die kritische Gewalt des Ausdruckslosen willkürlich für das eigene kritische Handeln in Anspruch nehmen, dann könnte der folgende Satz aus dem Wahlverwandtschaften-Essay als 29

Im Trauerspielbuch expliziert Benjamin diese Setzung eines Zusammenwirkens der beiden kritischen Kräfte: Die barocken Trauerspiele „sind von Anbeginn auf jene kritische Zersetzung angelegt, die der Verlauf der Zeit an ihnen übte". Sowohl die im Werk objektiv angelegte Zersetzung von Schönheit und Schein als auch die im „Verlauf der Zeit" dann von Rezipienten vollzogene Zersetzung ist gemeint mit der berühmten Definition der Kritik als „Mortifikation der Werke" und „Ansiedlung des Wissens" in den „abgestorbenen" Werken. Das von außen angesiedelte Wissen antwortet nur auf jenes gedankliche, logische, wahre Moment in den Werken, das nicht verfallen kann: „Was dauert, ist das seltsame Detail der allegorischen Verweisungen: ein Gegenstand des Wissens, der in den durchdachten Trümmerbauten nistet" (1974ff., Bd.I, S.357). Der Schwachpunkt dieser Konstruktion liegt in der nicht thematisierten Differenz zwischen formaler Verweisung und inhaltlichem Wissen. Die Ansiedlung eines Wissens kann in einer rein negatorischen Kritik, die in den Werken selbst wirkt, keine hinreichende Begründung finden. Man sieht es auch an der Unstimmigkeit der Metaphorik: Die Verweisungen, in denen das Wissen sich ansiedelt, nisteten dauerhaft in den Werken. In etwas, das selbst nistet, soll sich etwas ansiedeln. Das Bild wäre stimmig, beschriebe man die Verweisungen als leere Nester. Dann würde allerdings deutlich, dass die entleerende Kritik etwas ganz anderes leistet als die ansiedelnde Kritik.

175 eine Bestimmung der Interpretenrolle gelesen werden: „Wie die Unterbrechung durch das gebietende Wort es vermag aus der Ausflucht eines Weibes die Wahrheit gerad da herauszuholen, wo sie unterbricht, so zwingt das Ausdruckslose die zitternde Harmonie einzuhalten und verewigt durch seinen Einspruch ihr Beben" (S. 181). 30 Der Interpret würde dann seine eigene subjektive Deutung mit einem .männlichen' Gebieter vergleichen, der in die ,weibliche' Indifferenz ästhetischer Rede eingreift. Der Zirkel von Benjamins Kritik-Konzeption wäre dem Vorwurf der reinen Selbstbegründung dann enthoben, wenn die beiden Überzeugungen und die aus ihrer Verbindung resultierenden Interpretationsakte sich am gewählten Gegenstand als angemessen erwiesen. In genau diesem Punkt nun ist das Übergewicht der behauptenden und epistemischen Funktion der Interpretationsakte über die explanative Funktion kritikwürdig: Nicht nur im Sinne der Wahlverwandtschaften-Philologie, sondern gerade auch im Sinne einer Philosophie der Kunstkritik ist der aufgezeigte Verzicht auf texterklärende Interpretation zugunsten einer das Wissen im Text „ansiedelnden" Interpretation ein Mangel innerhalb der Exposition und Entwicklung dieses Wissens. Denn der Verzicht auf Texterklärung begünstigt den Kurzschluss zwischen den vorausgesetzten philosophisch-theologischen Grundpositionen des Kritikers und seinen Behauptungen über den besonderen Gegenstand. Der Mangel ist auch ein performativer: Der Verzicht auf Texterklärung erschwert es dem Leser an den entsprechenden Stellen, die interpretatorischen Behauptungen am gemeinsamen Kommunikationsgegenstand zu prüfen und daran die Gedankenentwicklung nachzuvollziehen. Der Kurzschluss zwischen Grundpositionen und interpretatorischen Behauptungen immunisiert die Sprechakte gegenüber dem argumentativen Einspruch der Adressaten. Dies ist keineswegs durchgängig der Fall, wohl aber an jenen prominenten Stellen, an denen Benjamin seine moralische und eschatologische Allegorese vornimmt. Auf der Überzeugung, die Wahrheit spreche fur sich, lässt keine Kommunikation sich gründen. Inwiefern etwas ein Zeichen für anderes ist, muss in einem Diskurs, der am Geltungsanspruch der Wahrheit orientiert ist, argumentativ begründet werden. Aus dieser Kritik kann ein Kriterium geglückten essayistischen Interpretierens abgeleitet werden: Die Entfaltung von Gedanken anhand eines künstlerischen Gegenstands kann als geglückt genau dann gelten, wenn jene Bestandteile und Eigenschaften des Gegenstands, die sich auf das Thema der Gedankenentfaltung beziehen lassen, angemessen erklärt wer30

Auch dies lässt sich als Ratschlag „für Männer" lesen, der dem oben zitierten aus der Einbahnstraße in der Tendenz entsprechen mag.

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den. Dieses Kriterium gesteht der essayistischen Interpretation durchaus die Freiheit zu, den Gegenstand stark einseitig zu interpretieren und ihm nur partikular gerecht zu werden, eben weil die primäre Funktion des Essays nicht explanativ, sondern epistemisch ist. Eine essayistische Interpretation muss dem Kriterium idealer Erkenntnisbedigungen (v.l. o. Kap. 1.4.2) auch nicht standhalten, d.h. sie muss sich gegenüber anderen relevanten Deutungen nicht behaupten können, da ihr primäres Ziel die Entwicklung des eigenen Gedankens ist. Das Nachdenken anhand eines Gegenstands wäre aber vollkommen witzlos, träte es ohne den Anspruch der zumindest partiell angemessenen Rede über den Gegenstand auf. Allein schon die Wahl eines bestimmten Gegenstands impliziert diesen Anspruch; Benjamin erhebt ihn ganz explizit, wenn er sagt, in dem untersuchten „Kunstwerk lasse eine Erscheinung von dem Ideal des Problems sich auffinden", welches der Essay erörtert (S. 173). Deshalb können einzelne essayistische Interpretationsakte Benjamins als missglückt gelten, wenn sie eine Überprüfung der Angemessenheit nicht ermöglichen, da sie mit ihren Behauptungen den Text gar nicht zu erklären versuchen. Benjamins Interpretationsakte können dort als gelungen gelten, wo sie interne Zusammenhänge des Gegenstands erklären, nämlich die Reihe „vorankündigender und paralleler Züge im Roman" als „Todessymbolik" (S. 135) und die „Korrespondenzen" zwischen Roman und Novelle als Zusammenhang zwischen dem schicksalhaft Vergehenden und dem Erretteten. An diese Aussagen können andere Interpreten anknüpfen, die sich auf denselben Gegenstand beziehen. Sie können z.B. der Behauptung einer Todessymbolik widersprechen und aufzuzeigen versuchen, dass sämtliche Motive der Rettung und Verewigung in den Symbolzusammenhang des Romans eingebunden sind, ohne auf einer anderen Bedeutungsebene angesiedelt zu sein. Auch an Benjamins Untersuchung der rettenden Korrespondenzen könnte ein solcher Interpret von außen kritisch anknüpfen. Überall dort also, wo die essayistische Interpretation einer immanenten Kritik standhält, weil ihre epistemischen Sprechakte zugleich eine explanative Funktion haben, ist die Interpretation fur externe Kritik offen, während die externe Kritik abgleitet, wo interne Kritik einen Mangel an Explanation diagnostiziert: Wenn der Interpret die Ansiedlung von Wissen nicht argumentativ begründet, verschließt er seine Deutung gegen den Diskurs über die Angemessenheit dieses oder eines anderen Wissens. In diesem Punkt sollte die Goethe-Philologie sich an das Prinzip des guten Willens erinnern und im Sinne ihrer eigenen Erkenntnisziele die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass die Wahlverwandtschaft zwischen Benjamins Philosophie und dem Roman ein Fundament in der Sache haben könnte, und zwar unabhängig von der Frage, ob die Interpretation dem Gegenstand gerecht wird oder ob sie ihn den eigenen Gedanken

177 bloß gefugig macht. Es geht um die Frage, ob die Interpretation Thema und Problem des Textes trifft, ob sie gewissermaßen die richtigen Fragen stellt - auch wenn ihre Antworten falsch sind. Tatsächlich spricht ja der letzte Halbsatz des Romans das Thema der Erlösung an. Und zweifellos kommt ein Leser, der über einen möglichen tragischen Gehalt des Romans nachdenkt, nicht an der Frage vorbei, ob das Verhängnis - wie Benjamin sagt - im „Säumen" der Figuren begründet ist, oder ob es trotz der sittlichen Entscheidung eintritt, als die man Ottilies Entsagung auch deuten könnte (so Schödlbauer 1976, S. 105f.). Das richtige Handeln und die Unsterblichkeit - diese Themen sind dem Roman alles andere als äußerlich. Eine Goethe-Philologie, die sich auf die von Benjamin ins Zentrum seiner Allegorese gestellten Themen einlässt, könnte auf der Grundlage eigener Interpretationen verständlich machen, warum der Essay ausgerechnet am Ort seines zentralen Anliegens einen explanativen Mangel aufweist. Goethes Roman, so behaupte ich, gestaltet die fraglichen Themen auf eine vollkommen andere als in der von Benjamin vermuteten Weise. Hinsichtlich der Frage der Moralität und des richtigen Handelns zeigt er - was eingehend zu untersuchen wäre - defiziente Formen der Entsagung auf.31 Und auf die Erlösung vom Tode verweist der Roman nicht durch ein eigenes, positives Zeichen, sondern durch den ironischen Bezug auf die dominante Gestalt dieser religiösen Vorstellung im zeitgenössischen Bewusstsein: auf eben die von Benjamin für „fehl am Ort" befundenen romantischnazarenischen Motive. Nicht weil er die falschen Themen gewählt hätte, ist Benjamin an den entscheidenden Stellen der explanative Zugang zum Text verstellt, sondern weil er den Modus verkennt, in dem der Roman zu diesen Themen etwas aussagt. Die ästhetische Vermitteltheit der entsprechenden Aussagen durch die diskrete Ironisierung und Kritik des Erzählten ist für Benjamin nicht erkennbar, denn er „sieht nichts am Roman funktional, nimmt alles unbedingt", wie Schödlbauer (1976, S. 105) sehr treffend formuliert. Deshalb sucht der Interpret zwei Stellen des Romans auf, an denen das richtige Handeln und das Mysterium des Wahren in vermeintlich positive allegorische Bilder gefasst sind. Wenn die Wahlverwandtschaften-Forschung sich stärker auf die genannten Themen einließe, könnten ihre Ergebnisse vielleicht auch einer Benjamin-Forschung nützen, die über Begriffe wie Erlösung, Versöhnung und Seligkeit nicht länger würdigend, sondern kritisch nachdenkt.

31

Nämlich die prätendierte E n t s a g u n g Eduards, die an B e d i n g u n g e n der V o r t e i l s n a h m e g e b u n d e n e E n t s a g u n g Charlottes und die nach innen gerichtete, nicht n a c h außen tätige Entsagung Ottilies. Die Figur der tätigen Entsagung, der H a u p t m a n n , ist w ä h r e n d der katastrophischen E n t w i c k l u n g abwesend.

178

2.2

Verborgener Sinn: Β. Buschendorfs Ikonographie des „Mythischen"

2.2.1 Beschreibung der Interpretation Zu den Interpretationen, die sich von Benjamins Essay ausdrücklich abgrenzen, zählt die Studie Bernhard Buschendorfs. Das zeigt schon der Untertitel: „Goethes mythologische Denkform". Während Benjamin die „mythische" Ebene des Romans den Sachgehalten und damit der Oberflächenschicht der Erstbedeutungen zurechnet, bestimmt Buschendorf den „Verweisungszusammenhang mythischer Bedeutsamkeiten" als die „hermetische Tiefenschicht dieses Werks" (S. 197),32 die „weitgehend hinter einer homogenen zeitgenössischen Fassade fiktionaler Realität" verborgen liege (S. 54). Letztere hat in seiner Studie den Status der Erstbedeutung, das Mythische den Status allegorischer Zweitbedeutung. Unter der Oberfläche einer vermeintlich realistischen Beschreibung moderner adliger Lebensweise und des Liebeskonflikts verberge sich ein Geflecht von Anspielungen auf die Tradition arkadischer Landschaftsdarstellung zum einen, die Tradition abendländischer MelancholieVorstellungen zum anderen. Hinter der Darstellung der Ottilie-Figur und ihres Schicksals stehe außerdem die neuplatonische Lehre vom Kreislauf der Seele. Dem Autor Goethe wird folgende allegorische Intention unterstellt: Mit den allgegenwärtigen Anspielungen auf die eigentlich gemeinten Bildbereiche habe er eine geheime „Bedeutsamkeitsstiftung" vorgenommen, um der zeitgenössischen „Lebenswelt durch Projektion von Mythologemen [...] ihre Banalität oder Bedrohlichkeit zu nehmen" (S.52f.). Um diesen Vorgang literarischer „Entängstigung" (S. 42) zu rekonstruieren, schreibt Buschendorf nicht - wie in der Mythen-Allegorese von der Stoa bis hin zu Benjamin üblich - der animistischen, poly- oder pantheistischen Naturauffassung eine klare metaphysische Gedankenordnung als Zweitbedeutung zu, sondern umgekehrt sucht er hinter der entzauberten, rationalisierten Wirklichkeit der Moderne die bedeutsame Bilderwelt des Mythos. Während z.B. die Exegeten von einst sich mühten, die schillernde Gestalt des Hermes in allen Details auf Christus zu beziehen, bemüht sich Buschendorf, die etwas eindimensionale Figur des ehemaligen Geistlichen namens Mittler nicht minder detailliert auf Hermes zurückzuführen (S. 99f.).

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Seitenangaben dieser Art beziehen sich in Kapitel 2.2 auf Buschendorf 1986.

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Trotz dieser im Vergleich zur metaphysischen oder theologischen Mythen-Exegese gegensinnigen Deutungsweise wendet der Interpret ein Verfahren an, das typologisch genannt werden kann: Buschendorf ordnet den einzelnen Gegenständen, Figuren, Ereignissen und Handlungen des Romans Elemente der „mythologischen" Prätexte zu, die „zum Wortsinn des erzählten Geschehens eine entschiedene Affinität", nämlich eine Bildähnlichkeit aufweisen. Ähnlich wie in der scholastischen Allegorese werden auch hier die Figuren und Begebenheiten des Mythos als „Präfiguration" (S. 34; 53) oder „Typus" (S. 59) bezeichnet. Die typologische Mythen-Allegorese des Mittelalters sah in der historisch späteren Erzählung, dem Neuen Testament, die Erfüllung, Vollendung, Bewahrheitung der historisch früheren Erzählungen und behandelte die christliche Lehre als das unzerstörbare, feste und durch die älteren Texte nicht zu untergrabende semantische Fundament ihrer Auslegung. Für Buschendorfs inverse Typologie gilt dies umgekehrt: Die älteren, mythischen Erzählungen halten in „vorgeprägten Formeln" ein unzerstörbares „präformiertes Wissen" (S. 141) bereit, während die Wiedergänger der „mythologischefn] Vorbild[er]" im Roman meist „ins Mittelmaß verblaßt[..]" sind oder als „Verfallsformen" erscheinen (S. 99ff), da sie „im Gewand der zeitgenössischen Realität beinahe unkenntlich" werden (S. 88). Wie die Typologen das Christentum unter dem bunten Gewand des Mythos, so macht der Ikonograph den Mythos unter dem blassen Gewand der Moderne kenntlich. In beiden Fällen gilt die „Fassade" bzw. das „Gewand" des historisch-wörtlichen Schriftsinns für sich genommen als bedeutungsarm.

2.2.2 Propositionale Interpretationsakte (1)

Zweitbedeutungen

Wie bereits erwähnt, gliedert Buschendorf die „mythischen" Zweitbedeutungen, auf die wir aus darstellungsökonomischen Gründen zuerst eigehen wollen, in drei Themenbereiche: die „Tradition der Landschaftsmalerei und des neuzeitlichen Arkadien" (S.66ff.), die „Tradition der Saturn- und Melancholievorstellung" (S. 123ff.) sowie der „neuplatonische Kreislauf der Seele". Unter Hinweis auf Gemälde des 17. Jahrhunderts, insbesondere Claude Lorrains, behauptet der Interpret, die Landschaftsbeschreibungen riefen „das Gattungsschema einer idealen Landschaft im strengen kunsthistorischen Sinn" wach (S. 68 ). Diese Anspielungen seien im Roman verbunden mit solchen auf den literarischen Diskurs über die Rückgewinnung des goldenen Zeitalters bzw. des arkadischen Zwischenreichs und speziell auf die historische Auseinanderset-

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zung um das dabei virulente Verhältnis von Erotik und Sittlichkeit (Ovid, Vergil, Tasso und Sannazaro). Wiederum in Bezug auf Gemälde des 17. Jahrhunderts behauptet der Exeget dann das Fortleben des Motivs „Tod in Arkadien" im Roman. Im Motiv des arkadischen Todes sieht er die Allgegenwart der Melancholie (zweiter Themenkreis) motiviert. Im Rekurs auf medizinische Theorien der Antike (Hippokrates) und deren Nachleben im hermetischen Schrifttum und in bildlichen Darstellungen der frühen Neuzeit (u.a. Agrippa v. Nettesheim, Ficino, Dürer) versucht er nachzuweisen, dass zahlreiche Handlungen, Äußerungen, Eigenschaften, Orte und Dinge des Romans eine melancholische Disposition aller wichtigen Figuren anzeigen sowie zwei unterschiedliche Ausprägungen dieser Disposition: Auf der einen Seite stehe der Umschlag „ins Krankhafte" (S. 182), auf der anderen Seite die Entwicklung einer produktiven „Melancholia imaginativa" (ebd.), die sich als Neigung zur Philosophie und zur Geometrie äußere und insbesondere in den „verschiedenen Bautätigkeiten" fortlebe, die der Roman beschreibt (S. 186). Auch der Bau des Romans selbst und dessen Poetik werden als Manifestation einer solchen ,,nobilitierte[n] Melancholie" (S. 182) gedeutet (S. 194ff.). Dem neuplatonischen Kreislauf der Seele (dritter Themenkomplex) wird schließlich die doppelte Funktion einer philosophischen Deutung und Auflösung des Melancholieproblems zugeschrieben. Im Rekurs auf Plotin, Giordano Bruno, Shaftesbury und andere Autoren versucht Buschendorf an der Entwicklung der Ottilie-Figur jene drei Stadien aufzuzeigen, die bestimmten neuplatonischen Vorstellungen zufolge die Seele durchläuft: den Abstieg von der Idee bzw. von Gott in die Welt (deren Minderwertigkeit die strauchelnde Seele Ottilie melancholisch erfahrt), die Rückwendung sowie schließlich die Rückkehr zu Gott (Ottilies „würdevolle Elevation", S. 229). Dieses knappe Referat zeigt schon, dass die Inhalte, die dem Roman als Zweitbedeutungen zugeschrieben werden, aus sehr unterschiedlichen Wissenszusammenhängen stammen: Teilweise handelt es sich um Artefaktwissen, teilweise um Sinnwissen, das wiederum unterschieden werden kann in mythologisches Wissen (in allen drei Traditionen leben Elemente antiker Mythen fort) und philosophisches bzw. religiöses Wissen; häufig handelt es sich um historisches Sachwissen (Medizin), häufig um modernes Sachwissen über die drei genannten Traditionen - insbesondere wird kunsthistorisches Wissen der Warburg-Schule und literaturhistorisches Wissen der neueren Melancholieforschung eingesetzt. Buschendorf verwendet die Begriffe „mythologisch" und „mythisch" ähnlich wie Benjamin: Mythologisch heißen die auf antike Bildvorstellungen zurückgehenden Inhalte, „mythisch" heißt der im Roman zwischen den Inhalten bestehende strukturelle „Verweisungszusammenhang" (S. 42).

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Der Textsorte „literaturwissenschaftliche Abhandlung" entsprechend es handelt sich um eine Dissertation - ist der intertextuelle Bezug auf die genannten Wissenszusammenhänge hochgradig referentiell und kommunikativ. Anders als in Benjamins Essay wird auf Thematik und Herkunft des Wissens genau Bezug genommen; in Form von Zitaten, Abbildungen und sachlichen Referaten wird es möglichst explizit mitgeteilt. Die Selektivität ist geprägt von einem Wechsel zwischen der Auswahl bestimmter historischer Erscheinungen der drei Wissenstraditionen (Bilder, literarische und philosophische Texte) und der Auswahl von zusammenfassendem Überblickswissen aus Texten des 20. Jahrhunderts. Dieser Wechsel hat seinen Grund in Buschendorfs Überzeugung, dass der Autor Goethe „sich nicht durchgängig an eine bestimmte geistesgeschichtliche Tradition, an eine bestimmte literarische Gattung, oder gar an einen einzigen vorgegebenen Mythos band" (S. 64). Vielmehr greife der Roman semantische (überwiegend ikonische) „Formeln" auf, die in der Geschichte häufig verwendet und dabei ganz unterschiedlich geprägt wurden (S. 53f.). Die präsentierten Einzeldokumente gelten stets nur als exemplarische Belege für eine ganze Bildtradition, nie als die speziell gemeinten Stellen. Diese Form intertextueller Selektion macht nun den oben erwähnten Unterschied zur scholastischen Typologie aus: Während dort die eigentlich gemeinte Bedeutung immer an ganz besondere Erzählungen gebunden ist, nämlich an jene des Neuen Testaments, sind Buschendorfs Zweitbedeutungen meist von den besonderen Erzählungen gelöst und fuhren als allgemeine Formeln ein Eigenleben im kollektiven Gedächtnis. Was die Strukturalität des intertextuellen Bezugs auf die Interpretamente betrifft, so stellt Buschendorf die ausgewählten Wissenselemente dergestalt zusammen, dass sie einen „homogenen Sinnzusammenhang" (S. 64) in Form eines gedanklichen Kontinuums ergeben. Dieses lässt sich wie folgt rekonstruieren: Die Schaffung einer idealen arkadischen Landschaft unter den Bedingungen der Neuzeit fuhrt auf das Problem des Sittlichen und auf den Stellenwert des Todes. Beide Probleme fuhren wiederum auf das beherrschende Thema der Melancholie. Ein Strang dieses Themas fuhrt auf die neuplatonische Lehre: Von deren Warte aus gilt die Melancholie als ein Resultat der Begegnung der vollkommenen Seele mit der unvollkommenen Welt und die Rückwendung und Rückkehr der Seele zu Gott als die angemessene Reinigung von Welt und Melancholie. Diese gedankliche Struktur bestimmt nun wiederum die Auswahl der Wissenselemente aus ihren Herkunftsformationen. Ein weiterer Auswahlgrund liegt darin, dass Buschendorf nirgendwo unterstellt, die Gesamtheit eines Wissenszusammenhangs (ideale Landschaft überhaupt, Melancholie überhaupt) sei die Zweitbedeutung bestimmter Stellen des Romans, sondern dass er, wie schon gesagt, semantische Formeln

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für das Gemeinte hält. Würde er dem Roman eine Globalreferenz unterstellen, so müsste er sehr schwach selektiv vorgehen und die Wissenskomplexe annähernd vollständig referieren. Unterstellte er dem Roman hingegen eine Einzelstellenreferenz, so müsste er eine äußerst starke, partikularistische Selektion des Wissens vornehmen. Das aus der Warburg-Schule übernommene Konzept der (ikonischen) Formel ermöglicht einen mittleren Selektionsgrad: Die Auswahl besonderer Wissenszusammenhänge.33 Dieses Auswahl- und Strukturierungsverfahren wird in einleitenden Passagen über das ikonographische Verfahren der WarburgSchule auch autoreflexiv thematisiert: Die „semantische Energie" einer Bildformel resultiere aus ihrer permanenten Neuverarbeitung in der vorausgegangenen Tradition (S.21). Wir werden auf diese Ausführungen am Ende kritisch zurückkommen, weil Buschendorfs Analysen in einem entscheidenden Punkt hinter der ikonographischen Programmatik zurückbleiben. (2)

Erstbedeutungen

Die Auswahl der interpretierten Elemente des Romans ist gesteuert von den darauf bezogenen Interpretamenten. Im Zusammenhang mit dem ersten Themenkomplex hebt Buschendorf die Motive der Landschaftsgestaltung, der erotischen Attraktion und des Totengedenkens (Charlottes Veränderung des Kirchhofs) hervor. Im Zusammenhang mit dem dritten Themenkomplex konzentriert er sich auf eine Reihe von Eigenschaften und Handlungen Ottilies, die sich als Anspielungen auf die neuplatonische Lehre lesen lassen (einige Beispiele analysieren wir im nächsten Punkt). Im Zusammenhang mit den Themenkomplex Melancholie ist die Selektion am geringsten. Ausgewählt werden hier Eigenschaften und Handlungen aller Hauptfiguren sowie Elemente diverser Handlungsorte des Romans. Ottilie sei u.a. allein schon „wegen ihrer Eigenschaft als Waise" der Melancholie zugehörig (S. 145); der Hauptmann wegen der „Neigung" zum „Grübelzwang" (S. 148); Charlotte, weil ihre „Einbildungskraft" die Gesichtszüge ihrer Leibesfrucht beeinflusst (S. 180); Eduard u.a. wegen seiner Fähigkeit, die Tiere unter der Erde beim Wühlen zu vernehmen (S. 162). Der narrative Zusammenhang, der zwischen den ausgewählten Inhalten des Romans konstituiert wird, ist dem oben beschriebenen Gedankenzusammenhang der Zweitbedeutungen analog: Vier Personen versuchen, in einer künstlich hergestellten Idylle glücklich zu leben. Sie depotenzie33

In der intertextualistischen Theoriediskussion um das Verhältnis zwischen dem Bezug auf „individuelle Prätexte" und dem Bezug auf „textübergreifende Systeme" (Pfister 1985, S. 17ff.) könnte die vermittelnde Kategorie des Besonderen hilfreich sein.

183 ren die Zeichen des Todes und nehmen die erotische Attraktion nicht ernst. Das Geschehen entwickelt sich „in pointiertem Gegensatz zu den Absichten der Figuren", deren gesamtes Dasein einer „dämonischen Macht" zu unterstehen scheint (S. 46). Der weiblichen Hauptfigur gelingt es am Schluss aufgrund einer tiefen Erschütterung, sich von der Welt, die unter jener Macht steht, ab- und der Transzendenz zuzuwenden. Neben dieser hier nur in Grundzügen wiedergegebenen „sukzessiv"-narrativen Struktur konstatiert Buschendorf einen „simultanen Verweisungszusammenhang" zwischen unterschiedlichen Figuren, Orten, Handlungen und Ereignissen (S.42). Auf eine Weise, die wir weiter unten näher analysieren werden, hat diese „Dichte" interner Verweisungen nach Buschendorf die Funktion, „dem Roman seine mythische Form zu geben" (S. 52). Wiederum der Textsorte wissenschaftliche Abhandlung entsprechend, bezieht sich die Interpretation auf ganz bestimmte Stellen des Romans (starke Refer entialitäi), die weitgehend per Zitat mitgeteilt werden (starke Kommunikativität). Die semantische Differenz zwischen den von Buschendorf ausgewählten Erstbedeutungen und dem Zusammenhang sämtlicher Erstbedeutungen des Romans ist davon gekennzeichnet, dass der Interpret ausschließlich Stellen interpretiert, an denen die moderne Welt der Wahlverwandtschaften insgeheim gesättigt ist mit tradierter Bedeutung aus den drei genannten Themenbereichen. Ausgespart werden all jene Elemente, denen ein aus diesen Bereichen stammendes Wissen nicht zuschreibbar ist und die deshalb als Elemente einer nur unbedeutenden und prosaischen Welt gelten. So bezeichnet Buschendorf verschiedene christliche Motive des Romans, die sich nicht an die neuplatonische Tradition anbinden lassen, als sekundäre Elemente „der romantischen, christlich-modernen Einkleidung der Wahlverwandtschaften" (S.232). Die zur Allegorese ausgewählten Erstbedeutungen unterscheiden sich von der Gesamtheit der Erstbedeutungen dadurch, dass sie um die Semantik des romantischen Nazarenertums, der modernen Naturwissenschaft und anderer Bereiche verkürzt sind. Dass die Interpretation ihren Gegenstand selektiv, strukturierend und semantisch abweichend präsentiert, wird nicht autoreflexiv thematisiert oder erörtert. (3)

Verweisungsmodus

Allegorische Erzählungen sind gekennzeichnet durch eine Verbindung von „geschehnishaftem Erzählen" der vordergründigen Handlung und „bedeutungshaftem Zeigen" auf die eigentlich gemeinte Ebene (Kuhn 1979, S. 206). Diese Verbindung kann zu einem „Strukturproblem", ja „Konsistenzproblem" werden: „Theorien bieten sich als situationsentho-

184 bene Begriffshierarchien" dar, „narrative Einheiten jedoch als Situationen, Szenen und Bewußtseinslagen mit chronologischer, psychologischer und interessenbedingter Verlaufstypik" (Pfeiffer 1977, S. 579). Mithin müssen allegorische Erzählungen narrativ-psychologische Strukturen anschließbar machen an theoretische Strukturen (ebd., S. 580). Dieses Problem stellt sich auch für allegorische Romaninterpretationen: Sie müssen ihrem Gegenstand eine Struktur zuschreiben, die sowohl vom Erzählten als auch vom gedanklich Gemeinten bestimmt ist. Benjamin löste das Problem, indem er die höhere Bedeutung aus dem Erzählkontinuum gänzlich herausriss und in „gebannten" Einzelzeichen lokalisierte. Buschendorf löst das Problem, indem er auf beiden Seiten - Romanerzählung und Wissenstraditionen - durch die bereits beschriebene Selektion und Kombination von Elementen zwei weitgehend ähnliche Strukturen hervorhebt, die jeweils in sich und zugleich miteinander „homogen" sind (S. 54; 64). Die Anähnelung der Strukturen erfolgt auf dreifache Weise. Erstens stellt Buschendorf quasi-erzählerische Anschlüsse zwischen den drei Wissensbereichen her: Die Macht des Todes und der Melancholie setzt sich gegen die Herstellung einer idealen Landschaft durch (dies entspricht dem narrativen Grundkonflikt); es gibt unterschiedliche Typen von Melancholie (dies entspricht der Figurenkonstellation); der edelste Typus vollzieht den neuplatonischen Kreislauf der Seele (dies entspricht der tragischen Lösung des Konflikts). Zweitens hebt Buschendorf am Roman Erzähltechniken hervor, die das Geschehen aus der zeitlichen Abfolge herausnehmen und eine Struktur schaffen, die den nichttemporalen Strukturanteilen des zugeschriebenen Wissens ähnelt. Es handelt sich um die erzählerischen Mittel „der Präfiguration, der Gleichzeitigkeit, der Wiederkehr des Gleichen, der Kontrastierung" sowie der „Symmetrie und Kreisschlüssigkeit" (S. 46). Wo diese doppelte Strukturannäherung beider Seiten nicht hinreicht, einen homogenen Verweisungszusammenhang zu beschreiben, unterstellt Buschendorf, drittens, eine erzählerische Verzeitlichung des Wissens: „Freilich mußte Goethe dem nicht-theoretischen Darstellungsmedium Rechnung tragen und die [...] Gleichzeitigkeit der von der Seele vollzogenen Wandlungen in ein poetisch sinnfälliges Nacheinander auflösen" (S. 250). Das unterstellte Ambiguitätsverhältnis zwischen Erst- und Zweitbedeutung wird an der poetischen Produktionsweise deutlich, die der Interpret dem Autor zuschreibt. Zunächst habe Goethe an der fiktional gestalteten Wirklichkeit eine „abweisende Unwilligkeit" hinsichtlich ihrer „Bedeutsamkeiten" wahrgenommen, mit einem Wort: Bedeutungslosigkeit (S. 33). Zugleich habe er „geradezu im Bann der großen Bildformeln und Sujets der abendländischen Traditionsgeschichte" gestanden (S. 25). Wegen dieser Diskrepanz sei es nicht leicht gewesen, „die aus den überkom-

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menen Bildern empfangene Ausdrucksenergie zu objektivieren" (S. 26). Zur Lösung dieses Problems habe der Autor auf der realistischen Handlungsebene einen „simultanen Verweisungszusammenhang etabliert", welcher „der fiktionalen Realität der Wahlverwandtschaften durchgängig die Qualität des Bedeutsamen oder Numinosen" verleihe (S. 42). In diese willkürlich potenzierte Welt - um hier einen von Novalis in die Poetik eingeführten Ausdruck zu verwenden - habe Goethe dann die tradierten Ausdrucksformeln als Zweitbedeutungen eingesetzt. Bereits die Erstbedeutungen des Romans gelten Buschendorf mithin als bedeutsam, freilich nur auf numinose, rätselhafte, gänzlich unbestimmte Weise. Dieser Latenz-Zustand unbestimmt-formaler Bedeutsamkeit werde durch die Verbindung mit den „mythischen" Zweitbedeutungen in die Manifestation inhaltlich bestimmter Bedeutsamkeit überführt. Die unbegrenzte Ambiguität wird durch die fasslichen Aussagen der „Bildformeln" begrenzt. Dem Ambiguitätsverhältnis entspricht die unterstellte inhaltliche Verweisung zwischen Erst- und Zweitbedeutung. Das ontologische Verhältnis beider Seiten ist wird bestimmt als Verhältnis von scheinhafter Immananz und wesentlicher Transzendenz. Buschendorf behauptet, „daß der Roman [...] seine Immanenz durch Appelle an präformiertes, überliefertes Wissen transzendiert" (S. 141). Die modern-realistische Schicht gilt ihm als „Gewand" (S. 54, 88), unter dem „die mythische Wahrheit der älteren Schicht" (S. 122) „beinahe unkenntlich wird" (S. 88), oder als „Fassade" (S.54) und „Verkleidung" (S. 197), mit der die „hermetische Tiefenschicht" als die „tragende Konstruktion des Ganzen [...] überzogen wird" (S. 197).34 Diese Formulierungen verdeutlichen zugleich das unterstellte Wertverhältnis zwischen Erst- und Zweitbedeutungen. Die Behauptung, der Roman transzendiere seine Fassade, Verkleidung bzw. Oberfläche, geht einher mit der interpretatorischen Ansiedlung semantischer Substanz ausschließlich an einem Ort jenseits der realistischen Erstbedeutungen. Zwar weisen diese Elemente eine „numinose" Bedeutsamkeit auf, die angeblich jedoch allein aus dem Bedürfnis Goethes resultiert, die Realität so zu strukturieren, dass ihr ein gänzlich ,,inkompatible[r]" Sinn (S. 107) implantiert werden kann. Aus dieser Implantation resultieren dann häufig, so Buschendorf, „Verfallsformen" der einst so bedeutsamen Muster 34

Man kann nicht sagen, dass hier die vorgeprägten Formeln der Exegese im Gewand zeitgenössischer Interpretation sonderlich unkenntlich seien. Die scholastische Herkunft des Verfahrens zeigt sich im Vergleich etwa mit Dantes Gastmahl, wo der wörtliche Sinn als die „äußere Hülle" bezeichnet wird, durch die man gehen müsse, um zum „Inneren" zu gelangen (Dante 1965, S. 52). Der allegorische Sinn, so Dante, „verbirgt sich unter dem Mantel dieser Erzählungen und stellt eine Wahrheit dar, die unter dem Mantel einer schönen Lüge sich verhüllt" (S. 50).

186 (S. 101). Die moderne Welt wird als dermaßen wertlos eingestuft, dass daran die bedeutsamen Traditionen Schaden nehmen. Aus diesem Grund, so behauptet der Interpret, unterwerfe der Autor das realistische „Romangebäude" einer gleichnishaften „Zerstörung" und „Aufhebung" und lege so die Tiefenschicht der Wahrheit frei. In diesem Sinne liest Buschendorf die Rede des Maurers bei der Grundsteinlegung zum Lusthaus als eine immanente poetologische „Selbstexplikation" des Romans. Der Grundstein stehe fur die überlieferten bedeutsamen Formeln, die Fassade für die moderne Realität. 35 Die von Ottilie in den Grundstein eingeschlossene goldene Kette, an der das Bildnis ihres Vaters gehangen hatte, verweise auf die neuplatonische aurea catena des von Gott abkünftigen Seienden. Aus der Äußerung des Maurers, man werde den Deckel des Grundsteins nur dann wieder anheben können, „wenn das alles wieder zerstört wäre" (WV 1,9, S. 333), und aus der befremdlichen Tatsache, dass Ottilie kurz vor ihrem Tod wieder in Besitz des goldenen Kettchens gezeigt wird (WV 11,18, S. 518), schlussfolgert Buschendorf, das Auftauchen des im Grundstein verschlossenen Kleinods zeige eine „virtuelle Aufhebung" der Fassade an: „das, wofür das Lusthaus steht, also die irdische Liebe oder das Romangebäude ist durch die aurea catena aufzuheben" (S. 200). 36 Abweichend von dem bisherigen Verhältnis zwischen Erst- und Zweitbedeutung geht der Interpret an einigen Stellen von der Existenz einer eigenen inhaltlichen Bedeutsamkeit der modernen „christlich-bürgerlichen" Realität aus, die im Kontakt mit der tradierten Semantik der Bildformeln zur Zweideutigkeit führe. Er konstatiert dann eine „doppelbödige Semantik, die sowohl Quell für die durchgängige Ambiguität des Romans ist, als auch das energetische Movens der Handlung bildet" (S. 107). Diese Bestimmung passt nicht zur Antithese von „Grundstein" und „Fassade": Die bedeutungslose Fassade kann nicht der zweite Boden der Bedeutung sein. Schon in der Einleitung schreibt Buschendorf über Aby Warburg, an dessen Verfahren einer ikonographischen Kunstgeschichte er sich orientiert: „Als ästhetisches Spezifikum der konkreten Bildformeln galt ihm der besondere Ausgleich, den die gegensätzlichen Strebungen der zeitgenössischen und tradierten Semantik vorübergehend gefunden haben" (S. 20). Später wird Goethes Gestaltungsintention nicht nur als ein vorübergehender Ausgleich der Gegensätze bestimmt, sondern als „die organische Vereinigung des semantischen Potentials der

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Auch diese Interpretation geht auf ein Muster der Bibel-Exegese zurück: auf das von Hieronymus stammende Bild des „Sinngebäudes" (vgl. Ohly 1977, S. 15). Man kann darin allerdings auch einen Hinweis des Erzählers auf Ottilies magische Fähigkeiten sehen.

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nachlebenden Antike mit dem der christlichen Moderne" (S. 61). Und auf der letzten Seite heißt es, „daß das Werk insgesamt zu einem integrierenden Dritten wird, das die poetische Vermittlung leistet" (S. 269). Auch wenn diese Aussage nicht unterstellt, dass die moderne Semantik der älteren gleichrangig und gleichwertig sei, so impliziert sie doch zumindest eine je eigene Bedeutsamkeit beider Seiten. Anderenfalls könnten die bedeutsameren Inhalte nicht mit den weniger bedeutsamen ausgeglichen, vereinigt oder vermittelt werden. Der These einer Poetik der Vermittlung widerspricht indes die Interpretationsaussage, dass die poetologische „Selbstexplikation" des Romans die Zielvorstellung einer „Zerstörung" der bloßen Hülle enthalte (S. 200f.). In der materialen Durchführung seiner Allegorese folgt der Exeget ausschließlich dem Programm einer Freilegung wertvoller tradierter Bedeutung. Das aus der Vermittlung mit der zeithistorischen Schicht entstehende „Dritte" wird dezidiert aus der Untersuchung ausgeschlossen: „Im Vertrauen darauf, daß die genaue Rekonstruktion der Gegenstände, die Goethes dichterische Phantasie entzündeten, es dem Leser ermöglicht, seinen ästhetischen Blick entsprechend zu justieren, verzichtet die folgende Darstellung darauf, die rekonstruierte Tiefenschicht stets auch noch ausdrücklich mit dem unmittelbarem Wortsinn zu vermitteln" (S. 65). Dem Leser wird dies zwar ermöglicht, im Einzelfall aber keineswegs nahegelegt, denn die modernen Bedeutungen unterliegen einer durchgängigen interpretatorischen Abwertung und werden auch bei der Bestimmung des Ähnlichkeitsverhältnisses von Erst- und Zweitbedeutung den älteren Bedeutungen strikt subordiniert. Dies sei an zwei exemplarischen Stellen aufgezeigt. Der Roman beginnt mit der Schilderung folgender Situation: Eduard, der „in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht" hat, „um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen", legt nach vollendetem Geschäft „die Gerätschaften in das Futteral zusammen" (WV 1,1, S.271). Buschendorf deutet diese Stelle als den ersten Hinweis darauf, dass Eduard ein „Saturnskind", nämlich ein Melancholiker ist: Die „frisch erhaltene[n] Pfropfreiser" sowie die „Gerätschaften", mit denen er hantiert, sind nichts anderes als die kultivierten Attribute Saturns, denn wie man zum Beispiel auf einem Bild von Giulio Campagnola bzw. auf einer Illustration in Aloys Hirts Bilderbuch für Mythologie sehen kann, wird Saturn gelegentlich mit einem Zweig dargestellt; und die Sichel, die nach einigen antiken Autoren nicht nur die Verstümmelung des Uranos durch Kronos, sondern auch Saturns verschiedene Funktionen als Erdgott symbolisiert, hat sich bereits auf vielen Planetenkinderbildern in die diversen Instrumente des Land- und Gartenbaus verwandelt. (S. 151)

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Es folgt eine Doppelseite mit zwei bildlichen Darstellungen aus dem 15. Jahrhundert, auf denen „Saturnskinder" unter anderem mit Ackergeräten wie Hacke, Spaten, Pflug und Sichel dargestellt sind. Keines der Geräte ließe sich in ein Futteral legen. Die von Buschendorf unterstellte Verweisung funktioniert folgendermaßen: Durch eine metonymische Verschiebung werden die kleinen, zum Pfropfen verwendeten Geräte zu Zeichen für die großen, zum Acker- und Gartenbau verwendeten Geräte. Entsprechend wird die Beschäftigung mit Zierpflanzen zum Zeichen für die Beschäftigung mit Nutzpflanzen. Im zweiten Schritt wird dann der Ackerbau durch metaphorische Übertragung zum Zeichen der Melancholie: Der Wirklichkeitsbereich Landbau, der nach römischer Überlieferung dem Saturn zugehört, verweist auf den Bereich der Zeit und der Vergänglichkeit, der dem Saturn in der römischen Mythologie nicht assoziiert ist. Diese beiden figurativen Schritte machen Pfropfreiser und Pfropfgeräte zum Zeichen fur Melancholie. Die Formulierung „sind nichts anderes als" bringt zum Ausdruck, wie der gefundene mythologische Sinn zu der modernen Bedeutung der Stelle passt: Von den überhaupt in Frage kommenden Prätexten seien an der fraglichen Stelle keine anderen gemeint als die saturnischen. Zugleich meint die Formulierung, dass die Bedeutung der Stelle ausschließlich in den „Attributen Saturns" bestehe: Es sei dort „nichts anderes" bedeutsam, weil die moderne Welt unbedeutend sei. Auf ähnliche Weise doppeldeutig ist das Attribut „kultiviert", mit dem der Exeget die metonymische Verschiebung von den Ackergeräten zu den Pfropfgeräten näher bestimmt. Zum einen bezieht sich dieses Wort auf sämtliche Diversifikationen der ursprünglichen saturnischen Sichel zu anderen Instrumenten des Landund Gartenbaus, die Buschendorf in den Geräten auf den CinquecentoDarstellungen und in den Wahlverwandtschaften dargestellt sieht; zum anderen bezieht sich „kultiviert" eher pejorativ auf die moderne Wirklichkeit um 1800, die in der realistischen Schicht des Romans gestaltet ist. „Kultiviert" meint also zum einen - positiv - die Gedächtnisleistung der abendländischen Bildtradition, die in allen Diversifikationen ihre Ursprünge doch bewahrt, zum anderen meint das Wort - negativ - eine moderne bürgerliche Kultur der Profanisierung, in der die überlieferten Formeln ein Dasein in geschrumpfter und verkleideter Form fristen. Die doppelte Lesbarkeit der Wendungen entspricht der oben aufgezeigten Unentschiedenheit: Einerseits sei das kulturelle Spezifikum des Romans die Synthese des Neuen mit ganz bestimmten älteren Bildformeln; andererseits präsentiere der Roman nichts anderes als die bedeutsamen älteren Formeln in der banalen Verkleidung einer modernen Kultur. Buschendorfs Untersuchung folgt auch an dieser Stelle allein der antithetischen, nicht der vermittelnden Gegenstandsbestimmung: Sie zeigt

189 nicht, wie die gedeuteten Motive mit der psychologisch-realistischen Handlungsebene genau zusammenhängen. Parallelisierte man Eduards müßiggängerische Unternehmung, „frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme" zu bringen, etwa mit der Hinwendung seiner Leidenschaft auf ein junges Mädchen, so könnte der von Buschendorf behauptete metaphorische, über das Mythologem vermittelte Zusammenhang von Landbau und Melancholie (Eduards spätere Verzweiflung) einen spezifischen Sinn för die moderne Schicht der Romanhandlung gewinnen - vorausgesetzt, man wählte das aus Tradition und Gegenwart gebildete „Dritte" tatsächlich zum Hauptgegenstand der Interpretation. Erst auf diese Weise erhielten einige weitere Deutungen, die am Motivkreis des Gartenbaus vorgenommen werden, einen spezifischen, mit der besonderen Problematik dieses Romans vermittelten Sinn. Dass die von Eduard neu gepflanzten und bepfropften Obstbäume kaum Früchte tragen (WV 1,17, S.383), ist nach Buschendorf ein Hinweis auf die bei Agrippa von Nettesheim dargelegte Vorstellung, unfruchtbare Pflanzen seien ein Zeichen der Melancholie (S. 158; 162); und auch die Platanen, die Eduard wunderbarerweise genau am Tag von Ottilies Geburt eigenhändig gepflanzt hat (WV 1,14, S. 367), seien ein derartiges Zeichen, weil diesen Bäumen „in der Tradition immer wieder das saturnische Prädikat der Unfruchtbarkeit zugeschrieben wird" (S. 164). Die Anspielungen auf die ,melancholische' Bildtradition erhalten im Kontext der Romanhandlung die spezifische Funktion einer Vorausdeutung auf das fruchtlose, unglückliche Ende der Liebe. Vor allem aber stellt sich erst in diesem Zusammenhang die Frage, welche aktuelle Bedeutung die Pflanzensymbolik in dem Roman hat. Die traditionelle Verbindung von Unfruchtbarkeit und Melancholie wird in den Wahlverwandtschaften offenbar erst durch die moderne Besonderheit des permanenten Selbst-Pflanzens und Selbst-Pfopfens bedeutsam. Man könnte sagen, dass Eduards willkürliche Eingriffe in das Gewachsene und Wachsende Unfruchtbarkeit und Unglück produzieren, und dass genau diese Pointe den Rekurs auf entsprechende Melancholievorstellungen überhaupt erst sinnvoll macht. 37 Das zweite Beispiel ist die Deutung des Spaziergangs im siebten Kapitel des ersten Teils. Eduard und Ottilie beschließen, „über Moos und Felstrümmer" zur alten Mühle „hinabzusteigen". Sich umwendend,

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Zu wenig spezifischen Ergebnissen hingegen fuhrt Buschendorfs Verfahren, bei den Bedeutungen der Tradition anzusetzen und daraus die Bedeutungen des Romans abzuleiten. Wenn Agrippa von Nettesheim dem Satum sämtliche „Pflanzen und Bäume" zurechnet, die „entweder keine Früchte tragen, oder reich an Früchten" sind (zit. nach S. 158), so nimmt es kaum Wunder, dass in einer von hier aus deduktiv verfahrenden Lektüre nahezu jede Pflanze in Eduards Garten zum Zeichen der Melancholie wird.

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glaubt der vorangehende Eduard „ein himmlisches Wesen zu sehen, das über ihm schwebte". Fast hätte er gewünscht, sie möchte straucheln, gleiten, daß er sie in seine Arme auffange, sie an sein Herz drücken könnte. Doch dies hätte er unter keiner Bedingung getan, aus mehr als einer Ursache: er fürchtete sie zu beleidigen, sie zu beschädigen. [Abs.] Wie dies gemeint sei, erfahren wir sogleich. (WV 1,7; S. 322)

Wir erfahren es insofern, als Eduard gegenüber Ottilie seine Furcht umständlich erklärt unter Hinweis auf „das Bild Ihres Vaters, des braven Mannes, den Sie kaum gekannt und der in jedem Sinne eine Stelle an Ihrem Herzen verdient". Dieses in Glas und Metall gefasste „Miniaturbild" erscheint Eduard „ungeschickt groß". Ihm „ist die Möglichkeit schrecklich, daß irgendein unvorgesehener Stoß, ein Fall, eine Berührung Ihnen schädlich und verderblich sein könnte". Sie möge das Bild „nicht aus Ihrem Andenken, nicht aus Ihrem Zimmer", sondern nur „von Ihrer Brust entfernen". Ottilie folgt dieser Bitte, indem sie das Bild „mit einem Blick mehr gen Himmel als auf Eduard gewendet [...] gegen ihre Stirn drückt" und es dem Freunde „bis wir nach Hause kommen" zur Aufbewahrung überreicht (WV 1,7, S. 323). Buschendorf zufolge „verweisen" die „Umständlichkeit" und „Manieriertheit" von Eduards Bitte sowie die „Künstlichkeit von Ottilies Gebärde [...] mit Nachdruck auf einen Sinn jenseits der flktionalen Realitätsebene" (S.217). Hier konkretisiert der Interpret die Ausgangsthese, der „flktionalen Realität" des Romans werde mit stilistischen Mitteln eine inhaltlich noch nicht gefüllte - „Qualität des Bedeutsamen oder Numinosen" verliehen (S. 42). An solchen Stellen entstehe „eine Übertragungsebene, auf die die Besonderheiten des Textes gehoben und dabei dergestalt typisiert werden, daß sie analoge Besonderheiten im Vorwissen des Lesers wachrufen" (S. 69). Letzteres ist der von Buschendorf behauptete zweite Schritt der Bedeutsamkeitsstiftung. So „indiziert die Szene" in Kapitel 1/7 „vor allem, daß Ottilies Abstieg zur Mühle der neuplatonischen emanatio der Seele entspricht" (S. 216). Ottilie sei „bereits zu Beginn der Szene hinreichend als Aphrodite gekennzeichnet" und erscheine dann „Eduard in der Aura der himmlischen Venus". Goethe spiele nachfolgend „mit dem Motiv des Straucheins, das im Piatonismus [...] so häufig den Eintritt der Seele ins Irdische [...] markiert" (S.214). Das Ablegen des Vater-Bildes wird wie folgt gedeutet: Ficinos Vorstellung, der herabsteigenden Seele sei ein - in engelhaften Wesen besonders deutlich ausgeprägtes - Abbild vom Antlitz Gottes beigegeben, das diese wie Kinder das Antlitz des Vaters liebe und das sie daher „in ihrem Busen" berge, diese Vorstellung scheint im Goetheschen Text ebenso durch wie der Gedanke Plotins, daß die Seele Gott liebe, „wie eine edle Jungfrau ihren Vater liebt", daß sie sich aber „nach ihrem Eintritt in die Werdewelt... gleichsam durch das Treiben der Freier betören" lasse,

191 so daß „sich ihre Liebe in der Feme vom Vater in eine andere, irdische" wandle und sie der Schande unterliege. (S. 215)

Buschendorf bezieht Plotins Aussage über das Treiben der Freier auf die Stelle, an der Eduard seine Bitte, Ottilie möge das Kettchen abnehmen, mit der Gefahr begründet, „daß irgendein unvorgesehener Stoß, ein Fall, eine Berührung" ihr „schädlich und verderblich sein könnte" (WV 1,7, S. 323). Denn diese Möglichkeit, die Eduard - auf der Ebene des unmittelbaren Wortsinns - durch seine Bitte erklärtermaßen abzuwenden sucht, leitet er - im übertragenen Sinn - allererst ein: den Abfall der Seele vom Einen, vom Vater. Durch den „Blick ... gen Himmel", das Lösen der aurea catena und durch die Übergabe des Vaterbildes wird indiziert, daß sich die Liebe der Seele zur irdischen wandelt. (S.216)

Ottilies Worte „bis wir nach Hause kommen" schließlich scheinen, so Buschendorf „von ferne bereits die im SchlußtaWea« stillgestellte remeatio der Liebenden, jenen freundlichen Augenblick zu präfigurieren, ,wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen'" (ebd.). Der Interpret beschreibt einen quasi-metaphorischen Verweisungsmodus, wenn er die Rolle des beiden Seiten gemeinsamen, übergeordneten Allgemeinen hervorhebt: Manieriertheit, Künstlichkeit und Typisierung des Stils weiteten die Bedeutung der Ausdrücke „himmlisches Wesen", „Vater", „straucheln" und „nach Hause kommen" so stark aus, dass Vorstellungen aus anderen Wissensschemata damit verbunden werden könnten. Ottilie stehe dann für die neuplatonisch gedeutete Venus, ihr Vater für Gott oder das Eine, ihr (von Eduard erhofftes) Straucheln für den Eintritt der Seele ins Irdische, das Nach-Hause-Kommen für die Rückkehr der Seele zum Einen. De facto unterstellt Buschendorf an dieser und an vielen anderen Stellen jedoch eine weitaus direktere Verweisung zwischen Erstund Zweitbedeutung: das Wörtlich-Nehmen figurativer Rede. Buschendorf sieht bestimmte Metaphern und Vergleiche, die er auf der Seite der unterstellten Zweitbedeutungen ansiedelt, auf der Seite der Erstbedeutungen wörtlich genommen. Es handelt sich um Metaphern, die abstrakte religiöse Vorstellungen fasslich machen: Auf den Tenor „Gott" werden semantische Gehalte der Vehikel „Vater" und „Zuhause" projiziert. Entsprechendes gilt für das Straucheln. In diesem Fall erfolgt die - nach Quintilian für die Allegorie charakteristische - Verbindung mehrerer Vehikel zu einer kontinuierlichen Textur, eben zu einem Sinn-Bild oder zu einer Sinn-Geschichte. 38 Buschendorfs Deutung zufolge stellt Goethe den Kreislauf der Seele allegorisch dar, indem er die in der Zweitbedeutung (neuplatonische Vorstellungen) bereits vorhandene metaphorische Rede38

„Vereinfachend lassen sich zwei Formen literarischer Allegorien unterscheiden: die narrative und die deskriptive Allegorie" (Kurz 1993, S. 50).

192 weise für eine durchgängige Illustration dieser Lehre nutzt. Weiterhin behauptet Buschendorf, dass eine auf der Seite der Erstbedeutung angesiedelte Sinnfigur auf der Seite der Zweitbedeutung wörtlich zu nehmen sei, nämlich der Vergleich Ottilies mit einem himmlischen Wesen. Indem der Interpret sagt, mit Ottilie sei tatsächlich ein himmlisches Wesen gemeint, schreibt er der Sinnfigur eine doppelte Funktion zu: Auf der Ebene von Eduards Wahrnehmung „erscheint" Ottilie „in der Aura des himmlischen Wesens", d.h. so schön, als ob sie ein solches Wesen wäre; auf der Ebene der Roman-Aussage sei sie durch diese Darstellung „hinreichend als Aphrodite gekennzeichnet", also tatsächlich als eine Aphrodite-Figur gemeint (S.214). Während bei der psychologischen Schilderung von Eduards Bewusstsein der unspezifische Ausdruck „himmlisches Wesen" als Bild für Ottilie fungiere, werde in der allegorischen Verweisung umgekehrt Ottilie zum Bild eines himmlischen Wesens. Wir können die beiden Beispiele folgendermaßen zusammenfassen. Laut Buschendorf verweisen die „Szenen" des Romans durch sehr konkrete Analogien auf bereits bestehende Bilder, und zwar auf ikonische Darstellungen einerseits, Sprachbilder andererseits. So stehen Gerätschaften und Pflanzen des Romans metonymisch fur Gerätschaften und Pflanzen mythologischer Darstellungen; Handlungselemente gelten als Inszenierungen religiöser Metaphern und Vergleiche. Die tradierten Bilder verweisen ihrerseits - z.T. durch metaphorische Sprünge zwischen unterschiedlichen Wissensschemata (Ackerbau und Melancholie) - auf ein Kunstwollen (Idealisierung von Landschaft), auf ein Geheimwissen (Melancholie) oder auf eine philosophisch-theologische Lehre (Kreislauf der Seele). Während in den tradierten Bildern der Sinn meist parallel zum Bild auch ausgesprochen wird, etwa in einer emblematischen subscriptio oder in einem mit Bildern operierenden philosophischen Text, präsentiert Goethes Roman, dieser Exegese zufolge, allein das Bild. In der Terminologie Quintilians ist er fur Buschendorf eine tota allegoria im Gegensatz zur permixta allegoria, die ihre eigene Exegese begrifflich zumindest andeutet (Quintilian 1988, Bd. 2, S. 2 3 6 f f ) . In keinem der Beispiele gesteht der Interpret der Handlungsebene eine eigenständige Semantik zu. Die Analyse bestätigt den vorherigen Befund: Die wörtliche Bedeutung gilt als eine niedere semantische Sphäre, in welche die höhere Bedeutung abgestiegen ist und aus der sie exegetisch wieder befreit werden soll. Die interpretatorische Vermittlung von Erst- und Zweitbedeutung wird mithin keineswegs dem Leser überlassen, sondern durch die figurativen VerweisungsBehauptungen der Interpretation bereits geleistet im Sinne einer strikten Subordination der wörtlichen Bedeutung unter die höhere. Damit können wir schließlich den mentalen Status der Verweisung zwischen Erst- und Zweitbedeutung bestimmen. Buschendorf zufolge

193

appellieren die stilisierten Bilder des Romans an das Bildgedächtnis des Lesers und indirekt an das mit den Bildern verbundene Wissen. Im Sinne unserer Typologie (vgl. Kap. 1.1.3, Pkt. 6) ist die Verweisung im Bereich bildhafter Vorstellungen angesiedelt. Versteht man den Roman so, wie er hier interpretiert wird, dann ruft er im Gedächtnis Vorstellungen von künstlerischen Bildern wach. Vorbereitet wird diese bildhafte Verweisung aber durch das, was wir „prototypische" Verweisung genannt hatten: Nach Buschendorf ist z.B. Ottilies Vater als inhaltlich unspezifischer Prototyp eines Vaters überhaupt dargestellt, so dass in dem zweiten, spezifizierenden Deutungsschritt bestimmte Bilder von Gottvater aktivierbar sind. Im dritten Schritt verweisen die erinnerten Bilder schließlich auf „begriffliche Schemata", so dass Buschendorf zuletzt behaupten kann, der Spaziergang zur Mühle „indiziere" einen so komplexen Wissenszusammenhang wie Plotins Emanatio-Lehre. Mit dieser Kombination von prototypischem, bildhaftem und begrifflichem Verweisungsmodus knüpft Buschendorf explizit an Aby Warburgs Symbolbegriff an, der eine Synthese „zwischen den Polen von logisch-distanzierendem und mythisch-magischem Weltverhalten" vermittelt: Da zwischen diesen Polen „das Verhältnis allmählichen Übergangs herrscht, haben auch die extremsten Pole an ihnen selbst noch Momente ihres Gegenteils" (S. 18). Die Bilder werden also nicht vollständig in Wissen aufgelöst, sondern bewahren ein originäres Weltverhältnis, das Buschendorf mit Warburg als „magisch" bezeichnet. Das Magische bestehe in der formelhaften Bewältigung der „Unheimlichkeit der Welt" (S. 33), weshalb die Bilder als „mythische Schemata der Entängstigung" gelten (S. 42). Diese Funktion können die Bilder aber nach Warburg allein dadurch gewinnen, dass sie „Ausdruck" sind (S. 18), und zwar Ausdruck eines Leidens an der je gegenwärtigen Welt. Aus diesem Grund hebt Buschendorf an der Figuren- und Handlungsdarstellung des Romans mehrfach die kunstgeschichtlich tradierten (und von der Warburg-Schule untersuchten) „Pathosformeln" (S. 59 u.ö.) hervor. Unter Berufung auf Warburg spricht Buschendorf von dem „anarchischen Potential archaischer Leidenschaft und Erschütterung, das in diesen Formeln - gebannt, depotenziert und zu humanem Besitz gemildert - gleichsam im Nachhall fortlebt" (S. 54). Als gebannte seien die Bilder auch dann, wenn sie nahe dem mythisch-magischen Pol angesiedelt sind, stets von logischer Distanzierung bestimmt. Eben die „Umrißklarheit" der Bannungsformeln, „zu der sich die Bild- und Ausdrucksformeln des europäischen Kollektivgedächtnisses in einem oft jahrhundertelangen Selektionsprozess entwickelt haben", bewirke, dass „die tradierte Semantik ihre poetische Kraft selbst durch das realistische Gewand zeitgenössischer Verkleidung hindurch entfaltet" (S. 54).

194 So behauptet Buschendorf über den Satz des Erzählers: „Kniend sinkt sie in dem Kahne nieder und hebt das erstarrte Kind mit beiden Armen über ihre unschuldige Brust, die an Weiße und leider auch an Kälte dem Marmor gleicht" (WV 11,13, S.495), hier werde „durch den Appell an unser Bildgedächtnis ein Höchstmaß seelischer Erregung zum Ausdruck gebracht" (S. 59). Die Bestimmung des zugeschriebenen mentalen Status der Verweisung können wir dahingehend ergänzen, dass die bildhafte Verweisung nicht nur mit einer begrifflichen, sondern auch mit einer affektiven Verweisung einher geht: Die auf der Ebene der Erstbedeutung dargestellte Emotion verweist, der Interpretation zufolge, auf Emotionen, die mit ähnlichen Darstellungen verbunden sind. Auch hinsichtlich der Affekte vernachlässigt Buschendorf freilich die spezifische Synthese beider Seiten zu einem Dritten. Der Interpretation zufolge wird Ottilie an der besagten Stelle mit einer „Pathosformel" belegt, die in der Vergangenheit ganz unterschiedliche Leidenschaften ausdrückte: die Raserei der „Bacchantinnen", die Eifersucht der „ihre Kinder mordenden Medea" und den Schmerz der „Maria Magdalena unter dem Kreuz". Welche dieser unterschiedlichen Leidenschaften, die der Leser möglicherweise aus seinem Bildgedächtnis erinnert, sind auf der Handlungsebene plausibel? Welcher Frauenfigur aus dieser heterogenen Reihe ähnelt Ottilie in welchen Nuancen und in welchem Grade? Und: Worin liegt die neue Ausdrucksnuance, um die Goethes Roman jene tradierte Bildformel bereichert? Diese Fragen geben das zentrale hermeneutische Problem von Buschendorfs Allegorese zu erkennen: Aus der Zuschreibung semantischer Formeln, die durch unterschiedliche Traditionen gegangen sind, lassen sich keine spezifischen Textbedeutungen herleiten. Wir kommen auf dieses Problem im übernächsten Abschnitt zurück.

2.2.3 Illokutionäre Interpretationsakte Eine vorherrschende Illokution ist die Explanation. Den Lesern wird der Sinn von Textelementen erklärt, die im narrativen Kontinuum der Erstbedeutungen nicht verständlich bzw. nicht besonders stark motiviert oder zwingend sind. Typische Formeln der Explanation lauten: „Endlich erschließt sich in dieser Perspektive auch der Sinn der im Roman so ominösen Platanen" (S. 162). „Im Lichte dieser Semantik wird einsichtig, [...] warum Goethe die bildende Kunst und die verschiedenen Bautätigkeiten in seinem Roman überhaupt so hervortreten läßt" (S. 186). Erklärt wird weiterhin der „Verweisungszusammenhang" des Romans, der auf der Ebene der Erstbedeutungen die Qualität des „Numinosen" erzeuge (S.42) und der „fiktionalen Realität eine geradezu unerfindbare Dichte

195 und damit die Dignität des Unerfundenen" verleihe (S. 51 f.). Die motivischen Ähnlichkeiten, Kontraste und Steigerungen zwischen Textstellen, die nicht narrativ miteinander verbunden sind, sollen mit dem Wissen um die bildlichen und gedanklichen Zusammenhänge innerhalb der Zweitbedeutungen als motiviert und als tatsächlich „unerfunden" erklärt werden, nämlich als präformiert durch die Tradition. Darüber hinaus werden Einzelheiten und Zusammenhänge, die innerhalb der Handlung bereits motiviert und verständlich sind, anders erklärt. In diesen Fällen soll keine Verstehenslücke des Lesers behoben, sondern ein existierendes Verstehen verändert, genauer: um ein Verstehen des eigentlich erst Bedeutsamen bereichert werden. So sind Ottilies Schweigen und Fasten als ein entsagungsvoller Rückzug nach innen psychologisch verständlich, aber der Interpret macht sie noch anders verständlich, indem er sagt, dass Ottilies initiale Einsicht „ich bin aus meiner Bahn geschritten" (VW 11,14 S. 500) neuplatonischen Beschreibungen der Rückwendung der Seele zu ihrem Ursprung entspricht. Dass der Hauptmann die Vermessung des Landgutes durchfuhrt (WV 1,3, S. 290), lässt sich damit erklären, dass der in seinem Tätigkeitsdrang zwischenzeitlich gehemmte Offizier wieder einem „Geschäft" nachgehen kann. Der Interpret macht die Arbeit des Hauptmanns noch anders verständlich, indem er mitteilt, dass schon im 9. Jahrhundert die „Erdmessung" als Handlung Saturns galt, dass Dürers Melancholiedarstellungen den Zirkel als Zeichen der Geometrie enthalten (S. 185) und dass man „der traditionellen Medizin zufolge den Gefahren einer melancholischen Disposition" durch „Orientierungsund Ordnungsbemühungen" dieser Art „Herr werden" kann (S. 172). Ob die illokutionären Sprechakte gelungen oder misslungen sind, lässt sich in Bezug auf ihren immanenten Geltungsanspruch beurteilen. Texterklärungen erheben nicht nur den Anspruch der Erweiterung oder Bereicherung des Textverstehens, sondern auch den Wahrheitsanspruch der Angemessenheit in Bezug auf den Gegenstand. Ob sie diesem Anspruch genügen, lässt sich - wie in Kapitel 1.4.2 skizziert - unter mehreren Fragestellungen prüfen: Passen die interpretatorischen Operationen zueinander? Passen sie zu den Grundüberzeugungen? Passen die Grundüberzeugungen zueinander? Sind die interpretatorischen Operationen und die Grundüberzeugungen mit den unhintergehbaren Gegenstandsbestimmungen vereinbar? Passen die interpretatorischen Operationen zu dem vorhandenen relevanten Wissen? - Zur Prüfung seien die beiden zuletzt angeführten Beispiele eines Anders-als-bisher-verständlich-Machens herausgegriffen; die Prüfung soll zunächst rein immanent, d.h. ohne den Vergleich mit anderem Wissen erfolgen. Die Übereinstimmung der einzelnen interpretatorischen Operationen mit den Grundüberzeugungen ist insofern gegeben, als die Interpreta-

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tionsakte genau der Auffassung Buschendorfs folgen, dass eine „Affinität" herrscht zwischen dem „homogenen Sinnzusammenhang" der Zweitbedeutungen und dem „Wortsinn des erzählten Geschehens" (S. 64), d.h. dessen analoger „homogenefr]" Struktur (S. 54). Der Interpret konstruiert, dieser Grundannahme entsprechend, allegorische Zusammenhänge, die den Zusammenhängen der Handlungsentwicklung und Figurenzeichnung analog sind. Das Interpretament der Rückwendung der Seele ist eingebettet in die gleichermaßen explanativ zugeschriebenen Interpretamente Abstieg und Rückkehr; die dem Hauptmann zugeschriebene melancholische Disposition (die Landvermessung kennzeichne ihn „insbesondere als Vertreter der melancholia imaginativa"; S. 185) hängt mit der seinem Handeln weiterhin zugeschriebenen Melancholie-Abwehr zusammen usw. Der Angemessenheit der Erklärung steht jedoch die oben analysierte Inkohärenz der Grundüberzeugungen im Wege: Die zu erklärende „Wahrheit" des Textes wird einerseits in der „Tiefenschicht" der tradierten Zweitbedeutungen lokalisiert, andererseits in einem semantischen „Dritten", das aus der „Synthese" von modern-realistischer und tradiertbildhafter Bedeutung entstehe. Solange dieser Widerspruch nicht gelöst ist, können auch die einzelnen interpretatorischen Aussagen nur unter Vorbehalt als angemessen gelten. Wenn Ottilies realistische Handlungen gar nicht eigentlich den neuplatonischen Kreislauf der Seele, sondern eine - wie auch immer näher zu bestimmende - „Synthese" aus Realismus und Piatonismus zur Bedeutung hätten, dann wären Buschendorfs Ausführungen über den Sinn der tradierten Prätexte nur ein Moment der Interpretation. Auf der illokutionären Ebene lässt sich dieser Widerspruch näher beschreiben als ein interner Konflikt zweier Interpretationshandlungen, die auf unterschiedliche Weise den Geltungsanspruch konstativer Wahrheit erheben: Der bereits analysierten explanativen Handlung widerspricht eine zugleich vollzogene behauptende Handlung, deren indirekte Funktion wiederum ein Präsentieren des Interpretaments ist. Denn einerseits wird mit den Zweitbedeutungen der Sinn des Textes erklärt, um (perlokutionär) das Textverstehen der Leser zu verbessern, andererseits sollen die Zweitbedeutungen bloß aufgezeigt werden, um den ästhetischen Genuss der Leser zu steigern. Eine programmatische Funktion hat das von Buschendorf zitierte Postulat des Kunsthistorikers und Warburg-Schülers Edgar Wind, eine Interpretation müsse „unsere Wahrnehmung des Gegenstands schärfen und dadurch unseren ästhetischen Genuß erhöhen" (S. 65; vgl. Wind 1979, S. 69). Entsprechend bestimmt Buschendorf die Aufgabe seiner behauptenden Interpretationsakte:

197 Gedankengut und Bildersprache der europäischen Traditionsgeschichte, die dem Gebildeten des 18. Jahrhunderts noch unmittelbar geläufig waren, sind seit dem Traditionsbruch an der Schwelle zum 19. Jahrhundert mehr und mehr an den Rand des Wissens gewandert und fristen heute [...] ein schattenhaftes Dasein. Begegnet uns dieses Bedeutungspotential in klassischen Werken der Literatur oder bildenden Kunst, so ist es zur Rückgewinnung des vollen ästhetischen Glanzes dieser Werke zumeist erforderlich, ihren vom Vergessen bedrohten Gehalt en detail zu rekonstruieren. (S. 64f.)

Auch in Goethes Roman, der ja schon diesseits des angeblichen Traditionsbruchs entstanden ist, fristen die bedeutsamen Bilder, Buschendorf zufolge, ein Dasein unter schattenhaft-realistischer „Verkleidung" und müssen, damit der Roman als ganzer seine ästhetische Wirkung entfalten kann, interpretatorisch aufgezeigt werden. Die behauptende, das Interpretament präsentierende Interpretation soll also der Ästhetik des Romans dienen: Im Unterschied zu Walter Benjamin will Buschendorf den ästhetischen Schein, den „Glanz", restituieren, der wie bei Benjamin als ein historisch vergehender aufgefasst wird. Der volle Glanz entsteht nach Ansicht des Ikonographen genau dann, wenn die numinose, inhaltlich unbestimmte Bedeutsamkeit der romaninternen „Verweisungszusammenhänge" mit den bedeutsamen Inhalten der Tradition angefüllt wird. Der interne Konflikt zwischen behauptender und explanativer Handlung resultiert nun daraus, dass die bloß behauptende Präsentation der Zweitbedeutungen, die dem ästhetischen Genuss dienen soll, nicht zugleich auch der explanativen Sinninterpretation dienen kann, die Buschendorf gleichwohl mit denselben propositionalen Interpretationsakten vornimmt. Ginge es der Interpretation allein darum, durch das Aufzeigen verborgener Bedeutungen den „ästhetischen Blick" besser zu Justieren", so spräche nichts dagegen, die versteckten Zweitbedeutungen einseitig in den Vordergrund zu rücken und darauf zu vertrauen, dass der in eine Balance gekommene, auf das Werk in seiner Gesamtheit justierte Blick von selbst zu einem angemessenen Sinnverstehen führte. Die Legitimität dieses Verfahrens in Anspruch nehmend, „verzichtet" der Interpret, wie zitiert, „darauf, die rekonstruierte Tiefenschicht stets auch noch ausdrücklich mit dem unmittelbaren Wortsinn zu vermitteln" (S. 65). Gleichwohl stellt er, wie gezeigt, eine solche Vermittlung durchgängig und einseitig (nämlich als Negation des Wortsinns) her, indem er die Tiefenschicht als das eigentlich Gemeinte, Wahre usw. bezeichnet. Die Freilegung der verschütteten Prätexte hat also in jedem einzelnen Interpretationsakt neben der behauptend-aufzeigenden stets auch die explanative Funktion. Als erklärende aber sind die Interpretationshandlungen dem Anspruch unterworfen, jene interpretatorisehen Schlussfolgerungen, die den Lesern durch eine Präsentation der Zweitbedeutungen bloß ermöglicht werden sollen, auch selbst zu realisieren. Genau dies unterlässt der Interpret.

198 Viele der behauptenden und erklärenden Interpretationsakte sind zugleich evaluativ. Sie werten die Teilmenge jener Erstbedeutungen, die nicht mit den bedeutsamen Bildern der drei Traditionen allegorisch verbunden sind, als unbedeutend ab und werten die andere Teilmenge der realistischen Schicht durch die Verbindung mit der Tradition auf. Dieser Konnex von allegorischer Entwertung und allegorischer Aufwertung ähnelt dem von Benjamin praktizierten Verfahren. Im Unterschied zu Benjamin sind die evaluativen Interpretationsakte bei Buschendorf jedoch nicht zugleich legitimative Akte. Denn hier wird weder die Beschäftigung mit einem Roman gerechtfertigt, der die prosaische Moderne zum Gegenstand nimmt (so wie Benjamin durchgängig die Beschäftigung mit dem Pantheisten Goethe rechtfertigt), noch wird etwa die eigene Lehre damit gerechtfertigt, dass auch der bedeutende Roman Goethes sie in verborgenem Modus enthalte (wie es vielleicht der Fall hätte sein können, wenn der Interpret seine Thesen in einer Gemeinschaft von Widerspiegelungstheoretikern hätte verteidigen müssen). Außerdem ist die evaluative Funktion hier nicht an eine appellative Funktion gebunden. Zwar schreibt auch Buschendorf dem Roman selbst einige Appelle zu, die er zu Appellen an die Leser seiner Interpretation erklärt: Der Roman bringe „durch den Appell an unser Bildgedächtnis" seinen Sinn zum Ausdruck (S.60); „das Romangebäude ist durch die [neuplatonische Lehre von der] aurea catena aufzuheben" (S. 200). Hierbei handelt es sich aber um Appelle, die lediglich das explanative Handeln stützen und jenem obligaten „lies den Text genauso!" entsprechen, das in jeder Interpretation mitläuft. Es gibt keinen Appell an die Adressaten, sich gegenüber der Außenwelt dieser Romaninterpretation auf eine bestimmte Weise zu verhalten (so wie Benjamins Essay an die Leser appelliert, Hoffnung für alle Toten zu fassen). Mit einigen Interpretationsakten bestimmt Buschendorf zugleich explizit seine Interpretenrolle. Dies geschieht vor allem dort, wo die Rede des Maurers bei der Grundsteinlegung des Lusthauses als immanente Poetologie ausgelegt wird. „Des Maurers Arbeit" geschieht „zum Verborgenen", heißt es im Roman, „denn der regelmäßig aufgeführte Grund wird verschüttet", und das obere Gemäuer wird überzogen, geglättet und gefärbt (WV 1,9, S. 332). Diese Stelle wird mit folgender Briefäußerung Goethes gegenüber Zelter konfrontiert: „Ich habe viel hineingelegt, manches hinein versteckt. Möge auch Ihnen dies offenbare Geheimnis zur Freude gereichen" (1.6. 1809; vgl. WV, S.979). Weiterhin verweist der Interpret auf die Anknüpfung des Freimaurertums an Traditionen des hermetischen Wissens und zieht aus alledem die Schlussfolgerung: „Ein adäquates Verständnis des Ganzen hat freilich nur derjenige, der die hermetische Tiefenschicht dieses Werks trotz der Verkleidungen noch zu erkennen oder doch wenigstens zu erahnen vermag, also ein Leser, wie

199 Goethe ihn in Zelter zu finden hoffte" (S. 197f.). Das Fundament des Hauses wird als verborgene hermetische Semantik des Romans gedeutet, und wer diese Semantik erkennt oder erahnt, gilt als der intendierte Leser. Indem der Interpret dies behauptet, definiert er seine Rolle: Er will es dem Leser ermöglichen, ein vom Autor intendierter Leser zu werden. Dies entspricht präzise der im Einleitungsteil definierten Aufgabe der Interpretation: „[...] daß die genaue Rekonstruktion der Gegenstände, die Goethes dichterische Phantasie entzündeten, es dem Leser ermöglicht, seinen ästhetischen Blick entsprechend zu justieren" (S. 65). Da Buschendorf für seine Auslegung beansprucht, eine weitgehend verschüttete Bedeutungsschicht freizulegen, ist die Rollendefinition hochgradig exklusiv: Nur sehr wenige andere haben sich zuvor daran gemacht, das Bedeutsame freizulegen. Zusätzlich impliziert die Deutung der Maurer-Rede den Anspruch, dass die Interpretation selbst ein „adäquates Verständnis des Ganzen" expliziert. Denn erstens nimmt der Interpret natürlich fur sich in Anspruch, jene Tiefenschicht erkannt zu haben, und zweitens behauptet er eben nicht, ein Kenner der Tiefenschicht könne durch weitere Operationen zu einem adäquaten Verständnis gelangen, sondern der Kenner jener Schicht habe ein solches Verständnis. Hier begegnet uns erneut der Umstand, dass die Beschreibung der hermetischen Schicht mit der Erklärung des „Ganzen" konfundiert wird. Die Interpretenrolle besteht also - der analysierten Stelle zufolge - nicht nur darin, dem Leser durch das Justieren des Blicks zu einem adäquaten Verständnis des Romans zu verhelfen, sondern auch darin, das adäquate Verständnis des Interpreten darzustellen.

2.2.4 Kritik der Interpretation Was bringt Buschendorf davon ab, die Synthese von modern-realistischer und tradiert-mythischer Bedeutung zum eigentlichen Gegenstand der Interpretation zu machen? Es ist, wie gezeigt, nicht die Orientierung an der Warburgschule, denn diese erklärt ja gerade die hier vernachlässigte Synthese zum Spezifikum der Werke. Es ist auch nicht der Einfluss Hans Blumenbergs, dessen Arbeit am Mythos gleichfalls derartige Synthesen beschreibt. Ursächlich dürfte vielmehr ein anderes Paradigma sein, dem ein Zweig der Goetheforschung verpflichtet ist. Dort wird unterstellt, der Autor habe mit den Mitteln eines vor- oder frühneuzeitlichen, hermetischen Denkens gegen die zunehmende Entzauberung der Welt in der Neuzeit opponiert oder sogar versucht, „die Neuzeit zu hintergehen" (Schlaffer 1987).39 In Goethes Werken wird streng unterschieden zwi39

Bei Goethe erscheine die „Neuzeit überwiegend als Verkehrung des Ursprungs, als

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sehen einer exoterischen, auf die Erscheinungswelt gerichteten Bedeutungsschicht und einer esoterischen, auf ältere semantische Systeme rekurrierenden Bedeutungsschicht (vgl. Schlaffer 1978). Diesem Paradigma folgend, hatte Heinz Schlaffer, bei dem Buschendorfs Dissertation entstand, „die befremdliche Symbolik der Wahlverwandtschaften als Protest gegen die neuzeitliche Ablösung einer bedeutungslosen Natur" von einem für autonom erklärten „Subjekt" gedeutet (1972, S. 100; vgl. u. die Analyse in 2.4.1). Die älteren Denkweisen und Bilder müssen bei einer solchen Betrachtungsweise fast zwangsläufig als die eigentlich wahren und bedeutsamen erscheinen. Zu diesem Paradigma kommt bei Buschendorf eine weitere historische Handlungsbedingung hinzu: die Wiederentdeckung und Aufwertung alles „Mythischen" und „Mythologischen" in der Literaturwissenschaft der 1980er Jahre. Die romantische Arbeit an einer „Neuen Mythologie" avanciert nachgerade zum geschichtlichen Vorbild. Die literarischen und naturwissenschaftlichen Schriften Goethes werden in Analogie zur prägnanten Bildlichkeit und internen Verweisungsdichte der Mythen gesetzt. Der 1981 von Norbert Bolz herausgegebene Sammelband Goethes Wahlverwandtschaften trägt den Untertitel „Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur", und Waltraud Wiethölter findet in Goethes Roman die Spuren einer „Mythologie der Wissenschaft" (1982, S. 52ff.). Bei Buschendorf verbinden sich die drei genannten Tendenzen zur These einer Goetheschen Moderne-Kritik, die sich zum einen der numinosen Verweisungsdichte des Mythischen und zum anderen der fasslichen Bildformeln bestimmter Mythologien bediene. Diese Bedingungen machen die semantische Verabsolutierung der tradierten Bildformel besser verständlich, nicht aber den ungelösten Widerspruch zwischen diesem Vorgehen und der postulierten Synthese von tradierter und moderner Semantik. Das Postulat lässt sich auch nicht allein dadurch erklären, dass Buschendorf mit der ikonographischen Methode Warburgs zugleich dessen Synthese-Postulat übernimmt. Die mehrfache Betonung der - in den einzelnen Deutungen nicht aufgezeig-

Negation des Natürlichen" (Schlaffer 1987, S. 19), weshalb der Autor „an der archaischen Bedeutsamkeit eines Daseins" festgehalten habe, „das mythische Wiederholungen, einlösbaren Sinn und individuelle Erwählung kennt" (S. 13). Indem er „hinter" der Neuzeit „die Urbilder aufspürt, die in der Fortdauer des Alten wie in den Katastrophen des Neuen wirksam sind", setze er „der Negativität des historischen Prozesses [...] die Positivität seines poetischen Werkes" entgegen (S. 20f.). So habe er sich „in einer selbstgebildeten Welt bewegen" können, die „stets von der Entmythisierung durch die widerständige Realität bedroht" gewesen sei (S. 16). Ein vom Himmel des Vergangenen berauschter Poet, dem das Irdische der Gegenwart entging, war Goethe - nach eigenen Worten Weltkind und Realist - gewiss nicht.

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ten - Vermittlung indiziert ein genuines, gegenwärtiges Interesse. In dem Postulat lebt möglicherweise die in den 1960er und 1970er Jahren fest etablierte Überzeugung fort, dass die Autoren der Goethezeit auf die Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich geführte quereile des anciens et des modernes antworteten und überwiegend zu einer Vermittlung beider Orientierungen, jener an der Antike und jener an der (christlichen) Moderne gelangten (vgl. Szondi 1974; Jauß 1970). Der Widerspruch in Buschendorfs Deutung lässt sich sogar systematisch innerhalb der quereile verorten als ein Schwanken zwischen der Position der anciens und der Position der Vermittler. Dieses Schwanken zeigt die Aktualität, die der querelle am Ende des 20. Jahrhunderts zwar nicht poetologisch, wohl aber interpretatorisch noch zukam. Verallgemeinernd gesprochen: In literaturwissenschaftlichen Deutungsoperationen leben nicht nur exegetische, sondern auch poetologische Muster vergangener Epochen fort. Die materiale Untersuchung Buschendorfs beschränkt sich, wie gesagt, auf das Paradigma einer Hintergehung der Neuzeit, also gleichsam auf die Position der anciens. Unter dem Gegen-Paradigma der Vermittlung könnte man die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass der Schriftsteller Goethe die Prätexte aktualisiert hat, um die spezifischen Erfahrungen seiner Gegenwart so vielseitig wie möglich, eben mit dem zur Verfügung stehenden künstlerischen Repertoire vieler Jahrhunderte, zu gestalten. Legt man einer Interpretation diese Möglichkeit zugrunde, so erübrigt sich die Antithese von Esoterik und Exoterik ebenso wie die Trennung zwischen unbedeutender Gegenwart und bedeutsamer Vergangenheit. Die moderne Erfahrungswelt würde durch die Prätexte nicht allererst mit Bedeutsamkeit belehnt; vielmehr würde ihre eigene Bedeutsamkeit im Kontakt mit den älteren Semantiken als moderne erfahrbar. Es fände eine echte Arbeit am Mythos statt, nämlich eine Reinterpretation des Tradierten, das für die Moderne überhaupt nur dann Bedeutsamkeit haben kann, wenn es aus moderner Sicht angeschaut wird eine Reflexion, die Goethe spätestens durch Schillers Bestimmung des Verhältnisses von Naivem und Sentimentalischem vertraut war. Unter dieser Voraussetzung müsste ein Interpret z.B. nicht behaupten, mit Ottilies Gesten auf dem Kahn seien eigentlich jene Empfindungen gemeint, die mit den entsprechenden prätextuellen Pathosformeln verbunden sind, sondern der Interpret könnte sagen, dass diese Prätexte dazu verwendet werden, mit möglichst reichen Mitteln den Ausdruck einer Verzweiflung zu gestalten, die jedoch einer spezifisch modernen Welt angehört. Statt der allegorischen Relation zwischen realistischer Oberfläche und eigentlich gemeinter Tiefe könnte dann eine echte „Vermittlung" konstatiert werden, ein „Drittes", in dem Antike und Moderne „aufgehoben" sind.

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An dieser Stelle kann nicht unerwähnt bleiben, dass die Warburgsche Ikonographie, die den ästhetischen Ausgleich zwischen Antike und Moderne zum ästhetischen Spezifikum erklärt, der einseitigen interpretatorischen Konzentration auf die antiken Prätexte insofern Vorschub leistet, als sie, wie Buschendorf referiert und resümiert, die tradierten Bildgehalte als semantische „Energiekonserven" auffasst, die einer jeden Moderne „durchaus unabhängig vorauslieg[en]" (S.21). Indem diese Grundkonzeption die Schillersche - später von Romantik und Hermeneutik ausgeführte - Reflexion auf die irreduzible Bestimmungshoheit der Gegenwart bei der Erfahrung vergangener Bedeutung unterläuft, erleichtert sie einzelnen Interpreten die Abwendung von der postulierten semantischen Vermittlung hin zur vermeintlich unabhängig vorausliegenden Bedeutung des Alten. Ermöglicht wird so der antithetische Verweisungsmodus, den wir oben mit der ebenfalls antithetisch operierenden typologischen Allegorese verglichen. Die Grenzen von Buschendorfs bestimmendem Deutungsparadigma lassen sich an einer Besonderheit des Romans aufzeigen, die der Interpret selbst erwähnt. In den Wahlverwandtschaften wird die rückwärtsgewandte Verabsolutierung tradierter Semantik als problematische Gesinnung und verhängnisvolles Handeln der Figuren darstellt. Charlotte und Eduard haben - so Buschendorf - für ihr ländliches Dasein gezielt „das arkadische Gewand" gewählt; ihre Lebensführung erinnert „an die Besonderheiten der konventionellen Bukolik, an deren Neigung zu bewußter Verkleidung, an deren idyllisierenden Lobpreis ehelicher Gemeinschaft und an die arkadische Tendenz zu panegyrischem Selbstgenuß" (S. 95). Hier spricht der Interpret von „eskapistischen Bedürfnissen" und „ästhetisierter Steigerung" der Realität (S. 92). Seine Interpretation zeigt dann, wie Flucht und Ästhetisierung angesichts des Eindringens der erotischen Leidenschaft, des Todes und der Melancholie misslingen. Folgt man dem Urteil, dass Eduard und Charlotte die Tradition nur als ein arkadisches „Gewand" zur Überhöhung der Gegenwart aktivieren, dann ist es schwer zu akzeptieren, dass der Interpret die Romankonstruktion in genau umgekehrter Terminologie beschreibt und behauptet, dort sei die gegenwärtige Realität nur das „Gewand" (S. 88). Unterstellt man, dass der Roman die moderne Flucht in vergangene idealisierende Semantiken durchgängig problematisiert,40 dann wäre es plausibler, wie oben skizziert, eine 40

So Elisabeth von Thadden in ihrer Wahlverwandtschaften-Monographie Erzählen als Naturverhältnis: Der „Vergangenheitskult" werde „entlarvt" als eine „Sehnsucht nach Gegenwartsenthobenheit"; er gehöre zu den ,,verfehlte[n] Zeitverhältnisse[n] und Formen des Selbstverlusts", in denen die Figuren befangen seien. Dieser „Nivellierung der Differenz von Vergangenheit und Gegenwart" begegne der Roman selbst mit „Zeitbewußtsein" und „vergleichendem Denken" (1993, S. 197ff.).

203

wechselseitige Durchdringung von aktueller und tradierter Semantik für den Sinn der einzelnen Passagen zu halten. Die Tradition der idealen Landschaftsmalerei und das Arkadische bildeten dann keine eigenständige Tiefenschicht der allegorisch gemeinten Zweitbedeutungen, sondern wären aktualisierte und aktualisierend veränderte Stilmittel, mit denen eine Zeittendenz der modernen Selbstüberhöhung literarisch gestaltet und problematisiert wird. Die Todes- und Melancholievorstellungen, die Buschendorf in vielen Fällen treffend am Roman kommentiert, hätten eine analoge Funktion: Innerhalb derselben, vom Roman aufgegriffenen Zeittendenz dienten die Bildvorräte der Tradition als Ausdrucksformen fur das Scheitern der schwärmerischen Idealisierung des modernen Lebens. Das schließt die von Buschendorf am Roman aufgezeigten neuplatonischen Motive ein. In den Wanderjahren heißt es in einer Miszelle aus Makariens Archiv über den Piatonismus: „Man kann den Idealisten alter und neuer Zeit nicht verargen, wenn sie so lebhaft auf Beherzigung des Einen dringen, woher alles entspringt und worauf alles wieder zurückzufuhren wäre. Denn freilich ist das belebende und ordnender Prinzip in der Erscheinung dergestalt bedrängt, daß es sich kaum zu retten weiß" (1985fr., Bd. 1,10, S.749f.). Auch der Wahlverwandtschaften-Erzähler verargt es seiner als Leserin neuplatonischer Schriften gezeichneten41 Ottilie-Figur nicht, dass sie sich angesichts ihrer Bedrängung aur jene (tödliche) Bahn begibt, die zum Ursprung zurückfuhrt. Keineswegs aber ist diese Denkweise die Aussage des Romans. Wenn Ottilie „mit einem Blick mehr gen Himmel als auf Eduard gewendet" das Bildnis ihres Vaters abnimmt, dann zeigt der Erzähler, dass die Figur sich an dem Einen orientiert, während sein eigener Blick auf die Figuren im Diesseits konzentriert ist. Wenn Eduard in Ottilie „ein himmlisches Wesen zu sehen" glaubt, „das über ihm schwebte", so wird dies als eine im Bewusstsein der Figur sich vollziehende Erhöhung beschrieben, während der Erzähler in diesem Augenblick seinen primären Gegenstand, das Bewusstsein Eduards, nicht überhöht. Der an beiden Figuren dargestellte Blick in die Höhe verweist nicht auf etwas anderes als das vordergründig

41

Vgl. den Erzählerkommentar zu Ottilies „vom Leben abgezogene[n] Maximen und Sentenzen": „Weil aber die meisten derselben wohl nicht durch ihre eigene Reflexion entstanden sein könnten, so ist es wahrscheinlich, daß man ihr irgendein Heft mitgeteilt, aus dem sie sich, was ihr gemütlich war, ausgeschrieben. Manches Eigene von innigerem Bezug wird an dem roten Faden wohl zu erkennen sein" (WV 11,4, S.418). Dieser Kommentar würde unterschätzt, verstünde man ihn nur als notdürftige Plausibilierung des „onkelhaften" Tagebuchs (Arno Schmidt). Vielmehr wird hier gezeigt, dass Ottilies Gemüt einen innigen Bezug zu geistigen Tendenzen der Zeit hat, was sich in ihren Lektürefrüchten manifestiert, die sie exzerpierend in ein Eigenes verwandelt.

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Dargestellte, sondern er ist das Anzeichen einer in den Figuren lokalisierten Geisteshaltung, die wiederum, so behaupte ich, repräsentativ auf eine allgemeine Zeittendenz verweist. Es handelt sich nicht um allegorische Verweise auf einen kategorial anderen, höheren, reineren Sinn, sondern um symbolische Pars-pro-Toto-Verweise innerhalb einer einheitlichen Bedeutungs-Sphäre. Sie berechtigen den Leser, Analogien herzustellen zu Phänomenen, die derselben Zeittendenz angehören und die im Roman auch gestaltet sind - Bestrebungen der Bildenden Kunst und Architektur beispielsweise.42 Dass der Roman die Geisteshaltung insbesondere Eduards nicht nur darstellt, sondern auch problematisiert und kritisiert, wird an dem von Buschendorf zitierten Satz deutlich, der sich an die Wahrnehmung Ottilies als eines himmlischen Wesens anschließt: „Fast hätte er gewünscht, sie möchte straucheln, gleiten, daß er sie in seine Arme auffange, sie an sein Herz drücken könnte. Doch dies hätte er unter keiner Bedingung getan, aus mehr als einer Ursache; er fürchtete sie zu beleidigen, sie zu beschädigen" (WV 1,7, S. 322). Die Entrückung des geliebten Wesens aus dem Bereich des Menschlichen geht mit der Unfähigkeit zur alltäglichen Hilfe, zur praktischen Moralität einher. Sobald Ottilie tatsächlich Hilfe braucht, fangt Eduard sie nicht auf, sondern beschließt, „sein Haus zu verlassen" (WV 1,16, S. 376), um schließlich der romantischen Sehnsucht nach Selbstvernichtung im Kriege zu folgen: „Er sehnte sich nach dem Untergang, weil ihm das Dasein unerträglich zu werden drohte" (WV 1,18, S. 392). Zwei weitere Beispiele zeigen eine kritische Tendenz der Textaussage. Ottilies Tagebuchnotiz „Es könnte wohl sein, daß das innere Licht einmal aus uns herausträte, so daß wir keines anderen mehr bedürften" (WV 11,3, S. 410), kommentiert Buschendorf treffend mit der neuplatonischen Vorstellung, die Seele könne eine „unmittelbare Erkenntnis ihres Ursprungs" und damit zugleich „die intuitive Erkenntnis ihrer selbst" (S.236f.) erlangen. Bei Ottilies Tagebucheintrag handelt es sich aber nicht unmittelbar um eine Position des Autors oder des Romans, sondern um eine Figurenrede und, wie bereits erwähnt, um eine neuplatonische Lesefrucht Ottilies, mit der das Denken und Empfinden dieser Figur charakterisiert wird. Der Autor Goethe knüpft ganz anders an Plotin an, indem er fur menschenmöglich weder die Schau des inneren noch die Schau des äußeren Lichts, sondern allein die Anschauung der von außen erleuchteten Gegenstände erklärt. Der Mensch ist - um statt des Tagebucheintrags Ottilies eine Sentenz des Prometheus aus dem Drama Pan42

Deshalb lassen sich auch mit einigem Recht Bezüge zur romantischen Poetik aufzeigen (vgl. Bersier 1997; dazu unten Abschnitt 2.4.2)

205 dora als auktoriale Aussage zu lesen - „bestimmt Erleuchtetes zu sehen, nicht das Licht!" (1985ff., Bd. 1,6, S. 639; V.958). Ottilies Entsagung von allem nach außen gerichteten Handeln kommentiert Buschendorf mit der neuplatonischen Vorstellung, das „tätige Leben" sei ein „bloßes Zwischenstadium zwischen dem sinnlichen und dem kontemplativen Leben", welch letzteres der „Betrachtung des Ewigen" geweiht sei (S.258). Die Beherzigung des ewigen Einen, heißt es in Makaries Archiv, sei zwar angesichts der irdischen Bedrängungen verständlich. Jedoch: „Wir Menschen" sind unhintergehbar „auf Ausdehnung und Bewegung angewiesen". In den nachfolgenden Sätzen wird die gesamte, von Buschendorf zum eigentlich Gemeinten erklärte Lehre von der Beschädigung der Seele beim Abstieg in die „schlechtere, unfertige ,Welt des Werdens'" (S. 217) mit einem Streich fur falsch erklärt: Eine geistige Form wird aber keineswegs verkürzt, wenn sie in der Erscheinung hervortritt. [...] Das Gezeugte ist nicht geringer als das Zeugende, ja es ist der Vorteil lebendiger Zeugung, daß das Gezeugte vortrefflicher sein kann als das Zeugende. (Goethe 1985ff„ Bd. 1,10, S. 750)

Makaries Einträge können, ebenso wie diejenigen Ottilies, ohne gründliche Untersuchung weder als Aussagen des Autors 43 noch als Werkaussagen der Wanderjahre und schon gar nicht als Aussagen der Wahlverwandtschaften verstanden werden. Sie haben hier auch nicht die Funktion, die oben skizzierte, von Buschendorf abweichende Interpretation der Traditionsbezüge in den Wahlverwandtschaften zu belegen. Nachdem wir auf dem Wege einer immanenten Kritik bestimmte Grundpositionen der Goetheforschung und der Kunstbetrachtung benannt hatten, die Buschendorf dazu brachten, nicht wie postuliert ein semantisches Drittes aus Tradition und Gegenwart, sondern allein die tradierte Semantik als den gemeinten Sinn zu interpretieren, ging es uns zuletzt darum, auf ein alternatives Goetheverständnis hinzuweisen, das der untersuchten Interpretation widerspricht, ohne dass es mit deren Argumenten widerlegbar oder als irrelevant ausweisbar wäre. Die Relevanz dieser anderen Auffassung zeigt sich darin, dass auf ihrer Grundlage jenes unrealisierte Postulat erfüllbar ist: das semantische „Dritte" des Romans im Detail als eine Vermittlung von Tradition und Gegenwart zu bestimmen.

43

Hermann Schmitz (1959, S.54ff.) kommt freilich zu dem Ergebnis, diese Reflexionen enthielten „Goethes Plotin-Kritik".

206 2.3

Negierter Sinn: J. H. Millers Dekonstruktion der Gleichnisrede

2.3.1 Beschreibung der Interpretation Joseph Hillis Miller, der zu den Yale-Critcs, also zum engsten Kreis der nordamerikanischen Dekonstruktivisten zählt, kommt in dem umfangreichen Wahlverwandtschaften-MKc\miXX seines Buches Ariadne's Thread zu dem Ergebnis, der Roman sei in einem bestimmten Sinn „unreadable" (S. 210).44 Dies ist das - wie wir sehen werden: paradoxe - Resultat einer allegorischen Lektüre, die folgenden Zusammenhang zwischen Erst- und Zweitbedeutung unterstellt: The story of marriage, passion, and adultery that makes up Die Wahlverwandtschaften is an allegory of the laws, powers, and limitations of language. (S. 170) The novel [...] expresses the exchanges of figure and the relation between literal and figurative language in the allegorical mode of interprersonal relations. (Ebd.) It gives human faces or masks to what are impersonal laws of language. (S. 184) [...] the whole novel is an allegory of sign reading [...]. (S. 201)

In der Figurenkonstellation des Romans sieht Miller die Gesetze sprachlicher Metaphorik allegorisiert: „The basic paradigm of The Elective Affinities is the following: human relations are like the substitutions in metaphorical expressions" (S. 171). Die Gleichnisrede, in der Eduard das chemische Kunstwort „Wahlverwandtschaften" (1,4, S. 306) am Beispiel der vier Protagonisten selbst erläutert Denken sie sich ein A, das mit einem Β innig verbunden ist, durch viele Mittel und durch manche Gewalt nicht von ihm zu trennen; denken Sie sich ein C, das sich ebenso zu einem D verhält; bringen Sie nun die beiden Paare in Berührung: Α wird sich zu D, C zu Β werfen, ohne daß man sagen kann, wer das andere zuerst verlassen, wer sich mit dem anderen zuerst wieder verbunden habe.

- beschreibe ein ähnliches Austauschverhältnis wie Aristoteles' Definition einer bestimmten Art der Metapher in der Poetik (1994, S.69 [1457b]): Unter einer Analogie verstehe ich eine Beziehung, in der sich die zweite Größe zur ersten ähnlich verhält wie die vierte zur dritten. Dann verwendet der Dichter statt der zweiten Größe die vierte oder statt der vierten die zweite; und manchmal fügt man hinzu, auf was sich die Bedeutung bezieht, für die das Wort eingesetzt wird. [...] das Alter

44

Seitenangaben dieser Art beziehen sich in Kapitel 2.3 auf Miller 1992, S. 164-222. Eine wesentlich kürzere und weniger detailhaltige Fassung von Millers Untersuchung erschien bereits 1979 in der Zeitschrift Glyph, Jg. 6, S. 1-23. - Zur dekonstruktivistischen Theorie der Unlesbarkeit vgl. Paul de Mans Proust-Aufsatz (1988, S. 91-117).

207 verhält sich zum Leben, wie der Abend zum Tag; der Dichter nennt also den Abend ,Alter des Tages', oder, wie Empedokles, das Alter ,Abend des Lebens'. [ . . . ] In manchen Fällen fehlt eine der Bezeichnungen, auf denen die Analogie beruht; nichtsdestoweniger verwendet man den analogen Ausdruck. So heißt z.B. das Ausstreuen von Samen ,säen'; für die Tätigkeit der Sonne hingegen, die ihr Licht ausstreut, gibt es keine spezielle Bezeichnung. Doch verhält sich diese Tätigkeit ähnlich zum Sonnenlicht wie das Säen zum Samen; man hat daher gesagt: ,säend das göttliche Licht'.

Miller (S. 213f.) kommentiert: Ottilie plays the same role in the proportion among the four Charakters of Die Wahlverwandtschaften as the missing term for the s u n ' s act of casting forth its flame does in Aristotle's example. [...] Edward, dazzled by Ottilie's beauty, imagines that she is the missing other half, to w h o m he is drawn by a special elective affinity justifying the substitution of her for Charlotte, his lawfully wedded wife.

Die Beziehung zwischen Eduard und Ottilie gelingt jedoch nicht. Eduard, so deutet Miller, könne die Selbstkomplettierung nicht erlangen, denn Ottilie spiegle nur den substantiellen Mangel zurück, den sie substituieren soll. Dies führe zur Auslöschung, zum Tod beider Personen. Dieser Ausgang entspricht der dekonstruktivistischen Theorie der Metapher: Die intendierte Substitution fehlender Bedeutung durch einen anderen Ausdruck ende stets in der Löschung von Bedeutung, in der Katachrese, verstanden als tote Metapher. Mithin schlage die Allegorie der Metapher um in eine Allegorie der Katachrese: „The actual relation between Edward and Ottilie [...] is an allegory of catachresis" (S. 212f.). Mit einer fur die dekonstruktivistische Deutungspraxis typischen Volte wendet Miller dieses Resultat schließlich auf die Interpretation selbst an. Auch darin wird ja versucht, einen Mangel an Verständlichkeit (der Wahlverwandtschaften) durch die Verbindung mit anderen Zeichen (Metapherntheorie) zu ersetzen. Weil diese semantische Ersetzung, wie jede andere, scheitern müsse, fehle dem Roman jeglicher von außen projizierbarer Sinn, der Text werde „unreadable" (S.210). Die Anwendung des Interpretaments auf die Interpretation selbst führt in eine Paradoxie, die ebenso folgerichtig wie unauflösbar zu sein scheint: Die Zweitbedeutung Scheitern von Bedeutungsübertragung erklärt ihre eigene Zuschreibung für gescheitert; sie gilt und sie gilt nicht. Ob diese Paradoxie tatsächlich folgerichtig und unauflösbar ist, werden wir in Abschnitt 2.3.4 diskutieren. Millers auf den ersten Blick konstruiert erscheinende Allegorese ist das Ergebnis einer sehr genauen und (tendenziell) auf Vollständigkeit bedachten Lektüre in doppelter Perspektive. Die erste Lektüre heißt „an aesthetic and ontologically grounded interpretation of interpersonal relations in Die Wahlverwandtschaften" (S. 179), die zweite Lektüre „a linguistic or rhetorical [...] reading" des Romans (S. 183). Die erste Lektüre gilt der Ebene, die wir Erstbedeutungen nennen. Das Thema des Romans,

208 wie vieler Romane, ist für Miller das Verhältnis zwischen „ s e i f und „others" (S. 145). Die im Text erkennbare (Goethesche) Ontologie „sees selves as fixed entities basing themselves on their relations to other selves" (S.219). „Each goes to the other for assurance about the existence of a [...] substantial ground for the self and all its transactions" (S.207). Im bloßen Selbstbezug sei dieser substantielle Grund nicht erreichbar, und aus diesem Mangel („gap", S. 207; „lack", S. 209) resultieren im Roman die „powerful attractions" (S. 167) zwischen den Figuren. „Only union with the particularly chosen other will appease the desire of the self for completion, its desire to become altogether what it already is" (S. 207). Miller stützt diese Interpretation auf eine Reihe von Belegstellen, insbesondere auf den in Kapitel 1,4 entfalteten chemischen Begriff der Wahlverwandtschaft. Den Erläuterungen des Hauptmanns zufolge behauptet diese Theorie einen primären „Bezug" aller „Naturwesen [...] auf sich selbst" und erklärt ihn zum Fundament für jedes „Zusammentreffen" verwandter „Naturen", die einander „ergreifen" und „wechselseitig bestimmen" (WV 1,4, S. 301 f.). Weiterhin stützt Miller die Interpretation auf den Erzählerkommentar im vorletzten Kapitel, dem zufolge „nur die nächste Nähe" Eduard und Ottilie habe „beruhigen, aber auch völlig beruhigen" können - „dann waren es nicht zwei Menschen, es war nur Ein Mensch im bewußtlosen, vollkommnen Behagen, mit sich selbst zufrieden und mit der Welt" (WV 11,17, S. 516). „Many details of the novel support the idea that Goethe sees selves as indestructible preexisting substances, securely grounded in some transhuman being. Interpersonal relations are lines of connection drawn between selves so conceived. These lines confirm the selves but do not essentially alter or determinate them" (S. 175). Diese Sichtweise sei „grounded in a totalizing ontology" (ebd.). Das substantielle Selbst nicht nur des Menschen, sondern „this oneness in all natural objects, made of selfrelatedness, has also, apparently as a feature of its intrinsic power to enter into relation with itself, a tendency to enter into relations with other natural objects" (S. 167). Nicht nur an den Beziehungen der Romanfiguren untereinander und an der chemischen Gleichnisrede, sondern auch an einer Reihe weiterer Motive des Romans zeigt Miller, dass jeweils eine „entity" durch die Beziehung zu einer anderen vervollkommnet wird bzw. vervollkommnet werden soll. Diese Relation besteht unter anderem zwischen den jungen Stämmen und den frisch erhaltenen Pfropfreisern, zwischen dem Schloss und dem neuen Sommerhaus sowie nicht zuletzt - innerhalb des Romanbaus selbst zwischen der Haupthandlung und den eingeschobenen Ereignissen und Erzählungen. Insbesondere an der Novelle von den wunderlichen Nachbarskindern zeigt Miller, dass der Leser versucht sein muss, von der

209 Novelle ausgehend den unklaren, ambivalenten Sinn des Romans zu bestimmen - so wie Walter Benjamin es getan hat (vgl. 2.1.1). Fände jede Entität ihre Vervollkommnung durch die Begegnung mit einer anderen Entität, so würde dies auch für die Erzählungen gelten: „The novella would tell the reader how to read the novel" (S. 211). Miller kann mit diesem Deutungsmodell (einer angestrebten Komplettierung der vielen im Roman dargestellten bzw. als Textelemente im Roman enthaltenen Entitäten durch deren wechselseitige Berührung oder Verbindung) nicht nur schlüssiger und umfassender als viele andere Interpreten den komplexen Verweisungszusammenhang deuten. Darüber hinaus kann er zeigen, dass die Kompositionsweise des Romans demselben Prinzip folgt, welches den dargestellten Inhalten zu Grunde liegt: dem Prinzip der einander komplettieren wollenden (bzw. sollenden) Einheiten. Mit dieser Interpretation liefert Miller eine schlüssige Hypothese für jene „durchgreifende Idee", nach der Goethe - wenn Eckermanns Bericht zutrifft - den Roman gestaltet haben will (Gespräch v. 6.5.1827; vgl. WV, S.984). Die Erklärung der Autorintention ist nicht zuletzt deshalb so schlüssig, weil sie zugleich eine Deutung von Goethes Selbstanzeige von 1809 umfasst, in der es unter anderem heißt, der „Verfasser" habe „wohl in einem sittlichen Falle, eine chemische Gleichnisrede zu ihrem geistigen Ursprünge zurückfuhren mögen, um so mehr, als doch überall nur eine Natur ist und, auch durch das Reich der heitern Vernunft-Freiheit die Spuren trüber leidenschaftlicher Notwendigkeit sich unaufhaltsam hindurchziehen" (vgl. WV, S. 974). Millers Deutung zufolge manifestiert sich die Einheit der Natur nicht nur darin, dass die Anziehung getrennter Entitäten in allen Sphären ähnlich ist, sondern auch in der wechselseitigen Anziehung der Sphären. Diese Anziehung komme in eben jenem naturwissenschaftlich-sittlichen Gleichnis zum Ausdruck, welches dem Roman seinen Titel gibt: Auch in den „ethis c h e ^ ] Gleichnisse[n]" der „Naturlehre" (Goethe) manifestiere sich das Prinzip der Anziehung, denn die Leistung solcher sprachlichen Figuren liegt - so heißt es ja tatsächlich in der Selbstanzeige - genau darin, „etwas von dem Kreise menschlichen Wissens weit Entferntes näher heranzubringen". Jenes Gestaltungsprinzip, das die verschiedenen inhaltlichen Ebenen miteinander, mit der Romanstruktur und schließlich auch mit der Funktion der Sprache verbindet, entspricht nach Millers Deutung den zentralen Ideen der zeitgenössischen Ästhetik, etwa Hegels Bestimmung des Schönen. Auf allen Ebenen des Romans werde die Identität der Gegensätze im vorbegrifflichen Medium bildlicher Analogien dargestellt:

210 [...] the novel's dangerously beautiful surface is grounded on metaphysical laws this surface manifests. Seen from this point of view, the novel is an admirable demonstration of the relation between European aestheticism and Occidental metaphysics. [...] Metaphysics generates aestheticism, that mode of art in which the highest value is a surface of beauty open to the senses and feelings. In poetic language this is a surface made of figurative transformations and substitutions. (S. 173f.)

Wie sich später zeigen wird, krankt Millers „metaphysische" Lektüre freilich an einer einseitigen Bestimmung der metaphysischen Intention Goethes. Der Exeget meint, dass der Autor die Einheit, Attraktion und Synthese der Entitäten zur Darstellung bringen will und dass alle gegenläufigen Tendenzen im Roman nicht der metaphysischen Autorintention, sondern einer dekonstruktiven Bewegung der Zeichen geschuldet sei. Für Goethe ist jedoch die Vermannigfachung, Abstoßung und Entzweiung sowohl der Entitäten als auch der Wirklichkeitssphären eine Eigenschaft der Idee selbst. Nicht allein die Rückkehr zur Einheit, sondern auch die weitere „Fortzeugung" von Getrenntem erfolgt fur den Autor aus dem einen geistigen Prinzip. Auf der Grundlage seiner monistischen Metaphysik muss er die Entlassung des Vielen aus der Einheit als eine Qualität dieser Einheit selbst bestimmen. Aus diesem Grund haben die Gleichnisse und Verweisungen in dem Wahlverwandtschaften - wie Jeremy Adler nachweist - keineswegs die intendierte Funktion, durch eine einheitliche „Formel" den Sinn eindeutig bestimmbar zu machen, sondern „durch gleichnishaftes Sehen die Komplexität menschlicher Verhältnisse herauszustellen" (1987, S. 165f.). Der Zusammenhang von Anziehung und Abstoßung der Entitäten sowie von Ähnlichkeit und Differenz der Wirklichkeitsbereiche wird im Roman gezielt „problematisch" gemacht: „Die Gleichnisse bleiben ironisch offen" und veranlassen den gründlichen Leser zu einem unabschließbaren Nachdenken über die „Vielfalt möglicher Analogien" (ebd., S. 155), nicht zur bestimmten Allegorese.45 Wir kommen auf Millers Vernachlässigung dieser Seite von Goethes Metaphysik zurück (2.3.4). Die Pointe von Millers zweiter Lektüre liegt nun darin, dass er das oben beschriebene Ausdrucksverhältnis zwischen Natur und Sprache umkehrt: Während die metaphysische Lektüre unterstellt, dass die „Eine Natur" sich auch in den Gesetzen der Sprache zeigt, führt die linguistische Lektüre jegliche naturhafte Attraktion zwischen den vielen Entitäten und Wirklichkeitsbereichen auf Sprachgesetze, und zwar auf die Gesetze der metaphorischen Rede zurück. Die zweite Lektüre, die erklärtermaßen linguistisch und allegorisch ist, fokussiert jene Stellen des Romans, an denen entweder Schrift und Schreiben realistische, d.h. wörtlich gemein45

Die Symbolinterpretation steht dann vor dem Problem, wie diese Vielfalt mit einer begrenzten Zahl von Bedeutungszuschreibungen zu bestimmen ist (vgl. u. 2.4.3).

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te Elemente der Handlung sind oder die sich nach Millers Auffassung als Allegorien von Schriftlichkeit bzw. Buchstäblichkeit verstehen lassen. Im zweiten Sinn liest Miller insbesondere die Äußerung Eduards, der Mensch sei ein „wahrer Narziß", sowie das chemische Wahlverwandtschaften-Gleichnis, das, wie gezeigt, als eine Allegorie der Aristotelischen Metapherntheorie und deren Dekonstruktion gedeutet wird. 46 Diese beiden Stellen, deren Interpretation wir uns genauer ansehen wollen, hängen inhaltlich unmittelbar miteinander zusammen: Wenn die Naturwissenschaft auf Verhältnisse der sittlichen Welt zurückgreift, um das Wechselverhältnis chemischer Substanzen zu benennen („Wahlverwandtschaften"), so liegt das nach Eduard daran, dass der Mensch „ein wahrer Narziß" ist: „er bespiegelt sich überall gern selbst; er legt sich als Folie der ganzen Welt unter" (WV 1,4, S. 300). Miller bezeichnete diese Stelle als „a key to the interpretation of the novel" (S. 190). Er zeigt, dass Eduards Beschreibung des narzisstischen Weltverhältnisses ihrerseits mit einer Metapher für den Menschen operiert: Der Mensch gilt hier „als Folie". Eduards Rede erläutere die figurative Ersetzung der ganzen Welt durch den Menschen, enthalte aber die figurative Ersetzung des Menschen durch das Zeichen „Folie": „foil is a foil for man" (S. 189). Miller argumentiert weiter, dass Eduards Metapher der unterlegten Folie auf der Bildseite eine Bestimmung der materiellen Beschaffenheit von Spiegeln sei: Dem Glas wird eine Amalgam-Folie unterlegt. Wenn Eduard als Narziss sich also zum Spiegel der ganzen Welt mache, setze er sich metaphorisch mit einer amorphen, substanzlosen Materie gleich. Für Miller ist diese Stelle deshalb so wichtig, weil er dort die metaphysische Grundvoraussetzung des ganzen Romans untergraben sieht: Die scheinbar unzerstörliche Substanz des Menschen, die im Kontakt mit anderen nur eine Komplettierung suche, erfahre durch den metaphorischen Kontakt mit der Spiegelfolie eine Entsubstantialisierung: Far from being a fixed self that can see its own image in the water, as Narcissus did, man, in Goethe's definition here, is without face or figure. Each person is neutral, invisible, without fixed image or character, like the invisible foil behind the mirror. Each person puts this nonentity under the whole world, including other people, as if he were the world's ground, but a ground without substance. The image of himself he sees everywhere is made of the figurative transfer to himself of all the objects he confronts. (S. 189). 46

Die früheste dekonstruktivistische Deutung des Wahlverwandtschaften-Gleichnisses als „Metapher für die Metapher" findet sich in der bei Wolfgang Binder und Paul de Man entstandenen Dissertation von Thomas Fries (1975, S. 100). Fries geht es allerdings um eine „Dekonstruktion" nicht des metaphorischen Bedeutungsaustausches, sondern des mimetischen Sprachverständnisses (S. 106) und um die Bestimmung der „Wirklichkeit [...] als Wirklichkeit der Metapher, als Wirklichkeit des Zeichens" (S. 130) - was zu lesen ist als Genitivus qualitatis: Die Wirklichkeit sei sprachlich und metaphorisch beschaffen.

212

Für Miller ist die metaphorische Zurückfuhrung des menschlichen Selbst- und Weltverhältisses auf die materielle Schicht des Spiegelamalgams eine Variation der im Roman unmittelbar vorangehenden Stelle, an der von Schrift die Rede ist. Eduard begründet dort seinen Verdruss darüber, „daß Charlotte ihm in das Buch sah". Beim Vorlesen trete, so Eduard, „das Geschriebene, das Gedruckte [...] an die Stelle meines eigenen Sinnes, meines eigenen Herzens", weshalb es ihm so vorkomme, als sehe der Mitleser unmittelbar, wie durch „ein Fensterchen in meiner Stirn", die „Gedanken" und „Empfindungen" des Vorlesers (WV 1,4, S.299). Bereits in dieser Rede Eduards werde das menschliche Selbst, das sich in der Lektüre gespiegelt wähnt, durch etwas Materielles ersetzt, nämlich durch die Schriftzeichen. Miller paraphrasiert: „When I read aloud or silently to myself the words on the page create my thoughts and feelings. They generate ex nihilo my subjective state" (S. 180). Wo der Mensch meint, ein authentisches Bild seiner selbst und seiner Gedanken zu erhalten, finde er nichts als bedeutungslose Signifikanten. 47 Die zentrale Aufgabe von Millers linguistisch-rhetorischer Lektüre muss es freilich sein, das Verhältnis Eduards zu Ottilie auf entsprechende Weise zu deuten. Denn vermeintlich erfahren die Liebenden durcheinander die vollkommene Selbst-Komplettierung. Miller muss zeigen, dass auch Ottilie für Eduard nichts anderes ist als eine bloße Amalgamfolie oder ein materielles Schriftzeichen. Und tatsächlich lautet das Ergebnis seiner linguistischen Lektüre der Ottilie-Figur: „She expresses the literal in the sense of the senseless matter, marks or lines, of which written language is made" (S.217). Miller stützt diese Deutung unter anderem auf die Stelle am Ende des ersten Romanteils, wo Eduard zu Mittler sagt: „Und so mischt sich ihr Bild in jeden meiner Träume. [...] Bald unterschreiben wir einen Kontrakt; da ist ihre Hand und die meinige, ihr Name und der meinige, beide löschen einander aus, beide verschlingen sich" (WV 1,18, S. 387). „The relation between the two is mutually sustaining and mutually destructive", kommentiert der Interpret (S. 215). Die wechselseitige Stützung der Figuren, die den postulierten „happy exchanges of metaphor" der abendländischen Rhetorik entspreche, erweise sich im Moment der von Eduard vorgestellten schriftlichen Kodifizierung des Verhältnisses als wechselseitige Zerstörung. Bezogen auf beide Seiten 47

Die „Dekonstruktion" einer „täuschenden Authentizität" ist auch fur Fries (1975, S. 106) der Sinn dieser Stellen. Jochen Hörisch behauptet in seiner zuerst 1979 erschienenen Einleitung zu Derridas Buch Die Stimme und das Phänomen, „daß Derridas Theoreme mit Einsichten der Wahlverwandtschaften Goethes wahlverwandt sind", da in diesem Roman „das Subjekt dem Signifikanten buchstäblich unterworfen" sei: „Solange der Signifikant insistiert, vergeht das, was am Subjekt herrschaftlich ist" (Hörisch 1992, S. 124; 128).

213

der Allegorie - den Tausch der Liebespartner und den Tausch metaphorischer Bedeutungen - schreibt Miller: „Ottilie, the last added fourth term, ruins the ratio" (S. 213). Sie stehe in dem Roman fur die gesuchte, aber unerreichbare semantische Substanz: „Ottilie is that which never was or could be present. She is [...] simply the blank, the unapproachable, the zero about which nothing can be said except in the Narcissistic falsehoods of figure" (S.217). Sie repräsentiere die Abwesenheit von Sinn: „She is a kind of black hole, in which everything disappears" (S.214). Diese Rolle nimmt in der dekonstruktivistischen Sprachtheorie der materielle schriftliche Teil des Zeichens ein: Der geschriebene Buchstabe ist für Miller „a sign of the darkness of death, about which nothing can be literally said" (S.216). Mithin allegorisiere Ottilie „the mute letter, not the aesthetic spirit. She is the ,Buchstabe' that undoes Edward's projected love. As the material literal, Ottilie is [...] the silent, unnameable, unapproachable letter" (S.216), „the literal in the sense of the senseless matter, marks or lines, of which written language is made" (S. 217). 48 Auch wenn Miller die liguistisch-rhetorische Lektüre nicht auf all jene Gegenstände des Romans ausdehnt, auf die er die metaphysischontologische Lektüre richtet, so postuliert er doch eben diese Universalität. Der von Goethe intendierten „totalizing ontology" des Romans (S. 175) entspreche tendenziell eine totale Dekonstruktion: In Die Wahlverwandtschaften this lack of originating ground is dramatized simultaneously on the level of signs, on the level of interpersonal relations, on the level of the interrupted and heterogenous structure of the text, and on the level of the design of the estate, in the building of the summer house to supplement the main house (S. 209).

Auch die Novelle substituiere den im Roman abwesenden Sinn nicht, sondern zeige dessen Abwesenheit. Der Vergleich der Figurenkonstellation mit der Konstellation chemischer Substanzen erkläre die unerklärlichen sozialen Verhältnisse nicht, sondern zeige nur, dass ein Unerklärliches nicht mit einem anderen Unerklärlichen erklärt werden kann. Und so weiter. 49 Einzig die Sprachgesetze, so wie sie vom Dekonstruktivis48

49

Auch Ottilies Initial, das O, habe diese Bedeutung, denn es könne auch als Symbol der Zahl Null gelesen werden, als „0 of absence". Ottilies negierender Buchstabe sei den verwandten Namen der anderen Protagonisten insgeheim eingeschrieben: CharlOtte, Otto (Eduards Taufname) und Otto (Hauptmann). „All the Charakters are already undermined by the zero or absence Ottilie brings into the fourfold proportion [...]" (S.216). Miller widerspricht also der Überzeugung Benjamins, die Novelle enthalte einen höheren Sinn des Romans, und auch der Auffassung, die Idee des Romans sei in der Naturphilosophie zu finden. Gegen Buschendorf würde Miller einwenden, dass die älteren Bildtraditionen kein Supplement moderner Bedeutungslosigkeit sein können, weil die Vergangenheit eine Projektionsfolie der Gegenwart ist und deren Mängel zurückspiegelt.

214

mus formuliert werden, haben in Millers Deutung eine erklärende Kraft für das durchgängige Scheitern von Sinnstiftung und die generelle Abwesenheit eines Grundes, der Sinn hervorbringen könnte. Mit seiner Deutung einer „allegory of language" dekonstruiert Miller sämtliche Bedeutungsübertragungen, die innerhalb des Romans sich zu vollziehen scheinen, und zuletzt dekonstruiert er auch noch die Deutung selbst, auf der die Dekonstruktion basiert: „No section - for example, those interpolations I have identified - can be segregated and then interpreted as the external key on the basis of which the main action can be read" (S. 210).

2.3.2 Propositionale Interpretationsakte (1)

Zweitbedeutungen

Die Zweitbedeutungen stammen aus den bestehenden Theorien der Dekonstruktion. In deutlicher Gefolgschaft Derridas und Paul de Mans soll durch eine grammatologische und rhetorische Lektüre aufgezeigt werden, dass hier ein Text, der in der Tradition der abendländischen Metaphysik steht, durch den Primat der Schrift unterwandert und von einer ursprünglichen Abwesenheit von Bedeutung gekennzeichnet ist. Ausdrückliche Referenz wird dabei nur zu den Inhalten der abendländischen Tradition hergestellt, von der die Dekonstruktion sich abhebt: zum platonischen Primat der gesprochenen vor der geschriebenen Sprache (S. 180); zu Aristoteles' Metapherntheorie, die referiert und zitiert wird (S.271, Anm. 33); und zu Hegels Ästhetik, deren Bestimmung des Schönen als „das sinnliche Scheinen der Idee" (1970, Bd. 13, S. 151) ohne Kennzeichnung und Nachweis zitiert wird: „That beauty, as the sensible shining of the idea, is part of metaphysics" (S.221). Der Aristoteles-Bezug weist als einziger neben der Referentialität auch eine starke Kommunikativität auf, nämlich die Kommunikativität des aus- und nachgewiesenen Zitats. Nicht referentiell und kommunikativ markiert werden hingegen Derridas Theorie der Schrift (vgl. 1974), de Mans These der Unlesbarkeit (1988, S. 92-117), beider Theorie der Metapher (vgl. Wellbery 1997) sowie einzelne Begriffe wie Abwesenheit, Mangel und „free-floating" des Zeichens (S. 192). Im Unterschied zu Walter Benjamin, dessen Zurückhaltung hinsichtlich der Referenz auf theologische und philosophische Texte in der Neuheit der Gedanken begründet ist, dürfte Millers Referenzverzicht die Annahme implizieren, dass die Referenztexte dekonstruktivistischer Provenienz bekannt sind und dass der Interpret als ein genuiner Vertreter dieser Schule von der wissenschaftlichen Nachweispflicht suspendiert ist. Möglicherweise soll der Verzicht jedoch dem

215

Eindruck entgegenarbeiten, dass hier ein bestehendes Gedankengebilde auf Goethes Roman angewendet wird: Die dekonstruktivistischen Theoreme erscheinen dadurch, dass sie nicht referentiell und kommunikativ markiert sind, wie originäre Produkte unvoreingenommener Lektüre. Weil die Dekonstruktion kein geschlossenes Lehrgebäude ist und sie den hierarchischen Gegensatz zwischen Haupttexten und Randtexten sowie von Originalphilosophie und Kritik nicht kennt, wäre zu erwarten, dass auch Millers Text sich gegenüber den bestehenden dekonstruktivistischen Texten stark selektiv verhält, eine eigene Struktur der ausgewählten Theoreme herstellt und vor allem semantische Differenzen zu den dekonstruktivistischen Prätexten erzeugt. Diese theorieimmanente Lizenz zur Abweichung wird zumindest im letztgenannten Punkt nicht genutzt. Millers Text folgt dem durchaus verbreiteten Verfahren, dekonstruktivistische Theoreme in literarischen Texten versinnbildlicht zu finden. Der Roman gilt als eine Allegorie der Sprache, und was Sprache in diesem Roman ist, steht fur den Interpreten bereits fest. Das Ziel der Allegorese ist in dieser Hinsicht nicht die „Erschließung" eines unbekannten, sondern die „Versinnfalligung" eines bekannten Sinns (vgl. Meier 1976, S.41). Dieses Interpretationsverfahren zielt primär auf eine Wiederholung der Theoreme und nicht auf deren Bezweiflung oder Unterminierung innerhalb des neuen Anwendungskontextes. Die semantische Differenz zu den vorgeprägten Begriffen Schrift, Metapher, Abwesenheit usw. ist, so gesehen, denkbar gering. Freilich geht es Miller nicht um die bloße Anwendung der dekonstruktivistischen Sprachtheorie auf einen beliebigen ästhetischen Gegenstand, sondern um den Nachweis, dass die Dekonstruktion der Metaphysik sich besonders prägnant an einem herausragenden Kunstwerk der Epoche des deutschen Idealismus aufzeigen lässt, weil der deutsche Idealismus es ist, der die abendländische Metaphysik in ästhetische Kategorien überführt: „metaphysics generates aestheticism" (S. 173).50 Millers Anliegen ist also eine literaturgeschichtliche Spezifikation und Nuancierung der dekonstruktivistischen Theorie. Nur in dieser Hinsicht lässt sich eine gewisse semantische Differenz gegenüber dem theoretischen Prätext diagnostizieren. Eine autoreflexive Selbstverständigung über das Verhältnis der Interpretation zu ihren theoretischen Prätexten findet nicht statt.

50

Die Kritik von Horst Steinmetz, dass der Dekonstruktivismus die literarischen Werke „als gleichwertige und gleichartige Repräsentanten desselben sprachlichen Vorgangs über alle Zeiten und Kulturen hinweg definiert" (1992, S.478), ist im Falle Millers nur zur Hälfte richtig. Zwar repräsentieren die Wahlverwandtschaften dieselbe Wahrheit wie alle anderen Texte; Wert und Modus der Repräsentation sind jedoch vor anderen Texten historisch ausgezeichnet.

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(2)

Erstbedeutungen

Auf den Roman verweist die Interpretation stark referentiell und kommunikativ: Die interpretierten Stellen werden ausnahmslos zitiert, und das meist extensiv. Konträr zu dem eigenen Postulat, die Gesamtheit der metaphysisch-ontologischen Erstbedeutungen lasse sich einer zweiten, linguistischen Lektüre unterziehen, konzentriert sich die Auswahl der allegorisch gedeuteten Inhalte vor allem auf die „story of marriage, passion, and adultery" (S. 170). Diese Auswahl entspricht der Thematik des gesamten 3. Kapitels von Millers Buch Ariadne's Thread, in das die Wahlverwandtschaften-Interpretation eingebunden ist: „This chapter will explore the topography of the self in its various modes of intersection with others" (S. 145).51 Liebe, Leidenschaft, Ehebruch und Tod gelten dem Interpreten als das zentrale Sujet des Romans; er nähert sich seinem Thema Sprache und Schrift nicht durch eine randgängige Lektüre des Textes, sondern durch einen direkten allegorischen Zugriff auf dessen thematischen Kern. Deshalb vernachlässigt die zweite Lektüre alle anderen Motive, denen die erste, metaphysische Lektüre ebenfalls den Sinn Austauschverhältnis von Entitäten' zuschreibt und die sich gleichermaßen linguistisch umdeuten ließen (Botanik, Landschaftsgestaltung, Hausbau, Architektur des Romans). Einzig die Stellen, die wörtlich vom Schreiben und von Schrift handeln (Gedankenentstehung beim Lesen, Ottilies Imitation von Eduards Handschrift, Streit um das Verhältnis von Grabstätte und beschriftetem Grabstein, Kartographie, Kelchglas-Initial u.a.), werden mit herangezogen, und zwar als Belege für die allegorische Deutung der Liebeshandlung: Es sind Stellen, die der Interpret nicht allegorisch, sondern wörtlich oder metonymisch liest, um zu verdeutlichen, dass Schreiben und Schrift ein wichtiges direktes Thema des Romans bilden. Dies soll die entsprechende Allegorese anderer Stellen plausibilieren. Eine autoreflexive Erörterung der vorgenommenen Selektion und Strukturierung erfolgt nicht; die Bestimmung und Auswahl des thematischen Kernbereichs geschieht ohne nähere Begründung.

51

Der Titel des Kapitels lautet „Anastomosis". Dieser in der Anatomie, Botanik und Geologie gebräuchliche Begriff meint die „Intercommunication between two vessels, channels, or distinct branches of any kind, by a connecting branch" (S. 154). Der Beg r i f f w i r d m.W. zuerst 1970 von Roland Barthes in der Studie S/Z (1987, S. 173) für die Beschreibung intratextueller Relationen verwendet: „[...] je enger - und gut kalkuliert die Anastomose der Signifikanten ist, um so mehr hat der Text einen ,guten R u f " .

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(3)

Verweisungsmodus

An die vorstehende Analyse lässt sich unmittelbar eine Bestimmung der formalen Verweisungsmodi anschließen. Miller löst das zentrale Strukturproblem der Allegorese von narrativen Texten durch die soeben analysierte Beschränkung auf ein einfaches, überschaubares Handlungsmuster. In der narrativen Allegorie, so Pfeiffer, müssen „erstens die Terme der Theorie einen logischen Spielraum besitzen, um mit einer hinreichend differenzierten narrativen Struktur verträglich zu sein. Zweitens darf die erzählerische Differenzierung jedoch die Grenze bestimmter Schematisierungen nicht überschreiten, weil sonst die Theorie nicht fortdauernd umgesetzt werden könnte". Daher sei traditionell „der Umfang allegorietragender Einheiten begrenzt" auf „Muster wie Kampf, Reise (pilgrimage), Suche (quest), Liebe" (1977, S. 582). Entsprechend kann die Allegorese eines so komplexen narrativen Textes wie Die Wahlverwandtschaften nur dann plausibel sein, wenn die Selektionen und Strukturierungen sowohl auf der Seite des Interpretandums als auch auf der Seite des Interpretaments eine Strukturanalogie von Erzählung und Gedanken konstituieren. Durch die Fokussierung der Liebesthematik gelingt es Miller, die temporale Abfolge von Anziehung, Vereinigung, Trennung und Tod auf die logische Struktur seines Gedankens zu beziehen, und zwar um so leichter, als die dekonstruktivistische Sprachtheorie sich selbst in ein temporales, geradezu dramatisches Verhältnis zur abendländischen Metaphysik stellt: Auf die Jahrtausende währende aristotelische Illusion des gelingenden metaphorischen Austausche folgt die dekonstruktivistische Einsicht in dessen Unmöglichkeit. Durch die Auswahl der einfach strukturierten Liebesgeschichte und der geschichtlich strukturierten Metapherntheorie schafft der Interpret ideale Strukturbedingungen für die Allegorese. Das von Miller behauptete Ambiguitätsverhältnis bleibt widersprüchlich. Über die Erstbedeutungen und ihre wechselseitigen metaphorischen Verweise aufeinander heißt es: „No unambiguous literal reference can be found in the use of language [...]" (S. 188). Der Bezug auf die Zweitbedeutung Abwesenheit von Sinn gilt jedoch als eindeutig: Der Roman sei eine Allegorie des Sprache, ihrer Gesetze und Grenzen. Wenn Miller, wie gezeigt, die dekonstruktivistischen Resultate der Interpretation auf deren Verfahren selbst anwendet und die Unmöglichkeit der eigenen allegorischen Lektüre postuliert (S.210), bleibt diese Selbstdekonstruktion der Allegorese bloßes Postulat: „Ottilie, Edward, Charlotte and the Captain embody laws of language" heißt es genau zehn Seiten später (S.220). Auf diese Inkonsequenz kommen wir in Abschnitt 2.3.4 zurück.

218

Betrachten wir nun die inhaltliche Verweisung zunächst unter dem Aspekt des logischen und ontologischen Verhältnisses von Erst- und Zweitbedeutungen. Die Erstbedeutungen gelten Miller als metaphysisch, die Zweitbedeutungen hingegen als linguistisch im Sinne der Gesetze von Sprache und Schrift. Damit wird das traditionelle Verhältnis zwischen historischer Erstbedeutung und metaphysischer bzw. theologischer Zweitbedeutung, wie auch Benjamin es unterstellt, umgekehrt: Die metaphysische Bedeutung ist die erste, sie ist im Roman nicht verborgen, sondern liegt offen zutage. Die linguistische Bedeutung ist durch die metaphysische überlagert und muss - wo nicht Sprache und Schrift wörtliches Sujet sind - durch die Operation der Allegorese freigelegt werden. Die metaphysische Sicht wird als Verkennung der im Grunde sprachlichen Verhältnisse gedeutet. Alles Seiende ist in Wahrheit nur ein Bezeichnendes, dem kein Sinn, kein Signifikat substantiell eigen ist. Nicht ist die Sprache Ausdruck von Seiendem, sondern das Seiende ist sprachlich. Das gilt auch für die personalen Beziehungen. Homo homini signum est. Literarische Texte sind in dieser Perspektive materiale Rückführungen aller Relationen zwischen Seiendem auf die zwischen den Signifikanten bestehenden Verhältnisse. Die Allegorese legt unter den metaphysischen Täuschungen eine Wahrheit frei, die im Faktum der Schriftlichkeit der Texte verbürgt sei. Millers Metaphysik-kritische Relationierung von metaphysischem Irrtum und linguistischer Wahrheit bedient sich aber selbst der Entgegensetzung von Akzidens und Substanz, Schein und Wesen, Hülle und Kern, Fassade und Fundament, die wir aus der Tradition der Allegorese schon kennen. Auf diesen Widerspruch reagiert Miller damit, dass er wie oben zitiert - die allegorische Relationierung selbst der Dekonstruktion unterwirft und es bei dieser unaufgelösten, weil vermeintlich unauflösbaren Paradoxie belässt. Die spezifische Logik des inhaltlichen Verweises zwischen Erst- und Zweitbedeutung ist bei Miller folgendermaßen beschaffen: Das Scheitern metaphysischer Substitution verweist auf das eigentliche Scheitern sprachlicher Substitution, doch von diesem Scheitern ist die Verweisung zwischen Erst- und Zweitbedeutung als eine Form der sprachlichen Substitution selbst betroffen. Was das Wertverhältnis von Erst- und Zweitbedeutungen angeht, so betreibt Miller - trotz der Kritik an Goethes (angeblicher) metaphysischer Intention - keineswegs eine Abwertung der Erstbedeutungen, denen er vielmehr aus zwei Gründen Bewunderung zollt: erstens wegen der Konsequenz, mit der die unterschiedlichsten Motive und Ebenen des Romans in der metaphysischen Idee (supplementierender Austausch zwischen Entitäten) zusammengeführt werden, zweitens wegen der Konsequenz, mit der das Scheitern des Austausche dargestellt ist. Der dicht gewobene Verweisungszusammenhang gilt als „the novel's dangerously

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beautiful surface" (S. 173), die intendierte Integration dieser Oberfläche in der Idee als „an admirable demonstration of the relation between European aestheticism and Occidental metaphysics" (ebd.). In diesem Zusammenhang stehen einige Ausführungen Millers, aus denen eine unterschiedliche mentale Repräsentanz von Erst- und Zweitbedeutung deutlich wird: Für die metaphysische Lektüre der Verweisungen zwischen den Entitäten und Weltbereichen gilt die Maxime: „the highest value is a surface of beauty open to the senses and feelings" (S. 174). Der interne Verweisungszusammenhang auf der Seite der Erstbedeutungen wird demnach am angemessensten als ein sinnlich wahrgenommener und empfundener repräsentiert, und das kann nur heißen: auf der Ebene der Vorstellungsbilder. Das philosophische Begreifen gilt auf dieser Ebene als eine mögliche, nicht notwendige Reflexion der ästhetischen Erfahrung. Bei der zweiten, linguistischen Lektüre hingegen wird nicht in Vorstellungsbildern eine ästhetische Erfahrung repräsentiert, sondern linguistische Einsichten werden in den Begriffen der dekonstruktivistischen Sprachtheorie festgehalten, denen eine begriffliche Formulierung auch der ästhetisch-metaphysischen Erfahrung vorangehen muss. Die hohe Wertschätzung der Erstbedeutungen ist also zunächst eine ästhetische Beurteilung. Anders als Benjamin muss Miller die Dichte der ästhetischen Verweisungen unter dem Gesichtspunkt der Wahrheit nicht kritisieren. Denn die ästhetische Verwobenheit kommt seiner Interpretation (universelle Negation von Bedeutung) gleichsam Knoten für Knoten entgegen. Benjamin wertet das ästhetische Gewebe ab und „zerschlägt" es, um die „Fragmente der wahren Welt" bloßzulegen (1974ff, Bd. I, S. 181); Miller schätzt das Gewebe hoch, weil er überall den „black thread" der Schrift eingewoben sieht (S.221f.). Die mentale Repräsentanz des Verweises zwischen Erst- und Zweitbedeutungen integriert mithin Vorstellungsbilder, metaphysische Begriffe und die Dekonstruktion dieser Begriffe. Welche Auswirkungen haben die bisher analysierten inhaltlichen Relationen auf das semantische Ähnlichkeitsverhältnis von Erst- und Zweitbedeutungen? Was unter diesem Aspekt interpretatorisch geschieht, erschließt sich am deutlichsten, wenn wir zunächst die nicht-allegorische Auslegung jener Stellen betrachten, an denen im Roman wörtlich von Sprache und Schrift die Rede ist. Hier herrscht die folgende metonymische Operation vor: Ein bestimmtes Zeichen (ein Schriftzug von Ottilies Hand, das verschlungene Kelchglas-Initial E-O usw.) wird als Bezeichnung seiner materiellen Beschaffenheit, seiner Stofflichkeit gedeutet. Die dekonstruktivistische Pointe dieses Verweises auf die materielle Beschaffenheit liegt in der Behauptung, dass die Zeichen als bloß materielle die in ihnen gesuchte abwesende Bedeutung (den Geist Ottilies, die Liebe des

220 Paares) gar nicht repräsentieren können, weshalb die semantische Illusion zusammenstürzt. In figurativer Hinsicht handelt es sich um eine Umkehrung der gängigen metonymischen Rhetorik, die den eigentlich gemeinten Gegenstand durch dessen Material ersetzt - wenn man etwa sagt, dass jemand das Eisen (gemeint: das Schwert) zieht, ein Papier (gemeint: ein Dokument) unterzeichnet, eine Schrift (gemeint: einen Text) veröffentlicht usw. Der Dekonstruktivist Miller geht hingegen davon aus, dass in Goethes Roman das eigentlich gemeinte Material „Schrift" durch besondere Texte und Inschriften metonymisch ersetzt wird. Neben dieser dominanten metonymischen Verschiebung gibt es durchgängig eine synekdochische Verschiebung, die weniger deutlich ausgesprochen wird, dafür aber um so selbstverständlicher funktioniert: eine Pars-pro-toto-Relation zwischen dem Zeichen und dem allegorisch Bezeichneten. Jede einzelne Manifestation von Schrift wird verstanden als ein Zeichen für jene Bedeutung, die Schrift nach dekonstruktivistischer Auffassung überhaupt hat. Jedes Zeichen verweist auf den generellen Kollaps einer Ratio, fur die Schrift einen abwesenden Sinn repräsentiert; jedes Zeichen bedeutet die Abwesenheit von Bedeutung überhaupt. Die Rhetorik der dekonstruktivistischen Interpretation, die sich auf den Motivbereich Sprache und Schrift bezieht, umfasst mithin die Ersetzung des Zeichens durch dessen Stoff und die Ersetzung des Stoffs durch den Begriff der Abwesenheit. Richtet sich die Interpretation auf andere Motive, so muss die metonymisch-synekdochische Rhetorik um metaphorische Operationen ergänzt werden. Dies zeigt sich zunächst bei der Auslegung der Spiegelfolie. Auch hier wird die Materialität des Spiegels fur das eigentlich Gemeinte genommen (metonymische Ersetzung) und anschließend als generelle Abwesenheit eines sinnstiftenden Grundes, „a ground without substance" (S. 189), gedeutet (synekdochische Operation). Zugleich versteht Miller die Stelle mit der Bespiegelung als ein Beispiel für die figurativen Ersetzungen der Sprache: „The example is also about the figurative displacement it exemplifies" (ebd.). Die Folie sei ein Zeichen fur „the literal word" (S. 188), wobei literal in einem materiellen Sinne buchstäblich meint. Dieses Zeichenverhältnis zwischen Spiegelfolie und Buchstabe ist metaphorisch. Zwei unterschiedliche metonymische Ersetzungen (der ersten Sorte) werden hier analogisiert und metaphorisch verschmolzen. So wie jeder Schriftzug eigentlich für den materiellen, sinn-losen Stoff der Signifikanten steht, steht die Spiegelfolie eigentlich für das materielle Amalgam. Die Umwandlung dieser Analogie in eine metaphorische Prädikation ist ein Akt der Allegorese: Die Spiegelfolie steht schließlich für die Buchstäblichkeit des Wortes. Insbesondere bei der Interpretation der Ottilie-Figur kommt es zu derartigen metaphorischen Operationen. In einer für Miller besonders wich-

221

tigen Episode zu Beginn des Romans wird Ottilie wegen der Angewohnheit, sich zu „bücken, wenn jemand etwas aus der Hand fallen läßt, und es eilig aufzuheben", von Charlotte getadelt. Nach deren Urteil „will es einem Frauenzimmer nicht wohl geziemen, sich Männern auf diese Weise ergeben und dienstbar zu bezeigen". Ottilie erklärt ihre Neigung mit einer Erinnerung an den Geschichtsunterricht: „Als Carl der Erste von England vor seinen sogenannten Richtern stand, fiel der goldne Knopf des Stöckchens das er trug herunter". Der Umstand, dass der König entgegen seiner Gewohnheit den Knopf selber aufheben musste, war Ottilie so „schmerzlich" vorgekommen, dass sie sich fortan stets bückte, sobald jemandem etwas aus den Händen fiel (WV 1,6, S.315). Miller deutet das Herunterfallen des Knopfes als Vorausdeutung auf die Enthauptung des Königs, und die Enthauptung deutet er als „the most powerful displaced symbol of that castration all men, we are told, most fear" (S. 208). Ottilies Neigung „to reerect the stick, to give it a head", wird als ein „service" zur Überwindung männlicher Kastrationsangst, zur Vergewisserung männlicher Identität gedeutet. So weit, so freudianisch. Doch deutet Miller das Stöckchen des Königs nicht nur als Phallussymbol, sondern auch als eine Metapher für Schrift und die Integrität des Schriftzugs als (illusorische) Versicherung, dass es einen präsenten Sinn gibt. Miller begründet diese metaphorische Gleichsetzung erstens mit der semantischen Nähe zwischen den Wörtern „Stöckchen" und „Buchstab" (Hervorh. T.Z.), zweitens mit der geometrischen Ähnlichkeit zwischen dem Knopf auf dem Königsstab und dem Ο am Beginn von Ottilies Namen („at the start of the line") sowie drittens mit einem weiteren komplizierten Zusammenhang ikonischer und paradigmatischer Gemeinsamkeiten: Das Ο ähnle der Zahl Null, und die von der Null ausgehende Löschung multiplikatorischer Gleichungen wiederum ähnle der Enthautung resp. Kastration, die Ottilie eben doch nicht dienstbar verhindern könne. Auf der Grundlage dieser Ähnlichkeitsbeziehungen konstituiert Miller seine im Kern metaphorische Deutung der Episode: Sowohl die Enthauptung Karls I. als auch das Scheitern der Liebesbeziehung zwischen Eduard und Ottilie verdeutliche „to the reader that the literal at the head of the line of letters is not the straight line of the runic inscription, but an O, an absence, a silence about which nothing can be said" (S. 209). Weiterhin wird die Ottilie-Figur in einer neuerlichen metonymischen Operation mit dem Anfangsbuchstaben ihres Namens gleichgesetzt, so dass sie schließlich als Verkörperung des Buchstäblichen („the incarnation of the literal") gilt und damit als „the zero about which nothing can be said except in the Narcissistic falsehoods of figure" (S. 217). Bei dieser Interpretation werden nicht einfach nur die Zeichen (Königsstab, Ottilie-

222 Figur) mit der Materialität des Signifikanten und der Abwesenheit von Bedeutung gleichgesetzt, sondern zur Stützung dieser Deutung wird eine Reihe komplizierter Ähnlichkeitsrelationen hergestellt. Die Deutung operiert an solchen Stellen nicht mit der Zeichenhaftigkeit der jeweiligen Realie, sondern mit ihrer Buchstabenähnlichkeit. Um behaupten zu können, das Ähnliche sei auch das eigentlich Gemeinte, muss der Interpret dann auf traditionelle metaphysische Denkmuster der Allegorese zurückgreifen wie die Vorstellung, eine literarische Figur sei „incarnation" von etwas anderem. Wir kommen auf dieses Muster zurück (vgl. u. 2.3.4).

2.3.3 Illokutionäre Interpretationsakte Explanative Funktion kann eine allegorische Deutung unter anderem dadurch gewinnen, dass sie die Textgestaltung erklärt, insbesondere die Wahl und Kombination der Erstbedeutungen. Indem Miller behauptet, dass die Ästhetik des Romans von Grundauffassungen der abendländischen Metaphysik generiert wird, liefert er eine Erklärung für die von ihm als „surface" bezeichnete Ästhetik (S. 174) der intendierten wechselseitigen Vervollkommnung unterschiedlicher, im Roman ineinander verwobener Entitäten - der Figuren, Handlungen, Gebäude, Landschaftsteile, chemischen Substanzen, Kunstprodukte ebenso wie der Erzählstränge. Indem Miller die Supplementierung substantiell integrer Einheiten als die grundlegende metaphysische Idee des Romans bezeichnet, erklärt er die Organisation des Textes auf eine vollständige und einheitliche Weise, die innerhalb der Wahlverwandtschaften-Forschung ihresgleichen sucht. Dies gilt für die erklärende Funktion der ersten Lektüre Millers, die keine Allegorese und somit nicht der Hauptgegenstand unserer Analyse ist. Indem Miller das Scheitern des von Aristoteles beschriebenen metaphorischen Bedeutungsaustauschs als den allegorischen Sinn des Romans bezeichnet, erklärt er einen Zusammenhang zwischen dem Scheitern der Liebesgeschichte und dem Scheitern der exegetischen Versuche, einzelne Motivkreise und Handlungsstränge im Rekurs auf andere zu deuten und speziell in der chemischen Theorie ein Erklärungsmodell fur die menschlichen Beziehungen zu finden. Die explanative Funktion wird erfüllt durch die Beschreibung einer Analogie, die zwischen dem chemischen Gleichnis und der Aristotelischen Metapherntheorie besteht, und der Behauptung, dass beiden Strukturen dieselbe Metaphysik zugrunde liegt. Nimmt man mit Miller an, dass im Scheitern des Verschmelzungswunsches von Eduard und Ottilie sich dieselbe metaphysische Aporie

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zeigt wie in den Problemen der Metapherntheorie, so erklärt dies den Lektürebefund, dass die Anwendung des chemischen Gleichnisses auf die Liebesbeziehung ebensowenig ,aufgeht' wie diese Beziehung selbst. Auch wer diese Erklärung für falsch hält, muss der Deutung die explanative Funktion nicht absprechen. Bei dieser Erklärung belässt Miller es aber nicht, sondern er behauptet einen allegorischen Verweis zwischen beiden Seiten: Das eine stehe für das andere; Ottilie personifiziere durch ihr Initial und bestimmte Eigenschaften - wie das Schweigen und Fasten - die zum Scheitern der Metapher fuhrende Schriftlichkeit der Sprache. Diese Allegorese liefert keine zusätzliche Erklärung für den besagten Zusammenhang. Die Theorie, die das doppelte Scheitern einheitlich erklärt, wird überdies in einem angeblichen Sinnbild veranschaulicht, das nichts erklärt. Als eine direkte Projektion der Theorie auf die Elemente der Romanhandlung drängt die Allegorese die explanative Funktion der dekonstruktivistischen Interpretation zurück. Die explanative Funktion ist mit einer epistemischen Funktion verbunden: Miller versucht die dekonstruktivistische Literaturtheorie zu einer literaturgeschichtlichen Theorie weiterzuentwickeln, indem er behauptet, in diesem Roman generiere die abendländische Metaphysik eine historisch spezifische Ästhetik, die durch eine spezifische Rhetorik dekonstruiert wird. Im letzten Absatz heißt es: The novel dramatizes these metaphysical assumptions in a text of masterly beauty. That beauty, as the sensible shining of the idea, is part of metaphysics. At the same time, the novel also unravels the system in its indirect encounter with something unpresentable, beyond beauty (S. 221).

Das Gedankenexperiment des Essays liegt in der Frage, auf welche besondere Weise die abendländische Metaphysik in einem so hochkarätigen Dokument jener Ästhetik sich manifestiert und dekonstruiert, die Hegel auf den Begriff „das sinnliche Scheinen der Idee" brachte. Andere illokutionäre Funktionen sind sekundär. Die durchgängige positive Wertung der Schönheit des Romans dient der explanativen Interpretation, weil die besonders starke motivische Dichte und kompositorische Einheitlichkeit des Textes - dies ist mit der Schönheit gemeint eben jene Auffälligkeit ist, die mit der ersten, metaphysischen Lektüre erklärt wird. Die Allegorese hat auch nicht die Funktion, die Beschäftigung mit diesem Roman zu legitimieren, denn dies ist schon durch die erste Lektüre geleistet: Der Nachweis, dass es sich um ein herausragendes ästhetisches Dokument der idealistischen Metaphysik handelt, rechtfertigt bereits die dekonstruktivistische Lektüre. Eine appellative Funktion ist nicht erkennbar: Aus der Lektüre werden keine Konsequenzen fur ein Verhalten außerhalb der Lektüre gezogen.

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Ästhetische Interpretationsakte sind nicht erkennbar, und auch die Frage, ob an irgendeiner Stelle der Interpretation die Bestimmung der Interpretenrolle funktional an die erste Stelle tritt, kann verneint werden. Selbstverständlich bestimmt Miller sich als dekonstruktivistischer Interpret, indem er den Roman entsprechend interpretiert; aber diese Funktion bleibt als eine obligate im Hintergrund. Während sich an einigen dekonstruktivistischen Interpretationen der zweiten Generation sehr wahrscheinlich zeigen ließe, dass bestimmte Deutungsoperationen die primäre Funktion haben, eine Schulzugehörigkeit auszuweisen, hat der Yale critic Miller solche Selbstbestimmungen nicht nötig.

2.3.4 Kritik der Interpretation Wir hatten gesehen, dass Miller „the laws, powers, and limitations of language" (S. 170) als einen sinnstiftenden Grund behandelt, von dem aus er die Rhetorik des gesamten Romans allegorisch erklärt, obwohl mit den „limitations" ja gerade die Einsicht gemeint ist, dass es in der Sprache keinerlei sinnstiftenden Grund gibt. Hierbei handelt es sich um eine Paradoxie, in die das dekonstruktivistische Denken nach eigener Einschätzung zwangsläufig gerät und deren bloßes Vorhandensein nicht als Falsifikation der Theorie bzw. der Interpretation gelten muss: Eine gedankliche Paradoxie kann eine angemessene Darstellung einer objektiven Paradoxie sein. Bei der immanenten Kritik der Interpretation ist nun entscheidend, wie der Interpret mit dieser Paradoxie umgeht. Verändert die Reflexion der Paradoxie die Deutung des Romans? Wird Millers allegorische Setzung der Sprache als eines sinnstiftenden Grunds tatsächlich selbst dekonstruiert? Eine solche Unterminierung seiner eigenen Doppel-Lektüre postuliert Miller an einer bereits zitierten Stelle: On the level of the text's stylistic decorum, the apparently secure distinction between realism and allegorical emblem [...], on which my analysis of the novel has depended, collapses in the breakdown of the other patterns. [...] No section - for example, those interpolations I have identified - can be segregated and then interpreted as the external key on the basis of which the main action can be read. Moreover, the allegorical reading is not so much authorized as freely posited and at the same time undermined by the pervasive irony of the narration (S. 209f.).

Diese Reflexion widerspricht ausdrücklich dem früheren Satz „The passage describing man as a true Narcissus is a key to the interpretation of the novel" (S. 190) sowie der gesamten Deutung des Romans als SprachAllegorie. Der Satz, dass die Deutung eine willkürliche Setzung ist, resultiert jedoch aus der Deutung selbst. Miller bleibt bei dieser Paradoxie stehen, weil das dekonstruktive Denken ein Denken der Paradoxie ist. Er

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stellt nicht die Frage, ob der Roman möglicherweise anders denn als Sprach-Allegorie gelesen werden könnte, was zumindest aus dieser Paradoxic herausführte: Nicht jede gedankliche Paradoxie muss einer objektiven Paradoxic entsprechen. Die Selbstdekonstruktion der Interpretation bleibt ein bloßes Postulat und wird nicht im Detail durchgeführt, eben weil der Dekonstruktivist sich beim Feststellen der Paradoxie beruhigt. Im Anschluss an die zitierte Reflexion verwendet Miller ungebrochen die Terminologie der Allegorese, wenn er, wie bereits zitiert, die Figuren des Romans nach wie vor als Personifikationen bestimmt: „Life incarnates language, for man the sign-making animal. Ottilie, Edward, Charlotte and the Captain embody laws of language [...]" (S. 220). Dass die bloß postulierte Selbstdekonstruktion der Allegorese interpretatorisch folgenlos bleibt, hängt damit zusammen, dass der Interpret sich bei den Operationen seiner Allegorese nicht an einer Bestimmung des Gegenstands orientiert, die er in der oben eingerückt zitierten Passage selbst vornimmt: Miller hätte en detail am Text seine Behauptung belegen müssen, jede Setzung eines allegorischen Sinns werde „undermined by the pervasive irony of the narration". Die linguistische Lektüre, die der metaphysisch-ontologischen Lektüre opponiert, hätte, um mit dieser Gegenstandsbestimmung kohärent zu sein, die postulierte Ironie aufzeigen müssen. Eine solche linguistische Lektüre wäre weniger frei gesetzt („freely posited"), als die allegorische Lektüre es nach Millers Aussage ist, denn eine Interpretation, die mit ihren eigenen Bestimmungen des Gegenstands übereinstimmt, ist weniger kontingent als eine Interpretation, die von solchen Bestimmungen abweicht. An die Stelle möglicher Interpretationsakte, in denen die ironische Unterminierung der vermeintlichen Sprach-Allegorie erklärt würde, treten bei Miller behauptende Interpretationsakte, die dem Roman statt einer Rhetorik der Ironie eine Rhetorik der allegorischen Personifikation zuschreiben. Das Verharren in der Allegorese hängt weiterhin mit einem unaufgelösten Widerspruch zwischen Millers allegorischem Verfahren und den Grundlagen seines dekonstrukivistischen Denkens zusammen. Der Interpret vollführt einerseits die Negation des metaphysischen Gedankens, dass die Einheiten des Seienden einander wechselseitig Sinn verleihen und vervollkommnen, da in ihnen die Eine Idee oder Eine Natur wirke. Bei der Darstellung dieser Negation bedient Miller sich andererseits einer ähnlichen metaphysischen Konstruktion, wenn er die Sprache als jene Einheit bestimmt, die dem Roman seinen allegorischen Sinn verleiht. Dass Miller den Widerspruch zwischen seinem anti-metaphysischen Denkinhalt und seiner metaphysischen Interpretationsweise hinnimmt, anstatt ihn in der Detailarbeit des Formulierens auszutragen, zeigt sich nicht zuletzt an der perennierenden Übernahme einer Terminologie der

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Verkörperung und Fleischwerdung, die den vermeintlich überwundenen Dualismus von geistigem Gesetz und materieller Erscheinung faktisch fortschreibt: „Life incarnates language" (S. 220). Wie Pontius Pilatus ins Credo, so ist hier eine Kernformel des Credos in den dekonstruktivistischen Text geraten, der darunter leidet. In Millers Essay findet sich eine weitere Grundüberzeugung, die den Autor Goethe betrifft und die im Widerspruch steht zu den allegorischen Deutungsoperationen. Diese abweichende Bestimmung betrifft die zugrunde liegende Metaphysik des Romans. Bei seinen beiden Lektüren erkennt Miller zwei gegensätzliche Modelle „of interpersonal relations", aber er weiß, dass noch ein drittes Modell im Spiel ist. Das eine Modell sees selves as fixed entities basing themselves on their relations to other selves. The other model of interpersonal relations sees selves as nothing but a locus traversed by fleeting signs. Such selves seek to ground themselves in others by drawing others to themselves, but each such self succeeds only in experiencing its solitude and nonentity. The model narrative in our tradition expressing this self-emptying relation of the self to itself is Ovid's melancholy story of Narcissus. Trapped within his prison house of language, Narcissus is able to see and love only himself. [...] For Goethe, however, the solitude of the human condition results from an encounter, if that is the right word, with an unattainable otherness in the other. (S. 219f.)

An den Wahlverwandtschaften zeigt Miller den Umschlag des ersten Modells in das zweite auf: Die metaphysische Lektüre rekonstruiert das erste Modell, die linguistische Lektüre will die narzisstische Struktur und damit die Nichtigkeit des Bei-sich-selbst-Seins-im-Anderen aufzeigen. Quer zu dieser dekonstruktiven Doppellektüre steht jedoch Millers Erkenntnis, dass der Autor Goethe wegen seiner Metaphysik der unüberwindlichen Andersheit ohnehin davon überzeugt sein musste, dass das erste Modell unrealisierbar ist. Gegen Millers Interpretation lässt sich also mit Miller einwenden, dass es überhaupt nicht die Intention des Romans sein kann, die wechselseitige Vervollkommnung der Elemente darzustellen. Versteht man den Sinn des Romans als ein unergründliches Ineinander von substantieller Ähnlichkeit und substantieller Verschiedenheit aller Einheiten und Sphären des Seienden,52 so ist die wechselseitige Vervollkommnung dieser Einheiten von Beginn an unrealisierbar, denn mit jedem Austausch wird nicht nur das Gemeinsame, sondern auch das Unterschiedene perpetuiert. Mehr noch: Der verfehlte Glaube an die wechselseitige Selbstvervollkommnung wird im Roman als eine narziss52

Pörksen (1981) schreibt in einem erhellenden Aufsatz über die Wahlverwandtschaften, der Roman enthalte eine „Warnung vor der Sphärenvermengung" (S. 290) und vor dem „bequemen Mystizismus" einer unproblematisch gesetzten „Einheit der Natur" (S. 288). Der Roman zeige, dass von der Sprache, insbesondere vom gesprochenen Wort, die „Verfuhrung" (S. 308) ausgeht, „Schranken niederzulegen" (S. 312).

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tische und in der Konsequenz tödliche Illusion dargestellt. Die (tragische?) Ironie kann gerade darin gesehen werden, dass Eduards narzisstische Verkennung von Ottilies Andersheit im Umschlagpunkt der Handlung dazu führt, dass Ottilie sich ganz auf ihre Andersheit, auf ihre eigene „Bahn", zurückzieht. Eduards und Ottilies Empfinden entspricht zwar dem von Miller skizzierten ersten Modell zwischenmenschlicher Beziehungen, aber von der Warte des zuletzt von Miller ins Spiel gebrachten dritten, Goetheschen Modells aus ist das narzisstische Empfinden als defizienter Beziehungsmodus kritisierbar. Neben den beiden realisierten Lektüren, der positiv-metaphysischen und der negativ-linguistischen, ist also eine dritte, vom Interpreten bloß postulierte Lektüre möglich, die man kritisch-metaphysisch nennen kann. Auch eine solche Lektüre könnte vermutlich (in einer vierten Lektüre) dekonstruiert werden, doch genau das tut Miller nicht, weil er den narzisstischen Vervollkommnungswunsch der Hauptfiguren mit der metaphysischen Intention des Romans gleichsetzt. So wenig Millers linguistisch-rhetorische Lektüre die postulierte Erzählironie zu rekonstruieren versucht, so wenig versucht seine metaphysische Lektüre die angedeutete andere Metaphysik Goethes zu rekonstruieren, obwohl deren Andersheit ihm keineswegs unerreichbar ist. Bezogen auf diese andere Metaphysik hätte Millers dekonstruktives Verfahren nicht so reibungslos funktioniert. Goethes Überzeugung von einer unerreichbaren Andersheit der voneinander unterschiedenen (und zugleich doch miteinander verwandten) Wesen gilt nämlich nicht nur für das individuum ineffabile (1985ff, Bd. 11,2, S. 300; an Lavater, 20.[?] 9. 1780) und fur die unterschiedlichen Sphären des Seienden, sondern auch für die Sprache in ihrem Bezug zur übrigen Welt: Die Sprache, schreibt Goethe in einer Vorarbeit zur Farbenlehre, ist „auch eine Erscheinung für sich die nur ein Verhältniß zu den übrigen hat, sie aber nicht herstellen (identisch ausdrücken) kann" (1949ff., Bd. 11,6, S. 186). Bezieht man diese Überlegung auf die plausible Deutung Millers, Pörksens und anderer, dass die Sprache mit ihrem Grundphänomen der gleichnishaften Rede selbst ein Sujet des Romans ist, so ergibt sich die folgende Konsequenz für die von Miller zwar eröffnete, aber nicht durchgeführte dritte Lektüre: Die menschliche Sprache, insbesondere das Verwenden und Deuten von Gleichnissen, wird in den Wahlverwandtschaften als ein eigener Phänomenbereich neben anderen dargestellt; zwar wirkt auch in der Sprache die „Eine Natur", doch die substantielle Einheit des Verschiedenen ist nach der Auffassung des Autors nur zu ahnen und nicht zu begreifen, sie ist ein unlösbares Rätsel, das im Medium ästhetischer Uneindeutigkeit seine angemessene Darstellung findet. Diese dritte, problematisch-metaphysische Lektüre wird durch Millers zweite, linguisti-

228 sehe Lektüre, nicht dekonstruiert: Die Behauptung, dass die Gesetze der metaphorischen Sprache in der Geschichte von Liebe und Ehebruch allegorisiert sind, unterläuft die Goethesche Überzeugung, dass es zwischen der Sprache und den übrigen Sphären einen Hiat gibt und die Sprache, wie jede andere Sphäre auch, auf eine besondere Weise von den verborgenen Gesetzen der einen identischen „Idee" oder „Natur" bestimmt ist. Eine dekonstruktive Lektüre des Romans, die dieser Sprachreflexion gerecht werden wollte, müsste sich auf die metaphysische Dialektik von Identität und Andersheit richten sowie auf die Rhetorik der Goetheschen Symbolik, die alle Phänomenbereiche (einschließlich der Sprache) für analog erklärt und die verbindende „Idee" als „unerreichbar" bezeichnet (Goethe 1985ff., Bd. I, 13, S. 207). Die von Miller postulierte erzählerische Ironie könnte als Markierung dieser Unerreichbarkeit gedeutet werden. Die Widersprüche zwischen den Gegenstandsbestimmungen und den allegorischen Deutungsoperationen haben einen entstehungsgeschichtlichen Hintergrund. Eine frühe Teilfassung seiner WahlverwandtschaftenAbhandlung hat Miller, wie eingangs erwähnt, bereits 1979 in der Zeitschrift Glyph vorgelegt. Im Mittelpunkt dieser Fassung steht die allegorische Deutung des Wahlverwandtschaften-Gleichnisses mit der aristotelischen Metaphern-Theorie. Vollständig entfaltet ist hier bereits die These, die Ehe- und Leidenschaftshandlung des Romans allegorisiere die Gesetze der Sprache und ihre (dekonstruktivistisch untersuchten) Grenzen. Die Ausführungen über die Metaphysik der wechselseitigen Vervollkommnung und über die Desillusionierung der im anderen erfahrenen Leere kommen erst 1992 hinzu. Späteren Datums ist auch die Einsicht in die Selbstdekonstruktion der dekonstruktivistischen Allegorese - diese Einsicht bleibt dann ja bloßes Postulat. In der Fassung von 1992 finden sich schließlich die Bemerkungen über Goethes Metaphysik der unerreichbaren Andersheit und "über die ironische Erzählweise. Die Allegorese wird dabei als ältester Kern in eine Reflexion aufgenommen, die dieses Muster der Bedeutungszuschreibung als ein unterminiertes bestimmt. Bei diesem Entstehungsprozess stellt sich auch das oben analysierte Nebeneinander der illokutionären Funktionen ein. Zunächst wendet Miller ein etabliertes dekonstruktivistisches Muster an: Indem er den Roman interpretiert, stellt er die Lehre der Dekonstruktion am Beispiel der Wahlverwandtschaften und der klassischen Metapherntheorie dar, woraus sich ein Vorrang des behauptenden Interpretierens ergibt. Später wandelt sich die primäre illokutionäre Funktion: Miller will nun die spezifisch ästhetische Manifestation und die romanspezifische Dekonstruktion der idealistischen Metaphysik erörtern. Bei diesem epistemischen Handeln ist der Roman mehr als ein bloßes Beispiel. Miller fragt nun auch mit einer viel

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stärker explanativen Absicht nach der historischen Verfasstheit des speziellen Gegenstands (Goethes Metaphysik und Ironie). Entstehungsgeschichtlich können wir also einen Dreischritt vom behauptenden über das epistemische hin zum explanativen Interpretationshandeln feststellen. Die synchronen Widersprüche der Abhandlung werden mithin als diachrone Widersprüche der Entstehung erkennbar. Diese Erkenntnis liefert aber noch keine Erklärung dafür, dass es Widersprüche bleiben. Warum werden die älteren Passagen nicht nach Maßgabe der später hinzugekommenen Gegenstandsbestimmungen umgearbeitet? Der Hauptgrund dürfte, wie bereits angedeutet, im dekonstruktivistischen Interesse an einem Aufzeigen notwendiger Paradoxien liegen. Diese philosophische Grundüberzeugung setzt sich gegen besseres Wissen durch. Solange ein solches Aufzeigen die Funktion hat, vorschnellen gedanklichen Lösungen entgegenzuwirken und einen Abbruch philosophischer und sprachlicher Reflexion zu verhindern, ist es fruchtbar. Wenn es jedoch die Erörterung eines Gegenstands und das Nachdenken über die Widersprüche des eigenen Verfahrens abkürzt, ist es unfruchtbar. Von einer notwendigen Paradoxie kann im untersuchten Fall keine Rede sein, da Miller auf der Basis seiner zuletzt formulierten Postulate die anfangliche allegorische Setzung hätte zurücknehmen und einen anderen Verweisungsmodus tiöstimmen können. Das vernünftige Prinzip, ein Denken notwendiger Paradoxie zuzulassen, begünstigt hier offenbar die Hinnahme ausräumbarer Widersprüche.

2.4

A n d e r e typische Interpretationsmodi

In den ausfuhrlichen Analysen wurden drei Grundtypen der inhaltlichen Differenz zwischen Erst- und Zweitbedeutung untersucht. Für die Allegorese ist die Typologie, soweit ich sehe, bei hoher Allgemeinheit vollständig: Der allegorische Sinn kann nur ein transzendenter, ein immanent verborgener oder ein negierter sein. Die Typologie ist jedoch mit der Typologie der anderen Verweisungsmodi nicht deckungsgleich: Es gibt formale und inhaltliche Verweisungsmodi, die in den untersuchten Interpretationen nicht vorkommen. Unsere Entscheidung für die Untersuchung typischer Einzelfalle führte dazu, dass einige Verweisungsmodi, die in der Wahlverwandtschaften-Forschung sehr wohl existieren und auch repräsentativ fur literaturwissenschaftliche Interpretationsmuster überhaupt sind, bislang nicht dargestellt wurden. Dies soll nun nachgeholt werden.

230

Hinsichtlich des Selektionsverhältnisses zwischen Erst- und Zweitbedeutung hatten wir bisher folgende Modi analysiert. Bei Benjamin verweist ein herausgelöstes Element (der Stern) auf einen Sinn (Hoffnung auf Erlösung), der nicht der Sinn des gesamten Romans, sondern nur der herausgehobenen Fragmente ist. Bei Miller verweist das narrative Grundgerüst des Romans (die Geschichte von Ehe, Leidenschaft usw.) auf den Sinn (Dekonstruktion des metaphorischen Austausche), wobei der Interpret zeigt, dass auch alle anderen in dem Roman gestalteten Verhältnisse in diesem Sinne auslegbar sind und die herausgehobene Teilstruktur repräsentativ für den Gesamtsinn ist. Bei Buschendorf verweist ein komplexer, über den ganzen Roman sich erstreckender Zusammenhang ausgewählter Erstbedeutungen auf einen ähnlich komplexen Zusammenhang von Zweitbedeutungen. Neben dem Verfahren Benjamins (einzelne bedeutsame Zeichen verweisen auf einen Sinn, der nur ihnen zukommt), dem Verfahren Buschendorfs (ein komplexes Zeichenkontinuum verweist auf einen Sinn, der dem gesamten Roman zukommt) und dem Verfahren Millers (eine fur den gesamten Roman repräsentative Teilstruktur verweist auf einen Sinn, der dem gesamten Roman zukommt) gibt es das verbreitete Verfahren einer Auswahl sehr weniger Zeichen, denen ein für den gesamten Roman geltender Sinn zugeschrieben wird. An einem Aufsatz von Heinz Schlaffer soll dieser formale Modus untersucht werden (2.4.1). Hinsichtlich des Ähnlichkeitsverhältnisses zwischen Erst- und Zweitbedeutung verfahren die drei ausfuhrlich untersuchten Interpretationen einheitlich: Unterstellt wird dort jeweils ein - sei es metaphorischer, sei es metonymischer; sei es einfacher, sei es mehrfacher - Verweis von der besonderen Romanhandlung auf die Ebene einer allgemeinen Aussage oder Lehre (Theologie der Erlösung, Kreislauf der Seele, Gesetze der Sprache). Außer dieser gleichsam vertikalen Verweisung vom Besonderen aufs Allgemeine gibt es den gleichsam horizontalen Verweis vom Besonderen auf ein anderes Besondere (vgl. Kap. 1.1.3, Pkt. 3). Die klassische Form dieser Bedeutungszuschreibung ist die typologische Allegorese, die besondere „Dinge, Gestalten Geschehnisse und Einrichtungen" aus dem Alten und dem Neuen Testament „so gut wie ohne Rest" aufeinander bezieht (Ohly 1979, S. 126). Buschendorfs ikonographische Allegorese, so hatten wir gesehen, unterscheidet sich von der typologischen Deutung gerade in diesem einen Punkt: Nicht die Elemente ganz bestimmter anderer, vorausliegender Erzählungen sind nach seiner Auffassung in den Wahlverwandtschaften gemeint, sondern allgemeine Bildformeln des kulturellen Gedächtnisses. Anders verhält es sich in Gabrielle Bersiers Deutung der Romantik-Bezüge in den Wahlverwandtschaften: Die ausgewählten Elemente von Goethes Roman verweisen

231 dieser Interpretation zufolge nicht auf allgemeine Vorstellungen bzw. Begriffe von Romantik, von Spätromantik oder von spätromantischer Poetik, sondern auf die besonderen Texte eines einzelnen anderen Autors. Dieser Allegorese-Modus eines Verweises vom Besonderen aufs Besondere fuhrt zu spezifischen Interpretationsproblemen (2.4.2). Sämtliche Allegoresen stimmen darin überein, dass sie den gemeinten Sinn für eindeutig und begrifflich angemessen bestimmbar halten. Symbolinterpretationen gehen hingegen von einer hohen Ambiguität der Verweisung aus und von einem Sinn, der den mentalen Status einer begrifflich nicht vollkommen angemessen bestimmbaren Idee oder Vorstellung hat. Auch die Symboldeutung kommt aber nicht darum herum, in einer begrenzten Zahl interpretatorischer Aussagen dasjenige zu formulieren, was sie für das Gemeinte hält. Von der Allegorese unterscheidet sie sich dadurch, dass sie die Exklusivität der eigenen Zuschreibungen und die Endgültigkeit der dabei verwendeten Begriffe relativiert (vgl. Kap. 1.1.3, Pkt. 6). Das Hauptproblem der Symbolinterpretation besteht darin, bei der Bestimmung des Gemeinten Grenzen zu setzen, die weder zu eng noch zu weit sind. Die beiden extremen Unglücksfälle, die sich hierbei ereignen können, sind auf der einen Seite die völlige Entgrenzung der zuschreibbaren Inhalte und auf der anderen Seite der Verzicht auf jegliche inhaltliche Zuschreibung zugunsten der Bestimmung eines Prinzips, das Vieldeutigkeit und begriffliche Unbestimmbarkeit hervorbringt (2.4.3).

2.4.1 Auswahl einer Minimalstruktur (H. Schlaffer) Heinz Schlaffer geht ähnlich wie Bernhard Buschendorf davon aus, dass die eigentliche Wahrheit des Romans eine indirekt dargestellte mythische Ordnung ist (S. 99).53 Diese Ordnung sei identisch mit der nach Goethe in allen Sphären wirksamen „einen Natur", mit dem Schicksal und dem Tragischen (S. 101 f.). Goethe sei „der hermetischen Tradition" darin verpflichtet, „die Relation Gott-Natur-Mensch als Analogie zu begreifen". Weil aber „die von der Hermetik gesuchte Universalsprache" unter den Bedingungen des modernen Rationalismus und der „bedeutungslosen Natur" der Neuzeit nicht direkt formulierbar sei, habe Goethe einen „Ersatz" für eine solche Universalsprache gesucht und seinem Roman eine „versteckte Symbolik" eingeschrieben, die den Mythos, das Schicksal und das Tragische indirekt ausdrücke (S. 100). Es sei Goethes Anliegen gewesen, „den Mythos im Roman zu verbergen, als Roman akzeptabel 53

Seitenangaben dieser Art beziehen sich in Abschnitt 2.4.1 auf S c h l a f f e r 1972.

232 zu machen, auf dem Rücken der realistischen Form Roman als Realität auszugeben" (S. 99). Schlaffer bezeichnet das realistische „Thema" des Romans „als bloßes .Kostüm'" und behauptet, dass „die gesellschaftliche und moralische Problematik, die man zunächst für den Gegenstand dieses Romans [...] halten möchte, neutralisiert wird" (S. 98f.)· 54 Die mythische Ordnung sei im Roman durch Buchstabenspiele „kabbalistischer" und „alchimistischer" Provenienz unterschwellig anwesend. Was in Bezug auf die vordergründige Handlung nur als ein „Darstellungsmittel" erscheine, eben das kabbalistische Surrogat einer hermetischen Universalsprache, sei „eigentlicher Gehalt" (S. 98). Genau wie bei Buschendorf wird in deutlicher Antithese zu Benjamin der Mythos als der Wahrheitsgehalt des Romans bestimmt und die moderne Rationalität als unbedeutender Schein. Anders als Buschendorf, der ein dichtes Kontinuum von Erstbedeutungen aus dem gesamten Roman für die Zuschreibung verborgener mythischer Zweitbedeutungen auswählt, beschränkt Schlaffer sich auf sehr wenige Elemente und deren Konfiguration, nämlich auf die „Namen und Buchstaben in Goethes Wahlverwandtschaften" - So der Titel des Aufsatzes. Nach Schlaffers Deutung hat Goethe „das Schicksal der wahlverwandten Personen seines Romans in den Namen Otto [gejbannt" (S. 88), auf den sich „die Namen der vier Hauptpersonen [...] reduzieren lassen": Dieser gemeinsame Taufname Eduards und des Hauptmanns sei zugleich die männliche Form von Ottilie und ein verdeckter Bestandteil von Charlotte (S. 86). Otto sei „gleichsam als Gattungsname" aller vier Personen lesbar (S. 88). Da die Buchstabenzahl dieses Namens der Zahl der Hauptfiguren gleich ist, ordnet Schlaffer die Buchstaben O-T-T-O den vier Figuren zu. Dabei verfährt er nach jener Reihenfolge und Nomenklatur, die Eduard im vierten Kapitel des ersten Teils wählt, um das chemische Gleichnis der Wahlverwandtschaft zu erklären: Α steht in Eduards Rede für Charlotte, Β für Eduard selbst, C für den „Kapitän", d.h. den Hauptmann, und D für das „Dämchen Ottilie" (WV 1,4, S. 306). Als die Figuren sich im nachfolgenden 5. Kapitel noch einmal scherzhaft dieser Nomenklatur bedienen, erklärt das „B" (Eduard) das „A" (Charlotte) zu „seinem Α und O" (WV 1,5, S. 311). Auf diese Bemerkung stützt Schlaffer seine interpretatorisch folgenreiche Verknüpfung der beiden Buchstabenreihen: „Verklammert werden die parallelen Anordnungen ABCD und OTTO durch Eduards Hinweis auf die Identität von ,A und O', den Initialen der beiden Systeme" (S. 91).

54

Schlaffer setzt das Wort „Kostüm" in Anfuhrung, da er die entsprechende Formulierung Benjamins (1974, Bd. I, S. 141) zitiert.

233 Das unterstellte Buchstabenspiel sieht nun so aus: Eduards Gleichnisrede zufolge soll sich das Β (er selbst) mit dem C (Hauptmann) verbinden und das Α (Charlotte) mit den D (Ottilie). Konträr zu Eduards Prognose verbindet sich im Verlauf des Romans jedoch das Β (Eduard) mit dem D (Ottilie), und in der Folge kommt das Α dem C näher. Wenn man, so nun Schlaffer, die Zuordnung der Buchstaben O-T-T-O zu den vier Figuren betrachte, dann sei die tatsächlich eintretende Neukonfiguration auch die einzig mögliche. Denn die von Eduard vorausgesagte Verbindung A-D und B-C würde die ,,sinnlos[en] Paare O-O und T-T" ergeben, wogegen die Verbindung A-C und B-D durch eine einfache Umstellung „den alten Wortlaut OT-TO restituiert" (S. 92). Die Umstellung, so Schlaffer weiter, kann aber nur deshalb zum selben Wortlaut fuhren, weil das Wort Otto ein Palindrom ist. Gemessen an den Regeln der ,,magisch-kabbalistische[n]" Tradition sei der Name allerdings ein unvollkommenes Palindrom: es fehlt ihm die Mittelachse, ein einzelner, nicht gespiegelter Buchstabe wie z.B. das e in stets. Nach Schlaffers Deutung kann man hierin eine Eigentümlichkeit der Wahlverwandtschaften wiedererkennen: der Zusammenhalt der untergründig verbundenen Personen zerfallt stets in Paare, die an d e m Ganzen, das sie nicht entläßt, schuldig werden. Nur Umgruppierung, nicht tiefere Einsicht ist deshalb das Resultat des Geschehens. Zusammenhang, aber ohne Mitte - die Analyse des Palindroms verrät, daß alle Vermittlungsversuche von vornherein zum Scheitern verurteilt sind: die zweifelhaften Bemühungen Mittlers (dessen ironischer N a m e auf eine Mitte hofft, die hier gerade fehlt) w i e die ephemere Mitte des Kinds Otto, dessen N a m e wiederum signalisiert, daß in ihm gerade nicht die lebendige Verbindung, sondern nur die tödliche Wiederholung des Getrennten wirkt. (S. 89)

Von den Erstbedeutungen werden, wie gesagt, nur die Namen der Hauptfiguren ausgewählt. Die Strukturierung dieser Zeichen erfolgt zum einen durch ihre einfache Reihung und zum anderen durch ihre Zuordnung zu den Buchstaben eines der vier Namen. Die Reihung folgt der an einer ganz bestimmten Stelle des Romans selbst genannten Reihenfolge (Figurenrede Eduards). Die Zuordnung der Reihe zu dem Namen OTTO ist im Roman selbst nicht vorgegeben, sondern wird abgeleitet aus der vom Interpreten unterstellten Zweitbedeutung, wonach der Roman eine kabbalistische Kombinatorik von Buchstaben und Namen enthalte. Die Struktur der Zweitbedeutungen ist folgende: Das Nicht-Aufgehen der Buchstabenumstellung (O-O-T-T) sei Zeichen einer Figurenkonstellation, die der Schicksalsordnung widerspreche und deshalb im Roman nicht eintrete. „In den Buchstaben offenbart sich das objektive Gesetz und enthüllt die Selbsteinschätzung der Figuren als Selbsttäuschung" (S.90); es seien die „Valenzen dieses Namens" Otto, die „den Schicksalsnexus der Romanfiguren entscheiden" (S. 93). Die ungerade Buchstabenzahl des Palindroms Otto sei hingegen ein Zeichen dafür, dass die

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Personen blind, nämlich ohne „tiefere Einsicht", dem Schicksal unterworfen und zur ,,tödliche[n] Wiederholung" verurteilt sind (S. 89). Wenn wir zunächst nur die beiden Seiten der unterstellten Verweisung, nicht schon den unterstellten Verweisungsmodus in den Blick nehmen, lässt sich die Interpretation in folgenden Punkten kritisieren: (a) Die im Roman tatsächlich eintretende Figurenkonstellation EduardOttilie, Charlotte-Hauptmann, die angeblich durch das Palindrom Otto unterschwellig angedeutet wird, folgt gerade nicht der palindromischen Umstellung der Ausgangskonstellation Charlotte-Eduard, HauptmannOttilie. Implizierte die Palindrom-Struktur des Namens Otto tatsächlich die von Schlaffer unterstellte Vorausdeutung auf eine schicksalhaft eintretende Figurenkonstellation, dann wäre dies die Konstellation OttilieHauptmann, Eduard-Charlotte. Ein Leser, der in Kapitel 1,4 tatsächlich mit Schlaffer auf die Idee käme, die von Eduard genannte Reihenfolge der vier Figuren palindromisch umzugruppieren, weil „Otto" ein Palindrom ist, müsste vermuten, dass am Ende Ottilie und der Hauptmann ein Paar werden, während Eduard und Charlotte sich zumindest wieder versöhnen. Die Zeichen entsprechen in diesem Punkt nicht der Struktur, in die sie interpretatorisch gebracht werden, (b) Dasselbe gilt für die Behauptung, dass die Namen Ottilie und Charlotte sich auf den Namen Otto „reduzieren lassen". Zu einer Reduktion auf die Buchstabenfolge „Otto" fehlt den Namen Charlotte und Ottilie ein zweites o.55 (c) Die Behauptung, dass Goethe mit der mythischen Wahrheit des Romans seinen „Protest" gegen die defiziente Versachlichung der Moderne ausdrückt (S. 100), steht unvermittelt neben der Behauptung, dass dieselbe mythische Ordnung den Figuren jede „tiefere Einsicht" verwehrt und sie zur „tödlichen Wiederholung" treibt, (d) Der Interpret verzichtet darauf, die Verträglichkeit seiner speziellen Auslegungen mit ebenso speziellen Hinweisen auf die kabbalistisch-alchemistische Tradition stützen: Wo genau gelten falsche Buchstaben-Konstellationen als Zeichen für schicksalswidrige Verhältnisse und fehlende Mittelbuchstaben als Zeichen einsichtsloser Unterworfenheit unter das Schicksal?

55

Bei der allegorischen Deutung vernachlässigt Schlaffer also einen Buchstaben des von ihm genau untersuchten und palindromisch gewendeten Namens Otto. „Bei der Exegese [steht] das Drehen und Wenden jedes Buchstabens brüsk neben der vollkommenen Vernachlässigung desselben bei der Allegorese", schreibt Paul Michel (1987, S.495) über ein wiederkehrendes Muster der christlichen Bibelauslegung. Als Ursache dieser Spaltung bestimmt er den bereits in den Paulus-Briefen erkennbaren Widerspruch zwischen der Lehre, die heilige Schrift sei Wort für Wort von Gott eingegeben (2Tim 3,16), und der Lehre, der Buchstabe töte den Glauben, während der Geist ihn lebendig mache, weshalb ein Verständnis des alten Testaments nur erlangen könne, wer sich vom Buchstaben löst (2Kor 3).

235 Diese Probleme auf der Seite der Zweitbedeutungen sollen uns nur am Rande interessieren, denn sie sind nicht typisch für den hier untersuchten formalen Verweisungsmodus. Es geht uns ja vor allem um Interpretationsprobleme, die daraus entstehen, dass ein Zusammenhang extrem weniger ausgewählter Zeichen des Romans mit einem Sinn belehnt wird, der für den gesamten Roman Geltung haben soll. Eine derartige Hervorhebung und weitreichende Ausdeutung sehr weniger Textelemente ist für die Literaturwissenschaft durchaus typisch. Das zentrale Problem besteht darin, dass das syntagmatische Umfeld der herausgehobenen Zeichen von der Bedeutungszuschreibung zwar mitbetroffen ist, bei der Bildung dieser Zuschreibungen aber keine Rolle spielt. Die interpretatorische Vernachlässigung des Umfelds führt zu methodischen Einzelproblemen, die jeweils an einem Beispiel aus Schlaffers Deutung aufgezeigt werden sollen: (a) Die Interpretation erfolgt deduktiv. Die Entkopplung der ausgewählten Zeichen aus ihrem textuellen Zusammenhang führt zur semantischen Entleerung der Erstbedeutungen und erleichtert die Zuschreibung einer mit den Erstbedeutungen inhaltlich nicht verträglichen Zweitbedeutung. Die einzelnen Zeichen, deren Semantik kaum noch durch ihre Stellung in Satz- und Isotopie-Zusammenhängen bestimmt ist, werden gleichsam anfallig für die Infektion mit deduktiv zugeschriebenen Bedeutungen, denen sie keine abweichenden Bedeutungen entgegensetzen können. Dadurch wird das Verfahren im prägnanten Sinne unhermeneutisch. So ist Schlaffers Behauptung, der Name „Otto" umfasse als ein „Gattungsname" die Namen „Ottilie" und „Charlotte", nachgerade widersinnig, wenn man nicht bloß die reine Buchstabenfolge fixiert, sondern sich verdeutlicht, dass die beiden Frauennamen in eine umfangreiche Isotopie von Weiblichkeitsvorstellungen eingebunden sind und als solche nicht der gleichen „Gattung" angehören können wie der männliche Name Otto. Die vereinheitlichende Zuschreibung einer „Gattung" erfolgt deduktiv aus der Vorannahme, es manifestiere sich in den Figuren und ihren Namen eine einheitliche mythische Natur. Die abweichende induktive Erkenntnis, dass sich in den Figuren und ihren Namen höchst differente menschliche Naturen manifestieren, wird dadurch verstellt, dass die interpretierten Zeichen aus allen ihren romaninternen Zusammenhängen entkoppelt werden. Auch die Frage, welche Bedeutung die Namensähnlichkeit tatsächlich hat, wird so verstellt. (b) Die Belegfunktion anderer Zeichen wird suspendiert. Die semantische Entleerung der Einzelstellen führt dazu, dass die Zweitbedeutungen sich am syntagmatischen Umfeld nicht belegen lassen. Dies zeigt sich an den Argumenten, mit denen hier die Zuordnung des Namens Otto zu den vier Figuren gestützt wird. Zunächst argumentiert Schlaffer mit dem for-

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malen Indiz der Vierheit, „dem ,zufalligen' Faktum [...], daß der identische Name Otto ebenfalls aus vier Buchstaben besteht" (S. 91). Das Uneigentlichkeitszeichen, mit dem das Wort zufällig markiert ist, besagt, dass die Übereinstimmung in der Vierheit alles andere als zufallig sei und bloß einer oberflächlich-realistischen Lektüre als zufällig erscheinen möchte. Der Interpret unterstellt also, dass die verbindende Vierheit ein vom Autor gezielt gesetztes Indiz ist, kein bloßer Zufall. Mit dem Hinweis auf die Vierheit ließe sich allerdings jedes vierbuchstabige Wort des Romans auf die mit den Platzhaltern A-B-C-D bezeichneten Figuren oder auf den Namen Otto beziehen - und auch jedes nicht im Roman vorkommende Wort mit dieser Eigenschaft. Umberto Eco vergleicht Belege von dieser Allgemeinheit mit dem am Ort eines Verbrechens gefundenen „Exemplar der am meisten verbreiteten Morgenzeitung". Wird dieses Exemplar als „Indiz" behandelt, so deutet es „auf eine Million möglicher Verdächtiger" (1992, S. 119). Diese Kritik trifft auch Schlaffers zweites Argument fur die exegetische Koppelung von A-B-C-D an O-T-T-O, nämlich „Eduards Hinweis auf die Identität von ,A und O', den Initialen der beiden Systeme" (S. 91). Die Herauslösung der Formulierung „A und O" aus dem biblischen Kontext, auf den sie unzweideutig anspielt, macht es möglich, den Buchstaben Ο von einem Zeichen für „das Ende" und den „Letzten" (Offb 1,8; 22,13) zum Zeichen fur einen Wortanfang („Initial") umzudeuten. Hätte Schlaffer seine Deutung mit Eduards vollständiger Äußerung verbunden, dann hätte er weitaus detaillierter begründen müssen, wie Erstbedeutung (Eduard erklärt Charlotte zu „seinem Α und O") und Zweitbedeutung (Goethe verklammert A-B-C-D mit O-T-T-O) aufeinander bezogen sind. Spinnt man Schlaffers Deutung unter Berücksichtigung der religiösen Bedeutung des Ausdrucks „A und O" fort, so gelangt man zu der abstrusen Behauptung, Charlotte stehe fur eine Instanz, in der nicht nur das Α und das O, sondern auch die Buchstaben der anderen Kette O-T-T-O sowie die vier damit angeblich bezeichneten Figuren koinzidieren. Der Bezug auf die textuelle Umgebung macht die Deutung fragwürdig. Von ihrer Umgebung entkoppelte Zeichen können ungemein viel bedeuten, weshalb sie als Belege wertlos sind. (c) Abweichende Interpretationen des textuellen Umfelds werden nicht berücksichtigt. Die extrem starke Auswahl schützt die Deutung vor einer möglichen Relativierung oder Falsifikation durch das textuelle Umfeld. So vernachlässigt Schlaffer die Tatsache, dass die Zuordnung der Platzhalter A, B, C und D zu den vier Protagonisten, die ja in Eduards Figurenrede erfolgt, allein schon durch die sonstige Zeichnung dieser Figur als eine fragwürdige Perspektive problematisiert wird. 56 Wenn Eduard 56

Der Interpretation Schlaffers liegt die Auffassung zugrunde, Buchstabenkombinationen

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sagt: „Du stellst das Α vor, Charlotte, und ich das B: denn eigentlich hänge ich doch nur von dir ab und folge dir wie dem Α das B" (WV 1,4 S. 306), und wenn er Charlotte später als sein „A und O" bezeichnet (WV 1,5, S. 311), so kann der Leser längst eine andere Sicht des Verhältnisses gewonnen haben. Vieles spricht dafür, daß Charlotte von Eduard abhängt, da sie stets seinen Wünschen folgt, die ihrem eigenen Willen widerstreben: seinem Heiratswunsch und seinem Wunsch, den Sommer gemeinsam mit einem Dritten, dem Hauptmann, zu verbringen. Die Äußerung Eduards, der Mensch sei „ein wahrer Narziß" (WV 1,4, S. 300), kann der Leser als eine indirekte erzählerische Charakterisierung des Sprechers verstanden haben. Aus alledem könnte die Auffassung resultieren, dass nicht Charlotte, sondern Eduard sich selbst das Α und Ο ist. Wenn ein solcher Leser Eduards Zuordnung der Buchstaben zu den Namen entsprechend ändert (A=Eduard, B=Charlotte), so gelangt er aus inhaltlichen Gründen zu der von Schlaffer erst unter Abstraktion von allen Inhalten gewonnenen Vorausdeutung auf die doppelte Wahlverwandtschaft Eduard-Ottilie und Charlotte-Hauptmann. Weitaus leichter noch gelangt man durch eine konventionelle Genre-Erwartung zu eben diesem Resultat: Wenn Eduard die vom Hauptmann als ein „Vereinigen gleichsam übers Kreuz" (WV 1,4, S. 305) bezeichnete doppelte Wahlverwandtschaft auf Charlottes künftige Verbindung mit Ottilie und auf seine eigene Verbindung mit dem Hauptmann bezieht, so dürften viele Rezipienten, die das Buch als einen Eheroman zu lesen begonnen haben, bereits ahnen: Der Autor (oder Erzähler) hat eine andere, viel stärkere Über-Kreuz-Anziehung im Sinn. Die konventionellen „Liaisons dangereuses" liegen schlichtweg „sehr viel näher" (Schings 1989, S. 177).57 Welche illokutionäre Funktion herrscht in dieser Interpretation vor? Zunächst die explanative: Der Zusammenhang zwischen der Namenswahl, der Gleichnisrede und dem tragischen Ausgang des Romans wird erklärt mit einer mythischen Wahrheit und einer hermetischen Darstellungsweise. Was die Interpretation, wie gesehen, nicht erklären kann, ist jedoch die Tatsache, dass sich der Zusammenhang zwischen Gleichnis-

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könnten unabhängig vom semantischen Zusammenhang des Textes dessen Sinn enthalten. Der Glaube an den „literalen Buchstabenwert des Sprachmaterials" wird im Roman aber, wie Elisabeth von Thadden (1993, S. 183) zeigt, als eine irrtümliche Auffassung Eduards bloßgestellt. Auch die Beschreibung der sängerischen Darbietungen Lucianes enthalte eine Kritik an der sinnwidrigen Zerstückelung eines Textes zu - wie es im Roman heißt - „nichts als Vokale[n]" und zum bloßen „Alphabet" (WV 11,5, S. 426). Der Leser kann die Gleichnisrede als „kleine Komödie der Selbsttäuschung" verstehen, denn er hat allein schon „aus seiner Lesererfahrung heraus ein Gespür für den Täuschungsmechanismus, der sich hinter Eduards Selbstgewißheit verbirgt" (Allemann 1973, S.202; 205).

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rede, tragischem Ausgang und der transsubjektiven Macht der Natur viel einfacher erklären lässt, nämlich im Rekurs auf die psychologische Figurenzeichnung und auf eine bestimmte Romankonvention. Der explanative Sprechakt misslingt unter anderem deshalb, weil die Interpretation nicht zu erklären vermag, dass der Text jenen Sinn, der sich so leicht erschließen lässt, auch noch in einem komplizierten allegorischen Verweisungsmodus darstellt. Die anderen Zeichenzusammenhänge, die viel einfacher auf dieselbe Wahrheit verweisen, werden nicht untersucht, sie werden abgekoppelt. Auf genau diese problematische Abkoppelung wollen wir den Blick unserer pragmatischen Analyse richten: Was tut Schlaffer, indem er nur den hermetischen Zusammenhang zwischen Namen, Buchstaben und tragisch-mythischer Wahrheit erklärt, nicht aber den exoterischen Zusammenhang zwischen Figurenpsychologie, Gattungskonvention und derselben Wahrheit? Er behauptet einen Gegensatz, genauer einen inhaltlichen Gegensatz zwischen der hermetisch-kabbalistischen und der realistischen Aussage des Romans. Diesen Gegensatz zeigt er jedoch nicht am Text auf, weil er eben nur die eine Seite untersucht, die behauptete hermetische, nicht aber die andere, die realistische. Bestimmt man als Pointe von Schlaffers Interpretationsakten die Behauptung, dass der eigentliche Sinn im Roman hermetisch verborgen sei und im Gegensatz zur oberflächlich-realistischen Aussage stehe, so zeichnen sich andere illokutionäre Funktionen als die der Explanation ab. Die Zuschreibung der esoterischen Zweitbedeutung hat die Funktion, Goethes (unterstellten) Protest gegen die neuzeitliche bzw. moderne Versachlichung der Natur als ein subversives, inoffizielles, den Haupttendenzen des Zeitgeistes widerstrebendes literarisches Handeln zu behaupten.58 An den herausgebrochenen Text-Elementen Namenswahl und Gleichnisrede wird diese Behauptung dargestellt, aber die Darstellung gewinnt keine explanative Funktion. Wollte man Namenswahl und Buchstabenspiel als einen devianten, protesthaften und darum exklusiven Verweis auf die Wahrheit erklären, müsste man zeigen, dass die konventionellen Techniken des Romans auf diese Wahrheit nicht verweisen. Dieser Nachweis erfolgt nicht; die Erklärung der Namen und Buchstaben bleibt in Relation zum Interpretandum eine bloße Behauptung: Goethe sei ein hermetisch operierender Modernitäts-Kritiker gewesen. Der behauptende Akt ist zu58

Die Unhaltbarkeit dieser Behauptung zeigt sich schon daran, dass einige Haupttexte der Epoche wie Schillers Gedicht Die Götter Griechenlands ganz exoterisch und explizitbegrifflich die angeblich nur noch esoterisch kritisierbare Versachlichung anklagen: „Gleich dem todten Schlag der Pendeluhr,/ Dient sie knechtisch dem Gesetz der Schwere/ Die entgötterte Natur" (1943ff., Bd. 11,1, S. 366), wie denn die Wiederverzauberung und Remythologisierung schlechterdings das offizielle Kunstprogramm der Romantik ist.

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gleich evaluativ: Indem der Interpret dem Roman einen subversiven Protest gegen die offizielle Rationalität der Moderne unterstellt, wertet er ihn positiv, während er den Gegenbegriff des Realistischen negativ wertet. Verallgemeinernd können wir sagen: Eine Interpretation, die einen komplexen Text durch die semantische und strukturelle Herauslösung weniger Zeichen generalisierend erklären will, ist in besonderem Maße der Gefahr ausgesetzt, dass die Erklärung einer bloßen Behauptung weicht. Denn die zusammenhanglosen, semantisch depotenzierten Zeichen gestatten kaum noch eine Negation deduktiver Zuschreibungen. Abschließend seien einige Mutmaßungen59 über die historischen Handlungsbedingungen der analysierten Interpretation angestellt. Schlaffer verfasst sie zu einer Zeit, in der gegen Goethes Werk verschiedene politisch gemeinte Vorwürfe erhoben werden, unter anderem die Vorwürfe einer ungenügenden Auseinandersetzung mit der modernen Wirklichkeit, einer antirevolutionären Flucht in antike oder antikisierende Harmoniemodelle, einer mangelnden Parteinahme für die eigene bürgerliche Klasse bei gleichzeitigem Paktieren mit dem Ancien regime oder gar der Vorwurf einer fehlenden Parteinahme für den vierten Stand (vgl. die Darstellung bei Mandelkow 1989, S.218ff.). Unter dieser Bedingung wird vielleicht der Furor verständlich, mit dem Schlaffer Goethes (angebliches) Desinteresse an der modernen Wirklichkeit einerseits konzediert, um dann andererseits zu sagen, dass die Hinwendung zur Vormoderne die Funktion hat, gegen bestimmte Erscheinungen der Moderne zu polemisieren. Indem der Interpret die realistische Oberwelt für unbedeutend und unmaßgeblich erklärt, nimmt er den Goethe-Gegnern den Wind aus den Segeln, um dann im Fahrwasser der untergründigen Modernitätskritik an ihnen vorbeiziehen zu können: Wer Goethes konventionellen Realismus kritisiert, verharrt in semantischer Flaute, wer Goethes esoterischen Protest erspäht, hat glückliche Fahrt. Dass Schlaffer die verborgene Wahrheit einer hermetisch-kabbalistischen Kombinatorik der Buchstaben als Interpretament wählt, bedarf um so mehr einer historischen Erklärung, als diese Deutung in der Wahlverwandtschaften-? orschung der 80er Jahre geradezu paradigmatisch wurde.60 Statt einer schlüssigen Erklärung sollen einige Deutungsmöglichkeiten aufgelistet werden, (a) Der 1969 erschienene erste Band von Rolf Christian Zimmermanns Studie Das Weltbild des jungen Goethe unter59

60

Die folgenden Bemerkungen haben den Status eines subjektiven Vorgriffs auf eine ausstehende historische Diskursanalyse der Literaturwissenschaft um 1970 und erfolgen im Bewußtsein ihres ungeschützt Thetischen. Hörisch (1992, S. 149ff; zuerst in Bolz 1981, S.308ff.), Zons (1981) und Wiethölter (1982) knüpfen in ihren Untersuchungen zur Bedeutung von Buchstabenkombinationen in den Wahlverwandtschaften an Schlaffers Aufsatz an.

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stellt ein primär von hermetischen Einflüssen geprägtes Denken, das sich auch in den Hauptwerken noch auspräge; diese extrem gründliche, aber auch extrem einseitige Einfluss-Studie war von beträchtlicher Wirkung möglicherweise steht auch Schlaffer unter diesem Einfluss, (b) Die von jeglicher Bildvorstellung gelöste61 Kombinatorik der bloßen Signifikanten ist eine besonders markante Antithese zum abgewerteten literarischen Realismus, (c) Die Behauptung einer Goetheschen Kabbalistik ist ein deutlicher Einspruch gegen die im Nationalsozialismus aufgebrachte62 und tatsächlich abwegige Behauptung antisemitischer Tendenzen bei Goethe, (d) Die Funktionalisierung kabbalistischer Verfahren für eine positive Wertung des Mythischen kann als eine implizite Auseinandersetzung mit Walter Benjamin verstanden werden: Aus der grüblerischen Versenkung in die einzelnen Zeichen, die nach Benjamin den Allegoriker kennzeichnet, resultiert eine Erkenntnis, die Benjamins Abwertung des Mythischen zur „blinden Erdschicht bloßen Sachgehalts" revidiert. Die Aufwertung des Mythischen Denkens als eines Residuums unabgegoltener Modernitätskritik wird so vereinbar mit einer positiven Anknüpfung an Autoren der Kritischen Theorie, (e) Die Konzentration auf Grapheme und Lexeme mag auch strukturalistischen Tendenzen entsprechen; die vollständige Unterordnung der Semantik unter die Schrift weist eine Nähe zu neostrukturalistischem Denken auf - was allerdings weniger die Entstehung als die Wirkung des Aufsatzes erhellen dürfte.

2.4.2 Verweisung vom Besonderen aufs Besondere (G. Bersier) Die in den USA lehrende Literaturwissenschaftlerin Gabrielle Bersier veröffentlichte 1997 eine Monographie mit dem Titel Goethes Rätselparodie der Romantik. In der Untersuchung heißt es dann näher definierend, die Wahlverwandtschaften seien eine „romanhafte Parodie des Gesamtwerks Friedrich Schlegels" (S. 160).63 Noch enger grenzt die Interpretin den Gegenstand der unterstellten parodistischen Kritik dadurch ein, dass sie von einer weitgehenden Übereinstimmung zwischen Schlegels frühromantischer und Goethes klassischer Poetik spricht, nämlich von einer gemeinsamen „Ästhetik der klassisch-frühromantischen Schule" (S. 95): Erst durch die Konversion zum Katholizismus und die Veröf61

62 63

Allerdings enthält bereits der Wiederabdruck von Schlaffers Aufsatz in dem 1981 von Norbert Bolz herausgegebenen neostrukturalistisch geprägten WahlverwandtschaftenSammelband (S. 211-229) einen Exkurs über „Ein antikes Todesbild in den Wahlverwandtschaften'" (S. 222ff.). Koch, Franz: Goethe und die Juden. Berlin 1937. Seitenangaben dieser Art beziehen sich in Abschnitt 2.4.2 auf Bersier 1997.

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fentlichung der Sanskrit-Studien in demselben Jahr, in dem auch Goethes Arbeit an den Wahlverwandtschaften begann (1808), sei Schlegel zum „Kontrahenten" (S. 83 u.ö.) und zum Objekt der Kritik geworden. Auf verdeckte, verrätselte Weise kritisiere der Roman die Tatsache, dass Schlegel seinen ursprünglich pantheistischen und spinozistischen Auffassungen abgeschworen habe zugunsten des Katholizismus und der Emanationslehre. Parodistisch aufgespießt werde beispielsweise, dass Schlegel in Zusammenhängen der Etymologie und der literarischen Überlieferung versucht habe, die lebendigen, mannigfaltigen Manifestationen des alltäglichen und des dichterischen Wortes auf den Einen göttlichen Ursprung zurückzufuhren. Nicht nur gilt Schlegels Poetik als das durchgängige Sujet des Romans, sondern überdies die Person des Kontrahenten als der „Geheimadressat des Romans" (S. 70). Die Wahlverwandtschaften seien ein „listiges Gegenmanöver" Goethes gegen Schlegels Angriffe auf klassische und frühromantische Positionen (S. 87). Zwecks „Revanche" (S. 92) lade der Parodist den „Rivalen zu einer modernen Variante der mittelalterlichen Rätselkämpfe ein" (S. 73). Das parodistische Verfahren wird bestimmt als „allegorisch verschlüsselte Mitteilung", die es in einer „allegorischen Lektüre" zu „dechiffrieren" gelte (S. 147; 153). Bei der Auswahl sowohl der Erstbedeutungen als auch der Zweitbedeutungen verfahrt Bersier deutlich selektiv: Stark eingegrenzte Stellen des Romans, d.h. ganz bestimmte Eigenschaften, Handlungen, Äußerungen usw. werden entsprechend stark eingegrenzten Einzeltexten und Textstellen Friedrich Schlegels zugeordnet. Diese intertextuelle Selektivität und Referentialität der Interpretation in Bezug auf das Interpretandum (Wahlverwandtschaften) und das Interpretament (Schlegels Poetik) wird in der Intertextualität des Romans selbst begründet: Die ausgewählten Stellen des Romans parodierten ganz bestimmte Stellen bei Schlegel. Der unterstellten Intertextualität entspricht der unterstellte Verweisungsmodus vom Besonderen aufs Besondere. Zunächst seien einige wichtige Stationen der Interpretation genannt und ein besonders aussagekräftiges Beispiel der Allegorese beschrieben. Bersier deutet die am deutlichsten scheiternden Figuren des Romans gleichermaßen als Allegorien der geistigen Physiognomie Friedrich Schlegels: Eduard stehe einerseits für den frühen Schlegel, den „Verfechter der modern-romantischen Liebes- und Eheauffassung" (S. 62), andererseits für den späteren Schlegel, dessen „katholische Konversion" im Roman dadurch „mimisch nachvollzogen" werde, daß Eduard im zweiten Kapitel des ersten Teils entgegen seiner sonstigen Gewohnheit über den Kirchhof reitet (S. 108). Die temporale Struktur der Zweitbedeutungen wird hier wie an vielen anderen Stellen nicht mit der narrativen Zeit-

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struktur des Romans in Übereinstimmung gebracht: Bevor der Romanleser irgend etwas über Eduards (frühromantisch gedeutete) Liebesauffassung erfährt, verkörpert die Figur Schlegels hochromantische Konversion. Im Fall der Ottilie-Figur stellt die Interpretin hingegen eine Strukturanalogie her: Hier sei „die paradoxe poetologische Laufbahn Friedrich Schlegels zu einer trauervollen weiblichen Entwicklungsgeschichte zusammengesponnen" (S. 141). Ottilie verkörpere zunächst das klassische Schönheitsideal des jungen Schlegel, sei am Ende jedoch die „verstummte Leiche der klassischen Poesie" (S. 202) und zugleich eine christliche „Heilige" (S. 47). In ihrer „Schriftveränderung" materialisiere sich „die wachsende allegorische Tendenz der Poetik Schlegels" (S. 148); mit ihrer „wankelmütigen Gehweise" spiele Goethe auf die geistige Gangart seines Antipoden an (S. 149). Schließlich repräsentiere die Mittler-Figur Schlegels Idee der „philosophischen Kritik" als eines „Mittelgliedes zwischen tätiger und geistiger Lebenssphäre" (S.96). Da der Romantiker dieses eigene Konzept in Lessing präfiguriert sah, habe Goethe „Mittler mit den Charakterzügen des Lessing-Portraits Friedrich Schlegels" versehen (S. 103). So wie mehrere Figuren als Personifikationen Schlegels gelten, sieht die Interpretation auch einzelne seiner Gedanken durch unterschiedliche Motive des Romans allegorisiert: Die Theorie der „Familienverwandtschaft" indoeuropäischer Sprachen aus Schlegels Abhandlung Sprache und Weisheit der Indier sei insgeheim gemeint mit der Metapher der chemischen Wahlverwandtschaft, mit dem Wortstamm „Otto" (S. 80f.) im Namen aller vier Hauptfiguren sowie mit Eduards gärtnerischer Tätigkeit des Pflanzens und Pfropfens (154f.). Das ausfuhrlich zu referierende, weil sehr komplizierte ExegeseBeispiel steht in einem anderen thematischen Zusammenhang. Es betrifft die von Schlegel und Goethe unterschiedlich eingeschätzte Rolle der mündlichen und der schriftlichen Überlieferung in der Geschichte der Poesie. Schlegel habe gemäß dem Pauluswort „denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig" (2Kor 3,6) die größere Nähe des mündlich Überlieferten zum göttlichen Ursprung propagiert; Goethe habe gegenüber dieser „Verabsolutierung der mündlichen Überlieferung" (S. 121) den Wert der literarisch-schriftlichen Tradition betont. Diesen Dissens mit Schlegel habe Goethe, so Bersier, in den Episoden um jenes Kelchglas allegorisiert, dem der Protagonist in der Jugend die Initialen seines angenommenen Vornamens Eduard und seines Taufnamens Otto, Ε und O, hat eingravieren lassen. Goethe habe das „Kelchglasrätsel" (S. 117) ersonnen, um das überlieferungstheoretische „Dogma des Gegners zu demontieren" (S. 121). Eduard wirft das besagte Glas bei der Grundsteinlegung zum Lustgebäude in die Luft, „denn", so kommentiert der Erzähler, „es bezeichnet

243 das Übermaß einer Freude, das Gefäß zu zerstören, dessen man sich in der Fröhlichkeit bedient" (WV 1,9, S. 334). Das Glas bleibt jedoch unzerstört, weil einer der „Arbeitsleute" es auffängt (ebd.). Nachdem Eduard sein Haus verlassen hat, kauft er das Glas für einen hohen Preis zurück. Die Buchstaben deutet er nun als Initiale der Namen Eduard und Ottilie und sieht in dem Vorfall bei der Grundsteinlegung ein Zeichen: „Mein Schicksal und Ottiliens sind nicht zu trennen, und wir werden nicht zu Grunde gehen" (WV 1,18, S. 390). In der Tatsache, daß der Arbeitsmann das Glas zunächst behält, sieht Bersier eine Anspielung auf Schlegels Aussage, „wahrhaft geistliche Volkslieder" lebten „im Munde und Gesänge des Volkes". Dass Eduard das Kelchglas zum Symbol der Unzerstörbarkeit seiner Bindung zu Ottilie erklärt, ist für Bersier als eine Kritik an der Schlegelschen Überlieferungslehre gemeint: Wäre der Sinn im Volksmund tatsächlich lebendig erhalten geblieben, dann hätte Eduard die Intaktheit des Glases als Unheilswarnung verstehen müssen. Um diese zunächst etwas abstrus erscheinende Allegorese besser nachvollziehen zu können, muss man die beiden Teile der unterstellten Allegorie auseinanderhalten: Der Arbeitsmann bzw. sein Mund steht für das Volk, in dessen Mund die wahrhaft geistlichen Lieder leben; das Kelchglas steht für die Volkslieder. Diese zweite und besonders schwer nachvollziehbare Bedeutungszuschreibung begründet Bersier damit, dass die Gravur des Glases eine „Volksliedreferenz" enthalte: Die Buchstaben E - 0 bildeten den Kehrreim jener berühmten, von Herder übersetzten und von Goethe wegen des (schriftlich tradierten) „Ton- und Klangelements" besonders geschätzten schottischen Edward-Ballade, die auch für die Namenswahl des Roman-Protagonisten ausschlaggebend gewesen 64 sei. Hier die erste Strophe der bei Bersier (S. 68f.) vollständig wiedergegebenen Ballade: Dein Schwert, wie ist's von Blut so Edward, Edward! Dein Schwert, wie ist's von Blut so Und gehst so traurig her? - O! Ο ich hab geschlagen meinen Geier Mutter, Mutter! Ο ich hab geschlagen meinen Geier Und keinen hab ich wie er - O!

rot? rot tot, tot,

Die Vokale des Kehrreims, Ε und O, sind mit den Buchstaben auf dem Kelchglas identisch. Weil der Kehrreim auf ein Unheil verweist - Edward hat in Wahrheit seinen Vater erschlagen - hätte dem Eduard der Wahlverwandtschaften aus den Buchstaben seines Glases ein „Warnsig64

Bersier stützt dieses Detail auf Überlegungen von Oellers 1982.

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nal" entgegentönen müssen, wäre das Leben der Lieder im Mund des Volkes tatsächlich eine lebendige Überlieferung: Wären die Buchstaben noch lebendige, bedeutungstragende Laute, dann würde aus dem in den Anfangsbuchstaben seines Doppelnamens wiederholten Motiv der EdwardBallade ein Warnsignal tönen. Eduard würde sich vor dem Glas wie vor einem Verhängnis scheuen. Aber die Warnung wird überhört, weil die klassisch-frühromantische Klangsprache durch die geistige Eigentlichkeitslehre des Sprachmetaphysikers Schlegel überwunden und zum Verstummen gebracht worden ist. (S. 123)

Dadurch, dass Eduard das intakte verschlungene Initial E - 0 auf dem zurückgekauften Glas falsch als Glückssymbol deute, werde die Schlegelsche Verabsolutierung der volkstümlich-oralen Überlieferung als „ein falsches folkloristisches Konstrukt" (S. 120) und als eine hochromantische „Selbsttäuschung und Fälschung bloßgestellt" (S. 122). Der typologische Verweisungsmodus von-Besonderem-auf-Besonderes führt hier zu einer Reihe von Interpretationsproblemen, die sich mit Hilfe unsrer Unterscheidungen innerhalb der Kategorie Verweisungsmodus aufzeigen lassen. (a) Veränderungen bei der Selektion. Weil jedem besonderen Element der Zweitbedeutung (hier des unterstellten poetologischen Streits) mindestens ein besonderes Element der Romanhandlung entsprechen muss, greift die typologische Allegorese z.T. zu dem Mittel, fehlende Elemente auf Seiten der Erstbedeutung stillschweigend selbst hinzuzufügen oder deren Fehlen zu einem positiven Beleg umzudeuten. Ersteres geschieht in der referierten Kelchglas-Exegese. An keiner Stelle des Romans ist die Rede davon, dass der Arbeitsmann den Kelch zum „Mund" führt. Dieses Wort, das in der unterstellten Zweitbedeutung (Volksmund) von zentraler Wichtigkeit ist, kommt auf der Ebene der Erstbedeutungen schlechterdings nicht vor. Was der Mann aus dem Volke mit dem Glas tut, bleibt ungesagt, und doch behauptet Bersier, im Roman gebe es eine „magische Lippenberührung des Maurers" (S. 120). An anderer Stelle wird ein fehlendes Element in einen positiven Beleg umgedeutet. Bersier liest dort drei unterschiedliche Beschreibungen Ottilies als Anspielungen auf Schlegels Beschreibung dreier Raffaelscher Madonnen, stellt freilich fest, dass die dritte Ottilien-Beschreibung gerade nicht der erwarteten dritten Raffael-Beschreibung bei Schlegel entspricht, sondern, abweichend von Schlegels Reihe, einem Gemälde Correggios. Bersier kommentiert: „Da kein einziges Wort aus Schlegels Schilderung dieses Gemäldes in Goethes Roman eingegangen ist, könnte man leicht der Versuchung erliegen, jene mutmaßliche Vorlage als irrelevant zu übergehen" (S. 182). Dieser „Versuchung" widersteht die Interpretation jedoch mit der Argumentation, die fragliche Raffael-Madonna passe gleichwohl thematisch und wegen der „emblematischen Darstellungs-

245 weise" zu der Stelle im Roman (ebd.). Spezifische Textbelege, die sonst das Α und Ο dieser typologischen Allegorese sind und auch bei der Deutung der beiden ersten Gemälde-Bezüge aufgeboten werden, gelten plötzlich als irrelevant und werden durch Übereinstimmungen ersetzt, die so allgemein sind, dass tausende von Bildern an der fraglichen Stelle gemeint sein könnten, nämlich alle emblemartigen Madonnendarstellungen. (b) Entstrukturierung. Autoren allegorischer Romane stehen - wie schon mehrfach erwähnt - vor dem grundsätzlichen Problem, eine narrative und eine gedankliche Struktur miteinander in Übereinstimmung zu bringen. In der narrativen Allegorie müssen - um nochmals Karl Ludwig Pfeiffer zu zitieren - „erstens die Terme der Theorie einen logischen Spielraum besitzen, um mit einer hinreichend differenzierten narrativen Struktur verträglich zu sein. Zweitens darf die erzählerische Differenzierung jedoch die Grenze bestimmter Schematisierungen nicht überschreiten, weil sonst die Theorie nicht fortdauernd umgesetzt werden könnte" (1977, S. 582). Bersiers Grundüberzeugungen zufolge ist Goethes Roman eine „allegorisch verschlüsselte Mitteilung". Wären die Wahlverwandtschaften tatsächlich eine narrative Allegorie, dann hätte der Autor sich vermutlich wenigstens annähernd an den KongruenzNormen der entsprechenden Roman-Tradition orientiert. Er hätte vielleicht die unterschiedlichen Romanfiguren zu Trägern unterschiedlicher Gedanken gemacht und im Fortschritt der Handlung einen gedanklichen Prozess allegorisiert. In Bersiers Interpretation besitzt die Struktur der ausgewählten Erstbedeutungen jedoch nur eine sehr rudimentäre Kohärenz mit der Struktur der zugeschriebenen Poetik. Dass beide Hauptfiguren der Liebeshandlung und überdies die Mittler-Figur ein und dieselbe Person Schlegel allegorisieren sollen, ist eine äußerst kühne Deutung, misst man sie an der Tradition des allegorischen Romans. Dasselbe gilt für die Behauptung, Eduard und Ottilie verkörperten nicht etwa zwei gegensätzliche Stadien der gedanklichen Entwicklung Schlegels oder zwei polare Facetten seines Denkens, sondern je für sich genommen seinen gesamten wechselvollen denkerischen Weg, und dies - wie im Falle Eduards gezeigt - auf eine temporal diskontinuierliche Weise. Auch die angebliche Mehrfach-Allegorisierung des Theorems Sprachenverwandtschaft widerspräche den Strukturnormen des allegorischen Romans. Zudem vernachlässigt die Interpretin weitgehend die beiden anderen Hauptfiguren und die Nebenfiguren; zahllose Motive und Handlungsstränge des Romans spielen in dieser Allegorese schlechterdings keine Rolle. Die Struktur der zur Allegorese ausgewählten Zeichen ist in Relation zur Gesamtstruktur von extremen Lücken, Verwirrungen und Überlagerungen gekennzeichnet. Diese Auswahl und Strukturierung wäre allein durch eine Argumentation auf der Ebene der Grundüberzeu-

246 gungen zu rechtfertigen gewesen, nämlich durch eine kontextuelle Plausibilierung der dem Autor unterstellten Produktion einer strukturell inkonsistenten narrativen Allegorie, die sich über sämtliche Konventionen des unterstellten Genres hinwegsetzt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Bersier eine naheliegende interpretatorische Operation nicht ausführt, die einer probaten Hilfskonstruktion bei der Produktion narrativer Allegorien entspräche: „[...] so können Überschuß und Unebenheiten der Primärbedeutung dadurch eingeebnet werden, daß narrative, von der Theorie nicht von vornherein gedeckte Hohlräume je nach Bedarf durch theoretische Zusatzannahmen aufgefüllt werden" (Pfeiffer 1977, S. 580). Auf dem weiten Feld der romantischen Poetik und Poesie wären ohne Zweifel Zusatzannahmen zu finden gewesen, mit denen zumindest die anderen Hauptfiguren und die wichtigsten Züge der Handlung allegorisch hätten gedeutet werden können. Die restriktive Konzentration auf die „romanhafte Parodie des Gesamtwerks Friedrich Schlegels" verstellt jedoch diesen Ausweg aus dem Strukturproblem. (c) Desambiguierung. Weil die angeblich gemeinte Poetik Schlegels aus eindeutigen diskursiven Aussagen besteht und die angeblich gemeinte Schlegel-Kritik Goethes eindeutig ablehnend ist, muss der typologische Verweis vom Besonderen aufs Besondere die Aussage des Romans vereindeutigen: Dieser enthalte ein Rätsel, das auf eine bestimmte Weise zu lösen sei. Bei dieser Bestimmung werden abweichende Auffassungen vom Rätselcharakter Goethescher Texte (unendlich Problematisches, unerreichbare Idee) nicht diskutiert. Auch bei den einzelnen Zuschreibungen setzt die Interpretin sich mit Deutungen, die von einer unaufhebbaren Ambiguität der Erstbedeutungen ausgehen, nicht auseinander. Auffällig an der beschriebenen Kelchglas-Allegorese etwa ist, dass Bersier Eduards Auslegung des Initials für eindeutig falsch erklärt, um der Passage eine eindeutige Schlegel-Kritik Goethes zuschreiben zu können. Den letzten Satz des Romans über den freundlichen Augenblick des dereinstigen gemeinsamen Erwachens kann man auch als Bestätigung von Eduards Annahme lesen, sein Verhältnis zu Ottilie sei „unzerstörlich" (WV 1,18, S. 390) - sub specie aeternitatis. Wollte man aber die Erhaltung des Glases als ein doppelsinniges Zeichen sowohl für das diesseitige Unglück als auch für die Unzertrennlichkeit der Liebenden im Tode deuten, so wäre neuerliche Irritation die Folge, wenn am Ende des Romans erzählt wird, daß nach Ottilies Tod das Kelchglas tatsächlich zerbrochen sei und der Diener es durch ein anderes, in Eduards Jugendzeit gleich graviertes Exemplar ersetzt habe, damit der Herr den Verlust nicht bemerke. Eduard sieht durch dieses „Gleichnis" sein „Schicksal [...] ausgesprochen" (WV 11,18; S. 527). Aber wie können die Leser diese Zeichen deuten? Steht das

247 Zerbrechen des Glases - dem Verständnis Eduards entsprechend - für den Untergang beider Liebenden? Bezeichnet womöglich das zweite, heile Glas die unlösliche Verbindung beider Figuren in einem zweiten Leben nach dem gemeinsamen ,Erwachen'? Oder ist gerade das Zerbrechen des Glases - entgegen Eduards Deutung - gleichsam ein Bauopfer für die Ewigkeit? Verweist das zerbrochene Glas vielleicht gar nicht auf das Verhältnis beider Figuren, sondern allein auf Ottilie, die für Eduard zunächst nur ein „Gefäß" der Freude war, welches er nun, da es „zerbrochen" ist, durch kein anderes mehr ersetzen will? Grundsätzlichere Fragen schließen sich an: Wird an der Stelle womöglich das Deuten von Zeichen überhaupt persifliert, da Eduard sich seiner Deutung und dem darin beschlossenen Tod fatalistisch hingibt? Oder appelliert der Roman durch das negative Beispiel Eduards - an einen offeneren, der Ambiguität gegenüber toleranteren Umgang mit Zeichen? Oder wird die Interpretation durch die Vermehrung sowohl der Deutungsmöglichkeiten als auch der Zeichenträger, der Kelchgläser, vollständig ad absurdum geführt? Bersier unterläuft die nachhaltige Ambiguität des Kelchglas-Symbols dadurch, dass sie die Passage über die Zerstörung und Ersetzung des Glases schlicht unerwähnt lässt. Die Desambiguierung der Zeichen arbeitet mit restriktiver Selektion. (d) Komplikation des semantischen Ähnlichkeitsverhältnisses. Die eindeutige typologische Zuordnung von Elementen der Romanhandlung zu poetologischen Aussagen Schlegels führt neben den aufgezeigten strukturellen Verwerfungen zur Behauptung äußerst komplizierter und uneinheitlicher semantischer Verweise. Die Kelchglas-Allegorese unterstellt, wie bereits gezeigt, eine aus zwei Elementen bestehende Allegorie mit folgenden Einzelübertragungen: (1) Der Arbeitsmann verweise pars pro toto auf das „Volk"; sein Mund verweise auf die Metapher „Volksmund", und zwar im Modus des Wörtlich-Nehmens, der „Reifikation metaphorischer Rede" (S. 121): Das Wörtlich-Nehmen des „Mundes" mache die verblasste Metaphorik des Ausdrucks wieder erfahrbar. Gegenstand der Reifikation aber sei nicht der Ausdruck „Volksmund" überhaupt, sondern dessen Verwendung in einem speziellen Text Friedrich Schlegels. (2) Das Kelchglasinitial verweise auf einen bestimmten Volkslied-Text, in dem beide Buchstaben ebenfalls enthalten sind; dieser Text, die Edward-Ballade, verweise seinerseits pars pro toto auf das „Volkslied" überhaupt; und das Volkslied überhaupt verweise dann auf ein Besonderes, nämlich auf Schlegels Satz über „wahrhaft geistliche Volkslieder" - auch wenn die Edward-Ballade, nebenbei bemerkt, alles andere als ein geistliches Volkslied ist. Ein wiederkehrendes Deutungsmuster Bersiers besteht darin, dass ein solcher figurativer Verweisungsweg, der vom Besonderen zum Besonde-

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ren führt, einen Zwischenschritt zur äußersten Allgemeinheit enthält. Wenn es im Roman heißt, dass Ottilie sich als Kind die „Stoffe" ihrer Kleider selbst zuschnitt, so wird darin ein Wörtlich-Nehmen der verblassten Metapher poetischer Stoff gesehen. Diesem omnipräsenten poetologischen Begriff wird dann wiederum ein Verweis auf eine besondere Äußerung Schlegels über Sophokles unterstellt, so dass Ottilies Stoffezuschneiden schließlich für diesen sehr speziellen Schlegelschen Gedanken über die „Stoffbeherrschung" in der Attischen Tragödie steht (S. 144). Auf diese Weise wird einer Reihe weiterer Wörter wie Schönheit, Ordnung und Ruhe zunächst eine allgemeine poetologische Bedeutung zugeschrieben, die nachfolgend eine Einengung auf bestimmte Schlegel-Stellen erfahrt. Beispielsweise wird zum Stichwort Schönheit aus dem Roman zitiert: „Wer sie erblickt, [...] fühlt sich mit sich selbst und mit der Welt in Übereinstimmung" (WV 1,6. S. 313), und aus Schlegels Aufsatz über das Studium der Griechischen Poesie der Teilsatz: „[...] nur das Schöne kann diese heiße Sehnsucht stillen" (S. 142). Wenn die Aussage .Übereinstimmung mit der Welt' als eine Anspielung auf die deutlich subjektbezogenere Aussage ,gestillte Sehnsucht' gelten darf, dann kämen noch zahlreiche andere, z.T. semantisch näher bei dem Wort „Übereinstimmung" liegende Aussagen über die Wirkung des Schönen von Winckelmann über Schiller bis Schelling - als die gemeinten in Betracht. Die Behauptung, dass die Verwendung jener äußerst verbreiteten Termini den Status eines exklusiven Stellenverweises hat, ließe sich nur durch den Nachweis einer Entsprechung zwischen der speziellen textuellen Einbindung solcher Wörter sowohl im Roman als auch in den jeweiligen Schriften Schlegels rechtfertigen. Doch mit solchen Einbindungen argumentiert Bersier an den fraglichen Stellen gerade nicht. (e) Entwertung der Erstbedeutungen. Weil innerhalb der Interpretation kein Element auf etwas anderes als auf eine Textstelle bei Schlegel verweisen darf, haben die Erstbedeutungen nur dann einen relativen Eigenwert, wenn die angeblich allegorisierte Theorie dasselbe Thema hat wie die Romanhandlung, wenn es also bei Schlegel um Schönheit, Liebe, Ehe usw. geht. Das ist aber die Ausnahme, sozusagen der seltene Glücksfall für die Erstbedeutungen. Angesichts des grundlegenden thematischen Unterschieds zwischen der Romanhandlung und dem zugeschriebenen poetologischen Streit erzeugt der Verweis vom Besonderen auf das Besondere eine kaum steigerbare semantische Differenz zwischen Erst- und Zweitbedeutung und ein entsprechendes Wertungsverhältnis. Über weite Strecken haben die Erstbedeutungen der Liebeshandlung die heteronome Funktion, poetologische Metaphern wörtlich zu nehmen, die Brüche einer intellektuellen Biographie metaphorisch in Szene zu setzen oder eine literaturtheoretische Polemik verklausuliert auszusprechen. Inner-

249 halb der Kelchglas-Allegorese ist der Tod der Liebenden nichts anderes als eine Erfüllung der von Eduard alias Schlegel verkannten Warnung vor der Verabsolutierung der mündlichen Überlieferung. Damit die Interpretation ihre Zweitbedeutungen im Text ansiedeln kann, wird der semantische Eigenwert der Erstbedeutungen vollständig ignoriert. Interessanterweise stellt die Interpretin fest, dass der Roman selbst einen solchen Umgang mit den Zeichen darstellt und kritisiert: „Die Buchstaben des Romans stehen im Dienst des Weissagers Eduard, der sie nach eigenem Dünken des Sinnes entleert oder mit Sinn überfüllt. Die Trennung von Zeichen und Bezeichnetem erscheint nirgendwo so radikal vollzogen wie in seinen willkürlichen Buchstabendeutungen, deren Diskrepanz zum dargestellten Ereignisgang demonstrativ aufgezeigt wird" (S. 110). Nur in einem Punkt sei dieser treffenden Beobachtung widersprochen: Innerhalb der Wahlverwandtschaften-Forschung wird das interpretatorische Handeln Eduards an Radikalität weit überboten. ( f ) Widerspruch zwischen Auslegungsoperationen und Grundüberzeugungen. In den materialen Deutungen behauptet Bersier durchgängig die folgende Relation zwischen Goethes Parodie und Schlegelschem Prätext: Die Aussagen der hochromantischen Texte würden parodistisch verneint; die Aussagen einiger frühromantischer Texte würden bejaht und gegen die verneinten ausgespielt. Pfister (1985, S. 29) nennt dies die beiden schwächsten Ausprägungen intertextueller Dialogizität, über denen die komplexeren Formen semantischer Verwandlung angesiedelt sind.65 Einfache Zustimmung und einfache Verneinung sind heteronome Ausprägungen innerhalb der Kategorie semantischer Differentialität. In Bersiers Interpretation bleibt die Parodie stets dem Sinn der Schlegelschen „Vorlage" positiv oder negativ verpflichtet; am Roman wird keine eigene, die Schlegel-Negation überschreitende Gestaltung jener Probleme aufgezeigt, welche dem Literaturstreit zugrunde liegen. Tatsächlich wird Schlegel ganz ausdrücklich zum „poetologischen Gesetzgeber" des Wahlverwandtschaften-Erzählers erklärt (S. 159). In den allgemeinen Ausführungen zum Parodiebegriff übt Bersier jedoch scharfe Kritik an „einer funktionalen Festlegung der Parodie auf das adversative Moment", weil dadurch „das Spezifische der Schreibweise nicht näher bestimmt und die Parodie letzten Endes zu einer Subkategorie der Satire reduziert wird" (S.26). In Abgrenzung von solchen Festlegungen heißt es mit ausdrücklichem Bezug auf die parodistische Schreibweise der Wahlverwandtschaften: „Das fremde Wort wird [...] durch das Mittel poetischer

65

Lachmann (1990, S.38f.) bringt die einfachen intertextuellen Formen auf die Begriffe Partizipation (Bestätigung) und Tropik (Negation), die komplexen Abwandlungsformen auf den Begriff der Transformation.

250 Evokation zu einer völlig neuartigen Eigenschöpfung umgewandelt" (S. 45). Die Interpretation selbst löst diese Überzeugung nicht ein. Wäre Bersier in den einzelnen Zuschreibungen tatsächlich von einer eigenschöpferischen Romantik-Parodie der Wahlverwandtschaften ausgegangen, dann hätte es genügt, den romantischen Prätext als Anlass oder Substrat poetischer Eigenschöpfung zu bestimmen, nicht als das eigentlich Gemeinte. Die von Bersier unterstellten metaphorischen, reifikatorischen, metonymischen und synekdochischen Verweise gelten nicht, wie postuliert, als „Mittel poetischer Evokation" zur Herstellung „einer völlig neuartigen Eigenschöpfung", sondern als rhetorische Instrumente zur verrätselten Negation eindeutig vorgegebener Aussagen Schlegels. Die auf der propositionalen Ebene angesiedelten Widersprüche haben eine Entsprechung auf der illokutionären Ebene. Der ungeheuer umständliche und wechselvolle kombinatorische Aufwand, mit dem Bersier nachzuweisen versucht, dass bestimmte Wahlverwandtschaften-SteWen auf bestimmte Schlegel-Stellen verweisen, zeugt von der primären Intention, die Existenz der entsprechenden Bezüge im Text zu erklären, ja nachgerade zu beweisen. Unsere Kritik lief darauf hinaus, dass die propositionalen Akte ihre intendierte explanative Funktion über weite Strecken gar nicht erfüllen, weil die impliziten Gegenstandsbestimmungen (Unterstellung einer allegorischen Erzählweise, die gattungswidrig stark selektiv, sprunghaft und mit komplizierten figurativen Verschachtelungen arbeitet) nicht plausibiliert werden und weil in den meisten der unterstellten Verweisungsketten stark verbreitete, unspezifische Termini enthalten sind, die der unterstellten Besonderheit und Eindeutigkeit des Verweises widersprechen. Man könnte nun aber sagen, dass die misslingenden explanativen Interpretationsakte immerhin die kommunikative Wirkung teilweise gelungener behauptender Sprechakte haben, deren sekundäre Funktion darin besteht, das Interpretament (Kritik der Schlegelschen Poetologie) darzustellen. Wer die Rückführung der interpretierten Stellen auf Schlegel nach eingehender Prüfung als reichlich abstrus beurteilt, kann gleichwohl zu dem Urteil gelangen, dass die Darstellung jenes Literaturstreits, der dem Roman als Sinn zugeschrieben wird, für sich genommen lehrreich ist. Wäre es die primäre illokutionäre Funktion der Interpretation, Goethes Schlegel-Kritik darzustellen, so hätte die Auslegung des Romans einen anderen Status, nämlich den Status von Beispielen oder Belegen für Positionen Goethes, die auch aus seinen Aufsätzen, Rezensionen, Briefen und Gesprächen bekannt sind. Man würde dann kritisieren, dass die Wahlverwandtschaften als Demonstrationsobjekt für die Darstellung dieser sehr speziellen, auf eine Person gerichteten Romantik-Kritik Goethes nicht besonders gut geeignet sind, doch würde man nicht den gesamten interpretatorischen Sprechakt für

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misslungen erklären. Hieran zeigt sich die grundsätzliche Differenz zwischen illokutionärer Absicht und illokutionärer Funktion von Interpretationsakten: Wenn es sich so verhält, dass die Exegese ihre gewollte explanative Funktion nicht erfüllen kann, dann haben wir es möglicherweise mit einer missglückten Texterklärung zu tun, deren realisierte und auch z.T. geglückte Funktion in der bloßen Darstellung des Interpretaments besteht. Man lernt wenig über den Roman, aber viel über eine 1808 geführte Kontroverse. Fehlinterpretationen können gelungene literaturgeschichtliche Darstellungen sein. Möglicherweise führt sogar die Erklärungsnot zum Aufbieten immer weiterer Belege, die das Wissen, nicht aber das Textverständnis des Lesers bereichern. Abschließend seien wiederum einige Mutmaßungen angestellt über historische Handlungsbedingungen, unter denen das zentrale Problem von Bersiers interpretatorischem Handeln nachvollziehbar wird, nämlich die Allegorese im Modus eines Verweises vom Besonderem auf Besonderes. In Relation zu der im Buchtitel enthaltenen Gegenstandsbestimmung „Rätselparodie der Romantik" ist der tatsächlich untersuchte Gegenstand ,Parodie des Gesamtwerks Friedrich Schlegels' eine Teilmenge. Diese Einschränkung hätte begründet werden können z.B. mit dem Argument, Schlegel sei für Goethe ein repräsentativer Vertreter der Romantik gewesen. Diese oder eine ähnliche Rechtfertigung der Teilmengenbildung nimmt die Interpretin indes nicht vor, weil sie, wie ich unterstelle, selber davon ausgeht, dass die Auseinandersetzung des Romans mit der Romantik sich keineswegs in einer Auseinandersetzung mit Schlegels Poetik erschöpft. Grund zu dieser Unterstellung gibt ein älterer Aufsatz Bersiers, der einen ganz anderen Romantik-Bezug untersucht und diesen auch anders bewertet: den Bezug auf Clemens Brentanos Roman Godwi und dessen Otilie-Figur. Die „liebevolle Darstellung der Ottilie" in den Wahlverwandtschaften sei Ausdruck von Goethes „Teilnahme und Sympathie" gegenüber der Romantik, heißt es in dieser früheren Interpretation (1988a, S. 155).66 In der späteren Interpretation wird die positive Haltung Goethes gegenüber solchen Manifestationen der Romantik ausgeblendet und die kritische Haltung gegenüber einer bestimmten romantischen Poetik verabsolutiert, so dass Ottilie, die zuvor noch als originäre Frauenfigur mit positiven Allusionen an die romantische Poesie galt, nun unvermittelt zur allegorischen Personifikation eines männlichen Poetologen und seines schwankenden intellektuellen Entwicklungswegs wird.

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Schings deutet die Bezüge auf die literarische Romantik weniger positiv: Goethe habe an der Ottilie-Figur die „fundamentale Umorientierung" der romantischen Anthropologie „aufs Unbewußte hin" aufgezeigt, „ohne sie zu billigen" (1989, S. 180).

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Diese Veränderung lässt sich auf einen Wechsel des Interpretaments zurückführen, der einhergeht mit einem Wechsel des Verweisungsmodus. In den veröffentlichten Resultaten ihres älteren Wahlverwandtschaften-Projekts interpretiert Bersier die Liebesthematik als symbolischen Ausdruck der sozialen und politischen Situation im Napoleonischen Europa: „Dem Dichter ermöglichte die Thematisierung der Sexualität eine symbolische Erfassung [...] der Gegenwart", denn „Leidenschaft" erscheine stets als „plötzlicher Ausbruch", als eine meist von der unmittelbaren Nähe oder Gegenwart des Zielobjekts ausgelöste „Gewalt", die „unwiderstehlich" und „ungeduldig" nach Besitzergreifung und Bemächtigung strebt. (1988b, S. 409) Bei den verschiedenen Figurenkonstellationen steht die Leidenschaft im metaphorischen Zusammenhang mit dem Phänomen der Macht in seiner bonapartistischen Verkörperung, weil der anthropologische Mechanismus, der die beiden Triebe generiert und reproduziert, dieselbe Dynamik besitzt. Leidenschaft wird als die Entfesselung des subjektiven Prinzips [...] dargestellt. (Ebd., S.412)

In diesem Zusammenhang beschreibt Bersier auch eine - der Romantik verwandte -„allegorisierende Tendenz" des Romans, die sich insbesondere in der ikonischen Ästhetisierung und Sakralisierung der OttilieFigur manifestiere (1988a, S. 154f.). Diese Bilder „stellen dem Gang der geschichtlichen Gegenwart entgegengesetzte Allegorien des Friedens und des Altruismus gegenüber" (1988b, S.414). Ein Jahrzehnt später spielt die soziale und politische Sphäre bei der Bedeutungszuschreibung keine Rolle mehr; vom älteren Projekt bleibt jedoch der Bezug auf die literarische Romantik bestehen. Dieser Bezug nimmt nun den gesamten Bereich der Zweitbedeutungen ein. Bestehen bleibt aber auch die Unterstellung einer zeitkritischen Tendenz. Hatte ursprünglich der leidvolle Verlauf der Liebesbeziehung als symbolisches Leiden an der Gegenwart gegolten, so gilt nun derselbe leidvolle Verlauf als allegorisch verschlüsselte Kritik an einer bestimmten spätromantischen Poetik. Das stark eingegrenzte Textkorpus Schlegels tritt interpretationslogisch an die Stelle der allgemeinen politisch-sozialen Zeittendenz. Die Funktion, die anfangs dem staatlichen „Code Napoleon" zukam (1988a, S. 155), nimmt nun das Dogma des „poetologischen Gesetzgeber[s]" Schlegel ein (1997, S. 159). Das Interpretandum wird also ausgetauscht, und dies bewirkt zweierlei: (a) Die Untersuchung der Romantik-Bezüge übergeht jene zunächst so wichtigen poetischen Texte, die in partieller Übereinstimmung mit den Wahlverwandtschaften ebenfalls die leidvolle Zeittendenz symbolisieren, zugunsten der programmatischen Texte, die ein von Goethe kritisiertes System spätromantischer Positionen etablieren, (b) Der symbolische Verweisungsmodus verschwindet zugunsten einer alleinigen Un-

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terstellung allegorischer Bezüge. In der früheren Interpretation erklärt Bersier den Verweis auf die gesellschaftliche Ordnung durch ein Tertium comparationis: dieselbe „Dynamik" zeige sich in der erotischen Leidenschaft und in der Politik und führe zu symbolischen Analogien zwischen bestimmten Handlungen und Eigenschaften beider Sphären. Das Verschwinden des gemeinsamen Allgemeinen fuhrt später zum Verschwinden des symbolisch-analogischen Verweisungsmodus und zur Etablierung der ebenso starren wie umständlichen typologischen Bezüge zwischen einzelnen Textstellen des Romans und der Schlegelschen Poetik. Das Tertium „Dynamik" wird nicht durch ein anderes Allgemeines ersetzt; vielmehr wird innerhalb der Interpretationslogik die Position des Allgemeinen überhaupt aufgegeben, was zur Verweisung vom Besonderen aufs Besondere fuhrt. Dieser Hintergrund macht Bersiers Allegorese und deren Konflikt mit anderslautenden Grundüberzeugungen vielleicht verständlicher, erklärt jedoch den Wandel nicht hinreichend, der zu dem Widerspruch führt. Die Interpretation hätte ja auch anders aussehen können. Die spätromantische Poetik hätte neben der Liebeshandlung als eine weitere Sphäre beschrieben werden können, die von der gemeinsamen Dynamik des napoleonischen Zeitalters bestimmt ist und ebenfalls symbolische Analogien zur Liebeshandlung sowie zur napoleonischen Politik aufweist. In einer solchen Interpretation hätte die Liebesthematik ihren Eigenwert behalten, Ottilie hätte nicht zur Personifikation von Schlegels poetologischer Laufbahn werden müssen. Gibt es historische Bedingungen, die das Verschwinden des Allgemeinen und die Etablierung eines ausschließlichen Verweises vom Besonderen aufs Besondere verständlich machen? Nach meiner Einschätzung stimmt Bersiers Untersuchung in diesem Punkt mit einer literaturwissenschaftlichen Zeittendenz überein, die im Kern positivistisch ist. Ausgehend von dem phänomenologischen oder hermeneutischen Grundsatz, dass die Welt eine immer schon sprachlich erschlossene ist, wird argumentiert, dass der literarische Weltbezug immer ein Bezug auf Sprache, genauer auf bestehende (textuelle) Einheiten des Sprechens und Schreibens ist. Innerhalb dieses einleuchtenden Paradigmas, das die literaturwissenschaftliche Interpretation auf intertextualistische oder diskursanalytische Verfahren verpflichtet, gibt es allerdings den verbreiteten Fehlschluss, dass jeder Weltbezug unseres Sprechens und Schreibens ein Bezug auf bestimmte vorangegangene Sprechhandlungen sei. Hierbei wird der Prätext jeder Äußerung als ein positiv gegebener und eindeutig bestimmbarer angesehen. Mit einer semiotischen oder hermeneutischen Grundlegung der Intertextualismus wäre ein solcher positivistischer Fehlschluss ausgeschlossen: Nach Julia Kristeva (1971, S. 500ff.) erzeugt jeder Text allererst seinen eigenen Prätext; und

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in der Hermeneutik heißt der Prätext jeglichen Sprechens ein Horizont, der sich von den einzelnen Äußerungen oder Texten, die er umspannt, qualitativ unterscheidet. Wer meint, der Prätext eines Textes sei nur in einzelnen benennbaren Texten positiv gegeben, sieht den Wald vor Bäumen nicht. Schlimmer noch: das Einsammeln zahlloser Einzelstellen, die nie ein bloßes Beispiel sein dürfen, sondern immer ein direkter Bezugstext sein müssen, fuhrt zur Wahrnehmung von Bäumen auch dort, wo keine sind. Die Einseitigkeit und Legitimationsbedürftigkeit dieses intertextualistischen Positivismus lässt sich mit der Typologie Manfred Pfisters gut verdeutlichen: Die Kategorie der intertextuellen Selektivität umfasst neben den Einzeltextbezügen auch Bezüge auf Allgemeines; die Kategorie der Referentialität umfasst neben der direkten Gemeintheit eines Textes auch die allusive Mit-Gemeintheit und die bloße Zugehörigkeit zu einem gemeinten Allgemeinen (vgl. 1985, S.26ff.). Die extrem starke Selektivität und extrem starke Referentialität, die Bersier dem Roman bezüglich der unterstellten Zweitbedeutungen zuschreibt, entspricht möglicherweise dieser positivistischen Zeittendenz in der Philologie.

2.4.3 Probleme der Symbolinterpretation Symbolinterpretationen, so hatten wir gesagt, negieren die Exklusivität der eigenen Zuschreibungen und die Endgültigkeit der dabei verwendeten Begriffe. Bei diesem Vorgehen gibt es zwei konträre Gefahren, die zum Missglücken der Interpretation fuhren können: Die eine Gefahr liegt in der völligen Entgrenzung der zuschreibbaren Inhalte, die andere Gefahr im Verzicht auf jegliche inhaltliche Zuschreibung zugunsten der Bestimmung eines formalen Prinzips, das die Phänomene der Vieldeutigkeit und begrifflichen Unbestimmbarkeit hervorbringt. (1)

Entgrenzung des Sinns (W. Wiethölter)

Waltraud Wiethölter wendet sich gegen eine allegorische Deutung der Wahlverwandtschaften·. „Entscheidend ist, daß Goethe nicht den exemplarischen Fall erzählt, sondern analoge Fälle, nicht eine Lehre verkündet, sondern eine Spur zieht [...]" (S. 63).67 So wie auch Goethes Farbenlehre keinen unmittelbaren Zugriff auf die Wahrheit des Lichts leiste und deshalb, trotz mancher Ähnlichkeiten zum alchemistischen Schrifttum, keine „Allegorie des Opus Magnum" (S. 60) sei, so entziehe auch der 67

Seitenangaben dieser Art beziehen sich in Abschnitt 2.4.3, Pkt. (1) auf Wiethölter 1982.

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Roman „das unbekannte X im Zentrum dem unmittelbaren Z u g r i f f und offenbare „das Geheimnis nur durch ein anderes Geheimnis" (S. 37). Der Text enthalte ein strukturelles „Instrumentarium der Distanzierung und Unverfügbarkeit" (ebd.), und genau dies begründe seine Ähnlichkeit mit dem Mythos, in dem die Wahrheit ebenfalls ungreifbar sei - Benjamins Bestimmung des Mythischen wird auch hier übernommen und positiv gewendet. Im Sinne unserer Typologie können wir Wiethölters Verfahren als Symbolinterpretation bezeichnen, auch wenn zunächst der Eindruck entstehen könnte, es finde eine dreifache Allegorese statt. In den drei Hauptabschnitten schreibt die Interpretation dem Roman Bedeutungen aus drei semantischen Feldern bzw. Wissenssystemen zu. Untersucht werden erstens Verweise auf den Mythos von Echo und Narziss („antike" Lektüre, S. 10-21), zweitens Bezüge zwischen der Darstellung Ottilies und einer Reihe von Mariendarstellungen („christliche" Lektüre, S. 21-37) sowie drittens die Anlehnung einer romaninternen Kombinatorik von Vierheiten (Personen, Buchstaben, Temperamente, Jahreszeiten, Elemente, Himmelsrichtungen) an magisches Schrifttum („alchemistische Lektüre", S. 37-52). Der letzte Abschnitt bestimmt dann im Sinne unseres Begriffs der Symbolinterpretation die Struktur von Goethes Poetik und Wissenschaft als eine „mythologische" (S. 52-64): Die zugeschriebenen Bedeutungen bildeten - wie oben zitiert - nicht das begrifflich bestimmbare Zentrum, sondern verwiesen nur gleichnishaft aufeinander, und die Lektüren, die notwendiger Weise „immer wieder eine andere Botschaft" suchten, könnten „an kein Ende kommen" (S. 64).68 Die postulierte Entgrenzung der zuschreibbaren Bedeutungen gerät allerdings in einen Konflikt mit der gleichzeitigen Notwendigkeit, dem Text besondere Bedeutungen zuzuschreiben und argumentativ als angemessen, zumindest als passend auszuweisen. Die so entstehenden Probleme sollen an zwei Beispielen aufgezeigt werden, (a) Bei der Suche nach Spuren des Echo-und-Narziss-Mythos im Roman stößt die Interpretin auf ein Gemälde Poussins, „das Goethe allem Vermuten nach in der Dresd68

Wir nennen diese Herangehensweise symbolisch, auch wenn Wiethölter an Goethes Symbolbegriff kritisiert, dass eine „Ontologie" dort die konstitutive „Differenz" zwischen Bild und Wahrheit absorbiere und „die Rede am Ende gut metaphysisch auf die ,eine Natur'" bringe (S. 55). Diese Kritik übersieht, dass im späten Symbolbegriff Goethes die Identität der Natur bzw. die Idee unbestimmt bleibt als das „X", von dem Wiethölter j a auch spricht. Die Goethesche Selbstanzeige, die in der Kritik zitiert wird, ist entsprechend modal abgetönt: „Es scheint, daß den Verfasser [...]. Er mochte bemerkt haben [...], und so hat er auch wohl [...] zurückfuhren mögen [...]" (vgl. WV, S. 947; Hervorh. T.Z.). Auch Wiethölters Rede selbst kann, wenn sie das „Instrumentarium der Distanzierung und Unverfügbarkeit" zu bestimmen versucht, auf einen tradierten Namen für das Unbestimmbare nicht verzichten: „Mythos".

256 ner Galerie gesehen hat" und auf dem die Figuren Echo und Narziss in Form eines (wie die Abbildung im Aufsatz zeigt: liegenden) Ovals angeordnet sind. Wiethölter interpretiert den Buchstaben Ο in den Wahlverwandtschaften, der das gemeinsame Initial von „Ottilie" und „Otto" (Eduards Taufname) bildet, als „die Übersetzung der figurativen Bildanordnung in ein scheinbar simples Schriftzeichen, das allen Namen so auffallig eingravierte O". Ein „buchstäblicheres Zitat" des Gemäldes und seines Sujets lasse sich „kaum vorstellen" (S. 8f.). (b) Im Zuge der alchemistischen Lektüre deutet Wiethölter den Namen Otto. Dieser versinnbildliche „das alchemistische Ideal", und zwar unter anderem deshalb, weil er „durch die Anzahl seiner Buchstaben" auf „das heilige Tetragrammon des Gottesnamens" anspiele (S.38). Zudem existiere ein Verweis auf den - im Roman nicht vorkommenden - Namen des biblisch ersten Menschen: „Eduard alias Otto ist schließlich aufgrund seiner Buchstabenzahl als ,protos anthropos' zugleich ADAM, Ebenbild und Beauftragter Gottes, Herr über die vier Windrichtungen" (S. 40). Der Name Otto stehe für Gott und zugleich für Adam. Diese Bedeutungen hätte die Interpretin auch dem Hauptmann und dem kleinen Sohn Eduards und Charlottes zuordnen können, die beide ebenfalls Otto heißen, doch die Zuschreibung wird allein auf Eduard gerichtet. Zu der Behauptung, dass Eduard für Adam, den ,,Herr[n] über die vier Windrichtungen" stehe, kommt dann noch die Behauptung hinzu, dass jeder der vier Hauptfiguren eine einzelne der „vier Himmelsrichtungen" zugeordnet sei (S.47). Die erste Argumentation ist eine konsequente Umsetzung der Grundannahme, dass sich die Bedeutungszuschreibung nicht begrenzen lässt. Nach der Logik der Argumentation könnte alles, was irgend oval ist, ob stehend oder liegend, mit dem Ο „buchstäblich" gemeint sein (vgl. die Kritik von Seibt/ Scholz 1985, S. 618). Die Entgrenzung des Zuschreibbaren geht hier so weit, dass alles, was sich über geringfügige Zeichenähnlichkeit dem Text assoziieren lässt, auch als das Gemeinte gelten kann. Die zweite Argumentation ist eine konsequente Umsetzung der Grundannahme, die mythische Struktur des Romans sei einer begrifflichen Bestimmung inkommensurabel. Man vergegenwärtige sich: Der Name Otto steht für den Schöpfer (Gott) und für dessen Geschöpf (Adam), der Namensträger steht für alle vier Richtungen und zugleich für deren eine. Die Interpretation erörtert diese gegensätzlichen Bedeutungen nicht in dem etwaigen Bemühen, sie einer integrierenden Deutung zuzuführen, sondern stellt die Bedeutungen bloß unter der Prämisse zusammen, dass die mythische Struktur des Romans unterschiedliche und widersprüchliche Lektüren generiere. Wenn dem Interpretationsgegenstand positiv zugesprochen wird, was Benjamin pejorativ als „vernichtende Indifferenz gegen die

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Wahrheit" bezeichnet (1974ff., Bd. I, S. 162), dann ist ein solches Interpretationsverfahren legitimiert. Die Zeichen können nahezu alles und das Gegensätzlichste bedeuten dies macht die einzelnen Zuschreibungen zum Problem. Denn jede literaturwissenschaftlich de facto zugeschriebene Bedeutung muss sich als spezifisch plausibel und angemessen erweisen lassen. Wie geschieht das im Fall der referierten Beispiele? (Zu a) Die Poussin-Zuschreibung wird auf zweifache Weise gestützt: mit dem Argument, Goethe könnte das betreffende Bild möglicherweise gesehen haben, und mit der Zuschreibung des thematischen Kontextes. Wenn, so die Logik des zweiten Arguments, vieles für eine Reihe von Anspielungen des Romans auf den betreffenden Mythos spricht, dann ist auch eine äußerst flüchtige Anspielung wie die Verwandlung eines liegenden Figurenovals in ein stehendes Buchstabenoval plausibel. Beide Argumente hängen indes in der Luft, weil die Grundauffassung über Goethes Roman, die den fraglichen interpretatorischen Operationen zugrunde liegt, ohne Entfaltung und Begründung bleibt: Dem Text wird sporadisch, nur an dieser Stelle und ohne jede Verankerung in einem poetologischen Entstehungskontext ein sehr ungewöhnlicher Verweisungsmodus zugeschrieben, nämlich die ikonische Verweisung einer besonderen Buchstabengestalt auf eine besondere malerische Figurengestalt mit der zusätzlichen Besonderheit einer Drehung der Ikone um 90 Grad. Während bei Bersier das Weit-Herholen der Einzelbelege aus der Not resultiert, mit komplizierten interpretatorischen Operationen die positivistische Grundannahme realisieren zu müssen, dass der Roman auf besondere Stellen eines bestimmten Prätextes verweist, resultiert Wiethölters Behauptung eines entlegenen Poussin-Bezugs aus der Freiheit, in beliebig gearteten Interpretationsakten die Grundauffassung von der Unbegrenztheit möglicher Lektüren realisieren zu dürfen. (Zu b) Die Interpretation des Namens „Otto" wird ebenfalls auf einen thematischen Kontext gestützt, nämlich den der Alchemie. Aus diesem Kontext wird die Lizenz zur unbegrenzten Bildung von Analogien zwischen dem Namen „Otto" und anderen alchemistisch konnotierten vierbuchstabigen Namen sowie den unterschiedlichen Vierheiten des Romans (Jahreszeiten, Elemente, Temperamente usw.) bezogen. Die thematische Kontextualisierung steht in Übereinstimmung mit dem Modus unbegrenzter Verweisung, denn in dem zugeschriebenen Weltbild werden unbegrenzte Analogien zwischen den Seinssphären konstruiert. Indem Wiethölter die vieldeutige Struktur des Romans im Schlussabschnitt ihres Aufsatzes zusätzlich auf das verwandte „mythologische" Verfahren von Goethes Wissenschaft stützt, expliziert sie ihre Grundauffassung über die Verfahrens- bzw. Gestaltungsweise des Autors. An die-

258 sem Punkt nun lässt sich die Argumentation dahingehend kritisieren, dass keine Auseinandersetzung mit abweichenden Gegenstandsbestimmungen stattfindet, die sich auf dasselbe Phänomen - Analogie der Vierheiten - beziehen. Uwe Pörksen hat die Schreibweise Goethes anders bestimmt: Die Analogie der in Vierheiten auftretenden Sphären könne nicht in einem positiven Sinne ausgelegt werden. Der Interpret verweist auf die kritische Einstellung Goethes gegenüber den entgrenzten Analogisierungen der Schelling-Schule, insbesondere gegenüber Henrik Steffens' Ausführungen über die allgemeine „Quadruplizität" in der Natur, und deutet die entsprechenden Aussagen des Romans als Kritik an der (romantischen) „Sphärenvermischung" (Pörksen 1981, S.297). Auch wenn man dem Roman keine so eindeutig kritische Aussage zuschreibt, sondern der Auffassung ist, dass die Aussage symbolisch mehrdeutig bleibt, so grenzt doch die Zuschreibung des spezifischeren Entstehungskontextes „zeitgenössische Naturphilosophie" die unendlichen Möglichkeiten der Bedeutungszuschreibung dergestalt ein, dass die einzelnen Interpretationsakte nicht mehr unverbunden nebeneinander stehen: Der Befund, dass die Analogien nicht aufgehen, sondern in Widersprüche fuhren, kann in dem von Pörksen angeführten romantischen Kontext integrativ erklärt werden, während der unspezifische Kontext „Alchemie" nur die unspezifische Interpretation ,unendliche Auslegbarkeit' gestattet, die zu nicht integrierbaren Einzeldeutungen führt. Wie die Allegorese, so hat auch die Symbolinterpretation Wurzeln in der Auslegung heiliger Schriften. Die theologische Allegorese geht davon aus, dass die göttliche Wahrheit auf eine bestimmte, entschlüsselbare Weise ausgesagt ist oder zumindest - so Benjamins Annahme - dergestalt verhüllt ist, dass man sie zwar noch nicht eindeutig aussprechen, wohl aber als verhüllte eindeutige Wahrheit erkennen kann. Die theologische Symbolinterpretation geht davon aus, dass die göttlich inspirierten Texte für den Menschen so unerschöpflich sind wie Gott selbst. Hier „ist ,Überinterpretation' geradezu ein Gebot - und eine ewige Aufgabe", schreibt Paul Michel (1987, S.496) und fuhrt als Beleg unter anderem ein Diktum des Johannes Scotus Eriugena an: „Sacrae scripturae interpretatio infinita est" (zit. ebd.). Wenn man nun davon ausgeht, dass es tatsächlich literarische Aussagen gibt, deren Bedeutungen weder begrenzbar noch begrifflich befriedigend bestimmbar sind, dann rennt der bloße Vorwurf, eine entgrenzende Symbolinterpretation übertrage das entsprechende theologische Deutungsmuster auf profane Texte, offene Türen ein. Das Fortleben des theologischen Musters muss spezifischer gefasst werden, will man die entgrenzende Symbolinterpretation auf diesem Wege kritisieren. Eine solche spezifischere Fassung wird möglich, wenn wir in den Vergleich von Theologie und Literaturwissenschaft

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eine dritte Disziplin einführen: die Religionswissenschaft. Während der Theologe davon ausgeht, dass das Subjekt, der Kontext, der Modus und der Code der Aussage transzendent sind und schlechterdings unerkennbar wären, gäbe es nicht eben die zu interpretierenden heiligen Texte, in denen das göttliche Subjekt - wie vermittelt über menschliche Sprecher auch immer - sich sprachlich zeigt, so vermag die Religionswissenschaft in allen vier Kategorien der Gegenstandsbestimmung (vgl. o. Kap. 1.4.3) historisches Wissen zu aktivieren, weil sie die menschlichen Aufschreiber nicht als Medien auffasst, derer sich ein transzendentes Subjekt bedient, sondern als Medien, die die Religiosität einer bestimmten, auch anderweitig dokumentierten Kultur zum Ausdruck bringen. Die historische Begrenzbarkeit von Aussagesubjekt, Aussagekontext, Aussagemodus und Aussagecode macht die Behauptung obsolet, innerhalb der Sphäre der Textentstehung „ließen sich immer neue Kontexte erschließen, so daß uns eine Möglichkeit prinzipiell verwehrt ist: Grenzen zu setzen" (Culler 1994, S. 132). Wenn man interpretatorische Bedeutungszuschreibungen an den bekannten Entstehungskontexten überprüft, geht man vernünftiger Weise von dreierlei aus: dass noch nicht alle Entstehungskontexte bekannt sind, dass unsere Beschreibung der bekannten Kontexte unhintergehbar von dem sich wandelnden gegenwärtigen Denken und Sprechen geprägt ist und dass die fraglichen Textaussagen unter Umständen nicht eindeutig den Kontexten zuzuordnen und aus ihnen heraus nicht eindeutig zu begreifen sind. Man wird aber vernünftiger Weise nicht davon ausgehen können, dass bei der Textgenese de facto neue Kontexte und mit ihnen neue Bedeutungen entstehen. Diese Unterstellung ist nur dann sinnvoll, wenn man ein transhistorisches Aussagesubjekt unterstellt, das einst, jetzt und immerdar in den Texten zu uns auf immer neue Weise spricht. Um Missverständnissen vorzubeugen: Hier wird nicht behauptet, in einer extremen Symbolinterpretation wie derjenigen Waltraud Wiethölters lebe das theologische Muster unvermittelt fort. Vielmehr hat das Muster eine bestimmte säkulare Gestalt. Die Interpretin unseres Beispieltextes negiert ja ausdrücklich die Annahme einer in den Wahlverwandtschaften sich manifestierenden (göttlichen) Idee oder „Einen Natur". Allerdings setzt sie einem solchen überzeitlichen metaphysischen Grund der unendlichen Deutbarkeit einen anderen Grund entgegen. Nicht der metaphysische „Sinn" sei in den Wahlverwandtschaften „das Erste", sondern: „das Erste ist die Differenz" (S. 57). Diese Hierarchisierung lässt sich mit einem Argument Derridas (1976, S. 47) ihrerseits dekonstruieren: Weil aus bloßer Differentialität keine Bedeutung entstehen kann, muss die Setzung einer primären Differenz notwendig auf ein Anderes rekurrieren, und dieser Rekurs bringt die Unterstellung einer

260 metaphysischen „Kraft" wieder ins Spiel. Anderenfalls wären die Differenzen zwischen den Signifikanten einfach bedeutungslos, und es gäbe keine Zuschreibungen. Entweder muss unterstellt werden, dass den Differenzen selbst eine Kraft eigen ist, die das Gleiten der Signifikate unter den Signifikanten bewirkt. Oder man unterstellt eine den Differenzen transzendente Kraft. 69 Wiethölter geht an späterer Stelle von einem „auf der Ebene des Erzählers" (S. 64) angesiedelten „Wissen" aus, das einen semantischen „Stillstand" in der ,,flottierende[n] Bewegung der Sprache" schafft. Dessen „Fixpunkte" müssen vorausgesetzt werden, soll sich die semantische „Metamorphose" überhaupt als Metamorphose von etwas „konkretisieren" (S. 63). Diese Reflexion übersteigt das Postulat vom alleinigen Primat der Differenz, ohne freilich dessen Revision zu bewirken. Ob man die Kraft zur semantischen Konkretion einem erzählerischen Wissen oder, wie im New Historicism, „sozialen Energien" zuschreibt, die im Text aufeinandertreffen - all diese Kräfte sind nicht anders vorstellbar als im Moment der Textkonstitution begrenzt. Alles andere wäre - mit Foucault gesprochen - „reiner Romantizismus". 70 Die notwendige Begrenzung der Kräfte lässt sich durch einen mathematischen Vergleich illustrieren. Historische Entstehungskontexte begrenzen eine unendliche Linie dergestalt, dass aus der Unendlichkeit der Länge ein bestimmter Abschnitt der realisierten Bedeutungen ausgewählt wird, während die interne Unendlichkeit der Punkte dieses Abschnitts erhalten bleibt. So kann auch eine kontextuell begrenzende Symbolinterpretation davon ausgehen, dass die Deutung ihres Gegenstands begrifflich unabschließbar ist.

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So behauptet Derrida, dem schriftlichen Zeichen selbst eigne die „Kraft eines Bruches mit dem Kontext", und dies sei der Grund seiner kontextenthobenen Lesbarkeit (1976, S. 136). Aus pragmatischer Sicht handelt es sich hingegen um eine der Schrift transzendente Kraft der praktischen Sprachverwendung; aus hermeneutischer Sicht ist die kontextenthobene Verstehbarkeit nicht auf die Schrift, sondern auf eine objektive semantische Relation zwischen Entstehungs- und Verstehenskontext rückfuhrbar, also auf den geschichtlichen Wandel der Sprachverwendung. Als Kritik formuliert: Wenn Dekonstruktivisten der Schrift und der Differenz eine Kraft zur Bedeutungsveränderung zuschreiben, so resultiert diese Zuschreibung selbst aus einer Kraft, die nicht wiederum auf Schrift und Differenz, sondern auf Traditionen rückfuhrbar ist.

70

„Es wäre [...] ein reiner Romantizismus, sich eine Kultur vorzustellen, in der das Fiktive in einem absolut freien Zustand operieren könnte, [...] ohne so etwas wie eine einschränkende Figur zu durchlaufen", schreibt Foucault (2000, S.229) in einem 1980 in den USA veröffentlichten Nachtrag zu seinem häufig für das Ideologem der unbegrenzten Semiose in Anspruch genommenen Vortrag Was ist ein Autor? von 1969.

261

(2)

Reduktion auf ein generierendes Prinzip

Eine andere Gefahr der Symbolinterpretation ergibt sich aus einer spezifischen Reaktion auf die soeben beschriebene Gefahr der unbegrenzten Kontextualisierung: Um der entgrenzenden Überinterpretation auszuweichen, verzichten manche Interpreten weitgehend auf die inhaltliche Bestimmung von Zweitbedeutungen, rekonstruieren ausschließlich die symbolische Struktur und führen sie auf einen bestimmten Grund zurück auf philosophische Überzeugungen des Autors etwa. Die Problematik dieses Verfahrens besteht in der Marginalisierung aller spezifischen Textbedeutungen, die sich auf das generierende Prinzip nicht reduzieren lassen. Zudem ist die Rückführung der Vieldeutigkeit und Unbestimmbarkeit auf ein symbolbildendes Prinzip paradoxerweise eine vereindeutigende Bestimmung An drei Beispielen soll dieses Problem aufgezeigt werden. (a) In Anknüpfung an Friedrich Gundolfs Goethe-Buch hat Hubert J. Meessen 1939 in einem in den PMLA erschienenen Aufsatz nachzuweisen versucht, dass „die in den Wahlverwandtschaften auf menschlichpsychologische Vorgänge bezogene ,chemische Gleichnisrede' und m a gische Anziehungskraft' [...] unmittelbar auf den Vorstellungskomplex der naturphilosophisch spekulativen Polaritätslehre zurückzuführen" sind. Auch die durchgängigen „Parallelisierungen und Kontrastierungen" und das „Denken in gegensätzlichen Beziehungen", von dem „Sprache und Stil" des Romans geprägt seien, resultierten aus Goethes Polaritätslehre (1939, S. 1123). Ziel und Ergebnis des Aufsatz ist keine ,polare' Symbolinterpretation der spezifischen Bedeutungen des Romans, sondern allein deren Rückführung auf das besagte Prinzip. (b) Jutta Steinbiß zufolge generiert Goethes Denken in Analogien die Vieldeutigkeit des Romans: „Das dichterische Spiegelungsverhältnis transformiert die Methode des analogen Denkens in Strukturen" (1983, S. 31). Das Prinzip dieses Denkens sei ein doppeltes: auf der einen Seite stehe das Prinzip der Identität, auf der anderen Seite das Prinzip der Unterschiedenheit, und beide Prinzipien zusammen generierten die Ähnlichkeit. Die Liebesbeziehung zwischen Ottilie und Eduard wird nun nicht in ihrer eigenen Problematik und Semantik mit Hilfe des besagten dialektischen Prinzips gedeutet, sondern ihres semantischen Eigenwerts beraubt und auf das generierende Prinzip reduziert: Weil Ottilie in mehreren Bildern analogisch gespiegelt werde und doch ihre eigene „Bahn" bestimmen könne, entspreche sie dem Identitäts-Prinzip einer „absoluten Spiegelung in der Selbst-Verdoppelung", während Eduard „als exzentrischer Mensch sein ,Zentrum' in Ottilie gefunden" habe (ebd., S. 109). Auch das vom Erzähler angedeutete gemeinsame Erwachen der

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Liebenden wird in diesem Sinne interpretiert: „Die Vereinigung dieser beiden Prinzipien wäre wiederum die Versöhnung des [...] wissenschaftlichen Erkenntnisprinzips mit seinem Objekt", wäre „absolute Erkenntnis der Wahrheit" (ebd., S. 110). (c) Matias Martinez fuhrt in seinem Buch Doppelte Welten die Mehrdeutigkeit der Wahlverwandtschaften darauf zurück, dass in der „erzählten Welt" des Romans „das Kausalprinzip durch ein mythisch-finales paradox komplementiert" wird. Die Frage nach der Gültigkeit einer kausallogischen oder einer „finalen Weltauslegung" werde „offengehalten"; unentscheidbar bleibe, ob das Voranschreiten der Handlung durch die Entwicklung der Ereignisse auseinander oder durch die Wirkung eines numinosen, schicksalhaften Handlungszwecks motiviert ist (1996, S. 88). So treffend diese Beschreibung des Mehrdeutigkeit generierenden Prinzips auch ist, so wenig gestattet sie ein Urteil über die Plausibilität bestimmter Interpretationen. Unter Hinweis darauf, dass der Roman verschiedene Deutungen eines „mythischen" Prinzips zwar zulasse, deren Gültigkeit aber generell relativiere und offenhalte, erklärt Martinez die Interpretationen von Schlaffer, Buschendorf, Wiethölter und anderen für angemessen in Bezug auf die „mythische" Schicht. Sobald man indes nicht nur das generierende Prinzip untersucht, sondern auch die besonderen Themen und Probleme, die im Roman auf diese Weise gestaltet sind, erweisen sich jene Deutungen auch in dem besagten Bereich als kritikwürdig. An der skizzierten Interpretation von Jutta Steinbiß wird deutlich, dass die Reduktion der literarischen Semantik auf ein Prinzip, welches die Vieldeutigkeit von Analogien generiert, mit allegorischer Vereindeutigung konvergieren kann: Unter der Hand wird das Prinzip zur eigentlichen' Bedeutung des Textes, so als versinnbildliche die Liebesgeschichte bloß eine Erkenntnistheorie. Im Sinne der interpretatorischen Grundannahme, dass der Roman dem Denken in Analogien gemäß gestaltet ist, dürfte die Interpretation jedoch lediglich Analogien zwischen dem Denken und der Liebesgeschichte aufzeigen, und das heißt: neben der Identität beider Sphären müsste auch deren Unterschiedenheit bestimmt werden. Die Reduktion auf das generierende Prinzip führt zu dem Widerspruch, dass in einem identischen Prinzip verschmilzt, was als different postuliert wird. Jeremy Adler zeigt in seiner Monographie zur Rolle der Goetheschen Naturphilosophie in den Wahlverwandtschaften die Problematik solcher Reduktionismen auf. Wie oben in Abschnitt 2.3.4 bereits erwähnt, demonstriert er an dem Versuch, das chemische Gleichnis auf die Handlung des Romans anzuwenden, die Grenzen einer schlüssigen Interpretation des Textes in naturphilosophischen Kategorien: Es sei unmöglich, die Bedeu-

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tung einer Sphäre fur die anderen Sphären eindeutig zu bestimmen; die Gleichnisse und Analogien machten die Zusammenhänge komplexer und verhinderten deren Rückführung auf eine einheitliche generierende Formel (1987, S. 165f.)· Bereits Beda Allemann zeigt, „daß eine buchstäbliche Übersetzung des chemischen Schemas in den Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen prinzipiell scheitern muß" (1973, S.216). Zwar sagt Allemann, wie später auch Steinbiß, dass „das zugrundeliegende Prinzip", nach welchem chemische und soziale Sphäre aufeinander bezogen seien, sich mit dem Begriff der „wiederholten Spiegelung umschreiben" lasse. Doch ist es nicht sein Ziel, die Inhalte auf dieses Prinzip zu reduzieren. Vielmehr will Allemann durch eine genaue Analyse der Spiegelungen die semantische Eigenart der Inhalte in Erfahrung bringen: „Die Qualität einer in diesem Sinn der Brechung und Spiegelung der einzelnen Stellen verstandenen poetischen Reflexion hängt von dem Spielraum ab, den sie der Erfahrung einräumt" (ebd., S. 210). Die alleinige Konzentration auf die Bedingungen der Möglichkeit literarischer Gestaltung ist eine Abstraktion von den ästhetischen Erfahrungen und von der Aufgabe der Literaturwissenschaft, sie in Erkenntnisse zu überfuhren.

2.5

Zusammenfassung

2.5.1 Propositionale Akte und Gegenstandsbestimmungen In jedem der untersuchten Fälle war es uns möglich, die interpretatorischen Operationen miteinander und mit den jeweils erkennbaren Grundauffassungen des Interpreten zu vergleichen. Durch das Aufzeigen von Widersprüchen gelang es uns, immanente Kritik zu üben. Den Anspruch einer Interpretation, als wahr zu gelten, konnten wir immer dann begründet zurückweisen, wenn die diagnostizierten Widersprüche sich auf eine inkohärente Bestimmung des Interpretationsgegenstands zurückfuhren ließen. 7 ' Ansatzweise konnten wir darüber hinaus auch externe Kritik im Sinne der Unterstellung idealer Erkenntnisbedingungen üben (vgl. o. Kap. 1.4.2), indem wir fragten, ob die Deutungen anderen, für die jeweils fokussierte Poblematik relevanten Interpretationen standhalten oder nicht. In den folgenden Fällen kamen wir zu dem Ergebnis, dass die Interpreta71

Ließe man innerhalb einer Interpretation inkohärente Auffassungen über das Interpretandum als gleichermaßen wahr gelten, so widerspräche dies der im wissenschaftlichen Diskurs unhintergehbaren, konstitutiven Annahme eines identischen Gegenstands.

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tionen im Widerspruch zu Grundauffassungen stehen, die in ihnen selbst enthalten sind: (1) Benjamin postuliert grundsätzlich, dass die kritische Zertrümmerung des Symbolzusammenhangs innerhalb der sprachästhetischen Hülle des Romans als formale Zäsur erkennbar sein muss, doch seine Allegorese schreibt dem fallenden Stern abstrakt, ohne formanalytische Operation, eine höhere Bedeutung zu. (2) Buschendorf postuliert eine Vermittlung der semantischen Schicht „mythischer" Bildformeln mit der semantischen Schicht moderner Realität in einer dritten Semantik, doch seine Allegorese erklärt allein die Schicht des Tradierten für bedeutsam. (3) Miller postuliert als das intentionale Autorbewusstsein eine Metaphysik der unerreichbaren Andersheit von Unterschiedenem und als literarische Rhetorik eine Ironie, die jede Bedeutungsübertragung zwischen den unterschiedlichen Einheiten des Romans unterminiere; gleichwohl unterstellt seine doppelte Lektüre dem Roman eine Metaphysik der wechselseitigen Vervollkommnung und eine diese Metaphysik dekonstruierende Rhetorik der Allegorie. (4) Bersier postuliert eine parodistische Schreibweise, die in Relation zum Prätext eine „neuartige Eigenschöpfung" hervorbringe, anstatt nur negativ auf die Vorlage bezogen zu sein wie die Satire; doch die Allegorese besteht in der Aufdeckung eines verrätselten, eindeutigen Bezugs auf bestimmte Textvorlagen, deren Autor (Friedrich Schlegel) ex negativo der geheime „Gesetzgeber" des Romans sei. An dem Aufsatz von Schlaffer war kein Widerspruch zwischen Grundauffassungen und einzelnen Bedeutungszuschreibungen feststellbar, sondern das Fehlen einer über die interpretierten Textstellen hinausgehenden argumentativen Rechtfertigung der Grundauffassungen und Bedeutungszuschreibungen: sie werden nicht auf ein Wissen über den literarischen Code Goethes oder den Entstehungskontext gestützt. Wenn eine Interpretation darauf verzichtet, die Angemessenheit ihrer Zuschreibungen an Kontexten aufzuzeigen, muss sich die immanente Interpretationskritik auf die Angemessenheit der Deutung gegenüber dem Textzusammenhang konzentrieren. Weil Schlaffer die zur Allegorese ausgewählten Stellen aber aus dem textuellen Zusammenhang weitgehend entkoppelt, verschließt sich die Interpretation gegenüber einer entsprechenden Bestätigung oder Falsifikation ihrer Zuschreibungen. Erst unsere Wiedereinführung der entkoppelten Zeichen in deren Umfeld machte gravierende Unstimmigkeiten und Widersprüche erkennbar. Wir führten diese Widersprüche darauf zurück, dass der von Schlaffer behauptete Gegensatz zwischen der „hermetischen" Interpretation und den gängigen Interpretationen der realistischen Handlungsebene gar nicht existiert, was

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die These einer nur unterschwellig und im Modus kabbalistischer Verrätselung aussagbaren Wahrheit unhaltbar macht. Mit Ausnahme des Schlafferschen Aufsatzes kann man über die in diesem Kapitel untersuchten Texte zusammenfassend sagen, dass sich unterschiedliche Handlungsmuster der Allegorese konträr zu Grundauffassungen über den Gegenstand durchsetzen, die in den Interpretationen selbst enthalten sind. Unsere immanente Kritik operiert unter anderem mit der Kategorie des literarischen Aussage-Modus (vgl. Kap. 1.4.3). Benjamin postuliert einen formalen Verweis auf die Wahrheit (Zäsur), deutet aber einen inhaltlichen; Buschendorf postuliert einen synthetischen Verweis, deutet aber einen antithetischen; Miller postuliert einen ironischen Verweis (Unterminierung jeglicher Sinn-Setzung), deutet aber einen allegorischen Verweis (auf eine bestimmte Gesetzmäßigkeit); Bersier postuliert einen autonomen Verweis, deutet jedoch einen heteronomen. Weiterhin bezieht sich unsere Kritik auf die Kategorie des AussageSubjekts. Die Widersprüche in der Kategorie des Aussage-Modus haben hier jeweils eine Entsprechung. In der Interpretation Millers wird diese Entsprechung am deutlichsten, weil dort den beiden konträren AussageModi auch konträre Aussage-Subjekte entsprechen: Postuliert wird eine besondere Metaphysik des empirischen Autors Goethe, die im Sinne der Dekonstruktion als Präsenz-kritisch bezeichnet werden kann, nämlich eine Metaphysik der Unerreichbarkeit des Anderen. Gedeutet wird jedoch eine angeblich hinter dem Rücken des intentionalen Subjekts erfolgende Dekonstruktion einer Metaphysik der Vervollkommnung und Sinnpräsenz. Die Unterminierung von Sinn wird postulatorisch dem Subjekt ,empirischer Autor' zugeschrieben, interpretatorisch jedoch dem Subjekt ,Sprache'. Die drei anderen Interpretationen gehen zwar nicht von unterschiedlichen Subjekten aus, wohl aber bestimmen sie das unterstellte Subjekt uneinheitlich. Benjamin postuliert einen ,jenseits des Dichters" geschehenden Eingriff der göttlichen Wahrheit in den Text, spricht jedoch bei der Deutung der entsprechenden „Cäsur" von einem mystischen „Symbol", das „Goethe [...] erschienen" sei. Dem primären Aussage-Subjekt (von Benjamin benannt als das Wahre, die moralische Welt, das Erhabene, das Ausdruckslose u.ä.) werden zwei unterschiedliche Relationen zum empirischen Autor zugeschrieben: Dem Postulat nach erfolgt die rein formale Aussage des höheren Textsubjekts jenseits des unbeteiligten empirischen Subjekts; der Deutung zufolge lässt das transzendente Subjekt dem Autor Goethe ein inhaltliches Bild erscheinen, welches im „Gefühl" der Hoffnung von ihm , gefasst' und erzählerisch präsentiert wird. Der empirische Autor ist nach der einen Lesart ein unbewusstes Medium, nach der anderen Lesart ein bewusster Mitarbeiter des „Wahren". Buschendorf und Bersier, die ausnahmslos mit der Kate-

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gorie des intentionalen empirischen Subjekts arbeiten, bestimmen dessen Absicht und Leistung auf eine Weise widersprüchlich, die ebenfalls dem jeweils unterstellten Aussage-Modus entspricht: Buschendorf postuliert die Intention einer Synthese von tradierter und zeitgenössischer Semantik, während er in der Deutung von einem ganz im Bann der überliefernden Bilder und allein nach deren Semantik die Realität gestaltenden Autor ausgeht. Bersier postuliert die Intention einer multivalenten „Eigenschöpfung", geht in der Deutung aber aus von der Intention eines eindeutigen Bezugs auf eine gesetzgebende Vorlage. In unserer externen Kritik, die an die immanenten Widersprüche anknüpft und zu deren Lösung alternative Deutungen vorschlägt, hatten wir dann stets auch mit der Kategorie des Aussage-Kontextes operiert. Diese Kategorie ist allerdings mit den beiden anderen vermittelt. Als Alternative zu Benjamins Deutung hatten wir u.a. vorgeschlagen, den Roman in einen Kontext zeitgenössischer Vorstellungen von Wiederauferstehung und ewigem Leben zu stellen und die Aussage des Romans auf solche Gestalten des zeitgenössischen Bewusstseins bezogen zu sehen. Als Alternative zu Buschendorfs Deutung hatten wir vorgeschlagen, den Roman auch in die vernachlässigten .modernen' Kontexte zu stellen (Christentum, Gesellschaft um 1800, zeitgenössische Kunst usw.), um die postulierte Synthese von tradierter und moderner Semantik tatsächlich bestimmen zu können; weiterhin hatten wir den von Buschendorf nicht eröffneten Kontext der Goetheschen Neuplatonismus-Kritik angeführt, um damit die tatsächliche Überlegenheit der besagten Synthese über eine Verabsolutierung der Tradition zu begründen. Als Alternative zu Millers Deutung hatten wir vorgeschlagen, sowohl die vielen im Roman enthaltenen symbolischen Analogien als auch die sprachliche Form des Gleichnisses selbst in den von Miller postulierten, aber nicht ausgeführten Kontext einer auktorialen Metaphysik der konstitutiven Andersheit zu stellen. Bezogen auf Bersier hatten wir zunächst die im Untertitel der Studie postulierte Weite des zugeschriebenen Kontextes „Romantik" eingeklagt und uns hierbei auch auf die postulierte Intention und den postulierten Aussagemodus stützen können, denn das Postulat der erzählerischen Eigenschöpfung eröffnet zumindest die Möglichkeit, dass die untersuchten Einzeltextbezüge exemplarische Bedeutung haben und auf einen viel weiteren und noch durch ganz andere Texte bestimmbaren Romantik-Kontext verweisen. Im Fall der Interpretation von Heinz Schlaffer hatten wir eine andere Kontextualisierung von Eduards Gleichnisrede als die kabbalistisch-hermetische vorgeschlagen, nämlich die Einbindung dieser Stelle in eine Konvention der erzählerischen Vorausdeutung, die mit einer perspektivischen und psychologischen Aufdekkung falscher Erwartungen der Figuren arbeitet.

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2.5.2 Illokutionäre Akte und Geltungsansprüche Es versteht sich keineswegs von selbst, in erster Linie die Angemessenheit von Interpretationen gegenüber ihrem literarischen Gegenstand zu prüfen. Folgte Walter Benjamins Essay ausschließlich den (auch erhobenen) Geltungsansprüchen, eine wahre Philosophie darzustellen und eine normativ richtige theologische Belehrung zu erteilen; erhöbe Buschendorfs Monographie den Geltungsanspruch konstativer Wahrheit allein für die Darstellung der Zweitbedeutungen; ginge es in Millers Aufsatz allein um die wahre Sprachtheorie - dann ließe sich die Allegorese jeweils ausschließlich danach beurteilen, ob sie mit ihrem Interpretament kohärent ist. Erst die genaue Analyse zeigte: Jeder der untersuchten Texte nimmt für sich auch in Anspruch, als Texterklärung zu fungieren und als wahr in Bezug auf den Werksinn zu gelten. Benjamin will eine angemessene Interpretation des Romans geben, da er behauptet, in den Wahlverwandtschaften sei das „Ideal" des essayistisch erörterten philosophischen Problems gestaltet. Buschendorf erlebt die Geltungsansprüche der angemessenen Prätext-Darstellung und der angemessenen Interpretation. Bei Miller geht die Darstellung und Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik mit dem Anspruch einher, die Metaphysik und Rhetorik des Goetheschen Romans adäquat zu bestimmen. Weil dies so ist, trifft unsere Kritik der Interpretationen mittelbar auch die jeweils dargestellte oder entwickelte Theorie: Wenn die Interpretation unangemessen ist, muss entweder das Interpretament oder dessen Zuordnung zum literarischen Gegenstand falsch sein - oder beides. Entweder war also Benjamins Philosophie der Erlösung noch nicht an ihrem Ziel angelangt, oder Goethes Roman enthält das Ideal dieser Philosophie überhaupt nicht - zumindest nicht in dem unterstellten Modus der allegorisierten Hoffnung. Entweder greift Millers Darstellung der Dekonstruktion abendländischer Metaphysik zu kurz, oder Goethes Roman ist kein Vertreter dieser Metaphysik bzw. deren rhetorischer Selbstdekonstruktion. Die Eintrittskarte für den literaturwissenschaftlichen Diskurs erwirbt eine Interpretation, wie gesagt, dadurch, dass sie den Geltungsanspruch der konstativen Wahrheit (bzw. Angemessenheit) in Bezug auf den literarischen Gegenstand akzentuiert oder es den Adressaten zumindest gestattet, diesen Akzent bei der Lektüre zu setzen. Diese Diskursregel rechtfertigt unser kritisches Verfahren, nicht allein die Angemessenheit der Interpretationsakte gegenüber den Wissenszusammenhängen zu prüfen, aus denen die Interpretamente stammen (Philosophie Derridas, Tradition kabbalistischer Zeichenkonfiguration usw.), sondern immer auch die Angemessenheit gegenüber dem Gegenstand.

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Die analysierten und kritisierten Widersprüche zwischen den zugeschriebenen allegorischen Verweisungsmodi und anderen Gegenstandsbestimmungen können wir, im Rahmen unserer Theorie der literarischen Interpretation, als Widersprüche zwischen dem Gegenstandsbezug und dem Intersubjektivitäts- bzw. Konventionsbezug interpretatorischen Handelns deuten: In den untersuchten Fällen ist der Geltungsanspruch normativer Richtigkeit vom Geltungsanspruch konstativer Wahrheit entkoppelt. Die Interpreten wenden interpretatorische Verfahren an, die innerhalb bestimmter literaturwissenschaftlicher Schulen oder philosophischer Traditionen konventionelle Gültigkeit haben, aber sie überprüfen nicht konsequent die Angemessenheit dieser als probat bzw. richtig geltenden Handlungsweisen gegenüber dem besonderen Gegenstand. Offensichtlich gibt es in der Interpretationsgeschichte des Romans Die Wahlverwandtschaften (und vieler anderer Texte) zwei Traditionslinien, die nicht deckungsgleich sind: Eine Traditionslinie literaturwissenschaftliche Grundauffassungen über den Gegenstand und eine Tradition der interpretatorischen Operationen. Unsere Analysen haben gezeigt, dass diese Linien sich in den einzelnen Interpretationsakten schneiden. Denn keineswegs gibt es auf der einen Seite eine Klasse von Sprechakten, die Grundauffassungen zum Ausdruck bringen, und auf der anderen Seite eine Klasse von Sprechakten, die einzelne Interpretationsoperationen sind. Vielmehr enthalten die einzelnen Auslegungen immer Grundauffassungen, wie es umgekehrt keine Grundauffassungen gibt, die nicht in bestimmten Auslegungsoperationen realisierbar wären. Daher war es unsere Aufgabe, jeweils zu unterscheiden und zu entscheiden, ob eine Auslegungsoperation mit einer kohärent zusammenhängenden und begründeten Auffassung über den Roman Die Wahlverwandtschaften vermittelt ist, oder ob sie den Gegenstand Auslegungsmustern unterwirft, die nicht in einen kohärenten Zusammenhang von Gegenstandsbestimmungen eingebunden sind. Jedes kritische Wort, das in diesem Kapitel gefallen ist, hat die Funktion, genau diesen Unterschied hervorzuheben und argumentativ zu begründen, und daraus ergibt sich die notwendige Schärfe mancher Formulierungen. Was aber berechtigt uns, die Anwendung einer Interpretationskonvention auf einen Gegenstand dann zu kritisieren, wenn sie nicht mit zusammenhängenden Gegenstandsbestimmungen vermittelt ist? Die Antwort lautet, dass nur im Zusammenhang mehrerer Gegenstandsbestimmungen sich die Angemessenheit der einzelnen Bestimmung zeigen kann. Die in einem einzelnen Interpretationsakt enthaltene Bestimmung einer Textstelle lässt sich überhaupt nicht auf ihre Angemessenheit, sondern allein auf ihre Richtigkeit - in bezug auf die Deutungskonvention beurteilen. Anders gesagt: Zwischen unterschiedlichen Deutungsopera-

269 tionen, die gemessen an der Fülle möglicher Interpretationskonventionen allesamt richtig sind, lässt sich eine begründete Auswahl nur durch die Prüfung treffen, welche der Operationen mit einer zusammenhängenden und möglichst weitgehenden Bestimmung des Gegenstands vereinbar ist. Nur durch eine solche Berufung auf das Kohärenzkriterium der Wahrheit (vgl. Kap. 1.4.2) lässt sich in der wissenschaftlichen Literaturinterpretation der Geltungsanspruch der konventionellen Richtigkeit dem Geltungsanspruch der konstativen Wahrheit unterordnen. Diese Unterordnung ist eine konstitutive Bedingung des Sprachspiels Wissenschaft; in dieser Bedingung ist auch die genannte Diskursregel (explanative Funktion als Eintrittskarte) begründet. Wenn wir von jeder wissenschaftlichen Interpretation die Vereinbarkeit der einzelnen Deutungsakte mit einem konsistenten Zusammenhang von Gegenstandsbestimmungen fordern und - im Falle des wissenschaftlichen Dissenses darüber hinaus auch die argumentative Rechtfertigung der vorgenommenen Bestimmungen gegenüber ihren Alternativen, dann ist dies nichts anderes als eine Anwendung der unhintergehbaren Spielregeln unseres wissenschaftlichen Diskurses: Wir erklären die zusammenhängenden und begründeten Bestimmungen des Gegenstands für wahrer als die partikularen Bestimmungen, die ihre Gültigkeit nur aus einer Tradition bestimmter interpretatorischer Operationen beziehen. Indem wir den Anspruch konstativer Wahrheit (bezogen auf das Interpretandum) für den primären, wenn auch nicht einzigen Geltungsanspruch interpretatorischer Sprechakte in der Literaturwissenschaft erklären, können wir die von Eco (1987a, S. 72ff.) im Sinne eines kategorischen Ausschlusses getroffene Unterscheidung zwischen „Interpretieren" und „Gebrauchen" toleranter, nämlich inkludierend reformulieren. In seinem Buch Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft spitzt Werner Strube (1993, S. 67f.) Ecos Unterscheidung definitorisch zu: Literaturwissenschaftliche Interpretation sei nicht (a) Textadaption, (b) praktische Schriftauslegung, (c) dogmatische Interpretation oder (d) historisch interessiertes Quellenstudium. Das heißt: (a) Der literaturwissenschaftliche Textinterpret interpretiert einen Text nicht im Lichte der Erfahrung des „mea res agitur" und um sich selber besser kennenzulernen, (b) Er fragt nicht, wie Exegeten der Bibel das häufig tun: „Bedeuten die Hauptpunkte des Textes auch für mich, meine Zeit, meine Gemeinde etwas? [...] (c) Er interpretiert einen Text nicht in der Absicht, eine bestimmte Lehrmeinung durch diesen Text zu stützen, und (d) er interpretiert ihn nicht mit dem Ziel, die politischen oder sozialen Verhältnisse der Zeit zu erschließen, in der dieser Text entstand. - Oder kurz und mit einer Unterscheidung von Eco: Er interpretiert eben den Text; er benutzt ihn nicht.

Diese Bestimmungen treten deskriptiv auf, obwohl sie normativ gemeint sind und nur so einen Sinn machen: Aufgezählt wird nicht, was ohnehin kein Literaturwissenschaftler tut, sondern was kein Literaturwissen-

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schaftler tun soll. Strube weicht hier von seiner „differentiellcfn] Betrachtungsweise" (ebd., S. 8) ab, d.h. von der unvoreingenommenen Beschreibung dessen, was Literaturwissenschaftler tatsächlich tun, indem sie interpretieren. Es lassen sich zahllose Beispiele literaturwissenschaftlicher Arbeiten nennen, die von persönlicher Betroffenheit bestimmt sind, in denen Aktualität behauptet wird oder Texte zur Illustration von Lehrmeinungen und historischem Wissen dienen. Die zitierte Passage ist ein Verdikt über solche Formen. Ist dieses Verdikt berechtigt? Unbestritten besteht die primäre Aufgabe der Wissenschaft darin, Aussagen mit dem Geltungsanspruch konstativer Wahrheit über den Gegenstand zu treffen. Offensichtlich sind solche Aussagen in der Empirie wissenschaftlicher Interpretationshandlungen jedoch mit den von Strube zurückgewiesenen Selbstdarstellungen, Legitimationen, Appellen usw. vermengt. Die nicht konstativ auf das Interpretandum bezogenen Illokutionen dürfen in einer wissenschaftlichen Interpretation nicht funktional dominant werden, d.h. sie dürfen der primären Aufgabe einer Erkenntnis des Gegenstands nicht zuwiderlaufen. Geschieht dies doch, so muss das entstehende Missverhältnis im Einzelfall kritisiert werden. Eine solche Kritik ist aber nur möglich, wenn man die für das Missverhältnis ursächlichen Handlungen als Bestandteile des Sprachspiels literaturwissenschaftlicher Interpretation anerkennt und beschreibt. Grenzt man sie von vornherein als nicht zum Sprachspiel gehörend aus, so werden sie unbeschreibbar, und ihr verzerrender Einfluss auf die Erkenntnis wird unkritisierbar. Das Ausgegrenzte kehrt in der Analytischen Philosophie der Literaturwissenschaft denn auch an systematisch anderer Stelle wieder. Strube konstatiert, dass jede Interpretation von einer impliziten „Literaturtheorie" geleitet ist (ebd., S. 68) und dass ein Text unter der Voraussetzung unterschiedlicher philologischer „Erfahrung" auch in wissenschaftlichen Arbeiten unterschiedlich gedeutet werden kann (ebd., S. 93). Was aber ist die „implizite Literaturtheorie" anderes denn eine „Lehrmeinung" über Texte, und was meint die individuell je unterschiedliche „Erfahrung" mit Texten, wenn nicht ein „mea res agitur"? Nicht die Ausgrenzung behauptender, epistemischer, evaluativer, appellativer, legitimativer, expressiver, ästhetischer und rollenbestimmender Sprechhandlungen aus dem Sprachspiel der wissenschaftlichen Interpretation lässt sich begründen, sondern die Forderung nach einer Funktionalisierung solcher Handlungen fur die Explanation: Weil in der Literaturwissenschaft die Angemessenheit gegenüber dem Interpretationsgegenstand Vorrang hat vor den anderen Geltüngsansprüchen, muss sich innerhalb dieses Diskurses jeder Textgebrauch daran messen lassen, ob er zugleich eine explanative Funktion erfüllt. Unzählige literaturwissen-

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schaftliche Erkenntnisse sind möglich geworden, weil Interpreten zunächst auf etwas anderes zielten als auf Erkenntnis - weil sie ihr Weltbild stabilisieren, das Publikum vom Wert des Gegenstands überzeugen, ihre persönlich Betroffenheit darlegen wollten usw. Die Erfahrung zeigt sogar, dass auch Interpretationsakte, die eine rein expressive, wertende oder epistemische Funktion haben, über ein Erklärungspotential verfügen können, welches freigelegt wird, wenn ein Adressat den illokutionären Akzent verlagert. Wenn ästhetische Interpretationen wie Theaterinszenierungen, Verfilmungen oder Vertonungen einen Text bei genauerem Nachdenken besser verständlich machen können warum dann nicht auch eine unzureichend am Gegenstand begründete Anwendung philosophischen oder kulturgeschichtlichen Wissens? Unwissenschaftlich und irrational, weil dem Erkenntnisfortschritt abträglich wäre es, ein solches Potential an der Eingangstür abzuweisen. Nicht nur die in einer Auslegung vorgenommene Funktionalisierung der anderen Illokutionen fur die Explanation, sondern bereits eine entsprechende Funktionalisierbarkeit durch andere Interpreten sollte für den Erwerb der Eintrittskarte genügen. Jedes Ignorieren, pauschale Zurückweisen oder polemische Vernichten von Interpretationen, die keine explizit erklärende Funktion haben, ist unvernünftig. Geboten ist hingegen eine möglichst präzise Bestimmung des Mangels und dessen Kritik - das Wort nicht nur im Königsberger, sondern auch im Frankfurter Sinne gebraucht. Unsere kritische Analyse will das Gespräch nicht abbrechen, sondern seine Fortsetzung ermöglichen.

2.5.3 Maximen für Reflexionen Die mannigfachen Probleme, die beim literaturwissenschaftlichen Interpretieren entstehen können, sind abhängig zum einen von den höchst unterschiedlichen literarischen Gegenständen und zum anderen von den höchst unterschiedlichen Handlungsbedingungen, etwa den schulischen' Einflüssen, denen jedes Interpretieren unhintergehbar verpflichtet ist. Aus diesen Gründen wäre es sinnlos, bestimmte Interpretationsakte, die sich unter ganz speziellen Bedingungen gegenüber dem Roman Die Wahlverwandtschaften als missglückt erwiesen haben, verallgemeinernd mit einem Verdikt zu belegen, oder umgekehrt bestimmte geglückte Interpretationsakte zu empfehlen. Die immer wieder von neuem entstehenden Probleme müssen auf immer wieder neue Weise gelöst werden. Abschließend sei daher versucht, die Ergebnisse unserer Analyse, Deutung und Kritik der Wahlverwandtschaften-Allegorese umzumünzen in Maximen der interpretatorischen Selbstprüfung, die so allgemein sind, dass

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sie sich auf jede besondere Interpretationssituation beziehen lassen. Wollen wissenschaftliche Interpreten bei der kritischen Reflexion ihres Tuns missglückte Handlungen erkennen und korrigieren, können sie folgende Prozeduren durchführen und sich folgende Fragen stellen: (1) Prüfung der Korrespondenz und Kohärenz von Zuschreibungsoperationen, Grundauffassungen und erfahrungskonstitutiven Annahmen: Stimmt das, was ich mit dem Text mache, mit dem überein, was ich über den Text denke? Welche Annahmen über Code, Kontext, Modus und Subjekt der literarischen Äußerungen setzen meine Interpretationsakte implizit voraus? Stimmen diese Annahmen mit dem überein, was ich explizit sage? Bilden meine vorausgesetzten Gegenstandsbestimmungen und meine Interpretationsakte je für sich einen schlüssigen Zusammenhang? (2) Klärung der beabsichtigten und der tatsächlichen illokutionären Funktion des interpretatorischen Handelns: Will ich den Text verständlicher machen? Will ich anlässlich des Textes etwas darstellen bzw. durchdenken? Will ich mein Textverstehen ausdrücken? Will ich den Text bzw. eine darauf bezogene Theorie bewerten bzw. rechtfertigen? Will ich anhand des Textes an ein Handeln appellieren? Will ich den Text bzw. bestimmte Elemente des Textes ästhetisch stimmig in einen eigenen Text einbinden? Will ich meine eigene Rolle im Diskurs definieren? Und welche dieser Funktionen erfüllt meine Interpretation tatsächlich? (3) Klärung der Handlungsbedingungen, unter denen (a) die vorausgesetzten Auffassungen über den Gegenstand als selbstverständlich gelten, (b) die zur Disposition stehenden Zuschreibungsoperationen gewählt wurden und (c) die illokutionäre Bedeutung sich bildete: Welches Wissen über den Gegenstand hat für mich aus welchen Gründen vorrangige Bedeutung? An welchen Paradigmen haben sich meine Auffassungen über den Gegenstand und über richtiges Interpretieren gebildet und warum halte ich sie für richtig? Aus welchem Grund erkläre ich etwas, stelle etwas dar, durchdenke etwas, drücke etwas aus, bewerte etwas usw.? (4) Vergleich der Grundauffassungen, der interpretatorischen Operationen und der illokutionären Handlungen mit bestehenden oder möglichen Alternativen: Welches Wissen über den Gegenstand habe ich aus welchen Gründen nicht aktiviert? Verträgt sich ein anderes, möglicherweise ebenfalls angemessenes Wissen mit meinen propositionalen und illokutionären Handlungen? Welche interpretatorischen Operationen habe ich nicht ausgeführt, die möglicherweise ebenso gut oder besser zu meinen Gegenstandsbestimmungen passen? Vielleicht wäre es der philologischen Erkenntnis in manchen Fällen abträglich, wenn Interpreten selbst solche kritischen Prüfungen anstellten. Denn häufig sind es mit Fehlern und Widersprüchen behaftete, ge-

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genüber Alternativen abgeschottete Deutungen, die, indem sie Kritiker auf den Plan rufen, in besonderem Maße zur Diskussion eines Problems beitragen. Dann sind Kritiker und andere Interpreten gehalten, die hier formulierten Maximen auf die fremden Deutungen anzuwenden. Interpretationskritik zählt zu den Fermenten, ohne die das literaturwissenschaftliche Gespräch nicht leben könnte.

Literaturverzeichnis

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