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German Pages 422 Year 2014
Patricia Purtschert, Barbara Lüthi, Francesca Falk (Hg.) Postkoloniale Schweiz
Postcolonial Studies | Band 10
Patricia Purtschert, Barbara Lüthi, Francesca Falk (Hg.)
Postkoloniale Schweiz Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien
Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld 2., korrigierte Auflage 2013
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Inhalt Verflochtene Schweiz. Herausforderungen eines Postkolonialismus ohne Kolonien Shalini Randeria | 7
Eine Bestandesaufnahme der postkolonialen Schweiz Patricia Purtschert, Barbara Lüthi und Francesca Falk | 13
»Kommt die nächste Miss Schweiz aus dem Kongo?« Postkoloniale Blickregimes in den Medien Christine Bischoff | 65
»De Schorsch Gaggo reist uf Afrika«: Postkoloniale Konstellationen und diskursive Verschiebungen in Schweizer Kindergeschichten Patricia Purtschert | 89
Geschlecht im Schweizer Migrationsdiskurs – die postkoloniale Konstruktion der »unterdrückten Muslimin« und die rassistische Verwendung des Schleiers Meral Kaya | 117
Ruanda, Trinidad und Co.: Koloniale Verstrickungen und postkoloniale Aufbrüche in der Schweizer Gegenwartsliteratur Alexander Honold | 133
Keramik, Knollenfrüchte und Kinderbücher: Eine postkoloniale Spurensuche in Zürich Martin Mühlheim | 157
Die Comedyfigur Rajiv Prasad in Viktors Spätprogramm – Post_koloniales Phantasma und die Krise des »Sonderfalls Schweiz« Rohit Jain | 175
Eine postkoloniale Perspektive auf die illegalisierte Immigration in der Schweiz. Über Ausschaffungen, den »Austausch mit Afrika«, Alltagsrassismus und die Angst vor der umgekehrten Kolonisierung Francesca Falk | 201
Verflechtung durch Neutralität. Wirkung einer Schweizer Maxime im Zeitalter der Dekolonisation Daniel Speich Chassé | 225
Postkoloniale Erschließung ferner Länder? Die erste Schweizer Nepalmission und die Anfänge der »technischen Hilfe an unterentwickelte Länder« Sara Elmer | 245
Im Kampf gegen das »heimliche Imperium« – Entwicklungspolitik und postkoloniale Kritik in der Schweiz seit 1970 Konrad J. Kuhn | 267
(Post-)Koloniale Söldner: Schweizer Fremdenlegionäre in den französischen Kolonien und ihre Erinnerungsschriften Christian Koller | 289
Bauern und Hirten reconsidered. Umrisse der »erfundenen Schweiz« im imperialen Raum Bernhard C. Schär | 315
Zeitreisen durch die Welt. Temporale und territoriale Ordnungsmuster auf Weltausstellungen und schweizerischen Landesaustellungen während der Kolonialzeit Christof Dejung | 333
Das Making-of von Gardis Afrika Gaby Fierz | 355
Indien im Blick. Schweizerische Imaginationen in vier Konfigurationen Francesca Falk und Franziska Jenni | 379
Autorinnen und Autoren | 413
Verflochtene Schweiz Herausforderungen eines Postkolonialismus ohne Kolonien Shalini Randeria
Europa sei buchstäblich ein Produkt der Dritten Welt, schrieb Frantz Fanon provokativ in seinem Werk Die Verdammten dieser Erde.1 Mit dieser brillanten Einsicht in die Wechselwirkungen von kolonisierenden und kolonisierten Gesellschaften, die konstitutiv für beide waren, formulierte Fanon eine radikale postkoloniale Position avant la lettre. Inwiefern trifft aber eine solche These für die Schweiz zu, ein europäisches Land ohne koloniale Ambitionen und geostrategische Interessen, das der kolonialen Machtausübung auch in der Fremdwahrnehmung unverdächtig geblieben ist? In welchem Zusammenhang stehen koloniale Denk- und Verhaltensmuster und der formale Besitz von eigenen Kolonien? Wie wirkte sich eine Mitbeteiligung am Kolonialismus (eine »koloniale Komplizenschaft«) auf die Strategien von wirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Akteuren und Akteurinnen in der Schweiz des 19. und 20. Jahrhunderts aus? In welcher Weise wurden schweizerische Nationalidentität und Populärkultur durch die Erfahrungen als Nutznießende des Kolonialismus oder durch den imperialen Zeitgeist geprägt? Können diese Muster in einem Land ohne Kolonialbesitz einfacher fortbestehen, da sie paradoxerweise weniger von der Entkolonialisierungspolitik nach 1945 tangiert wurden? Dies sind nur einige der spannenden Fragen, denen der Band Postkoloniale Schweiz differenziert nachgeht. Indem die schweizerische Gesellschaft, Politik, Kultur und Wirtschaft, die bislang meist in einem nationalstaatlichen Rahmen analysiert worden sind, nun in einen globalgeschichtlichen Zusammenhang gestellt werden, ermöglicht der vorliegende Band eine wichtige Horizonterweiterung. Und er sucht dabei konsequent, eine postkoloniale Perspektive für eine solche Transnationalisierung des Forschungsgegenstandes (das »heimliche Imperium« Schweiz) fruchtbar zu machen. Die hier analysierten Akteurnetzwerke und institutionellen Konstellationen, kulturellen Prägungen und politischen Strategien weisen auf die Notwendigkeit hin, den als »national« konzipierten Raum als Produkt transnationaler Verflech1 | Fanon, Die Verdammten.
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tungen wahrzunehmen. Zudem ermöglicht es der Band, von den Rändern ausgehend, einen dezentrierten Blick auf den europäischen Kolonialismus zu werfen. Ergebnisse sind sowohl neue Einsichten auf transnationale Verschränkungen, welche die Schweiz geprägt haben und die bis in die Gegenwart reichen, als auch eine Bereicherung postkolonialer Ansätze durch eine ungewöhnliche Verschiebung des bisherigen räumlichen Fokus auf England, Frankreich, Belgien oder Holland als Kolonialmächte. Wir leben in einer postkolonialen Welt, die Schweiz eingeschlossen, wie die hier versammelten Beiträge auf verschiedenste Weise deutlich machen. Sie rufen in Erinnerung, dass die koloniale Vergangenheit noch heute ihren langen Schatten nicht nur auf die sogenannten Postkolonien Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, sondern auch auf Europa und Nordamerika wirft. Postkoloniale Ansätze versuchen, uns für die nach wie vor ungebrochene Wirkungsmacht und Prägekraft kolonialer Denkmuster und Kategorien im Alltag wie in den institutionalisierten Wissensordnungen zu sensibilisieren – und dies sowohl im »Westen« als auch im »Rest« der Welt. Sie weisen auf das Fortwirken von neokolonialen Wirtschafts- und Herrschaftsstrukturen sowie auf disziplinäre Formationen kolonialen Ursprungs hin. Sie analysieren überdies die diversen Formen und Auswirkungen der anhaltenden Machtasymmetrien zwischen Gesellschaften im Norden und Süden, die miteinander verwoben sind. Und sie stellen die Herrschaftsbeziehungen und Herrschaftspraktiken innerhalb wie außerhalb der Wissenschaft radikal in Frage. Diese Einsichten wendet der vorliegende Band differenziert und gekonnt auf die Schweiz an. Ausgangspunkt für diesen thematisch breitangelegten transdisziplinären Band ist die Überzeugung, dass postkoloniale Perspektiven nicht nur relevant, sondern auch unerlässlich sind, um die schweizerische Gesellschaft, Politik, Kultur und Wirtschaft zu verstehen. Bei der Verstrickung der Schweiz im kolonialen Beziehungsgeflecht geht es weder um Eroberung durch Militärmacht oder Kriege zur Landbesetzung noch um Ausübung von nackter Gewalt. Es geht ebenso wenig um krasse wirtschaftliche Ausbeutung oder gewaltsame politische Repression. Der Kontrast zu Sebastian Conrads eindrücklicher Geschichte des deutschen Kolonialismus, die nicht nur das Vorhandensein des rassistischen Vokabulars, sondern auch der Praktiken von Arbeits- und Konzentrationslagern weit vor dem Nationalsozialismus in Übersee belegt, könnte diesbezüglich kaum größer sein.2 Eine postkoloniale Beschäftigung mit der Schweiz muss notwendigerweise andere Forschungsfelder entdecken und weniger bekannte Wege einschlagen, wie dies die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes auf kreative Weise tun. Im Schweizer Kontext geht es vielmehr darum, auf die strukturelle Gewalt von Handelsbeziehungen aufmerksam zu machen sowie die Logiken und Mechanismen einer technisch definierten Entwicklungshilfe (Elmer) oder die subtilen Implikationen einer Neutralitätspolitik (Speich) sichtbar zu machen oder den leisen All2 | Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte.
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tagsrassismus in den Bildern und Texten in Kinderbüchern (Kuhn, Purtschert), in Alpengedichten (Schär) sowie die Verschränkungen zwischen kolonialen Völkerschauen und ländlich-historisierenden romantischen Ensembles (Dejung) aufzudecken – Verflechtungen also, welche das Selbstbild mehrerer Generationen von Schweizerinnen und Schweizern geprägt haben. Detailliert und kenntnisreich behandeln die Kapitel vielfältige Formen und Folgen des Kolonialismus etwa im Hinblick auf das othering von Fahrenden in der Schweiz (Falk) oder auf den Schleier als Symbol von »unterdrückten muslimischen Migrantinnen« (Kaya). Wir gewinnen unerwartete Einsichten in den kolonialen Kontext von Alltäglichem wie einer Zahnpastareklame in den 1930er Jahren und der Kolonialismusnostalgie in der aktuellen Werbung (Falk/Jenni), dem Zürcher Geschnetzelten mit Rösti (Mühlheim) und dem medialen Ereignis der Miss-Schweiz-Wahl (Bischoff) ebenso wie populären Figuren der Gegenwartskultur (Jain) und der Gegenwartsliteratur (Honold). Die Beiträge verändern aber auch unseren Blick auf Disziplinen wie die Volkskunde und die Anthropologie (Schär). Wir erfahren Überraschendes über die Repräsentationen von Anderen in Schweizer Reiseliteratur, Filmen und Fotografien (Fierz), in Deutschschweizer Kinderbüchern (Purtschert), aber auch über den kolonial bestimmten Fokus und die Lücken in den Ausstellungsexponaten von Völkerkundemuseen (Falk/Jenni). Eine Stärke des Bandes liegt somit in der breiten Materialbasis, die dennoch zu einem kohärenten Gesamtargument beiträgt. Untersucht werden Tagebücher von Schweizer Soldaten, die in der Fremdenlegion in französischen Kolonien tätig waren (Koller), genauso wie Repräsentationen von Männlichkeit und ihr Zusammenhang mit Rassismus in der heutigen Populärkultur (Purtschert). Auch die heutige Angst vor einer »Kolonisierung« durch Migrantinnen und Migranten wird thematisiert und historisiert, wodurch der Geschichte der Illegalisierung der Immigration sowie dem kolonialen Kontext von Ausschaffungslagern neue Beachtung geschenkt werden kann (Falk). Damit sind nur einige der behandelten diversen Forschungsfelder benannt, in denen auf innovative und originelle Weise vielfältige Verschränkungen erkundet werden, die die Trennlinien zwischen national und transnational, innen und außen verschwimmen lassen. Der Sammelband vermag exemplarisch historische Studien mit kulturwissenschaftlichen Analysen der Schweiz zu verknüpfen sowie literaturwissenschaftliche Themen mit Fragen der politischen Ökonomie zu verbinden. Und er trifft dabei den richtigen Ton: weder anklagend noch entlarvend, sondern sachlich und oft auch ironisch. Eine beachtliche Leistung! Der Band geht auf die angelsächsischen und deutschen, in der exzellenten Einleitung der Herausgeberinnen aber auch auf die neuen französischen oder italienischen und skandinavischen Debatten zum Postkolonialismus ein. Er vermeidet die naheliegende Versuchung, sich mit diesen Diskussionen bloß auf einer theoretischen oder ideologiekritischen Ebene auseinanderzusetzen. Vielmehr werden Anregungen aus postkolonialen Ansätzen einerseits aufgenommen, um sie produktiv auf reiches und oft überraschendes empirisches Material aus der Schweiz zu beziehen und dabei auch die Grenzen dieser Perspektiven auszuloten. Anderer-
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seits werden metatheoretische Fragen zur Vorgeschichte des Postkolonialismus in der Schweiz thematisiert beziehungsweise eine Historisierung von postkolonialen Ansätzen selbst erprobt. Mir scheint daher die Bedeutung des Bandes über eine Neukonturierung des Feldes schweizerischer Historiographie und Gesellschaftsanalyse hinauszugehen. Denn von ihm gehen Impulse beispielsweise für ein Nachdenken über das Verhältnis zwischen postkolonialen Theorien und der entwicklungspolitischen Nord-Süd-Problematik (Elmer, Speich) genauso aus wie für die Thematisierung der Kontinuität zu einer heute verstummten und daher auch übersehenen Kritik der Entwicklungspolitik in der Dritte-Welt-Bewegung (Kuhn), die die postkoloniale Kritik in manchen Punkten vorwegnimmt. Darüber hinaus wird von der Publikation Postkoloniale Schweiz ein wertvoller Beitrag geleistet, um den Kolonialismus aus seinem binären Korsett zu lösen und zu pluralisieren. Denn die hier versammelten Aufsätze legen uns ein komplexes Verständnis von Kolonialismus nahe, in dem die Schweiz nicht nur als »lachende Dritte« fungiert, sondern als aktive Vermittlerin zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten, als »go-between«3, um Kapil Rajs prägnanten Begriff zu verwenden, deren Vermittlung unterschiedliche Akteurinnen und Akteure und Teile der Welt miteinander verbindet. Der Band stellt damit sowohl die »europäische« Geschichte als bloße Aneinanderreihung von parallelen Nationalgeschichten innerhalb Europas in Frage als auch ein Verständnis von Europa als einheitlichem Gebilde. Letztendlich erhält der Begriff »postkolonial« somit einen neuen Referenzpunkt. Denn die Schweiz, die nie eine Kolonialmacht im eigentlichen Sinne war, stellt das unwahrscheinlichste Fallbeispiel für diese kritische Theorierichtung dar. Dass dieser Zugang plausibel wird, ist der vielleicht größte Verdienst des Bandes. Denn er trägt damit entscheidend zur Weiterentwicklung des Postkolonialismus als transnationales und interdisziplinäres Forschungsfeld bei. In den letzten Jahren wurde oft Kritik am Postkolonialismus aufgrund der Vorherrschaft des südasiatischen/indischen Modells mit seiner Verbindung zum Britischen Empire laut. Es wurde oft versucht, die Bedeutung dieses Modells zu relativieren bzw. dies als Sonderfall darzustellen. Ein zentraler Einwand gegen postkoloniale Ansätze betraf folglich ihre Tendenz, den europäischen Kolonialismus zu homogenisieren. Neuere Forschungsarbeiten zu französischen4 , italienischen5, portugiesischen6 und deutschen7 Erfahrungen des Kolonialismus erinnern uns daran, dass postkoloniale Studien bislang auf wenig oder nur auf verhaltene Resonanz außerhalb des angelsächsischen Raumes gestoßen sind – und dies sogar in Gesellschaften mit einer langen und komplexen kolonialen Geschichte, die verdrängt und seit der Entkolonisierung kaum mehr thematisiert wurde. Zu den 3 | Raj, »Mapping Knowledge«. 4 | Mbembe, De la postcolonie. 5 | Mellino, La critica postcoloniale; Mezzadra, La condizione postcoloniale. 6 | De Sousa Santos, »Between Prospero and Caliban«. 7 | Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte.
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Gründen für die relative kontinentaleuropäische Interesselosigkeit an postkolonialen Perspektiven zählt die Amnesie der eigenen kolonialen Vergangenheit, mangelhafte Rezeption einiger wichtiger Autorinnen und Autoren wie etwa Edward Said und das Fehlen von Intellektuellen sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit Migrationshintergrund. Auch wenn Genese und Geltung postkolonialer Theorien auseinandergehalten werden, stellt der Schritt in Richtung einer postkolonialen Schweiz keine Selbstverständlichkeit dar. Denn es ist erst zehn Jahre her, dass der von Sebastian Conrad und mir selbst herausgegebene Band Jenseits des Eurozentrismus8 eine breite Debatte zu postkolonialen Perspektiven in den Geschichts- und Sozialwissenschaften im deutschsprachigen Raum auslöste. In den Jahren zuvor wurden meine Bemühungen, postkoloniale Ansätze in Deutschland zu thematisieren, oft mit einem leicht amüsierten Schulterzucken quittiert, um die mangelnde Relevanz im deutschen Kontext zu unterstreichen. Meist folgte die Bemerkung, Deutschland habe kaum Kolonien besessen oder diese sehr früh verloren. Die deutsche Gesellschaft, Kultur und Politik seien so kaum beeinflusst worden von den kurzen, unwesentlichen kolonialen Abenteuern. Wie rasch sich postkoloniale Perspektiven innerhalb einer Dekade etablieren konnten und welche Beliebtheit sie gerade bei einer jüngeren Generation von Forschenden und Studierenden, die oft über einen Migrationshintergrund verfügen, erfahren haben, zeigt die Tatsache, dass Nikita Dhawans und María do Mar Castro Varelas einflussreiches Buch Postkoloniale Theorie9 dieses Jahr in einer neuen erweiterten Auflage erscheinen wird ebenso wie unser Band Jenseits des Eurozentrismus, der vor zehn Jahren die Perspektive der entangled histories etablierte. Die Beschäftigung mit der Schweiz aus diesem Blickwinkel könnte auch wegweisend für zukünftige postkoloniale Studien sein. Denn der vorliegende Band liefert kritisch gesichtetes Material für eine Erkenntnis der Gegenwart, nämlich des heutigen Imperialismus ohne formalen Kolonialbesitz10, und zwar direkter, als es Forschungen zur klassischen kolonialen Situation der Vergangenheit tun. Somit könnte der Schweizer Fall für Gegenwartsanalysen nützlicher sein. Denn die Schweiz scheint eher die künftige Norm als die bisherige Ausnahme darzustellen. Empirisch fundierte verflechtungsgeschichtliche Studien, wie sie in diesem Band versammelt werden, werfen zudem eine der zentralen methodologischen Fragen hinsichtlich der Untersuchungseinheit auf. Als Beiträge zu einer postkolonialen Erforschung der Schweiz sehen sie sich mit dem Dilemma konfrontiert, die nationalstaatliche Untersuchungseinheit beizubehalten, diese aber zugleich zu überschreiten, um den konzeptionellen Nationalismus der Analyse überwinden zu können. Inwieweit kann man den zersplitterten und zufälligen Prozessen der Transnationalisierung in der Vergangenheit wie Gegenwart gerecht werden, wenn man nach wie vor vom Nationalstaat ausgeht und diesen als räumlich konstanten 8 | Conrad/Randeria, Jenseits des Eurozentrismus. 9 | Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie. 10 | Eckert/Randeria, Imperialismus und Empire.
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Gegenstand beibehält? Die pluralen, miteinander verflochtenen Modernen, die in Postkoloniale Schweiz thematisiert werden, sind Teil einer geteilten Geschichte im doppelten Sinne des Wortes: Sie verbinden und trennen, da sie keine einheitlichen Narrative schaffen. Es gilt daher, den Verflechtungen in der Vergangenheit und Gegenwart nachzuspüren, aber auch Brüche und Blockaden zu erkunden. Die hier versammelten Beiträge liefern in dieser Hinsicht einige faszinierende Einblicke in die vielfältigen Aspekte der Herausbildung einer schweizerischen Moderne. Durch die Thematisierung einiger offener Fragen regen sie zudem zu weiteren Forschungsleistungen an, wobei insbesondere das Spezifische der Schweiz im europäischen Vergleich herausgearbeitet werden könnte. Der Keim zu einer solchen Forschung ist in diesem Band bereits angelegt. Das große Ziel ist eine möglichst differenzierte Sicht auf Kolonialismus und Postkolonialismus in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
L ITER ATURVERZEICHNIS Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005 (Neuauflage 2012). Conrad, Sebastian, Deutsche Kolonialgeschichte, München 2008. Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini, Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002 (Neuauflage 2012). De Sousa Santos, Boaventura, »Between Prospero and Caliban: Colonialism, Postcolonialism, and Inter-Identity«, Luso-Brazilian Review, Jg. 38, H. 2 (2002), S. 9-43. Eckert, Andreas/Randeria, Shalini, Vom Imperialismus zum Empire. Nicht-westliche Perspektiven auf Globalisierung, Frankfurt a.M. 2009. Fanon, Frantz, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt a.M. 2008 (1961). Mbembe, Achille, De la postcolonie. Essai su l’imagination politique dans l’Afrique contemporaine, Paris 2000. Mellino, Miguel, La critica postcoloniale. Decolonizzazione, capitalismo e cosmopolitismo nei postcolonial studies, Rom 2005. Mezzadra, Sandro, La condizione postcoloniale. Storia e politica nel presente globale, Verona 2008. Raj, Kapil, »Mapping Knowledge Go-betweens in Calcutta 1770-1820«, in: Schaffer, Simon/Roberts, Lissa/Raj, Kapil/Delbuorgo, James (Hg.), The Brokered World: Go-Betweens and Global Intelligence, 1770 –1820, Uppsala 2009, S. 105-150. Said, Edward, Orientalism. Western Conceptions of the Orient, London 1978.
Eine Bestandesaufnahme der postkolonialen Schweiz 1 Patricia Purtschert, Barbara Lüthi und Francesca Falk
Die weit verbreitete Meinung, wonach die Schweiz mit dem Kolonialismus nichts zu tun gehabt habe, schlägt sich im helvetischen Kontext nicht nur im Geschichtsunterricht nieder, sondern auch in der medialen Berichterstattung, in der Außenpolitik oder in alltäglichen Gesprächen. Selbst in der neueren Historiographie fehlt eine Reflexion der Schweizer Position in der kolonialen Konstellation fast gänzlich.2 Ist es im Kontrast zu diesem weitgehend fehlenden Problembewusstsein angebracht, so fragten wir Herausgeberinnen uns, von einer »postkolonialen Schweiz« zu sprechen? Und wenn ja, wie lässt sich dieser Begriff begründen? Denn auch wenn man, wie wir es tun, davon ausgeht, dass Schweizer Akteure und Akteurinnen auf vielfältige Weise in die kolonialen Geschehnisse verstrickt waren, stellt sich die Frage: Ergibt es Sinn, postkoloniale Ansätze auf ein Land anzuwenden, das als Nationalstaat nie formale Kolonien besessen hat? Pointiert herausstellen lässt sich die Schwierigkeit, über die Schweiz als kolonialen und postkolonialen Raum nachzudenken, im Vergleich mit einer benachbarten ehemaligen Kolonialmacht. Im französischen Kontext, in dem die Rezeption postkolonialer Ansätze ebenfalls erst vor wenigen Jahren eingesetzt hat, können koloniale Praktiken und ihre postkolonialen Ausläufer direkt an die eigene Kolonialgeschichte zurückgebunden werden. So wird die breite Ausstellungspraxis 1 | Die Herausgeberinnen bedanken sich bei Harald Fischer-Tiné, Eva Keller, Gesine Krüger, Marina Lienhard, Martin Mühlheim, Jovita dos Santos Pinto, Jana Tschurenev und Yves Winter für die hilfreichen Kommentare. Marina Lienhard und Jovita dos Santos Pinto danken wir zudem für die Recherchearbeiten. Wertvolle Rückmeldungen gaben uns zudem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Übung »Postkoloniale Perspektiven in der politischen Theorie«, die am Historischen Seminar in Basel im Frühlingssemester 2011 stattfand. 2 | So kommen weder Maissen noch Reinhard auf den Kolonialismus zu sprechen, vgl. Maissen, Geschichte der Schweiz; Reinhardt, Geschichte der Schweiz. Ein kurzer Hinweis auf den »verdeckten Kolonialismus« der Schweiz findet sich in Comité pour une Nouvelle Histoire de la Suisse, Geschichte der Schweizer, S. 712.
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kolonialer Gegenstände im 19. und frühen 20. Jahrhundert mit der Notwendigkeit in Verbindung gebracht, die Bevölkerung für das koloniale Unterfangen zu gewinnen: »le lobby colonial a travaillé sans relâche pour convaincre un public peu enthousiaste des mérites de l’expansion outre-mer«3 . Weiter wird darüber geforscht, »comment la colonie ›fait retour‹ en métropole«4 . Und es wird gefragt, wie die im kolonialen Setting gemachten Erfahrungen die Vorstellungen von Anderen, »les imaginaires et les conceptions sur l’Autre«5, in Frankreich geprägt haben. Die Vorannahmen, die in diesen Fragestellungen zum Ausdruck kommen, scheinen im französischen Kontext durchaus sinnvoll zu sein: Es geht darum zu verstehen, wie sich die Kolonialpolitik in der eigenen Bevölkerung durchsetzen ließ, welche Rückwirkungen der Kolonialismus auf Frankreich hatte und wie die Wahrnehmung von Anderen und vom Fremden maßgeblich vom Kolonialismus geprägt wurde. Auch die Frage, was für Widerstände gegenüber einer nationalen Kolonialpolitik in Frankreich selbst auszumachen sind, beispielsweise von Seiten der Kommunistinnen, Existentialisten und Surrealistinnen, liegt auf der Hand.6 Wie aber lassen sich die Ausformungen und Effekte der kolonialen Regimes in einem Land wie der Schweiz fassen? Wie lassen sich die beliebten Ausstellungen kolonialer Gegenstände um 1900 in der Schweiz deuten, die enorme Sammlertätigkeit von Schweizer Forschenden, die Völkerschauen7, die exotischen Postkarten, die Reiseliteratur? Wie lassen sich Auswirkungen und Rückwirkungen der kolonialen Konstellation auf die Schweiz bestimmen? Besteht auch in der Schweiz so etwas wie ein »koloniales Imaginäres«, das die Wahrnehmung von Anderen bis hinein in unsere Gegenwart strukturiert? Und wenn ja, wie müssen diese Aspekte für ein Land gedacht werden, das sich selbst bis heute weitgehend außerhalb der kolonialen Ereignisse wähnt? Auch in der Schweiz gab es Ende des 19. Jahrhunderts Stimmen, die eine Beteiligung des Bundes an konkreten Kolonisierungsprojekten forderten. So schlug 1884, also in der Hochphase des Scramble for Africa, der Nationalrat Friedrich Salomon Vögelin8 im Rahmen eines Vorstoßes für die Revision der Bundesverfassung vor, die Schweizerinnen und Schweizer in den Kolonien unter einen direkteren Schutz der Eidgenossenschaft zu stellen.
3 | Aldrich, »Musée Colonial Impossible«, S. 89. 4 | Bancel/Blanchard, »Avant-Propos«, S. 13. 5 | Ebd., S. 12. 6 | Siehe dazu die Ausstellung Exotiques expositions. Les expositions universelles et les cultures extra-européennnes, France 1855-1937, die im Frühling und Sommer 2010 in den Archives nationales in Paris stattfand. Siehe auch den Katalog zur Ausstellung: Demeulenaere-Douyère, Exotiques expositions. 7 | Siehe dazu den Artikel von Christof Dejung in diesem Band. 8 | Betulius, Vögelin.
E INE B ESTANDESAUFNAHME DER POSTKOLONIALEN S CHWEIZ »Unaufhaltsam drängt das öffentliche Bewusstsein dahin, dass der Bund, wie er die Auswanderungs-Agenturen überwacht, ja auch den Auswanderern selbst seine Obsorge und seine Hülfe angedeihen lasse und dass er sich auch bei der Errichtung von Kolonien mit seiner Autorität, seiner Vermittlung und, wenn nöthig, seiner Unterstützung beteilige. Diejenigen, welche den Boden der Heimat für immer zu verlassen den schweren Entschluss gefasst haben, hören damit nicht auf, Kinder unseres Vaterlandes zu sein und Anspruch auf seinen Schutz und seine Obsorge zu haben. Dieses Gefühl muss im Schweizervolke durchschlagen und seinen feierlichen und verbindlichen Ausdruck in der Verfassung finden.« 9
Vögelin forderte deshalb eine »direkte legislatorische und materielle Betheiligung des Bundes bei Auswanderungs- und Kolonialwesen«10, beispielsweise indem das Fabrikgesetz entsprechend erweitert werde. Bundesrat Numa Droz, Vorsteher des Handels- und Landwirtschaftsdepartements, stand einer solchen Beteiligung skeptisch gegenüber und entgegnete: »Mit der Beteiligung an Kolonisationsunternehmungen würde der Bund eine Verantwortung übernehmen, der er unter Umständen absolut nicht gerecht werden könnte. Darüber sind alle Nationalökonomen einig, dass, um zu kolonisiren, ein Stat ein Küstenland sein und also auch eine Flotte haben muss.«11 Vögelins Vorstoß ist vorsichtig zu interpretieren; es wäre wohl falsch, den Zürcher Professor für Kulturgeschichte und Initiator des Landesmuseums, der »sein Herz den untern Volksschichten«12 schenkte, vorschnell zu einer der treibenden Kräfte der Schweizer Kolonisierung zu stilisieren. Dennoch wäre es interessant, die jeweils gewählten Begrifflichkeiten auf ihre Implikationen hin zu untersuchen: Wer spricht von Auswanderung, wer wann und unter welchen Umständen von Kolonisierung? Vögelins Dokumente oder auch die Zeitschrift Der Kolonist13 einer präzise argumentierenden und kontextualisierenden Diskursanalyse zu unterziehen, wäre ein vielversprechendes Forschungsvorhaben; gerade der spezifische Sprachgebrauch könnte interessante Rückschlüsse auf das Verhältnis von Schweizer Akteuren und Akteurinnen zum Kolonialismus ermöglichen.
9 | Vögelin, »Rede«, S. 59. Wir folgen jeweils der überlieferten Schreibweise und verzichten aus Gründen der Lesbarkeit auf das Wort »sic«. 10 | Ebd., S. 60. 11 | Droz, »Revision«, S. 619. 12 | Feller/Bonjour, Geschichtsschreibung, S. 723. 13 | Beatrice Ziegler zählt drei Namensvarianten der Zeitschrift auf: Vom 06.06.1851 bis 1853 lief sie unter dem Namen Der Colonist, Organ zum Schutze, Beistand und Belehrung schweizerischer Auswanderer, vom 01.01.1854 bis Neujahr 1855 unter der Bezeichnung Der Kolonist, Organ für die schweizerische Auswanderung und vom 01.01.1855 bis Ende des dritten Quartals 1857 war schließlich die Benennung Der Kolonist, Organ für die schweizerische Auswanderung, insbesondere nach Nord- und Südamerika gebräuchlich. Siehe dazu Ziegler, Schweizer statt Sklaven, S. 458.
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P OSTCOLONIAL S TUDIES : E IN ANDERER B LICK AUF DIE M ODERNE In den letzten Jahren hat sich eine wachsende Zahl von wirtschaftshistorischen Studien mit der Beteiligung von Schweizer Akteuren am transatlantischen Sklaven- und Kolonialhandel beschäftigt.14 Diese Studien eröffnen nicht nur ein neues Diskussionsfeld, sie nehmen auch bestehende Forschungen auf und verleihen ihnen neue Relevanz: Ohne militärische Verantwortung tragen zu müssen, profitiere die Schweiz von kolonialen Konstellationen, meinte Richard Fritz Behrendt bereits in den 1930er Jahren.15 Die Schweiz wurde dabei, auch wegen ihrer begrenzten territorialen Ausdehnung und geopolitischen Bedeutung, von den formalen Kolonialmächten nicht als Konkurrenz wahrgenommen: »es ist selbstverständlich, dass die allgemeinen sozialen, politischen und anderen Vorteile, die Angehörige europäischer Staaten in Kolonialgebieten besitzen, auch Schweizern zugute kommen«16. In diesem Zusammenhang sprach er von der Schweiz als »lachende Dritte«: »Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die Schweiz auf diese Weise als ›tertius gaudens‹ aus dem Imperialismus der andern gerade als nichtimperialistisches Land Nutzen zieht.«17 Gerade weil die Schweiz keine formale Kolonialmacht war, konnten Schweizer Firmen nach der Dekolonisierung erfolgreich ihre Stellung sichern und dabei als »unverdächtiger« Partner gegenüber den ehemaligen Kolonien auftreten. Es wäre interessant zu erforschen, ob der Wirtschaftsaufschwung, den die Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte, auch auf diese vorteilhafte Positionierung zurückzuführen ist. Rentable Großprojekte, technisches Knowhow und Entwicklungshilfe wurden in dieser Zeit jedenfalls gewinnbringend zusammengebracht.18 Parallel zu dieser Entwicklung wurde insbesondere seit Beginn der 1970er Jahre Kritik an den Verflechtungen von Schweizer Unternehmen mit neokolonialen globalen Wirtschaftsstrukturen laut. Tiersmondistische Bewegungen oder Organisationen wie die Erklärung von Bern, gegründet 1968, oder die Aktion Finanzplatz Schweiz, die 1978 ihre Arbeit aufnahm, machen seit Jahrzehnten auf die vielfältigen Verbindungen zwischen dem Schweizer Außenhandel und diktatorischen, korrupten Regimes aufmerksam sowie auf die Geschäftspraktiken transnationaler Konzerne, welche gegen die Menschenrechte verstoßen oder arbeitsrechtliche Minimalstandards unterlaufen.19 Zentral für diese Widerstandsbewegungen war das 14 | Siehe dazu beispielsweise David/Bouda/Schaufelbuehl, Schwarze Geschäfte; Fässler, Reise ins Schwarz-Weiss und Stettler/Haenger/Labhardt, Sklaverei und Kredite. Vgl. zur Debatte auch Kuhn/Ziegler, Schweiz und die Sklaverei. 15 | Behrendt, Die Schweiz und der Imperialismus. 16 | Ebd., S. 51. 17 | Ebd., S. 46. 18 | Siehe dazu die hier publizierten Ar tikel von Sara Elmer und Daniel Speich. 19 | Kalt, »Nestlé«; Kalt, Tiersmondismus; Kuhn, Entwicklungspolitische Solidarität. Vgl. auch den Beitrag von Konrad Kuhn in diesem Band.
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Engagement gegen das südafrikanische Apartheidsregime.20 Schweizer Firmen tätigten lukrative Geschäfte in Südafrika; die offizielle Schweiz konnte sich nicht zu einem Boykott durchringen.21 Noch heute sind diesbezüglich Akten aufgrund einer speziell verlängerten Schutzfrist im Bundesarchiv unter Verschluss, was eine notwendige Aufarbeitung der Beziehungen zwischen der Schweiz und Südafrika auch auf Druck der Rüstungsindustrie weiterhin verunmöglicht.22 Der vorliegende Sammelband beschäftigt sich allerdings nicht primär mit finanziellen Transaktionen zwischen Schweizer Geschäftsleuten und kolonialen Handelsfirmen, Aktienbeteiligungen an Sklavenschiffen oder den wirtschaftlichen Folgen des Kolonialismus in der neokolonialen Ära. Sein Fokus liegt auf den kulturellen Aspekten des Kolonialismus (und somit auf den diskursiven, semantischen und imaginären Ausformungen kolonialer Projekte) und seinen Nachwirkungen bis hinein in die Gegenwart. Aufgrund dieser Ausrichtung liegt es auf der Hand, dass die postcolonial studies, die seit über 30 Jahren und vornehmlich im englischsprachigen Raum betrieben werden, einen zentralen Anknüpfungspunkt für unsere Forschung bieten. Der Begriff des Postkolonialen führt, wie die Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick anmerkt, zwei Bedeutungsstränge zusammen, die ein anhaltendes Spannungsverhältnis erzeugen.23 Als eine kritische historische Kategorie bezeichne »postkolonial« einerseits die nachhaltige Prägung der globalen Situation durch Kolonialismus, Dekolonisierung und neokolonialistische Tendenzen. Andererseits werde über diese historische Verortung hinaus eine diskurskritische Kulturtheorie angestoßen, die den Eurozentrismus gängiger Wissensordnungen und Repräsentationssysteme kritisiert und oft einen Gegenwartsbezug aufweist. Daher werden die postcolonial studies auch immer relevanter für Länder, die durch die Beschäftigung mit den kulturellen Aspekten des Rassismus die kolonialen Bestandteile ihrer eigenen Geschichte entdecken. Das Präfix post bezieht sich dann nicht einfach temporal auf die Zeit nach der Auflösung der Kolonialreiche, sondern verweist auf das Weiterwirken kolonialistischer Strukturen in neuen, insbesondere kulturellen Formen. Hierin ist ein wesentlicher Unterschied zum Begriff des Neokolonialismus zu verorten: Während dieser zumindest in seiner ursprünglichen Bedeutung ein ökonomisches Konzept darstellte sowie die neuen Aspekte 20 | Kreis, Die Schweiz und Südafrika, S. 139. 21 | Die internationalen Sanktionen hatten nicht nur ökonomische, sondern auch politische Auswirkungen: Sie führten dazu, dass sich die südafrikanische Wirtschaftselite schließlich vom Apartheidsregime distanzierte. »Die Schweiz leistete an diesem Prozess keinen Beitrag«, hält Georg Kreis fest (ebd., S. 496). Vgl. auch http://www.apartheidreparations.ch. 22 | Siehe dazu das Interview von Jan Jirát mit Sacha Zala auf http://www.woz.ch/ artikel/2011/nr35/kultur %20_ %20wissen/21094.html, 13.09.2011. 23 | Siehe für die nachfolgenden Überlegungen Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 184ff.
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eines »Kolonialismus nach der Dekolonisation« betont, stehen in postkolonialen Theorien spätestens seit der Veröffentlichung von Edward Saids Werk Orientalism im Jahre 1978 die visuellen und diskursiven Repräsentationen, vor allem mit Bezug auf die Kontinuität von Rassismen und Ethnozentrismen, im Vordergrund. Mit dem Aufkommen der postcolonial studies in den 1980er Jahren erfährt der Begriff postkolonial somit eine Bedeutungsverschiebung: Er mutiert von einem imperialismuskritischen historischen Epochenbegriff zu einem politischprogrammatischen und diskurskritischen Konzept.24 Es gilt fortan, ein kritisches Analyseinstrumentarium zu entwickeln, mit dem die anhaltenden und weiterhin problematischen Konstruktionen des »Anderen« sowie seine grundlegende Bedeutung für die Herstellung des (westlichen, weißen) Subjekts analysiert und aufgearbeitet werden können. Für die Konstitution europäischer Subjektivitäten und nationaler Identitäten, so zeigen die postcolonial studies, spielen die Abgrenzung vom kolonialen »Anderen«, aber auch seine Vereinnahmung und Instrumentalisierung eine grundlegende Rolle.25 In diesem Kontext wird sowohl auf die diskursive Gewalt dieses othering hingewiesen als auch versucht, andere Repräsentationen und vor allem Selbstrepräsentationen bisher marginalisierter Gesellschaften und ethnischer Gruppen zu ermöglichen, ohne allerdings erneut dem Mythos der Authentizität zu verfallen. Aus feministischer und queerer Perspektive wird die Frage nach der Artikulationsfähigkeit, Selbstrepräsentation und Handlungsfähigkeit des postkolonialen Subjekts zudem mit der grundlegenden Bedeutung von Geschlecht und Sexualität verknüpft. Dabei wird deutlich, dass die globale Arbeitsteilung nicht nur postkolonial strukuriert, sondern auch vergeschlechtlicht und heteronormativ kodiert ist.26 Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen, sollen im Folgenden einige grundlegende Erkenntnisse der postkolonialen Agenda skizziert werden.27 Die postkoloniale Theorie vermittelt Einsichten in die Dynamik grenz24 | Bereits die Generation von Intellektuellen wie Frantz Fanon, Kwame Nkrumah oder Aimé Césaire setzte eine selbstkritische »Deplatzierung« des europäischen Theoriediskurses in Gang. Die erlangte Einsicht, dass koloniale Macht nicht nur ökonomisch, sondern auch diskursiv über das (westliche) Wissenssystem ausgeübt wurde, hatte weitreichende Folgen. Für einen allgemeinen Überblick über »Theorien westlicher Hegemonie« siehe Wolfe, »History and Imperialism«. 25 | Vgl. Trinh, Woman, Native, Other; Hall, »The Spectacle of the ›Other‹«. 26 | Zur Frage der Feminisierung globaler Armut und Arbeitsteilung siehe beispielsweise Spivak, In Other Worlds oder Can the Subaltern. 27 | Siehe beispielhaft für den englischsprachigen Raum: Young, Postcolonialism; Schwarz/Ray, A Companion to Postcolonial Studies. Für den deutschsprachigen Raum: Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie; Conrad/Randeria, Jenseits des Eurozentrismus; Fischer-Tiné, »Postkoloniale Studien«; Lindner, »Neuere Kolonialgeschichte«. Ebenso die von Patricia Purtschert formulierten Thesen in »Postkoloniale Diskurse«. Das Folgende bezieht sich vor allem auch auf Conrad/Eckert/Freitag, Globalgeschichte, S. 22-24.
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überschreitender Austauschprozesse. Entgegen der klassischen Modernisierungstheorie28, die von einem makrohistorischen Modell der Diffusion und Adaption beziehungsweise von einer »Verwestlichung« der Welt ausgeht, betont sie das komplexe Geflecht von agency, lokal spezifischen Aneignungsstrategien und strategischen Modifikationen sowie die Bedeutung von Hybridisierung als Korrektiv zu einem Denken, das von klar abgegrenzten Nationen, Völkern oder »Rassen« ausgeht.29 Kultur wird derart nicht im Sinne einer »Container-Theorie« als statische Entität mit fest umrissenen, nationalen, ethnischen und regionalen Grenzen gedacht. Vielmehr gelten die Verflechtungszusammenhänge der modernen Welt als Ausgangspunkt einer transnationalen Geschichtsschreibung. Geschichte im Sinne von entangled histories zu konzeptualisieren bedeutet, die Abhängigkeiten, Überlagerungen und Interdependenzen im Kontext der Machtasymmetrien der modernen Welt zu untersuchen.30 Die postkoloniale Theorie formuliert Zweifel am Eurozentrismus, also der westlichen Deutungshegemonie und der Vorstellung, die Moderne sei europäischen Ursprungs, und unterzieht Begriffe wie Moderne oder Aufklärung einer radikalen Kritik.31 Denn wenn es um die Geschichte der nicht westlichen Welt geht, so kritisiert die postkoloniale Theorie, werden beständig die Tropen der »Unvollständigkeit« oder der »Unzulänglichkeit« zum Einsatz gebracht. Damit, schreibt Dipesh Chakrabarty, wird impliziert, dass die außereuropäische Welt den »Warteraum der Geschichte« erst durch eine »nachholende Modernisierung« verlassen könne.32 Andererseits betont er, dass gerade die Kritik am Kolonialismus nicht unabhängig davon gedacht werden kann, wie das Erbe der europäischen Aufklärung in den Kolonien angeeignet wurde – denn »[p]ostcolonial scholarship is committed, almost by definition, to engaging universals – such as the abstract figure of the human or that of Reason – that were forged in the eighteenth-century Europe and that underlie the human sciences.«33 Postkoloniale Ansätze zielen auf die Überwindung des Tunnelblicks34 , der die Geschichte Europas aus sich heraus erklärt. Ziel ist die Problematisierung der eurozentrischen Fundamente und jener Marginalisierungen, welche die Moderne erst ermöglicht haben. Es findet damit eine neue Einschätzung der Ursprünge der Moderne und vor allem der Vorstellungen von »Rasse« statt – oder wie es Barbara Weinstein ausdrückt: »[T]he concept of race is not just the ›barbaric underside‹ of modernity [… I]t is the very face of the modernity that emerges in the context of Europe’s ›civilizing mission‹«35 . 28 | Vgl. Bhambra, Rethinking Modernity; Mergel, Modernisierung. 29 | Vgl. zum Beispiel Bhabha, Verortung. 30 | Vgl. Lepenies, Entangled Histories. Siehe auch Comaroff/Comaroff, Ethnography. 31 | Zum Begriff des Eurozentrismus vgl. Dussel, »Beyond Eurocentrism«. 32 | Chakrabarty, Provincializing Europe, S. 9. 33 | Ebd., S. 5. 34 | Tanner, »Tunnelblick«. 35 | Weinstein, »History Without a Cause?«, S. 91.
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Die Beschäftigung mit postkolonialen Ansätzen sensibilisiert somit nicht nur für die (oftmals gewaltbeladenen) politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und sprachlichen Transformationen, welche die von Europa kolonisierten Gesellschaften erfuhren, sondern sie stärkt das Bewusstsein dafür, dass auch europäische Gesellschaften durch die koloniale Interaktion und durch die Rückwirkungen der kolonialen Erfahrung geprägt und teilweise hervorgebracht worden sind. Der Kolonialismus betrifft auf unterschiedliche Weise die ganze Welt, wie es Andreas Eckert und Shalini Randeria formuliert haben: »Wir leben alle in einer postkolonialen Welt, nicht nur jene Menschen in und aus ehemals kolonisierten Gebieten«36. Der in den postcolonial studies verwendete Begriff der kolonialen Moderne deutet darauf hin, dass die Herausbildung moderner Kategorien, Strukturen, Reformen und Institutionen auf grundsätzliche Weise mit den kolonialen Kontexten korreliert, in denen sie sich vollzog. Sebastian Conrad zeigt beispielsweise auf, wie in den deutschen Kolonien seit der Mitte der 1880er Jahre die »Arbeiterfrage« zu einem dringlichen Problem der Kolonialpolitik wurde. Das Projekt der »Erziehung zur Arbeit« fokussierte ebenso auf die Bewohnerinnen und Bewohner der Kolonien wie auf die sogenannten Vagabunden und Arbeitsscheuen Europas. Einen ähnlichen Befund liefern Harald Fischer-Tinés Untersuchungen zum Engagement der Heilsarmee in Großbritannien und Britisch-Indien.37 Er zeigt, wie in Indien gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts Gesetze verabschiedet wurden, um die nomadischen »criminal tribes« in abgeschlossene und bewachte Reservate zu befördern und sie in Arbeitslagern zu einem sesshaften Lebensstil zu zwingen. Gleichzeitig wurden Arbeitshäuser für weiße Landstreicher errichtet, um sie für die indische Bevölkerung weitgehend unsichtbar zu machen, denn die Existenz eines weißen Lumpenproletariats verwischte die Grenze zwischen Kolonialisierten und Kolonisierenden auf unerwünschte Weise. Das »Wissen«, das im Umgang mit diesen Gruppen in Indien produziert wurde – beispielsweise von der Heilsarmee, die mit der Führung dieser Heime beauftragt war –, zirkulierte und kam so auch nach Europa zurück.38 Solche Phänomene miteinander zu verbinden macht, so Sebastian Conrad, die »Verflechtung zweier Praxisformen« deutlich, »die aus einer sozialreformerischen Politik eine Praxis der Exklusion werden ließen«39 .
36 | Eckert/Randeria, »Geteilte Globalisierung«, S. 11. 37 | Vgl u.a. Fischer-Tiné, »Reclaiming savages«; Fischer-Tiné, Low and Licentious Europeans. 38 | Francesca Falks Ausführungen zu den Fahrenden in diesem Band zeigen, was diese Verhältnisse wiederum mit der Schweiz zu tun haben. Thematisiert wird dies auch in Falk, Eine gestische Geschichte der Grenze, S. 108-111. Bernhard Schär verweist ebenfalls auf die Verbindung zwischen inner- und außereuropäischen Formen des othering, dazu Schär, »Mariella Mehr«. 39 | Conrad, Globalisierung und Nation, S. 28 und Kapitel 2.
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Methodisch erfordert das, Metropole und Kolonie nicht als getrennte Bereiche zu behandeln, sondern sie innerhalb eines analytischen Rahmens zu untersuchen.40
E UROPÄISCHE E RBSCHAF T Wo steht die Diskussion um das koloniale Erbe in anderen westeuropäischen Staaten?41 Die Thematisierung der kolonialen Vergangenheit ist in Großbritannien sowohl in der Forschung wie auch in der Öffentlichkeit wohl am stärksten präsent und deutlicher sichtbar als in anderen Staaten.42 Dennoch wurden die Kolonien lange Zeit als etwas »Außenstehendes« im Verhältnis zur eigenen nationalen Geschichte thematisiert, wie Frederick Cooper anmerkte.43 Die damit verknüpfte Schuld und die Trauer um das verloren gegangene Weltreich würden bis zum heutigen Tag verdrängt.44 In Frankreich wiederum ist, wie bereits erwähnt, eine postkoloniale Perspektive auf die eigene Geschichte und Gegenwart keine Selbstverständlichkeit.45 Erstaunlich ist die lange ausbleibende Rezeption postkolonialer Perspektiven in Frankreich insofern, als einige der wichtigsten Vorreiter der postkolonialen Theorie, etwa Léopold Sédar Senghor, Frantz Fanon, Albert Memmi oder Aimé Césaire, ihre Analysen im Kontext des französischen Kolonialregimes entwickelt haben.46 Nach einer längeren Zeit akademischer Marginalisierung kehren diese Theorien, vermittelt vor allem durch US-amerikanische Adaptionen im Kontext der postcolonial studies, wieder nach Frankreich zurück – eine Bewegung, die wiederum kritische Fragen bezüglich hegemonialer Strukturen im Wissenschaftsbetrieb aufwirft.47 Die verstärkte Diskussion postkolonialer Themen ereignet sich in Frankreich paradoxerweise in einem politischen Klima, in dem die Forderung, den Kolonialismus und das damit verbundene schlechte Gewissen Frankreichs endlich ad acta
40 | Vgl. dazu Stoler/Cooper, »Between Metropole«. 41 | Vgl. dazu auch Ponzanesi/Blaagard, Deconstructing Europe; Poddar/Patke/Jensen, A Historical Companion. 42 | Das britische Empire war die größte Kolonialmacht in der Geschichte. Es umfasste Dominions, Kronkolonien, Protektorate, Mandatsgebiete und andere abhängige Gebiete. Dazu gehörten u.a. Gebiete in Asien, Afrika und Ozeanien. 43 | Cooper, Colonialism, S. 171. 44 | Eckert, »Der Kolonialismus«. 45 | Im 19. Jahrhundert war Frankreich die zweitgrößte Kolonialmacht der Welt und besaß vor allem Gebiete in Afrika und Asien. Für einen aktuellen Überblick über die Rezeption postkolonialer Ansätze in Frankreich vgl. Mbembe, »Provincializing France?«. 46 | Zudem beziehen sich postkoloniale Ansätze ganz wesentlich auf die Arbeiten französischer Intellektueller wie Jacques Derrida, Michel Foucault oder Gilles Deleuze. 47 | Siehe beispielsweise Ahmad, In Theory.
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zu legen, mehrheitsfähig geworden ist.48 So löste ein 2005 verabschiedetes Gesetz, das die positiven Auswirkungen der kolonialen Aktivitäten Frankreichs betonte, heftige Debatten aus.49 Kurz darauf kam mit Nicolas Sarkozy ein Wortführer dieses neuen Selbstverständnisses an die Macht. Notorische Berühmtheit erlangte er mit seiner Dakar-Rede vom Juli 2007, in der er Afrika als geschichtslos beschrieb und dem Kontinent seine Hilfe beim Eintritt in die Moderne anbot. Achille Mbembe hielt daraufhin fest: »Contrairement à la génération des ›Papa-Commandant‹ (de Gaulle, Pompidou, Giscard d’Estaing, Mitterrand ou Chirac) qui épousait tacitement le même préjugé tout en évitant de heurter de front leurs interlocuteurs, les ›nouvelles élites‹ de France estiment désormais qu’à des sociétés aussi plongées dans la nuit de l’enfance, l’on ne peut s’adresser qu’en s’exprimant sans frein, dans une sorte de vierge énergie.« 50
Mbembe macht den relevanten Bruch somit nicht in der Haltung des Präsidenten aus, dessen Vorgänger die kolonialen Vorurteile stillschweigend weitergeführt haben, sondern in dessen Stil: Rassistisches Denken ist (wieder) auf höchstem politischen Niveau salonfähig geworden. Dem steht nicht nur die wachsende Bedeutung postkolonialer Forschung an den Universitäten entgegen51 , sondern auch neuere politische Bewegungen wie die Indigènes de la République, welche die Rassismen in der hegemonialen Vorstellung der französischen Nation aufgreifen, karikieren und anfechten.52 Im Unterschied zur aktuellen französischen Regierung, welche die positiven Aspekte und Auswirkungen des Kolonialismus betont sehen möchte, dominiert in Deutschland in Politik und Öffentlichkeit die Tendenz, die eigene Kolonialgeschichte als unbedeutende Randnotiz der Geschichte abzutun.53 So wurde die 2001 gegründete International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan, an der deutsche Soldaten partizipieren, von den Medien als »Schutztruppe« bezeichnet. Dies geschah, wie Andreas Eckert und Albert Wirz festhalten, »ungeachtet der Tat48 | Auffallend ist bei diesen neueren Diskussionen über Kolonialismus und Rassismus, dass die biologistischen Fundierungen von Rassismus häufig einer kulturalistischen Argumentation weichen. Vgl. dazu Balibar/Wallerstein, Rasse, Klasse, Nation. 49 | Vgl. Bancel, »Introduction«, S. 25. Ebenso Blanchard/Bancel/Lemaire, Culture coloniale und Mollenhauer, »Erinnerungspolitik«. Aufgrund der vehementen Kritik entschied sich der damalige Präsident Jacques Chirac kurz darauf dazu, die Passage wieder aus dem Gesetzestext zu entfernen. 50 | Mbembe, »L’afrique«. Vgl. auch Gassama et al., L’Afrique répond. 51 | Vgl. etwa Dorlin, Sexe, race, classe; Fassin, Question Sociale; Blanchard/Bancel/Lemaire, Culture Coloniale; Bancel et al., Ruptures Postcoloniales. 52 | Vgl. dazu die Webseite http://www.indigenes-republique.fr, 24.03.2011. 53 | Vgl. Krüger, »Vergessene Kriege«. Deutschland besaß im 19. Jahrhundert vor allem in Afrika und der Südsee Kolonien und sogenannte Schutzgebiete.
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sache, dass der Begriff die deutsche Kolonialarmee bezeichnete, jene Truppe also, welche die innere Eroberung der deutschen Kolonien erzwang und […] im Namen des Kaisers, des Fortschritts und des Deutschen Reichs genozidäre Kriege in Afrika führte«54 . Entsprechend dieser Amnesie gegenüber der eigenen Kolonialgeschichte wird davon ausgegangen, so Hito Steyerl und Encarnación Gutiérrez Rodríguez, dass das postkoloniale Machtverhältnis »in Deutschland nicht existiert oder irrelevant sei oder Vorgänge beschreibe, die woanders stattfinden«55 . Verbunden mit der Weigerung, die eigene Kolonialgeschichte zu bearbeiten, ist auch der Widerstand gegen Theorien, die ihren Fokus auf das »Weißsein« richten, dem gleichsam blinden Fleck und Zentrum von Rassifizierungsdiskursen. Es herrsche, so schreibt Maureen Maish Eggers, »offensichtlich ein großer Widerstand gegen eine explizite Kennzeichnung und damit Markierung von Weißsein in Deutschland«56. Trotz solcher Widerstände haben sich Kolonialgeschichte, postcolonial und whiteness studies in der letzten Dekade vermehrt als populäres Thema in den Kultur- und Geschichtswissenschaften an deutschsprachigen Hochschulen etabliert.57 Hannah Arendts Monumentalwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, welches mögliche Verbindungen zwischen dem Kolonialismus und der Shoa erörtert, stellt dabei immer wieder einen wichtigen Anknüpfungspunkt dar.58 In jüngerer Zeit ist zudem vermehrt die Art und Weise, in der rassistische Inhalte mit der aktuellen deutschen Alltagskultur verknüpft sind, in den Blick gerückt. Programmatisch hält Antje Schuhman dazu fest: »Visible, yet often not recognized as such, colonial images, language and concepts re-inscribe white superiority on a dayto-day basis into German politics, society and popular culture and are, as such, part of our collective stereotype reservoir.«59 Kien Nghi Ha wiederum weist auf ó
54 | Eckert/Wirz, »Wir nicht«, S. 373. 55 | Steyerl/Gutiérrez Rodríguez, »Einleitung«, S. 8. 56 | Eggers, »Schwarzes Wissensarchiv«, S. 19. 57 | In der letzten Dekade sind eine ganze Reihe Untersuchungen zu dem Thema entstanden bzw. sind im Entstehen begriffen. Siehe exemplarisch Conrad/Osterhammel, Das Kaiserreich; Friederichsmeyer/Lennox/Zantop, Imperialist Imagination; Hell/Steinmetz, »Visual Archive«; Kundrus, Phantasiereiche; Laak, Über alles in der Welt; Honold/Scherpe, Mit Deutschland um die Welt; Maß, Weiße Helden; Steinmetz, »Decolonizing«; Zimmerer/ Zeller, Völkermord; Walgenbach, Die weiße Frau; Steyerl/Gutiérrez Rodríguez, Spricht die Subalterne deutsch?; Eggers et al., Mythen, Masken; Dietze/Brunner/Wenzel, Kritik des Okzidentalismus; Ha et al., re/visionen. 58 | Vgl. Arendt, Elemente und Ursprünge. Ebenso Gerwarth/Malinowski »Der Holocaust«; Grosse, »German Colonialism«; Kundrus, »Kolonialismus, Imperialismus« und Zimmerer, »Geburt des ›Ostlandes‹«. 59 | Schuhmann, »Exoticizing the Erotic«, S. 108. Schuhmann verbindet diese verdrängte und mit Nostalgie aufgeladene deutsche Kolonialgeschichte beispielsweise mit der Werbung eines deutschen Möbelhauses, das seine Produkte in einer »Colonial Style-Sonderschau« an den Mann und an die Frau zu bringen sucht.
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die verdrängten kolonialen Aspekte der deutschen Arbeitsmigrationspolitik hin.60 So werde deren Beginn gemeinhin im Jahre 1955 mit dem Abschluss des Anwerbeabkommens mit Italien festgesetzt. Ausgeblendet bleibt in einer solchen Sicht die osteuropäische Arbeitsmigration Preußens, die ab 1890 im großen Stil einsetzte und Konturen einer »inneren Kolonialisierung« aufweist. Ha zufolge wurde die »Struktur wie die Zielsetzung der deutschen Arbeitsmigrationspolitik […] grundlegend durch ihren gesellschaftlichen Entstehungskontext im Zeitalter des Imperialismus geformt«61 . Durch die Thematisierung dieser Verwobenheit könne die lange Genealogie der »rassifizierten Stratifikation« aufgezeigt werden, die den Umgang mit den sogenannten Gastarbeitern kennzeichnet und auch die aktuelle Migrationspolitik charakterisiert. In einem weiteren Nachbarland der Schweiz, in Italien, ist ein langandauerndes Fehlen einer postkolonialen Perspektive ebenfalls augenfällig.62 So Cristina Lombardi-Diop und Caterina Romeo: »Although historians and cultural critics have been documenting the colonial experience and its possible repercussions on contemporary Italy since the 1980s, no public or academic debate has developed which openly and critically confronts the colonial past, its removal from Italy’s public memory, and its lingering legacy.« 63
Auch Sandro Mezzadra spricht von einer »tardiva ricezione italiana degli studi postcoloniali«64 . In den Schulen und im Fernsehen ist die eigene Kolonialgeschichte kaum präsent.65 Exaußenminister Gianfranco Fini, dem es gelungen war, die neofaschistische Bewegung Movimento Sociale Italiano in die Regierungspartei Alleanza Nazionale zu »verwandeln«, bemerkte 2006 während einer migrationspolitischen Veranstaltung, Europa sei in den Kolonien ein großes Element der Zivilisierung gewesen und nicht alle Aspekte des Kolonialismus seien negativ zu bewerten. Wenn man sich vor Augen führe, so Fini, wie heruntergekommen Äthiopien, Somalia und Libyen heute seien und wie sich ihr Zustand unter italienischer Kolonialherrschaft präsentiert habe, müsse dies in den Ländern selber Anlass für eine Neubewertung der italienischen Rolle sein.66 In einem postkolonialen Zusammenhang ist auch das 2009 abgeschlossene Abkommen zwischen Libyen und 60 | Ha, »Koloniale Arbeitsmigrationspolitik«. 61 | Ebd., S. 66. 62 | Italien besaß vor allem in Nord- und Ostafrika Kolonien, wozu beispielsweise Libyen und Äthiopien gehörten. 63 | Romeo, »Postcolonial Italy«. Für ein aktuelles Beispiel postkolonialer Forschungsansätze im italienischen Kontext siehe auch Amodeo, »In the Empire’s Eyes« sowie Triulzi, »Dispacing the Colonial Event«. 64 | Mezzadra, La condizione. 65 | Mattioli, »Viva Mussolini!«. 66 | Zitiert nach Mattioli, ebd., S. 76.
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Italien zu sehen. Damals erhielt Libyen eine Entschädigung für die erlittene Kolonialisierung zugesprochen (5 Milliarden Dollar in 20 Jahren) und verpflichtete sich im Gegenzug, afrikanische Migrantinnen und Migranten abzuwehren: »Mit der Reparationszahlung sollen eine 1’600 Kilometer lange Küstenautobahn, die das Land von der ägyptischen zur tunesischen Grenze durchzieht, und weitere Infrastrukturprojekte realisiert werden. Darüber hinaus sieht das Vertragswerk eine enge Zusammenarbeit auf den Gebieten von Wirtschaft, Handel und Immigrationsabwehr vor. Libyen versprach, Italien privilegiert bei Mineralöl- und Erdgaslieferungen zu behandeln. Von den Bauprojekten sollen dereinst auch italienische Firmen profitieren.« 67
Als Ironie der Geschichte mag der Umstand gelten, dass Straßenbau auch während des italienischen Kolonialismus das wichtigste Investitionsprojekt war. Inzwischen haben die revolutionären Ereignisse das Abkommen allerdings überholt. Das Beispiel Italien zeigt: Die europäische Illegalisierung der Immigration ist durch ihre koloniale Vorgeschichte zu verstehen. Alltagsrassismen, die auch aus Kolonialzeiten stammen, prägen heute noch den Umgang mit Migrantinnen und Migranten in Italien, und zwar auch von jenen, die nicht aus italienischen Kolonialgebieten kommen. Dies zeige, so Jacqueline Andall und Derek Duncan, »that colonialism is embedded in the contemporary«68 . Im letzten Jahrzehnt entwickelten sich interdisziplinäre Forschungsprojekte, die postkoloniale Perspektiven auf die skandinavischen Länder – insbesondere Schweden, Norwegen, Finnland und Dänemark – richteten. Damit wurde der theoretische Fokus der postkolonialen Theorie weg von den Kulturen und Gesellschaften der ehemaligen formalen Kolonien hin zu den Ländern gelenkt, die sich explizit als Außenseiter innerhalb der europäisch-kolonialen Machtkonstellation verstanden. Das Augenmerk richtete sich zuvorderst auf die Frage, inwiefern und auf welche Art und Weise diese Länder in Vergangenheit und Gegenwart kulturell und wirtschaftlich von kolonialen Beziehungen geprägt wurden und sind.69 In diesem Zusammenhang entwickelte eine Gruppe feministisch orientierter Wissenschaftlerinnen das Konzept der colonial complicity.70 Die skandinavischen Länder, so wird damit gezeigt, »ha[ve] neither been historically situated as one of the colo67 | Ebd., S. 140. 68 | Andall/Duncan, »Memories«, S. 21. 69 | Auch in Bezug auf den ehemaligen Vielvölkerstaat der Habsburger hat im letzten Jahrzehnt die Anwendung von postkolonialen Ansätzen zu einer neuen Wertung dieser Geschichte geführt. Auch wenn die Habsburgermonarchie keinen Kolonialstaat im engeren Sinn darstellte, können die Theoriebildungen der postcolonial studies zur Erforschung der österreichischen Imperialgeschichte sinnvoll angewendet werden. Vgl. Feichtinger/ Prutsch/Csaky, Habsburg Postcolonial. Zur postkolonialen Situation in Österreich vgl. auch Johnston-Arthur, »›Es ist Zeit‹«. Zum Baltikum vgl. Kelertas, Baltic Postcolonialism. 70 | Siehe dazu Keskinen et al., Complying.
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nial centres in Europe nor ha[ve they] been an ›innocent victim‹ or mere outsider of the colonial projects«71 . Der Begriff der Komplizität bedeutet in einer postkolonialen Leseart die Beteiligung an den hegemonialen Diskursen des Westens ebenso wie an deren universalistischen Denkmustern und Praktiken der Herrschaft. Gerade für Länder außerhalb der westlichen Zentren, so Ulla Vuorela, stellt Komplizität eine Art und Weise dar, näher an das Vorbild dieser Machtzentren zu rücken und »dazugehören« zu wollen. Für das Beispiel Finnland bedeutete dies beispielsweise die Verdrängung der indigenen Bevölkerung der Sami aus ihrem ehemaligen Lebensraum im Süden des Landes, also ein Prozess der »internen Kolonisation«. Ebenso wurde von Finnland zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Kolonisierung des heutigen Namibia, wo finnische Missionsgesellschaften aktiv waren, angedacht, doch schließlich verworfen. Aber auch jenseits der konkreten kolonialen Eroberungen und Vertreibungen kann über Wissensordnungen eine »universale Wahrheit« zur Legitimation von Expansionen oder zur Rechtfertigung gewisser Lebensstile eingesetzt werden. Wenn sie auch nicht direkt an den europäisch-kolonialen Eroberungen beteiligt waren, so existierten und existieren noch immer verschiedene Anknüpfungspunkte der skandinavischen Länder an die Art von Wissen, welche im Kontext oder gar in Unterstützung von kolonialen Projekten entstand.72 Ein konkretes Beispiel dieser Wissensproduktion kann für Finnland bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Beteiligung von finnischen Ethnologinnen und Ethnologen an der Entwicklung von Theorien ausgemacht werden, die die Menschheit in evolutionäre Stufen unterteilte und spezifisches Wissen für die kolonialen Administrationen bereitstellten. Parallelen können für die neuere Zeit auch in paternalistisch-rassistischen Praktiken und Kommunikationsweisen der finnischen Entwicklungshilfe und der Anpassung an neoliberale Bedingungen westlicher Finanzinstitute (Weltbank und Internationaler Währungsfond) ausgemacht werden.73 Für Schweden wurden Schulbücher auf klassische Stereotypen in Bezug auf Afrika untersucht. Dabei wurden bis in die jüngere Zeit Vorstellungen von den »höheren« und »niederen« »Rassen«, den »kriegerischen afrikanischen Stämmen«, des »geschichtslosen« und exotischen Afrika, den Europäern als »Zivilisatoren« und anderen Bildern festgemacht – Bilder, die den meisten westeuropäischen Ländern in Schulbüchern, Massenmedien und Populärkultur gemeinsam sind.74 Viele der skandinavischen Länder, so das Fazit der Autorinnen, profitierten wirtschaftlich vom Sklavenhandel, verbreiteten über missionarische Aktivitäten die Idee der christlichen und westlichen Überlegenheit und waren an kolonialen Unterneh71 | Vuorela, »Colonial Complicity«, S. 19. Eine ähnliche Perspektive entwickelt Kristín Loftsdóttir mit Blick auf Island, vgl. Loftsdóttir, »Negotiating White Icelandic Identity« und Loftsdóttir, »The Loss of Innocence. The Icelandic Financial Crisis and Colonial Past«. Vgl. auch Gullestad, »Normalising Racial Boundaries«. 72 | Vuorela, »Colonial Complicity«, S. 21. 73 | Ebd. Vgl. dazu auch Eriksson Baaz, Paternalism of Partnership. 74 | Vgl. Palmberg, »Nordic Colonial Mind«.
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men direkt oder indirekt beteiligt. Hier zeigen sich frappante Ähnlichkeiten zur Schweizer Konstellation.75 Nicht zufällig forderte der Nationalrat Josef Lang in einer Motion vom 19. Dezember 2006, die Schweiz solle gemeinsam mit anderen »›kleineren Sklaverei- und Kolonialnationen‹« wie »Schweden, Dänemark und Deutschland (Brandenburg-Preußen)« eine Initiative zur »Aufarbeitung und Wiedergutmachung von Sklaverei und Sklavenhandel« ergreifen.76
»K OLONIALE K OMPLIZENSCHAF T«, » HEIMLICHES I MPERIUM « ODER » POSTKOLONIALE S CHWEIZ«? Ist es sinnvoll, auch in Bezug auf die Schweiz von einer »kolonialen Komplizenschaft« zu sprechen? Oder bedarf es eines anderen Vokabulars? Welcher Leitbegriff bietet sich an, um die vielfältigen Verwicklungen der Schweiz mit den kolonialen Regimes und ihren postkolonialen Effekten zu untersuchen? Müsste man von Schweizer Akteurinnen und Unternehmern als Handlanger, Gehilfinnen und Kollaborateure, Profiteurinnen und Trittbrettfahrer des Kolonialismus sprechen? Oder wäre es sinnvoller, die in den 1980er Jahren entwickelte feministische Debatte um die Mittäterinnenschaft aufzugreifen?77 Die historische Forschung, die sich mit den kolonialen und nachkolonialen Schweizer Aktivitäten befasst, verwendet oftmals den Begriff des Imperialismus. So teilt mit Behrendt auch Beat Witschi, der die schweizerischen Handelsbeziehungen mit der Levante untersucht hat, die Einschätzung der Schweiz als tertium gaudens des Imperialismus.78 Die Position einer Schweiz, welche die imperialen Mächte unterstützt und dabei ihre eigenen Interessen vertritt, konnte durchaus auch dem eigenen Selbstverständ75 | Siehe etwa zur Aktivität von Schweizer Missionaren und Missionarinnen und deren Rolle innerhalb der Anthropologie Harries, Butterflies and Barbarians, 2007. 76 | Lang, »Schweizer Initiativen zur Wiedergutmachung der Sklaverei«. Ähnliches hatte drei Jahre zuvor auch die Schweizer Nationalrätin Pia Hollenstein vergeblich verlangt: »Die entscheidende Frage ist nicht, ob die Schweiz eine Kolonialmacht war, sondern ob sie am gesamteuropäischen ökonomischen System der Ausbeutung Afrikas und der Neuen Welt durch Sklavenhandel, Plantagenwirtschaft und Kolonialwarenhandel partizipiert und davon profitiert hat.« So die Stellungnahme von Pia Hollenstein auf die Antwort des Bundesrates vom 16.06.2003 in: Hollenstein, »Interpellation Hollenstein Pia«. 77 | Vgl. Thürmer-Rohr, Vagabundinnen. 78 | Vgl. Witschi, Schweizer. Zu einem anderen Schluss kommt Andrea Franc in ihrer Untersuchung der Aktivitäten der Basler Handelsgesellschaft (BHG) an der damaligen Goldküste, in der sie feststellt, dass sich eine sekundärimperialistische Protektion durch die Briten nur ein einziges Mal, nämlich während der Aufstände von 1948, feststellen lässt (Franc, Wie die Schweiz, S. 218). Falls von einer »Trittbrettfahrerin« der kolonialen Situation die Rede sein könne, so Franc, würde das nur die BHG betreffen und nicht den Schweizer Staat, der sich in der Goldküste nicht engagiert habe (ebd., S. 225).
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nis entsprechen. So meinte im Juli 1847, wenige Monate vor dem Ausbruch des Sonderbundskriegs, Ulrich Ochsenbein, damaliger Präsident der Tagsatzung und späterer Bundesrat: »Auf dem ganzen Erdenrund, soweit die Beharrlichkeit des kühnen Briten festen Fuss gefasst, findet Ihr den Schweizer als treuen Begleiter an seiner Seite, einen Absatz zu suchen für die Produkte der Kunst und des Fleisses seines Vaterlandes.«79 Lorenz Stucki geht einen Schritt weiter und bezeichnet die Schweiz 1968 selbst als Imperium, wenn auch als »heimliches Imperium«, über dem »keine Schweizer Fahnen«80 wehen würden. Roland Ruffieux spricht von einem »Bank- und Börsenimperialismus«, den die Schweiz im 19. Jahrhundert im Windschatten der Kolonialmächte entwickelt habe, und attestiert der Schweizer Beteiligung an internationalen kapitalistischen Unternehmungen den »Charakter eines verdeckten Kolonialismus«81 . Hans Fässler verwendet in Anlehnung an Herbert Lüthys Analyse der Beteiligung von Schweizer Unternehmungen am transatlantischen Sklavenhandel den Begriff der »Teilzeit-Kolonialmacht«82 . Auch Thomas David und Bouda Etemad zeichnen die Umrisse eines »Schweizer Imperialismus« nach.83 Wie die meisten anderen Autorinnen und Autoren betonen sie dessen »Mehrdeutigkeit«84 . Neutralität und Humanität stehen demnach nicht grundsätzlich in einem Widerspruch zum imperialen Gebahren der Schweiz – auch wenn dies punktuell der Fall sein kann –, sondern vielmehr in einem konstitutiven Verhältnis zu ihm: Für die Schweiz, so David und Etemad, »fielen aus den humanitären Bestrebungen immaterielle Zinsen ab: moralisches Prestige und internationale Reputation«85 . Auch Jean Ziegler, der 1976 die globalen Verflechtungen unter einer US-amerikanischen Hegemonie untersucht, geht von einem »sekundären schweizerischen Imperialismus« aus, der »unerlässliche, genau umrissene Aufgaben innerhalb ein und desselben weltbeherrschenden Systems«86 übernehme. Der Imperialismusbegriff ist in einer marxistischen Denktradition zu verorten. Nach Rosa Luxemburg war der Imperialismus dem Kapitalismus inhärent und markierte zugleich dessen letztes Stadium: Der Kapitalismus müsse notwendigerweise immer weitere Teile der Welt erschließen, dadurch käme er seinem Zusammenbruch stets näher.87 Jürgen Osterhammel macht darauf aufmerksam, dass der Imperialismusbegriff »in den frühen 1850er Jahren in der britischen und 79 | Ochsenbein, »Präsidialvortrag«, S. 216f. 80 | Stucki, Das heimliche Imperium, S. 10. 81 | Ruffieux, »Schweiz des Freisinns«, S. 712 . 82 | Fässler, Reise in Schwarz-Weiss, S. 288. 83 | David/Etemad 1998, »Gibt es einen schweizerischen Imperialismus?« 84 | Ebd., S. 25. 85 | Ebd., S. 24. 86 | Ziegler, Schweizer Imperium, S. 51. 87 | Luxemburg, Die Akkumulation. Dazu auch Groh, »Imperialismus«. In den Geschichtlichen Grundbegriffen findet sich kein Eintrag zu »Kolonialismus«.
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deutschen Publizistik zur polemischen Bezeichnung jener von ihren Gegnern als usurpatorisch betrachteten Herrschaftsform«88 verwendet wurde. Nicht immer wird im heutigen Sprachgebrauch allerdings die Geschichtlichkeit des Begriffes reflektiert. Osterhammels Einschätzung, die neuerlich zu beobachtende Ausweitung der Begriffe Imperium und Imperialismus führe zwar zu einem Verlust an terminologischer Schärfe, ermögliche es aber, bisher verdeckte Analogien und Zusammenhänge zu sehen89, gilt auch für den Kolonialismusbegriff. Wenn wir in dieser Publikation die Bezeichnung einer »postkolonialen Schweiz«90 zu konturieren versuchen, dann steht diese sowohl in einer Kontinuität mit den erwähnten Erforschungen des »Schweizer Imperialismus« als auch für einen spezifisch kulturwissenschaftlichen Zugriff, der unseren Ansatz von jenen unterscheidet.91 Die begriffliche Differenzierung zwischen »Imperialismus« und »Kolonialismus« ist allerdings nicht stabil, sie änderte sich mehrmals im Laufe der Zeit. Im Historischen Lexikon der Schweiz wird beim Begriff Imperialismus auf den Eintrag unter Kolonialismus verwiesen; da wiederum wird Imperialismus mit dem Höhepunkt der Kolonialherrschaft vor dem Ersten Weltkrieg in Verbindung gebracht.92 Eine etwas anders gelagerte Begriffsunterscheidung finden wir bei Ania Loomba: »Thus the imperial country is the ›metropole‹ from which power flows, and the colony or neo-colony is the place which it penetrates and controls.«93 Die Loomba’sche Definition beschreibt die heute vorherrschende Begriffsverwendung in den Imperialismus- und Kolonialismusstudien treffend. Doch ihre darauffolgende Charakterisierung – »[i]mperialism can function without formal colonies (as in United States imperialism today) but colonialism cannot«94 – entspricht gerade nicht unserem Sprachgebrauch. Schließlich bringt der Imperialismusbegriff, der auf den lateinischen Terminus imperium zurückgeht, was Befehl, Herrschaft oder Staatsgewalt bezeichnet, die Gewaltausübung in der Begriffsbildung expliziter zum Ausdruck; gleichzeitig geraten vielleicht weniger deutlich sichtbare Gewalt-
88 | Osterhammel, »Imperialismus«, S. 536. 89 | Vgl. ebd., S. 537. 90 | Bernhard Schär schlägt 2007 vor, eine »postkoloniale Geschichte der Schweiz« zu verfassen (Schär, »Mariella Mehr«). Ein erster Versuch, den Begriff der postkolonialen Schweiz zu umreißen, findet sich in Purtschert, »Postkoloniale Diskurse« und Purtschert, »Heute bedankt sich Naresh Khan«. Zur postkolonialen Schweiz vgl. zudem Salgado, »Chewing the Borders«. 91 | Es bleibt dabei ein Forschungsdesiderat, das Kulturelle und das Ökonomische nicht als Oppositionen, sondern in ihrer gegenseitigen Konsitutierung zu sehen. 92 | Von Albertini/Wirz, »Kolonialismus«. 93 | Loomba, Colonialism, S. 12. 94 | Ebd. Diese Begriffsverwendung macht zudem die postkoloniale Situation der Native Americans in den USA unsichtbar.
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ausübungen schneller aus dem Blick.95 Kolonialismus wiederum bezeichnet nach Jürgen Osterhammel in einem engeren Sinne den »Prozess« der Landnahme,96 allgemeiner kann er auch ein Herrschaftsverhältnis benennen. Wie der Begriff der Kultur, geht er auf das lateinische Verb colere zurück, das unter anderem mit bebauen, bestellen und bewohnen übersetzt wird. Für unser Erkenntnisinteresse ist diese kulturelle Konnotation relevant. Allerdings kann auf die Etymologie auch in euphemistischer Absicht zurückgegriffen werden, bedeutet doch colere auch ausbilden oder Sorge tragen. Patrick Minder hat kürzlich die Bezeichnung der Suisse coloniale in die aktuelle Diskussion eingeführt.97 Seine Studie, die das koloniale Imaginäre der Schweiz untersucht, konzentriert sich auf die Zeit zwischen 1880-1939 und macht in ihrer Materialvielfalt deutlich, wie angezeigt die Rede von einer »kolonialen Schweiz« ist.98 Im Unterschied zu Minders Zugang, welcher die (Dis-)Kontinuitäten zur Gegenwart nicht explizit zum Thema macht, wollen wir gerade diese Aspekte mit thematisieren. Der Begriff der postkolonialen Schweiz umfasst dabei verschiedene Facetten. Historisch betrachtet fokussiert er auf das nachkoloniale Zeitalter, macht aber zugleich deutlich, dass dieses sich nicht ohne Bezug auf den Kolonialismus deuten lässt. Eine postkoloniale Perspektive erlaubt es demnach, die Gleichzeitigkeit von antikolonialen Kämpfen und dem Weiterwirken von kolonialen Mustern in den Blick zu nehmen.99 Der Begriff transportiert weiter eine Fülle von theoretischen, inhaltlichen und methodischen Aspekten der postcolonial studies und bringt diese mit der Schweiz als Forschungsgegenstand in Verbindung. Diese kulturwissenschaftliche Konnotation des Postkolonialen ermöglicht es, über wirtschaftliche und politische Verflechtungen hinaus Bezüge zum Schweizer Alltag, zur Wissenschaft und zu Populärkulturen herzustellen, indem der Repräsentation, der Imagination, dem Diskursiven und Visuellen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird.100 Welche Rolle kommt etwa den kolonialen Vorstellungen und Bildern zu, 95 | Bereits der Begriff der strukturellen Gewalt wollte indes für unsichtbare Gewaltdimensionen sensibilisieren: »Die Unterscheidung personale/strukturelle Gewalt geht insofern mit der Unterscheidung sichtbar/unsichtbar einher. Während im ersten Fall der Verursacher des Schadens klar in Erscheinung tritt, bleibt er im Falle der strukturellen Gewalt unsichtbar und ist schwer auszumachen.« Schroer, »Gewalt ohne Gesicht«, S. 156. 96 | Osterhammel, Kolonialismus, S. 8. 97 | Minder, La Suisse coloniale. 98 | Zur aktuellen Diskussion über die »koloniale Schweiz« vgl. auch die gleichnamige Studie von Andreas Zangger (Zangger, Koloniale Schweiz). 99 | Mackenthun, »E Pluribus Unum«, S. 375. 100 | Ein erster Versuch, derartige Fragen zu beantworten, wurde auf einer Konferenz an der Universität Basel im Jahre 2003 unternommen: Imperial Culture in Countries Without Colonies: Africa and Switzerland, Universität Basel, 23.-25. Oktober 2003; siehe dazu http:// pages.unibas.ch/afrika/nocolonies, 21.04.2011. Wegweisend war auch die 2005/06 durchgeführte Projektreihe der Shedhalle Zürich unter dem Titel Kolonialismus ohne Ko-
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die in der Schweiz omnipräsent waren und die – in abgeänderter und herkömmlicher Gestalt – weiterhin zirkulieren?101 Auch wenn die Sphären des Populären, Wissenschaftlichen, Sozialen und Politischen zuweilen eigene Logiken ausbilden, die sich nicht einfach ineinander übersetzen lassen, gehen wir davon aus, dass die Untersuchung der Relationen, Zusammenhänge und wechselseitigen Bezüge zwischen diesen unterschiedlichen Bereichen von großem Gewinn sein kann. Dabei leistet das Konzept der postkolonialen Schweiz eine wichtige Transferfunktion: Denn die Arbeit, welche im Rahmen der postcolonial studies in den vergangenen Jahrzehnten geleistet wurde, war auch eine Arbeit am Begriff. Die Konturen einer »postkolonialen Schweiz« zu umreißen bedeutet derart, die Schweiz mit der Theoriemaschine des Postkolonialismus zu verkoppeln. Es bedeutet, Machtverhältnisse zu artikulieren, das Transnationale in den Blick zu nehmen, die Inter- und Transdisziplinärität stark zu machen, Vorstellungen von Nation, »Rasse« oder Kultur zu dekonstruieren oder die intersektionalen Verbindungen zwischen Kolonialismus, Sexismus, Homophobie, Klassenkonflikten und anderen strukturellen Machtverhältnissen zu erörtern. Weiter macht die »postkoloniale Schweiz« explizit, dass es Verbindungen zum Kolonialismus gibt, ohne bereits eine Vorentscheidung darüber zu fällen, ob es um Komplizenschaft oder andere Formen der Partizipation geht. Der Begriff der Komplizenschaft ist situativ hilfreich, um die Involviertheit von Akteurinnen und Akteuren zu beschreiben. Weil er allerdings ein intentionales Handeln suggeriert, eignet er sich nur bedingt, die strukturellen Dimensionen einer postkolonialen Schweiz zu erfassen. Denn es ist gerade ein Kennzeichen des strukturellen Rassismus, dass er von den Menschen, die ihn reproduzieren, oftmals nicht als solcher erkannt, sondern beispielsweise als Bestandteil der »Schweizer Alltagskultur« erachtet wird.
TR ANSNATIONAL BEDEUTE T NICHT POSTNATIONAL Eine kritische Frage bleibt unvermeidbar, wenn von der postkolonialen Schweiz die Rede ist: Ist der Begriff mit seiner Fokussierung auf die Schweiz nicht kontraproduktiv und anachronistisch? Was bringt ein national fokussierter Zugang, wenn der Postkolonialismus gerade das Transnationale betonen und die Vorstellung einer uneingeschränkten nationalen Souveränität als eurozentrischen Mylonien? Beziehungen zwischen Tourismus, Neokolonismus und Migration; siehe hierzu http://archiv.shedhalle.ch/dt/archiv/2006/programm/thematische_reihe/konzept/ index.shtml, 21.04.2011, die beiden Workshops zur postkolonialen Schweiz, die am 7. und 8. November 2008 an der Universität Basel und am 7. November 2009 an der ETH Zürich stattgefunden haben, sowie die Gründung der an den Universitäten Genf und Lausanne angesiedelten Forschungsgruppe POST IT (»Penser la différence postcoloniale et racial«) im Jahre 2008. 101 | Vgl dazu dos Santos Pinto/Lienhard/Purtschert, »Die postkoloniale Schweiz«.
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thos dekonstruieren will? Wäre es nicht angebracht, auf einen nationalen Bezug zu verzichten und die zurzeit noch weitgehend nationalstaatlich geführten Auseinandersetzungen in europäische Debatten münden zu lassen?102 Wenn die Kolonialismusforschung, die sich auf einzelne nationale Räume beschränkt, zu Recht aus einer transnationalen und postkolonialen Perspektive kritisiert werden kann: Wie lässt sich ein Projekt wie das unsere dann noch legitimieren?103 Die Frage nach einer postkolonialen Schweiz ergibt insofern Sinn, als die bestehende Spannung zwischen Nationalität und Transnationalität keineswegs die Auflösung einer Seite bedeutet, sondern als komplexes Wechselspiel verstanden werden kann. Unsere Analyse geht nicht von einem Verständnis der Schweiz aus, welche als fixe Größe in das koloniale Geschehen eingegriffen hat. Was »die Schweiz« ist, wie schweizerische Akteure entstehen, agieren und wieder verschwinden, kann vielmehr nur aufgrund der transnationalen Verbindungen ausgemacht werden, in die sie eingebunden ist, und – mehr noch – aus denen sie konstituiert wird. Umgekehrt kann der Bereich des Transnationalen aber auch nicht beschrieben werden, ohne die Interventionen, Verknüpfungen, Abgrenzungen, Konfrontationen und Zusammenschlüsse zu verstehen, welche sich im Namen des Nationalen ereignen.104 Mit anderen Worten: Auch wenn Nationalstaaten auf Konstruktionsprozesse zurückgehen, beruhen sie auf äußerst wirkmächtigen »imagined communities«105 und nationalstaatlich festgelegten und kontrollierten Praktiken wie Grenzregelungen, Einreise- und Ausweisungsverfahren oder behördlichen Prozeduren, die an nationalstaatliche Unterscheidungskriterien gebunden sind. Das Beharrungsvermögen des Nationalen wird auch in Bezug auf institutionelle Akteure festgestellt. So halten Andreas Eckert und Shalini Randeria in Abgrenzung zur behaupteten Erosion staatlicher Macht fest, dass »der Staat und seine rechtlichen Praktiken weiterhin grundlegend für das Funktionieren des internationalen Rechts und internationaler Institutionen«106 seien. Sie schlagen vor, »das Nationale und das Internationale eher [als] miteinander verzahnt, als […] sich diametral gegenüberstehen[d]« zu verstehen.107 Der nationale Fokus, den die postkoloniale Schweiz auf den Plan ruft, ist somit eine Frage der Perspektive: Ausgangspunkt ist nicht ein autarker Nationalstaat, sondern die Beschreibung transnationaler Prozesse aus der Sicht eines auf spezifische Weise in das koloniale Regime eingebundenen Ortes. So ist beispielsweise die Amnesie in Bezug auf kolo102 | Vgl. dazu Eckert, »Der Kolonialismus«. 103 | Castro Varela/Dhawan, »Mission Impossible«, S. 309. 104 | Vgl. etwa Clavin, »Defining Transnationalism«; Patel, »Transnationale Geschichte«; Tyrell, Transnational Nation, S. 3ff. 105 | Anderson, Imagined Communities. 106 | Eckert/Randeria, Vom Imperialismus zum Empire, S. 16. 107 | Ebd. Siehe dazu allgemein Iriye, »Internationalization« und Patel, »Transnationale Geschichte«.
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niale Beziehungen ein europäisches Phänomen. Dennoch lassen sich sowohl transnationale wie auch nationale Züge dieser »Kolonialismusvergessenheiten« ausmachen. Während ehemalige Kolonialmächte dazu neigen, die koloniale Vergangenheit zu verdrängen, herunterzuspielen oder ihre »positiven Aspekte« zu betonen, wird in der Schweiz (wie auch in anderen Ländern, welche keine formalen Kolonialmächte waren) sowohl von Regierungsseite als auch in öffentlichen Diskussionen zumeist die Ansicht vertreten, die Schweiz habe mit dem Kolonialismus und dem transatlantischen Sklavenhandel nichts zu tun.108 Was nun kann der Begriff einer postkolonialen Schweiz erklären, was kann er in Bewegung bringen, welche Erkenntnisse ermöglicht er? Anhand von sechs zentralen Konzepten der postkolonialen Theorie – entanglement, Spektakel des Exotischen, Warenrassismus, othering, koloniale Wissensproduktion und Widerstand – umreißen wir im Folgenden einige Forschungsfelder und skizzieren dabei mögliche Umrisse einer postkolonialen Schweiz.
S CHWEIZER E NTANGLEMENTS Der Blick auf die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit in Frankreich, Italien, Deutschland und anderen europäischen Ländern ist für die Schweiz nicht nur interessant, weil er einen Vergleich mit den Nachbarstaaten und innerhalb Europas ermöglicht. Es zeigt sich vielmehr auch, dass die Forschungstendenzen in eine Richtung gehen, die für die Schweiz in Ansätzen anschlussfähig ist: Zum einen werden vermehrt »Alltagsrassismen« in den Blick genommen, die darauf verweisen, dass rassistische Bilder über Nationengrenzen hinweg zirkulier(t)en.109 Zum anderen hat die These, wonach sich der Kolonialismus nicht parallel in unterschiedlichen Ländern ereignet hat, sondern ganz wesentlich ein länderübergreifendes Unternehmen war, Folgen für die Schweiz. Die Beteiligung der Schweiz an der europäischen Kolonialgeschichte anhand von transnationalen Verflechtungen, als entanglement zu schreiben bedeutet folglich, die Geschichte des Kolonialismus als ein gemeinsames europäisches Erbe zu verstehen.110 Anhand eines Beispiels soll diese Verwicklung der Schweiz aufgezeigt werden. Wenig bekannt ist, dass sich Henry Dunant, bevor er das Rote Kreuz gründete, als Kolonialunternehmer in Algerien versuchte. 1852 initiierte eine Genfer Gesell108 | Vgl. dazu die von Jean-Daniel Vigny im Vorfeld der Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban 2001 getroffene Aussage, die zu einem symbolträchtigen Ausdruck dieser Haltung wurde. Vigny wird zitiert in Egli, »Weder Entschuldigung noch Entschädigung«, S. 16. Zur Geschichte und Bedeutung seiner Aussage vgl. Purtschert, »Chewing on Post_colonial Switzerland, Part I, II und III«. 109 | Dazu auch die hier publizierten Arbeiten von Rohit Jain und Christine Bischoff. 110 | Paradigmatisch für den Zugang des entaglement ist Conrad/Randeria, »Geteilte Geschichten«.
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schaft eine Kolonie im heute algerischen Sétif. Es war Dunant, der im Auftrag der Compagnie genevoise des colonies suisses de Sétif eine dazugehörende Finanzgesellschaft gründete, die mit dem angebauten Getreide handelte, Mühlen betrieb und Vieh züchtete.111 Zudem wollte Dunant in Algerien eine eigene Mühle in Betrieb nehmen.112 Nach Solferino war er in der Hoffnung gereist, den französischen Kaiser für seine kolonialen Geschäfte zu gewinnen.113 In Algerien lebten in den 1880er Jahren über 3.000 Schweizerinnen und Schweizer. Hinter dieser Genfer Koloniegründung stand die Überzeugung, dass das koloniale Algerien Chancen biete, die zeitig ergriffen werden mussten: »La Compagnie genevoise fut crée sans plan de développement préétabli sur la conviction que l’Algérie coloniale offrait des opportunités qu’il fallait saisir précocement.«114 Zudem konnten Gemeinden durch Koloniegründungen Fürsorgekosten sparen. Allerdings war das Unternehmen in Algerien nicht nur von Erfolg gekrönt. Die Schweizerinnen und Schweizer konnten auch aufgrund höherer Löhne nicht mit einheimischen Bauern und Bäuerinnen konkurrieren und die dortige geringe Bevölkerungsdichte erschwerte den Zugriff auf ausbeutbare Arbeitskräfte.115 Sétif und seine benachbarten Orte wurden am 8. Mai 1945 Schauplatz eines Massakers gegen die algerische Bevölkerung. Dieses Datum gilt heute als Ausgangspunkt für den 1954 beginnenden Algerienkrieg. Es ist wahrscheinlich, dass auch Schweizer Söldner an diesem Massaker beteiligt waren, denn diese machten etwa sechs bis acht Prozent der französischen Fremdenlegion aus.116 Später, während des Algerienkrieges, konnten die Anhänger der französischen Kolonie auf die aktive Sympathie der ansässigen Schweizer Bevölkerung zählen, zugleich stand die Schweiz aber sowohl algerischen Unabhängigkeitskämpfern wie auch Deserteuren als Aufenthalts- und Durchgangsland offen.117 In der Schweiz erschienen zudem Schriften, die den französischen Kolonialismus in Algerien kritisierten, so beispielsweise diejenigen des ehemaligen Söldners Franz Rispy, der im Ruf stand, mit dem algerischen Front de Libération Nationale zusammenzuarbeiten. Nach dem Algerienkrieg konnte sich die Schweiz als diplomatische Vermittlerin ohne koloniale Vergangenheit darstellen, was für ihre eigene, nach dem Zweiten Weltkrieg isolierte Position im internationalen Staatengefüge vorteilhaft war.118 Nach 111 | Nach zahlreichen Misserfolgen wurde Dunant allerdings als Leiter abgesetzt. Pous, Henry Dunant . 112 | Steiner, Henry Dunant, S. 89. 113 | Wirz, »Humanitäre Schweiz«, S. 96. 114 | Lützelschwab, Compagnie, S. 354. 115 | Ebd., S. 357. 116 | Die französische Fremdenlegion gelangte vor allem in kolonialen Gebieten zum Einsatz, als erstes in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts bei der Eroberung Algeriens. Siehe dazu den Artikel von Christian Koller in diesem Band. 117 | Perrenoud, »Algerien«, S. 182. 118 | Perrenoud, »Aperçu«, S. 342.
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der Unabhängigkeit Algeriens verlangten die in Algerien lebenden Schweizerinnen und Schweizer aufgrund der durchgeführten Verstaatlichung Entschädigungen, die Algerien jedoch verweigerte.119 Dieses Beispiel zeigt spezifisch helvetische Züge: Die »Schweiz« erscheint dabei als Akteurin, die sich je nach Situation auf »beiden Seiten« bewegen kann. Dass eine solche Beteiligung am europäischen Kolonialismus für die Interpretation der Geschichte und Gegenwart der Schweiz Folgen hatte, wird nicht erst heute erkannt. So wurde die heute wenig bekannte Vorgeschichte von Henry Dunant bereits vor 30 Jahren in einer Monographie von Jacques Pous aufgearbeitet. Der Autor kam dabei zu folgendem Schluss: »La participation d’Henry Dunant au grand mouvement d’expansion coloniale qui commence alors à ébranler l’Europe, pose en réalité la question de l’existence et de la spécificité d’un colonialisme helvétique. La reconnaissance de l’impérialisme d’un pays sans colonie ne va pas en général de soi, surtout que, la plupart du temps, le monde feutré et cosmopolite des affaires n’a pas pour objectif de rendre transparents les mécanismes de la domination.«120
Wie Pous darlegt, besteht und bestand allerdings wenig Interesse, solche vergangenen und gegenwärtigen Verflechtungen sichtbar zu machen. Das Algerien-Beispiel verdeutlicht, dass Schweizer Firmen, Akteure, Institutionen und auch der Schweizer Nationalstaat auf vielfache, teilweise auch widersprüchliche Weise in die Unternehmungen der kolonialen Regimes verflochten waren. Ein anderes Beispiel für eine »verschränkte Geschichte« ist die Internierung nordafrikanischer Soldaten im Dienste der französischen Kolonialmacht, sogenannter Spahis, in der Schweiz. So stammte ein Teil der fast 90.000 internierten Soldaten der Bourbaki-Armee, die 1871 die Schweizer Grenze übertreten haben, aus Nordafrika.121 Auch als im Juni 1940 das Gros des 45. Französischen Armeekorps in die Schweiz übertrat, befanden sich 1100 algerische Soldaten, sogenannte Spahis, darunter.122 In einer kürzlich veröffentlichten mikrohistorisch angelegten Studie zeigt Manuel Menrath, welche Folgen die Anwesenheit der nordafrikanischen Soldaten im luzernerischen Dorf Triengen hatten: Der Pfarrer ist dabei genauso ein Akteur wie die Dorfkinder, junge Männer und Frauen, der gemeinnützige Frauenverein, die Dorfbehörden, lokale Medien, Schweizer Militärvertreter und die Spahis selbst. Die Reaktionen bewegten sich zwischen verordneter Abstandnahme und einer Vielfalt von Kontakten, die sich zwischen der lokalen Bevölkerung und den internierten Männern ergaben.123 119 | Perrenoud, »Algerien«. 120 | Pous, Henry Dunant, S. 177. 121 | Menrath, Exotische Soldaten, S. 55. 122 | Ebd., S. 68. 123 | Der beunruhigte Gemeinderat ließ etwa im Trienger Anzeiger eine Anweisung veröffentlichen, in der es heißt: »Die Bevölkerung wird dringend ersucht, im Verkehr mit den
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E XOTISMUS ALS S CHWEIZER S PEK TAKEL Eine andere Auseinandersetzung mit der postkolonialen Schweiz wird möglich, wenn die Zelebration und Popularisierung von stereotypen Fremdbildern betrachtet wird. Ein historisches Beispiel dafür sind die seit Mitte des 19. Jahrhunderts beliebten Völkerschauen, die als Volksbelustigung galten und oft von Ort zu Ort zogen. Manche wurden von lokalen Veranstaltern organisiert, oftmals fanden sich Schweizer Städte und Dörfer aber auch auf dem Tourneeplan von international agierenden Schaubuden. So wurde die Nachricht vom Eintreffen des Extrazugs mit der »Singhalesen-Show« des deutschen Carl Hagenbeck am 1. August 1885 in Zürich begeistert aufgenommen. Bereits am ersten Wochenende wurden über 10.000 Eintrittskarten verkauft und die Neue Zürcher Zeitung riet den Leserinnen und Lesern nach einer Woche: »Es genügt nicht, die Singhalesen nur ein einziges Mal zu besuchen. Die Tänze, welche sie aufführen, der ganze ungewöhnliche Aufputz, alles muthet uns fremdartig an. Aber bei öfterem Besuch beginnt die Phantasie diese fremden Bilder zu verarbeiten und man fühlt sich in einen Palmenhain versetzt.«124 Zwischen der Ausstellung eines westafrikanischen Mannes um 1835 und der afrikanischen Tier- und Völkerschau, die der Zirkus Knie 1960 (!) auf der Sechseläutewiese veranstaltet hat, macht Rea Brändle in Zürich über 60 Völkerschauen aus.125 Timothy Mitchell hat gezeigt, dass diese »Kultur des Spektakels« Teil einer spezifisch kolonialen Repräsentationspraxis ist, welche die Welt als Ausstellung versteht: »Während des gesamten 19. Jahrhunderts sahen sich nichteuropäische Besucher zur Schau gestellt oder in das Objekt intensiver europäischer Neugier verwandelt. Die Erniedrigung, die sie oft erlitten, war, ob beabsichtigt oder nicht, anscheinend unvermeidlich und war für dieses Spektakel ebenso notwendig wie die an Gestellen befestigten Fassaden oder die Scharen neugieriger Zuschauer.«126
Ein Effekt dieser Praxis bestand darin, dass die westliche Wahrnehmung von anderen Kulturen wesentlich durch eine Logik bestimmt war, die auf die eigene, das heißt eurozentrische Repräsentation zurückgeht. Dies zeigt sich auch bei den europäischen Reisenden, welche die Ausstellungen verließen, um das reale Andere aufzusuchen127: Oftmals rückten sie ihre Erlebnisse (unter großem epistemischen internierten Truppen den notwendigen Abstand zu wahren. Junge Mädchen und Frauen werden darauf aufmerksam gemacht, dass besonders Soldaten der farbigen Truppe in gesundheitlicher und sittlicher Beziehung nicht einwandfrei sind« (ebd., S. 119). 124 | Brändle, Wildfremd, hautnah, S. 49. 125 | Vgl. Ebd., S. 160-166. 126 | Mitchell, »Welt als Ausstellung«, S. 150. 127 | Siehe dazu auch den Beitrag von Gaby Fierz in diesem Band.
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Aufwand) so zurecht, dass sie den mitgebrachten Bildern entsprachen. Bezeichnend für die koloniale Logik des Ordnens und Darstellens war auch die verbreitete Zurschaustellung von exotisierten Menschen in Schweizer Zoos.128 Die koloniale Tradition einer »Kultur des Spektakels« kann in der Schweiz bis in die Gegenwart hinein verfolgt werden. So bietet beispielsweise die Fasnacht reichlich Stoff für eine postkoloniale Analyse: Noch heute verkleiden sich zahlreiche Schweizerinnen und Schweizer als Indianerhäuptlinge mit Federschmuck, Afrikanerinnen im Baströcklein oder Chinesen mit langem Zopf. Die Präsenz solcher kolonialen Spektakel im Schweizer Alltag geht einher mit dem kargen Wissen über den Kolonialismus und den außereuropäischen Raum, das den Schweizer Alltag kennzeichnet. Das führt, wie Cintia Meier-Mesquita beschreibt, etwa zu Zweifeln an der nationalen Zugehörigkeit von Menschen, die als nicht weiß taxiert werden. Ein Personalchef habe das Vorzeigen ihres portugiesischen Passes mit der Aussage quittiert: »›Portugiesen sind weiss, Sie aber sind schwarz.‹ […] Dies wirkte auf mich sehr befremdend, weil ich konstatieren musste, dass erstens Dunkelhäutige – auch wenn sie an der Universität tätig sind – nicht als glaubwürdig gelten, und dass zweitens hierzulande [in der Schweiz] die Kolonialgeschichte Europas weitgehend unbekannt ist.«129
S CHWEIZER W ARENR ASSISMUS Ein weiteres Beispiel dafür, wie der Rassismus in den Schweizer Alltag diffundiert und dort so sprichwörtlich »alltäglich« geworden ist, dass er kaum als solcher wahrgenommen wird, lässt sich in dem Bereich ausmachen, den Anne McClintock als »Warenrassismus« (commodity racism) bezeichnet.130 McClintock geht davon aus, dass die Bedeutung eines im Rahmen der wissenschaftlichen Forschung entwickelten Rassismus auf eine kleine, wenn auch bedeutsame Elite beschränkt blieb. Mit der Entwicklung des Kapitalismus hingegen, der zur zunehmenden Zirkulation von Gütern und zur Adressierung breiterer Gesellschaftsschichten in Westeuropa als Konsumentinnen und Konsumenten führte, entstand eine neue und ungeheuer wirkmächtige Form des Rassismus, die sich vor allem über Konsumgüter verbreitete und mit deren Erwerb und Verzehr unweigerlich verknüpft war.131 128 | Vgl. die Untersuchung von Balthasar Staehelin zum Zoo Basel: »Zwischen 1879 und 1935 wurden dem Basler Zoopublikum einundzwanzig Schauen mit meist aussereuropäischen Menschen vorgeführt.« Staehlin, Völkerschauen, S. 11. Vgl. dazu auch Minder, »La construction du colonisé«. 129 | Meier-Mesquita, »Soziale Bedeutung«, S. 9. 130 | Vgl. McClintock, Imperial Leather, S. 31-36, insbesondere S. 33. 131 | Ebd., S. 209.
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Abbildung 1: Werbung für »Weisse Waren«, 1933
Ein Schweizer Beispiel dafür ist die Lancierung einer Werbefigur des Schweizer Warenhauses Globus. Neben »Globi«, dem blauen Papagei in der rot-schwarz karierten Hose, der die Kinder auf seinen Geschichten nicht selten an exotische und von kolonialen Bildern nur so strotzende Orte mitnahm, wurde in den 1930er Jahren die Figur des »weißen Negers« aus Afrika eingeführt.132 Er sollte erst dabei behilflich sein, weiße Wäsche, sogenannte Weißwaren, an die Schweizer Hausfrau zu bringen, und wurde später in einigen Geschichten zu einem Kameraden von Globi. In einem Globus-Inserat von 1935 werden die Kinder aufgerufen, ihre Mütter zum Kauf von Weißwaren aufzufordern, denn Globi habe »seinen Freund – den weißen Neger – damit beauftragt, in allen Rayons schöne und billige weiße Waren zu besorgen«133. Das Inserat ist umrahmt von elf Bildern, auf denen der »weiße Neger« verschiedenen Kindern Hüte, Schuhe, Strümpfe, Kleider und andere Waren anbietet. Zumeist ist er in der Haltung eines Dieners dargestellt. Auf einigen Bildern weist er auffallend feminine Züge auf. Ins Auge sticht auch, dass die Arme und Beine des »weißen Negers« schwarz koloriert sind. Damit wird die Assoziation geweckt, der »weiße Neger« sei ein Schwarzer mit weiß geschrubbtem Gesicht. Diese sogenannte Mohrenwäsche hatte in der Alltagskultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts einen festen Platz, wie Nana Badenberg gezeigt hat.134 Verbreitet waren Geschichten von »Mohren«, die dank ihres guten Herzens weiß, oder, umgekehrt, von Kindern, die aufgrund von übermäßigem Schokoladenkon132 | Zur Figur von Globi siehe den Artikel von Patricia Purtschert in diesem Band. 133 | N. N., »Weisse Waren«, o. S. 134 | Badenberg, »Die Bildkarriere«.
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sum schwarz wurden. In suggestiver Weise verbanden sich in diesem kulturell verfestigten Stereotyp hygienische und moralische Denkfiguren, wobei dabei auch Assoziationen von hell und dunkel, Tag und Nacht aufgerufen wurden, die älter waren und dem Kolonialismus vorangingen.135 »Produkte, die glänzendes Weiß versprachen, setzten auf die Werbewirksamkeit Schwarzer.«136 Was schwarz ist, gilt als schmutzig; »die Redewendung ›einen Mohren weiß waschen‹ bezeichnet das aussichtlose Unterfangen, einen offenkundig Schuldigen entlasten zu wollen«137. Das sprachliche Gegenstück dazu ist das »Anschwärzen«. Die Verbindung von weißer Wäsche, einem (von seiner schwarzen Farbe) »weiß gewaschenen« Afrikaner und der Werbung weist auf den transnationalen Kontext des »commodity racism« hin: Seife, so schreibt McClintock, wurde das vorherrschende Medium, in dem sich der neue, kommerzielle Imperialismus mit dem bürgerlichen Haushaltskult verband.138 Ein anderes Beispiel für die Zirkulation kolonialer Bilder durch den kapitalistischen Kreislauf beschreibt Roman Rossfeld. Die Vermarktung der Schweizer Schokolade, so zeigt er, wurde Ende des 19. Jahrhunderts von einer Werbung dominiert, die sich im »Spannungsfeld von Exotismus und Nationalismus« befand.139 Die »oft stereotyp gestalteten Motive ermöglichten nicht zuletzt eine deutliche Differenzierung von (nationaler) Identität und (exotischer) Alterität. Üblicherweise wurden die Schwarzen dabei mit dem Rohstoff Kakao und nicht den verarbeiteten Produkten abgebildet, was indirekt auch auf die in der bürgerlichen Gesellschaft wichtigen Dichotomien von ›modernvormodern‹ respektive ›neuzeitlich-archaisch‹ verwies und die Schwarzen zugleich einer rückständigen Lebenswelt zuordnete«.140
Die Schokolade als Konsumgut transportierte somit Bilder der modernen Schweiz, die mit kolonialen Vorstellungen einer vormodernen, exotischen und als Rohstofflieferant dienenden Welt untrennbar verwoben waren.
135 | Eine solche Farbsymbolik ist nicht erst im 19. Jahrhunder entstanden, vielmehr wurden bestehende farbliche Zuweisungen im Zuge der Erfindung moderner Rassen neu konfiguriert. Vgl. dazu Husmann, Schwarz-Weiss-Symbolik. 136 | Badenberg, »Die Bildkarriere«, S. 177. 137 | Ebd., S. 174. 138 | »The emergent middle class values – monogamy (›clean‹ sex, which has value), industrial capital (›clean‹ money, which has value), Christianity (›being washed in the blood of the lamb‹), class control (›cleansing the great unwashed‹) and the imperial civilizing mission (›washing and clothing the savage‹) – could all be marvelously embodied in a single household commodity.« McClintock, Imperial Leather, S. 208. 139 | Rossfeld, Schweizer Schokolade, S. 436. 140 | Ebd. Vgl. auch Franc, Wie die Schweiz.
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O THERING À L A S UISSE Postkoloniale Studien weisen darauf hin, dass sich Identitätsbildungen im kolonialen und postkolonialen Zeitalter über Prozesse des othering ereignen.141 Insbesondere der Selbstentwurf als moderne Nation bedient sich einer Rhetorik der Absetzung von vormodernen und archaischen Anderen. Das gilt, wie Patrick Harries festhält, auch für die Schweiz: »In Switzerland, as elsewhere in the world, the outlines of modernity were defined against a primitive other.«142 Das Verhältnis moderner Schweizerinnen und Schweizer zu diesen »internen Anderen« war komplex: Einerseits verkörperten die Alpenbewohner eine primitive Welt, in der Aberglauben vorherrschte und eine archaische Lebensweise gepflegt wurde. Andererseits arbeitete der neu entstehende Nationalismus des 19. Jahrhunderts gerade mit Bildern der Schweiz, die dieses angeblich traditionelle Leben hochhält und mit typisch schweizerischen Tugenden verbindet. Der Alpenbewohner schillerte zudem zwischen dem edlen und dem bösen Wilden: Er war der Primitive, aber auch der Inbegriff einer heilen Welt, die sich im Kontext des Kulturpessimismus mit der Nostalgie für ein ursprüngliches natürliches Leben verband. So zeigt Bernhard Schär in seiner Arbeit zur Kariesbekämpfung in der Schweiz, dass die Zähne der Alpenbevölkerung anfangs des 20. Jahrhunderts als gesundes Gegenbeispiel zum urbanen, von Zucker und modernem Essen verdorbenen Gebiss der Stadtbevölkerung aufgefasst und erforscht wurde – und dass man diesen Gegensatz in koloniale Begriffe fasste: »Für ihre Dissertationen gingen etliche Zahnmediziner in die Alpen, um die Ernährungsweise der ›Bergvölker‹ zu studieren. Diese wurden gewissermassen als Pendant zu den ›Naturvölkern‹ gesehen, die ebenfalls über auffallend gesündere Zähne verfügten als die Europäer.«143 Die Seh- und Denkgewohnheiten, die mit solchen internen Schweizer Modernitätsdifferenzen verknüpft waren, wurden von Schweizer Forschenden auf ihre afrikanischen Forschungsobjekte übertragen, wie Patrick Harries schreibt: »In particular, they carried to Africa the European images, themes and attitudes employed to describe the Alps as a primitive wilderness.«144 Ausgestattet mit diesen Bildern einer heimischen Wildheit machten sich Schweizer Forschende daran, deren »afrikanische Varianten« zu erkunden. Innerschweizerisches und außereuropäisches othering wurden dadurch unweigerlich miteinander verschränkt: Die Vorstellungen eines rückständigen Afrika, die beispielsweise durch die Vermittlung von Missionsgesellschaften großflächig in der Schweiz zirkulierten, stützten wiederum die Herausbildung einer Schweizer Identität, die sich als modern, entwickelt und hochtechnisiert verstanden wissen wollte. Harries führt dazu aus: »Missionary propaganda brought Africa directly into the intimate recesses of Swiss homes. 141 | Vgl. dazu auch den Beitrag von Martin Mühlheim für diesen Sammelband. 142 | Harries, »From the Alps to Africa«, S. 219. 143 | Schär, »Karies«, S. 104. 144 | Harries, »From the Alps to Africa«, S. 201.
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In both private and public spaces, the picture of the dark continent served as a foil against which the Swiss could measure the evolution of their own society.«145 Weil nicht nur die Differenz zwischen der Schweiz und Afrika, Mittelland und Alpen, sondern auch Klassengegensätze oder die Geschlechterdifferenz mit dem Unterschied zwischen Natur und Kultur, Stillstand und Entwicklung, primitivem Leben und Zivilisation verknüpft wurden, können im Schweizer Selbstverständnis zahlreiche Parallelen, Überschneidungen und Verschränkungen zwischen diesen verschiedenen Prozessen des othering ausgemacht werden.146
K OLONIALE W ISSENSPRODUK TIONEN IM S CHWEIZER K ONTE X T Eine bedeutsame Aufgabe der postcolonial studies besteht darin, das Zusammenspiel von Wissenschaft und Herrschaft zu untersuchen. Dabei wird von einer gegenseitigen Konstitution von Wissen und Macht ausgegangen: Wissenschaftliche »Forschungen« wie die Rassentheorien des 19. Jahrhunderts stützen sich auf die Erkenntnisse, die Objekte und die Berichte der kolonialen Unternehmungen. Umgekehrt werden diese durch die wissenschaftliche Arbeit legitimiert. Und mehr noch: Der koloniale Blick, der sich dadurch auszeichnet, dass er andere Menschen zu Objekten macht,147 verdankt sich nicht zuletzt den diskursiven Bedingungen, welche die Wissenschaft mitetabliert: Sie macht grundlegende Differenzen mit Hilfe von Rassentheorien oder menschlicher Evolutionstheorien denkbar und scheinbar »einsichtig«. Für die postkoloniale Schweiz von Bedeutung ist, dass Schweizer Forschende und Institutionen in die Dynamik grenzüberschreitender Austauschprozesse und transkultureller Verhandlungen auf dem Felde der Anthropologie, Religionswissenschaft, Orientalistik und anderen wissenschaftlichen Gebieten eingebunden waren. Eine Figur, die Expedition und Forschung verbunden hat, ist Carl Passavant, der aus großbürgerlichen und wohlhabenden Verhältnissen stammte.148 Auf seinen zwei Afrikareisen in den Jahren 1883 und 1884 machte sich Passavant auf die Suche nach dem »Unvermischten«, dem »Ursprünglichen«. Möglicherweise angeregt von Julius Kollmann – seit 1878 Professor in Basel und eine Kapazität auf dem Gebiet der Anatomie und physischen Anthropologie – entschied sich Passavant für das Thema seiner Dissertation Craniologische Untersuchungen der Neger und der Negervölker. Im ersten Satz seines Vorwortes heißt es darin: »Bei einer Umschau über die auffallenden Abarten des Menschengeschlechtes, welche der afrikanische Continent beherbergt, scheint es mir geboten, dass der Craniologe seine Stellung zu 145 | Harries, Butterflies & Barbarians, S. 4. 146 | Vgl. dazu den Beitrag von Bernhard Schär in diesem Band. 147 | Vgl. Fanon, Weisse Masken. 148 | Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich auf Keller, »Sieben Schädel«; Schneider/Lüthi, »Passavant«; Schneider/Röschenthaler/Gardi, Fotofieber.
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der Rassenfrage darlege.«149 Die physische Anthropologie rückte den Körper – Statur, Kopfform, Pigmentierung – und die mentalen Kapazitäten anderer Völker als Untersuchungsobjekte in den Mittelpunkt ihres Interesses. Sie erhoffte damit, zur Klärung der Abstammungsfrage und der »Rassen« beizutragen. Passavant stützte seine Thesen auf eine Zusammenstellung von 205 Schädeln unterschiedlicher Provenienz; nur gerade sieben davon hatte er selber vermessen. Den Rest seines Datenmaterials entnahm er den zahlreichen Untersuchungen anderer Anthropologen. Unklar bleibt, wie er zu seinen Kriterien für die Klassifikation der Schädel in die Kategorien »Nigriter«, »Congovölker«, »Kaffer«, »Hottentotten« und »Buschmänner« gelangte. In einer Fotografie, die wahrscheinlich von seinem Bruder angefertigt wurde und welche die Überschrift Neger-Schädel zur Doctor-Dissertation von Karl Passavant trägt, sind auch einige Affenschädel zu sehen.150 Die Schädelvermessungen nahmen spätestens seit der Aufklärung vor allem innerhalb der physischen Anthropologie und mit Hilfe der Anthropometrie bei der Bestimmung der Wertigkeit von Menschengruppen einen wichtigen Platz ein.151 Sie standen in einer langen Tradition (erinnert sei hier an den Zürcher Johann Kaspar Lavater), in der mit zunehmendem Einfluss die Medizin, Anthropologie und Biologie im 18. Jahrhundert der Entstehung der menschlichen Gattung und den Gründen für die unterschiedliche Entwicklung einzelner Menschengruppen nachspürten. Bereits früh tauchten in diesem Zusammenhang Fragen auf, die spätere Rassendoktrinen prägen würden: Gibt es einen Zusammenhang zwischen körperlichen Merkmalen und psychisch-geistiger Veranlagung? Trotz des Versuchs, eine scheinbar objektive Theorie menschlicher Differenz zu etablieren, beinhaltete die Praxis in der Medizin und der physischen Anthropologie eine höchst subjektive und rassistische Vorgehensweise in der Beurteilung der »Menschenrassen«. Geprägt waren diese Wissenschaften von einer biologisch deterministischen Sprache und einem methodologischen Reduktionismus. Ihr Ausgangspunkt war die unhinterfragbare Überlegenheit der »europäischen Rasse« gegenüber den Nichteuropäerinnen, -europäern und marginalisierten Gruppen innerhalb der eigenen Gesellschaften.152 Auch bei Passavant dienten die wissenschaftliche Arbeit und das Sammeln der Fotos als Beweis für die Überlegenheit der »eigenen« Kultur. Sie sind ein wichtiges Zeugnis davon, wie Afrika aus europäischer Sicht gesehen werden sollte; zugleich dienten sie der Repräsentation der eigenen zivilisatorischen Vormachtstellung. Ähnlich wie Passavant machte sich der Zürcher Professor Otto Schlaginhaufen einige Jahrzehnte später (und nachdem er auf Melanesien zahlreiche Menschen vermessen und 420 Schädel gesammelt hatte) auf die Suche nach dem rassischen 149 | Passavant, »Craniologische Untersuchung«, zit. n. Keller, »Sieben Schädel«, S. 43. 150 | Ebd., S. 48. 151 | Zum Beitrag der Anthropologie zum Rassedenken siehe Priester, Rassismus, S. 60ff. 152 | Vgl. dazu auch die Aufarbeitung des Rassismus in den Schriften des Schweizer Psychiaters August Forel in Bugmann/Sarasin, »Forel mit Foucault«.
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Ursprung der Schweizer, der mit dem »Homo alpinus helveticus« bereits im 18. Jahrhundert von Johann Jacob Scheuchzer begrifflich gefasst worden war.153 Ein anderer wichtiger Kontext, in dem koloniales Wissen entstand und zirkulierte, stellen die bereits erwähnten Missionsgesellschaften dar. Die Untersuchung von Patrick Harries verdeutlicht, dass nicht nur die »Zivilisierungsmission« die europäischen Kolonialmächte antrieb, sondern dass die kolonisierten Orte einen Schauplatz für die Suche nach einem verlorenen, ursprünglichen (und oftmals »urchristlichen«) Leben jenseits von Materialismus und Immoralität darstellten.154 Auch Schweizer Missionaren und ihren Gemeindemitgliedern erlaubte Afrika derart, in eine vermeintlich intakte, unverdorbene Welt einzutreten, frei von den Konflikten und Entzauberungen des industriellen Zeitalters. Auf ein solches, mystifizierendes Bild stützt sich zum Teil auch die missionarische Kritik am Imperialismus, wonach dieser Kriege, Alkohol und eine lasterhafte Zivilisation aus Europa nach Afrika bringen würde. Die Rückwirkungen der missionarischen Arbeit in Afrika auf die Schweiz waren vielfältig und dokumentieren, wie sich ein koloniales »Alltagswissen« etablieren und verbreiten konnte. Die Sammelarbeit und Missionspropaganda brachte Bilder von Afrika auf direktem Wege in die intimsten Winkel von Schweizer Heimstätten: Vorträge von heimkehrenden Missionaren, Predigten, Sonntagsschulen, Museumssammlungen, botanische Gärten wie auch eine Ansammlung an Fotografien und Gedenkalben trugen zur Verbreitung dieses Wissens über Afrika bei. Durch die transnationale Organisation bedeutsamer Missionsgesellschaften wie etwa der Basler Mission, zirkulierte über das Medium von Missionszeitschriften auch unverhohlene koloniale Propaganda in Schweizer Haushalten. So erscheint im Evangelischen Missions-Magazin der Basler Mission von 1898 ein Artikel mit dem Titel »Die Bedeutung der Mission für unsere Kolonien«, in dem es heißt: »Wir alle fühlen die Verpflichtung, die uns durch unsere Kolonien mit ihren Millionen heidnischer Bevölkerung auferlegt ist. Es ist zwar nicht jedermanns Sache, an den anderen Bemühungen zur Erschließung derselben, an den kommerziellen, militärischen und wissenschaftlichen Arbeiten beizutragen. Aber zu dieser segensvollen und zentralsten aller Arbeiten zum Segen unserer [deutschen] Schutzgebiete, zur Mission können und sollen Sie alle mithelfen.«155
Dass die Aufarbeitung der kolonialen Episteme für die Schweiz nicht nur von historischem Interesse ist, soll ein abschließendes Beispiel verdeutlichen: In Schweizer Museen lagern zahlreiche Kult- und Kunstgegenstände sowie menschliche Schädel und Knochen, die in einem kolonialen Kontext und oft unter unlauteren Bedingungen erworben worden sind. Es ist vermutlich eine Frage der Zeit, bis die 153 | Vgl. dazu Keller, Der Schädelvermesser, S. 51ff. und S. 86. 154 | Patrick Harries, Butterflies & Barbarians. 155 | Richter, »Die Bedeutung der Mission«, S. 323.
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Restitution dieser Objekte mit den ethischen, religiösen, ästhetischen und ökonomischen Aspekten, die diese mit sich bringt, auch hierzulande zum Thema wird.156
P OSTKOLONIALER W IDERSTAND So sehr die postkoloniale Theorie darum bemüht ist, die Zusammenhänge zwischen Wissen, gesellschaftlicher Organisation und Macht aufzuzeigen, so wichtig ist es für sie auch, Widerstand denkbar zu machen und zu lokalisieren. Homi Bhabha hat dafür den Begriff der Hybridität ins Feld geführt. Koloniale Machtansprüche werden angreifbar, so seine These, wenn erkannt wird, dass die Asymmetrie zwischen dem herrschenden Subjekt und dem kolonisierten Anderen ständig hergestellt und aufrechterhalten werden muss. Die Reproduktion kolonialer Herrschaft ist somit begleitet von zahlreichen Störungen, Brüchen, Ungereimtheiten und einem phantasmagorischen Überschuss, die den Bereich des Hybriden eröffnen. Dieser ermöglicht einerseits Einblicke in die Konstruiertheit und Schwachstellen kolonialer Macht. Andererseits erweist er sich als Einsatzstelle für subversive Praktiken, die sich gegen die vorherrschende Macht wenden und sie anfechten. Diese Veränderung der Perspektive hat zur Folge, dass »die Wirkung der kolonialen Macht in der Produktion von Hybridisierung […] statt in der lautstarken Ausübung der kolonialistischen Autorität oder der stillschweigenden Unterdrückung einheimischer Tradition«157 gesehen wird. Diese Einsicht, die Bhabha anhand der Analyse von Beispielen aus dem kolonialen Indien gewinnt, hat sich für die postkoloniale Theorie als folgenreich erwiesen. So sehen Hannah Franzki und Joshua Kwesi Aikins auch gegenwärtig eine Hauptaufgabe der postkolonialen Studien darin, »zu einer Analyse aktueller Machtverhältnisse unter Berücksichtigung ihrer kolonialen Ursprünge bei[zu]tragen, die gleichzeitig Ausgangspunkt für politischen Widerstand sein kann«158 . Widerstand kann sich auch, wie im Folgenden gezeigt wird, in der Umdeutung einer rassistischen Kampagne durch eine alternative Bildpolitik manifestieren. Ausgangspunkt ist eine Kampagne der Schweizerischen Volkspartei (SVP), die 2007 für die Annahme der von ihr lancierten sogenannten Ausschaffungsinitiative warb. Die Initiative verlangte die Ausweisung von Ausländerinnen und Ausländern, die in bestimmter Weise straffällig geworden sind, und wurde am 28. November 2010 mit 52,9 Prozent der Stimmen angenommen. Das Plakat, das für die Initiative warb und weit über die Landesgrenzen hinaus Anlass zu Diskussionen 156 | Siehe dazu die Konferenz Mémoire africaine en péril. Pillages et restitutions du patrimoine culturel et anthropologique africain, die im Juni 2011 am Musée d’art et d’histoire in Genf stattfand. In Bezug auf Frankreich siehe die Stellungnahme von Nicolas Bancel unter http://www.infoclio.ch/fr/node/23795, 06.06.2011. 157 | Bhabha, Verortung, S. 166. 158 | Franzki/Aikins, »Postkoloniale Studien«, S. 16.
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gab, zeigt ein schwarzes Schaf, das von einem weißen aus der »Schweiz« – symbolisiert durch eine rote Fahne mit Schweizerkreuz – gekickt wird. Die problematische Bildsprache des »Schäfchenplakats« blieb kein Einzelfall. Es kann vielmehr als Auftakt einer Kampagnenserie betrachtet werden, die gezielt rassistische Inhalte zum Einsatz bringt. Abbildung 2: Abstimmungsplakat der SVP zur Ausschaffungsinitiative 2007
Indem das Plakat so verstanden werden kann, dass Dunkelhäutige in der Schweiz die schwarzen Schafe seien, spielt das Plakat mit der Mehrdeutigkeit der Metapher des schwarzen Schafs: Einerseits operiert es mit rassistischen Elementen, die klar erkennbar sind, andererseits konnte sich die SVP auf die Position zurückziehen, dass hier nur die Redensart gemeint sei. Solche Bilder machen insofern Politik, als dass sie auf diese Weise die Grenzen des Sag- und hier vor allem Zeigbaren
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verschieben.159 Im Kontext der postkolonialen Schweiz stellt sich die Frage, ob die größte Schweizer Regierungspartei auf eine solche Bildsprache zurückgreifen kann, weil die Schweiz als Ort gilt, der von historischen Rassismen unbelastet sei und sich außerhalb kolonialer Konstellationen befinde.160 Der Bericht des UNOSonderberichterstatters für Rassismus hielt in diesem Zusammenhang fest, bedenklich sei in Bezug auf die Schweiz die Tatsache, dass rassistische Ideen auch auf demokratische Parteien übergriffen. Der Transfer von diesem Gedankengut in politische Abstimmungen und Wahlkämpfe sei Besorgnis erregend.161 Solche Rassismen würden jedoch selten thematisiert, hält Noémi Michel in Bezug auf die sogenannte Anti-Minarett-Initiative fest, welche den Bau von Minaretten in der Schweiz verbietet und am 29. November 2009 von 57,5 Prozent der Schweizer Stimmbevölkerung angenommen worden ist.162 Das Schaf der »Ausschaffungsinitiative« wurde von der Gegenseite in subversiver Absicht aufgenommen und modifiziert, unter anderem vom Verein Moutons de Garde, der als Reaktion auf die Kampagne 2007 ins Leben gerufen wurde und bis Ende 2010 aktiv war. Er wollte keine bestimmte politische Position vertreten, sondern sich für eine parteiübergreifende Diskussionspolitik aussprechen, die auf Respekt basiert. Der Onlineaufruf der Initiative, der sich gegen »jedes Vorgehen [richtet], das Hass, Angst, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit schürt«163, wurde von über 33.000 Personen unterzeichnet. Das zweite Beispiel fordert zur Identifikation mit dem schwarzen Schaf auf, das sich nicht leichthin aus der Schweiz kicken lässt. Es diente als Emblem eines Festes gegen Rassismus, das am 6. Oktober 2007 in Bern, zeitgleich mit einer Demonstration der SVP, stattfand. Das Aufeinanderprallen von Demonstration und Gegendemonstration führte zu einer gewalttätigen Konfrontation; über die damaligen Ereignisse wurde weltweit berichtet.164 Diese subversiven Verwendungen der Schafe machen unterschiedliche Strategien des Widerstands kenntlich; die beiden Vorgangsweisen symbolisieren nicht zuletzt eine unterschiedliche Einschätzung im Umgang mit der SVP. Beim zweiten Fall mutiert das »Opferlamm« zum wutschnaubenden Tier: Das schwarze Schaf erscheint als widerständiges und zorniges Wesen, das die Konfrontation mit rassisti159 | Bischoff/Falk/Kafehsy, »Images«. 160 | Zum Zusammenhang von Rechtspopulismus und Migrationspolitik siehe Skenderovic/D’Amato, Mit dem Fremden politisieren. 161 | Diène, »Mission to Switzerland«. Siehe dazu den Beitrag von Franziska Jenni und Francesca Falk in diesem Band. 162 | »Il est intéressant de noter que les partis et associations qui ont mené campagne contre l’initiative anti-minaret n’ont que rarement condamné cette initiative pour son caractère ›raciste‹«. Onlineinterview von Elsa Dorlin mit Noémi Michel vom 30.11.2009 publiziert auf dem Blog http://observatoire2.blogs.liberation.fr/normes_sociales/2009/11/ des-minarets-aux-miradors-entretien-avec-no %C3 %A9mi-michel.html, 17.07.2011. 163 | Vgl. http://www.moutonsdegarde.ch, 23.02.2011. 164 | Vallely, »Switzerland«; Sciolino, »Immigration«.
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Abbildungen 3 und 4: Motiv des Vereins Moutons de Garde und Emblem des Festes gegen Rassismus
schen Kräften nicht scheut. Es vertritt eine Position, die es aufgrund ihres Verständnisses verneint, mit rassistisch agierenden Parteien wie der SVP das Gespräch zu suchen oder gar Kooperationen einzugehen. Hier wird der Aufruf nach Ausgrenzung mit eigenen Grenzziehungen beantwortet – »SVP nicht willkommen« liest sich der Text zum Bild. Beim ersten Beispiel folgen die bunten Schafe einer Logik der Multikulturalität: »Wir sind alle farbige Schafe«, wird als Botschaft transportiert. Zugleich soll fremdenfeindliche Politik nicht widerspruchslos weitergeführt werden können: Nicht der Wachhund, sondern die Wachschafe schützen dabei die Schweiz vor Fehlentwicklungen. Sowohl die weißen als auch die schwarzen Schafe, die gleichsam die Polarisierung der politischen Diskussion symbolisieren, verschwinden in der Darstellung der Moutons de Garde. Auf die aggressive Abstimmungskampagne wird in diesem Fall mit der Aufforderung nach Deeskalation und einem friedlichem Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft reagiert – gekoppelt allerdings mit der Überwachung fremdenfeindlicher Positionen. Die Aufforderung, hegemoniale, rassistische und eurozentrische Darstellungen anders denn nur als Ausdruck von Macht und Überlegenheit zu lesen, heißt demnach, aufmerksam zu bleiben für Zäsuren, Gegenläufigkeiten, Unstimmig-
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keiten, Selbstwidersprüche und auch für die Leerstellen und das Ungenannte. Es bedeutet aber auch, das postkoloniale Archiv mit anderen Stimmen, Gegendiskursen, mit den kritischen und subversiven Positionen anzureichern, die es auch gibt und gegeben hat. Das können literarische Stimmen wie diejenige von Mariella Mehr oder Martin R. Dean sein.165 Es kann die Arbeit von Gruppierungen sein, die den gängigen Stereotypen andere Formen der Selbstrepräsentation entgegensetzen – wie dies etwa im Kontext des Black Women’s Center Zürich oder Sankofa. Plattform für Menschen afrikanischen Erbes geschieht.166 Es kann die Aktivität der bereits erwähnten NGOs sein, welche die Verschränkung der Schweizer Politik und Wirtschaft mit postkolonialen Strukturen aufzeigen. Oder diejenige der Menschenrechtsorganisation augenauf, die sich für die Rechte von Migrantinnen und Migranten einsetzt und dabei insbesondere die Arbeit von Polizei und Behörden kritisch begleitet.167 Als Beispiel für postkolonialen Widerstand kann schließlich auch die von Hans Fässler und Sasha Huber initiierte Petition zur Umbennenung des Agassizhorns bezeichnet werden, die von 2500 Personen unterzeichnet worden ist. Sie weist darauf hin, dass der in der Schweiz vor allem für seine glaziologische Forschung bekannte Louis Agassiz »einer der wichtigsten Wegbereiter des so genannten ›wissenschaftlichen‹ Rassismus und ein Vordenker der Apartheid«168 gewesen sei. Die Petition schlägt vor, den nach ihm benannten Gipfel nach einem Sklaven, von dem Agassiz im Rahmen seiner Rassenforschung Fotografien anfertigen ließ, fortan als Rentyhorn zu bezeichnen.169
165 | Siehe dazu der Beitrag von Alexander Honold in diesem Band. Vgl. auch Bröck, »Slavery, Race and Postcolonial Love«. 166 | Siehe die Webseiten der Organisationen: http://www.blackwomenscenter.ch; http://www.sankofa.ch, 22.04.2011. 167 | Vgl. http://www.augenauf.ch, siehe auch die Webseite der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration: http://www.fiz-info.ch, 22.04.2011. 168 | Vgl. http://www.rentyhorn.ch sowie http://www.louverture.ch und http://www.sasha huber.com, 22.04.2011. 169 | Die drei Gemeinden Grindelwald, Guttannen und Fieschertal, auf deren Boden sich das Agassizhorn befindet, haben in einem Schreiben vom Juli 2010 verlauten lassen, dass sie den Vorstoß ablehnen und auch keinen namenlosen Nachbargipfel des Agassizhorns Rentyhorn taufen wollen. Die Ablehnung begründet der Gemeindepräsident von Grindelwald mit einer Bemerkung, die für den helvetischen Umgang mit dem Thema als charakteristisch gelten kann. Agassizs Rassentheorien würde man aus heutiger Sicht zwar klar verurteilen, sagt er, jeder Mensch habe jedoch »Sonnen- und Schattenseiten«. Wälti, »Agassizhorn«.
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P OSTKOLONIALE S CHWEIZ : W EITL ÄUFIGE F ORSCHUNGSFELDER UND ALLTAGSPOLITISCHE D RINGLICHKEITEN Diese Einleitung stellt auch den Versuch einer Bestandesaufnahme dar. Die Anzahl zitierter Forschungsberichte macht deutlich, dass für zahlreiche Themen, die für die postkoloniale Schweiz von Bedeutung sind, bereits Forschungsresultate vorliegen. Mit Methoden und Ansätzen der postkolonialen Theorie wurde dabei allerdings kaum oder nur am Rande gearbeitet. Wie die Aufsätze im vorliegenden Band zeigen und wie unsere Ausführungen in dieser Einleitung deutlich machen sollen, lassen sich mit Hilfe der postkolonialen Perspektive neue Zugänge zur Schweiz und ihrer Kontextualisierung in einer globalisierten Welt und in der Geschichte der Moderne erschließen. Neben dem Umschreiben der bestehenden Forschung, zu der wir anregen möchten, ist es auch nötig, den Forschungslücken Beachtung zu schenken: Auffallend ist etwa, dass es kaum Forschung zum Schweizer Kontext gibt, welche die Verschränkung von Kolonialismus mit Geschlecht und Sexualität in den Blick nimmt. Feministische und queere Perspektiven auf die postkoloniale Schweiz könnten an vielen Punkten ansetzen: Inwiefern haben sich Schweizer Frauen, beispielsweise im Rahmen von Missions- oder Handelstätigkeiten, an der Verbreitung und Durchsetzung kolonialer Praktiken und Weltsichten beteiligt?170 Wie sind Konzepte von Schweizer Männlichkeiten wie etwa dem technisch versierten Ingenieur mit postkolonialen Formen des othering verschränkt? Inwiefern gründen Repräsentationen weißer Weiblichkeiten und Männlichkeiten in der Schweiz auf der impliziten und expliziten Abgrenzung von nicht weißen Anderen?171 Wie können etwa die Entstehungsbedingungen und Resonanzen von Corinne Hofmanns ungemein erfolgreicher autobiographischen Schilderung »Die Weiße Massai« in Bezug zur postkolonialen Schweiz gesetzt werden?172 Vermehrt diskutiert wird in jüngerer Zeit auch die Instrumentalisierung von Frauenrechten für rassistische und insbesondere islamfeindliche Politiken. Aus feministisch-postkolonialen Kreisen in Deutschland wird etwa die wachsende Beliebtheit von Alice Schwarzer kritisiert. Lange als »Radikalfeministin« verschrien, erweisen sich ihre islamkritischen Positionen als anschlussfähig an eine Diskussion, welche die (westlichen) Frauenrechte gegen ein (östliches) Patriarchat auszuspielen suchen.173 »Mainstream-Feminismus wird hier zum direkten Agenten einer fremdenfeindlichen neo-orientalistischen 170 | Vgl. dazu die in Deutschland erschienenen Studien Walgenbach, Die weiße Frau, sowie Dietrich, Weiße Weiblichkeiten. 171 | Vgl. Iso, »Weiss – wie Schneewittchen«. Ein wegweisender Versuch, die whiteness studies mit der Schweiz zu verknüpfen, wurde kürzlich von Noémi Michel und Manuela Honegger unternommen. Vgl. Michel/Honegger, »Thinking Whiteness«. 172 | Vgl. dazu Krüger, »Die Weisse und die edlen Wilden«. 173 | Dazu der hier publizierte Artikel von Meral Kaya.
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Politik«, hält Gabriele Dietze diesbezüglich fest.174 Solche »Entlastungsdiskurse« verdecken zudem eigene Defizite in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter. Vergleichbare Tendenzen lassen sich, wie eine Themennummer der Zeitschrift Olympe unlängst dokumentiert hat, auch in der Schweiz feststellen.175 Ähnliches ließe sich zudem für die Instrumentalisierung von lesbian and gay rights festhalten: Auch der Schutz sexueller Minderheiten wird dazu verwendet, die Toleranz westlicher Gesellschaften in Absetzung von anderen zu behaupten.176 Eine solche Sicht blendet die nach wie vor bestehenden Diskriminierungen queerer Menschen in westlichen Gesellschaften aus177 und stellt diese in einen scharfen Kontrast zu angeblich homophoben und archaischen nicht westlichen Traditionen. Diese Differenz trennt nicht nur westliche von nicht westlichen Kulturen, sie organisiert die westlichen Migrationsgesellschaften auch in ihrem Inneren: Sie wird benutzt, um den Unterschied zwischen einer vormodernen, »verschlossenen« und einer modernen, »aufgeschlossenen« Bevölkerung herzustellen. Dieses plakative Vorführen einer liberalen Haltung des Westens gegenüber queeren Menschen, welche auf der Abgrenzung und Stigmatisierung von Migrantinnen und Migranten, insbesondere muslimischer Herkunft, basiert, bezeichnet Jasbir Puar als »Homonationalismus«178 . Inwiefern lässt sich dieses Konzept auch mit der postkolonialen Schweiz in Verbindung bringen?179 Aus einer queer-feministischen Optik ist auch die Frage von Bedeutung, ob und wie die zunehmende Inklusion von Lesben und Schwulen (etwa durch das 2007 in Kraft getretene Partnerschaftsgesetz) mit der gleichzeitigen Verschärfung der Asyl- und Ausländerpolitik (gerade auch im Heiratsrecht) gekoppelt ist. Fatima El-Tayeb hat bereits 2003 für Deutschland festgehalten, dass dieses »Anbieten der Option bürgerlicher ›Normalität‹ für sexuelle Außenseiter einher[geht] mit einem Erstarken eines Modells kulturalistischer Anomalität«,180 das queers of color ganz besonders (be-)trifft. Lässt sich diese Analyse auch auf die Schweiz übertragen – und welche Folgen zeitigt eine solche Analyse für queer-feministische Forschung und Politik? Untersucht werden müsste ferner, wie sich Rassismus in Schweizer Kontexten mit Antisemitismus sowie unterschiedlichen Formen der Fremdenfeindlichkeit, beispielsweise gegenüber sogenannten »Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern«, 174 | Dietze, »Critical Whiteness«, S. 237. 175 | Vgl. Olympe, Wider die Instrumentalisierung. 176 | Lüthi, »Coming to Terms«. 177 | Dass solche Diskriminierungen keineswegs der Vergangenheit angehören, belegt etwa das gesetzliche Verbot der Adoption und Stiefkindadoption für gleichgeschlechtliche Paare in der Schweiz, welche das Leben queerer Familien erheblich beeinträchtigt. 178 | Puar, Terrorist Assemblages. 179 | Zu schweizerischen Versionen des Homonationalismus vgl. die Kommentare von Eveline Y. Nay und Sushila Mesquita in Purtschert, »Chewing on Post_colonial Switzerland, Part II«, sowie Mesquita, Ban Marriage! 180 | El-Tayeb, »Begrenzte Horizonte«, S. 133.
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verschränkt, überlagert und verbindet. Ein weiteres Forschungsdesiderat besteht in der Untersuchung einer postkolonialen Schweiz, die den Sprachregionen gebührend Beachtung schenkt. Der vorliegende Band erscheint auf Deutsch und beschäftigt sich verstärkt mit Beispielen aus der deutschsprachigen Schweiz. Eine systematisch vergleichende Perspektive, die postkoloniale Konstallationen in unterschiedlichen Gebieten vergleichen könnte, kann damit nicht eingenommen werden. Es ist anzunehmen, dass die transnationalen Verbindungen zwischen franko-, germano- und italophonen Ländern sowie den entsprechenden Teilen der Schweiz wichtige Unterschiede in den jeweiligen Regionen zur Folge haben. So sind Konzepte und Vorstellungen, die für die französischen und belgischen Kolonien von Bedeutung waren, durch den verstärkten Austausch von Informationen, wissenschaftlichen Ergebnissen und medialen Erzeugnissen im frankophonen Sprachraum vermutlich in der französischsprachigen Schweiz stärker präsent gewesen, während sich die kolonialen Bilder und Begriffe der deutschsprachigen Schweiz stärker im Austausch mit Deutschland herausgebildet haben; die gleiche Vermutung ließe sich auch für das Tessin und die italienischen Kolonien in den Raum stellen. Auch die Frage, was die Anwendung einer solchen, sprachgebundenen Perspektive auf den Postkolonialismus der rätoromanischen Schweiz zutage bringen würde, kann an dieser Stelle nur aufgeworfen werden. In der Schweiz ist, so lässt sich abschließend festhalten, eine eklatante »Leerstelle« zu erkennen, wenn es um Fragen des Rassismus, seiner kolonialen Genealogie und seiner gesellschaftlichen Auswirkungen geht. Einer solchen allgemeinen Nichtbeachtung stehen Einschätzungen wie die von Carmel Fröhlicher-Stines und Kelechi Monika Mennel gegenüber, die in der Einleitung ihres Berichts zur Situation von schwarzen Menschen in der Schweiz schreiben: »Stereotype Bilder, die auf die Schwarzen projiziert werden, stammen zum grossen Teil aus der Zeit der Beziehungen zwischen Europa und Afrika, die von Kolonisation und Sklaverei geprägt war. Von diesen Vorstellungen sind noch heute erst vor kurzem zugewanderte sowie längst einheimische Schwarze betroffen.«181 Eine postkoloniale Perspektive vermag es, solche zur Selbstverständlichkeit geronnenen Vorstellungen aufzubrechen, durch die der strukturelle Rassismus in der Schweiz gleichzeitig omnipräsent und unsichtbar gemacht wird. Indem die Eingebundenheit der Schweiz in transnationale koloniale Systeme zum Thema gemacht wird, kann aufgezeigt werden, wie rassistische Vorstellungen zirkulieren und wie sie naturalisiert oder kulturalisiert werden. Wenn also eine Auseinandersetzung mit Fragen des »Postkolonialen« für die Schweiz gefordert wird, steckt mehr dahinter als ein moralisierender Aufruf oder eine akademische Modeströmung. Auch wenn es situativ Sinn ergibt, eine klare Unterscheidung zwischen territorialen Kolonialmächten und anderweitig in den Kolonialismus involvierten Staaten zu treffen, ist eine
181 | Fröhlicher-Stines/Mennel, Schwarze Menschen, S. 9. Vgl. auch Matare/Schneider/ Zeugin, Black, Noir, Schwarz.
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eingehende Beschäftigung mit der postkolonialen Schweiz und ein transnationaler Austausch über »Kolonialismus ohne Kolonien« überfällig geworden.
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A BBILDUNGSNACHWEISE Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4
Fotografie der Werbung für »Weiße Waren«, Hauszeitung Globus, Juni 1933, S. 226 SVP-Plakat für die Ausschaffungsinitiative 2007 Moutons de Garde 2007, http://www.moutonsdegarde.ch/mdg/view. php, 25.04.2011 Das schwarze Schaf 2007, http://www.das-schwarze-schaf.ch, 25.04.2011
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»Kommt die nächste Miss Schweiz aus dem Kongo?« Postkoloniale Blickregimes in den Medien Christine Bischoff »Kommt die nächste Miss Schweiz aus dem Kongo?«, fragte die Schweizer Boulevardzeitung Blick auf ihrer Titelseite im Vorfeld der Wahlen zur »Miss Schweiz« 2004.1 Neben dieser in großen, fettgedruckten Lettern gestellten Frage ist die Porträtaufnahme einer jungen Frau zu sehen (siehe Abb. 1). Sie blickt die Leserinnen und Leser direkt an und schenkt ihnen ein offenes, ruhiges Lächeln. Sie hat dunkelbraune Augen, ihr Haar ist zu zahlreichen langen Rastazöpfen geflochten. Der durch das Lächeln leicht geöffnete Mund gibt den Blick auf strahlend weiße, regelmäßige Zähne frei, das Gesicht ist rund und ebenmäßig, die Haut makellos – und nicht weiß. Zumindest nicht so weiß, wie dass viele Leserinnen und Leser des Blick im Jahr 2004 von einer Bewerberin für die »Miss Schweiz« offenbar erwartet hatten. Mit der 24 Jahre alten Jeanette Bally, die in Kongo-Kinshasa geboren und aufgewachsen und deren Mutter Kongolesin und deren Vater Schweizer ist, war die mediale Farbenlehre durcheinander geraten. Dunkelhaarige, »rassige« Schönheiten aus der Westschweiz oder dem Tessin waren von den Schweizerinnen und Schweizern bei solchen Wahlen schon lange gern gesehen. Und auch an die Kandidatinnen mit binationaler Herkunft, die einen schweizerischen und zum Beispiel einen südeuropäischen Elternteil hatten, war man mittlerweile gewöhnt. Aber eine mögliche »Afro-Miss«2 war eine Zäsur im alljährlichen Medienspektakel um die neue »Miss Schweiz«. Das belegen die zahlreichen Fotoreportagen in verschiedenen Printmedien über die Kandidatinnen, die sich speziell mit der Herkunft und Biographie Jeanette Ballys auseinandersetzten und die Leserreaktionen in vielen Zeitungen.3
1 | »Kommt die nächste Miss Schweiz aus dem Kongo?«, in: Blick vom 14.07.2004, Titelseite. 2 | Blick vom 15.07.2004, S. 6. 3 | Zum Beispiel Blick vom 15.07.2004, S. 6f., oder Blick vom 23.07.2004, S. 28.
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Abbildung 1: »Kommt die nächste Miss Schweiz aus dem Kongo?«
»K OMMT DIE NÄCHSTE M ISS S CHWEIZ AUS DEM K ONGO ?« P OSTKOLONIALE B LICKREGIMES IN DEN M EDIEN
D IVERSITÄT UND D IFFERENZERFAHRUNG Die »Miss-Wahlen« jeweils im Spätsommer erhalten in der Schweiz, vor allem in den Printmedien, immer große mediale Aufmerksamkeit. Alle wichtigen Leitmedien berichten darüber. Besonders intensiv ist die Berichterstattung in den Hauptmedien des Ringier-Verlags, also im Blick, SonntagsBlick und in der Schweizer Illustrierten. Die Tatsache, dass bei der »Miss-Schweiz-Wahl« im Jahr 2004 zehn von 16 Kandidatinnen Wurzeln auch außerhalb der Schweiz hatten, erhöhte die mediale Aufmerksamkeit. Ein Grund dafür war die Tatsache, dass im Spätsommer 2004 nicht nur die »Miss-Wahlen« stattfanden, sondern die schweizerische Bevölkerung auch über zwei Einbürgerungsvorlagen abstimmte. Diese sahen zum einen eine Liberalisierung bei der Einbürgerung von Kindern und Enkelkindern von in die Schweiz eingewanderten Migrantinnen und Migranten und zum anderen eine Vereinheitlichung des Einbürgerungsverfahrens auf Bundesebene vor. Beide Vorlagen wurden abgelehnt. Die Medien produzierten mit den zeitgleich präsentierten Topthemen »Miss Schweiz«, »Einbürgerung« und »Integration« eine Schnittmenge, die als Basis für die Diskussion grundlegender soziokultureller Fragen diente: »Wie schweizerisch muss eine Miss Schweiz sein?«4 , »Sind das gleichwertige Schweizer Bürgerinnen?«5, »Ist eine ›echte‹ Schweizerin inzwischen benachteiligt?«6 und »Geht bei zu viel Integration nicht unsere Kultur verloren?«7. Um Antworten für seine Leserinnen und Leser zu finden, stellte der Blick in einer ausführlichen Fotoreportage alle sechzehn Kandidatinnen der »MissSchweiz-Wahl« 2004 vor. In Porträtaufnahmen in Form eines Passfotos und mit kurzen Steckbriefen wird in der Reportage die schweizerische beziehungsweise »ausländische« Herkunft der Bewerberinnen erörtert. Die Kurzporträts unterscheiden sich insbesondere durch die jeweils beigefügte, kleine Flagge: Diejenigen Kandidatinnen, die zu anderen Ländern biographische Bezüge haben, bekamen als Erkennungsmerkmal unter ihr Porträtfoto die Flagge dieses entsprechenden Landes zugeteilt. Die Kurzporträts der »reinschweizerischen« Kandidatinnen wurden dagegen mit den Flaggen ihrer Heimatkantone geschmückt, obwohl auch die anderen Kandidatinnen als Schweizerinnen jeweils einen Heimatkanton haben (siehe Abb. 2). In der Fotoreportage wurde verhandelt, ob die jeweilige (ausländische) Herkunft der Kandidatinnen mehr Vor- oder Nachteile bei der Bewerbung habe und ob diese als Möglichkeit des sozialen Aufstiegs betrachtet werden könne. Die Kandidatinnen, bei denen beide Elternteile Schweizer sind, sind sehr darum bemüht, zu versichern, dass sie sich als Schweizerin ohne außerschweizerische Wurzeln nicht
4 | Blick vom 14.07.2004, S. 4f. 5 | Ebd., S. 7. 6 | Ebd., S. 4. 7 | Ebd., S. 7.
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Abbildung 2: »Wie schweizerisch muss die neue Miss sein?«
benachteiligt sehen. Immer wieder wurden sie mit Aussagen zitiert wie: »Da auf die Herkunft eh nicht geachtet wird, fühle ich mich bei der Wahl auch in keiner Weise benachteiligt«8, »Alle Kandidatinnen haben doch die gleichen Chancen, auf die Herkunft achtet niemand. Und das ist auch gut so«9 oder »Absolut richtig finde ich auch, dass die Jury nicht auf die Herkunft zu achten braucht«10. Die Zitate der Bewerberinnen werden jedoch ad absurdum geführt, da die Fotoreportagen über sie und die Interviews mit ihnen sich letztlich – abgesehen von ihrem Aussehen – 8 | Aussage der Kandidatin Fiona Hefti (der späteren Gewinnerin) im Blick vom 14.07.2004, S. 4f. 9 | Kommentar der Kandidatin Olivia Fischer, ebd. 10 | Zitat der Bewerberin Anja Müller, ebd.
»K OMMT DIE NÄCHSTE M ISS S CHWEIZ AUS DEM K ONGO ?« P OSTKOLONIALE B LICKREGIMES IN DEN M EDIEN
mit nichts anderem als ihrer nationalen oder regionalen und sozialen Herkunft beschäftigen. Die Kandidatinnen mit Wurzeln auch außerhalb der Schweiz bestätigten dagegen in den medialen Diskussionen immer wieder, dass sie sich »voll und ganz als Schweizerin fühlen«11 . Jeannette Bally, die vom Blick den zweifelhaften Titel »unsere Afro-Miss«12 verliehen bekam, stellte, angesprochen auf ihre Geburt in Afrika und ihre kongolesische Mutter, klar: »Ich bin im Kongo geboren und kam mit 16 Jahren in die Schweiz. Ich bin hier sehr gut integriert.«13 In derselben Reportage wurde außerdem ein Innenpolitiker als juristischer Experte dazu aufgefordert, klarzustellen, wer denn nun als »echte Schweizerin« zu bezeichnen und damit zur »Miss-Wahl« berechtigt sei. Die juristische Antwort ist einerseits eindeutig. Auf einer der Doppelseiten der Reportage ist als Überschrift zu lesen: »Wer den roten Pass besitzt, ist Schweizer. Punkt.«14 Andererseits wird aber durch die aufgeworfene Frage eine Selbstverständlichkeit im medialen Diskurs als nicht selbstverständlich verhandelt. Die Fotoreportage über die Bewerberinnen der »Miss-Schweiz-Wahl« 2004 Mitte Juli ist nur oberflächlich betrachtet ein typischer Lückenfüller im alljährlichen medialen Sommerloch. Über die Aufbereitung des »harmlosen« Themas werden die durch soziokulturelle Diversitätsprozesse ausgelösten medialen Irritationen sichtbar: Klare Zuordnungen von »eigen« und »fremd« anhand einer überschaubaren Anzahl von visuellen (zum Beispiel Hautfarbe, Kleidung), sprachlichen (Akzent, Dialekt) und genealogischen (Nationalität, Herkunft) Identifikationsmerkmalen sind auch im Mikrokosmos der »Miss-Schweiz-Wahl« nicht mehr gegeben. Eine eindeutige Identifizierung von Individuen und Gruppen mit vermeintlich stabilen soziokulturellen Positionen und Zugehörigkeiten wie Nation und Ethnizität ist nicht ohne weiteres möglich.15 Die Erfahrungen des »Dazwischen-Seins« sind in den Medien durchaus präsent. Die Unübersichtlichkeiten und Uneindeutigkeiten in der Zusammensetzung der schweizerischen Bevölkerung bilden sich in der medialen Berichterstattung zur »Miss-Schweiz-Wahl« ab: Das »Fremde« kann nicht mehr nur in einem »Außen«, zum Beispiel in einem »fernen Afrika«, verortet werden, sondern es wird auch als Differenzerfahrung des »Eigenen« bestimmt. Gleichzeitig sind die Medien in ihrem Streben nach alltagstauglicher Einfachheit damit aber auch überfordert. Sie reagieren in ihren Bildern und Texten mit einer Mischung aus »politischer Korrektheit« und mehr oder weniger verdecktem Rassismus und Sexismus, wie sie sich in der Benennung »unsere Afro-Miss« äußern. 11 | Aussage der Kandidatin Natasha Grippaldi, deren Eltern aus Italien stammen. Mit genau denselben Worten werden die Kandidatinnen Francesca Kuonen, Isabell Brezovic, Jasmina Sarajilic und Kaye Anthon zitiert. 12 | Blick vom 15.07.2004, S. 6. 13 | Blick vom 14.07.2004, S. 4. 14 | Ebd., S. 7. 15 | Vgl. dazu auch Reuter/Villa, Postkoloniale Soziologie, S. 12.
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I NTERSEK TIONALITÄT Die visuelle Inszenierung und Bezeichnung Jeannette Ballys als »Afro-Miss« ist ein Beispiel dafür, wie sich Muster der Subordination, gemeint sind hier in erster Linie Rassismus und Sexismus, bei nicht weißen Frauen überkreuzen (intersect) und damit zu ganz eigenständigen Diskriminierungsformen und -erfahrungen dieser Frauen führen können.16 Der Intersektionalitätsansatz geht im Wesentlichen auf die US-amerikanische Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw zurück, die darauf hinweist, wie Ungleichheiten durch das Zusammenwirken von Faktoren wie Geschlecht, Hautfarbe, Ethnizität, Herkunftsregion, Religion und soziale Schicht entstehen.17 Allerdings geht es dabei nicht um ein einfaches Addieren der Differenzen, das dann in einem Automatismus zu den größten Ungleichheiten führt. Vielmehr hat die amerikanische Philosophin Elizabeth Spelman gezeigt, dass Intersektionen unterschiedliche Dynamiken des Ausschlusses hervorbringen können: Sie verdeutlicht dies beispielhaft in ihrer Kritik an einem unabhängig von Faktoren wie Ethnizität oder Klasse argumentierenden homogen weißen, westlich geprägten Mittelklassefeminismus: »In short […] the fact that a woman is not oppressed on account of her racial identity hardly leads to the conclusion that the sexist oppression to which she is subject can be understood without reference to her racial identity.«18 Stattdessen geht es bei diesem Ansatz darum, die unterschiedlichen Differenzen in ihrem Zusammenspiel zu untersuchen.19 »What is it to think of a woman ›as a woman‹? Is it really possible for us to think of a woman’s ›womanness‹ in abstraction from the fact that she is a particular woman, whether she is a middle-class Black woman living in North America in the twentieth century or a poor white 16 | Vgl. dazu Walgenbach, Gender als interdependente Kategorie, S. 48. 17 | Vgl. Crenshaw, »Demarginalizing the Intersection of Race and Sex«, hier insbesondere S. 316. Crenshaw bezieht sich in ihren Thesen vor allem auf amerikanische Gleichstellungsbemühungen. Sie ist der Meinung, dass die amerikanischen Antidiskriminierungsgesetze gemäß ihrer Lobbyisten zugunsten schwarzer Männer oder weißer Frauen entworfen wurden. Die besondere Situation schwarzer Frauen sei allerdings unberücksichtigt geblieben, da die Kategorien Gender und Race in diesen Gesetzen als sich gegenseitig ausschließende Konzepte gefasst werden. Ihre These versucht Crenshaw an einem Fallbeispiel auszuführen: der Klage schwarzer Frauen gegen die Einstellungspolitik der Firma General Motors, welche schwarze Frauen systematisch nicht berücksichtige. Der Vorwurf sexistischer Diskriminierung habe allerdings nicht gegriffen, da für das Unternehmen sehr wohl weiße Frauen arbeiteten und die Anstellung schwarzer Männer es gleichzeitig vor dem Vorwurf der rassistischen Diskriminierung schütze. Vgl. dazu auch Walgenbach, »Gender als interdependente Kategorie«, S. 48. 18 | Spelman: Inessential Woman, S. 15. Vgl. dazu auch Purtschert/Meyer: »Die Macht der Kategorien«. 19 | Vgl. Walgenbach, »Gender als interdependente Kategorie«, S. 68.
»K OMMT DIE NÄCHSTE M ISS S CHWEIZ AUS DEM K ONGO ?« P OSTKOLONIALE B LICKREGIMES IN DEN M EDIEN woman living in France in the seventeenth century? […] Many differences among us are linked to our being historical beings, living in particular places at particular times, subject to particular interpretations of our physical characteristics and activities. Our differences have been invoked to justify claims that some of us are superior to others and by virtue of this superiority are entitled, perhaps obliged, to dominate others.« 20
Die soziale Schicht als Kategorie gehört zum Muster der Subordination im Fall der »Miss-Schweiz«-Kandidatin Jeannette Bally. In ihrer medialen Repräsentation überkreuzen sich Rassismus, Sexismus und Klassismus21 . So ist sie während der »Miss-Schweiz-Wahl« 2004 die einzige der 16 Kandidatinnen, auf deren finanzielle Situation angespielt wird. Damit wird für die Leserinnen und Leser die direkte Interpretationsmöglichkeit eröffnet, sie könne als nicht weiße Frau die »MissWahl« als eine Chance für einen sozialökonomischen Aufstieg betrachten: »›Plötzlich kriegte mein Vater Malaria‹, so Jeannette traurig. 1994 stirbt er. ›Wir blieben im Kongo. Doch es wurde finanziell sehr schwierig.‹ […] Jeannette flüchtete 1997 mit Bruder und Tante in die Schweiz. […] Jeannette: ›Es geht uns gut. Ich bin integriert, arbeite als Versicherungsberaterin.‹« 22
Die Tatsache, dass für alle Bewerberinnen gleichermaßen der Gewinn des Titels eine Möglichkeit der sozialen und ökonomischen Prestigezunahme bedeutet, bleibt in diesem Zusammenhang von den Medien unerwähnt.
G ENE ALOGISCHE V ERMARK TUNGSSTR ATEGIEN Die große Bedeutung der Herkunft als nach wie vor bewährtes Zuordnungsschema wird am Beispiel der »Miss-Schweiz-Wahl« im Allgemeinen und am Beispiel Jeannette Ballys im Besonderen nachvollziehbar. »Woher kommst Du (ursprünglich)?« ist in der beschriebenen Blick-Reportage als drängende Frage ständig prä20 | Spelman: Inessential Woman, S. 12f. 21 | Klassismus ist ein im deutschen Sprachgebrauch bislang noch wenig bekannter und gebrauchter Begriff. Er bezeichnet individuelle, institutionelle und kulturelle Diskriminierung und Unterdrückung aufgrund des tatsächlichen, vermuteten oder zugeschriebenen sozial- oder bildungspolitischen Status eines Menschen. Menschen in Armutsverhältnissen wird zum Beispiel stereotyp gewalttätiges Verhalten oder Alkoholismus unterstellt und medial inszeniert, obwohl diese Phänomene klassenübergreifend vorkommen. Der Begriff Klassismus beschreibt die Erfahrung persönlicher Diskriminierung von Menschen als gesellschaftliches, strukturelles Problem. Damit ergänzt er die Analyse von Rassismus, Sexismus und anderen Diskriminierungsformen. Vgl. http://www.unrast-verlag.de/ unrast,2,274,13.html, 26.01.2011, und vgl. ebenso Kemper/Weinbach, Klassismus. 22 | Blick vom 15.07.2004, S. 6.
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sent. Gleichzeitig wird die Bedeutung dieser Frage in der medialen Darstellung aber negiert. Verschiedene Seiten betonen, Herkunft sei ohne Belang. Der »MissSchweiz«-Veranstalter macht klar, »da spielt die Herkunft keine Rolle. Wie bei unserer Wahl. Für eine Teilnahme ist für uns einzig der Besitz des Schweizer Passes massgebend«23 . Auch der »Vermarktungswert«, der »Nicht-weiß-Sein« gerade im medialen (Werbe-)Kontext haben kann, wird negiert. Auf die Frage, ob sich eine Schweizerin mit ausländischen Wurzeln besser vermarkten lasse, versichert der Veranstalter: »Nein. [….] Das ist kein Kriterium.«24 Große Werbekampagnen haben aber schon oft gezeigt, dass nicht nur die Inszenierung der Gegensätze »Schwarz« und »Weiß«, sondern das performative Spiel mit einer »ethnisierten Farbpalette« als eine Vermarktungsstrategie in den Medien eingesetzt wird: »The complex play of colours in harmony and opposition, the order of shades between the white and the black.«25 Die Kampagnen des Bekleidungsunternehmens Benetton, »United Colours of Benetton«26, und des Zigarettenherstellers Peter Stuyvesant mit dem multikulturellen Slogan »Come together and learn to live as friends«27, in denen das Aufeinandertreffen verschiedener ethnischer Gruppierungen inszeniert wird, sind nur zwei bekannte Beispiele. Sie werden als Plädoyer für grenzüberschreitende Freundschaft, harmonische Völkerverständigung und die Begegnung von Weltkulturen verstanden und eingesetzt.28 Sie zeigen, dass auch Konzepte, die mit universalen Werten wie zum Beispiel Menschsein, Freundschaft und Moderne argumentieren, längst ökonomisiert worden sind und Eingang in Werbestrategien gefunden haben.
»M ISS S CHWEIZ« ALS ALLEGORISCHE R EPR ÄSENTATIONSFIGUR Repräsentationswahlen ist es zu eigen, dass die daran teilnehmenden Kandidatinnen und Kandidaten nicht nur für sich selbst, sondern für etwas Anderes, etwas Größeres – eine Gruppe, eine Gemeinschaft, eine ganze Nation – stehen. Sie sollen helfen, eine Idee, ein Konstrukt sichtbar, identifizierbar und verstehbar zu machen, indem sie sie medial konsumierbar machen. Die »Miss-Schweiz«-Kandidatin Jeannette Bally musste in den Medien aufgrund ihrer »anderen« Herkunftsgeschichte ihre Befähigung, als allegorische Repräsentationsfigur »des Schweizerischen« wahrgenommen zu werden und diese zu »performen«, besonders unter Beweis 23 | Zitat des damaligen »Miss-Schweiz«-Veranstalters Christoph Locher im Blick vom 14.07.2004, S. 4. 24 | Ebd. 25 | Mudimbe, The Invention of Africa, S. 7. 26 | Vgl. z.B. http://www.benetton.com/portal/web/guest/home, 25.01.2011. 27 | Vgl. z.B. http://www.fotoarchiv-reemtsma.de/Themen/07_Werbung/index.html, 25.01.2011. 28 | Vgl. dazu auch Diers, Schlagbilder, S. 164f.
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stellen. Ihre Geburt in Afrika, also nicht lediglich in einem anderen europäischen Land, sondern auf einem anderen Kontinent, und ihre Hautfarbe geben ihrer »Alterität« in der medialen Darstellung eine spezifische Qualität. Die Dualität in der Wahrnehmung von Afrika und Europa hat eine lange Geschichte, wie Valentin Yves Mudimbe in seinem Werk The Invention of Africa gezeigt hat. »Because of the colonializing structure, a dichotomizing system has emerged, and with it a great number of current paradigmatic oppositions have developed: traditional versus modern; oral versus written and printed; agrarian versus customary communities versus urban and industrialized civilization; subsistence economies versus highly productive economies.« 29
Jeannette Bally besetzt und repräsentiert den Raum dazwischen: »Between the two extremes there is an intermediate, a diffused space in which social and economic events define the extent of marginality.«30 In Artikeln über Jeannette Bally wird in den Texten immer sehr ausführlich auf ihre afrikanische Herkunft eingegangen. Gleichzeitig ist sie auf Fotos oft in roter Kleidung zu sehen, die mit dem Schweizer Kreuz geschmückt ist (siehe Abb. 3). Immer wieder wird betont, dass ihr Vater Schweizer war und sie, nachdem sie nach dessen Tod mit ihrer Mutter und ihrem Bruder aus dem Kongo in die Schweiz gekommen ist, hier gut integriert sei: »Es geht uns gut. Ich bin integriert.«31 Für die Medien ist sie eine Projektionsfläche, wird zur Spiegelung eines erwünschten eigenen Selbst: Sie dient der medialen Inszenierung einer Schweiz, die sich als Land mit »einzigartiger Multikultur«32 sichtbar machen möchte. Gleichzeitig dürfen die an Jeannette Bally festgemachten »Abweichungen« von der eigentlichen Form des »Eigenen« und »Vertrauten« aber nicht zu groß werden, weshalb sie immer wieder ihre besondere Loyalität gegenüber der Schweiz bekunden muss: »Zudem bin ich mit meinem Herzen Schweizerin. Und nicht mit der Hautfarbe.«33 Der erste nicht weiße »Mister-Schweiz«-Kandidat stammt ebenfalls aus dem Kongo. Bei den Wahlen 2006 wurde Junior B. Manizao, der mit zwölf Jahren Vollwaise war und dann von schweizerischen Pflegeeltern aufgenommen wurde, Vierter. Im Gegensatz zu den weiblichen nicht weißen »Miss-Schweiz«-Kandidatinnen wurde bei Manizao die Bedeutung seiner Herkunft in den medialen Diskussionen allerdings nicht einfach negiert. Der damalige »Mister-Schweiz«-Veranstalter Urs Brülisauer wird mit der Frage zitiert: »Was bedeutet es für uns als Veranstalter, was für die Schweiz […], wenn wir einen Schwarzen nominieren? Was wird
29 | Vgl. Mudimbe, The Invention of Africa, S. 4. 30 | Ebd. 31 | Blick vom 14.07.2004, S. 4. 32 | SonntagsBlick vom 01.08.2004, S. 14. 33 | Blick vom 15.07.2004, S. 6.
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passieren?«34 Die Veranstalter weisen bei dem nicht weißen männlichen Kandidaten selbst darauf hin, welche Rolle die Hautfarbe in ihren Überlegungen in Bezug auf Vermarktungsstrategien spielt: »Wir konnten mit der Nominierung Juniors die Offenheit unserer Organisation bekunden, ferner hat das rege Interesse in den Medien an Junior uns sicher auch dazu verholfen, dass das Schweizer Fernsehen am Abend der Wahl eine so hohe Einschaltquote verzeichnen konnte.«35 Demütigenden Erfahrungen – zum Beispiel wurde Junior Manizao bei einem Auftritt zusammen mit den anderen »Mister-Schweiz«-Finalisten in einem Sportzentrum von einem Teil des Publikums mit wüstem Gezeter empfangen, das an Affengeschrei erinnern sollte – hat der männliche Kandidat mit Stolz auf seine Herkunft und Identität zu begegnen. In der über ihn erschienenen Biographie Ein Mann weint nicht, sagt Manizao: »Obwohl mir die Schweiz viel näher ist als der Kongo, ist Afrika ein Teil von mir. Genauso wie die Farbe meiner Haut. Ich bin ein Immigrantenkind und stolz auf meine Herkunft. Ich werde versuchen, meinen Kindern, wenn ich denn mal welche haben sollte, diesen Stolz weiterzugeben. Sie sollen sich definieren können, und dazu gehört, dass sie wissen, wer ihre Grosseltern waren und woher diese gekommen sind.« 36
Im Vergleich zu der nicht weißen »Miss-Schweiz«-Kandidatin Jeannette Bally wird Manizao in den Medien meist als aktiv handelndes Subjekt dargestellt. Er muss es nicht durch die »Mister-Schweiz-Wahl« »nach oben schaffen«, er hat es bereits vorher geschafft: Er wuchs nach dem Tod seiner leiblichen Eltern bei einem schweizerischen Ärzteehepaar auf, studierte und ist Primarlehrer. In der medialen Repräsentation verkörpert Manizao den idealen Dreiklang zwischen Körper, Geist und Seele. Der Körper ist perfekt, so dass dieser keines Kommentars bedarf. Der Veranstalter Urs Brülisauer wird in der Biographie über Junior Manizao mit den Worten zitiert: »Der Hauptgrund […], warum es perfekt war, ihn zum Casting einzuladen und dann unter die sechzehn Finalisten zu wählen, war der, dass er ein toller Typ ist. Junior hat Charme, Witz, Intelligenz, eine hohe Sozialkompetenz, eine gute Ausstrahlung – es wäre eine Frechheit gewesen, ihn seiner Hautfarbe wegen nicht zu nominieren.« 37
Die Hautfarbe wird zu einem (»fehlerhaften«) Detail, über das man bei all den anderen Vorzügen hinwegsehen kann beziehungsweise das ein besonderes Alleinstellungsmerkmal darstellt, gleich einer Zahnlücke oder einem auffallenden Muttermal. Ansonsten verkörpert Junior Manizao genügend – im schweizerischen 34 | Baumann-von Arx, Ein Mann weint nicht, S. 27. 35 | Ebd., S. 28. 36 | Ebd., S. 26. 37 | Ebd., S. 28f.
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Kontext – wohlgelittene Eigenschaften: Sein Tattoo mit der Aufschrift »Carpe Diem« fällt kaum auf, weil es sich nur wenig von seiner dunklen Hautfarbe absetzt38, er ist ein guter Verlierer, er gratulierte dem späteren »Mister-Schweiz«-Gewinner »als Erster, herzlich und mit ehrlicher Freude«39 . Rassismus begegnet er nicht mit Aggression und Gewalt, sondern mit Rappen und dem Schreiben von Gedichten. Selbstverständlich ist es nicht der obszöne, politisch unkorrekte Gangsterrap. Junior Manizao stellt klar: »Der Rap kommt zwar aus den Ghettos der amerikanischen Grossstädte, für mich gehört er aber längst nicht mehr zwingend nur zu den Menschen, die nichts zu verlieren haben. Warum soll nicht auch einer, dem es blendend geht, erzählen, was er fühlt? […] Ein Rapper ist ein Journalist der Strasse. Rap ist Kultur. Rap ist Rhythmus. Und Rap ist Poesie. Der Inhalt der Verse ist das Spiegelbild der Gesellschaft. Um zu rappen, muss ich nicht in XXL-Hosen herumlaufen. Meine Texte verherrlichen die Gewalt nicht.« 40
Bei allem hat er das richtige Maß an Zurückhaltung. »Wenn Junior lacht, dann ist es, als löse sich die Melancholie, die ihn manchmal umgibt, in nichts auf. Dann ist in seinen tiefschwarzen Augen ein Leuchten, das von ganz tief innen kommt.«41 Im Vergleich zu den nicht weißen »Miss-Schweiz«-Kandidatinnen wird bei dem männlichen Bewerber Junior Manizao trotz aller medial vermittelten positiven Zuschreibungen gleichzeitig die Unwahrscheinlichkeit seiner Wahl besonders herausgestrichen: »Wer hätte gedacht, dass es in der Schweiz möglich wäre, einen schwarzen Mann bis ins grosse Finale der ›Mister-Schweiz‹-Wahl zu bringen? Nicht viele. Am allerwenigsten Junior selbst.«42 Mit den nicht weißen »Miss-Schweiz«-Kandidatinnen und »Mister-Schweiz«Kandidaten kommt eine diskursive Ordnung zum Ausdruck. Diese proklamiert sowohl Ähnlichkeiten wie auch Differenzen als Werte und macht Jeannette Bally und Junior Manziao gleichzeitig durch die Art ihrer medialen Inszenierung, die immer wieder deren Ausnahmestellung durch ihr »schweres« Schicksal und ihren »Stolz«, nun in der Schweiz zu sein, betont, zu »blackened whites«43: »It’s […] a celebration and a reminder of the natural link connecting human beings and, at the same time, an indication of racial or cultural differences. [This meant] the same origin for all human beings, followed by geographical diffusion and racial and cultural diversification.«44
38 | Vgl. ebd., S. 105. 39 | Ebd., S. 111. 40 | Ebd., S. 160-162. 41 | Ebd., S. 100. 42 | Ebd., S. 35. 43 | Mudimbe, The Invention of Africa, S. 8. 44 | Ebd., S. 7-9.
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Abbildungen 3 und 4: Bekenntnisse zur »Swissness« und Krönung eines »blonden Sonnenscheins«
»S CHWARZ« MACHT » WEISS « Auch das gegensätzliche Äußere der verschiedenen »Miss-Schweiz«-Kandidatinnen wurde in zahlreichen Abbildungen herausgestellt. Auf dem abschließenden Foto des Wettbewerbs, das in verschiedenen Printmedien publiziert wurde, begegnen sich alle Kandidatinnen – Siegerin und Verliererinnen – ein letztes Mal (Abb. 4). Die strahlende Gewinnerin – die einzige blauäugige Blondine unter den Kandidatinnen – sitzt mit Schärpe und Krone auf einem goldenen Thron, eingerahmt von ihren Mitstreiterinnen. Und die, wenn nicht dunkelhäutigen, so doch fast allesamt dunkelhaarigen Konkurrentinnen lassen die Siegerin in der Mitte umso hellhäutiger und blonder erstrahlen. »Weiß« ist die alles bestimmende Kategorie in der Repräsentation, die jedoch immer dann besonders bestimm- und fassbar wird, wenn sie im Kontrast zu etwas »nicht Weißem« auftritt: »Für sich allein genommen scheint die Repräsentation von Weiß immer auf etwas Spezifisches zu verweisen.«45 Jana Husmann-Kastein sieht dies darin begründet, dass mit dem Beginn des »wissenschaftlichen Rassismus« im 17. Jahrhundert in Europa die Begriffe schwarz und weiß nicht mehr in erster Linie Assoziationen mit Farben darstellten, sondern als soziale Kategorien in ein System hierarchischer, kultureller Konstrukte überführt wurden, in dem sich Machtkonstellationen zwischen Kolonialherren und -herrinnen und Kolonisierten ausprägten und legitimierten.46 »Weißsein wird säkulare Dominanzkategorie. […] Das Weißwerden des Europäers, das mit diesen soziopolitischen Prozessen verbunden ist und Weißsein in eine 45 | Warth, »Inszenierung von Unsichtbarkeit«, S. 127. 46 | Vgl. Husmann-Kastein, »Schwarz-Weiß«, S. 51.
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asymmetrisch organisierte soziale Struktur übersetzt, sie als solche sprachlich sichtbar macht und sie zugleich diskursiv etabliert, wird visualisiert.«47 »Begegnungsbilder«48 nennt der Kulturwissenschaftler Michael Diers diese Art visueller Inszenierungsschemata und Farbspielereien. Er erkennt in dieser Bildgattung das ikonographische, »postkoloniale Erbe« sogenannter »Begegnungsbilder zwischen Eingeborenen und Eroberern«49 , die durch Adaptionen wie dem Krönungsfoto der »Miss Schweiz« ihre postmoderne Fortführung erfahren.50 Tradierte, exotisierende Bildelemente treffen auf gegenwärtige Neuinterpretationen: »Massenhaft kann sich die auf die Exotismus-Tradition abgestellte Bildwelt öffentlich entfalten […]. Man setzt auf die Verfremdung, auf den Farb-, sprich Hautkontrast, den man als Blickfang inszeniert. […] Man spekuliert mit der Kuriosität, Originalität, Attraktivität und Symbolkraft exotischer Zeichen und Farben. Und die Hautfarbe fungiert […] als zentrales Distinktionsmedium.« 51
Diese Bildelemente produzieren die Blickregimes auf »das Andere«. Das durch Inszenierung »fremd« Gemachte stiftet wiederum gesellschaftliche Zusammenhänge und übt eine wichtige Steuerungsfunktion aus. Diese Bildelemente sind Sinnbild und Beleg für einen nicht abgeschlossenen Kolonialismusdiskurs, indem sie das interpretatorische Grundrepertoire darstellen: »The African has become not only the Other who is everyone else except me, but rather the key which, in its abnormal differences, specifies the identity of the Same.«52 Auf der einen Seite ist das »Nichtweißsein« in den Medien ein wichtiger Vermarktungswert. Das belegt das Beispiel der »Miss-Schweiz-Wahl«, das belegen aber auch die zahlreichen Werbeplakate, TV-Spots oder Fernsehserien, die kulturelle Differenz beziehungsweise Vielfalt als Aushängeschild gebrauchen. So entsteht der Eindruck, das Hybride werde grundsätzlich als bereichernd empfunden und zur Ideologie erhoben (»Lob des Hybriden«53). Für Mark Terkessidis hat »das Fremde« aus der Perspektive des Zentrums jedoch lediglich eine Unterhaltungsqualität. Dessen Repräsentation ist meist auf eine »Klischee-Fremdheit« für den Massenkonsum innerhalb einer »Differenzkonsummaschine« reduziert, die nicht frei von rassistischen Exotismen ist.54 Auf der anderen Seite bleibt das »Weißsein« eine nicht hinterfragte »Normalismus-Instanz«55: Der »weiße Blick« 47 | Ebd. 48 | Diers, Schlagbilder, S. 163. 49 | Ebd. 50 | Vgl. ebd., S. 163f. 51 | Ebd., S. 164. 52 | Mudimbe, The Invention of Africa, S. 12. 53 | Reuter/Villa, Postkoloniale Soziologie, S. 30. 54 | Vgl. Terkessidis, »Globale Kultur in Deutschland«, S. 313-316. 55 | Zum Begriff Normalismus vgl. Link, Versuch über den Normalismus.
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ist die bestimmende Perspektive, die Ausgangskategorie, von der aus nicht nur darüber entschieden wird, was als Norm und was als Abweichung gilt, sondern auch darüber, wie groß die Abweichung einzuschätzen und wie akzeptabel diese ist. »Das Enigmatische der weißen Identität [liegt] in ihrer Normalität. Ausgestattet mit der Definitionsgewalt über das, was als Norm, als normal zu gelten hat, scheint sie sich ebenso zu verflüchtigen wie das Subjekt hinter dem technischen Sehinstrument.«56 Die in den medialen Diskursen häufig immanente Furcht vor Abweichungen bestätigen die durchaus erleichterten Reaktionen auf die »reinschweizerische« Gewinnerin der »Miss-Wahl« im Jahr 2004. Trotz der »zehn Kandidatinnen mit ausländischen Wurzeln« gewann »ein blonder Sonnenschein«57. Mit Ausrufezeichen kommentierte der SonntagsBlick die Wahl: »Es ist eine Blondine!«58 Und viele Leserinnen und Leser bekundeten in Briefen, sie seien froh, »dass endlich wieder eine Blondine zur Miss Schweiz gewählt wurde«59 . Ähnlich fielen die Reaktionen auf die Wahl des »Mister Schweiz« 2010 aus: »Schön, dass es ein echter Schweizer ist und nicht nur ein Papier-Schweizer«60 und »Bravo, ein Urschweizer«61 . Die Wahlen 2008 gewann dann aber doch einmal »ein globaler Hingucker«: Whitney Toyloy, eine »Waadtländerin mit Multikulti-Background«62 (siehe Abb. 5). Der Hintergrund befindet sich allerdings nicht wie bei Jeannette Bally in Afrika, sondern in China, Panama und in den USA. Whitney Toyloy machte auch 2009 Schlagzeilen, da ihr bei den »Miss-Universe-Wahlen« eine Platzierung unter den Top Ten gelang. Sie blieb allerdings eine Ausnahme, wie der mit »Königinnen unter sich« betitelte Foto-Text-Artikel beweist (siehe Abb. 6).63 Die schweizerischen Schönheitsköniginnen aus den Jahren 2006, 2009 und 2010 sind allesamt hellhäutige Blondinen.
O SZILL ATION Z WISCHEN F REMDHEIT UND V ERTR AUTHEIT Die Schwarz-weiß-Opposition ist ein konstitutiver Marker. Trotz Zunahme des »Nichtweißen«, des »Schwarzen« und des Hybriden, in den medialen Darstellungen bleibt es insbesondere in den Visualisierungen das Markierte. »Das Weiße« hingegen ist das Unsichtbare, aber auch das Allumfassende und Dominante:
56 | Heidenreich, »›Deutsche‹ (Un-)Sichtbarkeiten«, S. 308. 57 | SonntagsBlick vom 26.09.2004, S. 39. 58 | SonntagsBlick vom 19. 09.2004, S. 10. 59 | SonntagsBlick vom 26. 09.2004, S. 39. 60 | Blick vom 10.05.2010, S. 16. 61 | Ebd. 62 | Schweizer Illustrierte, 21. September 2009, S. 26. 63 | Vgl. ebd.
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Abbildungen 5 und 6: »Waadtländerin mit Multikulti-Background« und »Königinnen unter sich«
»Schwarz ist […] das Bestimmbare […], dagegen ist Weiß kaum zu fassen, es scheint auf keine spezifische Identität, auf keine klar bestimmbaren Qualitäten zu verweisen. Es ist scheinbar keine Farbe und doch alle Farben in einem, eine Leerstelle und doch universell, alles und nichts zugleich. Gerade darin liegt wohl die Ursache seiner Macht.« 64
Die Medien sind beliebter Darstellungs- und Verbreitungsort für vermeintlich selbstverständliche, faktisch aber asymmetrische Begriffspaare wie schwarz–weiß, Nord–Süd, eigen–fremd, modern–traditionell, Okzident–Orient usw. und deren alltäglichen Gebrauch. Postkoloniale Ansätze besagen aber, dass keine dieser Kategorien selbstevident, keine zwingend ist.65 Sie gehen davon aus, dass sie über die Dekonstruktion von Essentialismen einen kritischen und erkenntnisreichen Kontrapunkt zu den dominierenden Modernitätskonzepten setzen können, indem sie die grundlegende Verknüpfung von Dichotomien wie schwarz–weiß, eigen–fremd usw. mit Machtverhältnissen offenlegen und kritisieren.66 64 | Warth, »Inszenierung von Unsichtbarkeit«, S. 126. 65 | Vgl. Reuter/Villa, Postkoloniale Soziologie, S. 16. 66 | Vgl. ebd.: »Unter Dekonstruktion wird dabei sowohl ein Verfahren wie auch eine Perspektive verstanden – eine in den Worten Derridas ›Lektürestrategie‹ für soziale Texte oder auch ›Skripte‹ jedweder Art –, die die immanente Kontextualität und die (machtgetränkte) Herstellung von sichtbaren ›objektiven‹ Bedeutungen aufzeigt. Bedeutungskonstitution in dekonstruktivistischer Perspektive ergibt sich insbesondere durch die Spuren dessen, was unsichtbar gemacht und ausgeschlossen wird, und durch die ›differance‹ (Derrida), das heißt der unvermeidlichen und prinzipiell unabschließbaren inter- und innertextuellen Verschiebung von Sinn.«
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Die Medien versuchen mittlerweile oft, Probleme bei der Darstellung »des Anderen« durch ein Oszillieren zwischen Fremdheit und Vertrautheit zu lösen. Frauen etwa werden nicht mehr einfach in stigmatisierender Art und Weise als »die Orientalin«, »die Schwarze« oder »die Jüdin« dargestellt. Stattdessen bemühen sich viele von ihnen durchaus immer wieder um Strategien der Repräsentation, wie sie auch oft von Seiten der Wissenschaft vorgeschlagen werden: »Das Andere sich weder ›mit aller Gewalt‹ fremd, noch ›mit aller Gewalt‹ sich gleich machen, darin liegt auch der Respekt vor der Anderen, die nur dann ihr ›Geheimnis des Anderssein‹ lüftet, wenn sie ihre Sicht darstellt. Denn die tatsächlichen Differenzen werden nicht in Zuschreibungen, sondern erst im Perspektivenwechsel, in der Kommunikation, sichtbar.« 67
Beispiel für diese neue mediale Strategie ist ein Foto-Text-Artikel aus dem TagesAnzeiger-Magazin 2004 (siehe Abb. 7). Abbildung 7: »Gläubige Muslimin, trägt kein Kopftuch und nimmt auch kein Blatt vor den Mund«
67 | Rommelspacher, »Fremd- und Selbstbilder in der Dominanzkultur«, S. 39.
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Er erschien in der Reihe Ein Tag im Leben, in der Menschen mit ungewöhnlicher Biographie oder ungewöhnlichen Berufen – meist Migrantinnen und Migranten – einen Tag aus ihrem Leben schildern. »Gläubige Muslimin, trägt kein Kopftuch und nimmt auch kein Blatt vor den Mund«68, so wird die porträtierte Esra Seyran im Magazin beschrieben. Die in der Schweiz geborene junge Frau beschreibt die unterschiedlichen Lebenswelten, in denen sie sich als Tochter streng religiöser »Gastarbeiter«69 aus der Türkei und gläubige Muslimin, die aber kein Kopftuch trägt und studiert, bewegt: »Ich akzeptiere den Inhalt des heiligen Korans als Fundament meines Glaubens, bin aber nicht bereit, alle Passagen blindlings zu übernehmen. Meiner Meinung nach darf der Koran nicht wörtlich interpretiert, er muss der zeitgenössischen Vernunft unterstellt werden. So lässt sich der Islam ohne Weiteres mit dem säkularen Europa vereinbaren. Jedenfalls fühle ich mich trotz meines Glaubens bestens in die demokratische Gesellschaft integriert.«70
Trotz der Betonung ihrer Gläubigkeit entspricht die Darstellung Esra Seyrans weder textuell noch visuell dem in den Medien oft verbreiteten Bild der »KopftuchTürkinnen«, von denen sie sich selbst bewusst distanziert: »Dabei frage ich mich ernsthaft, ob Kopftuch tragende Frauen den Koran tatsächlich gelesen haben. Es steht nämlich nirgends, dass die Haare versteckt werden müssen.«71 Gleichzeitig betont sie aber, dass sie innerhalb von muslimischen Gemeinschaften durchaus auch auf Ablehnung stößt, weil sie kein Kopftuch trägt: »Als ich mich noch vermehrt unter orthodoxen Muslimen bewegt habe, wurde ich gedrängt, endlich einen Hijab zu tragen. Ich musste mir anhören, dass ich längst verheiratet wäre, würde ich mich doch endlich verschleiern.«72 Auf dem das Porträt begleitenden Bild ist Esra Seyran in einem dunklen Mantel auf einer Mauer an einem Fluss liegend zu sehen (siehe Abb. 7). Mit dem Körper ist sie dem Wasser zugewandt, ihre Hände hält sie, als würde sie darin lesen, in kurzer Distanz zu ihrem Gesicht. Der Bildbetrachter kann es als angedeutete Gebetshaltung interpretieren, die muslimische Gläubige einnehmen, wenn sie in den Suren lesen. Es ist aber auch möglich, dass die junge Frau mit ihren Händen Wasser aus dem Fluss geschöpft hat und zusieht, wie es zwischen ihren Fingern zerrinnt. Die Leserinnen und Leser können das Bild zusammen mit dem Text religiös konnotieren oder auch nicht. Durch die visuelle und textuelle Darstellung wird das »Dazwischensein« Esra Seyrans, ihre Existenz als Wandlerin zwischen verschiedenen, nicht mehr eindeutig voneinander abgrenzbaren Lebenswelten herausgestrichen. 68 | Tagsanzeiger-Magazin vom 29.05.2004, S. 54. 69 | Ebd. 70 | Ebd. 71 | Ebd. 72 | Ebd.
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Das Porträt Esra Seyrans ist ein Beispiel dafür, wie westliche Vorstellungen von einer »befreiten Muslimin«, die kein Kopftuch trägt, mit einem religiösen Selbstverständnis verbunden werden. Über Bild und Text werden diskursive Muster aufgebrochen, indem implizite Vorstellungen über soziale Kategorien – Rasse, Ethnie, Gender, Religion, Schicht – und deren Verknüpfungen hinterfragt werden. Andererseits kann das Porträt über Esra Seyran auch als Versuch interpretiert werden, ein liberales Frauenmodell nach westlichem Maßstab mit einem »integrationsfähigen« religiösen Subjekt (die gläubige, kein Kopftuch tragende Studentin mit säkularem Religionsverständnis) zusammenzudenken.73 Der Foto-Text-Artikel zielt auf die kulturelle Bedingtheit des »Andersseins« und die möglichen Gemeinsamkeiten von Erfahrungen ab.74 In Bild und Text werden kulturelle Vielfalt und Differenz betont und gleichzeitig in Frage gestellt und problematisiert. Das verleitet aber wiederum dazu, sämtliche Differenzen und Ungleichheiten als kulturelle Konstruktionen zu beschreiben und dadurch »Kultur« selbst zu ontologisieren.75 Das »doing difference«76 verlangt immer auch ein Hinterfragen der Natürlichkeitsvorstellungen, die damit einhergehen beziehungsweise reproduziert werden.
D IE A PORIE DER K ATEGORIE R ASSE Nicht mehr »das Weiße« dominiert in den medialen Darstellungen visuell. Vielmehr gibt es eine insbesondere in den Medien lange bestehende Faszination für »das Nichtweiße«, »das Exotische«, »das Andere«. Diese grundlegende Affinität für »Andersheit« erklärt sich aus den Funktionsweisen unserer symbolischen Bedeutungs- und Ordnungssysteme. Differenz ist essentiell, weil wir nur so Dingen Bedeutungen zuschreiben können. Stuart Hall betont, dass wir wissen, was schwarz bedeutet, nicht weil es eine Essenz des Schwarzseins gebe, sondern weil wir es mit seinem Gegenteil kontrastieren können.77 Gleichzeitig weist er aber daraufhin, dass es notwendig ist, Bipolaritäten ständig zu hinterfragen: »Bedeutung hängt […] von der Differenz zwischen Gegensätzen ab. Binäre Gegensätze – weiß/schwarz, Tag/Nacht, männlich/weiblich, britisch/ausländisch – sind jedoch trotz ihrer Nützlichkeit, die Vielfalt der Welt in ihren Entweder/Oder-Extremen zu fassen, ziemlich rohe und reduktionistische Mittel, um Bedeutung herzustellen. Zum Beispiel gibt es in der
73 | Für Hinweise in diesem Zusammenhang danke ich Patricia Purtschert und Francesca Falk. 74 | Vgl. Rommelspacher, »Fremd- und Selbstbilder in der Dominanzkultur«, S. 39. 75 | Vgl. Reuter/Villa, Postkoloniale Soziologie, S. 31. 76 | Fenstermaker/West, »Doing Difference«. 77 | Vgl. Hall, »Spektakel des ›Anderen‹«, S. 117.
»K OMMT DIE NÄCHSTE M ISS S CHWEIZ AUS DEM K ONGO ?« P OSTKOLONIALE B LICKREGIMES IN DEN M EDIEN so genannten Schwarzweiß-Fotografie tatsächlich kein reines Schwarz oder Weiß, sondern nur variierende Schattierungen von Grau.«78
Binäre Strukturen sind aber nicht einfach nur vereinfachende Strukturen, die Variationen und Unterschiede unkenntlich machen können. Binäre Gegensätze sind auch nicht neutral, sondern ein Gegensatzpaar wird immer von einem Bestandteil dominiert: »Es besteht immer eine Machtbeziehung zwischen den Polen binärer Oppositionen.«79 Die medialen Visualisierungsstrategien in Bezug auf »das Fremde« sind durch ein Paradoxon geprägt. Es gibt eine zunehmende Auseinandersetzung mit einer nicht ausschließlich »weißen« Schweiz. Die Diskussionen um die Teilnehmerinnen an den »Miss-Schweiz-Wahlen« der letzten Jahre sind ein Beispiel dafür. Der mediale (Bild-)Diskurs um die »Miss Schweiz« zeichnet zum einen die Vorstellung einer zunehmend »kreolisierten Schweiz« – eine Imagination, in der gerade der wissenschaftlich und politisch diskreditierte Rassebegriff zunächst einmal keinen Platz und keinen Sinn zu haben scheint.80 In der Art der Darstellung der Akteurinnen rund um die »Miss Schweiz-Wahlen« soll Differenz aufgehoben werden, gleichzeitig wird sie aber betont. Das liegt nicht nur daran, dass es Systemen des Wettbewerbs immanent ist, auf eine Form der Differenz zurückgreifen zu können, um ein Auszeichnungsmerkmal und damit ein Gewinnkriterium zu erhalten. Im Fall der »Miss-Schweiz-Wahlen« trägt zur Hervorhebung der Differenz insbesondere der starke physiognomische Untergrund in der Art der Darstellungen bei. Der Körper wird in seiner symbolischen Bedeutung aufgebläht. Das gilt insbesondere für den nicht weißen, weiblichen Körper. Die Farb- und Geschlechtssymboliken im europäischen Kontext sind von mythologischen und religiösen Traditionen eines dualistischen Denkens überlagert, die bis heute in grundlegenden symbolischen Zuordnungsschemata fortwirken können: »Die Farbe Weiß als Symbol des Lichts ist in der abendländischen Tradition mit Geist und Männlichkeit assoziiert und findet ihren asymmetrisch gesetzten Gegenpol in der durch die Farbe Schwarz und durch Weiblichkeit symbolisierten irdischen Materie. […] Der göttlich rationalen Natur steht das Bild der dunklen weiblichen Natur gegenüber. Die Symbolik kommt innerhalb Europas im sexualisierten Bild der Kurtisane wie auch im christlichen Bild der schwarzen Hexe zum Ausdruck. […] Im aufkommenden Konstrukt vom ›Negriten‹ […] ist zugleich das moderne Bild vom Barbaren angelegt, die Vorstellung von mangelnder Kultur und die Verortung im oder in der Nähe vom Tierreich. Die Schwarze Frau verkörpert diese Schnittstelle in den Thesen zur Mensch-Tier-Vermischung. Sie wird […] zum säkularen Sinnbild der ›dunklen‹ Natur.« 81 78 | Ebd. 79 | Ebd., S. 118. 80 | Vgl. dazu auch Jaeggi, »Migration im Bild«, S. 12f. 81 | Husmann-Kastein, »Schwarz-Weiß«, S. 46-49.
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Das Feiern der Vielfalt bei gleichzeitiger Reduktion der Kandidatinnen in erster Linie auf ihre körperlichen Merkmale lässt auch die Frage nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit wieder präsent werden. Und die birgt gerade im Kontext der europäischen Geschichte immer die Gefahr des biologistischen Denkens und damit die Reaktivierung des Rassekonzepts. Die Aporie der Kategorie Rasse besteht in dem unauflösbaren Paradoxon, das dieses Konzept auszeichnet: »›Rasse‹ wird erst durch den Prozess der Rassekonstruktion zur Kategorie der Differenz, wobei schwarze Hautfarbe ihr ›offensichtlichster‹ visueller Marker ist. Schwarz-Sein – also ›Rasse‹ – wird im und durch die weißen, die einzig wahren Blicke […], konstituiert. Der weiße Blick ist derjenige, der sieht, ohne selbst gesehen zu werden. Weiß-Sein dissimuliert sich aus den Bezügen von Rasse: es ist die unmarkierte Instanz, die wahre Unsichtbarkeit.« 82
Da das Weiß-Sein unmarkiert bleibt, wird es als Norm und Normalität aus der Herrschaftssituation heraus beständig neu in seiner Dominanz reproduziert: »Denn hätte Weiß-Sein tatsächlich keine Bedeutung, wäre die Kategorie Rasse überflüssig. Schwarz-Sein wäre ebenfalls unmarkiert. Weiß-Sein ist also nicht etwas, das völlig neu thematisiert werden muss. Es ist präsent, gerade dann, wenn es nicht markiert ist. Weiße müssen also nicht über sich als Weiße sprechen. Es genügt, wenn sie das Schwarz-Sein thematisieren, weil im Subtext ihr Selbstbild mit dargestellt wird.« 83
Die Reaktivierung der Kategorie Rasse bleibt aber oft verdeckt, da gleichzeitig eine Relativierung der Kategorie stattfindet: Die Medien etwa knüpfen an Konzepte des diversity management an, eine Methode, mit der »Humanressourcen« optimal genutzt werden sollen. Sie agieren als diversity manager, indem sie die Verschiedenheit von Menschen zur Optimierung von Werbekonzepten, Imagekampagnen oder Verkaufsstrategien benutzen (zum Beispiel »United Colours of Benetton« oder »Come together and learn to live as friends«).84 Das Feiern der Vielfalt und des Hybriden täuscht aber lediglich darüber hinweg, dass es sich um das Markieren kultureller Differenzen handelt, die schnell in rassistische Prozesse übergehen können, da gerade der Körper ein wichtiger Bezugspunkt bleibt. Der Körper ist ein »Kreuzungspunkt von Macht«85: »Er steht nicht nur im Mittelpunkt von Vergeschlechtlichungsprozessen, sondern dient als Symbol, als Anlass, Differenzierungen vorzunehmen und Hierarchien zu entwerfen. Analog 82 | Heidenreich, »›Deutsche‹ (Un-)Sichtbarkeiten«, S. 307. 83 | Lorey, »Der weiße Körper als feministischer Fetisch«, S. 74. 84 | Vgl. dazu Walgenbach et al., Gender als interdependente Kategorie, S. 8 und 12. Diese Versionen des diversity managements sind wettbewerbsorientiert. Fragen der Gerechtigkeit und Chancengleichheit werden innerhalb dieser Ansätze nicht mehr gestellt. 85 | Reuter/Villa, Postkoloniale Soziologie, S. 315.
»K OMMT DIE NÄCHSTE M ISS S CHWEIZ AUS DEM K ONGO ?« P OSTKOLONIALE B LICKREGIMES IN DEN M EDIEN zur […] Produktion von Geschlecht wird auch die ›Rasse‹ über das Medium des Körpers konstruiert – und schreibt sich im Gegenzug in den Körper ein. Rassismus macht den Körper vom Subjekt zum Objekt seiner Machtmechanismen.« 86
In diesem Sinne argumentiert auch Michel Foucault. Eine Objektivierung des Subjekts kommt seiner Ansicht nach durch Praktiken der Unterscheidung und Teilung zustande. Ein Subjekt in sich zu teilen und von Anderem zu trennen, so wie dies bei rassistischen Prozessen geschieht, macht es zum Objekt.87 Bei den medialen Darstellungen der »Miss-Schweiz«-Kandidatinnen ist sowohl die »Ethnizität« und deren Zusammensetzung als auch das Geschlecht immer relevant. Ethnisierungs- und Genderisierungsprozesse sind miteinander verbunden und beeinflussen sich wechselseitig. In den Medien werden durch die Art der Präsentation der Kandidatinnen hegemoniale Blickregime hergestellt: Die Frauen werden durch ihre weißen oder nicht weißen Körper positioniert. Die nicht weißen »MissSchweiz«-Kandidatinnen bleiben zurückgeworfen auf einen Körper, der »anders« ist als der eine, große imaginierte »Volkskörper«, dem sie nicht komplett oder nur mit Abstrichen (»Afro-Miss«) zugerechnet werden können. In dieser durch die Medien vermittelten Vorstellung können diese »Körper« deshalb auch nie vollständig in die imaginierte »nationale Gemeinschaft« inkorporiert werden.88 Zumindest so lange nicht, wie sich diese medial vermittelten Imaginationen nicht ändern.
L ITER ATURVERZEICHNIS Baumann-von Arx, Gabriella, Ein Mann weint nicht. Die Geschichte des Junior B. Manizao, Gockhausen 2006. Cardu, Tiberio (Hg.), Migration im Bild. Ein Inventar, Baden 2006. Crenshaw, Kimberlé, »Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrince, Feminist Theory, and Antiracist Politics«, in: Phillips, Anne (Hg.), Feminism and Politics, Oxford/New York 1998, S. 314-343. Diers, Michael, Schlagbilder. Zur Ikonographie der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1997. Fenstermaker, Sarah/West, Candace, »Doing Difference«, in: Gender and Society, Jg. 9, H. 1 (1995), S. 8-37. Foucault, Michel, Analytik der Macht, hg. von Daniel Defert/Ewald, Francois, Frankfurt a.M. 2005. Friedrich, Annegret/Haehnel, Birgit/Threuter, Christina (Hg.), Projektionen. Rassismus und Sexismus in der Visuellen Kultur, Marburg 1997.
86 | Ebd. 87 | Vgl. Foucault, Analytik der Macht, S. 270. 88 | Vgl. Reuter/Villa, Postkoloniale Soziologie, S. 315.
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Hall, Stuart, »Das Spektakel des ›Anderen‹«, in: Ders.: Ideologie, Identität, Repräsentation, Hamburg 2004, S. 108-166. Heidenreich, Nanna, »›Deutsche‹ (Un-)Sichtbarkeiten«, in: Lezzi, Eva/Ehlers, Monika in Zusammenarbeit mit Sandra Schramm (Hg.), Fremdes Begehren. Transkulturelle Beziehungen in Literatur, Kunst und Medien, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 307-319. Husmann-Kastein, Jana, »Schwarz-weiß. Farb- und Geschlechtssymbolik in den Anfängen der Rassenkonstruktionen«, in: Tissberger, Martina/Dietze, Gabriele/Hrzan, Daniela/Husmann-Kastein, Jana, (Hg.), Weiß – Weißsein – Whiteness, S. 43-60. Jaeggi, Martin, »Migration im Bild – Menschen und Räume«, in: Cardu, Tiberio (Hg.), Migration im Bild. Ein Inventar, Baden 2006, S. 12-16. Kemper, Andreas/Weinbach, Heike, Klassismus. Eine Einführung, Münster 2009. Link, Jürgen, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen/Wiesbaden 1999. Lorey, Isabell, »Der weiße Körper als feministischer Fetisch. Konsequenzen aus der Ausblendung des deutschen Kolonialismus«, in: Tissberger, Martina/Dietze, Gabriele/Hrzan, Daniela/Husmann-Kastein, Jana (Hg.), Weiß – Weißsein – Whiteness, S. 61-83. Mudimbe, Valentin Y., The Invention of Africa. Gnosis, Philosophy, and the Order of Knowledge, Bloomington 1988. Purtschert, Patricia/Meyer, Katrin, »Die Macht der Kategorien. Kritische Überlegungen zur Intersektionalität«, in: Feministische Studien, Jg. 28, H. 1 (2010), S. 130-142. Reuter, Julia/Villa, Paula-Irene (Hg.), Postkoloniale Soziologie. Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Intervention (Postcolonial studies, Bd. 2), Bielefeld 2010. Rommelspacher, Birgit, »Fremd- und Selbstbilder in der Dominanzkultur«, in: Friedrich, Annegret/Haehnel, Birgit/Threuter, Christina (Hg.), Projektionen, S. 31-40. Spelman, Elizabeth V., Inessential Woman. Problems of Exclusion in Feminist Thought, Boston 1988. Terkessidis, Mark, »Globale Kultur in Deutschland: Der lange Abschied von der Fremdheit«, in: Hepp, Andreas/Winter, Rainer (Hg.), Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse, Wiesbaden 32006, S. 311-325. Tissberger, Martina/Dietze, Gabriele/Hrzan, Daniela/Husmann-Kastein, Jana (Hg.), Weiß – Weißsein – Whiteness. Kritische Studien zu Gender und Rassismus, Frankfurt a.M. u.a. 2006. Walgenbach, Katharina/Dietze, Gabriele/Hornscheidt, Antje/Palm, Kerstin (Hg.), Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen 2007.
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A BBILDUNGSNACHWEISE Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7
»Kommt die nächste Miss Schweiz aus dem Kongo?«, in: Blick vom 14.07.2004, Titelseite »Wie schweizerisch muss die neue Miss sein?«, in: Blick vom 14.07.2004, S. 6 »Jeannette Bally, unsere ›Afro-Miss‹«, in: Blick vom 15.07.2004, S. 6 »Eine Zürcherin ist die Schönste«, in: Tages-Anzeiger vom 20.09.2004, S. 11 »Miss Schweiz 2008«, in: Schweizer Illustrierte vom 21.09.2009, S. 26 »Königinnen unter sich«, in: Schweizer Illustrierte vom 11.10.2010, S. 9 »Ein Tag im Leben von«, in: Tages-Anzeiger-Magazin vom 29.05.2004, S. 54
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»De Schorsch Gaggo reist uf Afrika« Postkoloniale Konstellationen und diskursive Verschiebungen in Schweizer Kindergeschichten 1 Patricia Purtschert 11. Januar 2010: In der Talksendung Focus auf dem Schweizer Radiosender DRS 3 ist der 75-jährige Schweizer Schauspieler Jörg Schneider zu Gast. Die Rede ist von seinen beliebten Kasperlihörspielen, als der Moderator Dominic Dillier das Thema Rassismus aufgreift. Es lohnt sich, dem Gespräch der beiden Männer an dieser Stelle kurz zuzuhören: »In den neunziger Jahren, in der Hochblüte der Political Correctness, gingen bei der Plattenfirma immer mehr Beanstandungen von empörten Müttern ein: Der Kasperli und seine Freunde würden rassistische Sätze absondern«, eröffnet Dillier das Thema. Er übertreibe ein wenig, wendet Schneider ein: »Es ist nicht so, dass massenhaft Reklamationen eingetroffen sind, aber immer einmal wieder kamen Beanstandungen: Gaggo-Neger, das darfst du einfach nicht sagen. Sonst kommt dann noch das Negerprinzesschen.« Dillier: »Das Chruselnegerli.« Schneider: »Das Chruselnegerli. Sehr oft waren es sogar Mütter, die …, die … also Kinder hatten, die irgendwie von einem schwarzen Vater oder so waren oder umgekehrt. Aber als wir das geschrieben und aufgenommen hatten, war das Wort Neger derart weit weg von despektierlich.« Dillier: »So hat man in den 1970er Jahren einfach gesprochen. Wie war das für Sie, als es plötzlich hieß, der Kasperli dürfe nicht mehr so sprechen?« Schneider: »Ich war ein wenig vor den Kopf geschlagen. Ich habe natürlich sofort gemerkt, wenn das wirklich aneckt, und wenn sich Leute wirklich daran stoßen, und es nicht gut finden, dann ändern wir es.« […] Dillier: »Sprechen Sie denn heute anders? Weil man Ihnen gesagt hat, man dürfe nicht mehr so sprechen?« Schneider: »Privat würde ich auch nicht mehr Neger sagen. Das ist ganz klar.« Dillier: »Aber den Mohrenkopf hat man, glaube ich, auch offiziell verboten, die heißen in der Migros jetzt Party Kiss.« Schneider: 1 | Für ihre Unterstützung bei den Recherchearbeiten und für das gemeinsame Nachdenken danke ich Marina Lienhard und Jovita dos Santos Pinto. Mein Dank geht ferner an Sabine Baier, Francesca Falk und Barbara Lüthi für ihre hilfreichen Kommentare. Beat Frischknecht vom Globi-Archiv in Zürich danke ich für seine Unterstützung bei den Recherchen.
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»Die mag ich sowieso nicht, ich komme gar nicht dazu, die zu kaufen.« Dillier: »Und die Leute sagen weiterhin Mohrenkopf, glaube ich.« Schneider: »Das glaube ich schon. Manchmal wird es sogar noch schlimmer. Weil, wenn man das Wort Mohr und Neger nicht sagt und sich versucht, darum herum zu wenden, dann merkt man: Aha, der wollte jetzt nicht Neger sagen. Denn das finde ich dann noch schlimmer.« Dillier: »Martin Walser hat in diesem Zusammenhang einmal gesagt, wenn man die Leute nicht Neger sagen lässt, dann soll man sich nicht wundern, wenn sie den Neger morgen zusammenschlagen. Man verbietet den Leuten, über heikle Themen zu sprechen, verdrängt diese Tabus, und die können dann manchmal fast unkontrolliert ausbrechen.«2
O PFER DER P OLITICAL C ORRECTNESS Bemerkenswert an dieser kurzen Abhandlung über Rassismus sind sowohl einige Prämissen, die der Moderator und sein Gast teilen, als auch ihre subtilen Differenzen im Umgang mit dem Thema. Beide sind sich einig, dass die Veränderungen am Hörspiel De Schorsch Gaggo reist uf Afrika, in dem das Wort Neger in einer Neufassung aus dem Jahr 2000 an allen Stellen ersetzt worden ist, auf einen äußeren Druck zurückgehen. Personifiziert wird diese Bewegung der Political Correctness von weißen Müttern von Kindern mit einem schwarzen Vater. Da weder Dillier noch Schneider die Rassismusvorwürfe nachvollziehen können, entsteht der Eindruck, am rassistischen Sprachgebrauch würden sich in erster Linie weiße Frauen aus persönlicher Betroffenheit stoßen. Die politische und gesellschaftliche Bedeutung des Rassismus wird derart durch eine sexistische Wendung zur Privatsache stilisiert. Bemerkenswert ist auch Schneiders Stocken beim Beschreiben von Familienverhältnissen, welche die Konturen der weißen Schweizer Familie aufbrechen (»Mütter, die …, die … also Kinder hatten, die irgendwie von einem schwarzen Vater oder so waren oder umgekehrt«): Die ethnisch hybride Familienkonstellation bringt ihn an die Grenzen des Sagbaren. Die Kritik am Kasperlistück teilt Schneider nicht, er ist aber bereit, den Begriff Neger aus dem Stück und auch aus seinem privaten Wortschatz zu tilgen. Dillier zeigt sich weniger kulant und versucht, mit Schneider gemeinsame Sache gegen die Political Correctness zu machen. Als Dillier die Umbenennung von »Mohrenköpfen« als Zensurhandlung darstellt, windet sich Schneider erst (»Die mag ich sowieso nicht«), schwenkt dann aber auf die Linie des Moderators ein und betont, dass schlimmer als jene Menschen, welche das Wort Neger verwenden, diejenigen seien, welche es auf unbeholfene Weise ersetzen würden. Mit der Begründung, das Verbot rassistischer Begriffe vermindere die rassistische Gewalt nicht, sondern schüre sie, spitzt Dillier seine Argumentation 2 | Focus (DRS3) mit Jörg Schneider, Volksschauspieler, vom 11.01.2010, http://www. drs3.ch/www/de/drs3/sendungen/focus/2655.sh10116309.html, 10.01.2011. Übersetzung aus dem Schweizerdeutschen durch die Autorin.
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zu. Er ortet das Problem nicht beim Rassismus, sondern bei den Aktivitäten von Vertreterinnen der Political Correctness. Sie erscheinen als Spielverderberinnen und Sittenwächterinnen, welche dem Kasperli und allen anderen den Mund verbieten und damit Gefahr laufen, diese erst (recht) zu Rassisten zu machen. Es ließe sich vieles zu dieser kurzen Sequenz sagen. Auffällig ist vor allem, welche Wege die Gewalt nimmt. Eigentlich ein Kennzeichen von Rassismus, taucht sie in diesem Gespräch als Gewalt der Zensur auf, die den Schweizerinnen und Schweizern und damit auch den beiden weißen Gesprächspartnern aufgezwungen wird: Schneider fühlt sich von der Kritik nicht vor den Kopf »gestoßen«, sondern gar vor den Kopf »geschlagen«, und beide monieren, dass sie nicht mehr so reden dürften, wie sie wollten. Während Schneider einlenkt, legt Dillier eine kämpferische Haltung an den Tag, die er sogar ins Zeichen des Antirassismus stellt. Der Zwang, welcher durch die Political Correctness ausgeübt werde, so führt er aus, könne sich im Endeffekt gegen diejenigen richten, die vom Rassismus betroffen sind: Denn das Verbot, gewisse Formulierungen zu verwenden, schaffe Tabus, die zu unkontrollierten Ausbrüchen führen könnten. Wenn der Schwarze entweder als »Neger« bezeichnet oder zusammengeschlagen wird, so Dilliers Logik, müsse dafür gesorgt werden, dass nur ersteres eintrifft. Rassistische Menschen erscheinen in dieser Darstellung als eine Art Durchgangsstation für fremdenfeindliche Kräfte, die sich irgendwie entladen müssen: Wenn sie nicht verbal geäußert werden können, manifestieren sie sich in Form physischer Gewalt. In dieser quasimechanistischen Darstellung bleibt kein Raum für politische und ethische Aspekte, welche die rassistisch agierenden Subjekte in die Verantwortung nehmen würden. Dilliers Ausführungen lassen vielmehr die Interpretation zu, dass Rassismus erst durch die antirassistische Kritik erzeugt wird. Rassismus wäre gemäß dieser Lesart ein Effekt der Political Correctness, die ihn, in dem sie ihn benennt und verbietet, hervorbringt. Erstaunlicherweise kreist das Gespräch keinen Moment lang um die Frage, ob Rassismus in der Schweiz, in der Kinderliteratur und in Kasperlis Hörspielen ein Problem darstelle, und ob es gerechtfertigt sein könnte, deren Terminologie zu überdenken.3 Obwohl die Wirkung von Zensur ein zentrales Thema des Gesprächs darstellt, dreht sich die Diskussion nicht um mögliche Effekte rassistischen Sprechens – sprachliche Verbote gelten als einschneidend, die Wirkmächtigkeit rassistischen Sprechens wird hingegen nicht einmal angedacht. Vielmehr gilt die Frage des Rassismus auf einmütige und selbstverständliche Weise als erledigt – bevor sie überhaupt aufgeworfen worden ist. Meine These ist, dass dieses Gespräch eine Einschätzung des Rassismus in der Schweiz aufzeigt, die in der gegenwärtigen Ge3 | Eine ähnliche Position nimmt die bekannte Schweizer Märchenerzählerin Trudi Gerster in einem Gespräch mit der NZZ ein: »Also, heute darf man gewisse Wörter nicht mehr sagen. ›Zigeuner‹ sollte man scheint’s nicht sagen. Oder, wie heisst das andere Wort, das man nicht mehr sagen darf ...? Neger!« Auch Gerster weigert sich an dieser Stelle, selber eine Verbindung zwischen der Rassismuskritik und ihren Märchen herzustellen. (Muscionico, »Die Unverwüstliche«)
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sellschaft verbreitet ist und in weiten Kreisen als konform und legitim gilt. Dabei kommt es nicht selten zu einer eigentümlichen Umkehrung: Opfer dieser Auseinandersetzung sind demnach nicht die Menschen, die von rassistischen Darstellungen betroffen sind, sondern diejenigen, die in ihrer Rede- und Handlungsfreiheit eingeschränkt werden. Dies beobachtet auch Georg Kreis, wenn er festhält: »Es kennzeichnet die Auseinandersetzung um die Rassismusfrage, dass die Rechtsfrage mehr Gewicht hat als die Ethikfrage und dass sich das Denken stets auf die Täterproblematik konzentriert, und die Opferfrage dabei weitgehend ausgeblendet wird. In der Konsequenz […] wird einzig besorgt die Frage erörtert, wie viel Freiheit (für Rassismus) gegen die staatlichen Aufpasser und gegen die Klagen der Opfer verteidigt werden müsse.« 4
In dieser Logik argumentiert auch die Weltwoche, wenn sie feststellt, dass der Kasperli »gegen die in den neunziger Jahren grassierende politische Korrektheit« keine Chance hatte und »unter Druck« einknicken musste, als er »unter Rassismusverdacht« kam.5 Wie Dillier, welcher der Schweizer Bevölkerung unterstellt, sie empfinde die veränderten Sprachregelungen nur als sinnlosen Zwang (und der nicht bei Schneider nachfragt, warum es für ihn »ganz klar« sei, dass er das Wort Neger privat nicht mehr verwende), geht der Weltwoche-Autor nicht auf mögliche Gründe für den neuen Sprachgebrauch ein. Er betont zudem (wie es Dillier später im Interview ebenfalls tut), dass die alte, »unkorrigierte« Version des Kasperlistücks beim Publikum äußerst begehrt sei. Damit wird, in einer Art »kolonialen Melancholie«6, eine Sehnsucht nach jenen Zeiten beschworen, in denen rassistische Begriffe scheinbar ohne Einschränkungen verwendet werden konnten. Diese nostalgische Verklärung der Zeit vor der Political Correctness dokumentiert auch ein Beitrag auf Youtube, der diejenigen Originalsequenzen aus Schorsch Gaggo vereint, die in der korrigierten Version gestrichen worden sind.7 Die 119 Kommentare zum Video, das bis Februar 2011 über 87.000 Mal angeklickt wurde, können als Archiv einer kolonialen Melancholie à la Suisse gelesen werden: Zahlreiche Bemerkungen verbinden das Tondokument mit nostalgischen Kindheitserinnerungen, welche sie gegen neue, antirassistische Konventionen verteidigen.8 4 | Kreis, Kein Volk von Schafen, S. 45. 5 | Kunz, »Letzte Bastion«, S. 31. 6 | Zum Begriff der »kolonialen Melancholie« vgl. Schwarz, »Koloniale Melancholie«. 7 | Das Video wurde am 23.05.2009 online gestellt. Gemäß der Statistik von Youtube wird es vor allem von Männern zwischen 18 und 24 Jahren aufgerufen. Vgl. http://www.youtube. com/watch?v=heV4at5qYlQ, 01.03.2011. Unter dem Titel »Neger us em Kasperli [Extended Edition]« wurde am 20.03.2010 eine zusätzliche Version ins Netz gestellt, die über 13.000 Aufrufe zählt: http://www.youtube.com/watch?v=suS7q56eTP4&feature=iv&ann otation_id=annotation_144972, 01.03.2011. 8 | So schreibt MissMcgowan88: »ich findes total cool so isch es doch kult ich bin so ufgwachse und mer sind sogar mal so ad fasnacht gange als negerheuptling und als negermeiteli schuschu ich säge nur ich findes schad das die ez wäg dem so blöd düend janu«.
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Der Blick auf das Youtube-Dokument macht deutlich, dass sich das Focus-Gespräch in eine größere diskursive Anordnung einfügen lässt. Mir geht es in der Tat nicht darum, die Positionen von Schneider und Dillier zu personalisieren. Mich interessieren, mit anderen Worten, nicht die individuellen Haltungen, die hinter diesen beiden Personen stehen, sondern die einzelnen Aussagen, die im Rahmen dieser Radiosendung getätigt wurden. Sie stellen diskursive Äußerungen dar, die in dieser Zeit und an diesem Ort im Bereich des »Sagbaren« und »Normalen« auftauchen. Denn die Tatsache, dass weder Schneider noch Dillier als Rassisten gelten oder sich mit fremdenfeindlichen Themen profilieren, dass die Sendung von einer anerkannten und beliebten nationalen Radiostation gesendet worden ist und nicht zu öffentlichen Diskussionen oder Protesten geführt hat, lassen darauf schließen, dass ihre Äußerungen im Feld dessen getätigt worden sind, was in der Schweiz gegenwärtig sag- und denkbar ist. Im Folgenden geht es darum, diesen Bereich genauer zu umreißen. Gerade wegen ihrer scheinbaren Harmlosigkeit eignen sich Literatur und Hörspiele für Kinder als Ausgangspunkt für die Frage, wie postkoloniale Konstellationen in das Schweizer Alltagswissen eingelassen sind und wie diese sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert haben.
S CHORSCH G AGGO UND DIE S CHWEIZER S CHOKOL ADE 9 Das Kinderhörspiel De Schorsch Gaggo reist uf Afrika wurde von Schneider geschrieben und 1970 in Zusammenarbeit mit Ines Torelli und Paul Bühlmann vertont und auf den Markt gebracht. Es ist Teil einer Serie von Kasperli-Hörstücken, die sich in der deutschsprachigen Schweiz bis heute größter Beliebtheit erfreuen.10 Die Geschichte von Schorsch Gaggo lässt sich schnell erzählen: Weil dieser gerne Kakao trinkt, beschließt er auf Anregung seines frechen und weltgewandten Freundes Kasperli nach Afrika zu reisen. Die beiden packen eine Wolldecke, Kakao, Brötchen und eine Cervelatwurst ein und gehen zum Meer, das sie mit Hilfe des Delfins Tommy überqueren. Kaum in Afrika angekommen, begegnen sie Susu, der Tochter des »Häuptlings« Krambambuli, die ihnen erzählt, ein böser Löwe versetze beide in Angst und Schrecken. Kurz darauf erscheint ihr Vater und verspricht Kasperli und Schorsch die Erfüllung dreier Wünsche, wenn es ihnen gelinge, den Löwen unschädlich zu machen. Die beiden brechen auf, bauen mit ihrer Wolldecke und der Cervelat eine Falle und fangen den Löwen. Der verspricht ihnen, artig zu sein, und wird daraufhin Beschützer und Hoftier von Krambambuli.
9 | Die nachfolgende Analyse stützt sich partiell auf Purtschert, »Schorsch Gaggo«. 10 | Die Kasperli-Platten beinhalten in der Regel zwei halbstündige Hörstücke. De Schorsch Gaggo ist die erste Geschichte der siebten Folge. Insgesamt sind zweiundzwanzig Kasperli-Platten erschienen. Jährlich werden zurzeit über 50.000 Tonträger der Kasperli-Platten verkauft.
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Für seine Tat erhält Schorsch einen Kakaobaum und eine Wolldecke, und Kasperli kann Susu als Spielkameradin mit in die Schweiz nehmen. Für eine Analyse der postkolonialen Schweiz erweist sich diese Kindergeschichte als bemerkenswerter Ausgangspunkt. Schorsch Gaggos Name und sein Durst nach Kakao verweisen auf eine Relation zwischen der Schweiz und Afrika, die sowohl ökonomisch als auch diskursiv von Bedeutung ist: die Schokolade. In ihr verdichten sich Vorstellungen von Schweizer Produktion und Qualität mit kolonialem Handel. In der Tat stammt der größte Teil des Kakaos zur Zeit der »Erfindung« der Schweizer Schokolade um 1880 aus Afrika. Diese materielle und ökonomische Verbindung hat ein semiotisches Pendant: Insbesondere die Werbung kolportiert den Zusammenhang von exotischem Flair und Schweizer Produktion und die typische Mischung aus Kakao und Milch, von exotischen und einheimischen Ingredienzen. So zeigt eine Reklame der Firma Suchard aus dem Jahre 1890 eine idyllische Szene bei der Kakaoernte, eine andere aus dem Jahre 1900 eine romantische Alp in den Schweizer Bergen.11 Die Exotisierung und Folklorisierung der Schokolade wurde auch im Kontext der Kinderfigur »Globi« vorgenommen: Im Jahre 1937 erschien eine auf Kinder zugeschnittene Schokolade, auf deren Verpackung Globi eine Kuh vor einem Alpenpanorama mit Sennenhütte melkt. In der Nachkriegszeit kommt eine Verpackung auf den Markt, auf der Globi in Afrika zu sehen ist, Kakaofrüchte auf dem Rücken tragend.12 Die Figur des Schorsch Gaggo verweist also nicht nur auf die anhaltende Beliebtheit der Schokolade bei Kindern, sondern auch auf ihre Stilisierung als schweizerisches Qualitätsprodukt, das mit einer postkolonialen Ökonomie und Ästhetik untrennbar verwoben ist. Nicht zuletzt verweist Schorsch Gaggo auf den Zusammenhang von moderner, kapitalistischer Konsumkultur und Rassismus: Im ausgehenden 19. Jahrhundert kamen vermehrt sogenannte Kolonialwaren wie Zucker, Kaffee, Schokolade, Tabak, Tee oder Gewürze unter die Leute. Die Erfindung des Konsumenten und der Konsumentin geht, wie Anne McClintock zeigt, mit der Entstehung einer neuen Form des Rassismus einher, der breite Gesellschaftsschichten erreicht.13 Anders als der wissenschaftliche Rassismus, welcher vorwiegend kleine und elitäre (wenn auch politisch und sozial einflussreiche) Gruppierungen beschäftigt, verbreitet dieser commodity racism koloniale Topoi und Bilder mittels Konsumgütern.14 Koloniale Repräsentationen werden zu Bestandteilen der Alltagskultur – und zirkulieren insbesondere in jenen Bereichen, die als Privates und Häusliches den Frauen und Kindern zugeschrieben und in einen Gegensatz zur politischen Sphäre gestellt werden. 11 | Vgl. Rossfeld, Schweizer Schokolade, S. 402 und 431. 12 | Dazu heißt es: »Z’Afrika lacht d’Sunne froh/Det wachsed Frücht vom Kakao/Globi tuets is Schiff verlade/und dänn gits: Globi Milch-Schokolade«. Die eingesehenen Verpackungen stammen aus dem privaten Globi-Archiv von Beat Frischknecht. 13 | McClintock, Imperial Leather. 14 | Ebd., S. 209.
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Auch Schorsch Gaggo steht in dieser Genealogie des commodity racism. Sein Wunsch, nach Afrika zu reisen, verweist auf die identitätsstiftende Beziehung der Schweiz zu einem Afrika, das gänzlich auf kolonialen Bildern beruht und in eine Konsumlogik eingebettet ist. Schorschs Aussage, er wolle ins »Kakaoland nach Afrika reisen, und dort, wo die Kakaobäume wachsen, den ganzen Tag im Schatten sitzen und Kakao schlürfen«15 , impliziert paradiesische Vorstellungen eines Schlaraffenlands, in dem einem die Nahrung in den Mund fällt. Sein Begehren nach Kakao, dem er seinen Namen – und damit auch einen Teil seiner Identität – verdankt, wird von Kasperli allerdings problematisiert: »Du solltest, durch dein ewiges Kakao-Schlürfen, längst schon von unten bis oben und rundherum ganz braun sein«.16 Was in dieser Version des Stücks angedeutet bleibt, wird in der Originalfassung des Hörspiels explizit gemacht. Da heißt es: »Du solltest längst so braun sein wie ein Neger von diesem ewigen Kakao-Trinken«17. Kasperli verweist an dieser Stelle auf eine gefährliche Schwelle zwischen der Sehnsucht nach Afrika und der Gefahr, selbst zum Afrikaner zu werden. Das Aushandeln dieser Grenze zwischen dem als exotisch begehrten Anderen und dem eigenen europäischen Selbst, und die Angst davor, diese Grenze zu verwischen, ist ein grundlegender und ständig wiederkehrender Topos kolonialen Denkens. Während Schorsch Gaggo also als »Konsument und Händler« auftritt, könnte Kasperli als »humanitärer Helfer« beschrieben werden. In beiden sind zudem Versatzstücke eines dritten Typs erkennbar: Diese Figur des »Abenteurers«, der oft gewalttätig agiert und despektierlich mit kultureller Alterität umgeht, ist bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts eine häufige und beliebte Figur in Kinderbüchern. Dass sie in dieser Form in gegenwärtigen Publikationen kaum mehr vorkommt, kann mit der Kritik an unlegitimierten Gewaltverhältnissen in Verbindung gebracht werden, die nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkt einsetzt, sich 1948 wirkmächtig in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte niederschlägt und auch in der fortschreitenden Anerkennung der Dekolonisationsbewegung durch die europäische Bevölkerung zum Ausdruck kommt. Unverhohlen rassistische und direkt an koloniale Überlegenheitsvorstellungen anschließende Darstellungen werden allerdings erst nach 1968 aus Kinderbüchern entfernt. In dieser veränderten diskursiven Konstellation tritt der Abenteurer fortan in Verbindung mit anderen Typen auf, die im Dienste der Wissenschaft, des Handels oder der Entwicklungshilfe stehen und deren Handeln dadurch legitimiert wird.
15 | Originaltext: »Ich wett emal is Gaggoland uf Afrika und det wo d’Gaggobäum wachsed de ganz Tag in Schatte hocke und Gaggo süggele.« 16 | Originaltext: »Du sötsch ja scho lang munggelibrun sii vo une bis obe und rundume vo dem ewige Gaggo-sürpfle«. 17 | Originaltext: »Du söttsch scho lang eso brun sii wienen Neger vo dem ewige Gaggolöte.«
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S CHWEIZER M ÄNNLICHKEITEN UND KOLONIALES OTHERING Schweizer Beispiele für den »Abenteurer« finden sich etwa im ersten Bildband von Globi, dem Protagonisten zahlreicher Deutschschweizer Kinderbücher.18 Im 1935 erschienenen Band Globi’s Weltreise wird er von einem seiner Erfinder, Ignatius Karl Schiele, mit folgenden Worten eingeführt: »Die Tatlosigkeit ist ihm ein Gräuel. Immer ist er aktiv an der Spitze des Geschehens.«19 Die Geschlechterdichotomie, die an dieser Stelle anklingt – Globi ist ein Mann der Tat, der mit (weiblich konnotierter) Passivität nichts anfangen kann –, kehrt auf Globis Reisen wieder, gebrochen und variiert durch kulturelle Stereotype. Dies lässt sich anhand von zwei Geschichten zeigen, die in der gegenwärtig zirkulierenden Fassung des Bandes bezeichnenderweise weggefallen sind.20 In Ringspiel mit der Hottentotten-Frau begegnet Globi in einer einsamen Wüste einer afrikanischen Frau. Kurzerhand winkt er sie zu sich, nimmt ihr die Ringe um den Hals ab, stellt sie hin und spielt Ringwerfen mit ihr. Die Figur der »Hottentotten-Frau« verweist auf mehrere Elemente transnationaler rassistischer Diskurse: Zum einen galten die südafrikanischen Khoi-San (im kolonialen Sprachgebrauch als »Hottentotten« bezeichnet) lange als primitivste Menschenrasse und als missing link zwischen Affen und Menschen.21 Zum anderen verweist diese Figur auf Sarah Baartman, eine südafrikanische Frau aus der Kapregion, welche 1810 nach London gebracht und danach in England und Frankreich auf Völkerschauen als »Hottentoten-Venus« ausgestellt wurde. Teile ihres Körpers und ein Gipsabdruck wurden nach ihrem Tod 1815 im Pariser Musée de l’Homme ausgestellt. Erst in den 1980er Jahren wurden die sterblichen Überreste Baartmans nach langanhaltender Kritik entfernt und 2002 schließlich nach Südafrika überführt und beigesetzt. Die Geschichte der »Hottentotten-Venus« ist lückenhaft und komplex22 – an dieser Stelle soll nur erwähnt werden, dass sie, wie Kerstin Brandes ausführt, eine Figur darstellt, welche die Differenz zwischen 18 | Globi wurde 1932 als Werbefigur für das Warenhaus Globus erfunden und führte bald darauf (und bis heute) ein Eigenleben als Titelheld von Büchern, Heften und Hörstücken. Für eine umfassende Geschichte der Globi-Figur vgl. Bellwald, Globi – ein Freund. 19 | Schiele, »Vorwort«, ohne Seitenangabe. Auch wer sich Der Globi, die Jugendzeitschrift des Globuswarenhauses aus diesen Jahren anschaut, stösst auf die gängigen Abenteuerbilder: Szenen, welche sich im Orient, bei den Indianern, in Afrika oder auf hoher See abspielen, zieren Mitte der 1930er Jahre oftmals das Titelbild. 20 | In die gänzlich überarbeitete Version von 1970 wurden die beiden Bildergeschichten aufgenommen und mit Versen ergänzt. Erst in der zweiten Auflage von 1978 sind sie weggelassen worden, zu einem Zeitpunkt also, an dem die Frage des Rassismus in Kinderbüchern bereits in einer breiteren Öffentlichkeit verhandelt worden ist. 21 | Ritter, »›Présenter les organes génitaux‹«, S. 156. 22 | Vgl. dazu etwa die Kritik von Brandes an der feministisch und postkolonial ausgerichteten Diskussion der »Hottentotten-Venus« seit den 1980er Jahren, Brandes, Fotografie und Identität, 159f.
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der idealisierten weißen und der vulgarisierten schwarzen Weiblichkeit denkbar macht, indem sie letztere verkörpern soll: »Die (zugeschriebene) Monstrosität von Gesäß und Genitalien kategorisierte die ›schwarze Frau‹ in Abweichung von einem Ideal weißer (und bürgerlicher) Weiblichkeit«.23 Aspekte dieser kolonialen Körperästhetik lassen sich auch in der Schweizer Kindergeschichte ausmachen: So wird die Afrikanerin in der Globi-Geschichte mit jenem nach hinten gekippten Gesäß gezeichnet, für das die »Hottentotten-Venus« berühmt war (vgl. Abb. 1). Die scheinbar harmlose Kindergeschichte beinhaltet einen Subtext, in dem sich rassistische, heteronormative und sexistische Logiken verbinden. Aus Sicht des weißen Mannes wird die Verfügbarkeit der afrikanischen Frau inszeniert. In der Tat lässt sich fragen, ob in Globis Spiel mit der »Hottentotten-Frau« nicht die »schillernde Imagination einer Hottentottenvenus« ausgemacht werden kann, die, wie Sabine Ritter schreibt, »die rassistische Herabminderung mit sexistischer Verfügbarmachung verband«24 . Abbildung 1: Koloniales »Spiel« mit einer Afrikanerin, Globi 1935
Die Differenz zwischen Globis Aktivität und der Passivität der Afrikanerin, die sich seinen Anordnungen fügsam unterzuordnen scheint, wird in der nächsten Geschichte mit dem Titel Globi am Marterpfahl der Zulu-Kaffern aufgenommen und modifiziert. Bezeichnenderweise wird Globis europäische Männlichkeit an dieser Stelle durch unterschiedliche Insignien unterstrichen: Während er bei der Begegnung mit der afrikanischen Frau nur seine Karo-Hosen trägt, ist er dieses Mal mit Pfeife, Jägerhut, Gewehr und Munitionsgurt bestückt. Im Unterschied dazu tragen die afrikanischen Männer Kriegsutensilien einer vormodernen Zeit und betonen damit die Differenz zwischen dem modern ausgestatteten Kolonialherren und den archaischen Wilden: Sie treten mit Speeren, Schildern und Geschrei auf, binden 23 | Ebd., S. 158. 24 | Ritter, »›Présenter les organes génitaux‹«, S. 123.
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Globi an eine Palme und fachen ein Feuer an – offensichtlich mit dem Ziel, ihn zu verspeisen. Globi entflieht der kannibalistischen Attacke, indem er kurzerhand die Palme aus dem Boden zieht und auf dem Rücken davonträgt. Trotz ihres Auftretens als Krieger demontiert Globi die Wehrhaftigkeit und Männlichkeit seiner afrikanischen Gegner: Er entkommt ihnen trotz großer Überzahl mit einem einfachen Trick und rennt mit einem Baum auf dem Rücken schneller als sie. Abbildung 2: Globi als kolonialer Abenteurer, 1935
In beiden Geschichten lässt sich der Typus des »Abenteurers« erkennen: Globi streift in Manier des Kolonialherren durch ein exotisches Land, das ihm scheinbar fraglos zur Verfügung steht25 (siehe etwa sein entsetzter und verärgerter Ausdruck, wenn die afrikanischen Krieger auf ihn, den Eindringling, losrennen, vgl. Abb. 2), und begegnet anderen Menschen dabei vornehmlich in zwei Varianten: Einerseits stellen sie, wie die »Kannibalen«, eine Gefahr dar – die gerade den Reiz des Abenteuers ausmacht. Sie müssen dann, mit Tricks oder mit Gewalt, bezwungen werden und sind – je nachdem, was der Konjunktur der Geschichte dienlich ist – einmal bedrohlich und aufregend, dann wieder dümmlich und leicht zu bezwingen. Oder sie sind scheinbar willenlose Objekte, wie die »Hottentotten-Frau«, mit denen nach Belieben und zur eigenen Belustigung gespielt werden kann. In der Geschichte des Schorsch Gaggo ist es die Figur des Kasperli, die den Typus des »Abenteurers« verkörpert. Im Unterschied zum ängstlichen Schorsch Gaggo drängt er darauf, nach Afrika aufzubrechen. Kaum angekommen zeigt er sich sofort bereit, den Löwen zu fangen, der Susu und ihren Vater bedroht. Allerdings – und das unterscheidet ihn vom reinen »Abenteurer« – handelt er nicht nur aus Wagemut, sondern auch aus Altruismus. Der Löwe soll gefangen werden, damit – wie er zu Susu und Krambambuli sagt – »ihr keine Angst mehr haben 25 | Für das koloniale Verständnis des Liberalismus im Umgang mit angeblich »leerem Land« vgl. Falk, Geschichte der Grenze.
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müsst«. Was den beiden trotz ihres lokalen Wissens nicht gelang, nämlich den Löwen zu bändigen, ist für Kasperli ein Kinderspiel. Seine aus der Schweiz mitgebrachten Utensilien genügen, um die Probleme in Afrika zu lösen. Seine Mission ist erfolgreich und wird von allen Beteiligten geschätzt. Sogar der Löwe ist dankbar dafür, dass er aus seiner Rolle als Bösewicht befreit wird. Kasperli kann Afrika, nachdem er dessen Bewohner miteinander versöhnt hat, guter Dinge wieder verlassen. Ein solches Bild der erfolgreichen und international erwünschten Schweizer Vermittlungstätigkeit beruht, wie das Kasperlistück deutlich macht, auf einem grundlegenden Gegensatz zum nicht schweizerischen Anderen: Krambambuli ist passiv, dem Schicksal ergeben, weiß sich nicht zu helfen und ist erstaunt über und dankbar für die Unterstützung, die er erhält. Obwohl Krambambuli ein afrikanischer »Häuptling« ist, füllt er die Rolle des Anführers nicht aus. Er steht neben der jungenhaften weißen Männlichkeit von Kasperli, ohne ihm ebenbürtig zu sein. Auffallend ist zudem, dass Krambambulis gebrochenes Deutsch mit einem italienischen Akzent versetzt ist: Damit wird er mit der Figur des italienischen Arbeitsmigranten überblendet, dem damaligen Inbegriff des Fremden in der Schweiz. Auch die Darstellung von Krambambuli auf dem Plattencover lässt verschiedene, ineinander verschränkte Prozesse des othering erkennen (vgl. Abb. 3). Abbildung 3: Schweizerisches Afrika: Krambambuli und Susu erhalten Besuch von Kasperli und Schorsch Gaggo, 1970
Krambambulis partielle Nacktheit und der Blätterrock verweisen auf gängige Vorstellungen des Wilden, die ein Gegenbild zum modernen urbanen Europäer darstellen. Die Artefakte, welche auf eine afrikanische Kultur verweisen, sind alle mit stereotypen Vorstellungen westlicher Weiblichkeit und männlicher Homosexualität gekoppelt: Krambambuli trägt einen Rock, eine Halskette, Ohrringe, Armbänder und hat große rote Lippen. Auch diese Überblendung verweist auf transnationale Diskurse: Mit Darwins Konzept der natürlichen Selektion, so Leela Gandhi, entstand »a strange kinship upon the ›homosexual‹ and the ›savage‹. Both were exiled to the desert surrounding the heavily policed oasis of western heteronormative civilization, and in the
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P ATRICIA P URTSCHERT ideological mirages to which this desert was prone, their features slowly began to merge into each other so that no one could any longer say for certain who was the ›real‹ homosexual or who was the ›true‹ savage.« 26
Die Verschränkung von Homosexualität und Wildheit koppelt sich mit deren Feminisierung. Die »Weiblichkeit« Krambambulis wird etwa durch seinen Bewegungsradius angezeigt: Obwohl in Afrika zuhause, befindet er sich immer in der Nähe seiner Strohhütte. Die Schweizer Jungen hingegen reisen von Zürich nach Afrika in die »Fremde«, und ziehen auch da gleich los, um den Löwen zu fangen. Kasperlis Männlichkeit wird aber nicht nur im Verhältnis zum schwächlichen Krambambuli, sondern auch in dem zu Susu, der jungen Afrikanerin, bestärkt: Sie ist sofort bereit, Afrika mit Kasperli für die Schweiz zu verlassen. Auch ihr Name und ihre Kleidung markieren ihre Anpassungsfähigkeit und ihre Bereitschaft, sich fortan an Kasperlis Welt zu orientieren. Die Verfügbarkeit der Afrikanerin, die bereits bei Globis Figur der »Hottentotten-Frau« erkennbar wurde, wird an dieser Stelle mit einer anderen Rolle überblendet: Susu ist auch die Vermittlerin, die die Worte ihres Vaters übersetzt und die Jungen aus der Schweiz dazu auffordert, diesen zu begrüßen. Sie übernimmt damit eine Rolle, die einheimischen Frauen, wie Ann Laura Stoler bemerkt, im kolonialen Kontext oft zugewiesen worden ist: »Across Africa and Asia, colonial decision makers counted on the social services that local women supplied as ›useful guides to the language and other mysteries of the local societies‹.«27 Eine Art Ritter- und Retterlogik strukturiert somit diese Erzählung, in der sich die afrikanische Frau willig und dankbar in die Heimat ihres Schweizer Helden mitnehmen lässt.28 Indem sich sexistische, homophobe und rassistische Stereotype gegenseitig explizieren, werden in dieser Geschichte Bilder von ängstlichen, unselbständigen und abhängigen Menschen gezeichnet, von denen sich der Tatendrang und der Erfolg von Schorsch und Kasperli erfolgreich abheben können. Indem die Knaben dem afrikanischen Anderen helfen, erhalten sie selbstverständlich Zugang und, mehr noch: ein bereitwillig eingeräumtes Anrecht auf dessen materielle und menschliche Ressourcen, den Kakao und die Tochter. Dass die Figuren von Krambambuli und Susu keine singulären Figuren sind, sondern auf einen seriellen Aspekt der Darstellung schwarzer Menschen verweisen, zeigt ein kurzer Blick in andere zeitgenössische Publikationen: Immer retten die Schweizer Helden dabei die Töchter von afrikanischen Gebietern, welche die drohenden Gefahren nicht bewältigen können. In Ringgi und Zofi reisen zu den Negern befreit Ringgi Prinzessin Bumbum, die Tochter des Königs Lumpipi, von den 26 | Gandhi, Affective Communities, S. 53. 27 | Stoler, Carnal Knowledge, S. 49. 28 | Dass sich Susu an den Bedürfnissen ihres weißen männlichen Gegenübers orientiert und sich seine Perspektive zu eigen macht, zeigt sich an ihrer eigenartigen Formulierung, sie wolle in die Schweiz »nach Hause« gehen.
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»Dunkelmännern«.29 Und im Hörspiel De Globi im Urwald rettet Globi Zuliruba, die Tochter des »Häuptlings Zuliruba«, aus den Fängen einer fleischfressenden Pflanze.30
G EGENSTIMMEN ZUM S CHWEIZER R ASSISMUS Wie bereits erwähnt, wurde die erste Fassung von Schorsch Gaggo 1999 vom Markt genommen und im Jahr 2000 durch eine neue Version ersetzt, in der alle Nennungen des Wortes Neger ersetzt worden sind.31 Das, wie die obenstehende Analyse zeigt, äußerst problematische Narrativ und die koloniale Rollenverteilung, blieben hingegen unverändert. In der Folge geht es darum zu rekonstruieren, was zu dieser Revision von Schorsch Gaggo geführt hat und wie sie zu beurteilen ist. Im Anschluss an die 1968er Bewegung sind auch in der Schweiz vermehrt Stimmen gegen Rassismen in Kinderbüchern laut geworden. So strahlt das Schweizer Fernsehen zum vierzigsten Geburtstag von Globi 1972 eine Sendung aus, in welcher die Kinderpsychologin Ursula Müller gegenüber der beliebten Kinderfigur kritische Töne anschlägt: »Interessant ist, dass die bedrohlichen Figuren für Globi nie Weiße sind, sondern immer farbige Leute, zum Beispiel ein Mexikaner als Gauner, ein Australier als zähnefletschender Menschenfresser, Menschen im fernen Osten als Piraten und Räuber mit Messer im Mund, Zulukaffer als marternde Unmenschen oder Petschuanen in Afrika. […] Globi wird als Inbegriff der weißen Rasse geschildert, als der Mann, der alles kann und durchschlagskräftig jeder Situation gewachsen ist, also als Siegernatur. Daneben werden die Schwarzen oder auch zum Beispiel die Asiaten als verschlagen, räuberisch und mörderisch geschildert.« 32
Müllers Aussage problematisiert nicht nur die rassistische Darstellung nicht weißer Menschen. Sie nimmt auch die weiße Norm in den Blick und zeigt, wie grundlegend die koloniale Differenz für die Herstellung eines weißen Subjekts ist. 29 | Ringgi und Zofi schaffen nicht nur das, sondern bringen die verfeindeten Parteien auch dazu, einen Friedensvertrag zu unterschreiben, und werden daraufhin zu Ehrenbürgern ernannt. Vgl. Reinfrank/Tabertshofer/Bono, »Ringgi und Zofi reisen zu den Negern«. 30 | N. N., De Globi im Urwald. 31 | Dass auch die Revision rassistischer Kinderbücher transnationale Züge trägt, zeigt die Entscheidung des Oetinger Verlags, ab 2009 in allen Neuauflagen der deutschen PipiLangstrumpf-Bände die Begriffe Neger und Zigeuner zu streichen. »So erfreulich Veränderungen wie diese sind, können sie jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Rassismus nicht so einfach aus dem Text zu tilgen ist«, hält Eske Wollrad diesbezüglich fest, Wollrad, »Kolonialrassistische Stereotype«, S. 76. 32 | 40 Jahre Globi, Antenne-Sendung vom 15.03.1972, http://www.videoportal.sf.tv/ video?id=c51227e0-437e-492f-a9c6-09ad172e7575, 01.02.2011.
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Zehn Jahre nach dieser Kritik erscheint ein Aufsatz von Regula Renschler, der zu einem wichtigen Referenzpunkt der Diskussion um Schweizer Kinderbücher wird.33 Darin trägt die Autorin zahlreiche Beispiele rassistischer und sexistischer Darstellungen in Schweizer Kinderbüchern zusammen. Sie kritisiert die klischierte Darstellung von afrikanischen Menschen, die das »Bild von unberechenbaren, launischen, kampfeslüsternen, aber auch dümmlich-freundlichen, kindlichen Menschen«34 vermitteln und diese nicht selten in die Nähe zum Tier rücken. Wie Müller thematisiert auch Renschler, dass Globis Überlegenheit auf dem Unterschied zu rassifizierten Anderen beruhe. Auf der einen Seite stehen da alte und überholte Traditionen, Aberglauben und Zauberei, auf der anderen Seite die technischen Innovationen des Schweizers: »Globi ist Träger und Überbringer moderner Technik, und die unwissenden ›Neger‹ oder die Eskimos staunen, wie Globi alles besser macht.«35 Die Reaktionen der »Wilden« auf Globi als Repräsentant der Moderne lassen sich unschwer als koloniale Fantasien lesen: Sie verehren und vergöttern ihn, lassen sich von ihm belehren und unternehmen mit Globis Hilfe dankbar ihre ersten Modernisierungsschritte.36 Sogar bei Themen, von denen Globi keine Ahnung hat, kann er außereuropäische Frauen belehren. Bei einem Aufenthalt in einem Indianerdorf stellt er fest: »Kinder Huckepack zu tragen/Macht doch allzu große Plagen./Welch ein Rückstand hier im Kaff!/Globi sieht es und ist baff«37. Allerdings ist er dies nur kurze Zeit; dann führt er den Kinderwagen ein. So wie Kasperlis Hilfe von Krambambuli beglückt angenommen wird, zeigt sich auch die Indianerin erfreut über die Hilfeleistung, denn: »[D]as Globische System, ist modern und sehr bequem«38 . Die Analysen von Müller und Renschler markieren eine diskursive Zäsur: Die Kritik am Rassismus in der Schweizer Alltagskultur findet seit Beginn der 1970er Jahre Eingang in unterschiedliche Diskursfelder. Und es blieb nicht bei einzelnen Aussagen: Die anhaltende Präsenz von antirassistischen Positionen, wie sie etwa im Umfeld der Erklärung von Bern entwickelt worden sind – durch die Bildung lokaler Lesegruppen und die Organisation von Lehrerfortbildungen zum Thema, die Erstellung von Faltprospekten für eine sexismus- und rassismuskritische Lektüre, die Durchführung von Tagungen und Seminaren, die Herausgabe von Listen mit empfehlenswerten Kinderbüchern, die Übersetzung und Publikation von Literatur 33 | Renschler, »Der krasse Rassismus«. 34 | Ebd., S. 217. 35 | Ebd., S. 227. 36 | Auch diese Überhöhung der europäischen Position stellt ein transnationales Element eurozentrischer Kindergeschichten dar. Vgl. dazu etwa die Figur von Pippi Langstrumpfs Vater, welcher sich als »König Efraim I. Langstrumpf, Alleinherrscher über Taka-Tuka-Land« bezeichnet, Lindgren, Pippi im Taka-Tuka-Land, S. 82. 37 | Die Geschichte ist mit Fortschritt im Indianer-Dorf betitelt. Bruggmann, Mit Globi und Käpten Pum um die Welt, o.S. 38 | Ebd.
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aus dem Süden, die Interventionen bei Verlagshäusern, die internationale Vernetzung und schließlich die Gründung des Kinderbuchfonds Dritte Welt im Jahre 1985 und der Baobab-Bücherreihe drei Jahre später39 –, veränderte den hegemonialen Diskurs. Antirassistische Positionen setzen sich vermehrt durch – und gleichzeitig entstehen Strategien, welche diese Kritik entschärfen und die neuerlangte Sichtbarkeit des Schweizer Rassismus mit anderen Repräsentationsstrategien zu überlagern suchen.
P OSTKOLONIALE A NNOTATIONEN ZUR S CHWEIZER R ASSISMUSKRITIK Bevor ich mich diesen Gegendiskursen zuwende, die als Reaktion auf die Rassismuskritik entstanden sind, soll eine Frage aufgegriffen werden, die auf der Hand liegt: Kann eine postkoloniale Perspektive auf die Schweizer Kinderliteratur etwas erschließen, was die Rassismuskritik der 1970er und 1980er Jahre nicht bereits aufgezeigt hat? Die Kritik, die im Umfeld der Erklärung von Bern geleistet wurde, entstand gleichzeitig mit den ersten Texten der postcolonial studies: Edward Saids 1978 erschienenes Grundlagenwerk Orientalism weist eine unübersehbare Zeitgenossenschaft mit der Rassismuskritik aus, die zeitgleich in der Schweiz entsteht. Ihnen ist gemeinsam, dass sie die kulturellen Formen des Rassismus untersuchen und dabei Bilder, Stereotype, Denkfiguren und Logiken als zentrale Bestandteile kolonialer Regimes verstehen. Dass sich zwischen den Ansätzen der postcolonial studies und der Schweizer Rassismuskritik dennoch an relevanten Punkten Unterschiede ausmachen lassen, diskutiere ich im Folgenden anhand von drei Aspekten: der Anthropologisierung kultureller Differenzen, der Authentisierung anderer Kulturen und dem Vermeiden kultureller Hybridität. 1. Die Anthropologisierung kultureller Differenzen: Ein Argument, das oft gegen die Rassismuskritik in Anschlag gebracht wird, ist der Verweis auf den anthropologischen Status kultureller Differenzen. Demnach sei es ein intrinsisches Element aller Kulturen zu allen Zeiten, dass sie andere Völker als verschieden und tendenziell minderwertig erachten. So relativiert Waltraud Bellwald den Vorwurf, Globi-Geschichten seien rassistisch, mit dem Einwand, dass »jede Kultur […] ihren eigenen Ethnozentrismus als kollektive Selbstbezogenheit«40 hervorbringe. Diese Argumentation wird auch von Vertreterinnen der Rassismuskritik verwendet: Im Vorwort zu Unser täglicher Rassismus, einer Sammlung rassistischer Materialien aus dem Schweizer Alltag aus dem Jahre 1981, geht Renschler von einer allgemein menschlichen Vorurteilsstruktur mit unterschiedlichen Adressaten aus, die sie beispielhaft wiedergibt: »Schwarze sind weniger gescheit als Weisse, Arabern kann man nicht trauen, Deutsche sind fleissig und arrogant, Thurgauer haben lan39 | Vgl. Renschler, »Kulturvermittlerin«. 40 | Bellwald, Globi – ein Freund, S. 167.
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ge Finger, Berner sind langsam, Basler witzig.«41 Der weiße Rassismus zeige, wie folgenreich sich diese Vorurteilsstruktur auswirken könne: Die Weißen hätten sich aufgrund ihrer technischen Überlegenheit über andere Kulturen gestellt und damit deren Ausbeutung gerechtfertigt. Diese »anthropologische Grundannahme«, wonach der koloniale Rassismus eine (wenn auch besonders folgenreiche) Variante des grundmenschlichen Bedürfnisses nach Abgrenzung darstelle, kann aus einer postkolonialen Perspektive in Frage gestellt werden. Implizit wird bei der Annahme kultureller Vergleichbarkeit davon ausgegangen, dass unser Wissenssystem kulturell und historisch neutral sei. Es stellt demnach eine Grundlage dar, welche es ermöglicht, Kulturen über Zeit und Raum hinweg miteinander zu vergleichen. Aus einer postkolonialen Perspektive kann dem entgegengehalten werden, dass grundlegende Kategorien modernen Wissens, wie etwa Entwicklung, Fortschritt, Objektivität, ja Wissen selbst, in einem kolonialen Kontext entstanden und diesem verhaftet sind. Wenn Dipesh Chakrabarty von der gleichzeitigen Notwendigkeit und Unmöglichkeit spricht, Europa zu provinzialisieren, dann problematisiert er dieses Eingebundensein in Denkstrukturen einer eurozentrischen Wissensordnung, auf die wir sogar dann noch zurückgreifen, wenn wir sie kritisieren.42 Prozesse des kolonialen othering sind demnach konstitutiv für die Art und Weise, wie Identitäten in der Moderne herausgebildet und verhandelt werden. Damit setzt sich die postkoloniale Theorie doppelt von der These einer anthropologischen Kulturdifferenz ab: Sie versteht die koloniale Differenz und den modernen Rassismus als historische Phänomene und nicht als universal gültige Konstante. Gleichzeitig betont sie die Wirkmächtigkeit der kolonialen Wissensordnung: Rassische Differenzen lassen sich, als konstitutives Element der modernen Ordnung, nicht einfach mit (allen)43 innereuropäischen oder interstaatlichen Unterschieden gleichsetzen, weil sie gleichsam mit der modernen Bedingung der Möglichkeit verknüpft sind, Alterität zu denken. 2. Die Authentisierung anderer Kulturen: Ein zweiter Punkt betrifft das Bemühen, die Stereotypisierung anderer Kulturen zu berichtigen und diese stattdessen »authentisch« darzustellen. Renschler greift in ihrer Kritik an Globis Indianerbild dafür mehrmals auf die Arbeit der deutschen Ethnologin Eva Lips zurück, beispielsweise um zu zeigen, dass das Skalpieren nur beschränkt als indianische Besonderheit zu betrachten sei: Europäer hätten diese Praxis, die zuvor nur von bestimmten Indianern und nur am toten Feind vollzogen worden sei, mit Hilfe
41 | Renschler, »Hintergründe von Vorurteilen«, S. 7. 42 | Vgl. Chakrabarty, »Europa provinzialisieren«. 43 | Allerdings ist es eine wichtige Forschungsfrage, inwiefern innereuropäische Ausschlüsse (zum Beispiel von Fahrenden, Juden und Jüdinnen, Frauen, Arbeiterinnen und Arbeitern) mit kolonialen otherings verbunden sind – beispielsweise indem Proletarierinnen als Angehörige einer »niedereren Rasse« beschrieben und mit Mitteln diszipliniert werden, die auch im kolonialen Kontext zur Anwendung kommen. Vgl. dazu den Beitrag von Bernhard Schär in diesem Band.
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von Geldprämien angereizt.44 Die Stoßrichtung von Renschlers Analyse deckt sich an dieser Stelle mit dem postkolonialen Unterfangen: Was als Eigenart der »Indianer« gilt, nämlich das Skalpieren, lässt sich demnach auf Verflechtungen mit der europäischen Siedlergemeinschaft zurückführen. Indem Renschler aber versucht, die rassistische Bilderflut hinter sich zu lassen, um die Darstellung von »Indianern« zu authentisieren, stellt sie auf die Möglichkeit einer richtigen Repräsentation anderer Kulturen ab. Dieses Bemühen kommt beispielsweise bei ihrer Kritik an der oben geschilderten Geschichte mit der »Indianerin« zum Ausdruck, die von Globi einen Kinderwagen erhält: »Indianerinnen, die ihre Babies auf dem Rücken tragen, was für kleine Kinder durch den steten Körperkontakt mit der Mutter sehr gut ist, wird diese ›unmoderne‹ Betreuung von Globi ausgeredet«45 . Einerseits – und hier lässt sich Renschlers Analyse durchaus als postkoloniale Analyse avant la lettre lesen46 – macht diese Kritik ein koloniales Schema erkennbar: Herkömmliche Praktiken werden aus westlich-moderner Sicht als »rückständig« bezeichnet und verdrängt, ohne dass ihre eigene Rationalität ernst genommen und geprüft würde. Ironischerweise werden sie nicht selten später wieder eingeführt – ergänzt mit westlichen Theorien und eingebunden in eine kapitalistische Marktlogik.47 Andererseits unterscheidet sich Renschlers Analyse dann von einer postkolonialen Kritik, wenn sie in Anspruch nimmt, den richtigen Umgang der »Indianerin« mit ihrem Baby gegen Globi zu verteidigen. Die Vorstellung, diese würde die beste Form des Körperkontakts mit dem Kind kennen, mobilisiert das stilisierte Bild einer (noch nicht von der Zivilisation verdorbenen) Frau, welche von Natur aus weiß, was ihrem Kind gut tut. Ausgeschlossen bleibt dadurch die Möglichkeit, dass sie moderne Techniken wie den Kinderwagen bereits kennt oder selbst verwendet. Aus einer postkolonialen Perspektive ginge es darum, die Dekonstruktion von Globis Indianerbild weiter zu treiben: Nicht nur der »Indianer« mit Federschmuck, Tomahawk und Wigwam geht auf einen europäischen Mythos zurück, sondern auch die Vorstellung von »Indianern« als klar umrissene Gruppierung, die in einer eigenen Welt lebt, mit der Moderne nur nachträglich und am Rande in Berührung kommt und trotz einiger Binnendifferenzen eine gemeinsame und ursprüngliche Kultur aufweist. Nicht zuletzt muss reflektiert werden, dass eine solche Rekonstruktion der »Indianerkultur« oftmals auf einen Wissenskanon (wie etwa die Ethnologie) zurückgreift, welcher im Kontext kolonialer Wissensordnungen entstanden ist. 3. Das Vermeiden kultureller Hybridität: Wird der moderne Kulturbegriff mit seiner Vorstellung von rigiden Grenzen und seiner immanenten Fortschrittslogik 44 | Renschler, »Der krasse Rassismus«, S. 224. 45 | Ebd., S. 221. 46 | Vgl. dazu den Beitrag von Konrad Kuhn in diesem Band. 47 | So operiert das aktuelle Geschäft mit Babytragetüchern und Tragevorrichtungen mit einer Mischung aus wissenschaftlichen Erkenntnissen, modernsten Techniken und archaischem Wissen, das nicht selten, wie das Beispiel der Mei Tais zeigt, ethnisiert wird. (Mei Tais sind Babytragen, welche auf »traditionelle asiatische« Techniken zurückgehen sollen.)
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nicht dekonstruiert, kommt man nicht umhin, kulturelle Differenzen semantisch aufzuladen. Dass dabei stereotype Unterschiede reproduziert werden, zeigt folgende Passage aus Unser täglicher Rassismus: »Während bei uns [Europäern] Leistung, Strebsamkeit, Pünktlichkeit usw. besonders betont werden, stehen bei Indianern, Afrikanern, Asiaten, Eskimos, oder bei den Ureinwohnern Australiens Gastfreundschaft, Achtung vor den Älteren, das Befolgen religiöser Riten, der Gehorsam gegenüber den Stammesgesetzen weit über Leistung und Strebsamkeit.« 48
Die Grenzen zwischen »uns und ihnen«, Europa und dem Rest der Welt, modernen und traditionellen Werten, die in einer solchen Darstellung eingezogen werden, naturalisieren bestehende Kulturdifferenzen, anstatt ihre koloniale Genealogie sichtbar zu machen. Unsichtbar bleibt dabei auch die kulturelle Hybridität: Menschen mit Migrationsbiographien oder solche, die innerhalb nationalistischer Kategorien zu Anderen gemacht werden, sowie diejenigen, die sich keiner dieser ethnisch und geographisch aufgeladenen Kategorien zuordnen können oder auch wollen, bleiben ohne Repräsentation. Um diesen Punkt zu verdeutlichen, greife ich nochmals auf Renschlers wegweisenden Aufsatz zurück. Darin bespricht sie ein Bild von Globi, der durch New Yorks Straßen schlendert. Neben ihm sind ein schwarzer Matrose, ein Chinese, ein Mexikaner und zwei weiße Männer zu sehen. Dazu heißt es: »In New Yorks belebten Gassen/Sieht man Menschen aller Rassen/Weil’s in einer Hafenstadt/Schiffe aller Länder hat«49 . Renschler kritisiert zu Recht, dass die rassifizierten Menschen auf dem Bild »nach alten Klischees gezeichnet«50 sind. Die Sequenz ist allerdings nicht nur deshalb problematisch, weil sie koloniale Stereotype transportiert, sondern auch, weil sie von der Existenz klar abgegrenzter Rassen ausgeht, und diese territorial zuordnet. Mit der Vorstellung, in New York würden sich nur deshalb Menschen aus aller Welt aufhalten, weil sie dort vor Anker gegangen sind, wird der Ort als weiße Stadt imaginiert, in der sich nicht weiße Menschen auf der Durchfahrt befinden.51 Unsichtbar bleibt dabei die lange, globalisierte Immigrationsgeschichte der USA.52 48 | Renschler, »Hintergründe von Vorurteilen«, S. 7f. 49 | Renschler, »Der krasse Rassismus«, S. 232. 50 | Ebd. 51 | Der schwarze Matrose, der in der Globi-Geschichte durch New Yorks Gassen schlendert, ruft dabei besonders problematische Assoziationen auf: Zum einen macht er unsichtbar, dass Schwarze seit langem in den USA leben. Zum anderen zeichnet er ein Bild freiwilliger und gewaltfreier afrikanischer Migration, welches im Kontext des transatlantischen Sklavenhandels, in dem Millionen von Afrikanerinnen und Afrikanern unter brutalsten Bedingungen zur Übersiedlung nach Amerika gezwungen wurden, ungleich verharmlosend wirkt. 52 | Diese rassische Homogenisierung wird auch von dominanten US-amerikanischen Narrativen befördert. Vgl. dazu Lüthi, Invading Bodies.
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Mein Punkt ist also, dass der Bereich der Hybridität – dass Menschen über rassifizierte Grenzen hinweg zirkulieren und sich niederlassen, sich neu gruppieren und reproduzieren – in einer Rassismuskritik undenkbar bleibt, welche die Vorstellung von klar voneinander abgetrennten und territorial verankerten Gruppen aufrechterhält.53 Dies kommt auch in der Bezeichnung des Verzeichnisses Fremde Welten zum Ausdruck, einer seit 1975 bestehenden Liste von Kinder- und Jugendbüchern, die aus einer antirassistischen Optik ausgewählt werden.54 In der Einleitung der zwölften Auflage heißt es dazu, die ausgewählten Bücher »geben Ihnen Einblick in den Alltag und die Lebensbedingungen von Menschen anderer Völker und Kulturen und erlauben so, einmal über den eigenen Horizont hinaus in eine fremde Welt zu schauen«.55 Die Grenzlinien, die mit dieser Beschreibung gezogen werden, sind klar: Die Bücher werden zu Fenstern in eine andere Welt, die den imaginierten Leserinnen und Lesern ganz fremd sein soll.56 Zwischen den Zeilen wird deutlich, an wen sich diese Einleitung richtet, nämlich an weiße Schweizer Kinder, die mit den Ländern des Südens nicht vertraut sind.57 Weil damit von einer Trennung zwischen einer vertrauten, schweizerischen und einer fremden, außereuropäischen Welt ausgegangen wird, bleiben jene Kinder ausgeschlossen, die – beispielsweise weil sie an unterschiedlichen Orten gelebt haben oder Familienmitglieder mit unterschiedlichen Herkunftsgeschichten haben – in einem transkulturellen Kontext aufwachsen. Auch diejenigen Kinder, die in der Schweiz leben und sich scheinbar klar einer »fremden« Kultur zuordnen lassen, werden durch den Unterschied zwischen der »eigentlichen« und den »anderen« Kulturen darauf zurückgeworfen, dass sie die Anderen sind. Einerseits müssen sie einem Integrationsimperativ folgen, dessen Versprechen sie nicht einlösen können – sie werden nie gänzlich zu »Schweizer Kindern«. Andererseits werden sie auf eine Herkunft festgelegt, deren exotisierte Eigenart sie situativ repräsentieren müssen. Was Mark 53 | Zum Begriff des Hybriden vgl. Bhabha, Die Verortung der Kultur. Kritisch dazu Ha, Hype um Hybridität. 54 | Vgl. Renschler, »Kulturvermittlerin«, S. 224. 55 | Schär, »Vorwort«, S. 3. 56 | Zwar ist man bis heute dem Titel treu geblieben, im Pressetext zur neuesten Nummer von Fremde Welten vom Jahr 2010/2011 heißt es aber: »Für viele Kinder und Jugendliche ist heute das Zusammenleben mit Menschen aus anderen Kulturkreisen Realität und Normalität. Diese kulturell gemischte Gesellschaft spiegelt sich mit ihren Chancen und Schwierigkeiten auch in der Kinder- und Jugendliteratur.«, vgl. http://www.baobabbooks. ch/de/fremde_welten, 20.01.2011. Auch in dieser Beschreibung scheinen die »Kulturkreise« noch klar unterscheidbar zu sein, allerdings finden sie sich innerhalb der eigenen Gesellschaft wieder. Damit ist auch nicht mehr klar, welche Nationalität oder Ethnizität den potentiellen Leserinnen und Lesern zugeschrieben werden. 57 | Diese Adressierung lässt sich auch in anderen westlichen Ländern ausmachen: »There is the underlying assumption that all child readers are white, implying that children per se are white«, hält MacCann fest, MacCann, »The Sturdy Fabric «, S. 195.
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Terkessidis diesbezüglich für Deutschland festhält, lässt sich auch auf die Schweiz übertragen: »Hülya muss zum Sommerfest der Schule nicht nur Speisen aus ihrer ›Heimat‹ mitbringen, sie muss auch im Unterricht etwas über den Islam erzählen, über den sie möglicherweise gar nicht so viel weiß.«58 Kulturen sind gemäß diesem starren Verständnis nicht nur auf der Weltkarte, sondern auch im Innenleben von Migrantinnen und Migranten säuberlich geordnet und können je nach Bedarf abgerufen werden. Nur die weiße, westliche Position ist in dieser Wahrnehmung universal und partikular zugleich: Sie kann beliebig zwischen dem Verständnis wechseln, eine eigene Kultur zu sein und die Grundlage zum Verständnis aller anderen Kulturen zu liefern. Ein hybrider Ansatz bricht dieses Selbstverständnis auf doppelte Weise auf: Er macht den Prozess der Konstruktion sichtbar, der zu den scheinbar klar voneinander unterschiedenen Kulturen führt, legt dabei die eurozentrischen Prämissen frei und macht somit ein Verständnis möglich, das die Abgeschiedenheit und Getrenntheit von Kulturen als Effekt eines Prozesses des othering versteht und nicht als Ausgangspunkt möglicher Kulturbegegnungen und -konflikte. Wie diese Ausführungen zeigen, ermöglicht die postkoloniale Perspektive eine Weiterführung und Radikalisierung der Rassismuskritik an Kinderbüchern, die seit den 1970er Jahren in der Schweiz entwickelt worden ist. Dass sich in den vergangenen Jahren nicht nur die kritische Perspektive, sondern durch die Kritik gerade auch ihr Gegenstand verändert hat, sollen die nachfolgenden Ausführungen verdeutlichen.
K LEINE E INGESTÄNDNISSE UND GROSSE W IDERSTÄNDE : R E AK TIONEN AUF DIE R ASSISMUSKRITIK Während es antirassistischen Gruppierungen seit den 1970er Jahren gelang, Gegenpositionen im hegemonialen Diskurs zu verankern und gewisse Änderungen in der Repräsentationslogik herbeizuführen, wurden ihnen von Anbeginn auch Widerstände entgegengebracht. Anzeichen davon lassen sich bereits in der Reaktion auf Ursula Müllers Fernsehauftritte erkennen.59 Dass die Globi-Bücher innerhalb von kurzer Zeit zweimal in einer größeren Öffentlichkeit des Rassismus bezichtigt wurden, empörte den damaligen Leiter des Globi Verlags, Emil Bannwart. In den Schreiben an einen Sympathisanten spricht er von einer »Fernseh-Attacke« und vermutet, »dass es sich um ein übles Konkurrenz-Manöver handelt«60. Er zitiert 58 | Terkessidis, Interkultur, S. 78. 59 | Vor der erwähnten Antenne-Sendung hat Ursula Müller ihre Kritik an Globi bereits in einer Sendung des Schweizer Fernsehens mit dem Titel Wie stellt sich der Schweizer zur Entwicklungshilfe? vom 03.07.1971 geäußert. 60 | Brief des Verlagsleiters Emil Bannwart an Walter Trachsler vom 04.04.1972 (eingesehen im Archiv von Beat Frischknecht).
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dabei Notizen des Globi-Erfinders Schiele, der über die Antenne-Sendung schreibt: »Kein guter Faden. Vernichtende Bösartigkeit. Negative Wirkung. Der Standpunkt einer sachlich begründeten Rechtfertigung blieb aus.«61 Die anfängliche Strategie des Globi Verlags bestand somit darin, der Rassismuskritik die sachliche Grundlage abzusprechen und sie als dezidierten Angriff auf Globi und seine Macher darzustellen. In dieser Reaktion lässt sich das Moment des Viktimisierungsdiskurses erkennen, der die Schweizer Rassismusdiskussion bis heute durchzieht: Opfer von Diskriminierung, Ränkespielen, Machtverhältnissen und Angriffen sind demnach nicht diejenigen, die dem Rassismus ausgesetzt sind, sondern diejenigen, welche aufgefordert werden, ihre rassistischen Positionen aufzugeben. Doch anders als bei Schiele und Bannwart finden die Argumente antirassistischer Gruppierungen in den 1970er und 1980er Jahren vielerorts Gehör. In einem Artikel im Magazin des Tages-Anzeigers aus dem Jahr 1982 heißt es, die Verantwortlichen des Verlags »betonen im Gespräch alle unisono, dass sie diese Kritik [von Regula Renschler am Sexismus und Rassismus der Globi-Bücher] ernst nehmen und jene Einwände, die ihnen einleuchten, zu berücksichtigen versuchen; in der Tat sind die Neueditionen von einigen krassen Ausrutschern vor allem den Afrikanern (›Negerlein‹, ›Hottentotten‹, ›Wilde‹, ›ZuluKaffer‹) gegenüber gereinigt worden«.62
Die Kritik am Rassismus der Globi-Bücher hat demnach ein Gewicht erlangt, dem sich der Verlag nicht länger widersetzen kann. Bezeichnend für die neue diskursive Figur, die sich an dieser Stelle abzeichnet, ist die Koppelung eines halbherzigen Eingeständnisses mit dem Mahnfinger. Rassistische Elemente werden als vereinzelte Momente (»einige krasse Ausrutscher«) verstanden. Gleichzeitig wird die eigene Position als Stimme der Vernunft inszeniert, die sich vor zwei Aufgaben sieht: Die eine besteht darin, rassistische »Fehltritte« zu orten und gegebenenfalls zu korrigieren. Die andere Aufgabe wird darin gesehen, die Kritik in Schranken zu weisen und vor Übertreibungen zu warnen: So meint Hans M. Mahler, der damalige Chef des Globus-Konzerns, »die Kritik schiesse übers Ziel hinaus, verrate Überempfindlichkeit: ›Als die Globi-Bücher entstanden, hat kein Mensch auch nur einen Augenblick daran gedacht, sie könnten etwas mit Rassismus oder Sexismus zu tun haben. […] Unsere Absicht ist es ja, Freude zu bereiten, die Phantasie anzuregen, und sicher nicht, Weltanschauungen zu verbreiten.‹« 63
61 | Ebd. 62 | Meier, »Globi der Superschweizer«, S. 18. Ein aktueller Versuch des Verlags, eine kritische Forschungsarbeit zur Figur des Globi zu verhindern, wird dokumentiert in Kreis, »Copyright versus Zitierrecht?«. 63 | Ebd.
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Der Verfasser des Artikels stimmt dieser Einschätzung weitgehend zu, wenn er betont, dass die Kritik am Rassismus und Sexismus der Globi-Bücher »mimosenhaft« sei: »[D]enn in den dreissiger, vierziger und fünfziger Jahren nahm ja auch niemand Anstoss am freundlich nickenden Sonntagsschulnegerlein […]. Und Globi spielt sich den ›Mohren‹, Indianern, Eskimos und Asiaten gegenüber nicht durchwegs als Besserwisser auf, sondern erweist sich da und dort auch als hilfreich und kameradschaftlich, so, wenn er ein ›Negerlein‹ aus den Fängen einer fleischfressenden Pflanze befreit« 64.
Er selbst, so schließt der Autor, stoße sich viel mehr an Globis Patriotismus. Die Argumentation, die in dieser Darstellung entfaltet wird, ist wegweisend für die kommenden Diskussionen: Die Kritik wird auf weite Strecken zurückgewiesen, weil der Rassismus erstens in die Vergangenheit verlegt, die Kinderliteratur zweitens entpolitisiert, der Rassismusbegriff drittens eingeschränkt angewendet und viertens die größere Dringlichkeit anderer Probleme betont wird. Diese Muster lassen sich in Variationen bis in die Gegenwart verfolgen, wie ein kurzer Blick in einen aktuellen Globi-Band zeigt. Abbildungen 4 und 5: Globis schwarze »Freunde« vor und nach der Rassismuskritik, 1935 und 2007
In dem im Jahr 2007 publizierten Globi bei den Nashörnern scheint auf den ersten Blick vieles anders geworden zu sein: Globis afrikanischer Kollege ist nicht mehr ein namenloser und stummer Bediensteter, den Globi, im wahrsten Sinne des Wortes, mit Füßen treten kann (vgl. Abb. 4). Tom, der Nashornwärter, trägt eine Schildmütze, Turnschuhe und eine Uniform, lebt in einer modernen Welt und scheint mit Globi, der als Zeichen seiner kulturellen Offenheit ein afrikani64 | Ebd., S. 18f.
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sches Amulett trägt, auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten (vgl. Abb. 5). Doch eine eingehendere Analyse bringt sowohl altbekannte als auch neue koloniale Narrative zum Vorschein: So kommt Globi in Ostafrika einem illegalen Händlerring auf die Spur, welcher mit dem Horn von Nashörnern handelt. Den Hauptverantwortlichen macht Globi am Geruch seiner Küche aus: »Globi wittert mit dem Schnabel:/›Nichts für Messer, Löffel, Gabel‹,/denkt er und folgt dieser Spur./›Dies ist Hongkong-Küche pur!‹«65 Der Drahtzieher ist ein Chinese, der in einem Hinterhof sein Mahl kocht (vgl. Abb. 6 und 7). Abbildungen 6 und 7: Globi der Tierfreund, 2007
Globi lässt den Chinesen von der Polizei festnehmen und befreit die eingesperrten Kleintiere und Insekten, welche ihrer Verspeisung entgegensehen: »Dies ist pure Quälerei!/Globi lässt die Tiere frei.«66 Die Figur des chinesischen Kriminellen wird dabei in einer unverhohlen kolonialen Weise gezeichnet: Er quält Tiere, isst grausige Speisen, spricht das r als l aus und wird als »gelber Scherge« bezeichnet, der »mit List«67 spricht. Das Bild des zivilisierten Menschen wird in diesem Bild gleich zweifach untergraben: Zum einen dadurch, dass der Chinese Maden und Frösche verspeist, die als ekelhaft gelten. Zum anderen, weil der Verzehr von Haustieren wie Hunden als unethisch und gar unmenschlich gilt. Alte koloniale Konfigurationen überlappen sich mit neuen: Denn diese Kindergeschichte dokumentiert nicht zuletzt aktuelle westliche Ängste angesichts der wachsenden Bedeutung Chinas in Afrika. Der Chinese erscheint als schlauer Bösewicht, welcher die freundlichen, aber nichtsahnenden Ostafrikaner mit verschlagenen Tricks um ihre Ressourcen bringt. Globi schreitet als Schweizer Menschen- und Tierschützer ein und befreit die ostafrikanische Bevölkerung vom Joch chinesischer Krimineller, die Nashörner 65 | Lendenmann/Schmid, Globi bei den Nashörnern, S. 30f. 66 | Ebd. 67 | Ebd., S. 22f.
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vor ihrer drohenden Ausrottung und die gefangenen Tiere vor ihrem Verzehr.68 Die Figur des Schweizer Retters scheint in altbekannter Manier zu funktionieren, wenn auch Gefahr und Heil für Afrika unter den aktuellen globalisierten Bedingungen neu austariert werden und das Konzept der Partnerschaft eine bedeutsame Rolle spielt. Was Maria Eriksson Baaz für die skandinavische Entwicklungszusammenarbeit konstatiert, lässt sich auch auf Globis Geschichte anwenden: »Thus the partnership discourse itself remains characterized by a paternalism in which the donor identifies the problem, namely passivity and dependency, and promulgates the right treatment – teaching the partner how to get independent and use their own resources.«69 Im Sinn einer paternalistischen »Hilfe zur Selbsthilfe« und des »Empowerments von Frauen« handelt Globi in dieser Geschichte auch, wenn er die Idee einer afrikanischen Ladenbesitzerin aufgreift und ihr zeigt, wie Messergriffe aus Holz geschnitzt statt aus Nashorn hergestellt werden können.70 Dabei setzt er auf die Wiederbelebung und geschickte Umnutzung von bestehendem Wissen, dem Holzhandwerk. Mit seinem Vorschlag, die neuen Messergriffe mit einem Globi-Profil auszustatten, setzt sich dieser gleich selbst ein Denkmal.71 Auffallend ist, wie die Subjekte von Globis Entwicklungshilfe in neoliberaler Manier als Unternehmerinnen und Unternehmer adressiert werden. Die Rettung der eigenen Umwelt – dargestellt von den bedrohten Nashörnern – steht demnach in der Verantwortung afrikanischer Individuen, die ihr Problem mit unternehmerischen Mitteln und Schweizer Know-how lösen sollen.
V ERKEHRTE V ERHÄLTNISSE Rassismus, so zeigt eine postkoloniale Genealogie, ist in der Schweiz seit den 1970er Jahren ein Thema, das nicht mehr einfach zur Seite gelegt werden kann: Die Argumente antirassistischer Gruppen sind in dieser Zeit in den Bereich des Intelligiblen gelangt – sie wurden vermehrt gehört und haben an Überzeugungskraft gewonnen. Die vormals dominante Position, welche die Existenz des Rassismus negiert, wird dadurch zu einer Randposition, die – wie die veränderte Positionierung des Globi Verlags anfangs der 1980er Jahre zeigt – schwerlich aufrechterhalten werden kann. Obwohl die Rassismuskritik der 1970er Jahre somit eine diskursive Zäsur markiert, erweisen sich gewisse koloniale Denkmuster als persistent: Sie bleiben von der Kritik unberührt (wie das koloniale Narrativ von Kasperli als Helfer 68 | Vgl. dazu auch Purtschert, »Heute bedankt sich Naresh Khan«, S. 80f. 69 | Eriksson Baaz, The Paternalism of Partnership, S. 168. 70 | Lendenmann/Schmid, Globi bei den Nashörnern, S. 62f. 71 | An dieser Stelle ist etwa an den »Schwejzartschik«-Käse zu denken, der »in einem schweizerisch-kirgisischen Gemeinschaftsprojekt unter der Federführung der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza)« (Winkler, »Beim kirgisischen Bruder des Petit Suisse«, S. 5) in Kirgistan produziert wird.
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im Schorsch Gaggo, das bei der Neuauflage nicht angetastet wird) oder formieren sich neu (wie das Beispiel von Globi zeigt, der unter veränderten Vorzeichen noch immer als Retter und Aufklärer der afrikanischen Bevölkerung auftritt). Zugleich setzt sich eine beschränkte Anerkennung des Schweizer Rassismus durch, der allerdings nicht auf strukturelle Aspekte, sondern auf »einzelne Ausrutscher« und damit auf singuläre Täterschaften zurückgeführt wird. Diese Haltung, die rassistische Ereignisse individualisiert, kommt etwa in der Antwort des Bundesrates auf den Bericht des UNO-Sonderberichterstatters Doudou Diène über Rassismus vom 27. März 2007 zum Ausdruck: »Die von Herrn Diène angesprochenen Vorfälle seien zu bedauern […]. Allerdings, so der Bundesrat weiter, könne nicht von Einzelfällen auf eine generelle Dynamik von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im ganzen Land geschlossen werden«.72 Ein Nationalrat der Schweizer Demokraten fordert daraufhin in der Fragestunde vom 11. Juni 2007 den Bundesrat auf, »bei weiteren Provokationen« von Doudou Diène gegen diesen eine Einreisesperre zu verhängen. »Mit ›Rassismus‹-Vorwürfen will er offensichtlich das Terrain für eine weitere fremdkulturell-exotische Kolonisierung unseres Landes vorbereiten.«73 Diese Aussage widerspiegelt nicht nur eine Position der extremen Rechten in der Schweiz. In dieser Argumentation, welche die herrschenden Machtverhältnisse umkehrt und eine drohende Kolonialisierung der Schweiz nahelegt,74 kommt gleichsam eine extreme Variante jener Denkfigur zur Sprache, welche in aktuellen Diskussionen omnipräsent ist. Die Darstellung weißer Schweizerinnen und Schweizer als Opfer antirassistischer Kräfte, ein Aspekt, der auch das Gespräch von Dillier und Schneider durchzieht, stellt ein zentrales Element eines Gegendiskurses zur Rassismuskritik dar: Dieser changiert zwischen paternalistischer Besorgnis (»wir müssen dafür sorgen, dass nicht übertrieben wird«) und viktimisierter Aggression (»wir lassen uns nicht verbieten, so zu reden, wie wir wollen«). Letztere Position, die zunehmende Verbreitung findet, zeichnet sich durch die konsequente Umkehr der Opferlogik sowie eine mobilisierende Widerstandsrhetorik aus: Rassismuskritik wird in dieser Darstellung zu einem Herrschaftsinstrument in den Händen von Kräften, welche die Rede- und Handlungsfreiheit und somit die Grundlagen der Schweizer Demokratie bedrohen. Anstatt die langwährende Einbindung der Schweiz in (post-)koloniale Praktiken als problematisch für ihr demokratisches Selbstverständnis zu erachten, erscheint die Negation des Rassismus in dieser eigentümlichen Verkehrung der Macht- und Gewaltverhältnisse als Mittel zur Verteidigung der Demokratie. Die Figur des neutralen und selbstzufriedenen Schweizer Helfers und Retters hat Risse gekriegt – während er in Kinderbüchern weiterhin erfolgreich unterwegs ist, wird er in anderen diskursiven Kontexten von 72 | N. N., »Bericht des UNO-Sonderberichterstatters über Rassismus«. 73 | N. N., »Einreisesperre für Doudou Diène, den sogenannten UNO-Sonderberichterstatter gegen Rassismus«. 74 | Bezüglich des Arguments der umgekehrten Kolonisierung vgl. den Text von Francesca Falk im vorliegenden Band.
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einer wirkmächtigen Gestalt in den Schatten gestellt: vom Bild des rechtschaffenen Schweizers, der sich und sein Land gegen die Political Correctness und andere herrschaftskritische Kräfte verteidigen muss.
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Stoler, Ann Laura, Carnal Knowledge and Imperial Power. Race and the Intimate in Colonial Rule, Berkeley 2002. Terkessidis, Mark, Interkultur, Berlin 2010. Wollrad, Eske, »Kolonialrassistische Stereotype und Weiße Dominanz in der PippiLangstrumpf-Trilogie«, in: Benz, Wolfgang (Hg.), Vorurteile in der Kinder- und Jugendliteratur, Berlin 2010, S. 63-77. Winkler, Peter, »Beim kirgisischen Bruder des Petit Suisse. ›Schwejzartschik‹ aus der Milchquelle am Issyk-Kul«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 03.10.2005, http://www.nzz.ch/2005/10/03/al/articleD6VSY.html, 24.01.2012.
A BBILDUNGSNACHWEISE Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7
Globi Verlag, Globis Weltreise, Zürich 1935, o.S. Globi Verlag, Globis Weltreise, Zürich 1935, o.S. Plattencover von Kasperli Nr. 7, De Schorsch Gaggo reist uf Afrika, Zürich Ex Libris [1970] Globi Verlag, Globis Weltreise, Zürich 1935, o.S. Globi Verlag, Globi bei den Nashörnern, Zürich 2007, S. 29 Globi Verlag, Globi bei den Nashörnern, Zürich 2007, S. 31 Globi Verlag, Globi bei den Nashörnern, Zürich 2007, S. 31
Geschlecht im Schweizer Migrationsdiskurs Die postkoloniale Konstruktion der »unterdrückten Muslimin« und die rassistische Verwendung des Schleiers Meral Kaya Die Parlamente Belgiens und Frankreichs haben sich im Jahr 2010 für ein Gesetz ausgesprochen, welches das Tragen eines Ganzkörperschleiers im öffentlichen Raum verbieten soll. Auch in der Schweiz wurde seit dem Erfolg der Minarettinitiative heftig über das Phänomen des Ganzkörperschleiers diskutiert.1 So forderte der Kanton Aargau mit einer Standesinitiative ein nationales Burkaverbot, und im Tessin wird ein Verhüllungsverbot im Rahmen einer kantonalen Volksinitiative zur Abstimmung kommen.2 In der Schweiz aber gibt es kaum Frauen, welche einen Ganzkörperschleier tragen3, genauso wenig in Belgien, wo die Zahl der sogenannten Ganzkörperschleierträgerinnen auf einige Dutzende geschätzt wird. In Frankreich kommen diese vor kurzem in die Öffentlichkeit katapultierten Frauen auf die Zahl von 2000.4 Gemeinsam ist den Verbotsbefürworterinnen und -befürwortern in diesen drei Ländern das vermeintliche Hauptmotiv in der Debatte, 1 | Aus medienwirksamen Gründen wird dieser Schleier auch fälschlicherweise Burka genannt, obwohl das Tragen der Burka in Europa kaum verbreitet ist. Die Burka ist ein Schleier, welcher den ganzen Körper und das Gesicht verhüllt. Die Augenpartie wird dabei zusätzlich durch ein Stoffgitter bedeckt. In Europa häufiger anzutreffen sind der Tschador oder das Niqab, oft in Kombination miteinander getragen. Der Tschador ist ein schwarzes Tuch, welches als Umhang um Körper und Kopf getragen wird. Das Gesicht bleibt dabei frei. Das Niqab ist ein Gesichtsschleier, welcher bloß die Augenpartie freilässt. Die falsche Begrifflichkeit zeigt den symbolischen Gehalt der Debatte, welche nicht den Anspruch hat, auf wahrheitsgetreuen Fakten zu basieren. Ich vermeide im vorliegenden Artikel den Begriff der Burka bewusst. 2 | N. N., »Burkaverbot wird Abstimmungsthema«, in: Neue Zürcher Zeitung Online vom 19.05.2011. 3 | Hollenstein, »Widmer-Schlumpf erwägt Burka-Verbot«, in: Neue Zürcher Zeitung Online vom 08.11.2009. 4 | Baspinar, Deniz, »Burkaverbot, einig Vaterland«, in: Die Zeit Online vom 01.05.2010.
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nämlich die Gleichstellung der Geschlechter. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass sich diese Diskussion bei näherer Betrachtung als eine Stellvertreterdebatte erweist. Unter dem Vorwand der Geschlechtergleichheit wird in diesen Debatten vor allem eine harte Linie in der Migrations- und Integrationspolitik legitimiert. In diesem Artikel wird aufgezeigt, dass die Art und Weise, wie die Debatten zu Kopftuch und Ganzkörperschleier geführt werden, kolonialer Natur sind. Dabei zeigen sich nochmals viele Aspekte, die Edward Said bereits 1978 in seinem Werk Orientalismus aufgezeigt hat. Der Orient, laut Said eines der ältesten Kolonialgebiete Europas, ist demnach eine Erfindung der europäischen Kultur.5 Bei dem Diskurs über den Orient handelt es sich um einen spezifisch westlichen Stil der Herrschaft, eine Autoritätsausübung gegenüber dem kolonialen Anderen, die sich unter anderem wissenschaftlicher Mittel bedient. Dadurch, dass das vermeintlich Fremde der eigenen Kultur, der Orient dem Okzident, gegenübergestellt und als unterlegen dargestellt wird, gewinnt die europäische Kultur an Stärke und Identität.6 Die Überlegenheit der eigenen Kultur wird insbesondere durch Bevormundung durchgesetzt. So werden Verbote, Gesetze und Zurechtweisungen zur Voraussetzung der Anpassung an die westliche Kultur. Dieser Prozess kann auch in gegenwärtigen Gesellschaften beobachtet werden und kommt insbesondere in den sogenannten Integrationsvorstellungen zum Ausdruck. Dieser koloniale Hintergrund macht erst deutlich, warum ein Stück Stoff, das zum Symbol der Unterdrückung der muslimischen Frau geworden ist, so viel Aufruhr verursacht und verboten werden soll. Der gegenwärtige Diskurs zur »Befreiung« muslimischer Frauen wird jedoch nicht – wie man annehmen könnte – bloß von altbekannten rechtspopulistischen Akteuren und Parteien geführt, er wird auch von linken und feministischen Gruppen sowie der Gesellschaft im Allgemeinen getragen. Diesen unterschiedlichen Akteuren und Akteurinnen entsprechend liegt der Fokus dieses Artikels zum einen auf den Debatten in einer breiten Öffentlichkeit, dem Mainstream, weil diese am meisten gehört und durch die Medien verbreitet werden. Zum anderen wird sich der Blick auf die Rolle von gewissen westeuropäischen Feministinnen richten und veranschaulichen, inwiefern ein islamophober Diskurs diesen zugutekommt. Schließlich soll auch auf die wenig gehörten kolonialismuskritischen feministischen Gegenstimmen eingegangen werden.
D OMINANZ DER M EHRHEITSGESELLSCHAF T Um diese Debatten über die muslimische Kultur und die von ihr ausgehende Unterdrückung der muslimischen Frau verstehen zu können, müssen in einem ersten Schritt die hierarchisch aufgebaute Schweizer Gesellschaft und deren Machtverhältnisse betrachtet werden. Der Diskurs in Politik, Wissenschaft und in 5 | Said, Orientalismus, S. 8. 6 | Ebd., S. 10.
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den Medien vermittelt eine spezifische Vorstellung von Kultur, die als eine homogene, statische und nationale Einheit betrachtet wird. Durch Migration und Differenz, das heißt durch die vermeintlich pathologische und fremde Kultur, die »eindringt«, wird nach dieser Logik die Ordnung und Stabilität der Gesellschaft gefährdet.7 Die Reduktion von bestimmten Migrantinnen und Migranten auf eine spezifisch andere Kultur setzt einen sozialen Exklusionsmechanismus in Gang, welcher Minderheiten schafft, diese (fast immer negativ) etikettiert und gleichzeitig die Privilegien einer dominanten Mehrheit zementiert.8 Ausgrenzung und Diskriminierung sind die Folgen dieser Zuschreibungsprozesse, die mit Bezug auf Ethnizität und Geschlecht durch die Dominanzgesellschaft ausgeführt werden. Im Verlauf dieses Prozesses wird die eigene Gruppe kontinuierlich aufgewertet, während die Gruppe der Migrierten abgewertet wird.9 Zudem werden Eigen- und Fremdgruppen nach Kriterien definiert, die als »natürlich« und dadurch nicht veränderbar angesehen werden.10 Im Zuge dieser Aufwertung wird die Machtposition derjenigen dominanten Gruppe nochmals unterstrichen, welche die territorialen und nationalstaatlichen Rechte beansprucht.11 Ein zentraler Effekt dieser Logik ist, dass die sogenannten Integrationsprobleme von Migrantinnen und Migranten diesen selbst zugeschrieben werden können. Die Migrationspolitiken des eigenen Staates hingegen geraten fast nie in Kritik. Anstatt die strukturellen Dimensionen der sogenannten Integrationsproblematik zu thematisieren, welche die ganze Gesellschaft betreffen, werden Sündenböcke kreiert, die von der eigenen Mitschuld und Verantwortung ablenken. Eine solche Sichtweise fordert von einer zugewanderten Minderheit, sich dem Lebensstil der Dominanzgesellschaft anzupassen. In dieser einseitigen Angleichung zeigt sich der Universalitätsanspruch Letzterer, sprich der Eurozentrismus des Westens.12 In dieser eurozentrischen Tradition kann auch der aktuelle Diskurs über den Islam verortet werden. Tendenziell wird alles, was nicht christlich-abendländisch ist, als eine der eigenen Kultur unterlegene Lebensweise betrachtet. Diese Einschätzung ist ein Produkt der langen und vom Kolonialismus geprägten Beziehung von Okzident und Orient, einer Beziehung, die von Macht, Herrschaft und Hegemonie gezeichnet ist.13 Dazu gehört auch die Produktion einer Angst vor dem Islam. Sie bedient sich der Vorstellung, dass der auf harter Arbeit beruhende freiheitlich-demokratische Staat durch eine äußere und fremde Kraft, den Islam, gefährdet werde. Dieser orientalistische Rassismus beschränkt sich nicht bloß auf die Behauptung der Überlegenheit der eigenen Gruppe, sondern fordert die Un7 | Liell, »Die Skandalisierung von Differenzen«, S. 270. 8 | Butterwegge, »Normalisierung der Differenz«, S. 72. 9 | Stecklina, »›Kleine Jungs mit zu großen Eiern‹«, S. 82. 10 | Hauck, Die Gesellschaftstheorie und ihr Anderes, S. 48. 11 | Bukow, Feindbild: Minderheit, S. 66. 12 | Vgl. Chakrabarty, »Europa provinzialisieren«, S. 284ff. 13 | Said, Orientalismus, S. 14.
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terdrückung und Beherrschung der anderen Gruppe durch Gesetze. Womit wir wiederum beim Beispiel des Kopftuches sind: Ein Effekt der aktuellen Konstruktion des »frauenfeindlichen muslimischen Mannes« und der »armen unterdrückten muslimischen Frau« ist die Einforderung von Sondergesetzen, welche die scheinbar defizitären Subjekte nach europäischen Maßstäben leiten und formen können.
W IE DER W ESTEN DIE G ESCHLECHTERVORSTELLUNGEN KOLONISIERT Schon zu Zeiten des Kolonialismus galt es, die »indigene« Frau vor ihrer eigenen, frauenverachtenden Kultur zu retten. Die »zivilisatorischen« Eingriffe der Kolonialmacht wurden, wie Gayatri Chakravorti Spivak ausführt, mit der Vorstellung, »[w]eiße Männer retten braune Frauen vor braunen Männern«14 , legitimiert. Für die postkolonialen Debatten der Gegenwart rund um das Kopftuch und den Ganzkörperschleier gilt der Krieg in Afghanistan als zentrales Ereignis. Nebst der Bekämpfung der Terroristen wurde dieser als wichtiger Beitrag zur Befreiung der afghanischen Frauen angesehen. Dafür setzte sich nicht nur der damalige Präsident der Vereinigten Staaten, George W. Bush, sondern auch die First Lady, Laura Bush, ein.15 Im Gegensatz zu solchen direkten kolonialen Eingriffen, kann innerhalb von westlichen Gesellschaften von einem diskursiven Kolonialismus gesprochen werden, der sich aber, wie noch zu zeigen sein wird, auch in konkreten Praktiken, insbesondere im Bereich der Migrationspolitik, niederschlägt.16 Dabei handelt es sich um ein System, das auf ungleichen Machtverhältnissen, Hierarchien, Ethnozentrismen und andere Formen kultureller Dominanz beruht und diese reproduziert. Es kommt zur Auslöschung der Heterogenität der analysierten Subjekte, denen auch jegliche Art von aktiver Rolle oder Selbständigkeit abgesprochen wird: Sie werden zu analysierten Objekten. Die vermeintlichen Unterschiede werden der Kultur zugeschrieben, während historische und politische Fakten nicht nur nicht berücksichtigt, sondern als nicht relevant betrachtet werden.17 So wird zum Beispiel der Kontext der globalen Hegemonie der westlichen Wissenschaft, welche über Produktion, Publikation, Verbreitung und Konsum von Information und Ideen verfügt, nicht berücksichtigt und dadurch auch die direkte und aktive Machtausübung der Ersten Welt ignoriert. 18
14 | Spivak, Can the subaltern speak?, S. 78. Auch damals schon spielten weiße Frauen, wie zum Beispiel Frauen von Kolonialherren oder Missionsfrauen, eine bedeutsame, wenn auch zweitrangige Rolle. 15 | Mahmood/Hirschkind, »Feminism, the Taliban, and Politics of Counter-Insurgency«, S. 341. 16 | Mohanty, Feminism Without Borders, S. 40. 17 | Abu-Lughod, »Do Muslim Women Really Need Saving?«, S. 784. 18 | Mohanty, Feminism Without Borders, S. 21.
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Ein signifikantes Beispiel für die westliche Deutungshegemonie ist die Konstruktion der nicht westlichen Frau. Wie Chandra Mohanty in »Feminism Without Borders« ausgeführt hat, werden »Dritte-Welt-Frauen« aus einer westlichen Perspektive als religiös (»nicht fortschrittlich«), familienorientiert (»traditionell«), unaufgeklärt (»sind sich ihrer Vernunft nicht bewusst«), unbelesen (»unwissend«) und häuslich (»rückständig«) definiert.19 Auch innerhalb feministischer und linker Kontexte wird die »Dritte-Welt-Frau« in einen Gegensatz zur westlichen emanzipierten Frau gesetzt. Durch die Konstruktion dieses spezifischen Unterschiedes, so Mohanty, vereinnahmen, reduzieren und kolonisieren westliche Feministinnen die Vielschichtigkeit der Lebenssituationen von nicht westlichen Frauen.20 Die Tatsache, dass unterschiedlichste Frauen als eine homogene Gruppe konstruiert, Geschlecht als einziger Ursprung von Unterdrückung angesehen und alle anderen strukturellen Machtverhältnisse ausgeblendet werden, zeigt die einseitige und für den postkolonialen Diskurs typische Betrachtungsweise auf. Konkret hat das zur Folge, dass die prekären Situationen von Migrantinnen ihrer spezifischen Kultur zugeschrieben werden. Für viele Frauen mit Migrationshintergrund sind es aber strukturelle und politische Hindernisse, welche ihnen den Zugang zu spezifischen Rechten verwehren. So wäre der Schutz vor häuslicher Gewalt für Migrantinnen in der Schweiz ein wichtigeres Thema als die momentan geführten Debatten zu Schleiern. Migrantinnen schrecken eher als ihre Schweizer Leidensgenossinnen davor zurück, sich von ihren gewalttätigen Ehemännern zu trennen, weil sie dadurch ihren Aufenthaltsstatus, welcher oftmals an die Männer gekoppelt ist, verlieren könnten. In Frankreich war die Debatte über das Kopftuch sehr stark von der Instrumentalisierung der Geschlechtergerechtigkeit geprägt. Der einzige Weg zur Emanzipation der Frau wurde in einem Leben ohne Kopftuch gesehen. Gleichzeitig wurden soziale Probleme, vor allem in den Banlieues, von der Regierung und den Mainstreammedien auf die muslimische Kultur beschränkt, ohne dabei andere wichtige sozioökonomische und historische Faktoren, wie die koloniale Vergangenheit Frankreichs, zu beachten. Die Banlieues wurden zum Symbol und zum Beweis für die Kultur der »Anderen«. Elise Thiébaut, eine Feministin und ehemalige Kommunistin in Frankreich, scheute nicht davor zurück, das Kopftuch mit einer Vergewaltigung gleichzusetzen: »parler du voile, c’est parler du viol«21 . Diese undifferenzierte Haltung blendet aus, dass es Frauen gibt, die das Kopftuch aus eigenem Willen tragen. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass das Kopftuch für viele junge Migrantinnen eine wichtige identitätsstiftende Rolle spielt und sich oftmals gegen die Bevormundung durch die Mehrheitsgesellschaft richtet.22 Solche Aspekte geraten aus dem Blick, wenn nicht muslimische europäische Menschen über muslimische 19 | Ebd., S. 40. 20 | Ebd., S. 19. 21 | Thiébaut, »Tous voiles dehors«, S. 1. 22 | Strahm, »Schleiersichten«, S. 12.
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Frauen und ihre vermeintlich furchtbaren Lebenssituationen urteilen. Ein Großteil der Frauen, die sich in der öffentlichen Debatte zu Kopftuch und Ganzkörperverschleierung äußern, sind nicht muslimische Frauen, sondern Europäerinnen aus der Mittelklasse. Betroffene Muslimas hingegen kommen kaum zu Wort, und wenn doch, handelt es sich um immer dieselben »Vorzeigekopftuchträgerinnen«. Dadurch erfolgt die Diskussion über die muslimische Frau weitgehend aus einer Außenperspektive. Durch diese externe Beurteilung der Situationen muslimischer Frauen können diese nicht als eigenständige und handlungsfähige Subjekte sichtbar werden, die ganz unterschiedliche Leben führen, differente Werte vertreten und in unterschiedlichsten Beziehungen zur (islamischen) Religion stehen. Gezeigt werden sie nur als Opfer, obwohl es gerade die diskursive Anordnung der Mehrheitsgesellschaft ist, die sie zu diesen Opfern stilisiert.
Ü BER DIE S CHWEIZER I DENTITÄT UND DIE A NDEREN Was in Frankreich schon seit längerem aufgrund der Kopftuchdebatten Thema war, begann in der Schweiz erst mit der Minarettinitiative, bei welcher die Gleichstellung der Geschlechter offensiv als Argument für eine rassistische Initiative benutzt wurde. Obwohl bereits vor der Minarettinitiative andere menschenverachtende Initiativen lanciert wurden, kam mit dieser spezifischen Initiative ein neues Phänomen auf. Die muslimische Frau stand plötzlich im Zentrum der öffentlichen Debatten. Was zuvor im Freundeskreis, im privaten Rahmen und vereinzelt diskutiert worden war, wurde nun zur Staatssache und zu einem Problem für die Allgemeinheit. Das Schema dieser Instrumentalisierung der muslimischen Frau sieht, ob in Frankreich oder in der Schweiz, ähnlich aus. Die männliche Dominanz und die Unterdrückung der Frau werden systematisch als muslimische Eigenschaften dargestellt. Die muslimische Kultur wird als sexistisch angesehen und die Unterdrückung der Frau zur muslimischen Angelegenheit erklärt. Dabei wird die freiheitlich-westliche Identität in den Debatten um die Minarettinitiative und nun aktuell um den Ganzkörperschleier konsequent den muslimischen Anderen gegenübergestellt. Deren Kultur wird als archaisch, sexistisch und äußerst gewalttätig konstruiert. Die muslimische Frau gilt als Opfer per se, der muslimische Ehemann, Vater oder Bruder als intrinsisch frauenfeindlich. Die ehemalige SVP-Nationalrätin Jasmin Hutter äußerte sich in ihrem Referat mit dem Titel »Rechtlose Frauen im Islam« folgendermaßen zur Rolle der muslimischen Frau: »›Allahs Töchter‹ sind rechtlos. In den Westen eingewanderte Musliminnen stehen häufig unter dem Joch ihrer Männer. Allzu oft – faktisch eingesperrt in der eigenen Wohnung – auch hilflos der Gewalt ausgeliefert. Viele werden Opfer von Zwangsheiraten, allzu oft Ausgangspunkt für ein unfreies Leben in misslicher Lage.« 23 23 | Hutter, »Rechtlose Frauen im Islam«.
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Auch SVP-Nationalrat Dominique Baettig stellt »die Moslems« der »modernen westlichen Welt« gegenüber.24 Er spricht ausdrücklich über eine Kategorie Moslem, die »die positiven Errungenschaften unserer Kultur – Toleranz, Gleichstellung der Geschlechter, Respekt, Dialogbereitschaft«25 – destabilisieren würde. Die zur Beschreibung des Islams benutzten Adjektive sind klar negativ konnotiert. Die muslimische Kultur sei, im Gegensatz zu der gesicherten Geschlechtergleichheit in der Schweiz, männlich geprägt. Der Sexismus des Moslems wird als Bestandteil seiner Kultur und damit als gewöhnlich und alltäglich dargestellt. Diese Argumentation weist die Unterdrückung von Frauen den kulturell Anderen zu, während der Sexismus von nicht muslimischen Schweizer Männern dadurch außergewöhnlich und zur Ausnahme wird. Mit anderen Worten: Während der muslimische Mann qua seiner Kultur immer schon sexistisch ist, wird der Sexismus des Schweizers als ein individuelles Problem betrachtet, welches nichts mit seiner Kultur zu tun hat. Dieser Entlastungsdiskurs für westliche Männer führt dazu, dass das Problem der »Frauenunterdrückung« den Anderen zugeschoben wird und für sie kein Handlungsbedarf mehr zu bestehen scheint.
D IE I NTEGR ATION WEISSER F EMINISTINNEN IN DEN M AINSTRE AM Für viele Feministinnen waren und sind solche islamophoben Debatten ein Ticket in den Mainstream. So konnten sich einige feministische Gruppen und Akteurinnen, die zuvor verpönt waren, durch die gegenwärtige Islamdebatte größeres Gehör und vermehrt Anerkennung verschaffen. Die zuvor in der Öffentlichkeit eher belächelten Feministinnen scheinen plötzlich ernst genommen zu werden – auf Kosten allerdings von muslimischen Frauen. Beispielhaft für diese Entwicklung ist Alice Schwarzer, auf die im Folgenden kurz eingegangen werden soll. Schwarzer, deutsche Journalistin und Starfeministin par excellence, Verlegerin und Chefredakteurin der feministischen Frauenzeitschrift EMMA, gilt als eine führende Feministin im deutschsprachigen Raum und ist deshalb auch für die Schweiz von Bedeutung. Sie spricht sich neben einem »Burka«-Verbot auf der Straße auch für ein Kopftuchverbot an Schulen aus. Die muslimische Frau, welche einen Ganzkörperschleier trägt, beschreibt sie als ihrem Mann total unterwürfig. Den Begriff »freiwillig« setzt sie in Anführungs- und Schlusszeichen, um klar zu machen, dass es keine Frauen geben kann, die freiwillig einen Schleier tragen würden. Weiter sieht Schwarzer im Kopftuch die Bewegungsfreiheit und die Sicht der Frau eingeschränkt. Sie würde auf der Straße durch das Kopftuch gefährdet. Vor allem aber würde ihr Blick auf die Welt eingeschränkt. Sie tritt für ein Kopftuchverbot an Schulen ein, damit die Mädchen nicht als die »Anderen« stigmatisiert würden und 24 | Baettig, »Die Bedeutung der Initiative gegen den Bau von Minaretten«, Referat vom 08.07.2008. 25 | Ebd.
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eine Idee von wahrer Wahlfreiheit entwickeln könnten. Das Problem des Rassismus, der »die Anderen« erst als solche konstruiert, wird unsichtbar gemacht beziehungsweise an die betroffene Minderheit delegiert. In ihrem Pamphlet »Integration ist möglich«, das ein Auszug aus dem Abschlussbericht der Zukunftskommission NRW ist, fordert Schwarzer eine Integration, die »auf der Basis unseres Rechtsstaates […], inklusive der Gleichberechtigung der Geschlechter« beruhe.26 Weiter geht sie darauf ein, dass in muslimischen Familien »die Mütter eingesperrt, die Töchter entrechtet und die Söhne verhetzt« würden.27 Die männlichen Mitglieder der muslimischen Gemeinschaft seien gefangen im Männlichkeitswahn, der mit Dominanz und Gewalt verknüpft wird. Deshalb fordert Schwarzer eine selbstbewusste Darstellung »unserer Werte, die ja auch für die Mehrheit der MuslimInnen ein Gewinn wären«.28 Ihre Darstellung muslimischer Familien geht ausschließlich von Extremen aus, die von Gewaltvorstellungen durchtränkt sind. Indem sie auf die Gewalt der muslimischen Kultur hinweist, agiert sie selbst gewalttätig, da sie die Menschen in starre Rollen drängt, fixiert und festschreibt. Ihre Argumentationsweise, welche das muslimische Gegenüber als unaufgeklärt darstellt und ihm jegliche Mündigkeit und Urteilsfähigkeit abspricht, ist typisch für einen kolonialen Feminismus, der sich über Frauen anderer Kulturen und Länder stellt. Die Gleichberechtigung, die Schwarzer anspricht, scheint für Frauen untereinander nicht zu gelten. Denn die freie Wahl, über ihren eigenen Körper zu entscheiden, bleibt der muslimischen Frau in dieser Argumentation verwehrt. Wie aber kann diese Bevormundung von Musliminnen durch westliche Feministinnen erklärt werden? Ein kontroverser Befund könnte lauten, dass sich Europäerinnen zurzeit auch auf Kosten von Migrantinnen emanzipieren. In der Gegenüberstellung zur unterdrückten muslimischen Frau kann sich die westliche Frau in ihrer Selbstwahrnehmung als befreite und emanzipierte Frau bestärken.29 Paradox an diesem postkolonialen Blick auf die Andere ist, dass europäische Mittelschichtfrauen seit langem von Migrantinnen profitieren. Das beste Beispiel dafür ist die Entlastung: Oft stellen doppelbelastete, berufstätige Frauen Migrantinnen für die Familien- und Hausarbeit ein. Die Arbeitsteilung und Hierarchie zwischen den Geschlechtern bleibt dabei unverändert, da sie durch eine Hierarchie zwischen einheimischen und zugewanderten Frauen kompensiert wird. Die Geschlechterungleichheit wird ausgelagert und keineswegs gelöst.30 Die europäische Frau kann sich in solchen postkolonialen Diskursen zudem zur Retterin der 26 | Schwarzer, Alice, »Integration ist möglich!«, auf ihrer Homepage im April 2009. Siehe auch den Abschlussbericht der Zukunftskommission NRW: „Innovation und Soldarität“, April 2009: http://files1.derwesten.de/flashmm/PDF/zukunftskommission/Abschlussbericht.pdf? short=abschlussbericht. 27 | Ebd. 28 | Ebd. 29 | Strahm, »Schleiersichten«, S. 7. 30 | Lenzin, »Der andere Blick«, S. 20.
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Muslimin aufschwingen. Dorothee Wilhelm präzisiert in der Wochenzeitung richtig: »Besser zu wissen, was für Muslimas gut ist, als die diversen Muslimas selbst, ist sicher nicht feministisch, sondern Kolonialismus pur«.31 Eine problematische Folge dieser asymmetrischen Diskussionslage ist zudem, dass muslimische Frauen in eine Rechtfertigungssituation gestellt werden, statt dass sie eine Diskussion auf Augenhöhe führen können.
S TIMMEN GEGEN DIE I SL AMOPHOBIE Es gibt auch feministische Stimmen gegen den paternalistischen Diskurs über muslimische Frauen. Anhand von zwei Beispielen, der Kopräsidentin der SP Frauen Schweiz Julia Gerber Rüegg sowie des Interreligiösen Think-Tanks, sollen im Folgenden die Möglichkeiten und Grenzen dieser Positionen aufgezeigt werden. Julia Gerber Rüegg richtet sich gegen die Instrumentalisierung von Geschlecht und kritisiert deshalb auch die Strategie der SVP. Diese, die sich als »Hüter der Frauenrechte« darstellt, appelliert nun plötzlich an Toleranz und Gleichstellung, hatte sich aber noch 2001 dagegen ausgesprochen, Vergewaltigungen in Ehen als Offizialdelikt zu betrachten – nicht zu reden von der aktuell geführten Antiabtreibungsdebatte.32 Deshalb sprach sich Rüegg vehement gegen das Minarettverbot aus und sieht auch keinen Grund, den Ganzkörperschleier zu verbieten, da es für ein solches Verbot in der Schweiz keinen Handlungsbedarf gebe. Sie betrachtet aber die »Burka« nichtsdestotrotz als eine Menschenrechtsverletzung. Die den Frauen in »extrem patriarchalen Gesellschaften aufgezwungene Burka« sei, so Julia Gerber Rüegg, »überall auf der Welt inakzeptabel«33 . Der Zwang zur Verhüllung raube den muslimischen Frauen ihre Identität, schränke sie massiv in der Kommunikation ein und behindere schließlich »ihre Teilhabe an der Gesellschaft, Kultur und Politik«34 . Stattdessen sollen sie sich auf »das Recht auf Selbstbestimmung, Sicherheit und Bildung«35 berufen können. Im Verlauf ihrer Argumentationen kommt es aber schließlich zu subtilem Rassismus, vor allem wenn sie sich mit dem Thema der Freiwilligkeit auseinandersetzt. So geht Rüegg zu Beginn zu Recht auf die materielle Abhängigkeit mancher Frauen ein, aufgrund derer sie sich nicht von ihren Männern trennen und emanzipieren würden. Aber auch sie erachtet die sogenannten kulturellen Unterschiede als Hauptproblem, anstatt sozioökonomische und politische Hindernisse zur Emanzipierung von Migrantinnen zu benennen. Problematisch ist der folgende Abschnitt aus ihrem Text »Freiwillig?«: 31 | Wilhelm, »Zum Schutz von Weib und Kind?«, in: Wochenzeitung Online vom 03.12.2009. 32 | Gerber Rüegg, »Freiwillig?«. 33 | Gerber Rüegg, »2010 – das Jahr der Frauenrechte«. 34 | Ebd. 35 | Gerber Rüegg, »Freiwillig?«.
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M ERAL K AYA »Wenn ich vor der Güterabwägung stünde, unter der Knute, aber materiell gesichert und in meinem engeren Umfeld geachtet oder als allein stehende Frau frei, aber verstossen und im Elend zu leben, dann würde ich mich vermutlich auch ›freiwillig‹ verschleiern, in der Ehe ausharren und auf Befehl meine Beine spreizen.« 36
Der Schleier wird hier mit einer Ehe gleichgesetzt, in welcher die Frau ihrem Mann gänzlich ausgeliefert ist, und es wird nicht als möglich erachtet, dass der Schleier freiwillig getragen wird. Emanzipation, so Gerber Rüegg, sei mit Selbstbewusstsein und Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erreichen. Indem vorgegeben wird, strukturelle Probleme seien über das Selbstbewusstsein der betroffenen Migrantinnen zu lösen, wird die Problematik erneut auf die Eigenverantwortung der Migrantinnen abgeschoben. Dass auch Schweizer Bürgerinnen und Bürger zum Handeln aufgefordert sind, bleibt ausgeblendet. Zudem wird hier wiederum eine Verallgemeinerungstendenz sichtbar, da nicht jede Frau, die sich vornehmlich um den Haushalt kümmert, unglücklich mit ihrer Situation sein oder sich in einer Abhängigkeit befinden muss. Da die einzige »Emanzipationsmöglichkeit« von Migrantinnen oftmals darin besteht, als Putzfrau oder Hilfskraft zu arbeiten, gibt es genügend Frauen, welche die Arbeit als Hausfrau bevorzugen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Hauptparolen von Julia Gerber Rüegg bezüglich der Frauen- und Menschenrechte zunächst überzeugend klingen, sich vor allem für Migrantinnen aber allzu oft als leeres Gerede entpuppen. Das Argument der Selbstbestimmung stellt sich als Widerspruch heraus, da den Migrantinnen die Autonomie – etwa bei der Frage um den Ganzkörperschleier – gerade abgesprochen wird. Verwendet wird also ein problematischer Begriff der Selbstbestimmung, der bereits vordefiniert ist. Unreflektiert bleibt auch, dass die Teilhabe an Politik, Gesellschaft und Kultur nicht nur aufgrund des Geschlechts, sondern auch wegen der sozialen und ethnischen Zugehörigkeit und fehlenden oder unzureichenden Papieren verunmöglicht wird. Auch wenn Julia Gerber Rüegg gute Ansätze in ihrer Politik verfolgt, wie beispielsweise die kantonale Standesinitiative zur Schaffung gesetzlicher Grundlagen, damit Jugendliche und junge Erwachsene ohne geregelten Aufenthalt eine Lehrstelle antreten können, vermag sie erstaunlicherweise nicht zu erkennen, welche rassistischen Mechanismen in ihrem eigenen Diskurs am Werk sind. Die weißen Frauen sind in dieser Emanzipationsgeschichte die Heldinnen und die muslimischen Frauen die Opfer. Eine andere wichtige Stimme, welche sich gegen einen Feminismus ausspricht, »der die Stärken der eigenen Position auf der dunkel gemalten Folie der anderen entwickelt«37, und sich fragt, wessen Interessen dieser Feminismus wirklich diene, ist der Interreligiöse Think-Tank, ein Zusammenschluss von Interessensvertreterinnen des interreligiösen Dialogs in der Schweiz, die gemeinsam gesellschaftliche und religionspolitische Fragen diskutieren. Sie mischen sich zudem in 36 | Ebd. 37 | Interreligiöser Think-Thank, »Offener Brief«.
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die aktuellen religionspolitischen Debatten ein und entwerfen dazu neue Ansätze und wegweisende Ideen.38 In ihrem offenen Brief an Julia Onken, Schweizer Feministin und Psychologin, welche mit einem Rundbrief für die Annahme der Minarettinitiative geworben hatte, spricht sich der Interreligiöse Think-Tank im November 2009 ganz klar gegen eine im Namen der Frauenbewegung herrschende Bevormundung muslimischer Menschen durch Christen und Christinnen aus. In ihrer Schrift 16 Gründe für ein Nein, welche sich gegen die Minarettinitiative richtet, legen die Autorinnen dar, dass die Frauenfrage für politische Zwecke instrumentalisiert wird, dass die Definitionsmacht bezüglich des Islams nicht bei den Christinnen und Christen liegt und dass die Debatte Musliminnen und Muslime diskriminiere.39 Neben dieser Analyse der Minarettinitiative ist der Think-Tank auch der Frage nachgegangen, wer in den öffentlichen Debatten zu Wort kommt. Dabei zeigte sich, dass, auch wenn die jeweiligen Verbote größtenteils von rechtskonservativer Seite ausgerufen und gefordert wurden, auch liberale und linke Vertreterinnen und Vertreter Verbote gefordert und die Debatten teilweise mit denselben Argumenten wie ihre politischen Gegner geführt haben. Auffallend ist, wer sich in der breiten Öffentlichkeit Gehör verschaffen konnte. Die Tendenzen der Mainstreammedien diesbezüglich sind ziemlich klar: Die größte Plattform wurde Frauen geboten, welche einen paternalistischen Diskurs verfolgten. Stimmen, welche sich für einen wirklichen Austausch und gegen eine Bevormundung aussprachen, wurden der breiten Öffentlichkeit vorenthalten. Vor allem Julia Onkens Rundbrief wurde in den Medien, in Schweizer Zeitungen und Fernsehsendungen, aufgenommen und somit auch weiterverbreitet. Kritische Stimmen zum Rundbrief und zur Initiative selbst, wie diejenige des Think-Tanks, wurden systematisch ignoriert und deshalb auch in der breiten Öffentlichkeit nicht gehört. Dabei wäre es wichtig gewesen, auch diese Stimmen zu hören, um zu zeigen, dass nicht alle Feministinnen in der Schweiz diesen paternalistischen und rassistischen Diskurs führen. Statt solche differenzierte und kritische Gegenstimmen aufzunehmen, hat etwa die Sendung Arena des Schweizer Fernsehens Alice Schwarzer eingeladen, die sich an dem populistischen Diskurs der Schweizer Mainstreammedien beteiligt.40 Allerdings bezieht sich auch der Interreligiöse Think-Tank auf problematische liberale Positionen. So beruft er sich zum Beispiel auf den schweizerischen Geist von Freiheit, Toleranz und humanitären Werten und bedauert, dass die Minarettinitiative diesen Werten widerspricht. An dieser Stelle wird auch die »gelebte Vielfalt verschiedener Kulturen, Sprachen und Religionen«41 der Schweiz zelebriert. Dabei wird allerdings vergessen, dass die Schweiz über regressive und repressive Aus38 | http://www.interrelthinktank.ch. 39 | Interreligiöser Think-Thank, »Anti-Minarett-Initiative«. 40 | Arena, »Die Schweiz: mutig oder fremdenfeindlich?«, ausgestrahlt am 11.12.2009, in: SF1-Videoportal http://www.videoportal.sf.tv/video?id=82ea94fe-4c1c-41c2-ad37-42b0 27d80d5e. 41 | Interreligiöser Think-Tank, »16 Gründe für ein Nein«.
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länder- und Asylgesetze verfügt und dass Schweizer Vorstellungen der Integration von Ausländern und Ausländerinnen vor allem Anpassung und Gehorsam beinhalten. Die Instrumentalisierung einer postkolonialen Geschlechterdebatte schlägt sich auch bei Einbürgerungen nieder: So wurde im Jahre 2008 zwei Musliminnen die Schweizer Staatsangehörigkeit verwehrt, weil sie ein Kopftuch trugen.42
M ITBESTIMMUNG STAT T I NTEGR ATION Abschließend kann festgehalten werden, dass die vermeintlich antisexistischen Argumente in den gegenwärtigen Diskursen zur Situation muslimischer Frauen klar rassistisch sind, weil sexistische Praktiken als genuiner Bestandteil der muslimischen Kultur dargestellt werden. Musliminnen werden für diese Argumentation instrumentalisiert und dabei als unterwürfige und handlungsunfähige Frauen dargestellt. Ihnen gegenüber steht das Stereotyp des muslimischen Mannes, welcher seine Frau unterdrückt, zu Gewalt und Aggression neigt, deshalb nicht in die christlich-abendländische Tradition passt und somit nicht integrierbar sei. Nationale Grenzen, die durch Migration überwunden worden sind, werden in diesen postkolonialen Diskursen durch symbolische ersetzt. Gleichzeitig werden für Personen, die nicht aus der Europäischen Union stammen, die Aufenthaltsbestimmungen so verschärft, dass legale Migration kaum mehr möglich ist. Ziel dieses Artikels ist es nicht zu behaupten, dass alle Frauen selbstbestimmt und freiwillig handeln würden, wenn sie zum Schleier greifen. Genauso wenig kann behauptet werden, dass westliche Frauen sich freiwillig der gängigen, tendenziell enthüllenden Mode anpassen. Freiwilligkeit und freie Wahl sind problematische und komplexe Themen, die ich an dieser Stelle nicht ausführlich behandeln kann. In diesem Beitrag ging es darum aufzuzeigen, dass die vermeintlich frauenbefreienden Debatten rund um das Thema Schleier oftmals rassistischer Natur sind. Sie greifen auf koloniale Bilder des Islams zurück und dienen dazu, eine Minderheit nicht bloß zu diffamieren, sondern sie auch zu beherrschen. Die Zurechtweisung von muslimischen Frauen durch neue Gesetze, welche ihr beispielsweise die Kleidung vorschreiben, findet in der Mehrheitsgesellschaft momentan viel Unterstützung. Das ist auch deshalb erstaunlich, weil ein Gesetz zur Bevormundung von Frauen ungute Erinnerungen wecken sollte: Der Schweizer Bundesstaat von 1848 war ein Männerstaat, der nur den Männern politische Rechte zuerkannte und den Frauen dienende und unterwürfige Rollen zuwies. Das alleinige Wahlrecht für Männer behielt bis 1971, das alte Eherecht, welches die Handlungsfähigkeit der Frauen weiterhin einschränkte, bis zu den Gesetzesänderungen im Jahr 1988 ihre Gültigkeit. Auch die Einführung von Hosen war für Frauen in der Schweiz bis in die 1970er Jahre ein großes Thema; das Tragen von Hosen galt
42 | Kurt, »Die muslimische Frau mit Kopftuch«, S. 58.
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vielerorts als Tabubruch. Diese wenigen Beispiele zeigen, wie unhaltbar die Dichotomie von der fortschrittlichen Schweiz und dem traditionellen Islam ist. Das Analysieren, Verurteilen und Zurechtweisen von »fremden« Kulturen kann als Fortsetzung kolonialer Verhältnisse betrachtet werden, die sich nicht mehr vor Ort in den ehemaligen Kolonien, sondern im eigenen Land im Umgang mit Migranten und Migrantinnen ereignet. Wie sich bei der Minarettinitiative gezeigt hat und wie sich mit der »Burka«-Debatte abzeichnet, bedeutet Integration in der Schweiz vor allem, alles gleichzuschalten. Von Mitbestimmung der Migrantinnen und Migranten ist kaum die Rede. Das ist allerdings nur eine Strategie: Zwar wird behauptet, dass die Bevölkerung homogenisiert und identisch gemacht werden soll, die wirkliche Angleichung bleibt den Migrantinnen und Migranten aber verwehrt. Die Anderen werden immer auf ihr Anderssein zurückgeworfen. Obwohl Assimilation gefordert wird, dienen diese Debatten dazu, Differenz herzustellen. Die fremdenfeindlichen Debatten, die mit dieser Differenz operieren, haben zum Ziel, von den wirklichen Problemen abzulenken. Wenn die Ausländerpolitik der Schweiz in den letzten Jahrzehnten betrachtet wird, vor allem die Debatten um die Überfremdung, das Asylrecht und um Ausländerinnen und Ausländer im Allgemeinen, dann ist der gegenwärtige Diskurs über die angeblich muslimische Eigenart nicht überraschend. Fremde sind unerwünscht, als Sündenbock aber willkommen. Sie werden als Symbol der Bedrohung und Verunsicherung politisch instrumentalisiert. Die Kategorien ändern sich zwar – von den Italienern über die Türkinnen und die Jugoslawinnen zu den Muslimen –, doch die Absicht und der Inhalt von fremdenfeindlichen Botschaften bleiben gleich: die Abgrenzung des »Eigenen« gegenüber dem »Anderen«.43 Anstatt die Hürden beim Zugang zu Bildung, Arbeit und politischen Rechten abzubauen, wird die sogenannte Integrationsunwilligkeit den Migrierten zugeschrieben.44 Die vermeintlich nicht zu vereinbarenden kulturellen Unterschiede dienen dazu, die immer restriktiveren Ausländergesetze, die Schließung der Schweizer Grenzen und die Etablierung der Festung Europa zu begründen. Dabei spielt Geschlecht eine bedeutsame Rolle: Durch den vorgeschobenen Grund der patriarchalen Unterdrückung gelingt es, die zunehmende Illegalisierung von Migrantinnen und Migranten zu erwirken. Für die Situation muslimischer Frauen, um deren Wohl sich angeblich so viele Schweizerinnen und Schweizer sorgen, birgt diese Entwicklung rein gar keine Vorteile.
43 | Buomberger, Kampf gegen unerwünschte Fremde, S. 29. 44 | Bühlmann, »Die Burkadebatte als Lehrstück«, S. 26.
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Ruanda, Trinidad und Co. Koloniale Verstrickungen und postkoloniale Aufbrüche in der Schweizer Gegenwartsliteratur Alexander Honold
D IE S CHWEIZ UND IHR POSTKOLONIALES I NTERESSE . V ER ÄNDERUNGEN DER LITER ARISCHEN A GENDA »Als Schweizer«, so glaubt der Mitarbeiter einer Entwicklungshilfeorganisation in Kigali, Ruanda, »habe ich mit dem Kolonialismus nichts zu tun«.1 Mit diesem Ausspruch und der dahinterstehenden Haltung, die Lukas Bärfuss dem Protagonisten seines Romans Hundert Tage zuschreibt, trifft der Autor den Nagel auf den Kopf. Kaum eine Nation ist der kolonialisierenden Machtausübung so unverdächtig, kaum eine genießt ein traditionell so stark auf humanitäre Zielsetzungen ausgerichtetes Image wie diejenige, deren Vertreter unter der Flagge des weißen Kreuzes auf rotem Grund agieren. Warum dann überhaupt die heikle Präsenz vor Ort, in einem Krisengebiet? Um großzügig und aus überlegener Position den Benachteiligten, Notleidenden, Kriegs- und Gewaltopfern zu helfen, natürlich. Aber auch, um im gleichen Zug auf »unzuständig« plädieren zu können, wenn die aus der kolonialen Vergangenheit herrührenden, nur mühsam zurückgedrängten Konfliktherde zerstörerisch wieder aufflammen. Schaut man sich aber das Umfeld an, in dem der junge Mann agiert, um den es in Bärfuss’ Roman geht, vergegenwärtigt man sich zudem die geschilderte Arbeitsweise der Schweizer Kollegen und ihr hierarchisches Verhältnis zu den afrikanischen Mitarbeitern, Helfern und Domestiken, betrachtet man schließlich die in sich widersprüchliche und aggressive sexuelle Beziehung zwischen dem Schweizer Mann und seiner ruandischen Geliebten, dann wiegt dieses »nichts«, mit dem der Protagonist die Frage nach dem Kolonialismus abtut, auf einmal viel schwerer. Der Kontext nämlich, in dem die eingangs zitierte, abwimmelnde Bemerkung fällt, 1 | Bärfuss, Hundert Tage, S. 126.
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ist durch einen Streit des Schweizer Entwicklungshelfers mit seiner ruandischen Geliebten gekennzeichnet. Sie wirft ihm vor, sie in Kolonialherrenmanier beherrschen und über sie verfügen zu wollen. Er seinerseits fühlt sich von ihr abhängig wie von einer schlechten Droge, und lässt sie das büßen. Es geht um persönliche Verletzungen, aber auch um eine Art von politischer Allegorie. Bärfuss skizziert in dieser Handlungslinie eine Dynamik sich fatal aufschaukelnder Schadenslust Zweier, die voneinander nicht mehr loskommen. Das Ganze mündet in den vom Mann vorgebrachten üblichen Standardsatz, er habe geglaubt, »die Sache würde ihr mindestens ebenso viel Spaß machen wie mir«, und in ihre reflexhafte antikoloniale Abwehr: »Ich weiß doch, was Spaß für einen Umuzungu bedeutet: doch nur, die ewig gleichen Demütigungen zu wiederholen.«2 Politisch motivierte, kulturelle und sexuelle Gewalt: Sie überlagern sich auf ein und demselben Schauplatz in einer gespenstischen Szenerie des Abschlachtens, die in der europäischen Nachrichtenlage nur als fanatisierter, »innerafrikanischer« Genozid dargestellt und wahrgenommen wurde. Literarische »Kriegsreportagen« stellten für das deutschsprachige Publikum den Effekt einer Tuchfühlung mit dem Grauen her.3 Bärfuss bietet einen ganz anderen Zugang; gerade von ihm ein solches Buch vorgelegt zu bekommen, war durchaus überraschend. Er nutzt die Chance, als Schweizer den vordergründigen Blick auf ein »Stammesgemetzel« zu erweitern und auf dessen koloniale Hintergründe zu lenken und damit die Frage nach unserer europäischen Komplizenschaft mit dem Völkermord (und allem, was ihm vorausging) aufzuwerfen. Involviertheit, Komplizenschaft, Schuld: Sie fühlbar zu machen, ist eine der Kernaufgaben von Literatur. Im Modus des Erzählens zeigt sich, wie es ist, die Distanz zu verlieren, keinerlei Sicherheitsabstand zu haben. Wie kommt es, dass internationale und zumal außereuropäische Schauplätze in der Deutschschweizer Gegenwartsliteratur eine so prominente Rolle spielen? Wenn Bärfuss und andere Autoren und Autorinnen darauf insistieren, sich aus Schweizer Perspektive mit Ruanda, dem Iran, Trinidad, Thailand oder Indien zu befassen, dann markiert diese Themenwahl mehr als nur einen exotischen Tick, es geht ganz offensichtlich um ein demonstratives »Interesse«, ganz wörtlich also um das Zeigen (und Bezeugen) eines Mitten-drin-Seins. Die Schweiz als global player? Auch in Lukas Hartmanns Captain-Cook-Roman Bis ans Ende der Meere (2009) wird eine aktuelle Perspektive der Globalität verhandelt, wenngleich der Roman im kolonialen Geschichtsraum weit zurückgreift, indem er die letzte der Cook’schen Weltreisen aus der Sicht des an Bord mitbeteiligten Landschafts- und Porträtmalers John Webber schildert. Die gegenwärtige Literatur der deutschsprachigen Schweiz hat, das ist offenkundig, die Themenfelder von Migration und Multikulturalität als Aufgabe erzählerischer Gestaltung für sich entdeckt. Allein schon an der Preisträgerreihe des 2 | Ebd. 3 | Buch, Kain und Abel in Afrika. Für einen differenzierten Blick vgl. dagegen Stockhammer, Ruanda.
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2008 erstmals vergebenen Schweizer Buchpreises lässt sich dies prägnant belegen. Auf Rolf Lapperts Roman Nach Hause schwimmen (München 2008), der eine aus den Elementen Irland, Schweden und Nordamerika zusammengesetzte Patchworkproblemjugend entfaltet, folgten 2009 Ilma Rakusas unter dem Titel Mehr Meer (Wien 2009) vorgelegte autobiographische »Erinnerungspassagen«, die unter anderem slowenischen, slowakischen und ungarischen Spuren nachgehen und zugleich den Blick auf internationale Drehscheibenstädte wie Triest, Petersburg, Paris und Zürich richten. Im Jahr 2010 schließlich gelang Melinda Nadj Abonji mit Tauben fliegen auf (Salzburg/Wien 2010) ein enormer Erfolg bei Publikum und Kritikern; der Roman erzählt von den kulturellen und politischen Verwerfungen, mit denen sich eine Familie aus der ungarischen Minderheit im Norden Serbiens konfrontiert sieht, und demonstriert, dass sich diese Konfliktlinien auch durch das neue Leben in der Schweiz noch längst nicht »erledigt« haben. Aber auch bereits etwas länger zurückliegende Buchtitel gehören zu dieser Themenlinie, wie beispielsweise Ruth Schweikerts Ohio, ein Familienroman, der Lebensläufe unter anderem aus Ostdeutschland, aus Italien und der Schweiz miteinander verknüpft und bis nach Südafrika und eben zu dem imaginären Fluchtpunkt Ohio weiterführt. Seit den siebziger Jahren schon folgten die Romane und essayistischen Betrachtungen Hugo Lötschers, der sich regelmäßig längere Zeit in den USA, in Lateinamerika und in Südostasien aufgehalten hat, ganz explizit einem geradezu weltumspannenden Programm des kulturellen Austauschs und der Relativierung ideologischer Geltungsansprüche von Ethnien, Kulturen oder Nationen. Von einem kolonialkritischen Ausgangspunkt hatte sich Lötscher mit zeitgeschichtlichen Betrachtungen unter anderem zu Kuba (Zehn Jahre Fidel Castro, 1969) und zu Brasilien (Wunderwelt, 1979) zu Wort gemeldet; außerdem mit dem Globalisierungsroman Die Augen des Mandarin (1999) und dem auf die interkulturelle Schweiz zielenden Essayband Der Waschküchenschlüssel (1988/1998) mit teilweise schon länger zurückreichenden kleineren Prosaarbeiten. Und es wären etliche weitere Autoren wenigstens zu erwähnen. Peter Stamm etwa, der seine kammerspielartigen Erzählwelten gelegentlich in Paris, aber auch in den USA oder in den arktischen Breiten Nordeuropas ansiedelte, oder Christian Krachts Prosa, die aus einem fiktionalisierten Iran der islamischen Revolution und aus dem Fernen Osten berichtet. In den hier vorgestellten Überlegungen beschränke ich mich auf zwei Autoren – Martin Dean und Lukas Bärfuss – und ziehe jeweils auch nur einen ihrer Schlüsseltexte näher heran. Die Auswahl beruht darauf, dass die ausgewählten Texte meines Erachtens für die Schreibweise und kulturelle Haltung der betrachteten Autoren durchaus charakteristisch sind und zugleich auf besondere Weise in ein spezifisches, den Texten jeweils vorausgesetztes Diskursfeld intervenieren. Dieses Diskursfeld ist schlagwortartig mit dem zu umreißen, was man als postkoloniale Literatur und Theorie bezeichnen kann.4 Die analytische Prämisse hinter 4 | Vgl. Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie.
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dem Begriff lässt sich etwa folgendermaßen umschreiben: »Post«, also nach dem Kolonialismus, erweisen sich in den ehemals als Kolonialbesitz von europäischen Nationen annektierten Kulturräumen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen noch derart stark von Kolonialgeschichte determiniert, dass von dieser Prägung nicht abgesehen werden kann und darf, erst recht nicht, wenn es um das Verhältnis zwischen diesen Gebieten und den ihnen ehemals übergeordneten Metropolen und Leitkulturen geht. Sämtliche kulturellen Hervorbringungen, auch und gerade diejenigen der einstigen kolonialen Protagonisten, sind retrospektiv auf die ihnen inhärenten Herrschafts- und Ungleichheitskomponenten hin analytisch zu befragen und in deren Licht kritisch neu zu bewerten. Martin Dean (geboren 1955) und Lukas Bärfuss (geboren 1971) sind Autoren, die unterschiedlichen Generationen angehören und sich in verschiedenen literarischen Gattungen betätigen. Lukas Bärfuss ist vor seinem Ruandaroman mit Theaterstücken bekannt geworden; Hundert Tage ist sein erstes größeres Erzählwerk und ein Solitär auch insofern, als der Text den Leser auf einen prekären außereuropäischen Schauplatz führt und sich auf das schwierige Thema eines afrikanischen Genozids einlässt. Martin Dean hat seit Anfang der neunziger Jahre eine Reihe von Romanen und Erzählungen vorgelegt, die atmosphärisch stimmige Schilderungen von (meist intellektuell geprägten) Lebensmilieus bieten und insofern »realistisch« lesbar sind, dann aber wiederum sich häufig mit ironischen und fantastischen Verfremdungen durchsetzt zeigen, die eine nur inhaltsbezogene Lektüre irritieren. Gemeinsam ist den beiden Autoren, dass sie ihr Schreibhandwerk poetisch reflektiert und mit einer dezidiert politischen Ausrichtung betreiben. Gemeinsam ist ihnen überdies, dass ihre hier näher betrachteten Werke auf Phänomene Bezug nehmen, die sowohl eine klare kolonialgeschichtliche Dimension als auch eine direkte Beteiligung von Schweizer Figuren aufweisen. In diesem jeweils ganz demonstrativ (wenn auch in unterschiedlicher Weise) aufgestellten Konnex von Schweizer Lebenswelt und (post-)kolonialer Perspektive, den die Autoren herstellen, ist ein klares Statement zu sehen. Es besagt: Wie entfernt die beschriebenen Handlungen und Ereignisse auch von der Schweizer Lebens- und Lesewelt zu liegen scheinen – es ist auch unsere Geschichte, die sich dort und damals zugetragen hat und die deshalb hier und heute zu erzählen ist. Martin Deans Meine Väter, 2003 erschienen, nimmt vom Gegenwartspunkt eines zeitgenössischen Schweizer Intellektuellen aus die koloniale Vergangenheit der Karibikinsel Trinidad in den Blick und interessiert sich dabei besonders für die indischen Einwanderer des 19. Jahrhunderts. Lukas Bärfuss rückt besonders nahe an die Zeitgeschichte heran, indem er den Genozid in Ruanda vom Frühjahr 1994 als Geschehens-»Hintergrund« des persönlichen Dramas eines Schweizer Entwicklungshelfers in Szene setzt. Doch auch hier mangelt es nicht an Hinweisen darauf, dass in der grauenhaften Gewaltekstase letztlich Fehlentwicklungen zum Ausbruch kommen, die auf koloniale Machtstrukturen und einseitig begünstigte Herrschaftseliten zurückgehen. Bei beiden Romanen haben wir es mit Fiktionen zu tun, also mit literarischen Erzählvorgängen, die von ihren professionellen Verfertigern ganz bewusst in den
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kunstvollen und künstlichen Kommunikationsraum des ästhetisch-symbolischen Diskurssystems Literatur hineingestellt worden sind. In den Romanen kommen Geschehnisse zur Sprache, die nicht allein nach künstlerischen Kriterien oder formalen Gestaltungsmerkmalen beurteilt zu werden verlangen; Geschehnisse, deren Realitätsdruck übermächtig wirkt. Literatur, die von der lastenden Fortdauer kolonialer Verhältnisse oder gar kolonialer Verbrechen handelt, ist auf beklemmende Weise politisch; sie fragt mit ihrer ungewohnten Ernsthaftigkeit notwendigerweise auch nach den Grenzen der Institution Literatur.
D AS DOPPELTE I NDIEN UND DIE MEHREREN V ÄTER DER S CHWEIZ Robert, ein nicht mehr ganz junger Mann um die 40, mit Beruf und Familie eigentlich schon in einer gefestigten Existenz, besteigt eines Tages das Flugzeug von Basel nach London, um erstmals und gerade noch rechtzeitig seinem bereits schwer angeschlagenen Vater zu begegnen, der verarmt, krank und hilfsbedürftig in einem schlecht ausgestatteten englischen Pflegeheim lebt. Als der Sohn eintrifft, scheint es für ein klärendes Gespräch fast schon zu spät zu sein, denn sein dunkelhäutiger Vater Ray, der einst so temperamentvolle und erfindungsreiche Lebenskünstler, hat, möglicherweise infolge eines rassistischen Überfalls, die Sprache verloren. Im Londoner Armenasyl stehen sich Vater und Sohn, »die Karibik« und »die Schweiz«, also zunächst einmal sprachlos gegenüber; sie haben zwar an biologischer Zusammengehörigkeit gewonnen, was sie an Verständigung jedoch zugleich einbüßen. Zu seinen Glanzzeiten in Trinidads Inselhauptstadt Port of Spain war Ray ein formidabler Reporter gewesen, der mit immer neuen angeblichen Sensationen aufwarten konnte und nie um eine Geschichte verlegen war. Weckt das Stichwort Trinidad die Assoziationen von verlockenden Palmenstränden, exotischer Musik und gezuckertem Rum – und was dergleichen KaribikStereotypen mehr sein mögen –, so ist der klägliche Rest von Existenz, den der Vater des Protagonisten im Spital noch darstellt, eine extreme Ernüchterung und Enttäuschung. Bei dieser ersten Erwartungskorrektur aber bleibt es nicht. Trinidad war zwar die Heimat des spät gefundenen Vaters, doch führt die Spur jener Familiengeschichte, die der Schweizer Sohn dann bei seinen Nachforschungen freizulegen versucht, bis nach Indien, ins alte, rigide Kastenwesen und zu jenem Sklavenhandel, der jahrhundertelang den indischen Subkontinent mit den Inseln Westindiens verband. Meine Väter, der 2003 publizierte Roman des Basler Autors Martin R. Dean, ist ein doppelter Reiseroman. Wie ein investigativer Reporter hastet der endlich zum Sohn gewordene Protagonist und Erzähler durch die hot spots der Weltgeschichte, um familiengeschichtlichen Verflechtungen nachzugehen, die ihrerseits den Verschlungenheiten der Kolonialgeschichte folgen. Einer »Ästhetik der Diaspora«5 5 | Schwarz, »Tropenfieber auf Trinidad«, S. 47.
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im Hinblick auf die indische Bevölkerung Trinidads steht hier der Befund einer längst gleichfalls »multigenealogisch« gewordenen Schweiz gegenüber.6 Der Roman ist ein Lehrstück über das Denken in Zusammenhängen in einer durch die Kolonialzeit verschlungenen, verbundenen Weltgesellschaft. Dean begründet diese Zusammenhänge in der erzählerischen Komposition seines weit auseinanderliegende Schauplätze umspannenden Romans mittels des geradezu archaischen Motivs der melancholischen Vatersuche in einer strukturell vaterlos gewordenen Gesellschaft,7 und er stellt gegen die patriarchale Krisenoptik das Bild einer Schweiz, deren kulturelle Identität grundsätzlich nicht einen, sondern mehrere Väter hat. »All die Jahrzehnte hatte ich’s immer mit Vaterfiguren. Ich fuhr eine dämonische Rolle nach der anderen auf die Bühne, bis ich selber dahinterkam. […] Den Nathan […], den habe ich noch weiser und gewaltiger gemacht, und statt den Alten in Becketts ›Last Tape‹ dahinmümmeln zu lassen, habe ich ihn zum Obervater hochstilisiert. Hamlet den Zweifler habe ich nie gemocht und zum Schrecken jedes Regisseurs seine Rolle vermasselt.« 8
Die Ablehnung der Vaterrolle freilich sieht anders aus für denjenigen, der selbst zum Vater geworden ist; und dementsprechend wandelt sich auch die Art der Sehnsucht danach, diesen Vaterort mit einer ein für alle Male verbindlichen Gestalt zu besetzen und zu festigen. Gesucht und gefunden wird, schon zu Anfang der Spurensuche, ein gewisser Ray Randeen, ein indischstämmiger Einwohner der Karibikinsel Trinidad. Dieser Ray ist die Zielperson der späten Vatersuche des Dean’schen Ich-Erzählers und insofern auch der Titelheld des Buches Meine Väter, zur Hälfte jedenfalls. Ray Randeen ist mit seiner indisch-karibischen Doppelidentität wiederum eine Art Angelpunkt für das Verständnis kolonialer Migration unter den sich abzeichnenden neuen Rahmenbedingungen der postkolonialen Globalisierung. Ray ist der leibliche Vater des Ich-Erzählers Robert, seines Zeichens ein in Basel lebender freischaffender Theaterdramaturg. Jahrzehntelang war der heranwachsende, erkennbar »fremdländisch« wirkende Robert von seiner Schweizer Mutter und seinem ebenfalls aus Trinidad stammenden Stiefvater mit einer Lüge erzogen, war ihm sein eigentlicher Vater verschwiegen und vorenthalten worden. Endlich nun macht sich Robert, schon Mitte 40, auf die Suche, um seinen »richtigen« Vater zu finden und ihm persönlich gegenüberzutreten. Man braucht nur zwei, drei Glieder in der Generationskette zurückzugehen, um aus der »Sekurität« der gediegenen Schweizer Bürgerstadt in die »Atavismen« 6 | Zum Folgenden auch: Honold, »Globalität in der Schweizer Literatur«. 7 | Pia Reinacher akzentuiert in ihrer Besprechung die Elemente des Vaterverlustes und Vatermords stark psychoanalytisch, ohne auf die Frage postkolonialer Identitätsverschlingungen einzugehen. Reinacher, »Vatersprache, in Lügen erstickt«. 8 | Dean, Meine Väter, S. 53. Zitate fortlaufend im Text nachgewiesen.
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einer kolonialen Situation versetzt zu werden. Und um irgendwann, auf halber Strecke des Romans, inmitten eines sehr verwickelten Geflechts genealogischer Linien zu landen, mitten im »Urwald«. »Er trank ein paar Bier und fuhr danach durch den Urwald. Wie immer, wenn er an der Lehmstatue des letzten indianischen Ureinwohners vorbeifuhr, fiel ihm die Verwirrung ein, die Kolumbus auf dieser Insel hinterlassen hatte. Als er 1498 auf seiner dritten Fahrt Trinidad entdeckte, wähnte er sich in Indien und taufte die Ureinwohner, die Kariben, Indianer. Und die Gegend wurde Westindien getauft. Im 19. Jahrhundert dann wurden richtige Ostinder aus Kaschmir, Uttar Pradesh und Bihar eingeschifft, um die freigekommenen Sklaven auf den Zuckerrohrfeldern zu ersetzen. Olive und Budri waren die Nachfahren dieser Einwanderer. Fuhr er durch den Urwald, fühlte er immer seine indischen Vorfahren in sich rumoren. Der Urwald roch nach Vanille, aus ihm krächzte und tschilpte eine unbekannte Vogelschar und im Schatten der Riesenbäume war es feucht und angenehm kühl. So stellte er sich Indien vor, als einen riesigen, kakophonischen, triebhaft wuchernden, feuchtdämmrigen Urwald.« (S. 243)
Mit sanfter Ironie hat Martin Dean die Gedankengänge ausgestattet, die er dem Vater des Ich-Erzählers zuschreibt. Wenn Ray glaubt, im sinnlichen Kontakt mit der unbändigen Natur seine indischen Vorfahren in sich rumoren zu hören (Olive und Budri sind die Namen von Rays Eltern), dann leistet er sich eine sentimentalische Illusion. Die tschilpenden und krächzenden Vögel spotten seiner, als Ray die Eindrücke der tropischen Vegetation kurzerhand für ein atmosphärisches Stimmungsbild des fernen Indien in Anspruch nimmt. So wie hier Trinidad beschrieben wird, glaubt man tatsächlich, zwischen die Seiten des Dschungelbuches geraten zu sein; die ganze Szenerie kommt im Modus des Déjà-vu daher oder vielmehr des Déjà-lu. Alles, ob Held, Schauplatz oder Handlung, scheint auf eigentümliche Weise vertauscht, verdoppelt, verfälscht. Hat es der Ich-Erzähler in seiner Kindheit und Jugend lange mit dem falschen Vater zu tun, so hängt der richtige, respektive der leibliche Vater einem hochgradig verkitschten, emotional verfälschten Vorstellungsbild Indiens nach und verherrlicht es als mythisches Ursprungsland seiner Vorfahren. Wie es richtige und falsche Väter gibt, so eben auch die richtigen und die falschen Inder. Dass Rays wirkliche Heimat, die Insel Trinidad, einen nennenswerten Anteil indischstämmiger Bevölkerung aufweist, ist ebenfalls das ironische Resultat jener von Kolumbus verursachten weltgeschichtlichen Verdopplung und Verwechslung Indiens, die in der erzählten Familiengeschichte ihr mehrfaches und gebrochenes Echo findet. Der Roman Martin Deans zielt somit gerade nicht auf die »Entdeckung« und politische Instrumentalisierung einer monoethnischen Herkunftsidentität. Vielmehr geht es um die spannungsreiche Konfrontation der Ursprungssehnsucht des Protagonisten mit seiner wachsenden Einsicht in die geschichtlichen Umstände jenes kulturellen Hybridisierungsprozesses, der eine
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solche Vater- und Herkunftssuche im emphatischen Sinne letztlich unmöglich erscheinen lässt. Die Irritation fängt an mit den Spät- und Spätestfolgen, mit der offenen Frage eines nicht mehr ganz jungen Mannes nach seiner unklaren Herkunft. Die Mutter ist stets gewiss, der abwesende Vater hingegen das Sinnzeichen einer Geschichte, die sich entzieht. Wird er greifbar, dann lassen sich endlich die Lücken im Identitätsbild schließen, so jedenfalls glaubt Robert zunächst. Vaterschaft ist gleich Zeugungsmacht ist gleich Urheberschaft. Zwar gilt auch in Martin Deans Buch, die Väter sind die Täter, aber sie werden andererseits oft als hilflose, entscheidungsschwache Produkte ihrer Vor- und Mitwelt durchsichtig. Kläglicher als der Anblick von Roberts Vater Ray in jenem Londoner Armenspital kann ein Vaterporträt nicht ausfallen. Aber Zug um Zug gewinnt der Alte wieder an physischen Kräften und an exotischer Faszinationskraft zurück, die ihm offenbar der späte Kontakt mit dem fremden Sohn aufs Neue verleiht. Robert schiebt dem Invaliden einen kleinen Taschencomputer unter, auf Reisen dann später einen Schreibblock, er spürt Fotos auf und befragt Familienangehörige, um dem mit Gedächtnisverlust geschlagenen Vater wieder zu einer eigenen Stimme zu verhelfen. Dabei unternimmt Robert, zuerst noch begleitet von einer indischen Krankenschwester, mit der er eine flüchtige sexuelle Beziehung eingeht, mit seinem fast nur im Rollstuhl noch bewegungsfähigen Vater eine Reihe von kleineren Exkursionen in den Vorstädten Londons, dann sogar eine kurze Reise ins winterliche Engadin. Im Hotel Waldhaus zu Sils-Maria gilt es, einen wichtigen Zeugen zu treffen. Zwar sind die erhaltenen Auskünfte eher spärlich, aber immerhin bringt der Abstecher eine prächtige alpine Kulisse ins Spiel und damit den unübersehbar mit Inszenierungscharakter evozierten »Schweizfaktor«. Erst ein nochmaliger Aufbruch, der Flug nach Trinidad, ermöglicht es dem Duo von Vater und Sohn, ihre verschüttete Familiengeschichte endlich freizulegen. Die mit großer Hand abgesteckten Schauplätze Basel – London – Engadin – Trinidad erlauben es dem Autor, im Familiendickicht zugleich ein historisches Geflecht anderer Art nachzuzeichnen: das koloniale Dreieck aus Europa, Karibik und Indien. London ist ein primär angesteuertes Rechercheziel schon deshalb, weil in der ehemaligen Kolonialmetropole immer noch die Fäden eines vergangenen Weltreiches zusammenlaufen, und sei es auch nur in Form der Schriftzüge eintreffender Flugzeuge. »Flugzeuge der Indian Airline nach Bombay, der American nach New York und der British Westindian nach Trinidad. Ich habe nichts zu tun, Ray hat nichts zu tun, also entziffere ich die Schriften und Flaggen auf den Flugzeugbäuchen, bis mein Genick schmerzt.« (S. 36) Mit knappen Strichen wird in dieser kleinen Beobachtung die räumliche Struktur des einstigen Kolonialsystems zwischen Westindien und Bombay in Erinnerung gerufen. Indien ist in dieser Narration keine fixierbare Größe, sondern der dynamische Vektor innerhalb eines Parallelogramms von Kräftelinien, die Basel mit Trinidad und Bombay mit London verbinden.
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Private und politische Dimension geraten bei dieser Erzählform in eine dichte Engführung. Mit jedem Schritt, den der fragende Sohn weiter vorankommt auf seiner Rekonstruktionsarbeit, werden ihm die Verzweigungen seiner Familiengeschichte plastischer, ohne an Fremdheit und Faszination zu verlieren. Zweierlei Zeitschichten überlagern sich, deren Verhältnis zueinander auch im gegenwärtigen Diskurs um Interkulturalität und Globalität eine Schlüsselrolle spielt. Sind die geschichtlichen Koordinaten der Vatersuche durch das klassische koloniale Dreieck bestimmt, das sich transatlantisch zwischen Europa, Amerika und Afrika erstreckte (wobei an die Stelle der afrikanischen Sklaven auf Trinidad wie anderswo auch dann vor allem im 19. Jahrhundert verstärkt die Arbeitsmigranten aus Indien traten), so zeigt sich die Gegenwartsebene der vom Ich-Erzähler unternommenen Recherchen bestimmt durch postkoloniale Bedingungen –, durch Umstände und politische Konzepte also, die sich sowohl kausal und chronologisch wie auch reflexiv, kritisch und transzendierend auf den Kolonialismus beziehen. Es ist demnach, wie der Schweizer Reisende lernen muss, mitnichten eine reine Privatangelegenheit, nach den Vätern zu fragen. Der Plural, in den der Roman die Vatersuche des Protagonisten setzt, ist auf mehrerlei Weise zu lesen. Zunächst bezieht er sich auf das verquere Nebeneinander von gesetzlichem und leiblichem Vater, das für Robert als Kind und Jugendlichen immer eine Art Tabuzone dargestellt hatte. Später jedoch, nachdem Robert seinen biologischen Vater hatte ausfindig machen können und sich daraufhin entschlossen hatte, die daraus resultierenden Spuren und Rätsel bis nach Trinidad zurückzuverfolgen, gewinnt das Ausgangsproblem der Vatersuche eine historische Tiefendimension, die sich immer weiter verzweigt und verfranst. Es sind nun ihrer schon ziemlich viele Väter und Vorväter, die an der Antwort auf die Ausgangsfrage beteiligt und für eine wirklich umfassend erzählte Familiengeschichte gehört werden müssten. Aus den vielen Besuchen und Befragungen, die der Ich-Erzähler selbst auf der Karibikinsel unternimmt, kann er sich allmählich immerhin einige Mosaiksteine seiner Herkunftsgeschichte zusammensetzen. Seine Großmutter Olive, so findet Robert heraus, war ihrerseits die Enkelin eines nordindischen Brahmanen aus dem Distrikt Faizabad, der im Jahre 1867 auf einem englischen Schiff von Kalkutta aus nach Trinidad gekommen war. Nur eine Generation später wird die Familiengeschichte durchschlagen von kolonialer und sexueller Gewalt. Einer der Söhne des Einwanderers heiratet auf Trinidad eine ihrerseits ebenfalls indischstämmige Frau, die nach Auskunft von Angehörigen »einen ausgesprochen miesen Charakter« (S. 251) gehabt haben soll. Hinter diesen Andeutungen verbirgt sich ein fast mythisches Motiv fortgezeugter Erbsünde. Denn jene Martha, die Urgroßmutter also des Erzählers, entsprang ihrerseits der Vergewaltigung einer indischen Arbeiterin namens Rinya auf den Zuckerrohrplantagen durch ihren schottischen Aufseher. »Als Rinya bei Sonnenaufgang mit blutigen Striemen am ganzen Körper in ihre Baracke zurückkroch, war das Böse gezeugt worden. Es war vom alten Kontinent Europa in Gestalt des Schotten zu uns gebracht worden. Das Böse kam vom weißen Mann. Dem Unterdrücker, Schläger und Vergewaltiger.« (S. 253)
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Es ist nicht der Ich-Erzähler und erst recht nicht der Autor, der sich diesen Mythos der fortgezeugten Ursünde einer kolonialen Gewalttat zu eigen macht; erzählt wird vielmehr aus der Sicht einer Familienangehörigen und mit deutlichen Distanzierungsmerkmalen. In einem Punkt allerdings bestätigt das genealogische Suchbild jenen düsteren Befund. Im Kolonialverhältnis ist stets das andere Verhältnis, nämlich das sexuelle Konkubinat mitzudenken, und damit eine Form struktureller patriarchaler Gewalt, die sich ohne Wissen und Verschulden den Nachkommen mitteilt und von ihnen dann wieder durchlebt und ausagiert wird. Das hat wohl weniger mit erblicher Konditionierung oder gar einem genetisch isolierbaren Strang des Bösen schlechthin zu tun als vielmehr mit der Wiederkehr respektive Beharrlichkeit dominanter kolonialer Bedingungen. So steht Olive als Tochter einer von weißem Rassendünkel erfüllten Mutter, die selbst wiederum Frucht und Opfer kolonialer Gewalt war, ihrerseits bald selbst an einem Kreuzungspunkt familiärer Gewalt, denn Olives Mann Budri ist von unglaublicher Brutalität, die er nicht nur gegenüber seiner Frau, sondern auch an dem in seinen Augen nichtsnutzigen Sohn Ray auslebt. Was in Rays Kindheit zur bestimmenden Erfahrung wird, ist demnach eine fortgesetzte Kette von Gewalt und Gegengewalt, von erlittener und von weitergegebener Schmach. »Olive seufzte, suchte ihren Stock und tastete sich ins Schlafzimmer vor. Dabei murmelte sie: ›Nie soll der Junge so werden wie du. Verseucht ist sein Blut von den Randeens.‹« (S. 283) Wiederholung und Gegensatz, das Schema aller Familiengeschichten, waltet auch hier. Ray, dem vom eigenen Vater so übel mitgespielt wurde (übler erging es seiner Mutter Olive), Ray wird sich dann in seiner kurzen Ehe mit der in Trinidad lebenden Schweizerin Helen als ebenso aufbrausend, gewalttätig und bindungsunfähig erweisen; sie trennt sich von ihm und lebt eine Zeitlang allein mit dem kleinen Kind, bis sie dann jenen Mann kennenlernt, mit dem sie in die Schweiz zurückgehen wird, Roberts Adoptivvater Neil. Zu spät beginnt Ray, um die Rückkehr von Frau und Sohn zu kämpfen. Helen aber beschreibt den Konflikt mit Ray mit ganz ähnlichen Worten, wie sie im Streit zwischen dessen Eltern schon gefallen waren. »›Du bist wie dein Vater‹, gab sie zur Antwort. […] ›Immer wenn du mich geprügelt hast, habe ich durch all die Prügel hindurch die Hand deines Vaters gespürt.‹« Für Helen steht fest: »›Ich werde dafür sorgen, dass Robert anders wird als du.‹« (S. 288) Anders werden. Das ist etwas, das mit Hilfe liebevoller Erziehung begonnen werden kann, aber offensichtlich auch veränderter materieller, politischer und kultureller Bedingungen bedarf, um die Kette empfangener und weitergegebener Gewalt hinter sich zu lassen. Robert ist anders als beide seiner Väter, anders auch als die Reihe seiner Vorväter, er ist ein Schreibender und Suchender. Deutlich gibt das Buch zu erkennen, dass der Autor sich dem Thema einer postkolonialen Umbruchsituation im Hinblick auf seinen Schreibort in der Schweiz stellt und diesen, auch von tiefsitzenden xenophoben Tendenzen mitbestimmten kulturellen Kontext in die Verflechtung der Figurenlinien mit einbezieht. Erst durch eine doppelte De-Zentrierung, die einerseits den fernen Imaginationsraum Indien anpeilt, andererseits die alltägliche Verortung in der Schweiz, gewinnt das
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Vaterbild seine Fluchtpunkte im Sinne einer perspektivischen Konstruktion – Orte, die selbst im Darstellungsraum nicht präsent, aber als virtuelle Schnittpunkte der ausgezogenen Linien stets mitzudenken sind. Als Robert mit seinem Vater im Rollstuhl und dessen Krankenschwester im winterlich verschneiten Engadin ankommt, geben die drei exotisch aussehenden Gestalten für Schweizer Zeitgenossen ein pittoreskes und irreführendes Bild ab. »Man hält uns mit Sicherheit für Inder, obwohl wir eigentlich etwas ganz anderes sind: nämlich ein Trinidader, der nach England ausgewandert ist, eine Londonerin mit indischen Vorfahren und ein ebensolcher Schweizer.« (S. 107) Die Welt ist komplizierter geworden im Zeitalter der postkolonialen Migrationen, und für den alltäglichen Rassismus drohen neue Unübersichtlichkeiten. Bei der Autofahrt durch die Schweizer Berge geht das skurrile Grüppchen im Engadin einer Polizeistreife ins Netz, die angesichts der fremden Gesichter dubiose Umtriebe wittert. Skurril insbesondere ist jener in Situationskomik ausartende Wortwechsel, der sich hierbei entspinnt, und es tut der Komik keinen Abbruch, dass dabei manifester Rassismus und sogar gefährliche Schusswaffen im Spiele sind. Wer kennt sie nicht, jene Schrecksekunden eines im Anblick der Staatsmacht stets zu umfassenden Geständnissen bereiten schlechten Gewissens? »So umständlich wie möglich hole ich die Papiere aus dem Handschuhfach und überreiche sie den Beamten. Dabei rede ich weder Englisch noch Deutsch, sondern befleißige mich einer raren Mischung aus Urdu und Suaheli.« Kein first contact kommt aus ohne Sprachenmischmasch. »›Frog sie mol, woheer sie eigentli chöme‹, fordert einer der Beamten den Kollegen auf. ›Dije charre do eifach so im züüg ume, gottverdammi.‹« (S. 180) Und wieder beteuert daraufhin der Erzähler in unverständlichen Worten seine arglosen und friedlichen Absichten, während die in Panik geratene Begleiterin ausruft: »›Dont shoot me, I’m innocent.‹« Das Melodram kann im letzten Moment noch abgewendet werden. »Nun reiche ich dem Beamten meinen Führerschein, der mit meiner Basler Wohnadresse versehen ist, und sage: ›Mer würde gärn wiiterfahre, s’isch nämli sauchalt.‹« (alle S. 180) Woraufhin die pflichtbewussten Beamten peinlich berührt feststellen müssen, dass ihnen die Sprache dieser Inder bekannt vorkommt. In ironischer Brechung verweist diese Szene auf die spezifische Debatte um Überfremdung, wie sie in periodischen Schüben in der Schweizer Ausländerpolitik geführt wird. Die Frage, »Woher jemand kommt«, ist gerade für ein »von unten« immer wieder neu zusammenwachsendes Gemeinwesen und sein Angewiesensein auf persönliches Vertrauen wichtig und legitim. Zugleich aber ist die Frage nach dem Ursprungsort, nimmt man sie im genealogischen und migrationstechnischen Sinne ernst, nicht einfach zu beantworten. Von dem Versuch, eine Antwort zu finden, die der Komplexität der Lebensläufe und Verhältnisse unter postkolonialen Bedingungen Rechnung trägt, handelt Deans Roman als eine erzählte Spurensuche. Indien und die Schweiz, Trinidad und London können – je nachdem, in wessen Geschichte sie auf welche Weise erzählt werden – Herkunft oder Zukunft, entbundene oder erfundene Heimat zugleich sein.
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I M Z AUBERGARTEN GEFANGEN . A FRIK AVERSIONEN Z WISCHEN SE XUELLER R EGRESSION UND DER R OUTINE DES T ÖTENS »Unsere Gelder flossen in die Taschen der Reichen, und auch die nächste und die übernächste Generation wird in den Sümpfen verfaulen, Sehnen fressen und saures Hirsebier trinken und keine Freude haben als ihre Lieder und dann und wann einen Kasten Industriebier.«9 In Lukas Bärfuss’ knapp zweihundertseitigem Roman Hundert Tage herrscht ein anderes Stilregister des Erzählens als bei der tastenden, der Imagination große Spielräume zugestehenden Spurensuche, die Martin Deans Väterbuch auszeichnet. Bärfuss setzt auf Zuspitzung, auf Drastik, auf kraftvolle Ausdrücke und gradlinige Sätze. Die eigentliche Geschichte aber, eine Todesbilanz, die in die Hunderttausende geht, dräut lange im Hintergrund. Der Schauplatz ist Ruandas Hauptstadt Kigali in Ostafrika. Das Leben dort ist für die aus Europa entsandten diplomatischen Repräsentanten und Entwicklungshelfer keineswegs unangenehm, im Gegenteil. Das im ostafrikanischen Hochland gelegene Ruanda hat aufgrund seiner Höhenlage ein vergleichsweise mildes, feuchtwarmes Klima und weist als Pays de Mille Collines eine abwechslungsreiche landschaftliche Gliederung auf, die vom Kiwusee im Westen über die Viereinhalbtausender-Vulkanberge im Norden zu den ausgedehnten Sumpfgebieten im Osten reicht und von großen Zuflüssen des Nil und des Kongo durchzogen wird. Nach der Unabhängigkeit von Belgien in den sechziger Jahren machte auch die Infrastruktur des Landes erhebliche Fortschritte. Ruanda ist kein Krisengebiet, mehr und mehr Straßen sind asphaltiert, in den schmalen Tälern werden Anbaugebiete kultiviert und versorgen »die Menschen mit Maniok, Bananen, Bohnen und Kaffee« (S. 26). David Hohl, Mitarbeiter einer Schweizer Hilfsorganisation und der Ich-Erzähler dieses Romans, weiß noch manche Einzelheiten von der »guten alten Zeit« (S. 28) zu berichten, die freilich kurz nach seiner Ankunft rapide zu Ende gehen wird. Das kleine Kigali sieht nach einem entspannten Leben aus, »verschlafen, ordentlich, aufgeräumt, langweilig«. Man trinkt »im Le Palmier eine Bananenlimonade« und schaut »dem Treiben auf der Avenue de la Paix« (S. 25) zu; das ist beinahe schon alles. Als »Unterkunft« wird dem Neuankömmling ein formidables Domizil zur Verfügung gestellt, »ein eingeschossiges, kalkweißes Haus« mit vier Zimmern, Veranda, umgeben von einem großartigen Park. Als ihm das Anwesen gezeigt wird, glaubt er zuerst an einen gemeinen Scherz: »Es war der zauberhafteste Ort, den ein Mitglied meiner Familie jemals bewohnt hat« (S. 30). Besonders der Garten von »Haus Amsar« hat es dem neuen Bewohner angetan, taucht er doch das ganze Anwesen in ein buntes Meer aus »Puderquaststräuchern, Christusdornen und Wandelröschen« (ebd.), gekrönt von einem Korallenbaum. Die prachtvollen Bäume sind ein Schauspiel für sich, David ist entzückt von der »Schönheit dieses Baumgartens«, entdeckt und preist die Gestalt der Gewächse. »Neben je9 | Bärfuss, Hundert Tage, S. 154. Zitate fortlaufend im Text nachgewiesen.
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nen aus Übersee gab es einheimische Arten wie Newtonia aus den Nebelwäldern des Nyungwe, manche mit rankendem Amarant bewachsen, einer Liane, die nur einmal in zehn Jahren blüht, und dann treibt Urubogo, wie sie diese Pflanze hier nannten, weißfedrige Blüten.« (beide S. 40) Und sogar einen eigenen Gärtner für das Anwesen gibt es, Théoneste, der die farbenfrohe Pracht sorgsam pflegt und in Schuss hält. Wo ist eigentlich der Haken an der Sache? Erfahrene Leser, und auch der Protagonist selbst, wissen natürlich von Beginn an, dass dem Idyll des tropischen Zaubergartens nicht zu trauen ist. »Aus der Ferne sahen die Baumkronen aus, als wären sie von Schimmel befallen, ein Zeichen des Unglücks nach der Überzeugung der Einheimischen, denn der blühende Amarant soll Krieg, Hunger und Dürre bringen.« (S. 40) Mit den Ingredienzen ebendieser so ausnehmend kleinteilig und detailverliebt beschriebenen Situation von Stadt, Haus und Garten wird Bärfuss – als hätte er es erzählökonomisch auf eine 180-Grad-Wende angelegt – im gegenstrebigen, abstürzenden Teil der Handlungslinie eine Geschichte des fortwährenden Grauens ablaufen lassen. All die wuchernde Üppigkeit orchestriert nun das nackte Entsetzen. Als in Kigali die Gewalt eskaliert und sich unter zwei zutiefst verfeindeten Bevölkerungsgruppen die Katastrophe eines riesigen Gemetzels abzuzeichnen beginnt, lässt Hohl, der handlungsarme Held dieser Geschichte, es ganz bewusst darauf ankommen, das letzte Flugzeug, die letzte Ausreisemöglichkeit zu verpassen. Er versteckt sich, wird zum Gefangenen im eigenen Haus, während draußen Todeskommandos durch die Straßen ziehen und dann auch plötzlich vor seinem Fenster auftauchen. »Es waren junge Burschen, beinahe noch Kinder, in grotesker Kostümierung: die Farben ihrer Partei zeigten blau-gelbe Boubous an, um den Kopf hatten sie T-Shirts gebunden, im Gürtel steckte Grünzeug […]. Ich hätte sie für Karnevalisten gehalten, hätten sie keine Waffen getragen« (S. 171f.). Aus den Halbwüchsigen der Umgebung und aus den vertrauten Gesichtern des Servierpersonals sind Killerbanden geworden, die von morgens bis abends mit Vergewaltigung und Totschlag beschäftigt sind. Im üppig sprießenden Garten des Protagonisten gönnt sich eine dieser selbsternannten Mörderbanden eine kleine Verschnaufpause, die Hohl von seinem Versteck aus voller Angst beobachtet. Noch nie konnte er seinen eigenen Tod so greifbar nahe vor sich sehen. Wie ist es zu diesem grotesken Umschlag des Zaubergartens in einen Panikort klaustrophobischer Verfolgung und Todesangst gekommen? Auch Bärfuss spaltet seine literarische Antwort in zwei Linien auf, in eine geschichtliche und eine persönliche. Beide freilich sind auf bemerkenswerte Weise ineinander verhakt. Und auch die steigende und die fallende Handlungslinie zerlegt Bärfuss nicht in ein zeitliches Nacheinander, sondern verzwirbelt sie von Beginn an zu einem einzigen, aus zwei gegensätzlichen Erzählsträngen überkreuz geflochtenen Zopf oder einem Tau (oder dessen Einzelstücken). Der junge Entwicklungshelfer aus der Schweiz, so zeigt sich, war schon bei der Ausreise und erst recht nach seiner Ankunft lange Zeit viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt,
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um seine Umgebung überhaupt wahrzunehmen. Und genau auf diese Weise ist er in einen Karneval des Todes geraten. Die Geschichte, die Bärfuss erzählt, hat deshalb gleich zwei Anfänge, einen persönlichen und einen historischen. Und auch, wie Bärfuss sie erzählt, hat sie zwei solche Anfänge, als histoire und als discours. Der Einsatz des Erzähldiskurses erfolgt mit dem Beginn des Textes und der Frage: »Sieht so ein gebrochener Mann aus« (S. 5). Der Satz endet nur deshalb nicht mit einem Fragezeichen, weil er in den Erzählvorgang eines Sprecher-Ichs eingebettet ist, das in Präsensform einen Dialog mit der eigentlichen Hauptfigur des Romans wiedergibt. Schneeflocken vor dem Fenster und Anspielungen in der mündlichen Rede geben zu erkennen, dass David, der Mann, der als Schweizer die »Hundert Tage« von Kigali durchlitt und überlebte, wieder zurück in der Heimat ist und sich daran macht, seine Geschichte für einen vertrauten Gesprächspartner (einen Schulfreund, so wird rasch klar) aus dem Rückblick erneut aufzurollen. David steht nun also, darauf beharrt der Freund, als »gebrochener Mann« da; ihm ist, ohne dass man dies zu gemeinsamen Schulzeiten hätte vermuten können, das besondere Schicksal widerfahren, »in die Wirren eines Jahrhundertverbrechens zu geraten« (S. 6). Indem Bärfuss hier kontrastiv mit den Abständen der Zeitstationen von Gegenwart, Schulvergangenheit und dazwischenliegendem Genoziderlebnis arbeitet, treibt er das Ungeheuerliche der von dem Gespräch zweier alter Freunde touchierten Vorgänge in seiner bizarren Unverhältnismäßigkeit hervor. »Als Kind war er kein Draufgänger«, dieser David, wie ihn sein alter Freund zu kennen glaubt, doch besaß er schon immer »ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden«. (ebd.) Aus dem Erinnerungsraum des gemeinsam Erlebten sind keine Rückschlüsse, keine retrospektiven Prognosen möglich; so gerne der wohlmeinende, interpretierende Freund das hintere und das vordere Ende von Davids Lebensgeschichte miteinander verbinden würde, ihr Tau scheint irgendwo in dem nicht sichtbaren Mittelstück gekappt worden zu sein. Nach wenigen Seiten geht diese Rahmensituation kaum merklich in die Binnenerzählung der Hauptfigur über, um erst mit den letzten Absätzen wieder in die Schweizer Erzählgegenwart und ihren leisen, unermüdlichen Schneefall zurückzukehren (freilich, ohne dass das Ich des ungenannten Freundes nochmals das Wort ergreifen würde). Der zweite Anfang, derjenige, in dem Davids Geschichte ihren sachlichen und kausalen Ausgangspunkt hat, liegt zeitlich gesehen mehrere Jahre vor den Ereignissen in Ruanda und ereignet sich noch auf europäischem Boden, bei der Passkontrolle des Brüsseler Flughafens, wo gerade die Passagiere für den Sabenaflug nach Ostafrika abgefertigt werden. In der Schlange am Schalter hat sich vor David, dem bei seiner ersten Flugreise gleich ein ungewisses afrikanisches Abenteuer bevorsteht, plötzlich eine Verzögerung ergeben. »Eine afrikanische Frau in europäischer Garderobe«, sehr attraktiv und schick gekleidet, unter den Arm einen Sonnenschirm mit auffälligem Entenkopf geklemmt, wird am Passieren der Grenzkontrolle gehindert. David ahnt, nein weiß sogleich: »die belgischen Zöllner schikanierten sie […], weil sie Staatsbürgerin einer ehemaligen Kolonie war« (S. 15).
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Vor Davids innerem Auge defilieren im Blitztempo die Symbolbestände des Kolonialterrors, er denkt an »Tervuren, erbaut von Leopold dem Zweiten, dem Vater aller rassistischen Scheusale«, wo immer noch Belgiens koloniale Vergangenheit verklärt werde. »Dort huldigten sie unverhohlen den Verbrechen der Force Public, nannten den Meuchelmörder Stanley einen großen Mann und zeigten den Koffer seiner Kongoreise als Reliquie in einer Heldenvitrine.« (beide S. 16) Die wütende Kritik ist zwar der Sache nach keineswegs unberechtigt, verfehlt aber als Rollenprosa des sich einmischenden Schweizers ihr pragmatisches Ziel. Denn Davids kräftige Flüche, »in unserer Muttersprache« gegen die augenscheinlich rassistischen Zöllner geschleudert, tragen ihm einen mehrstündigen Polizeigewahrsam ein und – das ist noch weit schlimmer für ihn – die demonstrative Verachtung jener jungen afrikanischen Dame, für die er sich so vehement ins Zeug gelegt hatte. Das Flugzeug ist weg, die Frau ebenfalls, und das hehre antikoloniale Heldenbild, das sich der Afrikareisende von seiner eigenen Mission gemacht hatte, ist schon vor dem Beginn seiner Tätigkeit schwer angekratzt. Er kann, er wird diese doppelte Kränkung nicht auf sich sitzen lassen. Von nun an wird der Entenkopf, werden der Knauf des Sonnenschirmes und seine Trägerin ihn als Vision hartnäckig peinigen. David verbringt, als er dann endlich in Ruanda eingetroffen und eingerichtet ist, seine ganze freie Zeit in den ersten Wochen und Monaten damit, die offenbar sehr unberechenbare fremde Schönheit wiederzusehen. Das gelingt dann per Zufall auch irgendwann, und nach einer weiteren Zeitspanne hartnäckiger Belagerungen seinerseits gehen die beiden dann auch eine heftige, leidenschaftliche Sexbeziehung miteinander ein. Es ist aber beileibe kein glückliches Ende, das sich auf diese Weise anbahnt, sondern das pure Verderben. Der europäische Kolonialismus als Verbrechensgeschichte umfasst nicht nur die von den Kolonialakteuren an außereuropäischer Bevölkerung verübten Gewalttaten. Es geht mindestens ebenso sehr auch um die sozialen, politischen und ökonomischen Folgen jener Unterhöhlung und Destabilisierung der betroffenen Gesellschaften, die zunächst erst durch die Kolonialherrschaft selbst, dann durch ihren unvorbereiteten Abzug bewirkt wurden. In dieser Hinsicht ist der Völkermord von Ruanda als koloniale »Spätfolge« ein, um es paradox zu sagen, auf seine Weise durchaus typischer Sonderfall. Mehrere europäische Kolonialnationen hatten das ost- und zentralafrikanische Hochland schon während und nach seiner geographischen Erschließung als eigenen Einfluss- und Machtbereich annektiert. David hatte, indem er gegen die belgische Kolonialvergangenheit loswetterte, Recht und Unrecht zugleich. Denn Belgien war, anders als im Kongo, wo diese Kolonialnation unter besagtem Leopold II. ein berüchtigtes Schreckensregiment etabliert hatte, in Ruanda erst nachträglich als Kolonialmacht eingesetzt worden und fungierte bis zu den Unabhängigkeitskämpfen anfangs der sechziger Jahre als UNO-Mandatsträger. Die erste Kolonialmacht auf ruandischem Gebiet hingegen war das Deutsche Reich gewesen. Ruanda gehörte zu jenem ostafrikanischen Großraum, dessen Bestandteile seit 1884, sanktioniert durch die Berliner Konferenz, als deutsche »Schutzgebiete« ko-
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lonialisiert wurden. Als erster kaiserlicher Resident hielt Richard Kandt in Kigali Einzug, der sich um die Jahrhundertwende als einer der ultimativen Nilquellenforscher einen Namen gemacht hatte. Seiner offiziellen Einsetzung in Kigali vorausgegangen waren Jahre, in denen Kandt mit auf eigene Faust durchgeführten Forschungsreisen die Gewässersysteme am Oberlauf des Nil und im ruandischen Bergland erkundet hatte. Von der großen Expedition, die er 1898 von der Ostküste aus, zunächst der alten Karawanenstraße folgend, ins Landesinnere und zum Kagera unternahm, berichtet Kandt selbst in den stilisierten autobiographischen Briefen, die er unter dem Titel Caput Nili 1904 herausbrachte.10 Der Schriftsteller und Reisereporter Hans Christoph Buch, bekannt geworden durch seine Romane und Essays über Haiti und dessen ethnische und politische Konflikte, legte 2001 einen Ruandaroman vor, der einerseits jene Nilexkursion Richard Kandts auf fiktionalisierte Weise nacherzählt, andererseits aber das Grauen des Völkermords von 1994 aus der Ich-Perspektive eines im Folgejahr durch das Land reisenden deutschen Berichterstatters darzustellen versucht. Hieraus entsteht eine in ihrer Zweischichtigkeit prekäre Mischung von operettenhaft übersteigerter Heldenreise und aktuellem Opfertourismus, die höchste Effektwerte des Befremdens anstrebt und auch erzielt. So wird beispielsweise auf der Ebene des historischen Erzählens Exreichskanzler Bismarck als schneidig-jovialer Auftraggeber Kandts in Szene gesetzt: »Finden Sie die Quellen des Nils«; im Gegenwartsbezug wiederum denkt der durch Flüchtlingslager und Lazarette geführte Besucher über die Frage nach, ob bei ihm »Gewalt als Aphrodisiakum«11 wirke. Politisch ist der Zweck der narrativen Zweischichtigkeit durchaus einsichtig. Die Absicht des Buchs ist es, das aktuelle Vernichtungsgeschehen vor dem Hintergrund einer kolonialgeschichtlichen Dimension zu zeigen und dadurch in eine kolonialkritische Perspektive einzuordnen. Hinzu kommt allerdings die Schwierigkeit, dass die aktuelle Berichtsebene in das Jahr nach dem Genozid fällt und der Schreibende somit, partiell jedenfalls, Augenzeuge des Gegenschlags jener wird, deren Volksgruppe im Vorjahr den Verlust vieler Hunderttausender von Menschen zu beklagen hatte. Aus diesem eher kontingenten Umstand zieht der Roman die zutreffende, aber letztlich auch nutzlose Erkenntnis, der Kain von heute könne morgen schon anstelle Abels das nächste Opfer sein. Auch Bärfuss kommt nicht ohne einen historisch zurückgreifenden Erzählzusammenhang aus, um die umfassendere Bedeutung des thematisierten Völkermordes wenigstens anzudeuten. Doch die Verweise auf das imperiale Belgien und auf den einstigen Residenten der deutschen Kolonialmacht (vgl. S. 25) bleiben oberflächlich und blass. Ihn interessiert viel stärker, wie es nach dem Aufschwung Ruandas mit seiner Unabhängigkeit und angesichts der vergleichsweise günstigen Entwicklungsbedingungen des Landes, vor allem aber bei dem massiven Einsatz 10 | Kandt, Caput Nili. Vgl. hierzu: Honold, »Caput Nili«. 11 | Buch, Kain und Abel in Afrika, S. 61 und 47. Vgl. Hamann/Honold (Hg.): Ins Fremde Schreiben.
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internationaler Hilfsorganisationen und vorbildlicher Entwicklungsprojekte zu dem monströsen Gewaltausbruch eines Massenmordes hatte kommen können, der mit einer Opferzahl von an die 800.000 Toten in nur wenigen Monaten (eben die im Titel prangende Formel der »Hundert Tage«) alles Vergleichbare, ja alles Vorstellbare übersteigt. Suggestiv lässt Bärfuss die Effizienz und Wohlorganisiertheit der Massakerwochen in den Vordergrund treten, die der Erzähler aus nachträglicher Informationslage noch unterstreichen kann. »[J]etzt weiß ich, dass in der perfekten Hölle die perfekte Ordnung herrscht, und manchmal, wenn ich mir dieses Land hier ansehe [hier spricht der in die Schweiz Zurückgekehrte, A. H.], das Gleichmaß, die Korrektheit, mit der alles abgewickelt wird, dann erinnere ich mich daran, dass man jenes Höllenland auch die Schweiz Afrikas nannte«.
War nicht Ruanda, schon »der Hügel und der Kühe wegen«, aber mehr noch »wegen der Disziplin, die in jedem Lebensbereich herrschte« (beide S. 168), zu einem Muster- und Vorzeigeland der internationalen Zusammenarbeit prädestiniert? Lag darin nicht auch das Geheimnis seiner Attraktivität auf dem globalen Markt der humanitären Projekte? »Die Hilfsorganisationen waren verrückt nach diesem Land, man trat sich gegenseitig auf die Füße, und es gab buchstäblich nicht einen Hügel ohne Entwicklungsprojekt, keine Gemeinde, in der nicht die Schule reformiert wurde. Überall besuchten die Frauen Kurse in Familienplanung, und die Gemeindevorsteher wurden in Organisationsentwicklung geschult.« (S. 46)
Das Porträt des Einsatzgebietes dieser Organisationen liest sich wie die satirisch zugespitzte Beschreibung eines von Konkurrenz auf engstem Raume erfüllten Messe- und Ausstellungsbetriebes, einer Leistungsschau zeitgemäßer Afrikahilfe. »Armut und Rückständigkeit setzten den Ideen keine Grenzen, Schlachthöfe, Quellfassungen, Getreidespeicher, Textilwerkstätten, Entbindungsstationen, Telefonleitungen, Schultoiletten, Jugendfarmen, Modellkäsereien, Vorratssilos – es gab nichts, was dieses Land nicht benötigte, und die zweihundertachtundvierzig Hilfsorganisationen übertrumpften sich gegenseitig mit immer neuen Entwicklungsprojekten.« (ebd.)
Nochmals also: Wie passt die Erfolgsbilanz der dort tätigen Organisationen zu der vollständigen Hilflosigkeit, mit der die internationale Staatengemeinschaft dem Genozid gegenüberstand? Natürlich »schult« Bärfuss mit diesen scharfen Kontrasten seine Leser darin, in der manichäischen Bestandsaufnahme des guten und bösen Landes nicht allein den heftigen moralischen Widerspruch, sondern zugleich den impliziten Zusammenhang zu sehen.
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Sein Protagonist, der gemäß den mitgeteilten Zeitangaben doch schon mehrere Jahre im Lande weilt, als die Katastrophe sich ereignet,12 muss derweil die Erfahrung der »zwei Gesichter« auf besonders irritierende Weise in seinem Privat- und Liebesleben machen. Kaum hat er nach langen Mühen die Schöne vom Zoll wieder ausfindig gemacht und sie zu einem gemeinsamen Wochenende ans Ufer des Kiwusees eingeladen, kommt »etwas« der Romanze »dazwischen«, »eine Geschichte, die jedes Mal, wenn sie erzählt wurde, Tod und Verwüstung über das Land brachte« (S. 79f.). Ein »Geheimnis, das dieses Land im Griff hatte«, »ein Tabu, für alle verbindlich« – der Ich-Erzähler braucht etliche Anläufe, um über die uralte Feindschaft zwischen Hutu und Tutsi zu berichten. In der hier gelieferten Version werden die Völkerstämme als »Lange« und »Kurze« in leicht verfremdende Bezeichnungen übersetzt,13 aber das Grundschema bleibt dasselbe. »Seit der Unabhängigkeit von 1962«, so erzählt der Protagonist, hätten »die Langen« die Angehörigen der anderen Gruppe systematisch von höherer Schulbildung und öffentlichen Ämtern ferngehalten; »die Kurzen« waren in Politik und Militär »ausgeschlossen – es blieben ihnen nur die unteren Ränge der Gesellschaft« (S. 81). Obwohl »die Langen« nur zehn Prozent der Bevölkerung umfassen, bilden sie die Herrschaftselite, und dies schon seit Jahrhunderten; »aus ihren Reihen waren die Könige gekommen, sie hatten die Monarchie gestellt« (ebd.). Doch nicht nur diese langanhaltende Tradition der Unterdrückung ist das Problem; die eigentliche Tragödie dieses ethnischen Konflikts beginnt mit der Einsicht, dass es sich gar nicht wirklich um einen klar ethnisch begründeten Konflikt handelt, sondern um ein relativ unklares und flexibles System der Stigmatisierung und Repression. Wer jeweils »Langer« oder »Kurzer« ist, hängt nicht von empirisch bestimmbaren Kriterien ab, sondern von den Herrschaftsmechanismen, welche diese Grenzziehung herstellen und kontrollieren; in der Praxis spielte sich dabei über längere Zeiträume eine gewisse Flexibilität ein. Für die ethnisch geteilte Bevölkerung in Ruanda habe sich, so Bärfuss, »ein Netz aus gegenseitigen Abhängigkeiten« ergeben; »die Maschen waren weit genug, damit ein verarmter Langer hindurchfallen konnte und so ein Kurzer wurde; ein Kurzer aber, der zu Reichtum kam, seinen Kopf hindurchstrecken konnte und ein Langer wurde« (S. 83). Bärfuss lässt seinen Protagonisten hier ein Muster beschreiben, das über den konkreten Fall hinaus eine exemplarische Bedeutung für die Funktionsweise von Diskriminierungsmechanismen aufweist. Der in westlichen Medien einzig transportierte Nachrichten-»Kern« des Geschehens, die Tatsache nämlich, dass es sich um ein 12 | Als Abreisedatum nach Ruanda wird »Ende Juni neunzehnhundertneunzig« (S. 14) angegeben. 13 | Indem Bärfuss’ Ich-Erzähler betont, dass es »auch kurze Lange und lange Kurze« (S. 80) gab, bekundet er demonstrativ, dass nicht bestimmte körperliche Merkmale für die Diskriminierung maßgeblich sind, sondern der Vorgang der Differenzbildung selbst über die Konstitution des Unterscheidungsmerkmals entscheidet, indem er dieses allererst kulturell hervorbringt.
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Massaker der Hutu an den Tutsi handelte, wird in der Darstellung bei Bärfuss zwar nicht verschwiegen, aber auch nicht explizit konstatiert. Der Blick dieses Romans erfasst die verfeindeten Gruppen als durch den kolonialen Blick je schon verfremdete, deformierte. Als eine Art archetypisches »Märchen« erzählt die Geschichte der Langen und Kurzen, die einander so zum Verwechseln hassen und gleichen, von der aberwitzigen mörderischen Logik des kleinen Unterschieds. So gesehen ist Bärfuss’ Ruandaporträt gar nicht weit von Hans Christoph Buchs Kain-und-AbelGeschichte entfernt; beide gehen aus von der Einsicht in die fundamentale Unlegitimierbarkeit jener ethnischen Grenzziehungen, auf welchen die geschilderten Exklusions- und Repressionsmechanismen beruhen. Die Belgier, die nach dem Ersten Weltkrieg Deutschland als Kolonialmacht in Ruanda ablösten, revidierten jenes System einer flexiblen Diskriminierung nun dahingehend, dass sie nicht etwa die Diskriminierung beendeten, sondern ihre Flexibilität; »sie entfernten das Netz und zogen an dessen Stelle eine Wand ein«, bringt Bärfuss die Veränderung auf den Punkt. In Identitätskarten wurde nun unabänderlich »festgeschrieben«, »wer ein Langer und wer ein Kurzer zu sein hatte« (S. 84). Damit steigern sich die Formen der Ausgrenzung und die Betätigungsmöglichkeiten des Hasses nochmals, weil unter der Kolonialmacht die alte Herrschaftselite zwar »die Stellung, aber nicht die Macht« (S. 84) behielt. Eine revolutionäre Situation staut sich auf, deren Energie sich bei den Unabhängigkeitskämpfen in der Hierarchieumkehr zugunsten der Kurzen entlädt. Ist es denn wichtig, wer nun gerade wen umbringt, wenn die Gründe und Verlaufsmuster des Vernichtungsdenkens sich jeweils auch austauschen oder umkehren ließen? Anders gefragt: »War nicht lobenswert, dass sich der Bischof von Kabgayi, ein Schweizer, an die Spitze der Demokratiebewegung setzte, den Kurzen mit einem Hirtenbrief im Februar 1959 Hoffnung gab, in dem er die Gleichheit der Rassen […] predigte […]?« In jener Situation, so Bärfuss weiter, entsandte die Schweizer Eidgenossenschaft der »jungen Republik« einen »Berater« (alle S. 84), und jene Entwicklungsorganisation, welcher auch der zunehmend ratlose David Hohl angehört, nahm ihre Tätigkeit auf. Dieses historische Wissen kommt innerhalb des Romans an jener Stelle zur Sprache, als der Protagonist und Ich-Erzähler nicht mehr umhin kann, von den rapide sich verschärfenden Spannungen Notiz zu nehmen, weil sie seine schon fest eingeplante Liebesaffäre mit Agathe, der Dame mit dem Entenschnabel-Sonnenschirm, zu durchkreuzen drohen. Wie die erotische Spannung zwischen diesen beiden auf eine ziemlich rabiate Entladung zustrebt, so auch, auf kollektiver Bühne, die abermals angeheizte Konfliktsituation der verfeindeten Volksgruppen. David muss sich eingestehen, dass auch Agathe sich immer mehr zu einer furchtbaren Rassistin wandelt; sie klopft militante Sprüche, frequentiert hetzerische Parteiversammlungen, verteidigt ihm gegenüber Mordanschläge, die mittlerweile fast schon an der Tagesordnung sind. Das ist, denkt sich David, »nicht die Agathe, die in Brüssel studierte, dieselbe Musik mochte wie ich«, das ist eine ganz andere Frau: »ich sah die Nachfahrin von afrikanischen Bauern, die in einem ewigen
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Kampf mit der Natur stehen, unfähig, weiter als nur bis zur nächsten Mahlzeit, wenn es hochkommt, bis zur nächsten Ernte zu denken« (S. 133). Dumm nur, dass David inzwischen vollkommen sexuell abhängig geworden ist. »Es sind Kakerlaken, David […]. Ein Tutsi bleibt ein Tutsi«, redet Agathe noch auf ihn ein, während sie schon dabei sind, einander fieberhaft auszuziehen. »Niemals war der Sex besser, verdorbener, ausschweifender, niemals schweinischer gewesen als in jener Nacht« (S. 127). Es ist offenbar genau diese Mischung, die den Erzähler scharf macht und dazu bringt, sich mehr und mehr in eine auch für ihn haltlose, gefährliche Situation zu begeben. Selbst als eine von ihm aufgenommene Flüchtlingsfrau von Agathe vor seinen Augen genussvoll erniedrigt und physisch verletzt wird, kann der Protagonist, nachdem er seinen hilflos tadelnden Spruch über Toleranz und Menschenrechte aufgesagt hat, vor Erregung nicht mehr an sich halten. Die Straßengewalt der Mörderbanden und der sexuelle Stress mit Agathe nehmen im Gleichtakt rapide zu; ab einer gewissen Phase der Zuspitzung bleibt dann nur noch das Erstgenannte, und David verliert Agathe für einige Zeit aus den Augen. Eine Schlüsselszene,14 an der Bärfuss die Panik seines Protagonisten und seinen blinden Weg ins Verderben dramaturgisch festmacht, ist jener schon erwähnte Moment, in dem der Entwicklungshelfer die letzten Ausreisemöglichkeiten in den Wind schlägt und sich vor den »eigenen« Leuten (den anderen Schweizer Mitarbeitern) im Geräteschuppen seines Gartens verborgen hält. Von diesem Zeitpunkt an, als die anderen Europäer das Land geräumt haben und Kigali zum Aufmarschgebiet des Gemetzels mutiert, geht es für den auf seinem Anwesen förmlich festklebenden David Hohl nur mehr um das eigene Leben. Warum? Das ist die Frage, die sich bei der Lektüre stellt und die auch das Grundinteresse des Rahmengesprächs markiert, das der Protagonist rückblickend nach seiner Heimkehr führen wird. Warum, erstens, dieser grenzenlose Hass und das nicht endenwollende Morden? Und warum, zweitens, diese passive Schicksalsergebenheit des ausländischen »Entwicklungshelfers«, der sich nicht abwenden kann vom Schauspiel des Grauens, sondern mitten darin in seiner privaten Liebesmelancholie versinkt, obwohl die Zeichen der Zeit ihm unmissverständlich die schnellstmögliche Flucht nahelegen? »In der Not führte ich Selbstgespräche, freilich ohne mich zu hören […]. Es war jemand anders, dem ich zuhörte, und dieser Jemand war eingeschlossen im Haus Amsar, Rue Député Kayokou, Kigali, aber meine Identität, jener David Hohl, mit dem ich mich verbunden fühlte, hatte nichts zu tun mit diesen unzusammenhängenden Reden« (S. 165).
Die Art und Weise, in der Bärfuss’ Hundert Tage die persönliche Verstrickung des Protagonisten und die politische Katastrophe des Landes miteinander verwebt, 14 | Mit Recht hebt Literaturkritiker Roman Bucheli Bärfuss’ Technik der Verdichtung von »emblematischen Szenen« hervor. Bucheli, »Hundert Tage«.
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macht das aus postkolonialer Sicht methodisch wirksame Konzept der Komplizenschaft zu einem sinnfälligen, bei der Lektüre sich vollziehenden Erfahrungsvorgang. Der Umschlag des üppigen Gartens in ein barbarisches Horrorszenario ist keine dramaturgisch distinkte Phase des Geschehens, wie einst bei Aristoteles der plötzliche Glückswechsel im Drama modelliert worden war, nein: Diese Dimension des Grauens ist nicht einfach der »spätere« Handlungsteil, der auf ein anfängliches Idyll folgt; sie ist immer schon präsent als die Kehrseite des musterhaften Vorzeigefalles, als welcher Ruanda in den Erfolgsbilanzen internationalen Projektmanagements auftaucht. Geradezu allegorisch hat der Autor diese Dualität an der Figur des Gärtners durchgeführt, über den der Protagonist nicht nur am Paradies Ruanda, sondern auch an der Hölle Ruandas teilhat. Théoneste versorgt den Bedrohten in seinem Versteck mit Nahrungsmitteln und Wasser; nebenbei aber deponiert er im Haus »Plünderware« (S. 166) von seinen Streifzügen. Und nicht nebenbei, sondern hauptsächlich, geht er nun mit seinen Kollegen einem neuen Beruf nach, »ausgerüstet mit Macheten und Pausenbroten«. Waren sie früher »samstags zur Gemeindearbeit« erschienen, um etwa an einem »Entwässerungsgraben« mitzuhelfen, so betreiben sie nun nicht minder zuverlässig ihr Mordhandwerk, dessen ausweglose professionelle Perfektion Bärfuss nicht in ihren schrecklichen Details schildert, aber in einer sarkastischen Einzelheit andeutet. »Wenn sie fünf Minuten vor Feierabend einen Vater umgebracht hatten, dann ließen sie den Rest der Familie leben, denn schließlich war auch morgen noch ein Tag und es war nicht angezeigt, Überstunden zu machen.« (alle S. 168) Wiederum liegt (wie schon bei Dean zwischen Trinidad und Engadin) gedanklich eine Figur der einander berührenden Gegensätze zugrunde, wenn zwischen dem in seiner Mechanik so grauenhaft präzise ablaufenden Mahlwerk des Todes und der logistisch vorbildlichen Entwicklungsarbeit ein gespenstischer Konnex behauptet wird. »Nichts liebt das Böse mehr als den korrekten Vollzug einer Maßnahme, und darin, das muss man doch zugeben, gehören wir zu den Weltmeistern.« (S. 169) Wir – das ist, aus der Perspektive des Protagonisten David Hohl gesprochen, diejenige kulturelle Adressatengemeinschaft, welcher er sich selbst beim Gespräch nach der Rückkehr zurechnet: zunächst die deutschsprachige Schweiz und darin die Diskussionskultur der Medien und das »Meinungsklima« der größeren Städte; weiterhin das gutbürgerlich etablierte linksliberale Milieu, dem der Protagonist lebensweltlich verbunden scheint; letztlich aber die gesamte europäische Gemeinschaft der hilflosen Zaungäste, in die der Mitarbeiter nach der Rückkehr aus Ruanda wieder eingeht. Das »Entsetzen« des Autors (oder seines Textes) gilt, ganz allgemein, der »Formalität des Westens«, seiner »Buchstabentreue«, die dem Desaster vorausging und es begleitete.15 Einige der europäischen Nationen hätten aufgrund ihrer einschlägigen kolonialen Vergangenheit weit mehr Anlass, sich im Hinblick auf die Katastrophe von Ruanda, den Genozid im Rekordtempo, wenn 15 | Rüther, »Mach dein Kreuz«.
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nicht mitschuldig, so doch mitverantwortlich zu fühlen und darum auch politisch aktiv zu werden (was de facto bekanntlich nicht erfolgte). Es mutet von daher stark polemisch überzeichnet, auch historisch ungerecht an, wenn Bärfuss’ Protagonist hier die Schweiz in ganz besonderer Weise anspricht. Das Klischee vom Musterland der reibungslosen zuverlässigen Korrektheit, es wird in nächste Nähe zum fassungslos machenden routinierten Morden in Ruanda gerückt. Das ach so perfekte, von Entwicklungshilfeprojekten vorbildlich aufgepäppelte Ruanda, diese »Schweiz Afrikas«, ist gegen den Durchbruch der Barbarei nicht besser gefeit als andere Länder und Kulturen, im Gegenteil. Für diese gut geölte Vernichtungsmaschinerie, die in den »hundert Tagen« ihr blutiges Werk verrichtet, da braucht es ein Höchstmaß an Organisation, wie der Protagonist erkennt: »[I]ch weiß jetzt, dass jeder Völkermord nur in einem geregelten Staatswesen möglich ist« (S. 168f.) – eine Erkenntnis, für die aus europäischer und zumal aus deutscher Sicht nicht Ruanda, sondern weiterhin »Auschwitz« als basales historisches Merkzeichen genannt werden muss. Wenn darum Bärfuss, respektive sein figurierter Erzähler, derlei Überlegungen abschließend umkehrt und fragt, »ob wir im Gegenzug auch das Ruanda Europas werden könnten« (S. 169), dann knüpft er somit indirekt an jene kritische Argumentationslinie an, die Adolf Muschg einmal mit seinem Beitrag »Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt« akzentuiert hatte.16 Was die Schweiz betrifft, so unterscheidet sich die aktuelle »Involviertheit« des Landes, seiner Bevölkerung, seiner wirtschaftlichen und kulturellen Akteure in die Aufarbeitung kolonialer Vergangenheit und in die globalen Prozesse der Gegenwart nicht (mehr) grundlegend von derjenigen, die in anderen Ländern zu beobachten ist. Das hat einerseits damit zu tun, dass tradierte nationale Spezifika gegenüber den extrem raschen und mobilen Phänomenen der globalen Kommunikation an Distinktionskraft verlieren, andererseits damit, dass sich in den Sozialund Kulturtheorien die Aufmerksamkeitsraster verschoben haben: weg von den direkten und expliziten Aspekten von Kolonialisierung, hin zu den indirekten und eher impliziten Formen und Begleiterscheinungen. Darin ist zugleich der Befund ausgesprochen, dass die Schweizer Gegenwartsliteratur, welche diese Fragen in verstärkter Form aufnimmt und mit ihren ästhetischen Mitteln thematisiert und umformt, nicht mehr »schweizerisch« im Sinne der Abgrenzung ist, sondern im Sinne einer mitwirkenden Stimme innerhalb eines gemeinsamen Ganzen. Und das wiederum bedeutet nichts anderes als ihre Ankunft in der Weltliteratur.
16 | Muschg, Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt.
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L ITER ATURVERZEICHNIS Bärfuss, Lukas, Hundert Tage, Roman, Göttingen 2008. Buch, Hans Christoph, Kain und Abel in Afrika, Roman, Berlin 2001. Bucheli, Roman, »Hundert Tage – Lukas Bärfuss’ klug-aufwühlender Roman über ein Leben in Widersprüchen«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 12.04.2008. Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005. Dean, Martin R., Meine Väter, Roman, München 2003. Hamann, Christof/Honold, Alexander (Hg.), Ins Fremde Schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen, Göttingen 2009. Honold, Alexander, »Caput Nili. August 1898: Richardt Kandt gelingt die letzte Entdeckung der Nilquelle«, in: Honold, Alexander/Scherpe, Klaus R. (Hg.): Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit, Stuttgart, Weimar 2004, S. 226-235. Ders., »Globalität in der Schweizer Literatur. Martin Deans Roman Meine Väter zwischen Indien und Engadin«, in: Amann, Wilhelm/Mein, Georg/Parr, Rolf (Hg.): Periphere Zentren oder zentrale Peripherien? Kulturen und Regionen Europas zwischen Globalisierung und Regionalität, Heidelberg 2008, S. 137-146. Kandt, Richard, Caput Nili. Eine empfindsame Reise zu den Quellen des Nils, Berlin 6 1921. Muschg, Adolf, Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt. Fünf Reden eines Schweizers an seine und keine Nation, Frankfurt a.M. 1997. Reinacher, Pia, »Vatersprache, in Lügen erstickt«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.08.2003. Rüther, Tobias, »Mach dein Kreuz, und fahr zur Hölle. Lukas Bärfuss: Hundert Tage«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.04.2008. Schwarz, Thomas, Tropenfieber auf Trinidad. Martin R. Deans genealogische Recherchen in der indischen Diaspora (German Studies in India. Beiträge aus der Germanistik in Indien. Neue Folge, Bd. 1), 2008. Stockhammer, Robert, Ruanda. Über einen anderen Genozid schreiben, Frankfurt a.M. 2005.
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Keramik, Knollenfrüchte und Kinderbücher Eine postkoloniale Spurensuche in Zürich Martin Mühlheim
Mitten in der Zürcher Altstadt befindet sich das 1912 eröffnete und seither nur wenig veränderte Ladenlokal der H. Schwarzenbach AG, in dem gemäß Werbeschriftzug »Colonialwaren« feilgeboten werden. Die historische Ladenfront erinnert somit an die wesentliche Bedeutung, die den außereuropäischen Handelsbeziehungen der Schweiz spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts zukommt.1 Entsprechend spielen in den folgenden Fallstudien die Jahre von 1750 bis 1800 eine wichtige Rolle. Zudem verfügen die drei Untersuchungsgegenstände alle über einen historischen Bezug zu Zürich und sind bis heute physisch in der Limmatstadt präsent: eine im Kanton hergestellte Porzellanfigur mit dem Titel »Menschenhandel«, das Zürcher Geschnetzelte mit Rösti und der bei Orell Füssli erstveröffentlichte Kinderbuchklassiker Der Schweizerische Robinson. In keiner der Studien soll dabei eine lückenlose Geschichte erzählt werden. Ziel ist es vielmehr, Episoden herauszugreifen und immer auch die aktive Teilnahme der Schweiz an der kolonialen Ordnung zu diskutieren.
D IE P ORZELL ANFIGUR »M ENSCHENHANDEL«: F REIHEIT ALS ZERBRECHLICHES G UT »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.« 2
Als treibende Kraft bei der Gründung einer Zürcher Porzellanmanufaktur im Schooren bei Kilchberg wirkte 1763 Johann Conrad Heidegger, vormals Finanz-
1 | David/Etemad, »Gibt es einen schweizerischen Imperialismus?«, S. 19. 2 | Benjamin, »Über den Begriff«, S. 253.
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verwalter des Kantons und späterer Bürgermeister von Zürich.3 Voraussetzung für diese Gründung war »eine der bedeutendsten kulturellen Leistungen«4 des 18. Jahrhunderts: die Entdeckung des Herstellungsgeheimnisses von Porzellan durch den im Dienst des preußischen Königs stehenden Alchemisten Johann Friedrich Böttger. Böttgers Erfolg bildet indes nicht den Anfang der Porzellangeschichte, sondern steht am Ende einer langen Kultur- und Handelsbeziehung mit dem Fernen Osten: Chinesische Produzenten beherrschten die Herstellung von Porzellan seit dem 7. Jahrhundert; in Europa bekannt wurde das Material um 1300 durch die Berichte des Chinareisenden Marco Polo.5 Bald avancierte chinesisches Porzellan zum begehrten Luxusgut, dessen Preis zeitweise jenem des Goldes nahekam.6 Mit dem Forschungserfolg Böttgers im Jahr 1709 fiel das chinesische Monopol, und trotz schärfster Geheimhaltungsmaßnahmen verbreitete sich das Wissen um die Herstellung bald in ganz Europa, was auch die Gründung der Zürcher Manufaktur ermöglichte.7 Wie andere Schoorener Produkte besticht die Figur »Menschenhandel« insbesondere durch die hohe Qualität ihrer Bemalung: Der arabische Händler mit Turban und Bart »trägt einen hellen purpurfarbenen Mantel und hellgelbe Hosen und bildet so einen sehr ausgeprägten Kontrast zum schwarzbraunen Sklaven und zum Käufer im dunkelfarbenen Kostüm«8 (Abb. 1). Erstaunlicherweise ist aus keiner anderen europäischen Manufaktur eine Porzellanfigur mit ähnlichem Sujet überliefert.9 Über den Modelleur der Schoorener Figur ist zudem wenig mehr bekannt, als dass aus seiner Hand auch die sogenannte Türkengruppe stammt, die Szenen aus den Kriegen gegen die »ungläubigen Moslems«10 zeigt. Franz Bösch sieht zwischen den beiden Sujets auch einen inhaltlichen Zusammenhang, werde doch in beiden Fällen »das breite Thema von Unterdrückung«11 angesprochen. Interessant an Böschs These ist, dass im Falle der Türkenkriege die Rolle des Unterdrückers allein den »ungläubigen Moslems« zukommt, beim Menschenhandel
3 | Bösch, Zürcher Porzellanmanufaktur, S. 47. 4 | Bösch, Vom weissen Goldrausch, S. 8. 5 | Finlay, The Pilgrim Art, S. 70. 6 | Bösch, Vom weissen Goldrausch, S. 8. 7 | Schnyder, Zürcher Porzellan, [S. 4]. 8 | Ducret, Die Zürcher Porzellanmanufaktur, S. 59f. 9 | Ebd., S. 59. So schreibt auch Hanspeter Lanz, der Kurator Edelmetall/Keramik Neuzeit im Schweizerischen Na tionalmuseum, in einer E-Mail am 08.04.2010: »Es ist mir keine entsprechende Figurengruppe aus einer anderen Porzellanmanufaktur bekannt« (private Korrespondenz). 10 | Bösch, Vom weissen Goldrausch, S. 97; Ducret, Die Zürcher Porzellanmanufaktur, S. 59. 11 | Bösch, Zürcher Porzellanmanufaktur, S. 409f.
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hingegen auch einem christlichen Kolonialherrn: Der arabische Händler verkauft seine »Ware« nämlich an einen Edelmann in »spanischem Kostüm«.12 Abbildung 1: Figurengruppe »Menschenhandel«: Schwarzer, Händler, Edelmann; Kilchberg-Schooren; um 1775 (Schweizerisches Nationalmuseum, HA-74)
Die Figur »Menschenhandel« ist somit als kritischer Kommentar zur europäischen Beteiligung am Sklavenhandel zu betrachten. Gleichzeitig erlaubt es die Darstellung des Käufers als Spanier (und damit Katholik) den zwinglianischen Zürchern, europäische Schuld anzuerkennen und dennoch von sich zu weisen. Das Motiv des arabischen Händlers bestärkt nicht nur den Eindruck, die Schuld solle vor allem Anderen zugewiesen werden, sondern ist ferner interessant mit Blick auf die spätere Bedeutung des Antiislamismus für die schweizerische Abolitionistenbewegung nach 1850.13 Trotz dieser zwiespältigen skulpturalen Rhetorik ist es sinnvoll, die um 1775 hergestellte Figur in Verbindung zum kritischen aufklärerischen Denken über die Sklaverei zu setzen. Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung zwischen nordamerikanischen Siedlern und der britischen Kolonialmacht, wo das Schreckgespenst der Versklavung zur politischen Standardrhetorik gehörte, wandelte sich 12 | Ducret, Die Zürcher Porzellanmanufaktur, S. 38. 13 | Hierzu David/Schaufelbuehl, »Les conservateurs et le combat pour l’abolition«, S. 257f. Den Hinweis auf diese Verbindung verdanke ich Francesca Falk.
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die Debatte zu Sklaverei und Sklavenhandel auch in Europa, bis hin zur Entstehung einer eigentlichen Abolitionistenbewegung vorab in England und Frankreich.14 Die zunehmend radikale Diskussion rief schon bald die Zensur auf den Plan; im absolutistischen Frankreich beispielsweise mochte Kritik an der Sklaverei zwar nicht selbst als Vergehen gelten, da sie aber indirekt die bestehende Ordnung hinterfragte, riskierte man dennoch einen Konflikt mit der Krone.15 Abolitionistisches Gedankengut konnte aus diesem Grund häufig nur im angrenzenden Ausland veröffentlicht werden – in der Schweiz beispielsweise in Neuenburg und Basel.16 Aufgrund dieser publizistischen Tätigkeit ist anzunehmen, dass gutbürgerliche Kreise Ende des 18. Jahrhunderts trotz des Fehlens einer helvetischen Abolitionistenbewegung auch in Zürich mit der Debatte über Sklaverei und Sklavenhandel vertraut waren.17 Da Zürcher Privatpersonen und Finanzinstitute wie die Bank Leu – als deren »geistiger Gründer« ebenfalls Johann Conrad Heidegger gilt – direkt oder indirekt am Sklavenhandel beteiligt waren, entbehrte die Porzellanfigur zudem nicht eines pikanten lokalen Bezugs.18 Die Entscheidung zur Herstellung der Figur zumindest mitgetragen haben dürfte Salomon Gessner: Der europaweit bekannte Dichter und Maler war nicht nur künstlerischer Leiter der Schoorener Manufaktur, sondern auch Teilhaber von Orell, Gessner, Füssli & Co., dem »bedeutendsten Verlag der Aufklärung in der Schweiz«19 . In der Erzählung Inkel und Yariko hat Gessner das Thema Sklaverei explizit verarbeitet. Der junge Europäer Inkel versteckt sich zu Beginn vor einer Gruppe von »Wilden, die lang ihn verfolgten«, als plötzlich ein eingeborenes, »orangenroth Mädchen«20, die schöne Yariko, vor ihm steht. Bald sind die beiden ein Liebespaar, und nach einigen glücklichen Tagen im Verborgenen erspäht Yariko ein englisches Schiff, mit dem sie und Inkel das Eiland verlassen können: 14 | Middlekauf, The Glorious Cause, S. 119 und 126. Als Beispiel Jefferson, »A Summary View«, S. 8, der den Briten »a deliberate and systematical plan of reducing us to slavery« unterstellt. Zum Widerspruch zwischen Freiheitsrhetorik und real existierender Sklaverei: Swaminathan, Debating the Slave Trade, S. 93. Siehe auch Im Hof, Das Europa der Aufklärung, S. 196. 15 | David/Etemad/Schaufelbuehl, Schwarze Geschäfte, S. 124; Thomas, The Slave Trade, S. 468. 16 | Ebd., S. 125-127; vgl. auch den Beitrag von Christian Koller in diesem Band. Zum Diskurs über Sklaverei in Frankreich siehe Peabody, »There Are No Slaves in France«. 17 | Zur späten Ausbildung einer Abolitionistenbewegung in der Schweiz David/Schaufelbuehl, »Les conservateurs et le combat pour l’abolition«, S. 247. 18 | Zur Rolle Johann Conrad Heideggers im Zusammenhang mit der Gründung der Bank Leu siehe Bösch, Vom weissen Goldrausch, S. 11; Kuhn/Ziegler-Witschi, Die Stadt Zürich und die Sklaverei, S. 6-8 und 29. 19 | Weber, »Gessner, Salomon«. Zu Gessners prägender Rolle siehe Bösch, Zürcher Porzellanmanufaktur, S. 50. 20 | Gessner, »Inkel und Yariko«, S. 265f.
K ERAMIK , K NOLLENFRÜCHTE UND K INDERBÜCHER : E INE POSTKOLONIALE S PURENSUCHE IN Z ÜRICH »Dieses Schiff war mit Menschen für Kaufmannsgüter befrachtet, Leuten, die von Kopfe zum Fuss ganz schwarz sind, die Nase Platt gedrücket, so dass sie niemand bedaurt [!], und man zweifelt, Ob in der russigen Wohnung auch eine Seele sich findet? […] Der Markt war stark, man verkaufte Menschen mit Kaltsinn wie Thier’, und kaufte die Ochsen wie Menschen.« 21
Die afrikanischen Sklaven werden hier zwar als gänzlich fremdartig beschrieben, und Gessners Text nimmt zu keinem Zeitpunkt ihre Perspektive ein; trotzdem ist ein kritischer Grundton gegenüber dem »Kaltsinn« der Sklavenhändler kaum zu überhören. Dieser Eindruck verstärkt sich in der Folge: Beim Anblick des Handels mit Sklaven im Hafen von Barbados erwacht Inkels »Kaufmannsgeist« wieder, und »um etliche Unzen Gold«22 verkauft er Yariko an einen einheimischen Pflanzer. Bestürzt über den Verrat des Liebsten, bricht Yariko in einen »Strohm von Thränen« aus: »Wie hab ich mich selber betrogen, Als ich dich menschlich glaubte; du bist von dem bösen Geschlechte, Welches von andern Erden in unsre ruhigen Hütten Laster und Plagen gebracht, wovon wir die Namen nicht wussten. Erstlich zwar glaubten wir gern, ihr wäret von göttlichem Ursprung, Denn wir sahen euch milde mit Kunst und Weisheit geschmücket; Aber ihr gabet durch häßliche Thaten uns Ursach’ zu zweifeln, Ob ihr auch menschlich seyd, vom Weibe gebohrene Menschen, Denen ein lebendes Herz mit Gefühl den Busen erwärmet.« 23
Wie Iris Idelsohn-Shein betont, rücken Inkels Verrat und Yarikos Rede auch den Beginn der Erzählung in ein neues Licht, erscheint die Attacke der »Wilden« auf Inkel doch nachträglich als verständlicher Versuch, sich gegen einen europäischen Eroberer zu schützen.24 Auch wenn Gessner Inkel und Yariko in ein – psychologisch schwer nachvollziehbares – Happy End münden lässt, belegen die zitierten Passagen seine kritische Auseinandersetzung mit europäischem Kolonialismus und Sklavenhandel. Somit scheint es wenig plausibel, dass Gessner als künstlerischem Leiter der Züricher Porzellanmanufaktur die politische Dimension einer Figur zum Thema Menschenhandel vollends entgangen sein könnte. Dementsprechend sind Interpretationen zurückzuweisen, welche die Porzellanfigur als Beleg sehen für eine 21 | Ebd., S. 273f. 22 | Ebd., S. 274. 23 | Ebd., S. 274f. 24 | Idelsohn-Shein, »›What Have I‹«, S. 59.
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naiv-unschuldige Weltsicht, die es den Menschen des 18. Jahrhunderts erlaubte, selbst problematische Lebensbereiche unbeschwert zu verbildlichen.25 Viel wahrscheinlicher handelt es sich bei der europaweit einzigartigen Wahl von Sklavenhandel als Sujet um einen bewussten Bezug auf zeitgenössisch-aufklärerische Debatten. Angesichts der Einzigartigkeit der Figur »Menschenhandel« erstaunt es, wie wenig Beachtung ihr in der Ausstellungs- und Fachliteratur seit Beginn des 20. Jahrhunderts zugekommen ist. Die Figur befindet sich schon seit 1898 in der Sammlung des Schweizerischen Landesmuseums; trotzdem lässt es sich relativ leicht erklären, warum sie in frühen Ausstellungsführern nicht erscheint, handelt es sich bei diesen doch um eher stichwortartige Listen.26 Ein Hinweis auf die Figur fehlt allerdings auch in Spezialpublikationen zum Schoorener Porzellan: einem bebilderten Artikel von Heinrich Angst, einem Büchlein von Kurt Frei und einer längeren Studie Siegfried Ducrets.27 Selbst im 1956 von Robert L. Wyss erstellten Führer zur neu eröffneten Porzellan- und Fayenceausstellung im Zunfthaus zur Meisen ist die Figur »Menschenhandel« weder abgebildet noch erwähnt.28 Erst 1959 bespricht Ducret das Objekt in seinem Gesamtkatalog zur Zürcher Porzellansammlung, und fünf Jahre später nimmt Rudolf Schnyder die Figur in ein für ein breiteres Publikum gedachtes Büchlein auf.29 Grund für diese plötzliche Aufmerksamkeit mögen die Bürgerrechtsbewegung in den USA sowie die Unabhängigkeitswelle afrikanischer Staaten seit 1960 gewesen sein; ein bleibendes Interesse an Kolonialgeschichte und Sklavenhandel lässt sich allerdings aus den Publikationen der nächsten Jahrzehnte nicht ablesen: In späteren Führern durch die Porzellanausstellung im Zunfthaus zur Meisen taucht die Figur nicht mehr auf, ebenso wenig in Prachtbänden zu den »Kostbarkeiten« des Landesmuseums oder in Katalogen zu internationalen Ausstellungen von Schweizer Porzellan.30 Erst mit der am 1. August 2009 eröffneten neuen Dauerausstellung des Landesmuseums wendet sich das Blatt erneut: Die Figur »Menschenhandel« steht nun in der Abteilung »Die Schweiz wird im Ausland reich« 25 | Eine solche Interpretation wird beispielsweise vorgeschlagen in Schnyder, Zürcher Porzellan [S. 14f.]; Ducret, Zürcher Porzellan des 18. Jahrhunderts, S. 99. 26 | Zum Beispiel Lehmann, Offizieller Führer, S. 52. Die Jahreszahl 1898 bestätigte Hanspeter Lanz, Kurator Edelmetall/Keramik Neuzeit, Schweizerisches Nationalmuseum (private E-Mail vom 25.10.2010). 27 | Angst, Zürcher Porzellan; Frei, Schweizer. Landesmuseum; Ducret, Zürcher Porzellan des 18. Jahrhunderts. 28 | Wyss, Porzellan und Fayence. 29 | Ducret, Die Zürcher Porzellanmanufaktur, S. 59f.; Schnyder, Zürcher Porzellan [S. 19f. und] Abb. 15. 30 | Lapaire (Hg.), Das Schweizerische Landesmuseum; Schnyder, Porzellan und Fayence; Schneider/Hofer (Hg.), Schatzkammer der Schweiz; Henriques (Hg.), Cerâmica da Suiça; Schnyder (Hg.), Ceramics from Switzerland.
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als Beleg für die Verflechtung der Eidgenossenschaft mit Plantagenwirtschaft und Sklaverei.31 Anders als der teure Katalog zur neuen Dauerausstellung verzichten aber sowohl der Taschenführer als auch die Familienbroschüre auf einen Hinweis auf die Figur.32 Gerade im Falle der Familienbroschüre ist dies zu bedauern, böte das Objekt doch die Möglichkeit, die geschichtliche Bedeutung der Sklaverei für die Schweiz anschaulich zu vermitteln. Darüber hinaus könnte ein Abriss der Porzellangeschichte daran erinnern, wie viele »europäische« Errungenschaften als Frucht der Kulturbegegnung mit China verstanden werden müssen – bis hin zur Philosophie der Aufklärung selbst.33 Schließlich könnte man am Beispiel der Figur auch Überlegungen zur musealen Vermittlung anstellen: Bedeutet die liebliche Ausführung der Gruppe nicht eine barbarische Verniedlichung der Sklaverei? Liegt der pädagogische Wert just im verstörenden Kontrast? Und wo verlaufen die moralischen Grenzen des Zurschaustellens historischer Verbrechen? Anhand der Figur »Menschenhandel« ließe sich so auch eine Ethik der Geschichtsdarstellung entwickeln.34
Z ÜRCHER G ESCHNE T ZELTES MIT R ÖSTI : E IN B LICK ÜBER DEN TELLERR AND »Partly because of empire, all cultures are involved in one another; none is single and pure, all are hybrid« 35
Rösti gilt als urschweizerisches Gericht; der Basler Historiker Georg Kreis widmet ihr in seinem Buch über Schweizer Erinnerungsorte ein eigenes Kapitel, und auch das Oxford English Dictionary enthält einen Eintrag zu diesem »Swiss dish of grated potatoes«36. Bereits für das ausgehende 17. Jahrhundert liegen Berichte über in Öl oder Butter gebackene Kartoffelstücke vor, doch fällt der Siegeszug der Rösti ins 19. Jahrhundert, erst als typische Frühstücksspeise, später auch als Beilage zu Fleisch- und Fischgerichten.37 Seither ist die Rösti gerade aus dem Zürcher
31 | Meyer/Hebeisen (Hg.), Geschichte Schweiz, S. 156. 32 | Keller/Meyer (Hg.), Geschichte Schweiz; Senn/Sanders (Hg.), Geschichte Schweiz. 33 | Jäger, »Die anderen Quellen der Aufklärung«, S. 65. 34 | Zur Ethik der Repräsentation siehe zum Beispiel Simpson, Making Representations; Smith (Hg.), The Holocaust and Other Genocides; Stone, »Between Ethics and Anguish«. 35 | Said, Culture and Imperialism, S. xxv. 36 | Kreis, Schweizer Erinnerungsorte, S. 229-236; »rösti«. 37 | Peter, Wie die Kartoffel im Kanton Zürich, S. 321-323.
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Speiseplan nicht wegzudenken: Als Beilage zum »Züri-Gschnätzlets« ist sie ein kulinarisches Stück Heimat. Die Kartoffel, wichtigste Zutat der Rösti, wird heute zwar, mehr noch als die Tomate oder der Mais, als einheimische Nutzpflanze wahrgenommen, sie ist aber wie diese ein koloniales Importgewächs, stammt ursprünglich aus den Hochanden, wo man sie schon vor 6000 Jahren kultivierte, und wurde in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Europa eingeführt.38 Hier begegnete man der unterirdisch wachsenden und deshalb womöglich teuflischen Knollenfrucht zunächst mit einiger Skepsis, was sich auch in einem der frühesten Schweizer Beiträge zur Geschichte der Kartoffel niederschlug: Der Basler Gelehrte Johann Caspar Bauhin gab ihr 1596 den wissenschaftlichen Namen Solanum tuberosum esculentum, ordnete sie damit der Familie der Nachtschattengewächse zu und setzte sie so in verwandtschaftliche Beziehung zur dubiosen Gemeinen Alraune, deren Wurzel menschenähnlich aussehen kann und die, kulturhistorisch betrachtet, die »wohl bedeutendste Zauberpflanze Europas«39 ist. Diese begriffliche Zuordnung sollte Bestand haben: Als Linnæus 1753 seine zweiteilige Nomenklatur einführte, wählte er für die Kartoffel in Anlehnung an Bauhin die bis heute gebräuchliche Bezeichnung Solanum tuberosum. Über die Benennung der Kartoffel hinaus sind Bauhins botanische Studien ein Beispiel für den Wissenszuwachs, den die europäische Pflanzenwissenschaft der frühen Neuzeit auch aufgrund der Konfrontation mit unbekannten Gewächsen aus Übersee erfuhr.40 Der Durchbruch der Kartoffel als Nutzpflanze erfolgte in der Schweiz wie in den meisten Ländern Europas allerdings erst nach 1750.41 Für Zürich ist in diesem Zusammenhang wie schon bei der Gründung der Schoorener Porzellanmanufaktur Johann Conrad Heidegger zu erwähnen, der als Bürgermeister einen Essay über die Förderung des Kartoffelanbaus verfasste.42 Allgemein gilt, dass die Kartoffel nicht einfach zu einem bestimmten Zeitpunkt eingeführt wurde und sich dann von der Kolonialgeschichte abkoppelte – im Gegenteil: Immer wieder fanden neue Sorten den Weg aus der Neuen in die Alte Welt.43 Der flächendeckende Anbau verschiedener Sorten führte ab Ende des 18. Jahrhunderts zu einer enormen Bedeutung der Kartoffel für die tägliche Ernährung breiter Bevölkerungsschichten. Der Aufstieg zum Grundnahrungsmittel ist Voraussetzung für den nächsten kolonialgeschichtlich folgenreichen Abschnitt in der Biographie der Kartoffel. Die Kraut- und Knollenfäule wurde in den frühen 1840er Jahren von Amerika nach Eu38 | Ebd., S. 20f.; Montanari, Der Hunger und der Überfluss, S. 125f. 39 | Ruff, Zauberpraktiken als Lebenshilfe, S. 271. Angaben zu Bauhin aus Reader, Potato, S. 82f.; Zuckerman, The Potato, S. 11. 40 | Gentilcore, Pomodoro!, S. 6. 41 | Peter, Wie die Kartoffel im Kanton Zürich, S. 23; Maissen, Geschichte der Schweiz, S. 141f.; Montanari, Der Hunger und der Überfluss, S. 164-168. 42 | Peter, Wie die Kartoffel im Kanton Zürich, S. 110. 43 | Ebd., S. 223.
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ropa eingeführt und verbreitete sich schnell auf dem ganzen Kontinent.44 In Zürich zerstörte die »Kartoffelpest« in den Jahren 1845 und 1846 cirka die Hälfte der Ernte, was spätestens ab Herbst 1846 zu einer Versorgungskrise führte.45 Dennoch kamen die Zürcher im Vergleich zu benachbarten Gebieten offenbar glimpflich davon: Der Kanton blieb einigermaßen verschont von der Auswanderungswelle, welche die Deutschschweiz und den süddeutschen Raum in den Jahren 1845 bis 1849 erfasste.46 Europaweit betrachtet, bildet die Kraut- und Knollenfäule zwar nicht die eigentliche Ursache der Massenauswanderungen des 19. Jahrhunderts; sie wirkte aber als wichtiger beschleunigender Faktor (am dramatischsten in Irland, wo der Bevölkerungsverlust durch Tod und Auswanderung bereits in den ersten beiden Hungerjahren auf über eine Million geschätzt wird).47 Der kurzzeitig unterbrochene europäische Erfolg eines kolonialen Importgewächses trug so zu verstärktem Siedlungsdruck in den Kolonialgebieten und damit zur erhöhten Bedrängnis nicht europäischer Völker bei. Spekulativ lässt sich darüber hinaus eine Linie ziehen von der »Kartoffelpest« zu den europäischen Revolutionen der Jahre 1847 und 1848: Die Versorgungskrise führte auf dem ganzen Kontinent zu Ausschreitungen und einem Klima der Unruhe, in dem revolutionäres Gedankengut womöglich besonders gut gedieh. Im Falle der Schweiz ist ein »halbkausaler« Zusammenhang sogar belegt: Wegen angeblicher Krisengewinnlerei konservativer Lokalpolitiker stimmte ein katholischer Bezirk im Kanton Sankt Gallen bei den Großratswahlen 1847 für die Liberalen, womit die Mehrheitsverhältnisse nicht nur im Kantonsparlament, sondern auch an der eidgenössischen Tagsatzung kippten: Mit der Stimme Sankt Gallens erklärten die liberalen Kantone den konservativen Sonderbund von Luzern, Freiburg, Wallis, Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug für aufgelöst und provozierten so eine kriegerische Eskalation.48 Die Kolonialfrucht Kartoffel ist somit nicht nur Bestandteil des Nationalgerichts Rösti, sondern, überspitzt formuliert, auch im übertragenen Sinn eine Wurzel des Schweizer Bundesstaates, der 1848 aus dem Sonderbundskrieg hervorging. Auch ohne solch rhetorische Zuspitzung ist das Zürcher Geschnetzelte mit Rösti als ein Stück Heimat zu bezeichnen, in dem National- und Kolonialgeschichte zu einer unauflöslichen Einheit verschmolzen sind: ein Sinnbild dafür, dass die moderne Schweiz ohne das koloniale »Fremde« undenkbar ist.
44 | Reader, Potato, S. 194f.; Peter, Wie die Kartoffel im Kanton Zürich, S. 237; Salzmann, Die Wirtschaftskrise im Kanton Zürich, S. 26. 45 | Salzmann, Die Wirtschaftskrise im Kanton Zürich, S. 15 u. 52. 46 | Ritzmann-Blickenstorfer, Alternative Neue Welt, S. 68, 71 u. 185f. 47 | Peter, Wie die Kartoffel im Kanton Zürich, S. 237. 48 | Maissen, Geschichte der Schweiz, S. 198.
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D ER S CHWEIZERISCHE R OBINSON : D IE S CHWEIZ ALS I NSEL? »[C]olonial discourse is neither a monolithic system nor a finite set of texts; it may more accurately be described as the name of a series of colonizing discourses, each adapted to a specific historical situation« 49
Nach Heidi genießt wohl kein Schweizer Roman weltweit größere Bekanntheit als der 1812 von Johann Rudolf Wyss bei Orell Füssli veröffentlichte Kinderbuchklassiker Der Schweizerische Robinson: Die Gesamtzahl der Ausgaben allein in deutscher, französischer und englischer Sprache lag 1980 bei über 670; hinzu kommen unzählige Film- und Fernsehadaptationen. Schon im Titel verweist das Buch über eine Schweizer Pastorenfamilie, die an einer Reise »zur Anlegung einer neuen Colonie in der Südsee«50 teilnimmt und sich nach einem Schiffbruch auf einer menschenleeren Insel wiederfindet, auf Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe (1719), der sich in ganz Europa größter Beliebtheit erfreute (und dessen Stoff auch der junge Salomon Gessner begeistert adaptierte).51 Wie die Wyss’sche Familie erleidet auch Crusoe Schiffbruch – und erweist sich bald als Kolonialherr reinsten Zuschnitts: Die rettende Insel bezeichnet Crusoe als sein »kleines Königreich«, das es gegen »Wilde« zu verteidigen gilt; später macht er einen solchen »Wilden« zu seinem Sklaven und unterrichtet ihn in englischer Sprache (wobei er ihm bezeichnenderweise als Erstes das Wort »Master« beibringt).52 Ein gewichtiger Unterschied zwischen den Erzählungen von Wyss und Defoe ist, dass Crusoe den Schiffbruch als einziger überlebt, während in Der Schweizerische Robinson eine ganze Familie den tödlichen Fluten entrinnt und das Überleben somit Aufgabe eines Kollektivs ist.53 In dieser Hinsicht ist der Wyss’sche Roman eher vergleichbar mit Shakespeares The Tempest (1611), in dem Prospero und seine Tochter Miranda gemeinsam einen Schiffbruch überleben. Shakespeares Stück weist aber auch Parallelen zu Robinson Crusoe auf, macht sich Prospero doch wie Crusoe einen Einheimischen zum Sklaven.54 Hinter allen drei Texten steht zudem Thomas Mores Fiktion von Utopia (1516), einer entfernten Insel, auf der ein Seemann ein ideales Gesellschaftswesen angetroffen haben will. 49 | Spurr, The Rhetoric of Empire, S. 1. 50 | Wyss, Der Schweizerische Robinson (1812), S. 101. 51 | Hottinger, Salomon Gessner, S. 17-19; vor seinem Tod verbrannte Gessner alle seine Robinsonaden. 52 | Defoe, Robinson Crusoe, S. 109, 144 und 163; vgl. Stam, Literature through Film, S. 70f. 53 | Miller, On Literature, S. 141; Seeyle, »Introduction«, S. xiv. 54 | Shakespeare, The Tempest, S. 173f. (Akt 1, Szene 2).
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Versucht Mores Hauptfigur noch, von der neu entdeckten »utopischen« Gesellschaft zu lernen, so führt der Weg zu einem besseren europäischen Selbst in The Tempest und Robinson Crusoe nur mehr über die Zähmung – sprich: Unterwerfung – von »Wilden«. In Der Schweizerische Robinson schließlich werden Eingeborene gänzlich zum Schreckgespenst: Die Familie fürchtet sich fortwährend vor Überfällen, doch gibt es keinerlei Hinweise auf die Präsenz anderer Menschen auf »ihrer« Insel. Den Gewaltfantasien der vier Söhne tut dies indes keinen Abbruch: »[S]ie prahlten gewaltig von Angriff und Vertheidigung gegen ganze Floten [!] von Wilden, und von der gänzlichen Zernichtung derselben.«55 Auch der Vater befiehlt beim vermeintlichen Anblick eines »Wilden« ohne zu Zögern, »alles Feuergewehr in Bereitschaft zu setzen«56. In charakteristischer Verdrehung der historischen Realität sehen die europäischen Siedler »ihr« koloniales Zuhause durch »eindringende« Inselbewohner bedroht. Positiv erwähnt werden »Wilde« in Der Schweizerische Robinson nur im Zusammenhang mit Wissen, das Europäer vor langer Zeit von ihnen erworben haben, denn »[w]o es uns an unserm künstlichen Werkzeug fehlt, da müssen wir doch den Wilden in Verfertigung von Fabrik- und Manufactur-Waaren den Vorzug lassen.«57 Schon in Shakespeares The Tempest beklagt sich der Einheimische Caliban darüber, dass er als Dank für die Weitergabe lebensnotwendigen Wissens nur Unterdrückung erntet.58 Im Wyss’schen Roman nun kann der Familienvater in jeder erdenklichen Situation aus dem außereuropäischen Wissensschatz schöpfen: Nach der Entdeckung von Bambusrohren beginnt der Vater zum Beispiel, sich »Rohre zu suchen, die verblüht hatten, weil ich wusste, dass die Wilden auf den Antillen aus der Spitze von diesen […] ihre Pfeile machten«59. Eingeborene erscheinen somit entweder als phantomhafte Bedrohung oder als Quelle nützlichen Wissens, nie aber als gleichwertige menschliche Subjekte.60 Eine Parabel, die der Vater den vier Söhnen zum Sonntagsgottesdienst erzählt, liefert zudem eine göttliche Rechtfertigung kolonialer Herrschaft. Gemäß Erzählung des Vaters befahl vor undenklichen Zeiten ein großer König einem Teil seiner Untertanen, eine Insel mit Namen »Erdheim« zu besiedeln.61 Seinen »Colonisten« gab der König Gesetze mit, die sie jederzeit befolgen sollten; täten sie dies nicht, so würden sie nach ihrer Rückkehr entweder »lebenslänglich auf die 55 | Wyss, Der Schweizerische Robinson (1813), S. 37. 56 | Wyss, Der Schweizerische Robinson (1827), S. 322. 57 | Wyss, Der Schweizerische Robinson (1812), S. 57. 58 | Shakespeare, The Tempest, S. 174 (Akt 1, Szene 2). 59 | Ebd., S. 193. 60 | Siehe auch Cathomas, »Die Insel als patriarchales Paradies«, S. 44: »Die Art, wie der Autor den Vater vom […] Abschlachten der Tiere erzählen lässt, erinnert auffällig an Berichte von europäischen Kolonisatoren über kriegerische Zusammentreffen zwischen Weissen und Eingeborenen«. 61 | Wyss, Der Schweizerische Robinson (1812), S. 222-232.
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königlichen Galeeren, oder […] hinab in die Bergwerke«62 geschickt. Nach Ende der Parabel lässt der Vater seine Söhne die Bedeutung des Erzählten im Gespräch selbst entdecken, womit er sich als pädagogisch auf der Höhe seiner Zeit erweist: Seine vernunftbetonte und gewaltfreie Erziehungsweise galt als vorbildlich und begeisterte Reformer wie den Philosophen William Godwin, der die erste englische Übersetzung des Romans in seinem eigenen Verlag veröffentlichte.63 Gleichzeitig zeigt die Parabel, wie tief auch Schweizer Autoren vom kolonialen Denken geprägt waren: Dadurch, dass Gott selbst als imperialistischer Monarch erscheint, der Ungehorsam mit Versklavung bestraft, wird das Prinzip kolonialer Expansion indirekt gerechtfertigt. Berücksichtigt man zudem, dass der Wyss’sche Familienvater im Roman als patriarchalische Autorität stets unangefochten bleibt, so kann Der Schweizerische Robinson als mustergültiger Beleg für Ania Loombas These dienen, dass die zentrale Figur westlicher Humanismus- und Aufklärungsdiskurse – das universelle, gelehrte und humane Subjekt – sich bei genauerer Prüfung häufig als weißer, männlicher Kolonialist entpuppt.64 Wendet man sich der Textgeschichte von Der Schweizerische Robinson zu, so fällt auf, dass sukzessive Herausgeber die Erzählung immer wieder deutlich veränderten.65 Schon die erste, von Johann Rudolf Wyss herausgegebene Druckfassung weist deutliche Unterschiede zum Manuskript auf, das sein Vater, Johan David, als unterhaltsame Erziehungsliteratur für die eigene Familie verfasste.66 Hannelore Kortenbruck-Hoeijmans weist beispielsweise darauf hin, dass die um 1802 beendete Manuskriptfassung noch starke Kritik übt an den Veränderungen, welche die napoleonische Besatzung der Schweiz ausgelöst hatte: »Die Ablehnung sowohl des Verfalls der alten Werte als auch die Neuerungen unter der von den Franzosen eingesetzten ›Helvetischen Regierung‹ kennzeichnen die Einstellung des Vaters, wenn er innerhalb der Handschrift erläutert, als Prediger aus dem ›undankbaren Vaterland‹ geflohen zu sein, und seinen Kindern nahelegt, das Eiland wo […] noch ›Unschuld und Reinheit‹ herrschen, nicht zu verlassen« 67.
Laut Kortenbruck-Hoeijmans ist die Kritik besonders gegen Ende des väterlichen Manuskripts zu spüren; als der Sohn aber 1827 den abschließenden Teil für den Druck bearbeitete, hatte sich vieles grundlegend geändert: Napoleon war lange besiegt, und Johann Rudolf selbst nicht nur Professor der Philosophie in Bern, sondern auch Verfasser von Rufst du, mein Vaterland (1811), dem späteren Text zur 62 | Ebd., S. 227. 63 | Rutschmann, »Der Schweizerische Robinson«, S. 172; Seelye, »Introduction«, S. xii. 64 | Loomba, Colonialism/Postcolonialism, S. 60. Zu den Geschlechterrollen in Der Schweizerische Robinson siehe Cathomas, »Die Insel als patriarchales Paradies«. 65 | Vgl. Seeyle, »Introduction«, S. xx; Miller, On Literature, S. 131. 66 | Rutschmann, » Der Schweizerische Robinson«, S. 159f. 67 | Kortenbruck-Hoeijmans, Johann David Wyss‘ »Schweizerischer Robinson«, S. 52.
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ersten Schweizer Nationalhymne, und allgemein ein glühender Patriot.68 Entsprechend schwächt Johann Rudolf die Kritik des Vaters an der Schweiz so sehr ab, dass die Romanfamilie am Ende seiner Fassung durchaus mit Wohlwollen auf die alte Heimat zurückblicken kann: »Sey gegrüsst Europa! Sey gegrüsst Alt-Schweizerland! Möchte Neu-Schweizerland dereinst so kräftig und so glücklich erblühen, als du geblüht hast in meiner Jugendzeit: fromm, freudig und sein eigen!«69 Leise Kritik mag auch hier noch anklingen – die Blüte der »Jugendzeit« ist möglicherweise vorbei –, im Vordergrund aber steht der Stolz auf nationale Heimat und Tugend. Stolz spricht auch aus einem Ende 1954 im amerikanischen Magazin Life veröffentlichten Artikel des Kunsthistorikers Robert L. Wyss, den wir bereits als Verfasser eines Porzellanführers angetroffen haben und der als Nachfahre von Johann David Wyss im Besitz des Originalmanuskripts von Der Schweizerische Robinson war. Im Artikel kommentiert Robert L. Wyss eine Auswahl von handgemalten Illustrationen aus dem Manuskript, die Life zum ersten Mal der US-Öffentlichkeit präsentierte, und beschwört dabei den »knabenhaften Geist« des Romans, der ein »ewigjunges Fantasiegebilde« sei.70 Wie gezeigt ist Der Schweizerische Robinson aber vielmehr ein zeitverhaftetes Werk, das Kolonialdiskurse aufnahm und auf problematische Weise weiterführte. Vielleicht erklären just Vorbehalte gegenüber der kolonialistischen Ideologie des Textes, warum in einer deutschsprachigen Ausgabe von 1962, die sich ansonsten als besonders originalgetreu versteht, die Parabel von Gott als kolonialem Monarchen komplett fehlt.71 Ob man allerdings mit dem Weglassen einzelner Episoden eine »ideologische Säuberung« des Textes erreicht, ist fraglich – ja, es ließe sich argumentieren, die Streichung offensichtlich problematischer Stellen führe bloß zur Kaschierung einer strukturell eurozentrischen Weltsicht. Zu überlegen ist zudem, ob eine »Säuberung« wünschenswerter ist als der bewusste Umgang mit einem intakten Text, der zugleich aufklärerisches Kinderbuch und kolonialistisches Machwerk ist.
S CHLUSS : K OLONIALISMUS , A UFKL ÄRUNG
UND DAS
F REMDE
Zusammenfassend lassen sich, bei aller Verschiedenheit der drei Fallstudien, übergreifende Erkenntnisse festhalten. Erstens fördert das Nebeneinanderstellen geschichtlicher Längsschnitte Verbindungen zutage, die zufällig sein mögen, die aber gerade deshalb einen Eindruck davon vermitteln, wie wirkungsmächtig die 68 | Ebd., S. 52. 69 | Wyss, Der Schweizerische Robinson (1827), S. 448. 70 | Wyss, »The Real Swiss Wysses«, S. 63: »the boyish spirit which long ago produced an ageless fantasy«. 71 | Wyss, Der Schweizerische Robinson (1962).
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koloniale Weltordnung war und ist: Johann Conrad Heideggers Rolle als Vorkämpfer für die Kartoffel und als Mitbegründer sowohl der Porzellanmanufaktur im Schooren als auch der Bank Leu, die finanziell am Sklavenhandel beteiligt war; die langfristigen kolonialgeschichtlichen Auswirkungen des Importgewächses Kartoffel; oder die Stellung von Robert L. Wyss nicht nur als stolzer Nachfahre des Autors von Der Schweizerische Robinson, sondern auch als Experte für Schoorener Porzellan, der in seinem Ausstellungsführer die Figur »Menschenhandel« mit keinem Wort erwähnt. Zweitens zeigt sich kritische Vorsicht gerade dann als angebracht, wenn ein Kulturprodukt betont als unschuldig-naiv konstruiert wird: Sowohl beim Wyss’schen Roman als auch bei der Figur »Menschenhandel« erweist sich eine solche Lesart als unzureichend. Drittens erscheint in allen drei Beispielen die koloniale Ordnung als wissensproduzierendes und -strukturierendes Element: in der Rolle der Sklaverei für die aufklärerische Freiheitsrhetorik, im Einfluss kolonialer Pflanzen auf die europäische Botanik der frühen Neuzeit und in der Verknüpfung fortschrittlicher Pädagogik mit kolonialistischem Denken in Der Schweizerische Robinson. Darüber hinaus haben die drei Fallstudien eine zwiespältige Beziehung der Aufklärung zum Fremden an sich zutage gefördert: Der Überwindung einer unaufgeklärten Furcht vor »teuflischen« Kartoffeln stehen die kolonialen Angstfantasien in Der Schweizerische Robinson gegenüber, und die abolitionistische Kritik der Schoorener Porzellanfigur »Menschenhandel« geht einher mit unterschwelliger Schuldzuweisung an spanische Katholiken und arabische Muslims – kurz: die Anderen. Dies deckt sich mit Hans-Jürgen Lüsebrinks Befund, dass der im 18. Jahrhundert erfolgte intellektuelle Umbruch in den Beziehungen zwischen Europa und der kolonialen Welt komplex und widersprüchlich verlief.72 Der Vorzug des gewählten kulturhistorischen Ansatzes ist, dass solche Widersprüchlichkeit deutlich zutage tritt – deutlicher vielleicht als in Versuchen, den europäischen Kolonialismus nach dem Vorbild von Lenins Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1917) theoretisch als System zu erfassen. Lenins klassische Studie weist übrigens, wie die drei besprochenen Untersuchungsgegenstände, einen konkreten Bezug zu Zürich auf, verfasste er den Text doch 1916 während seines kriegsbedingten Exils in der Limmatstadt.73 In seiner Studie vertritt Lenin zudem ähnliche Thesen wie wenige Jahre zuvor in Die Akkumulation des Kapitals (1913) Rosa Luxemburg, deren intellektueller und politischer Werdegang entscheidend geprägt war von ihrer Studienzeit in Zürich.74 Auch mit Blick auf die theoretische Debatte standen Zürich und die Schweiz also niemals 72 | Lüsebrink, »Von der Faszination zur Wissenssystematisierung«, S. 10. 73 | Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, S. 5. 74 | Den Hinweis zu Rosa Luxemburgs Studie verdanke ich erneut Francesca Falk. Zu Rosa Luxemburgs Studienzeit siehe Bronner, Rosa Luxemburg, S. 14f. Ein witziges Detail hierzu: Von 1894 bis 1895 wohnte Rosa Luxemburg an der Plattenstrasse 47 in Zürich. In diesem Gebäude befinden sich heute neben drei Unterrichtsräumen auch mehrere Büros des
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neutral außerhalb der kolonialen Ordnung, sondern nahmen vielmehr aktiv an deren geschichtlicher Entwicklung Teil.
L ITER ATURVERZEICHNIS Angst, H[einrich], Zürcher Porzellan, Separatdruck aus der illustrierten Zeitschrift Die Schweiz, Zürich 1905. Benjamin, Walter, »Über den Begriff der Geschichte« [1940], in: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, Frankfurt a.M. 1977, 251-261. Bieri Thomson, Helen (Hg.), À la quête de l’or blanc. Porcelaines de Zurich, Prangins 2007. Bösch, Franz, Vom weissen Goldrausch der Zürcher Herren. Die Geschichte der Zürcher Porzellanmanufaktur, 1763-1790, Zürich [1988]. Ders., Zürcher Porzellanmanufaktur 1763-1790. Porzellan und Fayence. Bd. 1: Geschichte des Unternehmens und seine Erzeugnisse, Zürich 2003. Bronner, Stephen Eric, Rosa Luxemburg: A Revolutionary for Our Times, University Park 1997. Cathomas, Maya, »Die Insel als patriarchales Paradies in zwei Schweizer Robinsonaden aus dem frühen 19. Jahrhundert«, in: Müller, Heidy Margrit (Hg.), Dichterische Freiheit und pädagogische Utopie: Studien zur schweizerischen Jugendliteratur, Bern 1998, S. 41-63. David, Thomas/Etemad, Bouda: »Gibt es einen schweizerischen Imperialismus? Zur Einführung.«, in: Traverse – Zeitschrift für Geschichte, Jg. 5, H. 2 (1998), S. 17-27. David, Thomas/Etemad, Bouda/Schaufelbuehl, Janick Marina, Schwarze Geschäfte. Die Beteiligung von Schweizern an Sklaverei und Sklavenhandel im 18. und 19. Jahrhundert, übers. von Birgit Althaler, Zürich 2005. David, Thomas/Schaufelbuehl, Janick Marina, »Les conservateurs et le combat pour l’abolition de l’esclavage en Suisse à la fin du XIXe siècle«, in: Bott, Sandra/David, Thomas/Lützelschwab, Claude/Schaufelbuehl, Janick Marina (Hg.), Suisse-Afrique (18e-20e siècle): De la traite des Noirs à la fin du régime de l’apartheid, Münster 2005, S. 247-264. Defoe, Daniel, Robinson Crusoe, hg. von John Richetti, London 2001. Ducret, Siegfried, Die Zürcher Porzellanmanufaktur und ihre Erzeugnisse im 18. und 19. Jahrhundert. Bd. 2: Die Plastik, Zürich 1959. Ders., Zürcher Porzellan des 18. Jahrhunderts. Seine Geschichte und seine Erzeugnisse, Zürich 1944. Finlay, Robert, The Pilgrim Art. Cultures of Porcelain in World History, Berkeley 2010. Frei, Karl, Schweizer. Landesmuseum Zürich. Zürcher Porzellan, Basel 1930. Englischen Seminars der Universität Zürich – darunter meines, wo ich den Großteil dieses Artikels verfasst habe.
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A BBILDUNGSNACHWEIS Abb. 1
Foto Schweizerisches Nationalmuseum, DIG-3771
Die Comedyfigur Rajiv Prasad in Viktors Spätprogramm Post_koloniales Phantasma und die Krise des »Sonderfalls Schweiz« 1 Rohit Jain
E INLEITUNG : R A JIV UND DIE POST _ KOLONIALE S CHWEIZ Die Comedyfigur Rajiv Prasad geisterte, gaunerte und alberte zwischen 1998 und 2002 durch die Wohnzimmer des Schweizer Fernsehpublikums. Gespielt von dem Satiriker Viktor Giacobbo, war Rajiv eines der Highlights von Viktors Spätprogramm. Die Late-Night-Show wurde vom Schweizer Fernsehen live aus dem Festsaal des Zürcher Nobelrestaurants Kaufleuten übertragen und verband Talksequenzen mit prominenten Gästen, Stand-up-Comedy über Tagesaktualitäten, Live1 | Die Schreibweise »post_kolonial« soll den Eindruck eines klaren historischen – und politischen (!) – Bruchs in Frage stellen, den das temporale Präfix post impliziert. Im Gegensatz zu den Schreibweisen »postkolonial« oder »post-kolonial« werden durch den Zwischenraum die komplexen Verflechtungen und historische Kontingenzen repräsentiert, die die koloniale Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet. In diesem Verständnis verweist das Präfix post eben nicht auf eine temporale Dimension, sondern auf eine kritische Epistemologie, die koloniale Denk- und Sprechmuster in Öffentlichkeit und Wissenschaft in Frage stellt. Aufgabe einer solchen Methodologie wäre demnach einerseits, die Kontinuitäten und Brüche zwischen kolonialer Vergangenheit und Gegenwart zu analysieren und die dadurch neuentstehenden epistemologischen und sozialen Ausschluss- und Teilhabelogiken aufzuzeigen. Andererseits erlaubt eine solche kritische Epistemologie eine Selbstreflexion über die Bedeutung und Funktion der postcolonial studies innerhalb der aktuellen post_kolonialen Konfiguration. Zur Debatte über die politisch-historische Bedeutung des Präfix post siehe Shohat, »Notes on the ›Post-Colonial‹«, und McClintock, »The Angel of progress«.
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darbietungen und eingespielte Sketche. Als erstes Schweizer Late-Night-Format war Viktors Spätprogramm äußerst populär und verzeichnete mit fast einer halben Million Zuschauerinnen und Zuschauern über 40 Prozent des Marktanteils. Die eingespielten Sketche mit Karikaturen aus der classe politique und anderen Prominenten sowie von sozialen Typen wie Beamten, Drogensüchtigen, Blondinen oder Mantafahrern waren Kernstück der satirischen Suisse Miniature von Viktors Spätprogramm. In diese Suisse Miniature platzte Rajiv als dubioser Gauner und exotischer Harlekin. Kaum tauchte er auf, versuchte er im legalen Graubereich alles Mögliche an den Mann oder die Frau zu bringen – von Fußballspielern, Organen und Waffen bis zu pornographischen Internetapplikationen und Sex. Gleichzeitig stellte er einen Kontrapunkt zu einer biederen und naiven Schweiz dar und irritierte durch seine derb-charmante und schlitzohrige Art die bestehende Ordnung. Rajiv – damals die einzige prominente ausländische Figur – war beim Publikum äußerst beliebt. In der Spielzeit zwischen 1998 und 2002 war er mit zwölf Sketchen die meistgespielte Figur. Und neben der Late-Night-Show startete Rajiv eine regelrechte populärkulturelle Karriere: Er trat in Radiosendungen auf, hatte Engagements im Zirkus Knie und bot schließlich noch einen Hitparadensong namens Chicken Curry dar.2 Diese Popularität – ja eigentlich sogar die Präsenz von Rajiv – ist insofern erstaunlich, als die Figur weder eine soziale Referenz noch eine Geschichte aufweist. Zu Beginn seiner Karriere lebten nur wenige Personen indischer Herkunft in der Schweiz, die als Vorbild der Figur hätten dienen können, und auch sonst waren Stereotype über betrügerische indische Männer kaum gängig.3 Zudem ist Rajiv gemäß den Machern der Sendung eher zufällig – ohne bewusste Anlehnung an andere populärkulturelle Figuren oder persönliche Erfahrungen – entstanden, als Giacobbo mit dem Akzent des indian english experimentierte.4 Die Figur ist sozusagen aus dem Nichts aufgetaucht. Im Falle von Rajiv ist diese Geschichtslosigkeit jedoch nur vordergründig. Zum einen kennt die spektakuläre Repräsentation des betrügerischen indischen Mannes eine lange Geschichte seit der kolonialrassistischen Imagination des Ande2 | Rajiv war so populär, dass er ein mediales Eigenleben jenseits seines Erfinders Viktor Giacobbo entwickelte. So bot Midi Gottet im Jahr 2000 den Hitparadensong Chicken Curry dar und auch im Radio wurde Rajiv nicht von Giacobbo gemimt. Der Auftritt im Zirkus Knie war hingegen wieder im Rahmen des Engagements von Viktor Giacobbo als Comedyfigur Fredy Hinz. 3 | Zu Beginn der Karriere von Rajiv im Jahr 1998 lebten 5548 Personen indischer Herkunft in der Schweiz, im Jahr 2002 7456 Personen. Seither hat sich die Zahl im Rahmen des indischen IT-Booms verdoppelt (Bundesamt für Statistik »Ausländische Wohnbevölkerung«, in: www.admin.bfs.ch, 19.01.2012). 4 | Gemäß eines vom Autor am 16. Dezember 2010 geführten Interviews mit Viktor Giacobbo.
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ren im British Raj.5 Zum anderen genoss in den USA und in Großbritannien von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts das Spektakel der blackface minstrel show enorme Popularität. Darin parodierten weiße Männer mit schwarz gefärbten Gesichtern auf der Bühne die schwarze Alltagskultur. Sowohl das Narrativ des betrügerischen indischen Mannes als auch die Praxis des blackface – der rassischen Karikatur durch Schwarzfärben des Gesichts – erfahren in der Figur von Rajiv ein unerwartetes und unbemerktes post_koloniales re-enactment. Diese Ignoranz gegenüber der kolonialen Vorgeschichte von Rajiv findet eine interessante Parallele in der Unsichtbarmachung der kolonialen Verflechtungen der Schweiz in der öffentlichen Geschichtspolitik.6 Das Projekt einer post_kolonialen Schweiz ermöglicht gemäß Purtschert gerade durch das Aufdecken kolonialer Spuren in der Schweizer Gegenwartskultur, dass das »Normale und Selbstverständliche plötzlich eine Geschichte erhält und fragwürdig wird«7. Dadurch können die tief verankerten nationalen Mythen der Schweiz hinterfragt und neue kritische Perspektiven auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Schweiz gelenkt werden. Während in den post_kolonialen Studien lange Zeit Analysen wissenschaftlicher und politischer Diskurse sowie kanonischer literarischer Werke dominierten, gewinnt der Fokus auf die Populärkultur zunehmend Bedeutung. So argumentiert Hall, dass die Populärkultur ein post_koloniales Repräsentationsarchiv darstellt, in dem koloniale Spuren in einer »basic racial grammar of representation«8 weiterleben und in konkrete soziale und generische Kontexte übersetzt werden. In der Analyse der post_kolonialen Repräsentation von Rasse schreibt er: »Ist nun all dies [Narrative von Sklaven und Eingeborene in kolonialen Abenteuerromanen, R. J.], wie wir manchmal annehmen, so weit entfernt von der Repräsentation von ›Rasse‹, wie sie unsere Bildschirme heute füllt? Die spezifischen Versionen mögen verblichen sein. Aber ihre Spuren können wir noch immer in umgearbeiteter Form in vielen neueren und modernisierten Bildern finden. Und auch wenn sie eine andere Bedeutung zu tragen scheinen, sind sie oft nach wie vor da, wohlauf und quicklebendig, als Guerilla-Armee und Freiheitskämpfer in Angola, Zimbabwe oder im namibischen ›Busch‹. Schwarze sind immer noch die angsteinflößendsten, gewieftesten und blendendsten Schieber (und Polizisten) der New Yorker ›Bullen‹-Serien. Sie sind leichtfüßige, Unsinn quatschende Untermenschen, die Verbindung von Starsky und Hutch zum drogen-durchtränkten Ghetto«. 9
Die Herausforderung post_kolonialer Analyse besteht also darin, der Dialektik von Kontinuität und historischem Wandel dieser Repräsentationsgrammatik ge5 | Druce, »National and Racial Stereotypes«. 6 | Purtschert, »Post_koloniale Diskurse in der Schweiz«, S. 169. 7 | Purtschert, »›Heute bedankt sich Naresh Khan‹«, S. 79. 8 | Hall, Representation, S. 251. 9 | Hall, Ideologie, S. 161.
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recht zu werden. Wenn also post_koloniale Artefakte in der Gegenwart weiterhin sinnstiftend wirken, so entfalten sie ihre Bedeutung und Macht nicht automatisch, sondern als Übersetzung in die spezifischen historischen Momente und sozialen Konflikte der Gegenwart. Welche Spuren aus dem post_kolonialen Repräsentationsarchiv weist nun Rajiv auf? Was bedeutet es, dass Rajiv als post_koloniales Phantasma die Schweiz nach dem Ende des Kalten Krieges und angesichts der zunehmenden Globalisierung heimsucht? Welche Aushandlungen des Eigenen und des Anderen erlaubt diese Figur in der heutigen Schweiz? Und wie re-positioniert diese Lesart die Schweiz zwischen kolonialer Vergangenheit und gegenwärtiger beziehungsweise zukünftiger globaler Ordnung? Diesen Fragen möchte ich im Folgenden anhand der post_kolonialen Analyse der Figur Rajiv und dessen Rezeption in der Schweiz der Gegenwart nachgehen.10 Die beiden nächsten Kapitel untersuchen, welche Repräsentationslogik Rajiv in der Wechselwirkung zwischen seiner kolonialen Vorgeschichte und den semiotischen Regeln von Viktors Spätprogramm entfaltet. Danach versuche ich das post_ koloniale Phantasma Rajiv im Kontext seiner Entstehung und Rezeption in der Schweiz am Ende des 20. Jahrhunderts zu verstehen.
R A JIV ALS MOR ALISCH - NATIONALER G RENZGÄNGER DER S UISSE M INIATURE Viktors Spätprogramm ist ein kreativer Genremix von Comedy, Satire und Talk, mit dem sowohl eine innovative Sendung produziert als auch der Marktanteil im Spätabendfernsehen erhöht werden sollte.11 Durch den Fokus auf (deutsch-)schweizerische Tagesaktualitäten, prominente Talkgäste und Figuren in den Videoclips inszeniert Viktors Spätprogramm eine satirische Suisse Miniature. Darin repräsentieren die Figuren in den Sketchen eine Unterscheidung von »Mächtigen« und »Außenseitern«, die in die narrative Struktur eingeschrieben ist. Die »Mächtigen« sind Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Die »Außenseiter« sind Kunstfiguren wie der Mantafahrer Harry Hasler aus dem Zürcher Randbezirk Schwammendingen, die Blondine Debbie Mötteli, der Drogensüchtige Fredy Hinz 10 | Der vorliegende Text basiert auf der Analyse von 40 Sketchen und neun Sendungen, die ich im Jahr 2006 für meine Lizentiatsarbeit am Institut für Soziologie der Universität Bern durchgeführt habe. 11 | Viktors Spätprogramm startete 1995 als Nachfolgesendung von Viktors Programm (1990-1995), einer eher experimentellen Sendung, die im Studio produziert und um 20.00 Uhr gesendet wurde. Mit dem Wechsel der Sendezeit auf 22.00 Uhr und des Übertragungsortes ins Kaufleuten sollten ein jüngeres Publikum angesprochen und der Marktanteil vergrößert werden. Die Sendung wurde dadurch einerseits spektakulärer und satirisch bissiger, aber andererseits auch standardisierter und kontrollierter.
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und der Inder Rajiv Prasad. Sie personifizieren spezifische soziale Typen, die gemäß einem bürgerlichen Moralkodex verpönte Merkmale wie Illegalität, Sexualität, fehlende Bildung und soziale Randständigkeit verkörpern. In der Interaktion mit den »Außenseitern« und den von ihnen personifizierten Merkmalen werden die »Mächtigen« herabgesetzt und lächerlich gemacht. Während sich sowohl »Mächtige« wie auch »Außenseiter« in dieser Suisse Miniature tummeln, bleibt jedoch die bürgerliche Mittelschicht in der Repräsentation dieser Schweiz abwesend. Das bürgerliche Publikum befindet sich im blinden Fleck der Erzählung – in der Sendung personifiziert durch Viktor Giacobbo. Dieser dominante bürgerliche Blick ordnet die Imagination der Suisse Miniature, die satirische Kritik der »Mächtigen« und die Komik der »Außenseiter«. In dieses bürgerliche Narrativ von »Mächtigen« und »Außenseitern« fügt sich Rajiv nahtlos ein. Die Narration von Rajiv ist von seinem Drang dominiert, dubiose Geschäfte abzuschließen. Dies wird im folgenden Ausschnitt aus dem Sketch »Der Fußballtrainer« vom 16. Dezember 1998 sichtbar. Der Trainer der Schweizer Fußballnationalmannschaft Gilbert Gress (G) diskutiert mit der Putzfrau über sein Verhältnis zur Mannschaft. Plötzlich klopft es und die Putzfrau öffnet die Tür. Rajiv (R) und sein Agent Schupisser (Sch) stürmen herein. Nach einigen Missverständnissen und Beleidigungen entwickelt sich das eigentliche Narrativ. G: Was wollen Sie eigentlich von mir? R: (redet von hinten und mit erhobenem Zeigefinger auf ihn ein) I can sell you very good and very young players for your team for only twohundatousandolla. […] G: Es ist nicht möglich, wir dürfen keine Inder … in der Nationalmannschaft haben. Sch: (aufgeregt) Neinnein, neinnein, die Nationalitätenfrage kann in der Regel im Sport sehr unbürokratisch gelöst werden. R: (drängt sich dazwischen) No problem, no problem. In Bombay you can buy very nice Swiss Passports for only threetaddadolla. G: (schüttelt den Kopf) Wir brauchen Profis im Juniorenalter, compris? R: My professional players are juniors. They make the balls and the shorts in the factories of Nike and Adidas in Calcutta (zeichnet die Bälle in die Luft – Schupisser verdreht die Augen) Durch seine illegalen Angebote bringt der »Außenseiter« Rajiv den »mächtigen« Fußballtrainer Gress mit einer zwielichtigen Unterwelt in Berührung, wodurch dieser in Bedrängnis gerät. Der Verkaufswahn des dubiosen Rajiv scheint dabei weder moralische noch performative Grenzen zu kennen. Wenn es mit Fußballspielern nicht klappt, dann hat er Pässe anzubieten oder Kinderarbeit. Mit dem Auftritt beginnt er in einem mechanischen Staccato zu feilschen und zu verticken und lässt sich nur durch das Ende des Sketches bremsen. Er gibt sich stets als Repräsentant einer Firma aus – so gegenüber Gilbert Gress als Präsident der All Indi-
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Abbildung 1: Rajiv versucht, Gilbert Gress zum Kauf von jungen Fußballspielern zu überzeugen. »Der Fußballtrainer« vom 16. Dezember 1998
an General Sports Association Holy Limited Prasad and Company –, aber die Firma ändert sich von Mal zu Mal – genauso wie seine Produkte. Einmal ist er Waffenhändler, ein anderes Mal korrupter Mitarbeiter der UNO und ein weiteres Mal Organhändler. Er ist eher Prinzip als Person. Dieses Stereotyp des verkaufswütigen, feilschenden und dubiosen Inders war jedoch in der Schweiz vor der Präsenz von Rajiv kaum gängig. Im kolonialen Kontext kennt jedoch das Phantasma des undurchsichtigen, betrügerischen indischen Mannes eine lange Geschichte. So schrieb Thomas Babington Macaulay, ein hoher Beamter der britischen Krone, im Jahr 1841: »What the horns are to the buffalo, what the paw is to the tiger, what the sting is to the bee, what beauty, according to the old Greek song, is to woman, deceit is to the Bengalee. Large promises, smooth excuses, elaborate tissues of circumstantial falsehood, chicanery, perjury, forgery, are the weapons, offensive and defensive, of the people of the lower Ganges […] as usurers, money-lenders, as money-changers, as sharp legal practitioners, no class of human beings can bear a comparison with them […] The pertinacity with which he adheres to his purposes yields only to the immediate pressure of fear«.12
Die naturalisierte Repräsentation des Anderen – von gefährlichen Tieren, betrügerischen Bengalen und schönen Frauen – im kolonialen Herrschaftskontext der East Indian Company fand in einem ganz spezifischen historischen Erfahrungsraum 12 | Macaulay, »Warren Hastings«, S. 611.
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statt. Indien war größtenteils ein klimatischer und kultureller Schock für die viktorianischen Neuankömmlinge und bedeutete eine existentielle Desorientierung. Aus Angst vor Krankheiten, wilden Tieren oder betrügerischen Einheimischen – also dem Fremden, Unkontrollierbaren überhaupt –verschanzten sich die kolonialen Beamten, Soldaten und Pflanzer in ethnisch segregierten Salons, Plantagen und Kasernen – und waren lediglich im Kontakt mit einheimischen Bediensteten.13 Said hat argumentiert, dass das Wissen über den »Orient« konstitutiv für das Projekt der europäischen Moderne, also die Kolonisatoren selbst, war: »[T]he Orient has helped to define Europe (or the West) as its constrasting image, idea, personality, experience«14 . Das Wissen über den »betrügerischen Bengalen« stellt demnach weniger den Versuch einer authentischen Abbildung, sondern eine Projektion der viktorianischen Kolonialgesellschaft dar. Die kolonialen Phantasmen, so auch das Stereotyp des »betrügerischen Bengalen«, ermöglichten es, eine sinnund autoritätsstiftende Ordnung zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten, dem Eigenen und dem Anderen herzustellen.15 Angesichts der fehlenden sozialen Referenz in der heutigen Schweiz legt eine post_koloniale Lesart nahe, dass das Narrativ des »betrügerischen Bengalen« als Artefakt eines transnationalen Repräsentationsarchivs Eingang in Viktors Spätprogramm findet. Wegen des Unterschiedes der historischen Bedingungen im viktorianischen Kolonialismus des 19. Jahrhunderts und der Schweiz am Ende des 20. Jahrhunderts ist jedoch das isolierte Artefakt unterdeterminiert. Erst durch die Einbettung in die Genrelogik von Viktors Spätprogramm und dessen historischen und sozialen Kontext gewinnt das Artefakt des »betrügerischen Bengalen« in der Figur von Rajiv diskursive Bedeutung und Macht. Übersetzt in eine diskursiv anschlussfähige Form erlaubt das post_koloniale Phantasma nun eine bestimmte Aushandlungslogik des Eigenen und des Anderen zu re-inszenieren. Welche spezifischen kulturellen Aushandlungen des Eigenen und des Anderen erlaubt also der »betrügerische Bengale« Rajiv dem Schweizer Fernsehpublikum zu vollziehen? Zusätzlich zu den dubiosen, betrügerischen Machenschaften repräsentiert Rajiv gemäß der Sendungslogik noch eine moralische und sexuelle Tabulosigkeit, die ihn als das Andere der bürgerlichen Suisse Miniature markiert. Nicht nur beleidigt er während seiner unlauteren Geschäfte ununterbrochen seine Schweizer Gesprächspartner, sondern er macht ihnen auch unentwegt sexuelle Angebote. Rajivs Überschreitungen legaler und moralischer Grenzen markieren den bürgerli13 | Druce, »National and Racial Stereotypes«. 14 | Said, Orientalism, S. 1f. 15 | Fast nahtlos – trotz des Bruchs der Dekolonisierung – findet sich das Stereotyp des »betrügerischen Bengalis« im post_kolonialen Großbritannien für die südasiatischen Besitzer von cornershops und ihr angeblich unehrliches Geschäftsgebaren wieder. Interessanterweise ist der Inder Apu in der satirischen US-Comic-Serie The Simpsons auch als geradezu triebhafter Verkäufer repräsentiert.
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chen Moralkodex von puritanischem Arbeitsethos, gutem Leumund und sexueller Selbstkontrolle. Dies zeigt sich schon im allerersten Sketch »Die Wiedergeburtsversicherung« vom 18. November 1998. Der eifrige Versicherungsagent Schupisser (Sch) versucht einem älteren Herrn (K) eine Lebensversicherung anzudrehen. Der Kunde offenbart ihm, dass seine Frau Angst habe vor der Wiedergeburt, worauf Schupisser erfreut grinst und ihm ein »Rebirth Insurance Security Program« anbietet. Sch: Ich rufe gleich unseren Spezialisten. (er klingelt strahlend mit zwei Zimbeln und schaut zur Tür) R: (stürmt aus dem dunklen Gang hervor und plappert los) Hellohello, my name is Rajiv, I am the general Manager of Calcutta Second Life, you wanna buy insurance for your life after death, I can give you everything (gibt ihm eine Visitenkarte). In my former life, I was a maharaja, very very rich. Sch: (langsam) Der Herr Rajiv fragt, ob Sie eine Versicherung für Ihr Leben nach dem Tod wollen. […] R: If you become a mouse in the next life, we will buy you cheese for twothousandtwohundreddollar K: Gilt das auch für meine Frau? R: My wife, you wanna fuck my wife, I can make you a very good price Sch: (hebt erschrocken die Arme, lacht beschwichtigend) Nach einer Weile verlässt der Kunde leicht entnervt das Zimmer und stürzt im Treppenhaus zu Tode. Rajiv freut sich, dass er keinen Verlust gemacht hat. Rajiv scheint in seiner triebhaften – geradezu antibürgerlichen – Natur sexuelle und kriminelle Energie regelrecht zu vermischen. Sein Auftritt ist durch eine leicht surreale Invasion in eine alltägliche Situation gekennzeichnet. Er überrumpelt den Kunden durch seine schnelle und undeutliche Sprechweise sowie seine ungestüme Körperlichkeit und dominiert die Situation. Der Assistent Schupisser funktioniert als Gatekeeper, der nicht nur sprachlich, sondern auch die moralischnationale Grenzüberschreitung interkulturell übersetzt – und dadurch markiert. Die moralischen Grenzüberscheitungen amalgamieren in der Narration mit Markierungen von indianness – in diesem Falle mit der Assoziation der Wiedergeburt, seinem früheren Leben als Maharaja, Rajivs Kleidung, seiner Hautfarbe, dem Bezug auf Kolkata (Calcutta) im Namen seiner Firma und dem indian english. Als Grenzgänger der bürgerlichen und der nationalen Ordnung unterscheidet sich Rajiv von den übrigen »Außenseitern« wie dem anzüglichen Mantafahrer Harry Hasler, der Blondine Debby Mötteli und dem Drogensüchtigen Fredy Hinz. Als Inbegriff des national-moralischen Fremden platzt er immerzu unverhofft in die bürgerliche Ordnung der Suisse Miniature und bedroht deren Integrität, Sicherheit und Wohlstand. Rajiv tritt stets in einem liminalen Raum auf – in anderen Sketchen zum Beispiel in einem Flugzeug oder im Einbürgerungsbüro – und repräsen-
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tiert den überwältigenden Einbruch des Fremden als moralische, kulturelle und nationale Grenzüberschreitung. Dabei wird durch die Verknüpfung seiner indianness mit den sprachlich-kulturellen Missverständnissen eine Inkommensurabilität des Fremden impliziert. Als Spektakel dieses Fremden markiert Rajiv das undefinierbare Außen der Suisse Miniature und konstituiert dadurch gerade die Schweiz als nationale, bürgerliche Ordnung.
R A JIV ALS E XOTISCHER H ARLEKIN – TR ANSGRESSION , A MBIVALENZ UND K RISE IN DER S UISSE M INIATURE Das Spektakel des Fremden, das der national-moralische Grenzgänger Rajiv darstellt, ist jedoch nicht nur bedrohlich, sondern weckt auch Identifikation, Faszination und Begehren. Als national-moralisches Gegenprinzip zur bürgerlichen Ordnung nimmt Rajiv auch die Funktion eines exotischen Harlekins ein, der nicht den bürgerlichen Regeln der Selbstkontrolle unterstellt ist. Als dubioser Gauner verkörpert er zwar eine verpönte und bedrohliche soziale Existenz. Als exotischer Harlekin kann er jedoch gleichzeitig den Mächtigen die Stirn bieten und existiert jenseits des bürgerlichen Arbeitsethos und der sexuellen Selbstkontrolle. Er erscheint dadurch weniger als bösartiger Gegner, denn als leichtfüßiges Schlitzohr, das für seine schlauen Tricks Bewunderung verdient. Als Harlekin, der auf der national-moralischen Grenze seine Tänzchen vorführt, macht er sich explizit über die Schweizer und deren Werte und Naivität lustig. Er veräppelt ihre Leichtgläubigkeit gegenüber spiritualistischen asiatischen Lehren – wie im Sketch »Wiedergeburtsversicherung« –, macht sich über nationale Symbole wie Wilhelm Tell lustig und nennt die Schweizer in einer Ansprache auch gerne mal »my dear motherfuckers«. Bereits Hall hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Repräsentation des Anderen durch eine schillernde Ambivalenz gekennzeichnet ist: »Symbolic boundaries are central to all culture. Marking ›difference‹ leads us, symbolically, to close ranks, shore up culture and to stigmatize and expel anything which is defined as impure, abnormal. However, paradoxically, it makes ›difference‹ powerful, strangely attractive precisely because it is forbidden, taboo, threatening to cultural order«.16
Die transgressive Sehnsucht des Bürgerlichen nach seinen Grenzfiguren zeigt sich in Viktors Spätprogramm sehr gut, weil die Genres der Satire und der Comedy sozialmoralische Grenzen aufweichen und invertieren. Die transgressive Logik ist bei Viktor Giacobbo in der Praxis des cross-dressing äußerst prägnant. Er stellt alle »Außenseiter« selbst dar und überschreitet durch üppiges Verkleiden und Makeup stärker als die anderen Comedians der Show Klassen-, Geschlechts-, Sexualitäts- und Rassengrenzen der bürgerlichen Ordnung. Dies ist insofern besonders 16 | Hall, Representation, S. 237.
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interessant, als Viktor Giacobbo den dominanten bürgerlichen Blick personifiziert, der in der Sendung den Genuss des Humors überhaupt erst erlaubt. Als Talkmaster und Satiriker nimmt er einerseits eine überlegene Distanz gegenüber dem Gegenstand der Satire ein. Gleichzeitig ermöglicht er durch das cross-dressing eine körperliche Identifikation mit den verpönten Anderen. Im Falle von Rajiv ist die Transgression insbesondere durch die Schwarzfärbung des Gesichts markiert. Diese Praxis des blackface war eine der meistverbreiteten Repräsentationen von Rasse in der US-amerikanischen und britischen Populärkultur des 19. und 20. Jahrhunderts.17 In dem spezifischen Genre der blackface minstrelsy verkleideten und schminkten sich weiße bohemians als schwarze Entertainer, Sklaven oder Vagabunden. Im Genre des Vaudevilles, einer spektakulären Mischung aus Kammerkonzert, Tanz und Komik, parodierten sie die schwarze Alltagskultur und mimten die schwarze Musiktradition. Abbildung 2: Transgression: Plakat einer Minstrelsy-Show des amerikanischen Entertainers Billy B. Van aus dem Jahre 1900
Entstanden in den USA des 19. Jahrhunderts war die blackface minstrel show eine wichtige Arena der Aushandlung von sozialem Wandel und interkulturellem Kontakt im Übergang von der Sklavenhalter- zur industrialisierten Gesellschaft. »It appears that during this sketch of American cultural history the intercourse between racial cultures was at once so attractive and so threatening as to require a cultural
17 | Zur blackface minstrelsy in den USA siehe Lott, Love & Theft, in Großbritannien siehe Pickering, Blackface Minstrelsy.
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marker or a visible sign of cultural interaction«.18 Importiert in die stark hierarchische und segregierte, koloniale Gesellschaft Großbritanniens erlaubte die blackface minstrelsy dem aufstrebenden viktorianischen Bürgertum die Widersprüche von zunehmendem Imperialismus und Kapitalismus auszuhandeln. Sie ermöglichte dem weißen, insbesondere männlichen Publikum aus der viktorianischen Mittelschicht gleichzeitig die rassistische Legitimierung des viktorianischen Imperialismus und eine Identifikation mit dem dummen August, der jenseits von Arbeitsethos, Selbstkontrolle und sexuellen Tabus in den Tag hineinlebte. »What was represented in minstrel stereotypes of blacks was radically at odds with the work ethics and sense of moral order and propriety in Victorian Britain […] The mask opened up a passage to this constrasting sense of licence that was lodged in the subjective black man, which white man carried within themselves and harboured with both fascination and dread«.19
Die Praxis der blackface minstrelsy mag vielleicht keine eindeutige Kontinuität zu Rajiv aufweisen. Nichtsdestotrotz zeigt sich die Repräsentationslogik des blackface auch bei Rajiv. Wie in der blackface minstrel show oszilliert Rajivs Repräsentation als Gegenprinzip der bürgerlichen Ordnung zwischen Ausgrenzung und Faszination.20 Besonders auffällig ist in dieser Hinsicht Rajivs sexuelle Repräsentation. Während der Mantafahrer Harry Hasler und die Blondine Debbie Mötteli den Sex nur andeuten, fragt Rajiv seine Gesprächspartner direkt und unverblümt »You wanna fuck?«. Diese sexuelle Aufforderung geht in ihrer Explizitheit über die Genrelogik der »Außenseiter« hinaus und ist auch kaum aus dem Narrativ des betrügerischen Gauners hergeleitet. Oft kommt sie eher aus dem Nichts. Gleichzeitig ist sie eine ritualisierte Klimax, die in jedem Sketch von Rajiv auftaucht und auch das kreischendste Gelächter des Livepublikums hervorruft. Als Gegenprinzip der bürgerlichen Ordnung wirft Rajiv ungehemmt die Rituale und Tabus sexueller Annäherung über Bord und wird dafür stigmatisiert – aber auch begehrt. Die sexuellen Anspielungen, oft assoziiert mit dem Kamasutra, faszinieren – und bedrängen – die bürgerliche Männlichkeit. Durch die Frage »You wanna fuck?«, die auch an das männliche Publikum gestellt ist, dient Rajiv als Projektionsfläche sowohl für die in der bürgerlichen Ordnung tabuisierte ungehemmte – auch (ver-)käufliche – Sexualität als auch für verdrängte homoerotische Fantasien.
18 | Lott, Love & Theft, S. 6. 19 | Pickering, Blackface minstrelsy, S. 105. 20 | Interessanterweise äußerte Viktor Giacobbo in einem Interview als einzige Referenz von Rajiv den Film The Party (1968), der Peter Sellers mit blackface als tollpatschigen Inder Bakshi in der High Society zeigt. Durch sein ungewöhnliches Verhalten irritiert Bakshi die Partygesellschaft – Inbegriff der bornierten britischen Gesellschaft – und führt sich und das Publikum durch eine spektakuläre Eskalation der Geschehnisse zur Katharsis.
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Dieses Oszillieren zwischen Nähe und Distanz, Bedrohung und Begehren, dubiosem Gauner und sexualisiertem Harlekin in der Repräsentation von Rajiv ist die Quelle des exzessiven Genusses. Es verweist auf Bhabhas Interpretation des post_ kolonialen Stereotyps als Fetisch.21 Das post_koloniale Stereotyp zielt demnach darauf ab, durch die Kontrolle über die Repräsentation des kolonialen Anderen die Krise der eigenen Identität zu meistern, die durch die post_koloniale Begegnung erschüttert wurde. Anne McClintock beschreibt dies folgendermaßen: »The fetish marks a crisis in social meaning as the embodiment of an impossible irresolution. […] By displacing power on to the fetish, then manipulating the fetish, the individual gains symbolic control over what might otherwise be terrifying ambiguities.«22 Das post_koloniale Stereotyp erfüllt daher kurzfristig den unmöglichen Wunsch nach einer unhinterfragten Identität, einem essentialistischen Ursprung und ethnischer Reinheit.23 Die Imagination einer stereotypen, binären Ordnung zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten, Orient und Okzident, Moderne und Tradition, Schweizerinnen und Ausländern ist ein oberflächlicher und nur vorübergehender Versuch, die krisenhafte Erfahrung des Anderen zu leugnen und zu kontrollieren. »Das kontinuierliche Zurechtrücken der Distanzen zwischen dem Selbst und den Anderen […] lässt sich nicht nur als Ausdruck von Herrschaft und Macht lesen, sondern auch als Zeichen der kontinuierlichen Anstrengung, diese herzustellen und aufrechtzuerhalten – und der beständigen Gefahr, sie zu verlieren.« 24
Im Sinne eines Fetischs muss das Stereotyp des Anderen deshalb ständig repetiert werden, um die krisenhafte Illusion der eigenen Identität und Autorität aufrechtzuerhalten. Gemäß dieser post_kolonialen Lesart ermöglicht das rituelle Spektakel des post_kolonialen Anderen in der Suisse Miniature dem dominanten, schweizerischen, bürgerlichen Subjekt – wie den Kolonialbeamten in Indien und dem Publikum der blackface minstrelsy – eine narzisstische Projektion dieses Anderen, wäh21 | Dieses Verständnis von Fetisch geht auf Freuds Analyse der frühkindlichen Individuation zurück. Vor dem Individuationsprozess lebt der Knabe (!) in einer ursprünglichen Einheit mit der Mutter. Durch den Anblick des anderen, weiblichen Genitals erschrickt der Knabe und befürchtet, vom Vater kastriert zu werden, wenn er sich diesem widersetzt. Die Imagination des Fetischs als weiblicher Penis erlaubt dem Jungen diese Kastrationsangst zu leugnen. Damit wird die ursprüngliche Einheit wieder hergestellt und die Differenz, das Weibliche, verdrängt. Gleichzeitig verweist die Anstrengung der Behauptung des Fetischs als Penisersatz auf die geleugnete Differenz. Der Fetisch verdeckt die Differenz, genauso wie er sie verrät. Freud, Fetischismus; Kritik aus feministischer Perspektive übt McClintock, Imperial Leather. 22 | Ebd., S. 184. 23 | Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 109. 24 | Purtschert, Grenzfiguren, S. 200.
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rend der reale Kontakt vermieden wird.25 Wie ich im Folgenden argumentieren möchte, ermöglicht daher Rajiv eine spezifische historische Krise auszuhandeln, einzudämmen, aufzuschieben, die das bürgerliche, schweizerische Subjekt seit dem Ende des Kalten Kriegs und der Zunahme der neoliberalen Globalisierung erfasst hat.
D IE K RISE DES »S ONDERFALLS S CHWEIZ« Die Parallele von Rajiv mit dem Narrativ des »betrügerischen Inders« und dem Genre der blackface minstrelsy mag eine Koinzidenz sein, die jedoch nicht bedeutungslos ist. Das Auftauchen des kolonialen Freaks Rajiv in der Schweiz am Ende des 20. Jahrhunderts soll im Folgenden als Ausdruck der krisenhaften Erfahrung des »Sonderfalls Schweiz« in der neuen multipolaren Weltordnung seit 1989 und der zunehmenden Globalisierung gelesen werden. Rajiv ist eine Figur der Ambivalenz, die es auf eine spielerische Weise sowohl erlaubt, diese Krise zu imaginieren, als auch die bürgerliche Ordnung der Schweiz ihrer selbst zu vergewissern. Im Sinne von Saids Orientalismuskritik dient dabei Rajiv lediglich als Projektionsfläche einer krisenhaften Erfahrung des Anderen und nicht etwa als Repräsentation Indiens oder von Indern. Dazu ist er viel zu unterdeterminiert und lässt jegliche soziale oder historische Referenz vermissen. Stereotype religiöse Markierung wie Wiedergeburt, heilige Kühe, exotische Fantasien wie Kamasutra oder modernistische Stereotypen wie Kinderarbeit und Armut sind kaum narrativ relevant und markieren primär das inszenierte Spektakel des Fremden. Viel eher sind es die starke Ambivalenz von romantischer Exotik und modernistischer Ablehnung, die im Indiendiskurs angelegt ist26, sowie das blackface als rassistisches Symbol der 25 | Wie Viktor Giacobbo in einem Interview symptomatischerweise mitteilte, hätte die Figur kein Inder sein müssen. Als »Spektakel des Fremden« dient Rajiv lediglich als abstrakte Projektionsfläche, statt als konkrete, authentische Repräsentation. 26 | Der Indiendiskurs in der Schweiz ist – wie europäische Diskurse über den »Orient« generell – gespalten zwischen modernistischer Herabwürdigung und romantisch-orientalistischer Faszination. Auf der einen Seite konstituieren Diskurse über Kastenwesen, fehlende Frauenrechte und Armut in Indien die Schweiz als moderne Gesellschaft. Diese modernistische Logik durchdringt sowohl den kolonialen Handel mit Indien, die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit als auch den heutigen Outsourcingkapitalismus. Auf der anderen Seite wird Indien in einem romantisch-orientalistischen Diskursstrang als spirituelle und zivilisatorische Wiege der Menschheit imaginiert. Diese Logik zieht sich als kulturpessimistischer Gegendiskurs durch die westliche Moderne und lässt sich in der Schweiz von der Reformbewegung des Fin de Siècle (manifestiert auf dem Monte Verità), über den Indienhype der Hippiebewegung, bis zum heutigen Yogaboom verfolgen. Die großen männlichen indischen Ikonen von Mahatma Gandhi bis zum berüchtigten Sektenguru Osho verkörpern diese Ambivalenz und die westlichen Repräsentationen dieser Figuren oszillieren
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europäischen Dezentrierung in den aktuellen Prozessen der Globalisierung, durch die Rajiv die post_koloniale Krise des »Sonderfalls Schweiz« bearbeiten lässt. Die aktuelle hegemoniale Sonderfallkonstruktion der Schweiz ist ein Produkt der Zwischenkriegszeit. Der Burgfrieden der Linken mit der bürgerlichen Mitte etablierte damals nicht nur sozialen Frieden und den Wohlfahrtsstaat, sondern im Rahmen der geistigen Landesverteidigung auch den Mythos einer quasiethnischen Schweiz.27 Die Nachkriegsordnung der Schweiz kreiste um bürgerliche Werte wie Sauberkeit, Ordnung, Qualität und Fleiß als Garanten und Symbole von Schweizer Wohlstand und Sicherheit. Zentraler Bestandteil dieser Ordnung war die Arbeitsmigration aus Südeuropa, die sowohl Infrastruktur und Wachstum als auch das Selbstbild der bürgerlichen Schweiz konstituierte.28 In gleichem Maße erlaubte die Verknüpfung von Neutralitätspolitik und antikommunistischer Loyalität eine opportunistische Außenwirtschaftspolitik, die zu einem großen Teil den Wohlstand der Nachkriegszeit ermöglichte. Die Entstehung einer neuen multipolaren Weltordnung nach Ende des Kalten Krieges und die zunehmende Globalisierung entzogen dem »Sonderfall Schweiz« jedoch gewisse politisch-ökonomische Vorteile und versetzten ihn zusehends in ein »Orientierungschaos«.29 Die Schweiz schwankt seither zwischen Vergewisserung der bisherigen politischen Rezepte und der Angst des Verlustes einer privilegierten Position in der post_kolonialen Weltordnung. Dem populärkulturellen Unterbewusstsein der westlichen Moderne entstiegen, verkörpert das koloniale Phantasma Rajiv eine Gegengeschichte zum Mythos des fleißigen, korrekten und erfolgreichen »Sonderfalls Schweiz«. Es erinnert einerseits daran, dass die Schweiz ihre Identität und ihren Wohlstand nur durch die Verflechtung mit der post_kolonialen Ordnung erschaffen konnte.30 Als Spiegelbild des schlauen Kleinstaates, der durch opportunistische Geschäftspraktiken wie dem Handel im Kolonialismus und den Finanz- und Waffengeschäften seit dem Zweiten Weltkrieg seinen Wohlstand aufbauen konnte, verdient Rajiv Bewunderung für seinen erfolgreichen schelmischen Opportunismus. Andererseits verweist der post_koloniale Freak auch auf die Brüchigkeit sowohl der aktuellen globalen westlichen Hegemonie als auch auf die Vergänglichkeit von Schweizer Identität, Privilegien und Wohlstand. Es ist genauso aufschlussreich wie zufällig, zwischen modernistischer Ablehnung und exotisierendem Begehren. Zum Indiendiskurs in der Schweiz und insbesondere zur Rezeption von Gandhi siehe den Beitrag von Francesca Falk und Franziska Jenni in diesem Band. 27 | Wimmer, Nationalist Exclusion, S. 222-268. 28 | So wurden im Kontrast zum faulen, ungebildeten und unkontrollierten südeuropäischen Arbeiter die bürgerlichen Werte als Fundament des »Sonderfalls Schweiz« imaginiert und gleichzeitig dessen Segregation gerechtfertigt, Wottreng, Ein einzig Volk von Immigranten. 29 | Imhof, »Sonderfalldiskurse und Pfadabhängigkeiten«, S. 47. 30 | Siehe Beiträge in diesem Band.
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dass die geschäftige Invasion Rajivs in die Suisse Miniature gerade kurz vor dem Zeitpunkt stattfindet, als der »erwachende Elefant« Indien auch in der Schweizer Imagination als kommende Supermacht auftaucht. Rajiv repräsentiert die asiatische Konkurrenz um die globale Vorherrschaft, die zwar unlautere, aber doch erfolgreiche Mittel des Wachstums einsetzt. Die Haltung der Schweiz oszilliert gegenüber den neuen Akteuren der Weltgeschichte, China und Indien, zwischen chauvinistischer Abwehr und resignierter Faszination, zwischen politischer Diffamierung und opportunistischer Marktexpansion. In der neuen globalen Unübersichtlichkeit nehmen vor allem EU-, Asyl- und Ausländerpolitik einen zentralen Platz in der symbolischen Politik der Schweiz ein.31 Diese gebannte Beschäftigung mit den eigenen Mythen sowie dem Fremden ist seit jeher symptomatisch für den Krisendiskurs des »Sonderfalls Schweiz«.32 Dabei übernimmt die – von Rajiv markierte – national-moralische Grenze der Schweiz eine Funktion der symbolischen Schleuse zwischen »Reinheit und Gefahr«, wie das Plakat der Schweizerischen Volkspartei (SVP) (Abb. 3) gegen die erleichterte Einbürgerung der zweiten und dritten Einwanderungsgeneration suggeriert.33 Das Plakat ist strukturiert durch die Gegenüberstellung des Korbs mit den Schweizer Pässen und den unterschiedlich farbigen Händen, die danach greifen. Während die Schweizer Pässe homogen, optisch zentral und durch den Korbrand abgeschlossen dargestellt sind, greifen die verschiedenfarbigen Hände aus allen Richtungen, von den Rändern und dem schwarzen Hintergrund in den Korb. Diese Dichotomie verleiht dem Plakat die Dimension eines mythischen Moments, in dem die homogene, passive Schweiz von einer unübersichtlichen, aggressiven, rassisch undefinierbaren Masse geplündert wird. Die Frage »Masseneinbürgerung?« suggeriert einen krisenhaften ethnodemographischen Moment, der die Verunreinigung der schweizerischen ursprünglichen Reinheit sowie den Untergang des ökonomischen Erfolgsmodells Schweiz – symbolisiert durch das Qualitätssiegels des Schweizerkreuzes – besiegelt.
31 | Parallel wurde eine neoliberale Deregulierungs-, Privatisierungs- und Expansionspolitik größtenteils ohne größeres Aufheben vorangetrieben. Diese orientiert sich jedoch primär an der neoliberalen Orthodoxie und an den bisherigen »heiligen Kühen« der Schweiz. Innovationen sind dagegen selten, wie die Krise um das Bankgeheimnis, die Stagnation in der Bildungspolitik und die konservative Klimapolitik zeigen. 32 | Imhof, »Sonderfalldiskurse und Pfadabhängigkeiten«. 33 | Die EU-Skepsis seit der EWR-Abstimmung 1992, die Affäre um die »nachrichtenlosen Vermögen«, insbesondere die verschärfte Asylpolitik der späten neunziger Jahre sowie die Einbürgerungsinitiativen und die Islamophobie der letzten zehn Jahre vermitteln diese politische Semantik und Praxis der nationalen Abschottung. Zum Konzept »Reinheit und Gefahr« als Struktur symbolischer Klassifikationssystem und sozialer Ordnung siehe Douglas, Purity and Danger.
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Abbildung 3: Topologie der Abschottung: Plakat der SVP gegen die Gesetze für die erleichterte Einbürgerung der zweiten und dritten Einbürgerungsgeneration, die am 24. September 2004 abgelehnt wurden
War es in den neunziger Jahren vor allem die Rhetorik der Neuen Rechten, die die national-moralische Grenze politisch bearbeitete und die Sonderfallideologie der Nachkriegszeit zelebrierte, zeigte sich in den letzten Jahren eine Verschiebung nationalistischer Positionen bis in die breite Mitte.34 Der Brachialnationalismus der Neuen Rechten geht zunehmend mit einem »leichtfüßigen Patriotismus«35 der Mitte einher, die nun gemeinsam in einer hegemonialen Topologie des Nationalen beziehungsweise von swissness Niederschlag finden.36 Dieser »leichtfüßige Patrio34 | Wie die Annahme von Minarett- und Ausschaffungsinitiative und der parteiübergreifende Integrationskonsens zeigen, findet die nationale Topologie auch in der Linken vermehrt Zustimmung. Zur Kritik der Schweizer Integrationsdebatte siehe Piñeiro/Bopp/ Kreis, Fördern und Fordern im Fokus. 35 | Imhof, »Sonderfalldiskurse und Pfadabhängigkeiten«, S. 51. 36 | Dieser populärkulturelle Patriotismus zeigt sich zum Beispiel im Spektakel der Fußball-WM, in der Propagierung biologischer Nahrungsmittel mit swissness-Label und durch die zunehmend folkloristische Fernsehunterhaltung. Die Legitimation der zunehmend repressiveren Ausländerpolitik in der (links-)bürgerlichen Mitte deutet jedoch darauf hin, dass der swissness-Diskurs nicht eine kosmopolitische Ablösung des alten Sonderfallmy-
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tismus« – und damit der nationalistische Konsens zwischen der Neuen Rechten und der bürgerlichen Mitte – wird insbesondere durch eine populärkulturelle ReArtikulation der nationalen Topologie ermöglicht. Dies lässt sich an der Werbung des größten Schweizer Detailhandelsunternehmens Migros aus einem Prospekt für das Musical »Die Schweizermacher« veranschaulichen. Abbildung 4: Leichtfüßiger Patriotismus: Werbung in der Broschüre des Musicals »Die Schweizermacher«, 2010
thos verspricht (Tanner, »Das neue Wohlbehagen im Kleinstaat«). Viel eher bringt er eine neue nationale Topologie hervor, die die Eingliederung der Schweiz in die globale Kulturökonomie mit einer folkloristischen-neoliberalen Standortpolitik verknüpft. Verschiedene Nationalismen für verschiedene Klientelen können – ja, müssen – koexistieren. Diese Vielfalt der Nationalismen ermöglicht erst die sichtbare Hegemonie des Nationalen jenseits der brachialen Positionen der SVP. Zur Kritik des swissness-Diskurses siehe Dean, »Ein Bild der Schweiz«.
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Die Werbung basiert auf der metaphorischen Verknüpfung der frischen, herzförmigen Erdbeere mit dem Slogan »Heimatliebe«. Wie der Korb mit den Schweizer Pässen ist die Erdbeere zentriert und abgeschlossen und verkörpert die homogene Heimat Schweiz, aber auch die gesunde und ökologische Qualität von Schweizer Lebensmitteln. Die Beziehung zwischen der Heimat und ihren Angehörigen basiert auf dem momentanen, genussvollen Konsum der Erdbeere, der kathartischen Identifikation mit der Heimat. Heimatliebe verspricht also ein sinnliches Spektakel sowie nachhaltige Gesundheit für das konsumierende Volk.37 Während der Film »Die Schweizermacher« (1978) sarkastische Kritik an der assimilatorischen und menschenverachtenden Einbürgerungspraxis in den siebziger Jahren übte, verspricht nun das Musical dem Publikum aus der gesellschaftlichen Mitte durch den Konsum dieses Kulturgutes den leichtfüßigen Genuss der Heimat – dies, während genau dieselbe Mitte seit Jahren einer Verschärfung der Asyl- und Migrationspolitik immer wieder zustimmt. Wenn auch Viktors Spätprogramm die Neue Rechte und deren brachiale Politik und Semantik der Bedrohung der national-moralischen Grenzen parodiert, wird die Gestaltung der Suisse Miniature und der Narration von Rajiv genau anhand derselben nationalen Topologie bewerkstelligt. Wie der leichtfüßige Patriotismus fungiert Viktors Spätprogramm als Plattform der Re-Artikulation des Nationalen, als Ausdifferenzierung der Repräsentation und Performanz nationaler Identität. Wie ich im nächsten Kapitel zeigen möchte, können deshalb Rajiv und die Comedy als eine Plattform gelesen werden, in der das Unbehagen gegenüber dem Fremden in der populärkulturellen Form eines kathartischen Rassismus auch in der breiten Mitte bis in die Linke Auftrieb gewinnen und Ausdruck finden konnte.
C OMEDY, P OLITICAL C ORRECTNESS UND K ATHARTISCHER R ASSISMUS Im Herbst 2000 beschwerte sich der SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli in einer Kolumne über die beleidigende und unauthentische Repräsentation »des indischen Milliardenvolkes« in Viktors Spätprogramm.38 Er habe einen Bekannten indischer Herkunft, der »gebildet und hochkultiviert« sei und für dessen Ehrenhaftigkeit die Geschäftspartner ihre Hand ins Feuer legten. Er forderte die Abschaffung
37 | Wie es im Kleingedruckten der Werbung heißt: »Gut fürs Herz, gut fürs Gemüt. Die Migros unterstützt Veranstaltungen, die aus der Schweiz gar nicht mehr wegzudenken sind, und trägt so dazu bei, dass Sie die schönsten Emotionen in ihrer Heimat erleben können. Wir wünschen Ihnen viel Spass beim Musical die Schweizermacher.« 38 | Mörgeli, »Das Niveau des Inders Rajiv«.
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der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR)39 , da diese parteiisch sei. Es gehe nicht an, »dass dieselbe Rassismuskommission über den Schnitzelbankvers einer Bäretswiler Fasnachtsclique Zeter und Mordio schreit und Texter und Sänger rechtskräftig verurteilen lässt. Offensichtlich gelten hierzulande für Giacobbo als linken Satiriker und Hätschelkind von TV und Tagi [Zürcher Tagesanzeiger, R. J.] ganz andere Gesetze als für möglicherweise bürgerlich gesinnte Fasnächtler aus dem Zürcher Oberland«. 40
Die EKR ließ sich von diesem politischen Schachzug provozieren und bat Viktor Giacobbo, Rajiv mit einigen positiven Aspekten auszustatten. Giacobbo und sein Team beharrten auf der Freiheit der satirischen Kunst und ließen sowohl Christoph Mörgeli als auch die EKR ins Leere laufen. In der folgenden Sendung nahmen sie die affaire politique auf und karikierten Mörgeli als ideologisches Schoßhündchen von SVP-Übervater Christoph Blocher und die EKR als Zensurbehörde. Die taktische Intervention von Mörgeli wirft ein neues Licht auf die Bedeutung von Rajiv und Comedy in der Schweiz. Mörgeli geht es keineswegs um eine Kritik an der Figur. Stattdessen inszeniert er sich als »Freund der Freiheit«, der gegen die »famose eidgenössische Zensurbehörde«41 kämpft. Gemäß Auer ordnete sich seit den neunziger Jahren der Kampf der Neuen Rechten in den USA um das konstruierte Feindbild der Political Correctness42 , mit dem alle emanzipatorischen Positionen wie Antirassismus, Feminismus, Ökologie und soziale Gerechtigkeit als Zensur der Meinungsäußerungsfreiheit und moralische Diktatur diffamiert wurden. In der Schweiz wurde dieser Diskurs bei der Gründung der EKR und der Antirassismusstrafnorm 1995 medial wirksam eingeführt und seither heftig geführt. Christoph Mörgelis angestoßene »affaire Rajiv« war lediglich eine weitere Manifestation davon. Doch wie ist der Diskurs gegen Political Correctness mit der Comedy verknüpft? Im deutschsprachigen Kontext geschehen die Formierung der Neuen Rechten und die Aneignung des US-amerikanischen Anti-Political-CorrectnessDiskurses parallel zur Etablierung der Comedy. Comedy wurde von den deut39 | Die EKR wurde 1995 als Folge der Ratifizierung des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung eingesetzt. Im selben Jahr wurde auch die Antirassimusstrafnorm verabschiedet. 40 | Mörgeli, » Das Niveau des Inders Rajiv«. 41 | Ebd. 42 | War der Begriff in den USA der sechziger Jahre im Zusammenhang mit der civil rights movement und dem Feminismus entstanden, wurde er in der Reagan-Ära zunehmend zum negativ konnotierten Kampfbegriff der neokonservativen Rechten umgedeutet, um die liberalen Positionen zu schwächen. Wie Auer für Deutschland und Österreich argumentiert, ist der Begriff auch in der Schweiz vor allem in der schon umgedeuteten Variante angeeignet worden. Siehe Auer, »›Political Correctness‹«, S. 293.
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schen Privatsendern in den neunziger Jahren aus dem angelsächsischen Raum importiert, und versprach angesichts des zunehmenden Wettbewerbs auf dem Privatfernsehmarkt, die gesellschaftliche Mitte anzusprechen und dadurch Einschaltquoten zu erhöhen. Im neuen Genre der Comedy wurden – im Gegensatz zum subtilen gesellschaftskritischen Moralin des Kabaretts – in einem karnevalesken Spektakel soziale Konvention und moralische Tabus durch ritualisierte Gags über den Haufen geworfen.43 In der Verteidigung von exzessivem Spaß gegenüber moralischen Bedenken inszenierte der stereotype, brachiale Humor, explizit oder implizit, stets den Bruch mit der Political Correctness. Dementsprechend waren die Stereotypisierungen von Frauen und ethnischen Minderheiten stets wichtige Strategien in der Comedy.44 Stuart Hall hat im angelsächsischen Kontext auf das Potential von Comedy hingewiesen, essentialistische Repräsentationen unsichtbar zu machen – zu naturalisieren. »Die Komik-Schublade, in der sie [die rassistisch definierten Charaktere und Eigenschaften, R. J.] stecken, schützt und bewahrt den Zuschauer davor, seinen unbewussten Rassismus einzugestehen. Sie provoziert Dementis«45 . Comedy kann demnach als unverfängliche Plattform verstanden werden, die es ermöglicht, nationale und ethnische Stereotypisierungen als legitime, ja sogar rebellische Vergewisserung der eigenen – oft männlichen – nationalmoralischen Hegemonie zu verwenden. Was sagt diese Verflechtung von Comedy und Political Correctness aus über die Verschiebungen der bürgerlichen Ordnung angesichts der Krise des »Sonderfalls Schweiz«? In seiner geschickten Handhabe der »affaire Rajiv« positionierte sich Viktor Giacobbo klar gegen Christoph Mörgeli und die Neue Rechte, gleichzeitig verteidigte er die Freiheit der satirischen Kunst gegenüber der EKR. Es ist genau diese dritte Position, die in der Erzählperspektive von Viktors Spätprogramm eingeschrieben ist, die auf eine Verschiebung der national-bürgerlichen Ordnung der Schweiz verweist. Mit Jacques Rancière lässt sich auch für die Schweiz argumentieren, dass in (links-)bürgerlichen Kreisen Rassismus oft als Irrationalität des Volkes konstruiert wird, die vom Rechtspopulismus geschürt und ausgenützt wird.46 Dadurch vergewissert sich die (links-)bürgerliche Mitte einer kosmopolitischen Überlegenheit und entledigt sich des Verdachtes auf Rassismus.47 Wäre es also nicht möglich, dass die Comedy einer (links-)bürgerlichen Mitte erlaubt, ihr Unbehagen gegenüber dem Fremden in der Krise des »Sonderfalles Schweiz« auszudrücken, ohne offen gegen die imaginierte Zensur der Political Correctness 43 | Zur Einführung der Comedy in Deutschland siehe Hügel, Handbuch der Populärkultur. 44 | Die ethnic comedy wurde in Westeuropa gar zu einem erfolgreichen eigenen Genre, wie die Sendungen »The Ali G-Show« (Channel 4, 2000), »Was kuckst Du?« (Sat.1, 20012005) oder »headnut.tv« (Stefan und Erkan, Pro7, 2002-2004) belegen. 45 | Hall, Ideologie, S. 163. 46 | Rancière, »Racism«. 47 | Zum Begriff von Rassismus als konstitutivem Diskurs westlicher Nationalstaaten siehe Terkessidis, Die Banalität des Rassismus.
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zu verstoßen? Ermöglicht diese Plattform nicht gleichzeitig eine Abgrenzung von der Neuen Rechten, während gleichzeitig auf eine unverfängliche Weise eine Vergewisserung national-moralischer Hegemonie stattfindet?48 Im rituellen Spektakel des Fremden wird eine Ambivalenz sowohl gegenüber der dominanten bürgerlichen Ordnung als auch gegenüber dem national-moralisch Fremden inszeniert. Dadurch wird die hegemoniale Ordnung vorübergehend aufgehoben und deren Widersprüche und Tabus kommen zum Vorschein.49 Die Erzählperspektive von Viktors Spätprogramm erlaubt also, die national-moralische Narration der Suisse Miniature gegenüber der Invasion des Fremden zu übernehmen und das bedrohliche Fremde als sympathisch und amüsant zu genießen. Im ritualisierten, kathartischen Moment des Gelächters verdichtet sich diese Ambivalenz. Dies erlaubt eine Re-Artikulation des Sprechens über das national-moralische Andere, das sich sowohl von dem der Neuen Rechten unterschiedet als auch eine legitime Subversion der imaginierten Zensur durch die EKR ermöglicht. Dadurch kann das (links-)bürgerliche Subjekt in Zeiten der post_kolonialen Krise, das eigene uneingestandene Unbehagen gegenüber dem Anderen äußern und eine national-moralische Selbstvergewisserung vornehmen. Pickerings Aussage über die blackface minstrelsy dürfte demnach auch für die kritische Analyse Rajivs gelten: »At least for the ritualistically demarcated interval of the performance, imaginary ›darkies‹ were the object of a humorous contemplation that carried with it a liberating force. Yet the humour was at the same time self-defensive, as humour often is, for what was affirmed in minstrel jest and merriment was the invulnerability of national self-identity« 50 .
Während die Rechte einen brachialrassistischen Diskurs einsetzt – wie er sich in den Wahlplakaten der SVP zeigt –, erlaubt Rajiv einem (links-)bürgerlichen Publikum einen kathartischen Rassismus, der eine Performanz des Unbehagens gegen das national-moralische Andere ermöglicht und dieses Andere gleichzeitig als sympathisch und lustig darstellt. Das kathartische Gelächter über Rajiv katalysiert dadurch das legitime Aufbegehren gegen die imaginierte Zensur der Political Correctness und schafft eine neue, dritte Position des Sprechens über das national-moralische Andere. Diese Ausdifferenzierung der nationalen Topologie in eine brachiale Abschottung und eine unverfängliche populärkulturelle Katharsis schufen die Basis für eine kulturnationalistische Hegemonie, die sich sowohl in 48 | Die inflationäre Verwendung des kathartischen Satzes »Endlich sagt es mal einer«, die während der Sarrazin-Debatte auch in der Schweiz bis in die Linke reichte, mag als Indiz für diese These gelten. 49 | Victor Turner hat darauf hingewiesen, dass in Ritualen die herrschende Struktur in eine Antistruktur umgewandelt wird, in der die Ambivalenzen und Widersprüche der sozialen Ordnung repräsentiert und dargestellt werden. Mit dem Ende des Rituals wird dann die bestehende Ordnung gestärkt wiederhergestellt. Turner, Das Ritual. 50 | Pickering, Blackface Minstrelsy, S. 142.
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der Minarett- und der Ausschaffungsinitiative als auch im parteiübergreifenden Integrationskonsensus feststellen lassen.
F A ZIT Die post_koloniale Analyse von Rajiv konnte aufzeigen, dass die angeblich geschichtslose und zufällig entstandene Comedyfigur aus kolonialen Fragmenten konstruiert wurde. Die Narrative des »betrügerischen Bengalen« und der black minstrelsy show ermöglichten im kolonialen Kontext, der geprägt war von zunehmendem sozialen Wandel und kultureller Verflechtung, die Konstruktion und Domestizierung des Fremden und dadurch eine moralisch-nationale Vergewisserung. Rajiv ist eine Re-Inszenierung dieser kolonialen Artefakte in der Schweiz am Ende des 20. Jahrhunderts und gewinnt seine Bedeutung in der Dialektik von kolonialer Vorgeschichte und den sozialen Konflikten der Gegenwart. Die post_kolonial-narrative Analyse deckt dabei eine tiefe Ambivalenz der Figur und der Erzählperspektive auf. Rajiv ist ein national-moralischer Grenzgänger, der die Schweiz als bürgerliche Ordnung konstituiert, aber auch in Frage stellt: Einerseits ein dubioser Gauner, dessen kriminell-sexuelle Invasion die Schweiz bedroht, andererseits ein antibürgerlicher Held, der die »Mächtigen« bloßstellt und die enge bürgerliche Ordnung auflöst. Die Präsenz Rajivs in der Schweiz am Ende des 20. Jahrhunderts verweist auf die unsichere Position der Schweiz nach dem Ende des Kalten Kriegs und angesichts der zunehmenden posteuropäischen Globalisierung. Als koloniales Phantasma deckt Rajiv auf, dass die Schweiz Identität und Wohlstand auch dem post_kolonialen Engagement verdankt. Gleichzeitig deutet er die Brüchigkeit der westlichen Privilegien angesichts des asiatischen Kapitalismus, der Migration und der Globalisierung generell an. In der Desorientierung des »Sonderfalls Schweiz« erlaubt Rajiv, sowohl die Krise spielerisch zu imaginieren als auch eine nationale Selbstvergewisserung vorzunehmen. Die »affaire Rajiv« öffnet den Blick auf die Rekonfiguration der bürgerlichen Ordnung der Schweiz angesichts der neuen globalen Unübersichtlichkeit. In der Figur von Rajiv ist ein kathartischer Rassismus eingeschrieben, der einer (links-) bürgerlichen Mitte erlaubt, in Abgrenzung zur Neuen Rechten eine national-moralische Selbstvergewisserung und gleichzeitig eine legitime Subversion von Political Correctness zu bewerkstelligen. Diese Ausdifferenzierung der nationalen Topologien als Abschottung bei der Neuen Rechten und als leichtfüßiger Patriotismus in der (links-)bürgerlichen Mitte hat einer kulturnationalistischen Hegemonie Vorschub geleistet, die sich in den letzten Jahren in der Annahme der Minarett- und der Ausschaffungsinitiative sowie in dem neuen parteiübergreifenden Integrationskonsens zeigt. Dabei liegt der eigentliche Rassismus, den die Analyse von Rajiv entlarvt – dessen epistemische Gewalt –, nicht etwa in der negativen oder nicht authentischen
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Repräsentation sondern in der repräsentationspolitischen Dimension. In ihrem berühmten Aufsatz stellte Spivak die Frage »Can the subaltern speak?«.51 Dabei versteht sie unter speak den Akt der Repräsentation als Doppelbewegung von politischer Vertretung und der Möglichkeit, sich selbst darzustellen, das heißt gehört zu werden.52 In der politischen Öffentlichkeit der Schweiz sind beide Formen der Repräsentation für Menschen mit Migrationshintergrund stark eingeschränkt. Die Einbürgerungshürden sind so hoch wie nirgends in Europa. Knapp ein Viertel der Bevölkerung hat wegen ihrer Nationalität keine politischen Rechte. Gleichzeitig findet die Selbstrepräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund in den Medien kaum statt.53 Diese segregative Logik ist dabei in das Medium des Fernsehens als nationalstaatliche Institution und in die historische Konstruktion der Nation als »vorgestellte Gemeinschaft«54 eingeschrieben. »Because it is how televisualization mobilizes and presents itself as a united ›we‹, it is how it speaks to the nation as a part of that unifying cultural project.«55 Dementsprechend spiegelt die gesamte Debatte um Rajiv diese mediale Segregation wider. Viktor Giacobbo und sein Team inszenieren für ein (links-)bürgerliches Publikum das Spektakel des Fremden. Die EKR setzt sich für die Minderheiten ein, und Christoph Mörgeli benutzt seinen indischen Bekannten für einen politischen Schachzug. Innerhalb dieser öffentlichen Debatte findet keine Selbstrepräsentation der betroffenen Personen oder Gruppen statt – die Dominanzgesellschaft spricht, lacht und flucht über beziehungsweise kümmert sich um ihre Anderen. Deren Stimmen bleiben jedoch ungehört.
51 | Spivak, »Can the Subaltern Speak?«. 52 | Gemäß Nikita Dhawan können Migrantinnen und Migranten in der Schweiz nicht als subaltern in Spivaks Sinn gelten, da sie innerhalb der internationalen Arbeitsteilung sowohl geographisch als auch sozial mobil sind, Dhawan, »Can the Subaltern Speak German?«. Nichtsdestotrotz können sie sich in der Schweiz nicht selbst repräsentieren beziehungsweise werden nicht gehört. Symptomatisch war die Reaktion der Schweizer Öffentlichkeit auf das Resultat der Minarettinitiative, die muslimischen Organisationen hätten sich stärker für sich einsetzen müssen, sowie die Internalisierung dieser Schuldzuweisung durch die muslimischen Organisationen. 53 | Bonfadelli, Darstellung ethnischer Minderheiten in den Medien. 54 | Anderson, Die Erfindung, S. 16. 55 | Malik, Representing Black Britain, S. 176.
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Eine postkoloniale Perspektive auf die illegalisierte Immigration in der Schweiz Über Ausschaffungen, den »Austausch mit Afrika«, Alltagsrassismus und die Angst vor der umgekehrten Kolonisierung Francesca Falk In Großbritannien lautet ein bekannter Slogan auf Demonstrationen von Migrantinnen und Migranten: »We are here because you were there.«1 Mit dieser Aussage ist nicht nur der Umstand gemeint, dass zahlreiche Migrierende aus ehemaligen Kolonialgebieten stammen, sondern auch, dass die heutigen Verhältnisse in ihren Herkunftsländern immer noch von postkolonialen Konstellationen geprägt sind, was wiederum ihre Migrationsentscheidungen beeinflusste. Hinter der Losung verbirgt sich demnach der Wunsch, »dass sich die europäischen Einwanderungsgesellschaften der Komplexität dieser Geschichte stellen und sie als Teil der nationalen Geschichten anerkennen sollen«2 . Was aber hat die illegalisierte Immigration in der Schweiz mit kolonialen Kontexten zu tun?3 Dieser Frage will ich in diesem Artikel anhand vierer Denkachsen nachgehen.4 Eine kurze Geschichte der Ausschaffungslager soll zeigen, dass deren »Ursprünge« auf einen transnationalen Wissenstransfer und koloniale Kontexte im In- und Ausland zurückzuführen sind. Zudem sind die Ähnlichkeiten im Umgang mit den »fremden Fahrenden« 1 | Ich danke Marcel Falk, Barbara Lüthi, Martin Mühlheim, Patricia Purtschert, Steve Page und Jovita dos Santos Pinto für ihre Kommentare. 2 | Lutz/Gawarecki, »Kolonialismus und Erinnerungskultur«, S. 175. 3 | Zu den Verhältnissen in Frankreich siehe beispielsweise die Arbeiten von Didier und Eric Fassin, De la question sociale à la question raciale, oder Etienne Balibar et al., Sanspapiers. Zu Deutschland siehe u.a. Steyerl, Spricht die Subalterne deutsch, S. 12. Zu einem globalen Zugang Spivak, »Achtung: Postkolonialismus«. 4 | Ein Teil dieses Aufsatzes stützt sich auf Falk, »Invasion, Infection, Invisibility«. Siehe auch Falk, Eine gestische Geschichte der Grenze. Ich behandle die Abschiebepolitik unter einer postkolonialen Perspektive auch in Falk, »Postkolonialismus«.
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und den heutigen illegalisierten Immigrierenden frappierend. Nach diesen historischen Ausführungen komme ich auf die Gegenwart zurück und untersuche Alltagsrassismus, der oft aus kolonialen Kontexten stammt und heute die Lebensrealität von Migrantinnen und Migranten prägt. Insbesondere interessieren mich dabei diskursive Verbindungen zwischen staatlichen Stellen und dem Agendasetting im Umfeld der Ausschaffungsinitiative. Die letzte Fallstudie analysiert schließlich eine visuell und verbal operierende Argumentationsstrategie in Bezug auf Migrationsrestriktionen, die darin besteht, heutige Migrationsbewegungen mit früheren kolonialen Invasionen gleichzusetzen. Die Schweiz war und ist auch als bedeutende Wirtschaftsmacht Teil der (post-) kolonialen Konstellation, auch wenn es, wie in der Einleitung dargelegt wird, situativ Sinn ergibt, eine klare Unterscheidung zwischen territorialen Kolonialmächten und anderweitig in den Kolonialismus involvierten Staaten zu treffen. Allerdings ist in Bezug auf die Schweiz zu beachten, dass hier koloniale Gewalt im Zeitalter des Kolonialismus oft weniger sichtbar war als in jenen Nationalstaaten, die sich explizit als Kolonialmächte verstanden.5 Während direkte Formen des Kolonialismus ein politisches Herrschaftsverhältnis bezeichnen,6 muss die Beteiligung von Schweizerinnen und Schweizern schon im Zeitalter des Kolonialismus als eine indirekte und informelle Form der Einflussnahme beschrieben werden. Colonial complicity7 konnte so für die Schweiz in verschiedenen Hinsichten vorteilhaft sein. Allerdings basiert dieses Konzept epistemologisch auf einer strengen Trennung zwischen formalen Kolonialmächten und anderen am Kolonialismus Beteiligten, die schon während des Kolonialismus kritisierbar ist, vor allem aber nach Beginn der sogenannten Dekolonisation fragwürdig wird. Diese kolonialen Verflechtungen finden in der Schweizer Geschichts- und Kulturwissenschaft bisher nur »am Rand« Aufmerksamkeit. Es kann in diesem Zusammenhang von einem Non-lieu de mémoire gesprochen werden, ein Begriff, den Gérard Noiriel in Bezug auf die Migrationsgeschichte geprägt hat.8 Auch die heutige Illegalisierung der Immigration hat aus historischer Perspektive kaum Beachtung gefunden. Die gewaltsame Integration ehemaliger Kolonien in das kapitalistische System und die Kontinuitäten der gegenwärtigen internationalen Arbeitsteilung sichern dem globalen Norden nach wie vor Wohlstand auf Kosten des sogenannten Südens.9 Diese Arbeitsbedingungen finden sich allerdings (teilweise) auch bei den illegalisierten Immigrierenden in Europa wieder. Deren Migrations-
5 | Sébastien Guex spricht in diesem Zusammenhang »d’une puissance invisible«, Guex, »L’impérialisme suisse«. Dazu auch Stucki, Das heimliche Imperium. 6 | Osterhammel, Kolonialismus, S. 16. 7 | Vuorela, »Colonial Complicity«. 8 | Noiriel, Le creuset français. 9 | Castro Varela/Dhawan, »Dekolonisierung«, S. 23. Dazu auch Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie.
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routen folgen dabei oft den alten Sklavenwegen, auf denen schon vor 2000 Jahren Arbeitskräfte für das Römische Reich beschafft wurden.10 Die gegenwärtige Illegalisierung der Immigration kann, wie ich zeige, in gewissen Aspekten als Fortführung kolonialer Gewaltverhältnisse begriffen werden. Das Anliegen postkolonialer Ansätze besteht dabei gerade in der Thematisierung des Fortbestehens und Nachwirkens von Effekten kolonialer Herrschaft – und nicht in der Proklamation einer erfolgreichen Überwindung des Kolonialismus.11
A USSCHAFFUNGSL AGER UND IHR KOLONIALER K ONTE X T Illegalisierte Immigrierende können vielenorts – auch in der Schweiz – in Ausschaffungshaft genommen werden.12 Die häufig zu Erwerbszwecken Eingereisten werden dabei mit erzwungener Untätigkeit bestraft. Bei einer solchen Ausschaffungshaft handelt es sich in der Schweiz um einen administrativen Freiheitsentzug, ein Unterschied zum Gefängnis liegt demnach im juristischen Rahmen. Das Schweizer Bundesgericht kritisierte allerdings mehrmals, die Ausschaffungshaft sei zwar räumlich vom Untersuchungsgefängnis getrennt, unterscheide sich jedoch in der Ausgestaltung der Haft in verschiedener Hinsicht oft kaum von einer Strafvollzugsanstalt: »Neben der problematischen Dauer der Ausschaffungshaft (zwei Jahre unbedingten Freiheitsentzug kassieren in der Schweiz sonst nur Schwerkriminelle) ist auch der geeignete Ort für diese ausländerrechtliche Zwangsmassnahme umstritten.«13 Wenn von Abschiebegefängnis gesprochen wird, dann spiegelt das die Lebensrealität der Insassen wider, produziert damit aber auch eine Assoziation von Ausschaffung und Kriminalität. Mindestens in einem Punkt unterscheiden sie sich allerdings: »Die speziellen Disziplinierungsmassnahmen in der Strafhaft wie Lern- und Arbeitsprogramme sind auf Resozialisierung ausgerichtet; das Strafmass wird aufgrund eines Urteils auf eine bestimmte Dauer festgelegt. Die exklusiv den Ausländerinnen und Ausländern vorbehaltene Ausschaffungshaft, die eigentlich eine mildere Form der Haft sein sollte, kennt keine solchen erleichternden Bedingungen. Sie ist auf endgültige Exklusion ausgerichtet.«14
10 | Dazu Gatti, Bilal, S. 87. 11 | Conrad/Randeria, »Geteilte Geschichten«; Purtschert, »Die postkoloniale Schweiz«. 12 | De Genova/Peutz, The Deportation Regime. In Bezug auf die Schweiz siehe Wicker, »Deportation at the Limits of ›Tolerance‹«. 13 | Hürlimann, »Vom richtigen Umgang«. In einigen Ländern ist heute die Behandlung von Abschiebungsinsassen sogar schlechter als jene von Häftlingen, die aufgrund einer kriminellen Handlung in Haft genommen wurden. 14 | Lanz, »Erwartungen«, S. 111.
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Aus diesen Gründen spreche ich nicht von Ausschaffungsgefängnissen, sondern von Ausschaffungslagern. Im Deutschen weist der Begriff des Lagers sehr viele Bedeutungen auf. Meine Verwendung des Begriffs bezieht sich dabei explizit nicht auf die Konzentrationslager des Nationalsozialismus.15 Bei den hier verhandelten Lagern ist das verbindende Merkmal, dass Zivilisten gegen ihren Willen gemeinsam an einem Ort festgehalten, »konzentriert« werden: Die Funktion des Lagers besteht hier darin, Mitglieder gesellschaftlicher Gruppen, die als verdächtig oder schädlich angesehen werden, massenhaft zu konzentrieren. Der provisorische Charakter des Lagers – Menschen sollten sich da vorübergehend aufhalten – kann dabei zum Dauerzustand werden.
F AHRENDE ALS V ORFAHREN DER ILLEGALISIERTEN I MMIGRIERENDEN Wie bei den illegalisierten Immigrierenden finden wir, wie ich zeigen werde, auch im Umgang mit Fahrenden das Prinzip der Abschreckung, die Identifikationshaft und den Umstand, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe für die Inhaftierung ausschlaggebend ist. Das 19. Jahrhundert kann als eine Periode begriffen werden, in der nomadische Lebensformen aufgrund des Kolonialismus weltweit immer stärker unter Druck kamen.16 Auch »Europäische ›Zigeuner‹ […] waren im Grunde einem innereuropäischen Kolonialismus ausgesetzt«17, schreibt Bernhard Schär. Die Fahrenden wurden dabei in zwei Gruppen geteilt, die »Eigenen«, die zur Sesshaftigkeit gezwungen, und die »Fremden«, die abgeschoben wurden. Allgemeine Personenfreizügigkeit, auch für Fahrende, gab es in der Schweiz einzig ab 1848 für ungefähr 40 Jahre.18 1887 beschlossen die Kantone, ausländische Fahrende an der Einreise in die Schweiz zu hindern. Diese restriktive »Zigeunerpolitik«, die von den Kantonen praktiziert wurde, indem sie Fahrende von einem Kanton in den anderen abschoben, war vom Bund bereits früher kritisiert worden, so 1872 in einem Schreiben an den Kanton Uri: »Uebrigens ist hierbei nicht zu übersehen, dass es einigermassen schwer fällt, das richtige Mass der Kontrolle zu treffen. Es ist nicht möglich, und auch nicht statthaft, ganze Klassen von Personen von dem persönlichen Verkehr auszuschliessen, weil Einzelne sich Ungebührlichkeiten zu Schulden kommen lassen können. Es würde ein solches Verfahren bei dem mehr und mehr entwickelten Eisenbahnverkehr auch nicht möglich und zudem im
15 | Es geht mir in keiner Weise darum, das nationalsozialistische KZ zu relativieren. Zur Problematik des Begriffs Konzentrationslager siehe Wieviorka, »L’expression«. 16 | Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 537. 17 | Schär, »›Nicht mehr Zigeuner‹«, S. 210. 18 | Huonker, »Die ›Zigeuner‹«.
E INE POSTKOLONIALE P ERSPEK TIVE AUF DIE ILLEGALISIERTE I MMIGRATION IN DER S CHWEIZ Widerspruch sein mit dem allseitig und zumal in der Republik anerkannten Grundsatz der freien Zirkulation der Individuen.«19
Während 1872 die Einschränkung der Bewegungsfreiheit für »ganze Klassen von Personen« beanstandet wurde, billigte der Bund aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Vorgehen der Kantone. Am 27. Juni 1906 stellte der Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements, Bundesrat Ernst Brenner, den Antrag, den schweizerischen Transportanstalten die Beförderung von »Zigeunern« zu verbieten. Dieser Antrag wurde gutgeheißen, und es wurde ein Kreisschreiben an die Kantonsregierungen erlassen. Darin heißt es, die Landesgrenze solle gegen die Einwanderung von »Zigeunern« auf das Sorgfältigste geschlossen werden und die Eingedrungenen seien so rasch wie möglich dahin auszuschaffen, woher sie gekommen seien.20 Angestrebt wurde außerdem ein gemeinsames Vorgehen mit anderen Staaten, was jedoch nicht zustande kam. 1911 erarbeitete deshalb die Schweiz im Alleingang ein »Programm betreffend Bekämpfung der Zigeunerplage«: »Da eine Regelung der Zigeunerfrage auf internationalem Boden sich zur Zeit als unmöglich erweist, müssen wir versuchen, die Zigeuner auf dem Wege der Abschreckung und womöglich der Ausweisung unserem Lande fernzuhalten.«21 Kantone sollten weiter Anstalten zur Verfügung stellen, »wo die Zigeuner gegen Kostgeld interniert werden können«22 . Zudem sollte eine Zigeunerregistratur geschaffen werden, in der deren Personalien gesammelt würden. Die bernische Zwangsarbeitsanstalt Witzwil erklärte sich bereit, die über 16 Jahre alten männlichen Fahrenden während dieser Identifikationshaft aufzunehmen. Die Frauen wurden in dieser Zeit in Heime gesperrt, die von der Heilsarmee geführt wurden. War die Identifikation abgeschlossen, wurden die Fahrenden auf Anweisung des Justizund Polizeidepartements heimlich über die Schweizergrenze abgeschoben. Da verschiedene bilaterale Niederlassungsverträge die heimliche Ausschaffung von Personen ausdrücklich verbot, nahm diese Praxis bald groteske Formen an. Um die schweizerisch-deutsche Grenze nicht zu sehr zu belasten, schob man die Fahrenden zur Abwechslung nach Frankreich ab, obwohl sie nach eigenen Angaben aus Deutschland stammten.23 Diese Internierung in Witzwil erfolgte von 1913 bis 1921. Nach 1921 wurden aufgegriffene Gruppen von Fahrenden in lokalen Polizeigefängnissen untergebracht und nicht mehr alle nach Witzwil geschickt.24 Es wäre ein wichtiges Unterfangen, aus einer transnationalen Perspektive zu untersuchen, wie dieser Umgang mit Fahrenden zustande kam. Interessant erscheint, dass in Indien, wo es um 1860 schätzungsweise 5000 weiße »Landstreicher« gab, 1869 19 | Zitiert nach Egger, Der Bundesstaat und die fremden Zigeuner, S. 53. 20 | Ebd., S. 58. 21 | Ebd., S. 65. 22 | Ebd. 23 | Ebd., S. 69. 24 | E-Mail-Auskunft von Thomas Huonker, 09.12.2009.
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von der Kolonialregierung ein Gesetz verabschiedet wurde, das die Landstreicherei für Europäer unter Strafe stellte. Ab 1871 wurden Arbeitshäuser für diese weißen Landstreicher eingerichtet; damit wurden sie für die indische Bevölkerung weitgehend unsichtbar. Das war wichtig, weil die Existenz eines weißen Lumpenproletariats die Grenze zwischen Kolonialisierten und Kolonisierenden auf unerwünschte Weise verwischte. Häufig musste man deshalb, so Harald Fischer-Tiné, die »Unverbesserlichen« auf Staatskosten nach Europa abschieben, um größeren Schaden für das Ansehen der »ruling race« abzuwenden.25 Auffallend ist in diesem Kontext, dass in Indien etwa zeitgleich, 1871 und 1911, Criminal Tribes Acts verabschiedet wurden. Die sogenannten criminal tribes waren mobile Gruppen der ländlichen indischen Bevölkerung, die als Bedrohung der britischen Autorität betrachtet wurden. Die erwähnten Gesetze regelten deshalb ihre Segregation in Reservaten und ihre schrittweise Umerziehung in Arbeitslagern zu einem sesshaften und »zivilisierten« Lebensstil. Für die Einweisung in diese Lager waren Fragen individueller Schuld völlig unerheblich: Was zählte, war einzig die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, deren Lebensweise pauschal als nicht konform und deren Mitglieder kollektiv als asozial und gefährlich eingestuft wurden. Bemerkenswert ist hier laut Fischer-Tiné vor allem der Umstand, dass gewisse Ähnlichkeiten mit der Wahrnehmung und Sozialdisziplinierung von Fahrenden in Europa keineswegs zufällig seien. In einigen offiziellen Dokumenten der britischen Kolonialverwaltung fänden sich klare Belege, dass man beide Gruppen als regionale Varianten der gleichen Problemgruppe ansah. Das »Wissen«, das in Indien in Bezug auf Fahrende produziert wurde, gerade auch von der Heilsarmee, die mit der Führung solcher Heime oft sowohl in Indien wie auch – wie wir gesehen haben – in der Schweiz beauftragt war, zirkulierte und kam so auch wieder nach Europa.
D IE E NTSTEHUNG DES L AGERS IN KOLONIALEN K ONSTELL ATIONEN In der Literatur wird die Entstehung des Lagers oft auf die campos de concentraciones zurückgeführt, welche die Spanier 1896 in Kuba im Rahmen des kubanischen Unabhängigkeitskrieges errichteten. Hier wurde der Begriff der Konzentration geprägt. Es ging darum, die Landbevölkerung zwangsweise an einem vorgegebenen, von der Armee kontrollierten Ort zu versammeln, meist in einer Stadt oder in der Nähe einer Stadt, um so den Aufständischen die Nahrungsmittel zu entziehen und Spionage zu verhindern. Dieser Raum wurde aber nicht abgesperrt. Zivilisten, die sich außerhalb der bewilligten Zonen aufhielten, galten als Straftäter. Auch während des Burenkriegs (1899-1902), in welchem die Engländer die Buren in
25 | Im Folgenden siehe Fischer-Tiné, Empires and Boundaries; Fischer-Tiné, »›Meeting the lowest India‹«; Fischer-Tiné, »Frauen – Tiger – Offiziere?«; Fischer-Tiné, »Global Civil Society«.
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»concentration camps«26 zusammenpferchten, war die Absicht, die Zivilbevölkerung zu isolieren, nicht, sie zu vernichten, selbst wenn damals Tausende, vor allem Frauen und Kinder, ihr Leben verloren. Die Vernichtung der Gesamtbevölkerung war hingegen das Ziel der Deutschen im Kolonialkrieg gegen die Herero im heutigen Namibia, folgt man der Darstellung von Joël Kotek und Pierre Rigoulot.27 Hier erfuhr ab 1905 das Lagersystem eine entscheidende Veränderung in der Verbindung von Inhaftierung und Zwangsarbeit. Die Entstehung der Institution des Lagers in kolonialen Kontexten konstatierte bereits Hannah Arendt.28 Die Kolonien erschienen als geeignetes Experimentierfeld, um bestimmte Regierungsformen in die Praxis umzusetzen.29 Dazu zählte beispielsweise auch das Verfahren der Feststellung der Identität mittels eines Abdrucks der Fingerkuppe, das in den 1880er Jahren in Bengalen erstmals systematisch in die Praxis umgesetzt wurde, bevor es auch in Europa Anwendung fand.30 Ein weiteres Experimentierfeld boten allerdings immer auch Randständige innerhalb der eigenen Nationen; so lässt sich auch die »Herkunft« des Lagers, wie am Beispiel der Fahrenden gezeigt wurde, ebenfalls in innereuropäischen Verdrängungs- und Kolonisierungsprozessen festmachen.
A USSCHAFFUNGEN : Ü BER S UBALTERNE UND S ECONDAS Eine wichtige administrative Strategie ist heute die Anordnung der Ausschaffungslager außerhalb des Sichtfeldes der Bevölkerung.31 Bilder von diesen Orten zirkulieren nur in spektakulären Situationen, und dann nur aus der Außenperspektive: Für Journalistinnen und Journalisten ist es schwierig, eine Besichtigungserlaubnis zu erhalten.32 Die Ausschaffungsinsassen können dabei mit Antonio Gramsci und Gayatri Spivak als »Subalterne«33 gesehen werden, die über keine Sprechposition verfügen und deshalb zuweilen mit Brandstiftung antworten, was beispielsweise 2007 im Basler »Bässlergut« geschah. Spivaks These, dass die Subalternen nicht sprechen können, bedeutet nicht, dass die Subalternen über gar keine Handlungsmacht verfügen, sondern vor allem, dass das Zuhören hegemonial strukturiert
26 | Agamben, Homo sacer, S. 175. 27 | Kotek/Rigoulot, Das Jahrhundert der Lager, S. 75. 28 | Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 911. Auf die in diesem Zusammenhang initiierte Debatte über die Verbindungen von Imperialismus, Kolonialismus und Nationalsozialismus kann ich an dieser Stelle jedoch nicht eingehen. 29 | Dazu auch Mbembe, »Necropolitics«. 30 | Sengoopta, Imprintof the Raj. 31 | Pieper, Die Gegenwart der Lager, S. 18. 32 | Dazu auch Kost, »Im Ausschaffungsknast«. 33 | Zum Begriff der Subalternen siehe Spivak, »Can the Subaltern speak?«.
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ist.34 Zur Subalternität gehören geographische und soziale Immobilität, weshalb Migrierende, so Nikita Dhawan, die sich hier auf Spivak bezieht, nicht als subaltern zu bezeichnen seien.35 Allerdings kann zwischen illegalisierten und anderen Migrierenden unterschieden werden, da sich die Möglichkeiten einer solchen Mobilität jeweils ganz anders gestalten und das Ausschaffungslager gerade die erzwungene Immobilität verkörpert.36 Die Präsenz der Ausschaffungslager widerspricht den »liberalen« Empfindungen der legalisierten Bevölkerung, verweisen diese doch auf historische wie gegenwärtige Widersprüche in den sich selbst als liberal verstehenden Gesellschaften. In Bezug auf die Ausschaffungslager handelt es sich hier allerdings nicht nur um eine Invisibilisierungsstrategie, sondern um eine ambivalente Dialektik der Unsichtbar- und Sichtbarmachung: Im Dienste einer Abschreckungspolitik sollen die Ausschaffungslager für Immigrierende selbst möglichst sichtbar sein beispielsweise durch eine auffallende Architektur, manchmal auch durch die Nähe zu sogenannten Empfangszentren für Asylsuchende. Eine solche Sichtbarkeit signalisiert zudem »rechten Kräften«, dass aktiv gegen »illegale Immigration« vorgegangen wird. Gleichzeitig können durch die Ausschaffungsdrohung auch die legalisierten Immigrantinnen und Immigranten diszipliniert werden, die selbst von Zwangsmaßnahmen betroffen sein und ihre Aufenthaltsbewilligung verlieren können, wenn sie sich nicht regelkonform verhalten.37 Nicht nur illegalisierte Immigrierende, auch andere Personengruppen der ausländischen Wohnbevölkerung können, wenn sie kriminell werden oder sich beispielsweise hoch verschulden, ausgeschafft werden. Sie werden damit für vergleichbare Verbrechen härter bestraft als Schweizerinnen und Schweizer, da neben der Strafhaft für bestimmte Delikte auch die Ausschaffung verfügt wird.38 Doch nicht alle Herkunftsländer sind bereit, bei solchen Rückführungen mitzuwirken. Auf der Suche nach Lock- beziehungsweise Druckmitteln wurde deshalb in der Schweiz die Frage der Ausschaffung mit der Entwicklungshilfe gekoppelt: »Anlässlich der ausserordentlichen Sitzung von Mai 2004 akzeptiert eine Mehrheit des Nationalrats den Vorschlag zu Artikel 77 AslyG. Dieser sieht den Abschluss von Rücknahme34 | Castro Varela/Dhawan, »Dekolonisierung«, S. 22. In dem Moment, in dem sich »Subalterne« selbst als solche benennen, sind sie es in einem gewissen Sinne nicht mehr, bezeugt doch ein solcher Definitionsakt bereits eine gewisse Handlungskompetenz. 35 | Dhawan, »Can the Subaltern speak German?«. Dazu weiter Spivak, »Achtung: Postkolonialismus «. Siehe auch den Beitrag von Rohit Jain in diesem Band. 36 | Dhawan, »Postkoloniale Feministin«. 37 | Siehe dazu auch die treffende Analyse von Purtschert/Meyer, »Migrationsmanagement«. 38 | Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang folgende Aussage von Jürgen Osterhammel; diese stammt zwar aus einem anderen Kontext, regt aber auch in Bezug auf die gegenwärtige Situation in der Schweiz zum Nachdenken an: »Die Aufspaltung des kolonialen Rechts in solches für Ausländer und solches für Einheimische bedeutete im Extremfall eine unverblümte Rassenjustiz.« Osterhammel, Kolonialismus, S. 66.
E INE POSTKOLONIALE P ERSPEK TIVE AUF DIE ILLEGALISIERTE I MMIGRATION IN DER S CHWEIZ Abkommen mit allen Herkunftsländern abgewiesener Asylsuchender sowie die gänzliche oder teilweise Einstellung der Entwicklungshilfe vor, sollten diese Länder im Rahmen der Wegweisungen ihrer Staatsangehörigen nicht kooperieren.« 39
Auch sogenannte Migrationspartnerschaften sollen durch Gegenleistungen Rückführungen für Herkunftsländer attraktiver machen.40 Durch ein solches Abkommen wurden beispielsweise die Rückführungen nach Nigeria ab Januar 2011 wieder möglich.41
N EGATIVBILD »N IGERIANER « Seit einiger Zeit fungieren in der Schweiz männliche Nigerianer als das Negativbild der ungewollten (Wirtschafts-)Flüchtlinge. Bereits 2007 wurde beispielsweise bei einem Länderspiel zwischen der Schweiz und Nigeria ein von der Schweiz initiierter und von der International Organization for Migration produzierter TVSpot gezeigt.42 In diesem zweiminütigen Beitrag, der ebenfalls in Kamerun ausgestrahlt wurde, wird Europa möglichst ungemütlich dargestellt. Ein Sohn telefoniert mit seinem Vater; der junge Mann befindet sich in einer Telefonkabine, draußen ist es kalt, es regnet ununterbrochen, von Fabrikschloten steigt Rauch auf. Blaue und rote Flashs, die an vorbeirasende Polizeiautos erinnern, signalisieren eine Gefahrensituation. Während sich der Vater mit gestärktem Hemd in einem gemütlichen Wohnzimmer befindet, erfahren die Zuschauerinnen und Zuschauer, dass sein Sohn, ein vermeintlicher Student, unter einer Brücke lebt und von der Polizei gejagt wird. Wohl mit Absicht bleibt offen, ob dieser kriminell wurde oder ob ihn die Polizei verfolgt, weil sie rassistisch ist. Der Film ging unter Bundesrat Blocher, dem Leiter des Justiz- und Polizeidepartements, in Auftrag und ist im Zusammenhang mit der Einführung des neuen Ausländergesetzes zu sehen, welches die legale Arbeitsmigration in die Schweiz für Afrikanerinnen und Afrikaner praktisch verunmöglicht. Der Inbegriff des ungewollten Migranten wird im Film durch den jungen Afrikaner verkörpert, für den Europa offenbar keine Verwendung findet, selbst wenn er in seinem Herkunftsland eine höhere Ausbildung genossen hat. Würde er aufgegriffen, käme er in Ausschaffungshaft. Doch in der zweiten Jahreshälfte 2010 wäre eine solche Ausschaffung nach Nigeria nicht möglich gewesen. 39 | IOM, Migrationspartnerschaften, S. 39. 40 | Ebd., S. 36. 41 | Es wäre lohnenswert, in Bezug auf dieses Rücknahmeabkommen und die Migrationspartnerschaft mit Nigeria längerfristig genau zu beobachten, wer in Nigeria davon profitiert und wer nicht, insbesondere da es sich um das erste solcher Übereinkommen mit einem afrikanischen Land handelt. http://www.ejpd.admin.ch/content/ejpd/de/home/dokumentation/ mi/2010/ref_2010-11-05.html, 11.01.2011. 42 | http://www.quicklink.tv/IOM/Cat_BrowseQ.asp, 11.01.2011.
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Als im März 2010 ein junger Nigerianer am Zürcher Flughafen bei der Ausschaffung verstarb und kurz darauf der damalige Direktor des Bundesamts für Migration, Alard du Bois-Reymond, in einem Interview bemerkte, 99,5 Prozent der nigerianischen Asylsuchenden kämen nicht als Flüchtlinge in die Schweiz, sondern um illegale Geschäfte zu machen43 , verweigerte Nigeria weitere Rückführungen. Du Bois-Reymonds Äußerung wurde unter anderem von Amnesty International scharf kritisiert, weil sie nigerianische Asylbewerber pauschal unter den Verdacht des Drogenhändlers stellte.44 In einem späteren Fernsehbericht kommentierte der Direktor die eigene Aussage mit dem Hinweis, dass ein Nigerianer weder als Asylbewerber noch als »normaler Ausländer« in der Schweiz je eine Arbeitsbewilligung erhalten könne, weshalb er, wenn er Geschäfte mache, per Definition illegale Geschäfte tätige.45 Du Bois-Reymonds Antwort auf die im Zeitungsinterview folgende Frage, weshalb die Nigerianer gerade in die Schweiz kämen, wurde indessen kaum beachtet: »Weil sie hier offensichtlich ein gutes Netz haben und die zweitgrösste Kolonie von Landsleuten in Europa vorfinden.«46 Was in diesem Zeitungsinterview nicht thematisiert wird, sind jene Zusammenhänge, die das Verhältnis zwischen der Schweiz und Nigeria in einem anderen Licht erscheinen lassen. Sie können hier indes nur angedeutet werden und wären genauer zu erforschen. Die »koloniale Kontamination« macht es allerdings oft sehr schwierig, eine angemessene Darstellungsweise zu finden: So wird bei den folgenden Ausführungen auf Negativschlagzeilen fokussiert, was gerade unter einer postkolonialen Perspektive in Bezug auf die Berichterstattung zu Afrika nicht unproblematisch ist. Auch kann die »agency«, die Aktionsmöglichkeiten von Nigerianerinnen und Nigerianern, auf diese Weise nicht wiedergeben werden.
V ERFLECHTUNGEN Z WISCHEN DER S CHWEIZ UND N IGERIA Seit den 1970er Jahren ist Nigeria einer der wichtigsten Erdöllieferanten der Schweiz. Nigeria zählt weiter zu den afrikanischen Ländern mit bedeutenden Finanzbeziehungen zu Schweizer Banken: Es war die Crédit Suisse, die mit dem aus der Ölproduktion gewonnenen Geld des Diktators Abacha Geschäfte machte.47 Die
43 | Häuptli/Schmid, »Interview mit Alard du Bois-Reymond«. 44 | http://www.amnesty.ch/de/laender/europa-zentralasien/schweiz/dok/2010/gene ralversammlung, 01.01.2011. 45 | Siehe Dok-Sendung Der Asylchef und die Nigerianer, http://www.videoportal.sf.tv/ video?id=73563cc5-d464-40cc-87e6-4ffd92709abc, siehe vor allem 13.14 Uhr bis 13.50 Uhr, 10.02.2010. 46 | Häuptli/Schmid, »Interview mit Alard du Bois-Reymond«. 47 | http://www.evb.ch/p25000384.html, 11.01.2011.
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Erdölindustrie48 ist heute der bedeutendste Wirtschaftszweig Nigerias, doch laut Studien ginge es der breiten Bevölkerung in Nigeria heute wahrscheinlich besser, wenn nie Erdöl gefunden worden wäre: Die Erdölförderung produzierte nicht nur große Umweltschäden, sondern auch einen Niedergang der Landwirtschaft.49 Der aus Erdölreserven resultierende Gewinn ist zudem im Land sehr ungleich verteilt. Die nigerianischen Asylbewerber und Asylbewerberinnen in der Schweiz sind gegenwärtig Yoruba und vor allem Igbo, wobei ethnische Zuschreibungen oft auch von kolonialen Konstellationen mitgeprägt wurden.50 Die Igbo gehörten zu den Opfern des Sklavenhandels,51 heute sind sie mehrheitlich Christen. Einige stammen aus jenen Gebieten, die unter der Umweltverschmutzung als Folge von Ölgewinnung leiden,52 allerdings sind davon vor allem auch Minderheiten wie die Ogoni betroffen. Gemäß der BfM-Statistik wurden 2010 in der Schweiz 1969 Gesuche von Nigerianern und Nigerianerinnen (die aus dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas kommen) gestellt, vor allem von jungen Männern.53 Zwei Personen wurde Asyl gewährt. Auch wenn einige Asylbewerber glaubwürdige Fluchtgründe vorbringen, gehen die schweizerischen Behörden meistens davon aus, dass eine interne Fluchtalternative besteht, da das Land so groß ist.54 1607 waren Dublin-Verfahren (das heißt, ein anderes Land war für das Verfahren zuständig, weil die Einreise von da erfolgte), davon kamen sehr viele aus Italien. Das Bundesamt für Migration begründet dies damit, dass die Schweiz von der Wirtschaftskrise weniger stark betroffen war als andere wichtige Zielländer (insbesondere Italien und Spanien), weshalb es zu binneneuropäischen Weiterwanderungen kam.55 2010 kam es in Südeuropa allerdings auch zu regelrechten Hetzjagden auf die unter miserablen Bedingungen in der Landwirtschaft arbeitenden Afrikaner.56 Schweizer Super48 | Auch in Bezug auf den Kakaohandel könnte eine solche geteilte Geschichte geschrieben werden. 49 | Haller et al., Fossile Ressourcen, S. 69-73. 50 | Eckert, Kolonialismus, S. 39. 51 | Haller et al., Fossile Ressourcen, S. 47. 52 | Azuonye, »Igbò énwe ézè«. Vor der britischen Kolonialzeit betätigten sie sich überwiegend als Waldlandbäuerinnen und -bauern und organisierten ihre kleinen Gemeinschaften quasidemokratisch. Allerdings soll hier nicht das Bild der »edlen Wilden« beschworen werden. 53 | http://www.bfm.admin.ch/bfm/de/home/dokumentation/zahlen_und_fakten/asyl statistik/monatstatistiken.html, 18.01.2011. 54 | E-Mail-Auskunft von Alexandra Geiser (Schweizerische Flüchtlingshilfe) vom 17.01.2011. 55 | http://www.bfm.admin.ch/content/dam/data/migration/statistik/asylstatistik/jahr /2010/stat-jahr-2010-kommentar-d.pdf, 19.01.2011. 56 | http://www.nzz.ch/nachrichten/politik/international/italien_rosarno_immigranten _auseinandersetzungen_ruhe_1.4473461.html, 12.01.2011.
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märkte sind für solche Arbeitsbedingungen wenig sensibilisiert, so können wir heute meist Fair-Trade-Bananen aus Afrika, aber nicht Fair-Trade-Mandarinen aus Italien kaufen. Kritische Medienschaffende und Menschenrechtsaktivisten werden in Nigeria verfolgt. Hunderte von Bewohnerinnen und Bewohnern starben bei Massakern in nördlichen Regionen, die Igbo stammen vor allem aus dem Südosten. Über zwei Millionen Menschen sind in den letzten zehn Jahren vertrieben worden. Nach der Wiederwahl von Präsident Goodluck Jonathan sollen im Frühling 2011 Hunderte von Menschen ums Leben gekommen und fast 40.000 Menschen in die Flucht getrieben worden sein.57 Die Schweizerische Flüchtlingshilfe hält fest, dass 1980 in Nigeria 28 Prozent der Bevölkerung unter dem Existenzminimum lebten, im Jahr 1996 waren es bereits 66 Prozent, heute seien es über 80 Prozent. Entsprechend ging auch die Lebenserwartung zurück, sie beträgt für Männer 45 und für Frauen 46 Jahre.58 Gleichzeitig lassen Prognosen verlauten, Nigeria werde bis ins Jahr 2050 auf den Platz 13 der 20 wichtigsten Wirtschaftsnationen rücken,59 doch bleibt es unter diesen Vorzeichen fraglich, ob davon eine Bevölkerungsmehrheit profitieren wird. Die Ärmsten haben oft keine Möglichkeit, das Land zu verlassen. Diejenigen, die fortgehen, werden wohl auch durch mangelnde Berufsaussichten und die enorme Frustration über nicht funktionierende Infrastrukturen (beispielsweise tägliche Stromausfälle, kein Trinkwasser, Korruption) dazu veranlasst. In welcher Weise eine solche Situation auch durch den Kolonialismus mitverursacht wurde, wäre im Konkreten zu eruieren. Verflechtungen und geteilte Geschichten beschränken sich allerdings nicht auf die Gegenwart: Als 1792 ein durch die Basler Burckhardt-Familie finanziertes Sklavenschiff im heutigen Nigeria eintraf, musste der Kapitän feststellen, dass die britischen Konkurrenten bereits die »beste Ware«60 weggeschnappt hatten. Der europäische Sklavenhandel, der immer auch auf nicht europäische Zwischenhändler angewiesen war, hatte hier bereits im 15. Jahrhundert eingesetzt: »Durch das Auswahlverfahren der Sklavenhändler, die gesunde, kräftige und junge Männer und Frauen aus der Bevölkerung entführten, wurden den lokalen Gruppen die Grundlage für eine stabile Basis genommen.«61 Der Sklavenhandel existierte in dieser Gegend schon vor der Ankunft der Europäer, allerdings in einer deutlich anderen Ausprägungsform: »[T]hese slaves tended to be assimilated into their new 57 | http://www.amnesty.ch/de/laender/europa-zentralasien/schweiz/dok/2010/gene ralversammlung, 01.01.2011. http://www.tagesschau.sf.tv/Nachrichten/Archiv/2011/ 04/20/International/Mehr-als-200-Tote-nach-Unruhen-in-Nigeria, 20.04.2011. 58 | Geiser, Nigeria, S. 22. 59 | http://www.pwc.ch/user_content/editor/files/press_releases11/pwc_press_2011 0202_d.pdf, 20.04.2011. 60 | Haenger/Labhardt, »Basel und der Sklavenhandel«, S. 36. 61 | Haller et al., Fossile Ressourcen, S. 47.
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societies and tended to perform tasks similar to the ones performed by free men and women.«62 Der europäische Sklavenhandel führte weiter zu interethnischen Machtkämpfen um das Handelsmonopol. Später wurde die aus der Kolonialzeit bekannte »Teile und Herrsche«-Strategie von der Regierung und den Ölkonzernen übernommen und weitergeführt, von der immer auch bestimmte lokale Bevölkerungsgruppen auf Kosten von anderen profitierten.63 Nach 100-jähriger britischer Kolonialherrschaft erkämpfte sich Nigeria 1960 die Unabhängigkeit. Seither stand Nigeria die meiste Zeit unter Militärdiktatur. Nachdem die sich selbst proklamierte Republik Biafra im ölreichen Südosten des Landes die Unabhängigkeit verlangte, brach 1967 ein dreijähriger Bürgerkrieg aus.64 Die Schweizer Bevölkerung reagierte mit Anteilnahme auf die Hungersnot, die der Konflikt ausgelöst hatte. Das IKRK startete mit finanzieller Unterstützung der Schweiz seine größte Hilfsaktion seit 1945.65 Gleichzeitig lieferte die Firma Oerlikon-Bührle Waffen nach Nigeria, die offenbar auch gegen Schweizer und Schweizerinnen in humanitärer Mission zum Einsatz kamen; die Schweizer Firma wurde wegen Verletzung des Waffenausfuhrverbots angeklagt und verurteilt. Da die Bundesbehörden aber ab Dezember 1980 die Waffenausfuhr wieder erlaubten, entwickelte sich Nigeria vor allem für die Schweizer Rüstungsindustrie zu einem wichtigen Markt in Afrika.
D IE S E XUALISIERUNG SCHWARZER K ÖRPER Wenn auch die Frage, inwieweit die Schweiz als staatliche Akteurin direkt in koloniale Konstellationen verwickelt war, ein Forschungsdesiderat darstellt, so ist eines gewiss: Wirtschaftlich profitierte die Schweiz vom Kolonialismus.66 Auch das koloniale Imaginäre war in der Schweiz weit verbreitet. Alltagsrassismus, die aus Kolonialzeiten stammen, werden auch gegenwärtig immer wieder aktiviert.67 Beispielsweise erschienen junge Afrikanerinnen als Objekte weißer männlicher Begierde. Die schwarze Frau als begehrtes Sexualobjekt hat eine koloniale Vorgeschichte: Im Viktorianischen Zeitalter, das sich durch eine prüde Einstellungen auszeichnete, wurden sexuelle Begehren in die kolonialisierten Gebiete proji-
62 | Falola/Heaton, A History of Nigeria, S. 59. 63 | Haller et al., Fossile Ressourcen, S. 106. 64 | Geiser, Nigeria, S. 2. 65 | Im Folgenden siehe Perrenoud, »Nigeria«. 66 | Dieses Thema untersucht Steve Page in seinem Dissertationsprojekt »Relations diplomatiques et économiques entre la Suisse et le Nigeria (1930-1980)«, siehe http://lettres. unifr.ch/fr/hist/histoire-des-societes-modernes-et-contemporaines/collaborateurs/ assistants/steve-page.html, 03.06.2011. 67 | Andall/Duncan, »Memories«, S. 21. Siehe auch Kreis, Kein Volk von Schafen. Renschler/Vermot, Unser täglicher Rassismus.
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ziert.68 Auch heute zeigen Erfahrungsberichte, dass schwarze Schweizerinnen oft als Prostituierte angesprochen werden.69 Die kongolesische Ehefrau von Alard du Bois-Reymonds ist, so die Aussage des ehemaligen Direktors des Bundesamtes für Migration, selbst mit solchen Stigmatisierungen im Alltag konfrontiert: Man sehe dann in seiner Frau nicht die Person, sondern nur die Schwarze, die irgendwie nicht ganz seriös wirke, vielleicht etwas mit Prostitution zu tun habe und der man deshalb mit Misstrauen begegne.70 Auch der Körper des schwarzen Mannes wurde mit Verweis auf dessen angeblich übermäßige Potenz hochgradig sexualisiert und dabei stärker noch als bei den Frauen als handelnder imaginiert.71 Die von Alard du Bois-Reymond erfolgte Äußerung über »drogendealende Nigerianer« wurde allerdings ebenfalls dahingehend kritisiert, pauschalisierende und stigmatisierende Sichtweisen zu befördern. Sie prägte in wirkmächtiger Weise den medialen Diskurs in der Schweiz. In einem Artikel der Weltwoche wurden die Aussagen du Bois-Reymonds als Befreiungsschlag tituliert. Die Zeitschrift titelte: »Schwarze in der Schweiz. Die dunklen Seiten der Zuwanderung aus Afrika«. Dabei wurde mit der negativen Konnotation der schwarzen Farbe gespielt, die in Begriffen wie Schwarzfahrer, Schwarzarbeit oder anschwärzen anklingt und dazu führt – wie Georg Kreis festhält –, dass in der Schweiz gerne von schwarzen Drogendealern, aber beispielsweise nicht von weißen Pädophilen gesprochen wird.72 Das Titelbild der Zeitschrift inszenierte nicht den »Boy«, den unterwürfigen und abhängigen Schwarzen mit den wulstigen Lippen und Kulleraugen, sondern zeigte einen jungen, attraktiven Schwarzen mit lachenden Augen und blitzenden Zähnen73 – ein wenig erinnerte das nicht unsympathisch wirkende Gesicht an Obama. Der junge Afrikaner verkörpert etwas zugleich Bedrohliches und Begehrenswertes,74 was ihn gerade aufgrund dieser Attraktivität umso gefährlicher erscheinen lässt. Auffallend ist allerdings, dass sich diese Figur nicht vom dunklen Hintergrund trennen lässt, was einen unheimlichen Eindruck erzeugt: Die im Dunkeln sieht man nicht. Diese mimikryartige Darstellungsweise, die ein Tarnen und Verschmelzen mit der Umwelt suggeriert, war auch in Kolonialwerbungen beliebt, wie beispielsweise das hier abgebildete französische Plakat zeigt, das wahrscheinlich 1940/41 für die Kolonial68 | Lazzarini, Selbst- und Fremdbild, S. 54. Siehe dazu beispielsweise die Erzählung Inkel und Yariko, die Martin Mühlheim in diesem Band behandelt. 69 | Speranza/Roth, »Ankommen in Zürich«. 70 | Siehe Dok-Sendung Der Asylchef und die Nigerianer, http://www.videoportal.sf.tv/ video?id=73563cc5-d464-40cc-87e6-4ffd92709abc, 10.02.2010, siehe vor allem 25:2826:10. 71 | Zeller, Weiße Blicke – schwarze Körper, S. 101. 72 | Kreis, Kein Volk von Schafen, S. 123. Siehe auch Badenberg, »Die Bildkarriere«. 73 | Zum kolonialen Topos, dass »primitive Völker« bessere Zähne besäßen, siehe den Beitrag von Franziska Jenni und mir in diesem Band. 74 | Martin, Schwarze Teufel, edle Mohren, S. 12.
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Abbildungen 1 und 2: Cover der Weltwoche vom 18. November 2010 und ein französisches Plakat von 1940/41
truppen warb.75 Im Artikel der Weltwoche findet sich weiter das bereits genannte Muster einer sexualisierenden Darstellung. Eine Schweizerin wird mit folgenden Worten zitiert: »Es tönt krass, aber wenn ein Touristenbus vorfährt, riechen die Afrikaner beinahe wie die Hunde, welche Frauen anfällig [ für Verführungen, F. F.] sind«.76 Trotz der aufgerufenen Assoziation des »Hündischen«, die die Afrikaner in die Nähe von Tieren rückt, werden Schwarze im erwähnten Artikel wie gesagt nicht als »dumme Neger«, sondern als jung, attraktiv und gerissen charakterisiert.77 Im Gegensatz zu den ehemaligen Kolonialmächten Frankreich oder Italien, heißt es weiter, die heute mit hausgemachten Migrationsproblemen zu kämpfen hätten, habe die Schweiz über die Völkerschauen Bekanntschaft mit den Schwarzen gemacht.78 Der damals zur Schau gestellte Rassismus sei heute aber überwunden, stattdessen herrsche heute ein umgekehrter Rassismus, der es in der
75 | Blanchard/Chatelier, Images et Colonies. Dazu auch Minder, La Suisse coloniale, S. 375. Allerdings ist das Gesicht, das an eine afrikanische Maske erinnert, auf der Armeewerbung stärker ausgeleuchtet. 76 | Kunz/Glaus, »Mama Afrikas verlorene Söhne«, S. 40. 77 | »Sie arrangieren sich, sind äusserst flexibel, hervorragend organisiert und besorgen sich gegenseitige, kleine, meist illegale Jobs, um sich über Wasser zu halten.« Ebd., S. 39. Die Angst, dass die »Anderen« den »Weißen« ihre Frauen wegschnappen, ist ein Muster, das beispielsweise auch in antisemitischen Diskursen auftaucht; ebenfalls der Vorwurf des hervorragend organisierten Netzwerkes ist da zu beobachten. Siehe Falk, Grenzverwischer. 78 | Kunz/Glaus, »Mama Afrikas verlorene Söhne«, S. 36.
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Schweiz verunmögliche, Schwarze zu kritisieren.79 Die Schweiz wird im Artikel demnach im Gegensatz zu Frankreich und Italien als an der kolonialen Konstellation gänzlich unbeteiligt imaginiert, was, wie hier konkret anhand der Verflechtungen mit Nigeria gezeigt wurde, nicht der Fall ist. Auch wird das Vorhandensein von Rassismus negiert; die genannten Zitate wie beispielsweise die aufgerufene Assoziation des »Hündischen« bezeugen das Gegenteil. Neben dem argumentativen Muster, sich selbst als Opfer darzustellen, ist schließlich noch ein weiterer Aspekt bemerkenswert. Am Ende der Seite wurde eine Werbung für das »Läckerli-Huus« platziert, das bekanntlich von Miriam Blocher, der Tochter von Christoph Blocher geführt wird. Mit den Worten »Lieber Andreas Kunz/Dies ist eine gute Wahl« wird dabei direkt auf einen der beiden Autoren des Artikels und seine vermeintlichen kulinarischen Vorlieben Bezug genommen: Dadurch wird einerseits die Grenze zwischen redaktionellen Beiträgen und Werbung verwischt, andererseits wird über das »Läckerli-Huus« die Verbindung zu jener Partei aufgerufen, die sich seit Jahren mit migrationspolitischen Themen profiliert. Zehn Tage nach Erscheinen des Artikels wurde in der Schweiz über die Ausschaffungsinitiative abgestimmt. Dieser Artikel, aber auch die damals diskursprägenden Äußerungen des Direktors des Bundesamts für Migration sind demnach in diesem Kontext zu sehen. An dieser Stelle komme ich auf Alard du Bois-Reymonds erwähnte und medial nicht beachtete Begriffswahl »zweitgrößte Kolonie von Landsleuten« zurück, mit der er die Anwesenheit von Nigerianern in der Schweiz bezeichnete. Du Bois-Reymonds Begriffswahl mag unbewusst erfolgt sein, doch schafft diese Wortwahl des Zürcher Direktors mit Westschweizer »Wurzeln« einen direkten, wenn auch nicht notwendigerweise intendierten Bezug zum Kolonialismus. Die »Ansiedelung von Ausländern« als Kolonie zu benennen, entspricht laut dem Wörterbuch Wahrig auch im Deutschen dem gängigen Sprachgebrauch. Kolonie wird hier 1989 folgendermaßen definiert: »Ansiedlung von Ausländern in einem Staat; die Ausländergruppe selbst, ausländ., meist überseeischer Besitz eines Staates; Ansiedlung von Menschen in einsamen Gegenden (Verbrecher~)«80. Eine solche Definition macht, indem sie auf die Kolonisatoren fokussiert und unter Kolonie unter anderem die »Ansiedlung von Menschen in einsamen [!] Gegenden« versteht, die Kolonsierten unsichtbar. Auch impliziert die getroffene Begriffswahl eine irreführende Analogie von heutiger Migration und vergangener Kolonisation. Italienische Migrierende sprachen in der Schweiz ab den 1940er Jahren allerdings selbst von einer »Colonia Libera Italiana«, was damals die Gesamtheit der italienischen Migrierenden an einem Ort bezeichnete, das Adjektiv »libera« sollte zudem eine Abgrenzung vom Faschismus markieren.81 Die Begriffswahl »Colo79 | Ebd., S. 37. Siehe dazu der Beitrag von Patricia Purtschert in diesem Band. 80 | Wahrig, Deutsches Wörterbuch, S. 764. 81 | Schaub, La federazione, S. 27. Im Italienischen ist auch die auf die antiken Kolo nien zurückgehende Konnotation des Begriffs prägend, auf dessen Tradition sich wiederum auch Mussolini berief.
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nia« vermag allerding auch die Assoziation an Mussolinis Kolonialpolitik aufzurufen, die ja gerade im Zweiten Weltkrieg sehr sichtbar war, heute aber wenig präsent ist im kollektiven Gedächtnis Italiens.82
D IE A NGST VOR DER UMGEKEHRTEN K OLONISIERUNG Auch in Italien stellt die Angst vor der umgekehrten Kolonisierung ein beliebtes Legitimationsmuster in Bezug auf Migrationsrestriktionen und der damit einhergehenden Illegalisierung der Immigration dar. Heutige Migrationsbewegungen werden mit früheren kolonialen Invasionen gleichgesetzt, allerdings notabene nicht mit Verweis auf die ehemaligen italienischen Kolonien, sondern auf die »Indianer« Nordamerikas. Abbildungen 3 und 4: Plakat der Lega Nord, Italien 2008/2009, und Antiminarettplakat, Schweiz 2010
Das Plakat zeigte einen Indianerhäuptling mit Federkrone und trug die Aufschrift: »Sie haben die Immigration erlitten. Jetzt leben sie in Reservaten!«83 Unter dem Parteilogo der Lega Nord, das den lombardischen Helden Alberto da Giussano mit 82 | Mattioli, »Viva Mussolini!«. 83 | »LORO HANNO SUBITO L’IMMIGRAZIONE. ORA VIVONO NELLE RISERVE!« Siehe http:// www.leganord.org/ilmovimento/manifesti2008.asp, 10.02.2009.
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erhobenem Schwert zeigte, war in roter Farbe hinzugefügt: »Pensaci«, »Denk darüber nach«.84 Auch in Bezug auf die Schweiz findet sich eine ähnliche Bezugnahme auf die Indianer, so beispielsweise im Oktober 2007 im Kontext der anstehenden Parlamentswahlen und der dafür lancierten Ausschaffungsinitiative. »Eine Ostschweizerin, interviewt im Car auf dem SVP-›Marsch nach Bern‹, erklärte auf die Frage, was sie an der Ausländerpolitik dieser Partei gut finde: ›Wir sind die Indianer der Schweiz.‹ Die amerikanischen Indianer hatten nach ihrer Entdeckung durch die ›Ausländer‹ leider noch keine SVP, sonst wären sie nicht massenweise massakriert und in Reservate verbannt worden.«85 Beim Antiminarettplakat von 2010 wird eine solche Kolonisierungsfantasie ebenfalls aufgerufen. Die abgebildete Schweizer Fahne erinnert an eine Landkarte, schwarze Minarette durchbohren diese wie Raketen. Die dargestellte Frau erscheint in ihrer ebenfalls schwarzen Ganzkörperverhüllung in paradoxerweise zugleich als potentielle Bombenlegerin wie auch als von den muslimischen Männern unterdrücktes Opfer.86 Das Kopftuch wiederum ist, wie bereits in der Einleitung erwähnt wurde, durch den Kolonialismus symbolisch aufgeladen und politisiert worden.87 Die in der Schweiz lebenden Muslime werden mit diesem Plakat von der SVP, die sich noch vor wenigen Jahrzehnten als letzte Regierungspartei nicht zu einem Ja für das Frauenstimmrecht durchringen konnte, als insgesamt frauenfeindlich gezeigt. Die Minarette werden dabei als politisches Symbol der Herrschaft und Kolonisierung inszeniert. Durch den neuen Verfassungsartikel wurden sie schließlich verboten. Wenn religiöse Repräsentationen im öffentlichen Raum illegalisiert werden, dann schaffen gerade solche Sondergesetze »Desintegration«88 und im Spivak’schen Sinne Subalternität als einen Zustand ohne »Sprechposition«. Die Gleichsetzung von Kolonisierung und heutigen Migrationsbewegungen ist widersinnig, existieren doch zahlreiche Unterschiede. Der wohl Bedeutendste besteht darin, dass die heutigen Migrierenden (die selbst oft aus ehemaligen europäischen Kolonialgebieten stammen) sich in bereits bestehende und etablierte staatliche, rechtliche und ökonomische Strukturen integrieren müssen. Sie können diese aufgrund der herrschenden Machtverhältnisse nicht durch neue Staatsgründungen ersetzen; abgesehen davon ist das nicht ihr Ziel, denn die Arbeitsuchenden wollen gerade am Arbeitsmarkt partizipieren. Zudem steht hinter diesen Migrierenden kein Akteur mit kolonialen Absichten. Bei den genannten Beispielen ist weiter interessant, dass offenbar sowohl christliche Nigerianer als auch muslimische Migrierende als Kolonien beziehungsweise Kolonisatoren be-
84 | In Italien wurde die eigene koloniale Vergangenheit bisher nur marginal thematisiert, siehe zu dieser Frage die Einleitung dieses Bandes. 85 | Tanner, »Die SVP als Bedrohungsgenerator«, S. 35. 86 | Siehe dazu den Beitrag von Meral Kaya in diesem Band. 87 | Fanon, Aspekte der Algerischen Revolution. 88 | Wicker, »Die neue schweizerische Integrationspolitik«.
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zeichnet oder imaginiert werden können.89 Dies zeigt, dass solche Fantasien viel mit den imaginierenden Subjekten und wenig mit den imaginierten Objekten zu tun haben. Und wenn einzelne Fundamentalisten selbst solche Allmachtfantasien verkünden, dann sind das die ideologischen Zwillinge jener, welche eine ganze Bevölkerungsgruppe damit gleichsetzen. Visuelle und verbale Verwandtschaften zeigen sich auch zum Topos der Migrationsinvasion. Während aber die Invasionsmetaphorik einen militärischen Referenzrahmen eröffnet, will die Kolonisierungsfantasie über einen vermeintlich historischen Bezug Evidenz schaffen. Dies ist auch deshalb interessant, weil koloniale Diskurse oft auch gerade aufgrund ihrer A-Historizität funktionieren, wie bereits Edward Said festhielt: »to make out of every observable detail a generalization and out of every generalization an immutable law«.90 Gerade dieser vermeintliche Bezug weist nun aber, wie Stephen Arata zeigt, auch ein kritisches Potential auf: »Reversed colonization narratives thus contain the potential for powerful critiques of imperialist ideologies, even if that potential usually remains unrealized.«91 Solche Kolonisierungsfantasien können demnach, wenn sie gegen den Strich gelesen werden, auf den Umstand verweisen, dass die heutige (illegalisierte) Migration tatsächlich viel mit der kolonialen Vergangenheit und der postkolonialen Gegenwart zu tun hat, auch in der Schweiz. Eine postkoloniale Perspektive vermag dabei, wie hier gezeigt wurde, unbedachte oder zu wenig sichtbar gemachte Zusammenhänge und Verflechtungen in den Blick zu rücken.
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89 | Solche postulierten Umkehrungen von Machtverhältnissen sind nicht neu, erinnert sei an die nationalsozialistische Propagierung der jüdischen Weltherrschaft. 90 | Said, Orientalism, S. 86. 91 | Arata, »The Occidental Tourist«, S. 623.
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A BBILDUNGSNACHWEISE Abb. 1 Abb. 2
Abb. 3 Abb. 4
Cover der Weltwoche vom 18. November 2010 J. de la Hogue, kleines Plakat von circa 1940/41, 75 cm x 48 cm, abgebildet in : Blanchard, Pascal/Chatelier, Armelle, Images et Colonies. Nature, discours et influence de l’iconographie coloniale liée à la propagande coloniale et à la représentation des Africains et de l’Afrique en France, de 1920 aux Indépendances, Paris 1993, o. S. Plakat der Lega Nord von 2008/2009, http://www.leganord.org/ilmovi mento/manifesti2008.asp, 07.07.2010 Antiminarettplakat, Schweiz 2010, http://www.minarette.ch/pdf/F4_Pla kat.pdf, 16.02.2011
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Verflechtung durch Neutralität Wirkung einer Schweizer Maxime im Zeitalter der Dekolonisation Daniel Speich Chassé
1943 publizierte der Basler Geschichtsprofessor Edgar Bonjour eine schmale Abhandlung über »die schweizerische Neutralität: ihre geschichtliche Wurzel und gegenwärtige Funktion«1 . Das Thema war im akademischen Diskurs nicht neu2 , aber es gewann in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine neuartige Dynamik. Bonjour legte 1946 eine stark erweiterte Fassung vor, und in den 1960er Jahren schrieb er im Auftrag des Bundesrates eine mehrbändige Neutralitätsgeschichte, die zu den populärsten historiographischen Werken der Schweiz gehört.3 Sie wurde selbst zu einem Teil der Geschichte der Schweizer Neutralitätsmaxime, indem sie einen sendungsbewussten Staatsgedanken popularisierte, dessen Wurzel sich bis in die Gründungszeit moderner Staatlichkeit im 17. Jahrhundert zurückverfolgen ließ und dessen Aktualitätsbezug kaum zu überbieten war. Es war für das Außenministerium zur Zeit Bonjours nicht leicht, den Ort der Schweiz in der neuentstehenden internationalen Staatenwelt zu bestimmen und zu begründen. Das öffentliche Interesse an seinen Arbeiten deutet auf einen erhöhten Bedarf nach nationaler Selbstversicherung in der Nachkriegszeit hin.4 Im Folgenden möchte ich einen Beitrag zum Verständnis dieser Themenkonjunktur leisten. Im Urteil von Charles S. Maier sind die zwei Hauptthemen der Globalgeschichte des 20. Jahrhunderts zum einen die Katastrophe des Nationalsozialismus und zum anderen der Skandal der globalen Ungleichheit.5 Mit Blick auf Auschwitz bedeutete Neutralität nach 1945 ein moralisches Versagen, weshalb neuere Untersuchungen als Kristallisationspunkt der Neutralitätsgeschichte das
1 | Bonjour, Geschichte der Schweizerischen Neutralität. 2 | Siehe insbesondere das gewichtige Werk von Schweizer, Geschichte der Schweizerischen Neutralität. 3 | Bonjour, Geschichte der Schweizerischen Neutralität. 4 | Zala, Gebändigte Geschichte. 5 | Maier, »Consigning«.
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Verhalten des Schweizer Staates in der Zeit des Nationalsozialismus benannten.6 Aber auch die Entstehung einer »Dritten« Welt mit dem Ende der europäischen Kolonialreiche ist ein erkundenswerter Zusammenhang, der hier in den Vordergrund gerückt werden soll. Auf den ersten Blick erstaunt es, dass sich die Schweizer Maxime just in einer weltgeschichtlichen Phase zum Dogma »versteinerte«, wie sich Andreas Suter ausgedrückt hat,7 als ein neuer Internationalismus mit verstärkter zwischenstaatlicher Kooperation, vielen neuen internationalen Organisationen und zunehmender wirtschaftlicher Verflechtung den Isolationismus der Zwischenkriegszeit abzulösen begann. Einige Autoren und Autorinnen argumentierten, die Neutralität habe angesichts der gewaltigen Integrations- und Globalisierungsprozesse der Wirtschaft, der Kultur und der Kommunikation allgemein dazu geführt, dass die Schweiz durch ihr Abseitsstehen nicht aktiv an der Gestaltung dieser Verdichtung partizipieren konnte, sondern ihr vielmehr passiv ausgeliefert gewesen sei.8 Auch ist eine generelle Malaise gegenüber den neuen internationalen Organisationen konstatiert worden. Die Schweiz habe wegen ihrer neutralitätspolitischen Maxime stets den bilateralen Verhandlungsweg mit anderen Nationalstaaten wählen müssen, und die Entstehung multilateraler Verhandlungs- und Austauschforen gewissermaßen verschlafen. Das gilt für den Prozess der europäischen Einigung und auch für das Verhältnis der Schweiz zu den Vereinten Nationen.9 Ohne diese Feststellungen in Zweifel ziehen zu wollen, lässt sich die Frageperspektive umdrehen. Die Wirkung der Neutralität erschöpfte sich nicht darin, ein dysfunktionales Dispositiv angesichts globaler Trends gewesen zu sein. In ihrer jüngeren Geschichte gab es auch Effekte, welche die internationalen Bezüge der Schweiz verstärkten. Neben der Verflechtung trotz Neutralität gab es auch eine Verflechtung durch Neutralität. Diese Wirkung kann in zwei Hinsichten untersucht werden. Einerseits bedeutete die Tatsache, dass sich die Schweiz offiziell zur Neutralität bekannte, nicht unbedingt, dass sie sich neutral verhielt. Dem Politologen Alois Riklin wird die Einsicht zugeschrieben, hinter dem »blankgeputzten Schild der Neutralität« habe auch die friedliebende Schweiz bisweilen das »blutige Schwert« geschwungen.10 Die politische Maxime war ein hilfreicher Deckmantel, unter dem sich außenwirtschaftliche Interessen in einzelnen Fällen besonders gut verfolgen ließen.11 Andererseits muss über diese Verschleierungsproblematik hinaus aber auch gefragt 6 | Fanzun/Lehmann, Die Schweiz und die Welt; Möckli, Neutralität. 7 | Suter, »Neutralität«, S. 179. 8 | Tanner, »Die Schweiz und Europa«; Hug/Gees/Dannecker, Aussenpolitik. 9 | Hug/Kloter, Aufstieg und Niedergang des Bilateralismus; Moos, Ja zum Völkerbund; Jost, Europa; Gees, Die Schweiz im Europäisierungsprozess. 10 | So Hans Ulrich Jost an einer Tagung des Schweizer Bundesarchivs im Herbst 2009. Vgl. Fischer, »Tagungsbericht«; Riklin, »Die Neutralität«. 11 | Bott/Guex/Etemad, Les relations économiques.
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werden, inwiefern das Neutralitätskonzept selbst der Schweiz den Neubau und die Verfestigung ihrer globalen Bezüge nach 1945 erlaubte. Dieser Frage geht der Aufsatz mit Blick auf die Nord-Süd-Problematik nach.12 Welche Wirkung kam der Neutralitätsmaxime hinsichtlich einer fundamentalen Differenzziehung zwischen dem Westen und dem Rest der Welt zu?13 Es wird ein dreifaches Ziel verfolgt. Erstens möchte ich die Forschung zur Schweizer Neutralität aus ihren politik- und diplomatiegeschichtlichen Bezügen lösen und stärker auf wissensgeschichtliche Überlegungen hinwenden. Hierzu dient die Auseinandersetzung mit einigen führenden Schweizer Geistesgrößen. Zweitens soll zu der dominierenden Binnenperspektive der vorliegenden Historiographie zur Schweizer Neutralität eine mehr globalgeschichtliche Sichtweise gestellt werden. Es wird nach Anknüpfungspunkten der Maxime im internationalen Politiksystem gesucht, welche die Schweizer Positionen formulierbar und plausibel machten. Dabei gilt die Aufmerksamkeit insbesondere dem UNO-System, das von 1945 bis zur Krise der 1970er Jahre das wichtigste Forum der Nord-SüdKommunikation war. Drittens geht es darum, die Fruchtbarkeit neuerer Ansätze zu prüfen, die bisweilen unter dem Label des Postkolonialismus subsumiert werden. Gemeint ist ein sehr heterogener Theoriestrang, der die Nachwirkungen der europäischen Expansion untersucht und ein besonderes Gewicht auf die Wechselwirkungen von Dekolonisierung und Rekolonisierung nach 1945 legt.14 Wenn man den Begriff der Neutralität vom engeren außenpolitischen Kontext löst und auf seine historische Semantik befragt, führt er in den Kern der europäischen Aufklärung. Als Wertneutralität steht er in enger Nachbarschaft zur Objektivität und zu einer allgemein nutzbringenden Anwendung der Vernunft.15 Es ist zu fragen, inwiefern partikuläre Positionen und Interessen in den Deutungshorizont universeller Werte der Menschheit gestellt wurden. Wie die Schweiz haben sich auch skandinavische Kleinstaaten, die keine Kolonialmächte waren und die teilweise ebenfalls auf die staatspolitische Maxime der Neutralität bauten, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Nord-Süd-Konflikt zu Vertretern universeller Positionen gemacht.16 Unter dem Stichwort einer »colonial complicity« ist diese angenommene Sonderposition überzeugend relativiert worden.17 Dabei drängen sich
12 | Die Schweizer Perspektive auf diese neu entstehende weltpolitische Akteursgruppe rekonstruierten zuerst Graf, »Die Schweiz und die Dritte Welt«; Matzinger, Die Anfänge. Siehe auch die Beiträge in Hug/Mesmer, Von der Entwicklungshilfe. Zum aktuellen Forschungsstand siehe die Beiträge von Sara Elmer und Konrad Kuhn in diesem Band. 13 | Hall, »Der Westen und der Rest«. 14 | Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie, S. 8. 15 | Steiger/Schweitzer, »Neutralität«. 16 | Tvedt, Angels; Stokke/Hoebink, European Development. 17 | Keskinen et al., Complying.
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Fragen nach der »Provinzialisierung« der Schweizer Erfahrung und nach der zunehmenden »Verwobenheit« diverser Nationalgeschichten auf.18 Im Zentrum meines Arguments steht eine diskursive Formation, die expertengestützte Verwaltungspraktiken als »technisch« imaginierte und aus der Sphäre politischer Auseinandersetzungen herausheben wollte. Diese Formation begründete die Hoffnung, mittels »neutraler« Interventionen der Entwicklungszusammenarbeit die globalen Probleme der Ungleichheit zu lösen.19 Allerdings hat gerade die vermeintliche Entpolitisierung bestehende Machtverhältnisse gestärkt und neue geschaffen. Im Spiel von De- und Repolitisierung sind globale Hierarchien weit über das Ende der Kolonialzeit fortgeschrieben worden. Auf diesen Zusammenhang hat der kritische Theoriestrang des Post-Development hingewiesen.20 Zu ihm zählt auch eine Schweizer Linie, die aus der Kritik der Neutralitätsmaxime in den 1970er Jahren entstand.
D AS P RIVILEG DES K LEINSTA ATS 1943 begann Edgar Bonjour seine Ausführungen zur Neutralität mit den Worten: »Vor etwa einem Menschenalter noch lebte der Schweizer in einem Gefühl aussenpolitischer Sicherheit, das wir heute nur schwer nachzuempfinden vermögen. […] An der Kolonialpolitik der Grossmächte nahm man keinen Teil, sodass diese Wunschlosigkeit den Anschein erweckte, als desinteressiere sich die Eidgenossenschaft am Weltgeschehen, als verzichte sie überhaupt auf jede Aussenpolitik.« 21
Wohl bestand die Hauptaufgabe des 1848 gegründeten Bundesstaates darin, neben den militärischen Angelegenheiten auch die zivilen Außenbeziehungen der im Bund vereinten Kantone durch das politische Departement zu koordinieren. Man baute diplomatische Vertretungen auf und entsandte Delegierte an alle neuentstehenden internationalen Organisationen.22 Aber nur sehr langsam konturierte sich eine eidgenössische Außenpolitik, die hauptsächlich darauf gerichtet war, die Geschäftstätigkeit der Schweizer Exportindustrie durch die Absicherung von Marktzugängen und die internationale Standardisierung technischer Vorgaben zu gewährleisten.23 Geostrategische Perspektiven, welche die Außenpolitik der Groß18 | Randeria, Geteilte Geschichte; Chakrabarty, Provincializing Europe. 19 | Nützenadel/Speich, »Editorial – Global inequality«. 20 | Kothari, A Radical History; Kapoor, The Postcolonial Politics. Einen Überblick bietet Ziai, »Postkoloniale Perspektiven«. 21 | Bonjour, Geschichte der Schweizerischen Neutralität, S. 5. 22 | Herren/Zala, Netzwerk Aussenpolitik. 23 | Zur Dominanz der Exportwirtschaft im Design der Schweizer Außenbezüge im 19. Jahrhundert siehe den Beitrag von Christof Dejung in diesem Band.
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mächte strukturierten, lagen außerhalb der Reichweite des Kleinstaats. In diesem engeren Sinne verfolgte die Schweiz keine Außenpolitik. Mit dem Kriegsende, das sich 1943 abzuzeichnen begann, wurde der Eindruck einer Desinteressiertheit am Weltgeschehen zu einem Problem. Es galt, die Maxime der Neutralität in einem aktiven Sinn umzudeuten. Mit Blick auf die sich neu konstituierende Weltgemeinschaft musste die Schweiz eine Vision entwickeln, die ihren Ort und ihre Stellung in diesem globalisierten Kommunikationszusammenhang erklärbar machte. Der Agrarwissenschaftler Friedrich Traugott Wahlen hat diese Verschiebungen genau beobachtet, mitgeprägt und kommentiert. Wahlen war ab 1943 Professor für Agronomie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH). Er leitete im Auftrag des Bundes die Generalplanung zur Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln im Zweiten Weltkrieg. 1949 wurde er Direktor der Abteilung für Landwirtschaft in der Food and Agricultural Organization (FAO). 1958 wählte ihn die Bundesversammlung, der er selbst seit 1942 als Berner BGB-Ständerat angehört hatte, in den Bundesrat, wo er von 1962 bis 1965 für die Schweizer Außenpolitik zuständig war.24 1959 berichtete die Neue Zürcher Zeitung über ein Referat Wahlens mit dem Titel »Christliche Verantwortung im Blick auf die Entwicklungsländer«25, in welchem dieser seine Sicht auf das internationale Potential der Schweiz umriss. Dort hieß es, nach der Meinung von Wahlen verwundere es nicht, »dass ganz allgemein, aber vielleicht besonders in unserem Lande das Erwachen eines Gefühls der Mitverantwortung für die Gestaltung der europäischen Zukunft oder gar des Weltschicksals langsam vor sich gehe. Jetzt allerdings beginnen wir zu ahnen, dass die Weltgeschichte ein so eng verwobenes Geflecht geworden ist, dass es auch für den Kleinen immer schwieriger wird, durch seine Maschen zu schlüpfen. Wir müssen an unserem künftigen Schicksal mitformen, indem wir die Welt von morgen gemeinsam mit den anderen Völkern mitgestalten […]. Doch wie haben sich die Verhältnisse in kurzer Zeit geändert! Bundesrat Wahlen erinnerte an die Kolonialausstellung von 1934 in Paris. Sie wurde damals in Europa und in den Kolonien als selbstverständlicher Ausdruck eines bestehenden Zustandes empfunden. Heute würde auch der verknöchertste Colonel Blimp nicht an die Durchführung einer Kolonialausstellung denken.« 26
Der Wandel internationaler Verflechtungsstrukturen durch das Ende der europäischen Kolonialmächte forderte die Schweiz heraus. Gerade weil die Schweiz im Zweiten Weltkrieg von offenen Kriegshandlungen und dem institutionalisierten Genozid verschont geblieben war, wurde ihre weltpolitische Position nach 1945 an besonders hohen moralischen Kriterien gemessen. 24 | Kreis, »Friedrich Traugott Wahlen«; siehe auch Speich, »Zwischen Wirtschaft, Politik und Wissenschaft«, S. 182ff., und Maurer, Anbauschlacht. 25 | Wahlen, »Christliche Verantwortung« 26 | Ebd.
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Desinteressiertheit qua Neutralität war nicht länger eine Option. Vielmehr galt es, die weltpolitische Machtlosigkeit eines Kleinstaates in ein Arsenal von Chancen umzudeuten. Das war die Stunde der humanitären Tradition, deren Beförderung nun als eine logische Konsequenz des relativen Wohlstandes der Eidgenossenschaft galt. Die Rolle der Schweiz in der Welt durfte nicht mehr durch Ignoranz und Abwendung geprägt sein, sondern musste neue Verbindlichkeiten einschließen, die der unverhüllten Machtpolitik der alten und der neuen Weltmächte durch konkrete Aktivitäten und auf der symbolischen Ebene entgegenstanden. Als Karl Schmid 1959 das Präsidium eines wichtigen Schweizer Hilfswerkes übernahm, meinte er: »Wir leben in der Schweiz in einem Wohlstande, um den uns fast alle Länder der Erde beneiden. Dieser Wohlstand des Lebens kann zu einem Übelstand des Denkens und des Herzens werden. Es gibt heute keine bessere Parole für unser Vaterland als diejenige, die Herr Bundespräsident Petitpierre formulierte: Neutralität und Solidarität. Wir wollen uns nicht nur die Neutralität, sondern auch die Solidarität etwas kosten lassen. Es gibt zu viele bei uns, die solidarisch sind mit ihrem Geld, und neutral gegenüber der Not.« 27
Schmid hatte sich intensiv mit der Schweizer Staatsidee auseinandergesetzt. Er war mit der Schauspielerin Elsie Attenhofer liiert und hatte sein literaturwissenschaftliches Renommee, das ihm 1943 eine Professur für Germanistik an der ETH eintrug, auf der Analyse zentraler Texte der Nationalliteratur aufgebaut. Im Zweiten Weltkrieg war er überdies für die Propagandaorganisation Heer und Haus landesweit als Ideologieproduzent tätig gewesen.28 Besonderen Wert legte er dabei auf die Feststellung, der Schweizer Staat stehe den Bürgerinnen und Bürgern nicht als beherrschende Macht gegenüber, sondern sei eine Verlängerung bürgerlicher Handlungsperspektiven und allenfalls eine neutrale Vermittlungsinstanz bei Konflikten. Nach 1945 schwebte Schmid eine Schweize vor als »ein festes Haus, mit offenen Türen gegen die Nachbarn, mit weiten Fenstern gegen die Welt hin. Dann kann der Kleinstaat bestehen, wenn er das ist: fest und offen.«29 Für Schmid war die Entwicklungszusammenarbeit der Königsweg zur Neupositionierung der Schweiz in der Welt und zugleich das Leitmotiv in ihrer zu entwerfenden Außenpolitik. In der technischen Zusammenarbeit mit den neuen Staaten, die aus dem Prozess der Dekolonisation sukzessive hervorgingen, sah Schmid ein enormes Potential für die Schweiz. Hier waren ingenieurtechnische Kompetenzen gefragt, an denen es den Eidgenossen nicht mangelte. Schmid wusste genau darum, denn er war 1953 Rektor der nationalen Ingenieurschule ETH geworden. Die globale Verbreitung von technischem Fachwissen eröffnete der Schweiz seiner Meinung 27 | Schweizer Auslandhilfe, Bericht über die Tätigkeit, S. 35. 28 | Speich, »Angewandte Geisteswissenschaft«. 29 | Schmid, »Gedanken über den Kleinstaat«, S. 290.
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nach ein verbindliches Medium internationaler Verflechtung, das hervorragend mit der Neutralitätsmaxime zu verbinden war. Der Schweiz stand die Möglichkeit offen, sich der Weltgemeinschaft als Verkörperung einer ganz und gar rationalen Politik zu empfehlen, die keine Machtabsichten verfolgte. In einem Memorandum angesichts seiner neuen Aufgabe als Präsident der Schweizer Auslandhilfe hielt Schmid 1960 fest, im Gegensatz etwa zu den USA, die ihr entwicklungspolitisches Engagement an Zwecksetzungen der Außenpolitik bänden, habe die karitative Tätigkeit der Schweiz einen großen Spielraum: Dort, das heisst in den USA, »ruht die caritative Hilfe auf der Gesinnung der Bürger; die technische Entwicklungshilfe aber ist eine Form, in der der Staat aussenpolitische Zwecke verfolgt. Für unseren neutralen Kleinstaat trifft das durchaus nicht zu. […] Es ist das Privileg des neutralen Kleinstaates, dass auch seine staatliche Hilfstätigkeit rein unter dem Gedanken der Hilfe und nicht unter demjenigen der Einflussnahme und Machtausweitung geschieht.« 30
Schmid machte aus der Not der Schweizer Außenpolitik eine Tugend: das »Privileg des Kleinstaates« sei es, Weltbezüge ohne machtpolitische Hintergedanken konstruieren zu können, weil zwischen Bürger und Staat keine Differenz bestehe. Geostrategische Absichten bestünden nicht. Seinem Urteil nach schien man das Gute befördern zu können, ohne unter irgendeinen Ideologieverdacht zu geraten. Kollektives Engagement in der Welt war gleichbedeutend mit Handlungsabsichten, die dem Moralhaushalt einzelner Individuen entsprachen, und diese als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger auch in einer globalisierten Welt ruhig schlafen ließen. Allerdings erwies es sich als schwierig, von diesem »Privileg« diplomatisch zu profitieren. Wiederkehrende Probleme der Schweiz mit internationalen Organisationen führten dazu, dass bald niemand mehr aufgrund von wissenschaftlicher Forschung die Notwendigkeit postulierte, außenpolitisch neutral zu sein. Führende Politologen wie Jürg Martin Gabriel oder Laurent Goetschel konnten der Neutralität selbst beim besten Willen keine Funktion attestieren.31 Der Gehalt der Neutralitätsmaxime reduzierte sich auf einen programmatischen Einsatz in der Schweizer Innenpolitik.32
D IE TECHNISCHE UNO Der Kern der neuen Weltgemeinschaft war die Allianz jener Nationen, die sich im Krieg gegen die Achsenmächte vereint hatten. An der Konferenz von San Francisco 1945 wurde dieses Bündnis im Namen eines aufgeklärten Universalismus zu einer 30 | Schmid, »Memorandum«, S. 215f, Hervorhebung im Original. 31 | Gabriel, Sackgasse Neutralität; Goetschel/Bernath/Schwarz, Schweizerische Aussenpolitik. 32 | Somm, Christoph Blocher.
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weltanschaulichen Organisation ausgeweitet, die für individuelle Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Völker stand.33 Politische Neutralität nach dem Schweizer Modell hatte in diesem Konzept keinen Platz, solange sie als eine befürwortende Position gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland verstanden werden konnte. Eigentlich hätte das Schweizer Außenministerium der UNO gerne beitreten wollen. Man knüpfte aber in einer eher schwachen Situationsanalyse den Schweizer Beitritt an die Bedingung, dass alle anderen Mitgliedsländer in formaler Weise die Neutralität der Schweiz anerkennen müssten. Der Kern des Problems war für die Schweiz die Möglichkeit, als Vollmitglied der UNO für den Fall, dass der Sicherheitsrat wirtschaftliche Sanktionen gegen irgendein Land der Welt verhängen würde, diese Sanktionen ebenfalls nachvollziehen zu müssen. Darin sah man einen Souveränitätsverlust – und einen Verlust des Handlungsspielraums von international tätigen Schweizer Unternehmen. Der Schweizer Neutralitätsvorbehalt wurde von den UNO-Mitgliedern nicht anerkannt, die Schweiz hatte sich aber bereits die Verhandlungsposition verbaut, allenfalls eine stillschweigende Neutralitätsanerkennung zu erreichen, wie sie im Fall von Österreich zum Tragen kam. Der UNO-Beitritt war damit unmöglich, und die Schweiz hatte mit einem großen Imageproblem zu kämpfen, wonach sie sich nicht mit den Anliegen und Zielen der entstehenden Weltgemeinschaft solidarisierte. In dieser Lage prägte Bundesrat Max Petitpierre die Maxime der »Neutralität und Solidarität«.34 Das isolationistische Element der Neutralitätspolitik wurde kompensiert durch die moralische Verpflichtung zur Solidarität. Oder anders gesagt: Das Geschichtskonstrukt, wonach die Schweiz immer schon, oder mindestens seit 1648, außenpolitisch neutral gewesen sei, wurde ergänzt durch eine zweite Erfindung: jene einer humanitären Tradition der Solidarität mit den Leidenden und schlechter Gestellten in der Welt. Der Zufall, dass ausgerechnet ein Schweizer im mittleren 19. Jahrhundert eine politisch neutrale, nicht staatliche Organisation zur Versorgung von Kriegsverletzten erfunden hatte, erwies sich in diesem Zusammenhang als hilfreich.35 Konkret bedeutete das Zusammendenken von Neutralität und Solidarität, dass die Schweiz sehr sorgfältig auf eine Unterscheidung Bezug nahm, die innerhalb des UNO-Systems angelegt war. Die UNO-Gründer wollten ein globales Sicherungsinstrument schaffen, um einen Dritten Weltkrieg zu verhindern. Hierfür entwarfen sie politische und juristische Konfliktlösungsmechanismen, und sie 33 | Kennedy, Parlament der Menschheit; Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht. 34 | Trachsler, Bundesrat Max Petitpierre; Möckli, Neutralität. 35 | Ein Zusammenhang zwischen dem Roten Kreuz und der Schweizer Staatsidee bestand zur Zeit Henry Dunants nur in der farblichen Umkehrung der Schweizerfahne. Die Organisation stand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder am Rand der Bedeutungslosigkeit. Dies änderte sich erst mit der Verleihung des ersten Friedensnobelpreises an Dunant 1901. Riesenberger, Für Humanität in Krieg und Frieden.
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zielten auch auf weltweite Infrastrukturmaßnahmen, weil man wirtschaftliche Not als wichtigste Ursache von politischer Instabilität und mithin von Kriegen verstand. Der Kausalzusammenhang zwischen materiellem Elend und Kriegsgefahr stellte ein Hauptthema der internationalen Verhandlungen in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre dar. Er wurde in der Gründungscharta der UNO von 1945 in Artikel 55 manifest, welcher die Grundlage des sozial- und wirtschaftspolitischen Engagements der Weltorganisation fundierte. Die UNO nehme sich, so wurde dort festgehalten, der Verbesserung der Lebenslagen aller Menschen der Welt nicht als Selbstzweck an, sondern in der instrumentellen Absicht, »jenen Zustand der Stabilität und Wohlfahrt herbeizuführen, der erforderlich ist, damit zwischen den Nationen friedliche […] Beziehungen herrschen«36. Exemplarisch sei auch eine Resolution der Generalversammlung von 1948 zitiert: Das tiefe Wohlstandsniveau in vielen Ländern habe »bad economic and social effects in the countries directly concerned and on the world as a whole« und führe zu »conditions of instability which are prejudicial to the maintenance of peaceful and friendly relations among nations«37. Der politischen Sphäre der Konflikte und Kriege wurde eine vermeintlich unpolitische Sphäre der technischen Wohlstandsförderung gegenübergestellt. Bereits an der internationalen Landwirtschafts- und Ernährungskonferenz von Hot Springs war es im Mai 1943 auf Einladung von Franklin D. Roosevelt darum gegangen, die 44 vertretenen Länder gemeinsam zur Lösung einer technischen Problematik zu bewegen. Nationale politische Interessen sollten zurückgestellt werden – zugunsten einer weltumspannenden Perspektive, welche die wirtschaftlich-technische Dynamik zum Nutzen aller zur Entfaltung brachte. Daraus entstand die FAO.38 Eine ähnliche technische Logik unterstand auch der Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), die im November 1943 gegründete wurde.39 An den Verhandlungen von Dumbarton Oaks ging es im Oktober 1944 darum, ein organisatorisches Dach für diese – und weitere – technische Körperschaften zu bilden. Dabei war der Versuch, zwischen Politik und Technik klar zu trennen, ein ständiges Thema. Der zur Debatte stehende Entwurf für eine »General International Organization«40 sah eine Zweckbestimmung zur internationalen Kooperation auf dem Gebiet der Wirtschaft und des Sozialen vor. Es entstand der Wirtschaftsund Sozialrat der UNO (ECOSOC), der dem Sicherheitsrat gleichgestellt wurde und der sich in einer explizit unpolitischen Weise, das heisst jenseits der Möglichkeit politischer Einflussnahme, mit der Beförderung der wirtschaftlichen und sozialen
36 | Charta der Vereinten Nationen, Artikel 55. 37 | Generalversammlung der Vereinten Nationen, Resolution 198 (III) vom 04.12.1948. Stokke, The UN and Development, S. 46. 38 | Staples, The Birth of Development, S. 76ff. 39 | Ekbladh, The Great American Mission, S. 86ff. 40 | So der Titel von Band 3 der Documents of the United Nations Conference on International Organization, San Francisco, 1945. United Nations, Dumbarton Oaks Proposal, Titel.
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Verhältnisse in allen Ländern der Welt befassen sollte.41 Nach anfänglichem Zögern nahmen die Amerikaner dieses apolitische Weltprojekt Ende der 1940er Jahre auf. 1949 bestimmte US-Präsident Harry Truman als vierten Eckpunkt seiner Außenpolitik die technische Hilfe an arme Länder. Im gleichen Duktus war kurz zuvor der Marshall-Plan lanciert worden.42 1950 wurde ein Expanded Program for Technical Assistance (EPTA) auf die Beine gestellt, das alle technischen Aktivitäten des UNO-Systems koordinieren sollte. UNO-Generalsekretär Trygve Lie meinte an der ersten Konferenz dieser Körperschaft: »None of the abuses associated with past experiences of political or economic domination of one country by another are possible. Under the United Nations programme, technical assistance for economic development cannot be used for purposes of domination or imperialism.«43 Die Schweiz nahm dieses Konzept einer politisch neutralen UNO gezielt auf und partizipierte hier in vollem Ausmaß, während man der politischen UNO fernblieb. Das Land wurde auch direkt angesprochen. So benannte Trygve Lie als Vorbild für die technische Zusammenarbeit die Aktivitäten von Schweizer Entwicklungsexperten in Afghanistan, welche mit der flächendeckenden Einführung von Schweizer Sensen die Mähleistung der Bauern steigern und einen Mentalitätswandel in der Wirtschaftsgesinnung bewirken wollten.44 Im Auftrag des ECOSOC begann das Generalsekretariat, eingehende Anfragen von armen Ländern an jene Staaten weiterzuleiten, die über entsprechende Expertisen verfügten. Das Schweizer Außenministerium leitete diese Anfragen an den Schulrat der ETH weiter, welcher bis zur Gründung einer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) 1961 die gesamte Entwicklungshilfe koordinierte.45 Diese Anfragen gestalteten sich technisch neutral, waren aber mit tiefen Eingriffen in die innenpolitischen Verhältnisse der die Hilfe empfangenden Staatswesen verknüpft.46 Der Leiter dieses Gremiums, der Agrikulturchemiker Hans Pallmann, berichtete auf einer Schulratssitzung 1950: »Präsident Truman postulierte bekanntlich in seiner Inauguraladresse die Technische Hilfe für zurückgebliebene Gebiete (Punkt 4). Die Schweiz wird dadurch vor die Frage gestellt, ob sie sich an einer Gesamtaktion der Vereinigten Nationen aktiv beteiligen wolle oder nicht. Mit Prof. Wahlen (Direktor bei der FAO in Washington) sind wir der Ansicht, dass wir auch vom Standpunkt der Wahrung unserer wirtschaftlichen Interessen und für die Weltgeltung 41 | Speich, »Der Blick von Lake Success«. 42 | Merrill, The point four program. Zum European Recovery Program siehe Hardach, Der Marshall-Plan. 43 | Lie, »Opening Statement«, S. 309. 44 | Lie, In the Cause of Peace, S. 151; Wartenweiler, Angst?, S. 104. 45 | Zur Gründung des Dienstes für technische Zusammenarbeit, wie die DEZA zunächst hieß, siehe Matzinger, Die Anfänge. 46 | Für Rwanda siehe Zürcher, »So fanden wir«.
V ERFLECHTUNG DURCH N EUTRALITÄT schweizerischer Kultur und Wirtschaft verpflichtet sind, für eine aktive Beteiligung unseres Landes einzutreten. Es entspricht dies auch der von Bundespräsident Petitpierre eingeschlagenen Linie einer Beteiligung der Schweiz an möglichst allen unpolitischen internationalen Organisationen. Durch sinnvollen Einsatz schweizerischer Experten und Fachleute schafft man auch für die Exportwirtschaft unseres Landes günstige Vorbedingungen.« 47
Die entpolitisierte Sprache der neuen internationalen Organisation war in hohem Maß anschlussfähig. Es eröffnete sich die Möglichkeit einer außenpolitischen Präsenz, die dem Primat der Außenwirtschaftspolitik voll gerecht wurde. 1954 verdichtete der Rechtsberater des Außendepartements, Rudolf Bindschedler, diese Haltung zu einer Doktrin: »Bei der Teilnahme an internationalen Konferenzen und internationalen Organisationen ist zu unterscheiden, ob diese einen vorwiegend politischen oder vorwiegend wirtschaftlichen, kulturellen oder technischen Aspekt aufweisen. Handelt es sich um Konferenzen und internationale Organisationen politischen Charakters, so kommt eine Beteiligung höchstens in Frage, wenn sie eine gewisse Universalität aufweisen. Es müssen die hauptsächlichsten Vertreter der in Frage kommenden politischen Gruppierungen daran teilnehmen, insbesondere beide Parteien eines allfälligen Konfliktes. Es gilt auch hier für die Schweiz, eine Parteinahme zu vermeiden.« 48
Gemäss dieser Bindschedler-Doktrin war es der Schweiz möglich, zum Beispiel der OECD beizutreten. Zwar versammelten sich hier mit Blick auf den Kalten Krieg nur westliche Industrieländer, aber die OECD galt nicht als eine politische, sondern als eine technische Veranstaltung.49 Der UNO-Beitritt blieb hingegen ausgeschlossen, was rückblickend schwer zu verstehen ist. Und tatsächlich zerbröckelte der Vorbehalt gegen einen UNO-Beitritt in Bundesbern mit der Zeit vollständig. Spätestens als 1971 Festlandchina den chinesischen Sitz im Sicherheitsrat übernahm und wenig später auch die beiden deutschen Staaten beitraten, war die UNO im Sinne der Bindschedler-Doktrin zur universellsten internationalen Organisation geworden, die es überhaupt gab. In einer Reihe von Berichten an das Parlament entwarf der Bundesrat ab 1967 eine außenpolitische Öffnungsstrategie, die schließlich in einer Volksabstimmung über den UNO-Beitritt gipfelte. Zum Entsetzen der Politiker und Diplomaten lehnte das Volk diese Vorlage im Jahr 1986 ab. Während 1992 der Beitritt der Schweiz zu den Bretton-Woods-Institutionen an der Urne angenommen wurde, erfuhr der Öffnungskurs im gleichen Jahr mit der Ablehnung des EWR-Beitritts noch einmal einen gewaltigen Dämpfer. Hingegen 47 | ETH Bibliothek, Archive, SR2: Schulratsprotokolle 1950, Sitzung Nr. 2 vom 01.04.1950, Traktandum 25, S. 78ff. (Reg. Nr. 230.2), Hervorhebung im Original. 48 | Bindschedler, »Departementsinterne Leitlinien für die Aussenpolitik von 1954«, zit. n. Fischer, Die Grenzen der Neutralität, S. 51f. 49 | Marti, Die aussenpolitischen Eliten, S. 11ff.
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wurde der UNO-Beitritt, der aufgrund einer Volksinitiative 2002 erneut vors Volk kam, schließlich angenommen.50
N EUTR ALITÄT UND W ELTINNENPOLITIK Die Vision einer politisch neutralen Beförderung des Wohlergehens der Welt hat der Schweizer Exportwirtschaft Marktzugänge gesichert. Vor allem aber hat sie dem Schweizer Staat zu mehr Sichtbarkeit auf dem internationalen Parkett verholfen und seine globale Verflechtung stark gefördert. Diese Wirkung der Neutralitätsmaxime war möglich, weil sie wesentlichen Grundannahmen der europäischen Aufklärung entsprach und diese Wertekonstellation zu einem Organisationsprinzip der internationalen Kooperation machte. Allerdings setzte das Land auf eine außerordentlich anspruchsvolle Maxime, der es letztlich kaum gerecht werden konnte. Seit den ausgehenden 1960er Jahren häufte sich Kritik an der tatsächlichen Umsetzung der im Grunde überzeugenden Idee, die Schweiz könne in allen Weltkonflikten eine neutrale Vermittlerstellung beziehen. So meinte Jean Rudolf von Salis 1968: »Die Neutralität ist ein langes Kapitel, da uns das Ausland […] die Verkoppelung ›Neutralität und Solidarität‹ nicht abkauft. Man findet uns im Westen im Gegenteil unsolidarisch, zwar zur westlichen Welt gehörend, aber nicht gewillt, etwas dafür zu tun. Ich habe die Neutralität der Schweiz nie für veraltet oder unrichtig gehalten, aber immer geglaubt, sie könne nur einen Sinn haben, wenn sie wirklich eine Vermittlerstellung zwischen den verschiedenen Welten des Westens, des Ostens und der Entwicklungsländer einnimmt – also universell und allgemeingültig, objektiv im Urteil, sachlich und nützlich im Verhalten ist. Dann würde auch der amerikanische Ausspruch nicht zu Recht bestehen: ›Für den Rest der Welt würde das Verschwinden der Schweiz nicht sehr viel bedeuten‹.« 51
Bis 1945 war Neutralität völkerrechtlich ein klar konturierter Begriff, der sich auf die Bildung politischer Allianzen und Bündnisse bezog. Doch in der Zwischenkriegszeit weitete sich das Gegenstandsverständnis deutlich aus. Es kam zu einer Ökonomisierung der internationalen Politik. Technische Handlungsebenen im Bereich der Wirtschafts-, der Gesundheits- und der Sozialpolitik, die bislang auf innenpolitische Problemstellungen beschränkt gewesen waren, wurden auch im zwischenstaatlichen Austausch immer wichtiger.52 Damit gewann eine Seitenlinie der Begriffsgeschichte von Neutralität an Bedeutung, nämlich der Bezug dieser Maxime auf das Verhältnis von Bürger und Staat.
50 | Moos, Ja zum Völkerbund. 51 | Salis, »Die Getadelte Schweiz«, S. 266. 52 | Anghie, »Wirtschaftliche Entwicklung und Souveränität«.
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In der für die Politikgeschichte der Schweiz bedeutsamen liberalen Staatstheorie von Benjamin Constant galt der Staat als ein »pouvoir neutre«53 . Seine Organe sollten analog zur Theorie von Saint-Simon die Gemeinschaft nach den Prinzipien der Vernunft verwalten und keine politischen Positionen beziehen.54 Dieses sachorientierte Verständnis von Politik als einer »Verwaltung von Dingen« kam im Werk Johann Kaspar Bluntschlis zum Ausdruck, der 1876 forderte, Beamte seien »von den politischen Parteikämpfen und daher auch von den parlamentarischen Kämpfen möglichst fernzuhalten und deshalb zu neutralisieren«55 . Diese Festlegung innenpolitischer Handlungsformen wurde von der Gründergeneration der UNO nach 1945 zur Leitlinie der internationalen Politik gemacht. Mit der Entstehung vieler neuer internationaler Organisationen und der steten Zunahme technischer und administrativer Interaktion wuchs in der Nachkriegszeit der Gegenstand der Aussenpolitik stetig an. 1968 schrieb der Leiter der Entwicklungspolitik der Bundesrepublik Deutschland, Hans-Jürgen Wischnewski, dass nicht nur die Innenpolitik, sondern auch die Aussenpolitik immer »voluminöser« und »intensiver«56 werde. Früher hätten die souveränen Nationalstaaten ihre Kontakte vollständig über den diplomatischen Austausch kanalisieren können. Mittlerweile seien aber die transnationalen Bezüge vielfältiger geworden, indem nicht nur die meisten Wirtschaftsunternehmen global tätig geworden seien, sondern auch eine unüberblickbare Menge von gemeinnützigen Organisationen und anderer Kollektivagenten weit über die Landesgrenzen hinaus tätig seien. Wischnewski schrieb: »So ist die klassische Diplomatie, gelegentlich im Verband mit der Militärpolitik, abgelöst worden durch ein eng verflochtenes Feld politischer, wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Beziehungen. Und eine Trennung von Binnen- und Außenpolitik ist zudem nicht mehr möglich.«57 Diese Beobachtung führte den konsequenten Denker zu einer Formulierung, mit der dann Ulrich Beck ein Vierteljahrhundert später viel Echo auslösen sollte:58 »Unvermeidlich bewegen wir uns auf eine Weltinnenpolitik zu.«59
D AS S PIEL VON D E - UND R EPOLITISIERUNG Im direkt demokratischen System der Schweiz stellte die entstehende Perspektive einer Weltinnenpolitik die Legitimation der Außenpolitik vor neue Heraus53 | Kölz, Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte. 54 | Zur Technokratiekonzeption seit Saint-Simon siehe Wagner, Sozialwissenschaften; Lübbe, »Technokratie«. 55 | Bluntschli, Politik als Wissenschaft; Steiger/Schweitzer, »Neutralität«, S. 360ff. 56 | Wischnewski, »Nord-Süd-Konflikt«, S. 27. 57 | Ebd.. 58 | Beck, Macht und Gegenmacht, Kapitel 3. 59 | Wischnewski, »Nord-Süd-Konflikt«, S. 27.
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forderungen.60 Überdies standen alle weltpolitischen Konflikte der Nachkriegszeit entweder im Horizont des Ost-West-Konfliktes oder des Nord-Süd-Konfliktes und waren zumeist unentwirrbare Verknüpfungen dieser beiden Frontstellungen.61 Die stark an den außenwirtschaftlichen Interessen der Schweizer Exportindustrie orientierte diplomatische Praxis Berns konnte in dieser Konstellation nur schwerlich Neutralität beanspruchen. Allzu deutlich war die Schweiz als westliches Industrieland gleich doppelt positioniert. Die einzige Möglichkeit, diese Partikularinteressen an die Maxime der Neutralität anzuschließen, war die Internationalisierung eines technokratischen Politikverständnisses, wie es die UNO postulierte: Vernünftige Interventionen sollten soziale Konfliktstellungen durch das Versprechen von Wachstum, Wohlstand und Entwicklung depolitisieren.62 Das hatte von Salis im Auge, als er von einer Neutralität sprach, die »universell und […] objektiv im Urteil« sei. Im Licht der postkolonialen Theoriebildung erweist sich dieser moralisch gestärkte Neutralitätsbegriff aber als eine Chimäre. Ausgehend von der UNO, und durchaus dienlich für die weltpolitische Selbstpositionierung neutraler europäischer Kleinstaaten in Skandinavien und in den Alpen, entstand nach 1945 ein globaler Deutungs- und Handlungszusammenhang, den der Anthropologe James Ferguson als eine »antipolitische Maschine« beschrieben hat.63 In seinem Kern stand die Annahme eines mechanischen Geschichtsverlaufs. Die Beseitigung von Armut und Wohlstandsdifferenzen wurde nicht als Ergebnis politischer Auseinandersetzungen, sondern als Resultat einer sozialen Physik verstanden und als steuerbarer Prozess gedacht. Die Schweizer Neutralitätsmaxime passte zu dieser technokratischen Weltinnenpolitik sehr gut, und das wohlstandsbezügliche Erfolgsmodell Schweiz hat deren globale Plausibilisierung stark befördert. Die Neutralitätsannahme ermöglichte der Schweiz das gezielte Verfolgen ihrer außenwirtschaftlichen Interessen. Zugleich war es wegen der Vorstellung einer Geschichtsmechanik im Grunde überflüssig, die zu entwickelnden Bevölkerungen als Träger von eigenen politischen Absichten zur Kenntnis zu nehmen. Die treuhänderischen Interventionen »im Namen der Entwicklung« fanden bisweilen auch gegen den Willen der Betroffenen statt.64 Die vermeintliche Depolitisierung weltweiter Bezüge war mit Blick auf den Nord-Süd-Konflikt sehr politisch. Einen Sachzusammenhang als unpolitisch zu imaginieren, ist selbst in hohem Maß ein politischer Akt. Er erlaubt es nämlich, im Namen universeller Werte partikuläre Standpunkte als solche unsichtbar zu machen. Innenpolitisch führte dieser Umstand bei den Verhandlungen über ein Schweizer Entwicklungshilfegesetz in den 1970er Jahren zu dezidierten Konflikt60 | Schrötter, Schweizerische Entwicklungspolitik. 61 | Westad, The Global Cold War. 62 | Tenbruck, »Der Traum der säkularen Ökumene«. 63 | Ferguson, The Anti-Politics Machine; siehe auch Mitchell, Rule of Experts. 64 | Ziai, »Postkoloniale Perspektiven«, S. 402.
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stellungen. Ein von den wichtigsten Hilfswerken in Auftrag gegebener Bericht forderte 1975 die Entflechtung von Außenwirtschafts- und Außenpolitik. Man verlangte (gegen den Widerstand etwa der Basler chemischen Industrie) die Offenlegung aller Handelsinteressen; und postulierte (in scharfem Gegensatz zur politischen Rechten um James Schwarzenbach) einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Wohlstand der Schweiz und dem Elend im »Rest« der Welt. Es gehe nicht darum, mehr zu geben, sondern weniger zu nehmen, hieß es nun.65 Die innersten Verhältnisse der Eidgenossenschaft standen plötzlich in einem Weltbezug. Der maßgebliche Autor der Studie, der Genfer Politologe Roy Preiswerk, ging allerdings noch einen Schritt weiter. Er sah in der Universalisierung westlicher Werte, die mit der technikzentrierten Entwicklungshilfe verbunden war, eine hegemoniale Politik.66 Der Gedanke wurde von Gilbert Rist vertieft und avancierte zum Kerngehalt des Post-Development, wonach der Einsatz der instrumentellen Vernunft im Nord-Süd-Konflikt niemals eine neutrale Position eröffne, sondern selbst Partei sei.67 Was als Universalismus gehandelt werde, sei als genuin europäische Wertekonstellation zu verstehen und mithin zu provinzialisieren. Die postkoloniale Kritik der Neutralität westlichen Wissens ist allerdings ein zweischneidiges Schwert. Niemand würde in Zweifel ziehen, dass die Vorstellung eines abstrakten Modernisierungsprozesses weitgehend ein Produkt der europäischen Geistesgeschichte ist und nicht ohne spezifische Machtwirkungen auf die ganze Welt ausgedehnt werden konnte. Zugleich hat aber die moralische Kraft des aufgeklärten Universalismus ihren geschichtlichen Entstehungskontext auch überschritten. Das Versprechen einer vernünftigen Politik verselbständigte sich und sprang vom Westen auf den Rest der Welt über.68 Neutralität war in diesem Prozess ein wichtiger Agent.
65 | Kommission schweizerischer Entwicklungsorganisationen, Entwicklungsland Welt; Braunschweig, Zur Diskussion gestellt. 66 | Preiswerk, »Kognitive Grundlagen«; Preiswerk/Perrot, Ethnocentrisme. Zu Preiswerk siehe Bürgi/Imfeld, Mehr geben, weniger nehmen, S. 49. 67 | Rist, Wie Weisse Schwarze sehen; Rist, Le Développement. Zur Position des PostDevelopment siehe Sachs, The Development Dictionary. 68 | Dabei behielt die Vision gerade deshalb ihre Stärke, weil sie einen singulären Modernisierungsprozess postulierte. Die Annahme einer Multiplikation der Moderne, wie sie formuliert wurde von Eisenstadt in Die Vielfalt der Moderne, verliert die Notwendigkeit dieses Universalismus aus dem Auge. Ferguson, »Decomposing Modernity«.
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Postkoloniale Erschließung ferner Länder? Die erste Schweizer Nepalmission und die Anfänge der »technischen Hilfe an unterentwickelte Länder« Sara Elmer »[The] Swiss were one of Nepal’s very first cooperation partners«1 , heißt es stolz in einer Jubiläumsbroschüre der Eidgenössischen Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA). Was der Satz indes verschweigt, ist, dass Nepal für die Schweiz in der Anfangszeit der hiesigen Entwicklungshilfe um einiges wichtiger war als umgekehrt. Denn es war in Nepal, wo die Schweiz ihre ersten Gehversuche und Experimente in der bilateralen Hilfe wagen durfte. Als sich die Entwicklungshilfe nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb weniger Jahre als fester Bestandteil der internationalen Beziehungen etablierte, drängte sie sich auch für den Bundesrat nicht nur als nützliches, sondern gar als notwendiges, neues Instrument der Außenpolitik auf. Die Entwicklungshilfeidee setzte sich nicht zuletzt deshalb weltweit rasch durch, weil sie – anders als die kolonialen Beziehungen – für die politischen Eliten sowohl des Nordens als auch des Südens attraktiv war.2 Nichtsdestotrotz steht die Entwicklungshilfe seit längerem im Verdacht, das globale Ungleichgewicht nicht zu nivellieren, sondern vielmehr aus der Kolonialzeit überlieferte Machtverhältnisse zu stützen. Vor diesem Hintergrund betrachtet dieser Aufsatz die Anfangszeit der staatlichen Entwicklungshilfe der Schweiz und fragt nach den manifesten und latenten kolonialen Denkweisen der damaligen Entscheidungsträger und ersten Feldexperten.
(P OST-)K OLONIALISMUS UND E NT WICKLUNGSHILFE : EIN PA AR THEORE TISCHE Ü BERLEGUNGEN Während der Zusammenhang zwischen Kaltem Krieg, Sicherheitspolitik und Entwicklungshilfe schon seit längerem in entwicklungspolitischen und sozialwissen1 | Swiss Agency for Development Cooperation (Hg.), 50 Years, S. 4. 2 | Cooper/Packard, »Introduction«, S. 1; Cooper, »Modernizing Bureaucrats«, S. 64-65.
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schaftlichen Kreisen diskutiert wird3, wurde die Frage nach dem kolonialen Erbe in den Entwicklungsbestrebungen erst später aufgeworfen. Zwar prangerten Dependenztheoretiker bereits seit den 1960er Jahren den europäischen Kolonialismus als Ursache für »Unterentwicklung« an und wiesen auf das weitere Auseineinaderdriften von Zentrum und Peripherie in der postkolonialen Zeit hin.4 Aber inwiefern die Bestrebungen der internationalen Entwicklungshilfe selber (neo-)kolonial gefärbt sind, stand damals nicht im Zentrum der Debatten. Dies änderte sich in den späten 1980er Jahren, als mit der sogenannten Post-Development-Theorie die Entwicklungsidee ganz grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Ähnlich wie die von den Literaturwissenschaften geprägten postkolonialen Studien widmete sich die eher in den Sozialwissenschaften verortete Post-Development-Theorie poststrukturalistischen Untersuchungen zu Wissensproduktion, Repräsentation und Macht in Nord-Süd-Beziehungen. Unter dem Einfluss Foucault’scher Diskurs- und Machtanalysen betrachtet sie »Entwicklung« als einen historisch produzierten Machtdiskurs mit der Funktion, die Hegemonie des Westens gegenüber dem Rest der Welt über die Kolonialzeit hinaus aufrechtzuerhalten.5 Wolfgang Sachs und andere Autorinnen und Autoren riefen angesichts der ihrer Meinung nach offensichtlich widerlegten Entwicklungstheorien das Ende der Entwicklungsära aus.6 Deren Beginn datierten sie auf die antikommunistische Inauguralrede von US-Präsident Harry S. Truman vom Januar 1949, in welcher er in Punkt vier »a bold new program for making the benefits of our scientific advances and industrial progress available for the improvements and growth of underdeveloped areas«7 ankündigte. Seit dieser diskursiven Einteilung der Welt in »Entwickelte« und »Unterentwickel3 | Vgl. beispielsweise die Dissertationsschrift von Eugene Bramer Mihaly (Mihaly, Foreign Aid). Bereits 1961 führte Mihaly Feldforschung zu Wirkung und Nutzen ausländischer Entwicklungshilfe in Nepal im Lichte des Kalten Krieges durch (erstmals publiziert 1965, Oxford University Press, London). 4 | Vgl. beispielsweise Frank, Capitalism and Underdevelopment. 5 | Vgl. Ziai, »Post-Development«, S. 195-201. Ziai weist jedoch darauf hin, dass viele Post-Development-Autorinnen und Autoren Foucault nur wenig gründlich rezipiert hätten und ihre Arbeiten eher einer klassischen Ideologiekritik als einer an Foucault orientierten Diskursanalyse zuzuordnen seien. 6 | In der Einleitung seines vielzitierten Development Dictionary nennt Sachs vier Hauptgründe für das Scheitern der Entwicklungsidee: 1. die ökologische Unmöglichkeit der Universalisierung des westlichen Gesellschaftsmodells; 2. das Wegfallen der Haupttriebkraft mit dem Ende des Kalten Krieges; 3. die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und das damit bewiesene Nichtfunktionieren der Entwicklungspläne; 4. die in der Entwicklungsidee tiefverwurzelte, falsche Annahme einer universell gleichen Entwicklungslinie, welche die Entwicklungsbestrebungen zu einem Programm der Verwestlichung macht (Sachs, »Introduction«, S. xv-xx). 7 | Truman, »Inaugural Address«, 4. Das in Punkt vier dieser Rede lancierte amerikanische Entwicklungshilfsprogramm wurde fortan als »Point-Four-Program« bezeichnet und diente
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te« seien auf einen Schlag zwei Milliarden Menschen unterentwickelt geworden, so der Vorwurf. Armut sei zur Anomalie erklärt und der nordamerikanische Lebensstil und -standard zur von allen anzustrebenden Norm erhoben worden. Der Angriff galt nicht allein den von der Modernisierungstheorie beeinflussten Entwicklungsplanern, sondern auch den neomarxistischen Dependenztheoretikern: Mit ihrer These der »Entwicklung der Unterentwicklung«8 hätten sie sogenannte unterentwickelte Regionen und Menschen zu Studienobjekten gemacht und seien deshalb trotz scharfer Kritik an der europäisch-amerikanischen Politik demselben binären Diskurs verhaftet.9 Auf diesen Prämissen beruhend verglich Escobar den Entwicklungsdiskurs mit dem von Said beschriebenen Orientalismus, der mit seiner Wissensproduktion über den Orient ein zentrales Element des kolonialen Machtmechanismus gewesen sei.10 Escobar betrachtete nun den Entwicklungsdiskurs mit der dazugehörigen Politik und Forschungstätigkeit als eine Fortsetzung dieses Kolonialdiskurses, denn er sei ebenfalls ein allmächtiger Mechanismus zur Produktion und Lenkung der Dritten Welt und würde zur Legitimierung von westlichen Interventionen dienen. Auch zieht er Parallelen zwischen dem umfassenden Netzwerk von Entwicklungsinstitutionen und den kolonialen Steuerungsapparaten.11 Zu den bekannteren Post-Development-Autoren gehört der emeritierte Genfer Professor Gilbert Rist. Bereits in einer 1979 publizierten Schrift12 ging er Fragen nach Repräsentation der »Dritten Welt« und Ethnozentrismus bei Schweizer Hilfswerken nach. Vor allem hinsichtlich älterer Aussagen von Hilfswerken stellte er einen an koloniale Rhetorik erinnernden Paternalismus und Ethnozentrismus fest und schrieb dem Export der »Mystik von ›Entwicklung‹ und ›Modernisierung‹«13 ähnlich schädliche Auswirkungen zu wie dem Kolonialismus. Denn »in beiden Fällen geht es darum, vorzuspiegeln, dass das Heil aus der ›entwickelten‹ Welt kommt, während anderen Gesellschaftsformen der Todesstoss versetzt […] wird«14 . Freilich zählte Rist mit dieser Publikation noch nicht zu den Post-DevelopmentVertretern, existierte dieser Ansatz damals ja noch gar nicht als solcher. Bekannter ist denn auch sein späteres Werk Le development. Histoire d’une croyance occidentale15, in dem er den Bogen von kolonialer Philanthropie und Zivilisierungsmission als wesentliches Instrument der amerikanischen Eindämmungspolitik im Kalten Krieg (vgl. Moser, »Ein Kühnes Neues Programm«, S. 79ff.). 8 | Frank, Capitalism and Underdevelopment. 9 | Vgl. dazu Escobar, Encountering Development, S. 5; Esteva, »Development«, S. 2-7. 10 | Said, Orientalism. 11 | Escobar, Encountering Development, S. 3-12. 12 | Rist et al., Wie Weisse Schwarze sehen. 13 | Ebd., S. 7. 14 | Ebd., S. 7. 15 | Rist, Le développement. Englische Übersetzung: The History of Development. From Western Origins to Global Faith, London 1997.
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zu späteren Entwicklungstheorien spannt. Abgesehen von Rists Beiträgen ist der Post-Development-Ansatz in der Schweiz allerdings nur wenig rezipiert worden und blieb vor allem im deutschsprachigen Raum wenig beachtet.16 Eine viel kritisierte Schwäche des Post-Development-Ansatzes sind die teilweise populistischen Tendenzen. »Der Westen« wird oft als Feindbild und homogene Einheit dargestellt, während nicht westliche, »traditionelle« Gesellschaftsformen häufig romantisiert werden. Zudem wird die Macht vielfach einseitig bei den großen Gebernationen und internationalen Organisationen wie der Weltbank verortet, welche neokoloniale Interessen verfolgen würden.17 Mit dem vorliegenden Aufsatz soll aufgezeigt werden, dass ein simplifizierender Pauschalvorwurf des Neokolonialismus im Falle der Schweiz sicherlich unangebracht ist. Dessen ungeachtet hat die Frage nach (post-)kolonialen Spuren in den Anfängen der hiesigen Entwicklungshilfe durchaus ihre Berechtigung, wenn nicht die Schweiz, sondern die unterschiedlichen Akteure mit ihren teils divergierenden Interessen und Vorstellungen untersucht werden. Die Wahl des Fallbeispiels der ersten offiziellen Schweizer Entwicklungsmission, dem Swiss Nepal Forward Team, kann der Vielfalt der Akteure, Motivationen und Handlungsweisen im Gebiet der Entwicklungshilfe gewiss nicht gerecht werden, aber immerhin lässt sich damit auf eine grundsätzlich notwendige Differenzierung zwischen staatlichen Behörden und Entwicklungsfachleuten mit Felderfahrung hinweisen. Auch zeigt dieses Fallbeispiel das ambivalente Verhältnis von (explizitem) Antikolonialismus und (impliziten) kolonialen Denkmustern der damaligen Experten, welche stark unter dem Eindruck der fortschreitenden Dekolonisierungsbewegungen standen.
D IE S CHWEIZ UND DER » INTERNATIONALE W E T TL AUF FÜR DEN A UFBAU DER WIRTSCHAF TLICH ZURÜCKGEBLIEBENEN L ÄNDER «18 Die Nachkriegsjahre boten der Schweiz Herausforderungen, aber auch Chancen für eine Neugestaltung ihrer internationalen Beziehungen. Sie musste sich nicht nur der veränderten Weltlage anpassen, sondern auch ihre kriegsbedingte Isolation überwinden und ihr international angekratztes Ansehen aufbessern. Vor allem ihre engen Handels- und Finanzbeziehungen zu den Achsenmächten hatten Spannungen mit den Alliierten verursacht, welche nach dem Krieg den für die Schweizer Wirtschaft überaus wichtigen Außenhandel einschränkten. Diese Lage führte
16 | Vgl. Ziai, »Post-Development«, S. 193 und 195. 17 | Vgl. dazu beispielsweise Ziai, »Post-Development«, S. 199-203. 18 | Schweizerisches Bundesarchiv (BAR), E. 7170 (B), 1968/167, Bd. 1, Exposé von Prof. Pallmann und Dr. Muggli über die Mitwirkung der Schweiz bei der technischen Hilfe für zurückgebliebene Gebiete, 14. Februar 1950.
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zu einer – zumindest oberflächlichen19 – Neuformulierung der außenpolitischen Leitlinien, die Bundesrat Petitpierres mit den Schlagworten »Neutralität, Solidarität und Universalität«20 zusammenfasste. Vor diesem Hintergrund beobachteten Bundesrat und Bundesbehörden mit Interesse die wachsende Bedeutung der internationalen Entwicklungshilfe, schien sie doch nicht nur ein nützliches Instrument, um die Solidaritätsmaxime glaubwürdig zu vertreten, sondern auch, um die Integration in den Weltmarkt und in internationale Organisationen zu erleichtern. Denn die »technische Hilfe an unterentwickelte Länder«21 würde, so die Ansicht der Behörden, nicht nur ohne Gefährdung der Neutralitätspolitik die Mitgliedschaft in verschiedenen Sonderorganisationen der Vereinten Nationen (UNO) erlauben, sondern auch den Aufbau von Beziehungen zu den vielversprechenden, »jungen«, dekolonisierten Staaten ebnen.22 Der Begriff der technischen Hilfe war aus dem Englischen übersetzt (»technical assistance«), kam aber sehr gelegen. Denn er ließ sich gut mit Petitpierres »politique à double face«23 in Verbindung bringen, welche zwischen – mit der Neutralität zu vereinbarenden – technischen und – mit ihr unzuvereinbarenden – politischen Organisationen unterschied. Denn entgegen ihrer eigentlich enormen politischen 19 | Hug, Gees und Dannecker betonen in ihrer Studie, dass das Kriegsende keine tiefgreifenden Änderungen der außenpolitischen Leitlinien zur Folge hatte, sondern die Krisen-, Kriegs- und Nachkriegszeit von 1930 bis 1960 als eine einheitliche Phase der Schweizer Außenpolitik zu betrachten sei. Vgl. Hug/Gees/Dannecker, Die Aussenpolitik der Schweiz, S. 6f. 20 | Vgl. dazu beispielsweise Möckli, Neutralität. Während das Neutralitätsrecht ein unparteiisches Abseitsstehen von internationalen Konflikten erforderte und die Solidaritätsmaxime der Neutralität einen ethischen Glanz verleihen sollte, erlaubte das Prinzip der Universalität in Friedenszeiten quasi auf Seiten aller zu sein und eine aktive Außenpolitik zu betreiben. Unter Berufung auf die Universalität unterhielt die Schweiz grundsätzlich diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen zu allen Staaten, unabhängig von der ideologischen Ausrichtung der Regierungen. Petitpierre strebte außerdem die Mitgliedschaft in möglichst allen »unpolitischen« internationalen Organisationen an. 21 | Bis 1960 war der Ausdruck »technische Hilfe an unterentwickelte Länder« sehr gebräuchlich in den offiziellen Schriften des Bundes, später wurde er durch »technische Zusammenarbeit«, »Entwicklungshilfe« und »Entwicklungszusammenarbeit« abgelöst. 22 | Vgl. Matzinger, Die Anfänge, S. 33-39; zur Außenpolitik des »technischen« Multilateralismus als Strategie der Integration in das UN-System siehe Möckli, Neutralität, S. 19 und 205-217. Mit der Bindschedler-Doktrin (benannt nach dem bundesrätlichen Rechtsberater) unterschied der Bundesrat zwischen »technischen« und »politischen« Organisationen. Während die Mitgliedschaft in ersteren als bedenkenlos erklärt wurde, war sie in letzteren aufgrund der Neutralitätspolitik nicht möglich. Obwohl die Entwicklungshilfe stets auch klare politische Implikationen hatte, galt sie als »technisches« Unternehmen und damit als problemlos mit der Neutralität vereinbar. 23 | Möckli, Neutralität, S. 295.
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Implikationen galt die technische Hilfe als etwas Apolitisches, Neutrales und somit als unbedenklich für die Schweiz. Die damaligen Überlegungen und Vorstellungen der Bundesbehörden lassen sich gut anhand der Debatten um den ersten Entwicklungshilfskredit aufzeigen, als die UNO die Schweiz zu einem Beitrag an das neu lancierte Expanded Cooperative Program of Technical Assistance for Economic Development (EPTA) aufforderte. Noch unerfahren in solchen Fragen und ohne klare Zuständigkeiten schlossen sich Vertreter der Privatwirtschaft und verschiedener Bundesämter unter dem Präsidium des Rektors der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) zu einer Koordinationskommission für technische Hilfe zusammen.24 Anders als beispielsweise in Frankreich oder Großbritannien, wo bereits innerhalb der Kolonialverwaltung zahlreiche Institutionen für Entwicklungsplanung geschaffen worden waren,25 war der Bund noch nicht auf die neue Aufgabe vorbereitet. Sich von Anfang an von den kolonialen Interventionen der Großmächte distanzierend, sollte das neue Engagement allerdings auch nicht zu einer politischen Frage aufgebauscht werden. Mit der prominenten Rolle der ETH wurde daher nicht nur die gefragte technische Expertise an Bord geholt, sondern die Hilfe vermeintlich entpolitisiert. Die Mitglieder der Koordinationskommission waren sich alle über die Notwendigkeit der Teilnahmen am EPTA einig, wenn auch nicht alle aus denselben Gründen. Während der Vertreter der Abteilung für internationale Organisationen (AIO) vor allem die politische Isolierung fürchtete, standen für die meisten Anderen wirtschaftliche Überlegungen im Vordergrund. Sie witterten verlockende Möglichkeiten zur Erschließung neuer Absatzmärkte und mahnten zu raschem Handeln, um nicht von anderen Industrienationen übergangen zu werden.26 Besonders deutlich wird diese an den kolonialen Wetteifer erinnernde Haltung in der Stellungnahme der Handelsabteilung:
24 | BAR, 7170 (B) 1968/167, Bd. 1, Mitgliederliste des Koordinations-Komitees, 25. Juli 1950. Zu den Verhandlungen der Koordinationskommission vgl. auch Hoffmann, »Die Anfänge der Entwicklungszusammenarbeit«, S. 251-254, und Matzinger, Die Anfänge, S. 44-57. 25 | Vgl. Cooper, »Modernizing Bureaucrats«. 26 | Vgl. BAR E 2003-04, 1000/123, Bd. 11, Procès-Verbal de la réunion tenue le 25 Octobre 1949 à Berne; Procès-Verbal de la réunion tenue le 26. Janvier 1950; außerdem: Assistance techinque aux pays sous-développés, résumé de la question, 31. März 1950, abgefasst von Minister Zutter (Abteilung für internationale Organisationen). Der Delegierte für Arbeitsbeschaffung betrachtete die Entwicklungshilfe gar als Möglichkeit zur Schaffung von Arbeitsplätzen für arbeitslose Akademiker. Mit dem raschen Wirtschaftsaufschwung der 1950er Jahre verlor diese Motivation allerdings bald an Wirkkraft, war doch die heimische Nachfrage nach Fachkräften hoch (vgl. Siegenthaler, »Arbeitsplätze«).
P OSTKOLONIALE E RSCHLIESSUNG FERNER L ÄNDER ? »Die Schweiz kann den mit diesen Fragen zusammenhängenden Bestrebungen nicht fernbleiben, weil unser Reichtum ja zum grossen Teil vom Kapitalexport und von der Durchdringung fremder Länder mit schweizerischen Wirtschaftspionieren herkommt. Man muss wohl annehmen, dass wir auf die Dauer unseren Lebensstandard nur beibehalten können, wenn diese doppelte Durchdringung fremder Wirtschaftsgebiete auf Grund schweizerischer Initiative wieder in den Fluss kommt.« 27
Auch für den Präsidenten der Koordinationskommission, dem ETH-Schulratspräsidenten Hans Pallmann, waren die politischen und wirtschaftlichen Vorteile der Entwicklungshilfe offensichtlich. Deshalb meinte er, die Schweiz solle »ohne Verzug am internationalen Wettlauf für den Ausbau der wirtschaftlich zurückgebliebenen Gebiete«28 teilnehmen. Während die Mitglieder der Koordinationskommission die politischen und wirtschaftlichen Vorzüge für die Schweiz diskutierten, stand die Bedeutung der Hilfsprogramme für die Entwicklungsländer selber nicht zur Debatte. Auch ideologische Argumente spielten keine Rolle. Zwar wurde die Umsetzung der Solidaritätsmaxime durch die Entwicklungshilfe begrüßt, doch nicht aus humanitären Überlegungen, sondern als Imagepflege. Selbst antikommunistische oder andere sicherheitspolitische Motive wurden von den Kommissionsmitgliedern nicht vorgebracht, obwohl die flammende Point-Four-Rede Trumans bekannt war. Als neutraler Kleinstaat wollte man sich vielmehr aus dem machtpolitischen Kräftemessen der Großmächte heraushalten, aber trotzdem in der neuen außenpolitischen Arena des internationalen »Aid Game«29 mitmischen.30 Entgegen der deutlichen Aussagen der Kommissionsmitglieder wäre es indes voreilig, den Beginn der Schweizer Entwicklungshilfe als neokoloniales Projekt zur Erschließung neuer Absatzmärkte und Aufbesserung der Reputation im Ausland zu bezeichnen. Denn wie das folgende Beispiel der ersten bilateralen Entwicklungsmission zeigen wird, deckten sich die Vorstellungen und Erwartungen der Beamten in Bern nicht mit denjenigen der Experten im Feld. Theorie und Praxis klafften auseinander, weshalb sich die Anfänge der Schweizer Entwicklungshilfe nicht allein aufgrund der Debatten in den Behörden charakterisieren lassen.
27 | BAR E 2003-04, 1000/123, Bd. 11, Internes Scheiben der Handelsabteilung an Minister Zehnder über die Beteiligung der Schweiz am EPTA, 27. August 1949. 28 | BAR E. 7170 (B), 1968/167, Bd. 1, Exposé von Prof. Pallmann und Dr. Muggli über die Mitwirkung der Schweiz bei der technischen Hilfe für zurückgebliebene Gebiete, 14. Februar 1950. 29 | Mihaly, Foreign Aid, S. ix. 30 | Vgl. N. N., »Eine schweizerische Forschungsexpedition in Nepal«, S. 5.
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N EPAL ALS »E XPERIMENTIERFELD UND G ELEGENHEIT ZUR E RFAHRUNGSSAMMLUNG « 31 Neben der grundsätzlich unumstrittenen Beteiligung an multilateralen Programmen war sich die Koordinationskommission auch über die Notwendigkeit eigener bilateraler Entwicklungsprojekte einig. Diese, so die einhellige Meinung, würden angesichts des sich abzeichnenden Wettrennens der Industrieländer um die Gunst der Entwicklungsländer die Sichtbarkeit der Schweiz erhöhen. Allerdings fehlten neben der erforderlichen Organisationsstruktur und Expertise auch noch die Kontakte mit geeigneten Einsatzländern. Dem fehlenden technischen Fachwissen begegnete man wiederum mit der engen Einbindung der ETH Zürich. Die ersten Einsatzländer ergaben sich hingegen eher zufällig aufgrund entsprechender Anfragen aus dem Ausland und durch das persönliche Interesse einzelner Beteiligter. Iran, Ceylon und Nepal waren die ersten Länder, welche die Schweiz 1948/49 um technische Berater ersuchten.32 Diese Anfragen wären jedoch beinahe vollständig versandet, hätte nicht der Architekt und erfahrene Regional- und Landesplaner Walter Custer mit viel Engagement und Beharrlichkeit eine Expertenmission nach Nepal auf die Beine gestellt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Schweiz nichts mit Nepal zu tun, weder in politischen noch in wirtschaftlichen oder anderen Belangen. Doch auch wenn – oder gerade weil – das weitentfernte Nepal wenig bekannt war, übte es auf viele Schweizer eine Faszination aus. Scheinbar unberührt vom Kolonialismus malten vor allem Reiseberichte das Bild eines exotischen, weltfernen Landes aus einer anderen Zeit. Für Custer selber war vor allem die Aussicht auf ein von der westlichen Wissenschaft bisher weitgehend unberührtes Forschungsfeld äußerst verlockend.33 Die Umstände der nepalesischen Anfrage waren eher nebulös. 1947 besuchte der in London akkreditierte nepalesische Botschafter Bim Bahadur Pande verschiedene europäische Länder, um mögliche Entwicklungsmodelle für Nepal zu studieren. Pande war offenbar besonders beeindruckt von der kriegsunversehrten Schweiz, in der er Industriebetriebe, Wasserkraftwerke, touristische Anlagen und Viehzuchtstationen unter die Lupe nahm. Auf seinen Bericht hin richtete die nepalesische Regierung eine Anfrage nach technischen Experten an die Schweiz, welche im Herbst 1948 durch einen indischen Kaufmann namens K. U. Advani an die Handelsabteilung des EVD überreicht wurde. Erst später stellte sich heraus, dass Herr Advani entgegen seinen ersten Aussagen gar kein offizieller Vertreter 31 | BAR E 7170 (B) 1968/167, Bd. 17, Pallmann an die Mitglieder der Koordinationskommission, 30. Juni 1950. 32 | Matzinger, Die Anfänge, S. 30-33. Die Schweiz entsandte einen einzigen Ingenieur für Bewässerungsanlagen nach Ceylon. Die Schweizer Offerte an den Iran wurde abgelehnt, da sie deutlich teurer war als Angebote anderer Staaten. 33 | BAR J. I. 221 1993/125, Nachlass Custer, Sachliche Unterlagen des Nepal Team an Prof. Pallmann, z. H. seines Auftrages an das Koordinationskomitee, 22. Juni 1950.
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Nepals, sondern lediglich ein Freund der dortigen Herrscherfamilie war.34 Obwohl die Anfrage noch sehr unspezifisch war, griff Walter Custer sie auf und verfolgte sie trotz wenig enthusiastischer Unterstützung seitens der Regierung hartnäckig weiter. Custer war kurze Zeit zuvor aus einem Arbeitseinsatz in Indien und Ceylon zurückgekehrt und schien deshalb für die ETH-Schulleitung nicht nur aufgrund seiner Expertise als Regionalplaner, sondern auch wegen seiner Südasienerfahrung der geeignete Leiter eines Expertenteams zu sein. Er war der Meinung, man solle »beim gegenwärtigen Entwicklungsstand Nepals«35 ein kombiniertes Team mit Experten aus verschiedenen Fachrichtungen zur Ausarbeitung und Instandsetzung eines Entwicklungsplanes anbieten. Um in gut schweizerischer Manier den »politisch und wirtschaftlich neutralen Charakter« und die »wissenschaftliche und technische einwandfreie Haltung«36 zu unterstreichen, wurde diese Expertenmission nicht als Einsatz der Schweizer Regierung definiert, sondern unter das Patronat der ETH gestellt. Zusammen mit anderen Wissenschaftlern der ETH erarbeitete Custer einen Plan in mehreren Phasen. Denn anders als bei der Wiederaufbauhilfe im kriegsgeschädigten Europa, erwartete man hier ein längerfristiges und umfassenderes Engagement. Zuerst sollten ein paar Wissenschaftler unter dem abenteuerlich klingenden Namen Swiss Nepal Forward Team für ein bis zwei Monate nach Nepal reisen, um direkt vor Ort die Vertragsbedingungen für einen längeren Einsatz von Schweizer Fachleuten auszuhandeln. Daraufhin würde eine größere Gruppe gründliche wissenschaftliche Untersuchungen durchführen, um Nepal nicht nur in einzelnen Projekten zu unterstützen, sondern eine breit angelegte Erschließung des Landes zu ermöglichen. In einer noch späteren Phase sollten schließlich auch private Schweizer Unternehmen in einzelne Infrastrukturprojekte miteinbezogen werden. Nach dem Eintreffen der Einladung aus Nepal bewilligte die Koordinationskommission einen Kredit von rund 50.000 Franken für die Mission des Forward Teams.37 Im Vergleich zum EPTA-Beitrag von einer Million Franken fiel dieser bilaterale Kredit zwar sehr bescheiden aus. Dennoch befanden die Vertreter der Finanzverwaltung und der Delegierte für Arbeitsbeschaffung den Kredit als zu hoch für eine Mission ohne unmittelbaren Nutzen für die Schweizer Wirtschaft und mahnten zur Sparsamkeit. Auch wenn ökonomische Motive in der allgemeinen 34 | BAR E. 7170 (-)1967/32, Bd. 1372, Schreiben der Gesandtschaft in New Delhi an die Handelsabteilung, 25. Mai 1949; Pande, Switzlerand of Asia, S. 1-2. 35 | BAR J.I. 221 1993/125, Nachlass Custer, Sachliche Unterlagen des Nepal Team an Prof. Pallmann, z. H. seines Auftrages an das Koordinationskomitee, 22. Juni 1950. 36 | Ebd. 37 | Da es noch keinen Budgetposten für bilaterale Entwicklungshilfe gab, wurde der Nepalkredit aus einem Restposten des Kredits für Arbeitsbeschaffung finanziert. Hierfür kam wieder das Argument der möglichen Arbeitsbeschaffung für Schweizer Fachleute im Ausland ins Spiel.
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Debatte um die Entwicklungshilfe für die Koordinationskommission im Vordergrund standen, machten sich die Behörden im Falle Nepals von Beginn an keine überzogenen Hoffnungen, sondern setzten mehr auf den wissenschaftlichen Wert und den Versuchscharakter. Man traute Custer und seinem Team seriöse Arbeit zu und meinte, Nepal sei äußerst geeignet als »Experimentierfeld und als Gelegenheit zur Erfahrungssammlung«38 für die neue schweizerische technische Hilfe. Um über die Wissenschaft hinaus auch die Bundesbehörden vom Sinn und Zweck seiner Pläne zu überzeugen, betonte Custer noch weitere Vorteile eines Nepaleinsatzes. So sei Nepal ein besonders günstiges Land für einen ersten bilateralen Einsatz, weil »die verschiedenen durch den Gebirgscharakter auftretenden Probleme (Landwirtschaft, Elektrifizierung, Seilbahnen, Strassenbau usw.)«39 besonders vertraut seien. Die Hinweise auf die Gemeinsamkeiten als Bergnationen und von Großmächten umgebenen Kleinstaaten finden sich in den Folgejahrzehnten vielfach wieder in der Schweizer Entwicklungsliteratur. Freilich wird mit der Begründung der Hilfsbedürftigkeit gleichzeitig auf die frappanten Unterschiede in Reichtum und Lebensstandard hingewiesen: Man sei sich ähnlich, aber keinesfalls gleich. In diesem Sinne wurde zwar keine Verpflichtung zum Helfen abgeleitet, aber doch zumindest eine Prädestination dafür und ein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten.40 Ein weiteres, ebenfalls wichtiges Argument für eine Tätigkeit in Nepal war seine nicht koloniale Vergangenheit und die damit verbundene Tatsache, dass sich dort noch keine westliche Macht richtig festgesetzt hatte. Die isolationistische Politik Nepals war gerade im Auflösen begriffen, und der eigentliche »Aid Scramble«41 hatte noch nicht eingesetzt. Besonders erfreut zeigten sich Custer und die Koordinationskommission darüber, dass die Amerikaner in Nepal noch nicht Fuß gefasst hatten und ihnen daher keine Großmacht vor der Sonne stand. Die Bedingungen schienen in Nepal demnach günstig, sich auch als kleine Schweiz im fernen Ausland einen Namen zu machen. So lautete der offizielle Auftrag der Koordinationskommission an das Forward Team auch kurz und knapp, »in Nepal die Möglichkeiten für den Einsatz schweizerischer Dienst- und Sachleistungen abzuklären«42 .
38 | BAR E 7170 (B) 1968/167, Bd. 17, Pallmann an die Mitglieder der Koordinationskommission, 30. Juni 1950. 39 | BAR J.I. 221 1993/125, Nachlass Custer, Sachliche Unterlagen des Nepal Team an Prof. Pallmann, z. H. seines Auftrages an das Koordinationskomitee, 22. Juni 1950. 40 | Zur Spiegelung nationaler Selbstentwürfe durch Entwicklungshilfe vgl. Zürcher, »Globale Positionierung und lokale Entwicklungsfantasien«. Ein extremes Beispiel dafür, wie das Schweizerische Selbstverständnis auf Nepal projiziert und gleichzeitig ein deutliches Gefälle zwischen den beiden Ländern erzeugt wurde, findet sich in einer Helvetas-Kinderbroschüre von 1969, siehe Meffert, Peter und Bir. 41 | Mihaly, Foreign Aid, S. ix. 42 | BAR J. I. 221 1992/44, Schlussbericht des Swiss Nepal Forward Team, August 1951.
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D IE »E XPEDITION « Nach fast zweijähriger Verhandlungs- und Vorbereitungszeit konnte sich das Swiss Nepal Forward Team im Herbst 1950 endlich in Richtung Nepal aufmachen. Mit an Bord waren: Teamleiter und Landesplaner Walter Custer, Bauingenieur Alf de Spindler, Agraringenieur Emil Rauch, Geologe Toni Hagen und rund 500 Kilogramm »Expeditionsgepäck«. Bezeichnenderweise wurde diese erste Erkundungsreise nach Nepal von den Teilnehmern, Behörden und Medien jeweils entweder »Expedition« oder »Mission« genannt. Die Schilderungen der Reise ins unbekannte Nepal erinnern denn auch etwas an die Forschungsberichte der kolonialen Expeditionen der Viktorianischen Ära, als es für die westliche Wissenschaft noch unbekannte Erdteile zu entdecken gab. Im Gegensatz zu den »Armchair«-Geographen, welche die intellektuelle Arbeit zuhause verrichteten, stürzten sich die Feldforscher ins Abenteuer und stellten gerne Mut, Männlichkeit und wissenschaftlichen Fortschrittsdrang zur Schau – in ihrer Heimat genossen sie beinahe Heldenstatus.43 Für die vier Schweizer schien nun die Erkundung Nepals, dessen Hauptstadt Katmandu damals weder mit Flugzeug noch mit Auto oder einem anderen modernen Verkehrsmittel zu erreichen war, eines der letzten, wahren Abenteuer zu sein. Allein schon die Anreise war so eindrücklich für sie, dass sie Eingang in die Berichterstattung und Erzählungen der Teammitglieder fand. Per Schiff und Flugzeug reisten sie nach Indien, wo das Team an der nepalesischen Grenze zusammentraf. Dort wurden sie von lokalen Beamten in Empfang genommen und legten die erste Etappe bequem in einem luxuriösen Salonwagen auf der einzigen, bloß 30 Kilometer langen Zugstrecke Nepals zurück. Danach ging es in einem Automobil der Regierung weiter, doch nach nicht allzu langer Fahrt war beim Übergang vom Tiefland in die gebirgigere Zone auch das Ende der Straße erreicht. Von da aus mussten sie hoch zu Ross und zu Fuß weiter bis ins Katmandutal. Für die letzten zehn Kilometer wurde den Neuankömmlingen schließlich nochmals Komfort im kolonialen Stil geboten. In einer mit Mahagoniholz und rotem Plüsch ausgestatteten Packardlimousine wurden sie zum staatlichen Gästehaus chauffiert.44
43 | Vgl. zu kolonialen Forschungsexpeditionen und Männlichkeitsbildern Kennedy, The Highly Civilized Man, S. 93-130, und Levine, »Introduction: Gender and Empire«, S. 6-7. 44 | Vgl. beispielsweise Hagen »Vom Werden des höchsten Gebirges«, S. 11ff., und Hagen, Brücken, S. 27-33. Toni Hagen erinnert sich in seinen Memoiren folgendermaßen an seine Eindrücke beim Abstieg nach dem ersten Pass: »Im Kulikanital fanden wir zum ersten Mal eine offenbar echt nepalesische Bevölkerung von kleinem Wuchs und mit mongolisch geschlitzten Augen. Ihre malerischen Siedlungen sind bunter, die Häuser besser gebaut als diejenigen im Tiefland und in Indien. Alle Hänge sind terrassiert, und von allen Hängen und Gegenhängen tönten die Wechselgesänge, die von den Sängern und vor allem Sängerinnen vorwegs zu einem Dialog gedichtet wurden und ich bei meinen Wanderungen durch die Hügel noch bis etwa Mitte der 50er Jahre hören konnte. Seitdem sind sie abgesehen von
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Nepal bedeutete eben nicht nur Abenteuer und Exotik, sondern auch eine besondere Behandlung, die man von zuhause nicht gewohnt war. Nach der Ankunft am 19. Oktober 1950 kam es rasch zu Kontaktaufnahmen und Besprechungen mit hohen Regierungsvertretern und zu ersten Exkursionen innerhalb des Katmandutales. Für das Forward Team lief soweit alles ohne Schwierigkeiten. Doch schon kurz nach ihrer Ankunft eskalierten die politischen Unruhen in Nepal. Das seit der indischen Unabhängigkeit stark geschwächte autokratische Regime der Rana-Familie geriet immer stärker ins Taumeln angesichts der erstarkenden Opposition aus einer Koalition von politischen Parteien und König Tribhuvan, der bis dahin nur mit repräsentativen Funktionen ausgestattet war. Anfang November floh der König mit der indischen Regierung im Rücken nach Delhi und die Nepali Congress Partei eröffnete ihren bewaffneten Widerstand gegen die Ranas.45 Offenbar erfassten die vier Schweizer die Dimension der Unruhen nicht und rechneten nicht mit dem baldigen Sturz der über 100-jährigen Herrschaft der Rana-Familie. Zwar waren die Kommunikationsverbindungen ins Ausland zeitweise unterbrochen und die Arbeiten gingen etwas langsamer voran. Ansonsten berichteten sie jedoch von keinen größeren Einschränkungen ihrer Tätigkeit und Sicherheit. Im Briefverkehr mit der Koordinationskommission zeigten die vier Schweizer jedenfalls mehr Bedenken bezüglich der Anwesenheit anderer Ausländer als wegen der politischen Unruhen. War man zu Beginn beruhigt, weil das amerikanische Engagement in Nepal noch gering war, schielte man nun besorgt auf die zunehmenden Aktivitäten der Point-Four-Männer und fürchtete, von diesen überholt zu werden.46 Das Konkurrenzdenken kam indes nicht nur im Wettrennen mit anderen ausländischen Missionen zum Ausdruck, sondern auch in Misstönen gegenüber eigenen Landsleuten. Denn die Wissenschaftler des Forward Teams waren nicht die ersten und einzigen Schweizer mit dem Wunsch nach Pioniertaten im Himalaja. Bereits im Spätsommer 1949 war Professor Albert Heim im Auftrag der Schweizerischen Stiftung für Alpine Forschung (SAF) nach Nepal gereist. Neben geologischen Forschungen im Himalaja war die SAF vor allem von einem Ziel getrieben, der Erstbesteigung des höchsten Berges der Welt: des Mount Everest. Ohne Absprache mit der Koordinationskommission oder dem Forward Team bereiteten sie eine Everestexpedition für 1952 vor. Vor allem Toni Hagen brachte in seinen Briefen in die Schweiz seinen Ärger über die SAF zum Ausdruck. Darin äußerte er seine Befürchtungen über eine Trübung des Verhältnisses zu den nepalesischen Behörden, weil der Everest eigentlich bereits den Briten versprochen worden war. Vermutlich abgelegenen Gebieten verstummt. Die heutige junge Generation kennt sie wahrscheinlich überhaupt kaum mehr. Sie ist zu stark ›entwickelt‹ worden.« Ebd., S. 32. 45 | Whelpton, A History of Nepal, S. 70-73. 46 | BAR J. I. 221 1993/125, Nachlass Custer, Bericht aus Katmandu von Custer an Pallmann, 14. und 18. November 1950.
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versteckte sich hinter seinem Ärger aber auch eine gewisse Portion Eitelkeit und Angst, seine eigenen Taten könnten in den Schatten gestellt werden. Hagen, der auch sonst nicht zimperlich war in seiner Ausdrucksweise, kommentierte die Aktivitäten der SAF bei einem späteren Nepalaufenthalt folgendermassen: »Heim ist auch wieder angemeldet in Nepal. Noch ein Querschläger! Die Schweizer bereiten hier fast ebenso viele Schwierigkeiten wie die verschrienen Orientalen!«47 In offiziellen oder öffentlichen Berichten hüteten sich die Mitglieder des Forward Teams natürlich vor solch explizit herablassenden Bezeichnungen über die Nepalesen wie die der »verschrienen Orientalen«. Vielmehr legten sie großen Wert auf die Abgrenzung vom kolonialen Rassismus und machten betont positive Aussagen über die Nepalesen. Wie weiter unten ausgeführt, werden aber gerade auch in den eigentlich gutgemeinten Beschreibungen unbewusst verinnerlichte koloniale Denkweisen sichtbar. Das Unbehagen angesichts der Schweizer Everestambitionen war allerdings unnötig, da die beiden letztlich erfolglosen Versuche der SAF zur Erstbesteigung die Arbeit des Forward Teams, ähnlich wie die politischen Unruhen, nicht einschränkten.48 Während ihrer zweimonatigen Mission führten sie Vermessungsarbeiten sowie Studien zu Landwirtschaft und Straßenbau durch und verhandelten mit Regierungsbeamten über zukünftige Arbeitsaufträge. Die nepalesische Regierung zeigte sich zufrieden mit den Arbeiten und wünschte, dass Toni Hagen und Emil Rauch noch ein paar Monate länger im Land bleiben würden, ein Angebot, dass diese gerne annahmen.49 In Hagens Beschreibung der Zufriedenheit der nepalesischen Regierung schimmerten die bereits erwähnten schweizerischen Selbstentwürfe durch: »Die Wertschätzung drückte sich sogar im Sprachgebrauch aus: Da bis 1950 nur Engländer das ›verbotene‹ Land betreten durften, wurden alle hellheutigen Fremden als ›englishmen‹ bezeichnet. Als die Amerikaner auftauchten, bezeichnete man sie als ›very rich englishmen‹, während die Schweizer unter dem Namen ›very hard working englishmen‹ bekannt wurden.« 50
Mit der Betonung des schweizerischen Fleißes, der Bescheidenheit und der neutralen Kleinstaatlichkeit grenzte man sich gerne vom imperialen Gebaren der Großmächte ab, was die Experten und Behörden als besonderen Vorteil im Wettlauf um die Entwicklungsländer betrachteten.51 47 | BAR J. I. 221 1993/125, Nachlass Custer, Brief Hagens an Custer aus Katmandu, 10. Februar 1952. In seinen Memoiren zeigte sich Hagen allerdings versöhnlicher und würdigte die Errungenschaften der SAF (vgl. Hagen, Brücken, S. 73-76). 48 | Vgl. Oelz, Everest Lhotse. 49 | BAR J. I. 221 1992/44, Schlussbericht des Swiss Nepal Forward Team, August 1951. 50 | Hagen, Brücken, 43. 51 | Vgl. dazu Hoffmann, »Die Anfänge der Entwicklungszusammenarbeit«, S. 251-52.
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Z UR B EDEUTUNG DER N EPALMISSION Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz zeigten sich die vier Wissenschaftler begeistert von den Forschungs- und Arbeitsmöglichkeiten in Nepal und setzten sich bei der Koordinationskommission vehement für eine Weiterführung des technischen Hilfsprogramms ein. Sie erarbeiteten einen Katalog konkreter Entwicklungsprojekte für ein längerfristiges Engagement in Nepal und überreichten diesen in einem umfassenden Schlussbericht der Koordinationskommission. Vorgesehen war, dass zunächst Schweizer Experten der nepalesischen Regierung für die grundlegende nationale Entwicklungsplanung als Berater zur Seite stehen sollten. Zwar seien die Planungsidee bereits bekannt und erste Regierungsinstanzen geschaffen, aber es fehle noch weitgehend an der notwendigen Systematik und an Arbeitstechniken zur Konkretisierung und Umsetzung von Plänen. Hierfür beantragten sie bei der Koordinationskommission die Schaffung eines Swiss Advisory Board for Technical Assistance to Nepal, das teils von der nepalesischen, teils von der Schweizer Regierung zu finanzieren sei. Im Schlussbericht wurden ebenfalls eine Reihe konkreter Pläne für Projekte skizziert, welche vom interdisziplinären Advisory Board ausgeführt werden sollten. Die Empfehlungen reichten von Infrastrukturprojekten über Vieh- und Landwirtschaft bis hin zum Gesundheits- und Bildungswesen. Aufgrund ihrer eigenen Interessen und jenen von befreundeten Wissenschaftlern wurden außerdem Forschungsprojekte in den Bereichen der Geologie, Botanik und Indologie vorgeschlagen. Was privatwirtschaftliche Aktivitäten betraf, signalisierten sie allerdings Zurückhaltung. Allenfalls später, wenn gewisse Grundstrukturen geschaffen seien, könne man ein direktes Engagement von Schweizer Unternehmen und Sachlieferungen (Exporte) ins Auge fassen.52 Mit ihrer klaren Verabschiedung von der Idee des unmittelbaren Nutzens für die Schweizer Wirtschaft stieß das Forward Team auf wenig Begeisterung bei der Koordinationskommission. Dem Enthusiasmus der Teammitglieder wurde deshalb zunehmend Desinteresse und Ablehnung entgegengebracht. So blieb trotz Anerkennung der geleisteten Arbeit vorerst nicht viel von den umfassenden Vorschlägen für ein schweizerisches Entwicklungsprogramm in Nepal übrig. Dennoch war mit der Mission des Forward Teams der Grundstein für die bis heute andauernde Verbindung zwischen der Schweizer Entwicklungshilfe und Nepal gelegt worden. Zusammen mit anderen Landsleuten reiste Emil Rauch dank des Einsatzes des Direktors der Landwirtschaftsabteilung der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), dem Schweizer Friedrich Traugott Wahlen, 1952 für einen weiteren Arbeitseinsatz nach Nepal. Im gleichen Jahr kehrte auch Toni Hagen nach Nepal zurück, wo er zunächst als direkter Angestellter der nepalesischen Regierung, dann mit Aufträgen der Vereinten Nationen rund zehn Jahre lang lebte und arbeitete.53 Hagen, der unter den Schweizern immer 52 | BAR J. I. 221 1992/44, Schlussbericht des Swiss Nepal Forward Team, August 1951. 53 | Hagen, Brücken, 52-57.
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umstritten war, brachte es in Nepal zu beachtlicher Popularität und gilt aufgrund seiner ausgedehnten geologischen Arbeiten zur Erschließung des Landes, für die er insgesamt über 14.000 Meilen zu Fuß quer durch ganz Nepal marschierte, noch heute als einer der großen Entwicklungspioniere.54 Hagens Leben und Wirken in Nepal wurden fünfzig Jahre später sogar in einem deutschen Dokudrama verfilmt.55 In diesem Film werden die übrigen Teamkollegen allerdings ausgeblendet, womit Toni Hagens scheinbarer Alleingang in Nepal noch abenteuerlicher und mutiger scheint als in seinen Büchern. Des Weiteren gründeten die Mitglieder des Forward Teams zusammen mit Friedensaktivisten und Vertretern religiöser und anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen das erste Schweizer Entwicklungshilfswerk Helvetas, welches Nepal als erstes Partnerland wählte.56 Aus diesem frühen Kreis von Entwicklungshelfern rekrutierte sich nach der Gründung des Dienstes für technische Zusammenarbeit (heute DEZA) 1961 außerdem das Personal für den staatlichen Entwicklungsdienst. Nepal wurde daher eines der ersten Schwerpunktländer der Schweizer Entwicklungshilfe, und vieles, was bereits im Schlussbericht des Forward Teams diskutiert worden war, schlug sich schließlich in den ersten Strategiepapieren der DEZA nieder.57
»A RM , ABER GESUND UND FREUNDLICH « 58 : DER L ATENTE O RIENTALISMUS DES F ORWARD TEAMS Wie der Blick in den Schlussbericht zeigt, verstanden sich die vier Wissenschaftler der ETH keineswegs als simple Technokraten. Vielmehr warfen sie grundlegende Fragen zu der Bedeutung der Hilfe und dem Verhältnis der Schweiz zur Dritten Welt auf. Für sie ging Entwicklungsplanung weit über den rein technischen Bereich hinaus, weshalb sie den Ausdruck der »technischen Hilfe« ablehnten. Außer54 | Vgl. z.B. N. N., »Toni Hagen«, sowie Hagen, »A Foot in Roadless Nepal«. Hagens »Heldentaten« fanden, wie oben erwähnt, nicht nur Eingang in den Film, sondern auch in die Belletristik, beispielsweise in Michel Peissels Tiger for Breakfast, S. 56 ff. 55 | Jochen Breitenstein (Regie), Der Ring des Buddha, Deutschland 2002. Siehe dazu auch http://www.ringdesbuddha.de, Stand 01.03.2011. 56 | Däniker/Stocker, »Das erste Entwicklungshilfswerk«. 57 | Vgl. Hoffmann, » Die Anfänge der Entwicklungszusammenarbeit«, S. 257-58; ebenso BAR E. 2003-03 1976/44, Bd. 15, Konzeption und Ausweitung der schweizerischen Entwicklungshilfe, Dritter Teil: Die Technische Entwicklungshilfe. In diesem Konzept werden drei mögliche Kriterien zur Auswahl von Schwerpunktländern aufgeführt: erstens eine »günstige geographische Lage für die Schweiz (Türkei, Algerien, Tunesien)«, zweitens die »Kleinheit des Landes, die bewirkt, dass die schweizerische Hilfe deutlich zum Ausdruck kommt (Rwanda, Nepal)«, oder drittens »intensive Wirtschaftsbeziehungen oder Präsenz einer aktiven und interessierten Schweizerkolonie (Peru, Brasilien, Indien)«. 58 | N. N., »Eine schweizerische Forschungsexpedition in Nepal«, S. 5.
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dem traten sie den expansionistischen und außenwirtschaftlichen Absichten der Behörden äußerst kritisch entgegen. Wie viele der Schweizer Entwicklungsexpertinnen und Experten der ersten Generation waren sie klar antikolonial eingestellt und wollten mit ihrem Engagement den imperialistischen Machtverhältnissen entgegentreten.59 So schrieb Custer in der Einleitung zum Schlussbericht: »Der Begriff der ›Entwicklung‹ bedarf einer besonders eingehenden Erörterung. Verhältnismässig einfach, klar und unzweideutig war, was das 19. Jahrhundert unter Entwicklung und Erschliessung fremder Länder verstand: deren Einbeziehung in das von Europa aus dirigierte kolonialimperialistisch-kapitalistische Wirtschaftssystem […]. Erschliessung war in erster Linie Ausbeutung neu entdeckter Bodenschätze und dringend benötigter Rohstoffe unter Inanspruchnahme der einheimischen Bevölkerung. Bevölkerungen und Regierungen der sogenannten unentwickelten Länder sind heute nicht mehr gewillt, diese Art der Erschliessung und Entwicklung über sich ergehen zu lassen […]. Die geschichtliche Entwicklung des letzten halben Jahrhunderts hat den früheren Begriff der Erschliessung gewandelt, und wenn wir den Ausdruck ›Entwicklung unentwickelter Länder‹ heute gebrauchen, so muss er eben anders beinhaltet werden. Eigentümlicherweise sind diese Ueberlegungen selbst in der Schweiz, die nie eine eigentliche Kolonialherrschaft ausgeübt hat, noch nicht so geläufig, wie man es angesichts der politischen Ereignisse in Asien, die sich vor uns abrollen, annehmen sollte. […] Wir halten es für überholt, Vorstellungen aus einer vergangenen Welt, die selbst von den Kolonialmächten aufgegeben wurden, in schweizerischer Neuauflage aufleben zu lassen.« 60
Custer lehnte insbesondere eine binäre Teilung der Welt in entwickelte und unterentwickelte Länder ab und bevorzugte eine regionale Differenzierung: »Der Begriff der ›unterentwickelten Länder‹ ist ebenso unzweckmässig, da es kaum eine einfache Teilung der Welt in entwickelte und unterentwickelte Länder gibt. Jedes Land hat entwickeltere und weniger entwickelte Gebiete. Zutreffender wäre es, von einzelnen geographischen Regionen mit charakteristischen Bedingungen zu sprechen. So verstanden ist es wohl angängiger, Regionen mit wirtschaftlich und sozial ausgeglicheneren, glücklicheren Bedingungen von denen mit wirtschaftlich-sozial unbefriedigenden Zuständen, ja von eigentlichen Elendsgebieten zu unterscheiden.« 61
Diese Überlegungen sind bemerkenswert für eine Zeit, als die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Entwicklungstheorien noch relativ neu war. Ökonomen 59 | Vgl. dazu die Zeitzeugenberichte von Immita Cornaz, Serge Chapatte, Noa Zanoli und anderen in: Holenstein, Wer langsam geht, kommt weit, S. 124-129 und 177-187. 60 | BAR J. I. 221 1992/44, Schlussbericht des Swiss Nepal Forward Team, August 1951. Custer verwendet in diesem Zitat den Begriff »unentwickelt« synonym zu »unterentwickelt« und erläutert ihn deshalb nicht weiter. 61 | Ebd.
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wie Walt W. Rostow arbeiteten zwar bereits an Modellen, welche etwas später als Modernisierungstheorie die Entwicklungshilfe prägen sollten.62 Doch zur Zeit des Forward Teams fand zumindest in der Schweiz noch keine eigentliche Debatte über Entwicklungstheorien statt. Vieles von der Post-Development-Kritik lässt sich wohl deshalb hinsichtlich des Forward Teams nicht einfach bestätigen, weil dieses noch nicht dem dominanten Entwicklungsdiskurs der kommenden Jahrzehnte folgte, gegen den die Kritik gerichtet war. Gerade der zentrale Vorwurf der Zweiteilung der Welt in Entwickelte und Unterentwickelte trifft zumindest an der Oberfläche nicht zu. Auch distanzierte sich das Forward Team von machtpolitischen und ökonomischen Interessen. Doch trotz ausdrücklicher antikolonialer Gesinnung zeigten sich selbst bei den Mitgliedern des Forward Teams eine paternalistisch-eurozentrische Einstellung und eine unbewusste Verinnerlichung kolonialer Diskurse. So war mit »glücklichen« Bedingungen selbstverständlich der für sie erstrebenswerte, westeuropäische Lebensstandard gemeint. Die Projektvorschläge mit ihrer klaren Fokussierung auf die schweizerischen Erfahrungen waren so vom Selbstverständnis geprägt, dass das, was gut für die Schweiz auch wünschenswert für Nepal sei. Auch in der immer wieder geäußerten Begeisterung für die Forschungsmöglichkeiten in Nepal schwang eine koloniale »Terra Nullius«-Vorstellung mit.63 Nepal wurde aufgrund seiner nicht kolonialen Vergangenheit und somit verhältnismäßig wenigen Kontakte mit Europäern von westlichen Anthropologen und ausländischen Entwicklungsfachleuten als weißer Fleck auf der Landkarte betrachtet, der noch entdeckt und erforscht werden konnte.64 Dieses Bild des fossilen Staates, welcher erst dank des Einströmens des »weißen Mannes« Mitte des 20. Jahrhunderts aus seinem statischen und mittelalterlichen Zustand gerissen worden sei,65 wurde auch von den Schweizer Medien übernommen. Ein ganzseitiger Artikel des Tages-Anzeigers über die Nepalmission66 macht zudem auch den scheinbaren Widerspruch zwischen antikolonialer Gesinnung und gleichzeitiger Wiedergabe kolonialer Diskurse offensichtlich. Im Artikel, der auf Interviews mit den Experten des Forward Teams basierte, wurde eine klare Abgrenzung zu imperialen Expansionsbestrebungen gezogen. Die bilaterale Hilfe des neutralen Kleinstaates Schweiz sei besonders beliebt, da weder eine koloniale Vergangenheit noch machtpolitische Interessen im Kontext des Kalten Krieges vorliegen würden, argumentierte das Forward Team. Außerdem kritisier62 | Vgl. dazu beispielsweise Speich, »Technokratie und Geschichtlichkeit«. 63 | Castro Valera/Dhawan, Postkoloniale Theorie, S. 13. 64 | Des Chenes, »Is Nepal in South Asia ?«, S. 211-215. Schon vor 1950 hatten die Briten einen ständigen Residenten in Nepal. Auch war Nepal nicht nur aufgrund reger Handelstätigkeit und Migration stets stark regional eingebunden, auch durch die vielen Söldner in der britischen Armee, den sogenannten Gurkhasoldaten, war das Land keineswegs so abgeschottet von internationalen Geschehnissen wie oft dargestellt. 65 | Ebd. 66 | N. N., »Eine schweizerische Forschungsexpedition in Nepal«.
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te es Bundesbehörden und Schweizer Industrie, weil sie zu sehr auf kurzfristige wirtschaftliche Profite aus seien und deshalb eine Weiterführung des Nepalprogrammes nicht adäquat unterstützen würden. Nebst der klar antiimperialistischen Positionierung finden sich allerdings auch Aussagen, welche nicht nur dem postkolonialen Geschichtsbild des Fossilstaates entsprechen, sondern auch durch eine Verniedlichung der Nepalesen ein deutliches Gefälle zwischen fähigen Schweizern und inferioren Einheimischen herstellen: »Dieses Land […] hat in vielen Teilen grosse Ähnlichkeiten mit der Schweiz – nur dass es in seiner Entwicklung eben weit zurückgeblieben ist. Da keine Bahnlinie über dieses Vorgebirge führt, ist leicht verständlich, dass Nepal bis vor kurzem noch einen eigentlichen Dornröschenschlaf hielt und kaum Weisse sah.« Weiter heißt es: »Die Bevölkerung ist arm, aber gesund und freundlich.« Oder: »[Toni Hagen] machte zwei grosse Expeditionen in den Himalaja, bis ins Grenzgebiet von Tibet, wobei er in Regionen kam, in denen bisher noch kein Weisser war. Erwähnenswert ist die Bemerkung Dr. Hagens, dass er während der ganzen Zeit unbewaffnet gewesen und überall von der Bevölkerung zwar als Weltwunder angestaunt, aber freundlich willkommen geheissen worden sei.«67 In solchen wohlwollend gemeinten Aussagen zeigt sich ein latenter Orientalismus68 und damit eine Verhaftung in tief verankerten kolonialen Denkmustern, denen sich die Entwicklungsexperten trotz antikolonialer Gesinnung und kritischer Reflexion nicht entziehen konnten. Bewusst oder unbewusst zogen sie eine klare Grenze zwischen dem »Wir« und den »Anderen«, wobei das Eigene als überlegener Maßstab verwendet wurde. Zwar wurde den Nepalesen ein Entwicklungspotential zugesprochen, aber noch seien sie unschuldige, friedfertige, ja fast kindliche Wesen. Man könnte gar einen Schritt weitergehen und Parallelen zwischen den kolonialen Männlichkeitsidealen und den (Selbst-)Darstellungen der Schweizer Entwicklungspioniere ziehen. Britische Narrative zur imperialen Ausdehnung fokussierten gerne auf die Figur des unerschrockenen Pioniers in wildem Terrain und zeichneten damit ein Idealbild weißer Männlichkeit, welches sich durch physische Stärke, Mut, Fleiß und wissenschaftliche Neugierde auszeichnete. Als Gegenbild dazu wurden die Kolonisierten gerne als schwach und »feminin« beschrieben.69 In den verniedlichenden Darstellungen der Nepalesen und der potenten Präsentation der Schweizer sind durchaus ähnliche Differenzschemen erkennbar. Die Frage, inwiefern der latente Orientalismus vieler (nicht nur schweizerischer) Entwicklungsfachleute im Said’schen Sinne das »Entwicklungsland« Nepal »produziert« habe, drängt sich auf, muss aber an dieser Stelle mangels breiterer Studie offenbleiben.70 67 | Ebd, S. 5. 68 | Zum Konzept des latenten Orientalismus siehe Said, Orientalism, S. 201ff. 69 | Levine, » Introduction: Gender and Empire«, S. 6-7; Kennedy, The Highly Civilized Man, S. 93; Krishnaswamy, Effeminism, 53-70. 70 | Said, Orientalism, S. 201ff.
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S CHLUSSBE TR ACHTUNGEN Angesichts der Entwicklungshilfe als neue Bundesaufgabe tat sich eine deutliche Kluft zwischen den Vorstellungen und Erwartungen der Bundesbehörden und der ETH-Experten auf. Erstere betrachteten sie primär als Instrument zur Ausdehnung des wirtschaftlichen und politischen Spielraumes im internationalen Wettlauf um neue Absatzmärkte. Letztere lehnten diese neokolonialen Ambitionen klar ab, weil sie diese weder für realistisch hielten, noch mit ihrer antiimperialistischen Gesinnung vereinbaren konnten. Doch auch für die Wissenschaftler des Forward Teams war die Entwicklungshilfe keineswegs bloß eine humanitäre, selbstlose Verpflichtung. Für sie war Nepal ein wunderbares Spielfeld, auf dem sie ihren Jugendträumen und ihrem Forschungsdrang nachgehen konnten. Auch bot ihnen Nepal eine Bestätigung des Eigenen im Fremden, sahen sie im fremden Land doch eine Art primitive, unverdorbene Version der Schweiz, wo sie – anders als in der Heimat – noch wahre Pioniertaten vollbringen konnten. Aber wie sich die Akteure der frühen Schweizer Entwicklungshilfe auch immer positionierten, für alle stellte die Erfahrung von Kolonialismus und Dekolonisierung einen zentralen Bezugspunkt dar. Wie im vorliegenden Aufsatz aufgezeigt, waren die damaligen Experten trotz teilweise kritischen Reflexionen und antiimperialistischer Haltung nicht davor gefeit, selber die eurozentrischen, hierarchisierenden Diskurse zu reproduzieren, welche sie eigentlich ablehnten. Trotzdem handelte es sich bei der Entwicklungshilfe nicht einfach um eine »schweizerische Neuauflage« kolonialer Expansion. Vielmehr war sie in ihren Anfängen gerade ein spezifisch »post-koloniales«71 Projekt. Die Dekolonisierungsprozesse eröffneten der Schweiz neue Handlungsspielräume und verstärkten das Interesse zivilgesellschaftlicher Akteure an einer Neugestaltung der Nord-Süd-Beziehungen. Letztere übten in den 1950er und 1960er Jahren besonders durch das Hilfswerk Helvetas mit seinen Nepalprojekten Einfluss auf die Gestaltung der staatlichen Entwicklungsplanung aus. Ein weiteres wesentliches Merkmal der postkolonialen Entwicklungspartnerschaften war, dass die Initiativen aus den Empfängerländern kamen. Die Schweizer konnten nur auf Einladung hin aktiv werden und waren aufgrund ihrer Unerfahrenheit stark auf das Wohlwollen und die Unterstützung der lokalen Behörden und Partner angewiesen. Wie sich dadurch die Machtverhältnisse zwischen Schweizern und Nepalesen im Feld gestalteten, kann hier nicht beantwortet werden. Doch immerhin zeigt das Beispiel des Forward Teams wie die frühe Schweizer Entwicklungspraxis nicht einfach einer in Bern entworfenen politischen und ökonomischen Logik folgte, sondern vielmehr ein Produkt internationaler Trends, nationaler Interessen, individueller Ambitionen und nicht zuletzt auch von Zufällen war.
71 | Im temporalen Sinne.
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Im Kampf gegen das »heimliche Imperium« Entwicklungspolitik und postkoloniale Kritik in der Schweiz seit 1970 Konrad J. Kuhn Die in den 1970er Jahren in der Schweiz entstehende entwicklungspolitische Dritte-Welt-Bewegung kritisierte früh ethnozentrische Perspektiven und neokoloniale Kontinuitäten von Schweizer Akteurinnen und Akteuren in den Bereichen Wirtschaft, Finanzplatz, Kultur, Wissenschaft und Entwicklungspolitik.1 Damit verhalf sie einer Perspektive zu breiterer Aufmerksamkeit, die aus der Überwindung des Kolonialismus und aus den Erfahrungen des Fortbestehens der Ausbeutungsverhältnisse entstanden war. Sie stützte sich dabei einerseits auf dependenztheoretische und marxistische Analysen und Positionen, um sowohl die internationale Arbeitsteilung als Erbe des Kolonialismus als auch neokolonialistische Wirtschaftsund Herrschaftsstrukturen zu kritisieren. Zusätzlich war die Bewegung auch wesentlich geprägt von den sozialpsychologischen und antikolonialen Debatten um Ethnozentrismus und Rassismus und von der neuentstehenden Disziplin der interkulturellen Beziehungen, die Wissensordnungen analysierte und zugleich westliche Kultursysteme relativierte. So entwickelten entwicklungspolitische Gruppen Sichtweisen, die bereits vor der eigentlichen theoretisch-konzeptionellen Begründung der postcolonial studies zentrale Frage- und Problemstellungen dieses Konzepts eingenommen haben. Dieser Umstand der partiellen Nähe entwicklungspolitischer und postkolonialer Fragestellungen und Diskurse liegt in deren gemeinsamen Wurzeln begründet: Zum einen spielten für beide antikoloniale Unabhängigkeits- und Befreiungskämpfe wie auch die von diesen herausgeforderten Intellektuellen und ihre Schriften eine prägende Rolle. Zum anderen war auch eine dekonstruktivistische Sicht zentral, von der aus westliche Epistemologien kritisiert und die eurozentrische – primär strukturelle – Gewalt theoretisiert wurde,
1 | Für Hinweise und hilfreiche Kommentare danke ich Béatrice Ziegler und Bernhard C. Schär.
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wie dies die drei Leitfiguren des Postkolonialismus Edward W. Said, Gayatri C. Spivak und Homi K. Bhaba ab Ende der 1970er Jahre getan haben.2 Im vorliegenden Beitrag soll anhand von zwei Beispielen der in der Schweiz artikulierten frühen Kritik an einer »kolonialen Schweiz« nachgegangen werden. Diese Kritik wies vehement auf durch koloniale Sichtweisen und Prägungen gestaltete Faktoren und die Verstrickungen zwischen der Schweiz und dem kolonialen Raum hin, die für die Schweiz bisher verdrängt worden waren. Einerseits ist hier das ab 1975 in der Schweiz erstmals öffentlich thematisierte Fortdauern von kolonialistischen und rassistischen Texten und Bildern besonders in der Kinder- und Jugendliteratur von Interesse. In einer – im heutigen Sinn – postkolonialen Begrifflichkeit antizipierte die entwicklungspolitische Organisation Erklärung von Bern (EvB) die Frage nach Differenzdiskursen in der Schweiz und wies damit erstmals auf die Prägung der Populärkultur der Schweiz durch koloniale Wissensbestände und ethnozentrische Wissensordnungen hin. Sie stützte sich dabei vor allem auf Anfang der 1970er Jahre im Rahmen der Unesco erstellte Studien zum Bild der »Dritten Welt« in Schulbüchern. Indem sie auf die Macht der Repräsentationen von Kulturen durch die dominante westliche Kultur hinwiesen, hatten diese Studien für die Schweiz die Bedeutung von Kultur und Identität in die entwicklungspolitische Diskussion eingebracht und die Kontinuität von Rassismus und Ethnozentrismus in visuellen und textuellen Repräsentationen von Kolonialismus hervorgehoben. Andererseits wird die Sichtbarmachung von neokolonialen Kontinuitäten bei Schweizer Wirtschaftsunternehmen und Rohstoffhändlern dargestellt, die 1986 von der EvB formuliert wurden. Zwar war diese Thematisierung nicht die erste, die am Beispiel von Schweizer Firmen das Andauern von in einem kolonialen setting etablierten Ausbeutungsstrukturen bis in die Gegenwart kritisierte. Während frühere Untersuchungen aber nur auf die ökonomischen Fakten hingewiesen hatten, nutzte die EvB diese Forschungsergebnisse erstmals als Hinweis auf die Wirkungsmacht und Prägekraft der unabgeschlossenen Kolonialperiode und machte so Wirtschaftsakteure und -akteurinnen innenpolitisch kritisierbar. Darin entsprach sie der späteren – und in einem postkolonialen theoretischen Rahmen gewonnenen – Einsicht, dass die historische koloniale Erfahrung für die Entwicklung und Existenz der westlichen Moderne sehr wirkmächtig war.3
2 | Vgl. hierzu u.a. Reuter/Villa, »Provincializing Soziologie«, S. 18-21, und Ha, »Postkoloniale Kritik«, S. 266-269. Grundlegend Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie, und Young, Postcolonialism. Eine konzise Übersicht und Zusammenfassung der postkolonialen Theorien und Kritik daran findet sich auch bei Dietrich, Weiße Weiblichkeiten, S. 25-34. 3 | Vgl. dazu Chatterje, »A Brief History«, S. 101. Weiterführend Cooper, Colonialism in Question, S. 113-149, und Escobar, Encountering Development. Zu dem Weiterwirken des Kolonialismus und seinen Auswirkungen siehe Osterhammel, Kolonialismus, S. 100-111 und 122-124. Die Sklaverei als Beispiel für den ambivalenten Zusammenhang zwischen Moderne und kolonialistischem Denken präsentiert Ziegler, »Sklaven und Moderne«.
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In den folgenden Ausführungen wird es nicht darum gehen, die jeweils von entwicklungspolitischer Seite geäußerte Kritik an kolonialen Denkmustern und Verstrickungen inhaltlich darzulegen und so die Aussagen und Plausibilitätsanstrengungen der Aktivistinnen und Aktivisten aus der schweizerischen entwicklungspolitischen Bewegung wiederzugeben. Ziel des Beitrags ist es vielmehr, deutlich zu machen, in welchen Zusammenhängen und mit welchen Argumenten kritische Sichtweisen auf koloniale Kontinuitäten und ethnozentrische Perspektiven in der Schweiz in den 1970er und 1980er Jahren eingebracht wurden. Mit einer solchen Metaebene soll gleichsam ein Beitrag zu einer Geschichte der postkolonialen Kritik in der Schweiz geleistet werden.4 Denn die schweizerische Dritte-Welt-Bewegung hat wesentlichen Anteil daran, dass eine postkoloniale Kritik avant la lettre das auch in der Schweiz bestehende »koloniale Archiv« aufgedeckt und kritisierbar gemacht hat. Indem sich diese frühe entwicklungspolitische Kritik und die postcolonial studies auf gemeinsame theoretische sowie politische Positionen abstützen, bedarf die aktuelle geschichtswissenschaftliche – aber auch interdisziplinäre – Debatte über die Verbindungen und Rückwirkungen zwischen der Schweiz und dem kolonialen Raum einer zeithistorischen Erweiterung. Indem den gemeinsamen Wurzeln der theoretischen Analyse und der Wechselwirkung zwischen einer kritischen Entwicklungspolitik/-theorie und den postcolonial studies, aber auch den Differenzen zwischen entwicklungspolitischer und postkolonialer Kritik nachgegangen wird, werden die Chancen und Grenzen postkolonialer Theorie für die Schweiz erkennbar und es kann zugleich der Wirkungsmacht kolonialer Projektionen nachgegangen werden.
E NT WICKLUNGSPOLITISCHE S OLIDARITÄT – DIE D RIT TE -W ELT -B E WEGUNG IM » VERLORENEN J AHRZEHNT « Die imperialismuskritischen und antikolonialen Diskurse wurden getragen von Akteurinnen und Akteuren der schweizerischen Dritte-Welt-Bewegung, deren Geschichte in den 1960er Jahren beginnt. Bereits früh engagierten sich in der Schweiz und in anderen europäischen Ländern kirchliche Akteure und Akteurinnen für die Bevölkerung der ehemaligen Kolonien in Lateinamerika, Afrika und Asien, die sie als benachteiligt wahrnahmen. Erst als Folge der Bewegungen nach 1968 aber wurde aus dieser paternalistischen Entwicklungshilfe eine kritisch verstandene und emanzipatorische Wirkung entfaltende Entwicklungspolitik, die 4 | Dabei soll keineswegs eine Beschränkung von postkolonialen Fragestellungen auf den nationalen Raum »Schweiz« im Sinne eines »methodologischen Nationalismus« (vgl. Castro Varela/Dhawan, »Mission Impossible«, S. 309) postuliert werden, allerdings erscheint es sinnvoll, den in den Quellen feststellbaren starken kommunikativen Fokus der entwicklungspolitischen Dritte-Welt-Bewegung auf die schweizerische Bevölkerung ernstzunehmen und nicht durch transnationale Blickwinkel zu überdecken.
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auf die Befreiung der Menschen von Unterdrückung und Abhängigkeit zielte. So bildeten sich in Hochschul- und kirchlichen Kreisen Gruppen, die sich mit den Menschen, und konkret mit den Befreiungsbewegungen, der Dritten Welt solidarisch erklärten und über Öffentlichkeitskampagnen in den nördlichen Ländern ein Bewusstsein für die Probleme der Dritten Welt zu schaffen versuchten. Die Thematik erhielt sowohl aus den Studentenbewegungen um 1968 mit ihrem Engagement für internationale Solidarität, Antikolonialismus und Antiimperialismus als auch von der Friedensbewegung und aus Kreisen einer kritischen Theologie wichtige Impulse. Von den neuentstandenen entwicklungspolitischen Gruppen wurden außenwirtschaftliche und innenpolitische Reformen gefordert und damit der Nord-Süd-Konflikt im öffentlichen Bewusstsein stärker verankert. Es wurden Veränderungen der – in einer dependenztheoretischen Position als ungerecht empfundenen – Strukturen der Weltwirtschaft gefordert, wobei zentraler Kritik- und Ansatzpunkt des entwicklungspolitischen Engagements die schweizerischen Finanz- und Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und den Entwicklungsländern waren.5 Diese Bewegung stand zu Beginn der 1980er Jahre unter Druck; dies einerseits aufgrund der Erfahrungen von Opposition und Unterdrückung in Lateinamerika und im südlichen Afrika während der 1970er Jahre, andererseits waren viele Hoffnungen in unabhängige Entwicklungswege enttäuscht worden, beispielsweise in China oder im Ujamaa-Sozialismus Tansanias. Unter dem Eindruck der sich ökonomisch und politisch verschlechternden Situation im Verlauf der 1970er Jahre durch die Ölkrise und den Zerfall der Rohstoffpreise hatte sich ein Teil der Aktivistinnen und Aktivisten zurückgezogen und Gefühle von »Machtlosigkeit, Resignation, häufig auch zynischer Pessimismus«6 waren aufgetaucht. Die Hoffnungen, dass sich in den Ländern bald Veränderungen ergeben würden, schwanden; die Korruption der Eliten in der Dritten Welt und zugleich auch die Repression gegen die als »antiimperialistisch« verstandenen Basisgruppen nahmen zu. Daher wurde auch eine von der Bewegung angestrebte »Bewusstseinsarbeit« bei der schweizerischen Bevölkerung deutlich schwieriger, die über die weltwirtschaftlichen Strukturen und die gegenseitige Bedingtheit von Armut im Süden und Reichtum im Norden informierte. Mit diesen Erfahrungen kontrastierte die Breite der Bewegung: Im Laufe der 1970er Jahre war eine Vielzahl von Solidaritätskomitees, länderspezifischen Aktionsgruppen und Organisationen entstanden, die meist von jüngeren Aktivistinnen und Aktivisten belebt wurden. Die entwicklungspolitische Dritte-Welt-Bewegung in der Schweiz zeichnete sich – wie ihre Bewegungspendants in anderen europäischen Ländern – durch eine dezidiert politische und kämpferische Sichtweise auf die Vorgänge in der Dritten Welt aus, war politisch deutlich links und scheute sich nicht, die Machtverhältnisse im »Gehirn des Ungeheuers zu bekämpfen«, wie Ernesto »Che« Guevara dies zum 5 | Grundlegend Kuhn, Entwicklungspolitische Solidarität. Vgl. auch Holenstein, Was kümmert uns die Dritte Welt, und Kalt, Tiermondismus. 6 | Mäder, Ueli, »Der Entwicklungskuchen«, S. 14-15.
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späteren Nationalrat und Soziologieprofessor Jean Ziegler gesagt haben soll, den Kampf gegen die Ausbeutung also in der Schweiz zu führen.7 Die entwicklungspolitischen Gruppen und die operativen Hilfswerke radikalisierten sich durch die enttäuschenden Erfahrungen der 1970er Jahre, so dass die »Bewusstseinsarbeit« in der Schweiz einen erhöhten Stellenwert erhielt.8 Ziel dieses entwicklungspolitischen Engagements und der so verstandenen internationalen Solidarität war die Kritik an den Ausbeutungs- und Machtverhältnissen zwischen der Dritten Welt und der Schweiz, die auch in den Bereichen der rassistischen Stereotypisierungen und der multinational tätigen Schweizer Wirtschaftsunternehmen wirkten.
»J EDER IST EIN K ANNIBAL , S PÄHER AUS DEM N EGERKR AL« 9 – R ASSISMUS UND E THNOZENTRISMUS IN K INDER UND J UGENDBÜCHERN Die entwicklungspolitische Bewegung in der Schweiz antizipierte den Fokus auf die visuellen und textuellen Repräsentationen von Kolonialismus und auf die Kontinuität von Rassismen und Ethnozentrismen, auf welche die postcolonial studies später mit Vehemenz hinweisen sollten. Eine der zentralen Organisationen der zivilgesellschaftlichen entwicklungspolitischen Bewegung in der Schweiz war die Erklärung von Bern/Déclaration de Berne/Dichiarazione di Berna. Diese Organisation wurde – kaum zufällig – 1968 aus dem Umkreis reformierter Theologen als Manifest mit dem Ziel gegründet, die Beziehungen der Schweiz zur Dritten Welt grundlegend zu verändern. Aus dem ursprünglichen Manifest entstand ein gesamtschweizerischer Verein, der einerseits zu einem Sammelbecken für mit Entwicklungsfragen beschäftigte Aktivisten wurde und eng mit den studentischen und linken Gruppierungen zusammenarbeitete, sich andererseits zu einer Organisation für politische Öffentlichkeitsaktionen entwickelte, die erhebliche Deutungsmacht über Fragen der Entwicklungszusammenarbeit und der internationalen Solidarität erlangte. Der zentrale Impuls für die entwicklungspolitisch ausgerichtete Auseinandersetzung mit Ethnozentrismus und manifestem Rassismus ging von der Analyse des Bildes der Dritten Welt in Geschichtsbüchern aus, die zwischen 1971 und 1974 im Auftrag der Unesco auch in der Schweiz unter der Leitung von Roy Preiswerk als Professor am Institut Universitaire d’Etudes du Développement (IUED) in Genf 7 | Jean Ziegler war 1964 auf einer Zuckerkonferenz in Genf Fahrer des kubanischen Ministers Guevara. Die nicht verbürgte Episode erzählt er seither mehrfach, vgl. dazu das Interview im Télévision Suisse Romande vom 21. Juli 2002. Vgl. den Ausdruck aber auch in seinem Buch, Ziegler, Schweiz, S. 11. 8 | Eine Übersicht dazu bei Kuhn, »Der Kampf der Entrechteten«. 9 | Zitat aus dem Kinderbuch »Globi und Käpten Pum«, 1. Auflage Zürich 1944, vgl. dazu Symposium der Solidarität (Hg.), Schwarzbuch, S. 20f.
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erforscht worden waren.10 Grundprämisse dieses Forschungsprojekts war die konfliktträchtige Existenz von »gängigen Vorurteilen« in Kulturkontakten, die durch die »Einübung von Toleranz und solidarischem Verhalten« abgebaut werden könnten.11 Theoretisch basierte die Untersuchung auf psychologischen Zugängen zum Phänomen »Ethnozentrismus«, wie sie der Sozialpsychologe Donald T. Campell seit 1960 präsentiert hatte, und zeigte damit zugleich die Etablierung der »Entwicklungsstudien« als eine eigenständige Sozialwissenschaft an.12 Vor allem die 1952 erschienene Studie Schwarze Haut, weiße Masken des Psychiaters und Befreiungstheoretikers Frantz Fanon thematisierte die Folgen kolonialer Unterdrückung und prägte damit herrschaftskritische wissenschaftliche Positionen in Richtung einer Befreiung von hegemonialen Sichtweisen und Praktiken.13 Darin und in anderen antikolonialen Werken von Theoretikern der Négritude wurde der Kolonialismus erstmals als wechselseitiger Prozess gefasst, der nachhaltige Auswirkungen sowohl bei den Kolonisierten als auch bei den Kolonisatoren zeitigte. Damit hinterfragten diese Arbeiten essentialistische Sichtweisen auf Kulturen und überwanden zugleich marxistische Positionen insofern, als sie kulturelle Dimensionen in
10 | Preiswerk/Perrot, Ethnocentrisme et histoire. Roy Preiswerk (1934-1982) studierte Politikwissenschaften und Recht an den Universitäten Genf und Minneapolis, arbeitete von 1963 bis 1965 im Dienst für technische Zusammenarbeit, war von 1966 bis 1969 Professor am Institute of International Relations in Trinidad, ab 1973 bis zu seinem frühen Tod Professor für »relations internationales et d’études au devéloppement« an der Universität Genf. Seine Forschungsgebiete umfassten interkulturelle Beziehungen, Entwicklungspolitik und internationale Friedenspolitik, vgl. dazu Barrelet, »Preiswerk, Roy«; Strahm, »L’engagement«, und Preiswerk, A contre-courants, S. 247-248. 11 | Aktion 3.-Welt-Kinderbücher, Aktion von EvB, Schulstelle 3. Welt und Unicef, August 1978, EvB-Archiv SozArch Ar 430.17.6, und »10 kleine Negerlein … machen nicht mehr mit!« Redemanuskript Regula Renschler (EvB), 15. August 1974, S. 6, EvB-Archiv SozArch Ar 430.17.5. 12 | Zur Definition und theoretischen Fassung von Ethnozentrismus vgl. Preiswerk/Perrot, Ethnocentrisme et histoire, S. 49-61. Vgl. zur sozialpsychologischen Definition von Ethnozentrismus auch den Band von LeVine/Campell, Ethnocentrism. Die bisher kaum erforschte Geschichte des Institut d’Etudes du Développement, das 1973 aus dem Institut africain de Genève hervorging, wäre in diesem Sinne auch als Wissensgeschichte der Entwicklungstheorie zu verorten. 13 | Fanon, Peau. Vgl. bei Preiswerk/Perrot, Ethnocentrisme et histoire, S. 57 und 372, die Bezugnahme auf Frantz Fanon, weitere Autoren der Négritude wie Léopold Senghor oder Aimé Césaire werden ebenfalls mehrfach einbezogen, vgl. aber auch die kritischen Bemerkungen gegen die Négritude als »negativer weisser Ethnozentrismus« bei Preiswerk, Entwicklungshilfe, S. 23-24 und 28. Auch bei Renschler/Preiswerk, Das Gift der frühen Jahre, S. 33, findet sich der Verweis auf Fanon. Zu Fanon generell siehe Eckert, »Predigt der Gewalt?«.
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die Debatte einführten.14 Zusätzlich erfuhren die Debatten Prägungen von Studien, die seit den 1960er Jahren vor allem in der Ethnologie vorgestellt worden waren15 und mit denen sich die neue wissenschaftliche Disziplin der »interkulturellen Beziehungen« zu etablieren begann. Es war in der Schweiz vornehmlich Roy Preiswerk als Pionier der »Respektierung der kulturellen Grundlagen in der Entwicklungszusammenarbeit«16, der diese Perspektive zwischen den anerkannten Disziplinen wie der Anthropologie, der Sozialpsychologie, der Geschichtswissenschaft und vergleichenden Studien ansiedelte und sie als idealen Zugang zum »gewaltigsten Kulturkonflikt der Weltgeschichte« – der »sogenannten ›Entwicklung‹ der ebenfalls sogenannten ›Dritten Welt‹«17 betrachtete. Gerade die aus dem Aufeinanderprallen von unterschiedlichen Wertvorstellungen und Verhaltensweisen entstehenden Konflikte in einer stark ökonomistisch und modernisierungstheoretisch ausgerichteten Entwicklungshilfe verdienten Forschungsaufmerksamkeit – so Preiswerk –, womit der kulturelle Aspekt in den »Entwicklungsstudien« zukünftig zentrale Bedeutung erlange.18 Auf diese Weise setzte die neue Disziplin dazu an, die behauptete und unterstellte Differenz zwischen dem »Westen« und dem »Rest« der Welt als bisherige Grundannahme der sozialwissenschaftlichen Theorie zu überwinden.19 Konkretes Ziel des Unesco-Projekts war die Sensibilisierung der Schulkinder im »Bereich Solidarität und Dritte Welt«, wobei es sich darin mit den seit 1973 laufenden Anstrengungen des World Council of Churches im Rahmen des Program to Combat Racism traf. Eurozentristische Überheblichkeit und Rassismus sollten durch Verständnis, Toleranz und Offenheit abgelöst werden. Allerdings zeigten erste Studien für die Schweiz bald, dass die Entwicklungsthematik in den Schulen kaum vorkam und nur wenige Lehrmittel dazu existierten.20 An diesem Punkt nahm die 14 | Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie, S. 16-17, 20-21 und 127-128. 15 | Vgl. die ausführlichen Literaturhinweise in Preiswerk, A contre-courants, mit Bezügen auf Johan Galtung, Gunnar Myrdal, Rodolfo Stavenhagen und Joseph Ki-Zerbo, aber auch auf Jean Piaget. Vgl. weiterführend Preiswerk, »Identité culturelle«. 16 | Aussage der ehemaligen DEZA-Mitarbeiterin und Ethnologien Noa Zanolli in Holenstein, Wer langsam geht, S. 184. 17 | Preiswerk, »Interkulturelle Beziehungen«, S. 34. 18 | Ebd., S. 37. Vgl. bereits die pionierhaften Überlegungen zur Entwicklungshilfe als »kulturelles Produkt des Westens« in Preiswerk, Entwicklungshilfe, bes. S. 38-45. Eine Übersicht über die Debatte über Kultur in der Entwicklungstheorie (geprägt vor allem von Dieter Senghaas) bei Braun/Rösel, »Kultur und Entwicklung«. 19 | Hall, »The West and the Rest«. 20 | Vgl. zur breitangelegten Unesco-Studie, an deren Umsetzung in der Schweiz zwischen 1971 und 1975 auch Regula Renschler mitarbeitete, die entsprechenden Dokumente und Studien in EvB-Archiv SozArch Ar 430.91.1 und Ar 430.91.3. Vgl. auch Renschler, Regula, »Weg mit den abendländischen Scheuklappen. Schule und Dritte Welt«, in: National Zeitung-Panorama, 31. März 1973, EvB-Archiv SozArch Ar 430.91.2, und Holenstein/Rensch-
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EvB ab 1975 die Anstöße der internationalen Organisationen in Richtung einer »Erziehung zur Solidarität« auf und trug sie gemeinsam mit der von den schweizerischen Hilfswerken 1974 gegründeten Schulstelle Dritte Welt in eine schweizerische Öffentlichkeit.21 Die Thematik diente den Aktivistinnen und Aktivisten der entwicklungspolitischen Bewegung zentral auch dazu, eine »breite Schicht von Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen und Lehrern für die 3. Welt-Thematik«22 zu mobilisieren. Ursprüngliches Ziel war es gewesen, Alltagsschilderungen und Identifikationsfiguren aus den Ländern der Dritten Welt für die Schweizer Kinder und Jugendlichen zu sammeln, um so eine solidarische Haltung, die Bewusstseinsbildung und Sensibilisierung der Kinder und Jugendlichen für die Anliegen der Menschen der Dritten Welt zu unterstützen. Zu diesem Zweck sollten Ausleihbibliotheken mit entsprechender Literatur bereitgestellt werden und diese auch im Schulunterricht Anwendung finden. Die konkrete Arbeit wurde in der EvB von drei Arbeitsgruppen geleistet, die sich mit Kinderbüchern und Jugendliteratur befassten. Diese Arbeitsgruppen setzten sich aus Eltern, Lehrpersonen, Schülern, Buchhändlerinnen, Entwicklungsexperten und sogenannten Missionarsfrauen zusammen. Bei der konkreten Auseinandersetzung mit den Texten stieß die Gruppe auch hier auf starke ethnozentrische Perspektiven und teilweise auf kaum verhüllten inhaltlichen oder ikonographischen Rassismus. Um auf diesen Missstand aufmerksam zu machen, stellte die EvB-Fachsekretärin Regula Renschler zusammen mit den Gruppen der freiwilligen Leserinnen und Lesern 1975 eine Auswahlliste von empfehlenswerten Kinder- und Jugendbüchern zusammen, in der die Bücher nach verschiedenen Altersstufen geordnet aufgeführt waren. Beeinflusst von der Arbeit des US-amerikanischen Council on Interracial Books for Children23 wurden folgende Punkte als Kriterien für die ausgewählten Bücher festgelegt: ler/Strahm, Entwicklung heisst Befreiung, S. 105-108. Den Einfluss des WCC und seiner Rassismusdefinition an der Vollversammlung in Uppsala 1968 auf die Arbeit der EvB zeigt sich in EvB-Archiv SozArch Ar 430.91.2, Dossier 1. 21 | Diese Bezeichnung trug eine Studie zu »Schule und Dritte Welt in der deutschen Schweiz« von Regula Renschler, die 1974 im Auftrag des Pariser Institut de Recherche et de Formation unter der Aufsicht der Unesco und der FAO veröffentlicht wurde, vgl. EvB-Archiv SozArch Ar 430.91.3. An der EvB-Tagung in Gwatt vom 23./24. November 1974 bildeten sich unter der Leitung von Regula Renschler Arbeitsgruppen, die die Thematik weiterverfolgten, vgl. Holenstein/Renschler/Strahm, Entwicklung heisst Befreiung, S. 223. 22 | Weiterführung der Aktion 3. Welt-Kinderbücher, 10. September 1979, EvB-Archiv SozArch Ar 430.17.6. 23 | 10 Quick Ways to Analyze Children’s Books For Racism and Sexism, The Council on Interracial Books for Children (New York), undatiert (ca. 1975), EvB-Archiv SozArch Ar 430.91.2. Vgl. dazu auch die Faltblätter »Rassismus in Kinderbüchern. 10 Kriterien für eine rasche Analye« und »Le racisme dans ley livres d’enfants. Questions pour uns lecture critique«, Erklärung von Bern, undatiert (ca. 1979 bzw. 1986), EvB-Archiv SozArch Ar 430.70.2.
I M K AMPF GEGEN DAS » HEIMLICHE I MPERIUM « »Die Bücher sollen ein möglichst anschauliches, wahrheitsgetreues Bild vom Leben in der Dritten Welt vermitteln: sie sollen Verständnis und Sympathie wecken für andere Lebensformen und andere Lebensnormen; sie sollen gängige Vorurteile abbauen (zum Beispiel das hartnäckige Vorurteil vom faulen Neger) und die Situation in der Dritten Welt nicht als schicksalhaft und unabänderlich darstellen.« 24
Im Frühjahr 1976 veröffentlichte die Redaktionskommission dann erstmals die Broschüre Dritte Welt: Empfehlenswerte Kinder- und Jugendbücher, die eine Liste von 80 Titeln enthielt, die kein »verzerrtes Bild vom Leben der Menschen in der Dritten Welt«25 vermittelten. Abgelehnt wurden Bücher, in denen Erlebnisse und Erfahrungen von Weißen im Zentrum stehen, in denen die Einheimischen vom Standpunkt der Weißen aus beurteilt wurden oder in denen die »weiße Zivilisation« als einzig möglicher Fortschritt dargestellt wurde. Diese Broschüre wurde zu einem enormen Erfolg, auch durch den von zwei Hilfswerken finanzierten Versand in 3200 Schulhäuser in der gesamten Schweiz. In den folgenden Jahren erschien die Broschüre in Überarbeitung und in immer neuen Auflagen. Zwei Beispiele von kritisierten und weitverbreiteten Schweizer Kinderbüchern waren die äußerst beliebten Globi-Bücher und die Ringgi-und-Zofi-Bände des Ringier-Verlags in Zofingen. Vor allem in den frühen Globi-Büchern mit den Titeln Globis Weltreise (1935, Neuauflagen 1970 und 1978), Mit Globi und Käpten Pum um die Welt (1944, Neuauflage 1971) und Freund Globi im Urwald (1950, Neuauflage 1980) fanden die Aktivistinnen und Aktivisten Rassismus, etwa die dümmlich-naiven Schwarzen oder heimtückische und verschlagene Beduinen, aber die Texte spiegelten auch die weiße Überheblichkeit und den kolonialen Rassismus.26 Diese Bücher erlebten in der Schweiz Rekordauflagen von bis zu 200.000 Exemplaren, und auch ältere Bände wurden immer wieder neu aufgelegt.27 Auch an den Bilderbuchgeschichten von Ringgi und seinem Hund Zofi, die Forschungs- und Abenteuerreisen in fremde Länder unternehmen, wurde die stereotype diskriminierende Darstellung 24 | Empfehlenswerte Kinder- und Jugendbücher zum Thema Dritte Welt, undatiert (ca. 1975), EvB-Archiv SozArch Ar 430.70.2, Dossier 3. 25 | Vgl. Renschler, Regula, »Weder Engel noch Teufel«, in: Wendekreis 4/1976, EvB-Archiv SozArch Ar 430.91.2. 26 | Renschler, »›Neger hat er just erblickt‹«. Wie eine Untersuchung zu dem kürzlich erschienenen Globi-Buch Globi und Panda reisen um die Welt (1996) zeigt, hält sich dabei die postkoloniale Ordnung hartnäckig, auch wenn diese nicht mehr nur rassistische Stereotype fortschreibt, sondern auch das Bild des »humanitären Helfers« konstituiert, vgl. Purtschert, »›Heute bedankt sich Naresh Khan‹«, S. 79-81. 27 | Zur Kritik an Globi siehe Bellwald, Globi, S. 163-167. Die Autorin kommt zu einem pauschalisierenden Urteil und spricht die Globi-Geschichten vorschnell vom Rassismusvorwurf frei, aber immerhin erkennt sie an, dass die Auseinandersetzung mit Ethnozentrismus in Kinderbüchern einer selbstkritischen Reflexion bedarf. Vgl. auch Purtschert, »Postkoloniale Diskurse«.
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von Menschen aus anderen Ländern moniert. Die Arbeit der EvB und von Regula Renschler verknüpfte sich dabei ideal mit anderen Anlässen: 1978 stand die Frankfurter Buchmesse unter dem Thema »Jugendbuch und 3. Welt« und im selben Jahr veranstaltete der Weltkirchenrat in Deutschland eine internationale Tagung, die dem Kampf gegen Rassismus in Kinderbüchern weitere Aufmerksamkeit bringen sollte.28 Zu Beginn der 1980er Jahre waren die Kritik an Rassismus und Ethnozentrismus – und damit kulturelle und diskursive Aspekte der Folgen des Kolonialismus – zu wichtigen entwicklungspolitischen Themen geworden. Ein Indiz dafür ist die an einem entwicklungspolitischen Symposium der Solidarität 1981 von zahlreichen entwicklungspolitischen Gruppen und Organisationen aufgestellte, ebenso radikale wie anregend-utopische Forderung nach Entfernung aller Globi-, Tim-und-Struppi- und Ringgi-und-Zofi-Bücher aus »den Bibliotheken, Buchhandlungen und Familien«29. Konkreter war hier schon die Forderung einer Revision aller Geographie- und Geschichtsbücher in den Schulen sowie das Ziel, dass alle schweizerischen Gemeindebibliotheken »hundert gute Bücher über die Dritte Welt oder aus der Dritten Welt« aufnehmen sollten, um so »Rassismus und Ethnozentrismus im eigenen Land […] zu vermindern«30. Waren in den ersten Jahren die Auswahl und das Bekanntmachen von empfehlenswerten Büchern die Aufgabe der entwicklungspolitischen Aktivistinnen und Aktivisten, war der nächste Schritt nur konsequent. Da wiederholt festgestellt worden war, dass die Zahl der Bücher begrenzt war, die den Kriterien genügte, weil die meisten Bücher stark von der »ethnozentrischen Grundhaltung ihrer Autoren«31 geprägt waren, ging die EvB diesen Missstand in einem ersten Schritt mit der Herausgabe einer Sammlung von Kindergeschichten aus der Dritten Welt an.32 Ab 28 | Die Referate der Tagung in Arnoldsheim erschienen in Preiswerk, The Slant of the Pen. Bereits ein Jahr später erschienen die Beiträge übersetzt und um einen Beitrag zur Schweiz ergänzt in Renschler/Preiswerk, Das Gift der frühen Jahre. Große Resonanz erhielt der Beitrag von Renschler, Regula, »Die Indianer ›hocken‹ – die Weissen ›sitzen‹«, in: TagesAnzeiger vom 11. Dezember 1978, S. 41-42, EvB-Archiv SozArch Ar 430.91.2, Dossier 1. 29 | Symposium der Solidarität (Hg.), Schwarzbuch, S. 21. Vgl. auch Zusammenfassung von Ginevra Signer auf der Pressekonferenz, 19. Mai 1981, Archiv der Arbeitsgruppe 3. Welt Bern, SozArch Ar 44.50.2, Dossier 2. Vgl. weiterführend zum Symposium der Solidarität 1981 Kuhn, »Entwicklung heisst Befreiung«. 30 | Entwicklungspolitisches Manifest für die 80er Jahre, in: Symposium der Solidarität (Hg.), Entwicklung heisst Befreiung, S. 83-85. Vgl. auch die mit Beispielen und Handlungsaufforderungen gesättigte Broschüre von Renschler/Vermot, Unser täglicher Rassismus. 31 | Stiftung zur Förderung antirassistischer Kinderbücher, Entwurf für einen Brief an die Hilfswerke in der Schweiz, ca. 1982, EvB-Archiv SozArch Ar 430.91.2. 32 | Renschler, Wer sagt denn, dass ich weine. Das Buch erlebte 8 Auflagen mit über 30.000 verkauften Exemplaren. Vgl. die Akten zur Entstehungsgeschichte des Buches in EvB-Archiv, SozArch Ar 430.17.5, Dossier: Buch 1974-1977. Vgl. auch Holenstein/Renschler/Strahm, Entwicklung heisst Befreiung, S. 231-233.
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1982 förderte sie gemeinsam mit Terre des Hommes Schweiz die Produktion von antirassistischen Kinderbüchern und von Büchern von »Dritte-Welt-Autoren« mit einem Stipendium. Aus diesen Impulsen entwickelte sich in den Folgejahren der Kinderbuchfonds Dritte Welt, der von den großen Schweizer Hilfswerken finanziell unterstützt wurde und der bis heute unter dem Namen Baobab Kinder- und Jugendbücher von Autorinnen und Autoren aus Asien, Afrika und Lateinamerika herausgibt.33 Interessant ist der Hinweis, dass die Thematik »Rassismus im Kinderbuch« innerhalb der entwicklungspolitischen Bewegung in der Schweiz keinen leichten Stand hatte; sie galt als wenig politisch und wurde im Vergleich zu den Thematiken des Finanzplatzes Schweiz, des Welthungers und des ungerechten Welthandels als light eingestuft.34 Dass dies einerseits in einem Zusammenhang mit einer unreflektierten, auch in der entwicklungspolitischen Dritte-Welt-Bewegung vorhandenen Geschlechterkategorisierung stehen dürfte, ist naheliegend: So galten Kinderbücher und Rassismus als Frauenthemen, weil sie sich nicht direkt mit der wirtschaftlichen und politischen Macht auseinandersetzten, wie dies bei der Kritik an den multinationalen Firmen geschah. Andererseits weist es darauf hin, wie unverknüpft wirtschaftliche Ausbeutungsstrukturen in Entwicklungsländern mit kulturellen Formen von Rassismus auch von entwicklungspolitisch Sensibilisierten betrachtet wurden: Ein Zusammenhang von ungleicher internationaler Weltwirtschaft mit kulturellen Prägungen und der Konstruktion von Fremdheit, die aus dem Kolonialismus nachwirkten, wurde nur selten gesehen. Hierzu bedurfte es der neuen Perspektiven der postkolonialen Theorien seit den späten 1970er Jahren, die den Fokus auf die kolonialen Deutungen und hegemonialen Diskurse lenkten und die Problemlagen als Folge von aus dem Kolonialismus nachwirkenden diskriminierenden Hierarchisierungen sahen. Dabei wurden nun in einem ersten Schritt diese kulturellen Muster überbetont, bei gleichzeitiger Vernachlässigung soziostruktureller und ökonomischer Bedingungen. Diese Verzerrung hat sich in den letzten Jahren zugunsten einer Einsicht in die konstitutive Interdependenz von ungleichen Wirtschaftsverhältnissen und hierarchisierten Sichtweisen gegenüber »Subalternen« verschoben.
33 | Vgl. die Akten zum Kinderbuchfonds Baobab 1981-1988 in EvB-Archiv SozArch Ar 430.17.5 und in Ar 430.91.2. 34 | Erinnerung von Regula Renschler, vgl. Fremde Welt im Kinderbuch, in: Dokumentation der EvB, 5 (1995), S. 10.
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»K OLONIALHERREN AUS DER S CHWEIZ« – NEOKOLONIALE K ONTINUITÄTEN SCHWEIZERISCHER H ANDELSHÄUSER Bereits seit Beginn der 1970er Jahre existierte eine entwicklungspolitische Kritik an multinationalen Konzernen, deren Geschäftstätigkeit vor allem im Bereich des Rohstoffhandels Widerstand hervorrief. Auf der Basis der lateinamerikanischen Dependenciastudien richtete die entwicklungspolitische Theorie ihren Fokus nämlich neu auf die »strukturelle Abhängigkeit« der Entwicklungsländer von den Industrieländern und begriff damit Unterentwicklung nicht länger als Rückstand der Entwicklungsländer auf die Industriestaaten und damit als Folge der fehlenden Integration in die Weltwirtschaft, sondern gerade die Unterentwicklung als Konsequenz einer kompletten Integration der Entwicklungsländer ins Weltwirtschaftssystem, die den Ländern des Südens aufgrund eines historischen Prozesses die Rolle der Rohstofflieferanten an der Peripherie zuwies.35 Damit standen auch die multinationalen Handelsgesellschaften mit ihrer Ausrichtung auf unverarbeitete Rohstoffe und die sich verschlechternden Austauschverhältnisse am Pranger, welche die Unterentwicklung der »Dritten Welt« bewirkten.36 In ihrer Kritik an multinationalen Konzernen nahm die entwicklungspolitische Bewegung in der Schweiz aber vergleichsweise spät auch auf die historischen Kontinuitäten der Handelsgesellschaften expliziten Bezug. Erst im Frühjahr 1986 widmete die EvB den schweizerischen Handelshäusern eine Dokumentation.37 Darin standen die Gebrüder Volkart aus Winterthur und die Basler Handelsgesellschaft im Zentrum. Das neokoloniale Fortbestehen der ökonomischen Abhängigkeit wurde gleich einleitend in historischer Perspektive angesprochen: »Die schweizerischen Handelshäuser gehören zu den grössten der Welt. […] Seit Jahrzehnten kaufen sie in den Drittweltländern die Rohstoffe und handeln damit auf der ganzen Welt; umgekehrt sind sie es, die sämtliche Güter der industrialisierten Welt, von der Schön35 | Vgl. dazu u.a. Boeckh, »Dependencia-Theorien«. Vgl. auch Menzel, Das Ende der Dritten Welt, S. 133-175. 36 | Als Folge dieser Kritik entwickelte sich aus den entwicklungspolitischen Konsumentenaktionen die Unternehmensform des »Fair Trade«, vgl. dazu Kuhn, »›Handelsförderung ist notwendig‹«, S. 107-124. 37 | »Die Kolonialherren aus der Schweiz. Schweizerische Handelshäuser im Geschäft mit der Dritten Welt, verfasst von Hanspeter Schmid, Dokumentation der Erklärung von Bern«, H. 5 (1986) (Auflage 10.000). Alle Zitate nach dieser Dokumentation. Textauszüge aus dieser Dokumentation wurden ebenfalls abgedruckt in der Berner Tagwacht und der Seeländer Volkszeitung (Auflage: 10.000), die am 14. Februar 1987 erschien, vgl. Zeitungsausschnitt-Sammlung in EvB-Archiv SozArch Ar 430.80.10, Dossier 2. Der Autor der Dokumentation hatte mit einer geschichtswissenschaftlichen Arbeit über die schweizerische Exportindustrie promoviert, war darin aber kaum auf die kolonialen Verflechtungen eingegangen, vgl. Schmid, Wirtschaft, Staat und Macht.
I M K AMPF GEGEN DAS » HEIMLICHE I MPERIUM « heitscrème bis zum voll ausgerüsteten Elektrizitätswerk, nach Afrika, Asien und Lateinamerika verkaufen. Die schweizerischen Handelshäuser zählen auf eine lange Tradition. Im Windschatten der Imperialherrschaft der europäischen Grossmächte bauten sie sich ein Handelsimperium auf. Unterdessen haben sich die Geschäfte und die Kaufleute verändert. Anstelle der Kolonialherren von damals, in weissem Anzug und mit Tropenhelm, ist ein Heer von emsigen Managern entstanden, sekundiert von Computern und Satelliten, die in Blitzesschnelle Handelstransaktionen über dem ganzen Erdball abwickeln. Doch Fundament und Prinzip des Handels haben sich nicht verändert: Es bleibt nämlich der ungleiche Tausch, durch den Herrschaft und Abhängigkeit reproduziert werden. Die Porträts […] zeigen die Kontinuität im schweizerischen Kolonialismus: Er ist modern geworden« 38 .
Ausführlich wurden bei beiden Handelsgesellschaften die jeweilige Geschichte in kolonialen Situationen dargestellt: Dabei fand der wirtschaftliche Erfolg der 1859 gegründeten Basler Handelsgesellschaft, die mit der Basler Mission verbunden war und in Ghana Kakaoplantagen und in Indien Ziegeleien und Webereien betrieb, im kolonialen System des britischen Imperialismus deutliche Kritik.39 Sie wurde als Nutznießerin der Kolonialherrschaft denunziert, die »im Schutze der ausländischen Imperialherrschaften«40 gedeihe. Auch die 1851 gegründete Firma Gebrüder Volkart, die Rohstoffe und sogenannte Kolonialprodukte importierte und so zum bedeutendsten Baumwollexporteur Indiens geworden war, erhielt kritische Aufmerksamkeit.41 In der Broschüre heißt es dazu: »Wer Baumwolle anbaut, ist oder wird arm. Eine bittere Tatsache. Auf der anderen Seite, in Winterthur, hat die Baumwolle die Familie Reinhart, seit Generationen Eigentümerin der Firma Volkart, reich, grotesk reich gemacht.« In der Sichtweise der entwicklungspolitischen Bewegung waren Schweizer Handelshäuser wie die Gebrüder Volkart oder die Basler Handelsgesellschaft Schlüsselglieder der Entwicklung der »Unterentwicklung« – über sie liefen die Rohstoffexporte, mit denen die Wertschöpfung erst in der Ersten Welt geschehe, sie handelten mit Luxusprodukten, die den Gesellschaften der Dritten Welt Kapital entzögen, und sie wandten sich bei wirtschaftlichen Krisenerscheinungen neuen Märkten zu. Zugleich zeichnete 38 | »Die Kolonialherren aus der Schweiz. Schweizerische Handelshäuser im Geschäft mit der Dritten Welt, verfasst von Hanspeter Schmid, Dokumentation der Erklärung von Bern«, H. 5 (1986). 39 | Siehe weiterführend dazu Franc, Wie die Schweiz zur Schokolade kam. 40 | »Die Kolonialherren aus der Schweiz. Schweizerische Handelshäuser im Geschäft mit der Dritten Welt, verfasst von Hanspeter Schmid, Dokumentation der Erklärung von Bern«, H. 5 (1986). 41 | Siehe weiterführend Dejung, »Hierarchie und Netzwerk«. Vgl. zum Verhältnis zwischen nationaler Zugehörigkeit und globaler Ausrichtung ausführlicher Dejung, »Welthandelshaus«, und Dejung/Zangger, »British Wartime Protectionism«. Die Gründe für die nach wie vor bestehenden Forschungsdesiderate bei Dejung, »Unbekannte Intermediäre«, S. 139-140.
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diese Kritik das Bild einer wirtschaftlich in einem hohen Maße verflochtenen, zugleich aber politisch abgeschotteten Schweiz. Diese Situation sei bewusst gewählt und historisch gewachsen, um durch die nationale außenpolitische Indifferenz die ausbeuterische Gestalt der Beziehungen und die Gewinnmaximierung der eigenen Unternehmer und der eigenen Bürger nicht zu gefährden. Dabei profitiere die Schweiz wissentlich und direkt vom Kolonialismus und Imperialismus der europäischen Großmächte. Die Broschüre der EvB war nicht die erste Publikation, in der einer Geschichte eines solchen »schweizerischen Imperialismus« nachgegangen wurde. Es waren vielmehr Fachhistoriker, die über die Existenz und die Charakteristika eines spezifisch schweizerischen Imperialismus geforscht und debattiert hatten. So hatte der Soziologe Richard Behrendt 1932 als erster nach einem schweizerischen Imperialismus gefragt und die Schweiz als »lachende Dritte«, als »tertius gaudens«,42 bezeichnet, die aus dem Imperialismus der anderen europäischen Staaten Nutzen gezogen habe. Behrendt ist von Historikern inzwischen mehrheitlich bestätigt worden, auch wenn nach wie vor ein erheblicher Rückstau sowie ein großes Manko an solider historischer Quellenarbeit festzustellen ist, der historiographischen Nachholbedarf anzeigt.43 Gerade Arbeiten, die dem wechselseitigen Verhältnis und der Durchlässigkeit der Grenze zwischen den Kolonien und der »Nichtkolonialmacht« Schweiz nachgehen, sind nach wie vor ausstehend.44 Die entwicklungspolitische Thematisierung dieser kolonialen Verflechtungen von Schweizer Unternehmen baute nun allerdings weniger auf diesen historischen Arbeiten auf, sondern auf dem breitrezipierten Buch Das heimliche Imperium des Weltwoche-Journalisten Lorenz Stucki aus dem Jahre 1968.45 Dieser sprach von einem »schweizerischen Imperialismus«, der weder über Schweizer Fahnen noch über Kanonenboote verfüge, sondern vor allem aus Exportmärkten und Handelsbeziehungen bestehe. Stucki 42 | Behrendt, Die Schweiz und der Imperialismus, S. 185. 43 | Bis heute ist eine Darstellung der Rolle und des Gewichts der schweizerischen Wirtschaftstätigkeit im imperialen Raum ein Desiderat, immerhin liegen aber einige punktuelle Untersuchungen vor, vgl. Witschi, Schweizer auf imperialistischen Pfaden, bes. S. 177187. Vgl. auch Veyrassat, Réseaux, und zusammenfassend Guex, »The Development«; Humair, »Commerce«, und David/Etemad, »Gibt es einen schweizerischen Imperialismus?«, bes. S. 21. Auch die Begrifflichkeit bedürfte der Klärung, so finden sich Begriffe wie »Sekundärimperialismus« (Witschi), »tertius gaudens« (Behrendt) oder »heimlicher Imperialismus« (Stucki und Höpflinger). Dejung, »Unbekannte Intermediäre«, S. 150-151, lenkt den zukünftigen Forschungsblick entsprechend auf die ökonomische Ungleichheit zwischen Metropole und Peripherie. 44 | Vgl. eine Übersicht über die Situation in der deutschen Historiographie bei Ha, »Postkoloniale Kritik«, S. 270-273, und Dietrich, Weiße Weiblichkeiten, S. 37-39. Forschungsleitend wirksam waren hier vor allem Stoler/Cooper, »Between Metropole and Colony«, vgl. zusammenfassend Osterhammel, »Imperien«, S. 61f. 45 | Stucki, Das heimliche Imperium.
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war es auch, der als einer der Ersten eine Erklärung für das Überleben dieser Wirtschaftsbeziehungen auch in der postkolonialen Ära vorlegte; gerade weil der Imperialismus nur ein »heimlicher« gewesen sei, habe ihm die Dekolonisation nur wenig anhaben können.46 Allerdings betrachtete der Autor diese wirtschaftlichen Machtstrukturen wenig kritisch, sondern sah in ihnen vielmehr ein mutiges und von »persönlicher Einsatzbereitschaft« geprägtes Vorgehen, für das »die Vorväter die Ärmel hochgekrempelt und mit mehr oder weniger schmutzigen Händen sowohl Geld gerafft als auch die Fundamente der modernen Welt geschaffen«47 hätten. Eine entwicklungspolitisch geprägte Kritik am Weiterbestehen von wirtschaftlichen Ausbeutungsverhältnissen war einerseits ein »neokolonialistischer« Fokus, der gerade in Kreisen, die sich mit Nord-Süd-Fragen befassten und auch dependenztheoretisch informiert waren, verbreitet war. Zwar argumentierte die entwicklungspolitische Dritte-Welt-Bewegung materialistisch, indem sie auf die »imperiale« Vergangenheit von Schweizer Unternehmen hinwies, erweiterte diese Kritik andererseits aber auch um einen Fokus auf die Verbreitung von »Imperialismen« (im Plural) in den Ländern Europas, um so sowohl die kolonialen Ursachen als auch das gegenwärtige Fortdauern der weltweiten sozialen Ungleichheiten in einer transnationalen Dimension transparent zu machen. Entsprechend postulierte die EvB bereits in den 1980er Jahren, dass die politische Mitverantwortung der Schweiz aufgrund ihrer – von Sebastian Conrad und Shalini Randeria treffend benannten – »geteilten und verwobenen Geschichten«48 nur grenzüberschreitend wahrgenommen werden könne. Das Vergegenwärtigen des Weiterwirkens kolonialistischer Strukturen nach der formellen Dekolonisation, auch – oder besser: gerade – in der Schweiz, war dabei Ziel der entwicklungspolitischen Bewegung, um damit das für die postkoloniale Theorie seit den 1990er Jahren charakteristische enge Zusammengehen von Analyse und Politisierung stellenweise vorwegzunehmen.
46 | Ebd., S. 10. Die stärker historisch ausgerichtete Analyse von Stucki wurde in der Folge auf die damalige Situation übertragen und dabei um die Machtkritik erweitert, vgl. Höpflinger, Das unheimliche Imperium. Auf diese Weise wurden Arbeiten wie die von Höpflinger für die entwicklungspolitische Kritik an den »Multis« wichtig. 47 | Stucki, Das heimliche Imperium, S. 11. 48 | Conrad/Randeria, »Geteilte Geschichten«, S. 17. Dieses »Entanglement«-Konzept aus der angloamerikanischen Anthropologie wurde von Shalini Randeria in die deutschsprachige Geschichtswissenschaft eingeführt und hat wesentlich dazu beigetragen, die Nation als Einheit von Geschichtsschreibung durch einen transnationalen Blick zu überwinden, vgl. Conrad/Eckert, »Globalgeschichte«, S. 23-24. Vgl. für ein ähnliches Anliegen den bahnbrechenden Beitrag von Chakrabarty, »Europa provinzialisieren«.
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H ISTORIZING POSTCOLONIAL STUDIES – EIN F A ZIT Die vorgestellten Beispiele unterstützen die auf der Basis der bisherigen vereinzelten postkolonial inspirierten Forschungen formulierte These, dass auch in der Schweiz ein »koloniales Archiv« besteht, deren Versatzstücke in unterschiedlichen Diskurszusammenhängen Verwendung finden. Zusätzlich zeigen bereits die frühen Arbeiten, dass auch koloniale Handelsbeziehungen die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz wesentlich prägten, was sich zudem erst kürzlich wieder im Bereich der Beteiligung am transatlantischen Sklavenhandel und am System der Plantagensklaverei zeigen ließ.49 Der EvB gelang es mit ihren Aktionen seit den 1970er Jahren im Rahmen einer entwicklungspolitischen Perspektive sowohl kulturelle Hierarchisierungen als auch ökonomische Benachteiligungsverhältnisse kritisierend zu thematisieren. Dies tat sie mit einem gleichwertigen Blick auf beide Problemlagen, auch wenn sie dabei die pluralen Wechselbeziehungen zwischen diesen Machtverhältnissen und die gegenseitigen Bedingtheiten dieser Herrschaftsstrukturen im Sinne einer Interdependenz nicht fokussierte, wie dies die aktuelle postkoloniale Theorie zum Ziel hat. Oder um es im aktuellen, postkolonial informierten Duktus zu sagen: Neben der Lancierung einer Debatte um die Kategorie race trat früh auch die »question of labor« – wie sie der afroamerikanische Theoretiker W. E. B. DuBois bezeichnet hatte50 – auf, ohne dass deren konstitutives Verhältnis zueinander geklärt oder sichtbar gemacht worden wäre. Anliegen dieses Beitrags ist es, einer Sichtweise entgegenzuwirken, die postkoloniale Fragestellungen für die Schweiz als komplett unbearbeitet präsentiert. Vielmehr wird deutlich, dass postcolonial studies im Laufe ihres Entstehungsprozesses auf vielfältigen theoretischen Konzeptionen und politischen Positionen aufgebaut haben. Wichtige Impulse kamen dabei von antikolonialen, antiimperialistischen und dependenztheoretischen Texten und Theorien, an deren Verbreitung in einer schweizerischen Öffentlichkeit die entwicklungspolitische Dritte-Welt-Bewegung wesentlichen Anteil hat. Dabei soll wohlverstanden nicht einer mit »metropolitaner Arroganz«51 vorgetragenen Kritik das Wort geredet werden, die postkoloniale Ansätze mit dem Hinweis auf ihre fehlende Neuheit zur Seite schiebt. Vielmehr ist eine reflexive Historisierung dieser Ansätze das Ziel, so dass auch im für die Schweiz dringend anzugehenden Forschungsfeld ein historisch informierter Blick in empirisch fundierten Fallstudien Anwendung findet.52 Die feststellbare Antizi49 | Für einen Überblick über den Forschungsstand und die Debatte vgl. Kuhn/Ziegler, »Die Schweiz und die Sklaverei«, S. 116-130. 50 | W. E. B. DuBois, »The Negro Mind Reaches Out«, in: Alain Locke (Hg.), The New Negro. Voices of the Harlem Renaissance, New York, S. 385-414, hier S. 385, zit. n.: Castro Varela/Dhawan, »Mission Impossible«, S. 308. 51 | Vgl. dazu Ziai, »Die Stimme der Unterdrückten, S. 514. 52 | Um so auch einer Kritik entgegenzuwirken, wie sie beispielsweise Wehler (»Transnationale Geschichte«, S. 163-165) mit Bezug auf einen kulturgeschichtlich ausgerichteten
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pierung von Argumenten und Sichtweisen in antikolonialen, imperialismuskritischen und entwicklungspolitischen Diskursen in der Schweiz seit Beginn der 1970er Jahre verweist jedenfalls vielversprechend auf innovative und analytisch weiterführende Potentiale postkolonial informierter Arbeiten für die Schweiz.
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Archiv der Arbeitsgruppe Dritte Welt Bern: Ar 44.50.2
Entwicklungspolitisches Symposium der Solidarität 1981
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(Post-)Koloniale Söldner Schweizer Fremdenlegionäre in den französischen Kolonien und ihre Erinnerungsschriften Christian Koller »Bei unserem Rundgang durch die Stadt kamen wir auch bei einer Kaserne vorbei, an deren Tor grosse, buntfarbige Werbeplakate für die Kolonialarmee angeschlagen waren. Durch Namen wie: Troupes coloniales, Chasseurs d’Afrique, Spahis Algériens, Légion Etrangère, Sénégal, Tonkin, Madagaskar usw. wurde die Abenteuerlust in uns geweckt, und wir waren bald entschlossen, uns an ein fremdes Land zu verkaufen.«1
Mit diesen Worten schilderte 1935 Adolf Hunziker aus Olten die Umstände, unter denen er zusammen mit einem Freund anlässlich eines Ausflugs nach Belfort in die französische Fremdenlegion eingetreten war. Hunziker war einer von Tausenden von Schweizern, die in der Fremdenlegion Dienst getan haben. Ihre Ausbildung erfolgte bis 1962 in der Regel in Algerien, danach wurden sie hauptsächlich in Afrika, Amerika, Südostasien oder im Nahen Osten bei Kolonisations- und Dekolonisationskriegen, zum Garnisonsdienst oder zur Aufstandsbekämpfung eingesetzt. Mehr als drei Dutzend ehemaliger Fremdenlegionäre aus der Schweiz sind zwischen den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts und der Wende zum 21. Jahrhundert mit kürzeren oder längeren Publikationen über ihre Erlebnisse und Erfahrungen in den französischen Kolonien an die Öffentlichkeit getreten. Diese Texte gehören zum internationalen, quantitativ vor allem in Deutschland bedeutenden Genre Legionsliteratur. Sie reichen von memoirenartigen Darstellungen über literarische Verarbeitungen bis zu Propagandaschriften gegen den Eintritt in die Fremdenlegion, die in manchen Fällen offensichtlich von Drittpersonen stilistisch und möglicherweise auch inhaltlich überarbeitet wurden. Hinter diesen Publikationen standen mindestens drei Motivationsfaktoren: In wohl allen Fällen ging es um eine wie auch immer geartete Sinngebung. Michael Harbsmeier hat als wesentliche Motivation der Darstellung fremder Welten in 1 | Hunziker, Erlebnisse, S. 10.
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frühneuzeitlichen Reiseberichten den Versuch identifiziert, »den Grenzen zwischen der eigenen Welt und den anderen (und der Grenzüberschreitung) Sinn abzugewinnen und dadurch die eigene Welt durch Abgrenzung von den jeweils anderen zu stabilisieren«2 . Viele Legionsberichte kontrastierten ebenso die bereisten kolonialen Welten mit dem schweizerischen Vaterland und postulierten eine Läuterung des Autors zum guten Patrioten.3 Zweitens standen zahlreiche Schriften im Kontext der Antilegionspropaganda und warnten implizit, häufig auch explizit vor einem Eintritt in die Fremdenlegion. Sie waren damit Teil eines auch andere Textsorten umfassenden, unten genauer darzustellenden Diskurszusammenhangs. Drittens ist bei einigen Texten der Versuch, das eigene Legionsabenteuer publizistisch zu versilbern, unübersehbar. Auch diese Texte stehen in einem größeren Zusammenhang, zu dem im engeren Sinne auch fiktionale Veröffentlichungen zum Thema Fremdenlegion, im weiteren Sinne exotistische Unterhaltungsliteratur aller Art, aber auch etwa die bis in die Zwischenkriegszeit populären »Völkerschauen«4 gehören, und sie legen die Existenz einer Nachfrage nach Exotismus, eines exotistischen Marktes in der Schweiz nahe. Der eurozentrische »koloniale Blick«5 auf Menschen und Länder in Übersee existierte offensichtlich auch in einem Kleinstaat ohne imperiale Ambitionen. Er war (und ist) gekennzeichnet durch eine Dialektik zwischen Exotismus und Rassismus, in sich übergehender Bewertungen des »Fremden« als attraktiv und abstoßend, faszinierend und bedrohlich.6 Mit den Erinnerungsschriften von Exlegionären können somit verschiedene Facetten der diskursiven Dimension einer »postkolonialen Schweiz« herausgearbeitet werden. Allerdings ist es aufgrund ihrer Heterogenität schwierig, sie als Egodokumente auszuwerten.7 Einfacher und sinnvoller ist es, sie als Teil eines Diskurses über »exotische« Welten zu analysieren. Der vorliegende Beitrag nähert sich diesen Texten insbesondere mit Hilfe der Kategorien des Intersektionalitätskonzeptes, das sich für die Überlagerung und Potenzierung verschiedener Ungleichheitsstrukturen und Diskriminierungspraktiken interessiert.8 Aufgrund des Fokus der Texte auf eine Institution, die sich aus Männern aus ganz Europa und Nordamerika zusammensetzte und die vor allem in kolonialen Kontexten agier2 | Harbsmeier, Wilde Völkerkunde, 29f. 3 | Vgl. dazu auch Koller, »›Schon lange wollte ich in eine Colonie‹«, und Koller, »Fremder Kriegsdienst«. 4 | Vgl. Staehelin, Völkerschauen; Brändle, Wildfremd. 5 | Vgl. grundsätzlich dazu etwa Melber, »Rassismus«; Koller, Rassismus, S. 59-64. 6 | Grundsätzlich zu solchen Mechanismen vgl. Erdheim, »Zur Ethnopsychoanalyse«. 7 | Vgl. zur Interpretation soldatischer Egodokumente zum Beispiel Latzel, »Vom Kriegserlebnis«; Humburg, »Sind Feldpostbriefe«; Hunt/Robbins, »Telling Stories«; Köstlin, »Erzählen«; Schikorsky, »Kommunikation«. 8 | Vgl. generell dazu zum Beispiel Winker/Degele, Intersektionalität; Hess et al., Intersektionalität Revisited.
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te, sind Nationalität (Franzosen und Legionäre »aus aller Herren Länder«), Klasse (sozialer Hintergrund der Fremdenlegionäre), »Rasse« (in Bezug auf die Kolonisierten), Geschlecht (männerbündische Strukturen in der Legion; Kontakte mit einheimischen Frauen und Männern) und Sexualität (Homosexualität als »Legionslaster«; Prostitution) in den Texten zentrale Kategorien. Ich werde im Folgenden zunächst einen Überblick über die Rolle von Schweizern in der Fremdenlegion und die Diskurse über die Fremdenlegion in der Schweiz geben, um den realhistorischen und diskursiven Kontext der zu analysierenden Texte darzustellen. Sodann soll in gesonderten Abschnitten die Auseinandersetzung der schreibenden Exlegionäre mit den Kategorien Nationalität, sexuelle Orientierung, »Rasse« und Geschlecht analysiert und auf ihren »postkolonialen« Gehalt hin geprüft werden.
D IE S CHWEIZ UND DIE F REMDENLEGION Die Fremdenlegion ist ein Kind des Revolutionsjahres 1830. Für die Gründung der Einheit durch die Regierung des »Bürgerkönigs« Louis-Philippe am 10. März 1831 waren vor allem kurzfristige Erwägungen ausschlaggebend: Aufgrund der europaweiten Unruhen befanden sich zahlreiche, als potentielle Unruheherde wahrgenommene Flüchtlinge in Frankreich. Eine Söldnertruppe für den überseeischen Einsatz bot die Gelegenheit, diese Flüchtlinge außer Landes zu bringen, ohne Frankreichs Ansehen als das eines liberalen Asyllandes zu gefährden. Eine zweite Rekrutierungsbasis bildeten die Söldner der aufgelösten königlichen Schweizerregimenter.9 Die Vertragsdauer betrug zunächst drei oder fünf, ab 1864 einheitlich fünf Jahre. Eine Besonderheit war die Möglichkeit des Eintritts unter falscher Identität (»Anonymat«), zunächst als Gewohnheitsrecht, ab 1911 dann kodifiziert.10 In den ersten zwei Jahrzehnten ihres Bestehens kam die Fremdenlegion bei der Eroberung Algeriens zum Einsatz, das dann bis 1962 ihre »Heimat« sein sollte. In der Folgezeit wurde sie bei einigen europäischen Konflikten eingesetzt, besonders aber als Instrument des französischen Kolonialimperialismus in Mexiko, Nord- und Westafrika, Indochina, Formosa und auf Madagaskar, in der Zwischenkriegszeit dann auch im Nahen Osten. Von 1945 bis in die sechziger Jahre fand die Legion in den Dekolonisationskämpfen in Indochina, Madagaskar, Tunesien, Marokko und Algerien sowie im Suezkrieg Verwendung. Im Anschluss an den Algerienkrieg mutierte die Einheit zu einer radikal verkleinerten Elitetruppe, die neben traditionellen Kriegseinsätzen auch für Out-of-area-Operationen, den Objektschutz am Weltraumbahnhof in Französisch-Guayana, Einsätze im Rahmen von UNOMissionen sowie humanitäre und Katastrophenhilfe Verwendung findet. 9 | Porch, The French Foreign Legion, S. 1-11; Bodin, Les Suisses, S. 295-328; Michels, Deutsche, S. 19f.; Maradan/Czouz-Tornare, »Du service«. 10 | Michels, Deutsche, S. 20f.
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Von Beginn an spielten Schweizer in der Fremdenlegion eine wichtige Rolle.11 Ihr erster Kommandant war Christoph Anton Stoffel aus Arbon und zu ihrer frühen Rekrutierungsbasis zählten wie erwähnt die ehemaligen Schweizerregimenter. 1855/56 oblag das Oberkommando dem aus dem Bundesrat abgewählten Ulrich Ochsenbein. Die Gesamtzahl der Schweizer Legionäre lässt sich aufgrund des Anonymats nicht exakt beziffern, wird aber auf 30.000 bis 40.000 Mann geschätzt, das sind sechs bis acht Prozent der Legionäre insgesamt. Zieht man davon die etwa 14.000 Schweizer ab, die im Ersten Weltkrieg für Frankreich gekämpft haben und dabei administrativ der Fremdenlegion angehörten, teilweise ohne die klassische Legionärskarriere in den Kolonien zu durchlaufen, so machten insgesamt etwa 15.000 bis 30.000 Schweizer im Dienste Frankreichs koloniale Erfahrungen, wobei zwischen 1831 und 1962 100 bis 250 Schweizer pro Jahr sich für dieses »Abenteuer« entschieden. Das Sozialprofil der Schweizer Legionäre ist bislang kaum erforscht.12 Generell verschaffte das Anonymat der Legion den Ruf, ein Sammelbecken von Kriminellen und Abenteurern zu sein. Oft verband man die Truppe auch mit romantischen Vorstellungen und betrachtete sie als Möglichkeit, dem grauen europäischen Alltag zu entkommen und in neue, exotische Welten aufzubrechen. Effektiv stammte indessen die überwiegende Mehrheit der Legionäre aus den europäischen Unterschichten, und ein Großteil von ihnen diente aus materiellen Gründen. Douglas Porch, Autor der zur Zeit maßgebenden Gesamtdarstellung zur Geschichte der Fremdenlegion, hat festgestellt, diese sei »a history of a portion of the European working class in the nineteenth and twentieth centuries, one which a Marxist historian might claim had slipped through the fingers of the ›capitalist revolution‹«13 . Eduard Blocher, von 1894 bis 1898 als reformierter Seelsorger in Sidi-Bel-Abbès tätig, konstatierte, unter den Schweizer Legionären fänden sich »sehr viele Arbeitslose oder auch einfach Neugierige, von echt- und urgermanischer Wanderlust über die Grenze getriebene, zum Teil recht unerfahrene Bürschlein«14 . Schweizerische behördliche Abklärungen der fünfziger Jahre gelangten dann zum Schluss, unter den Legionären seien Männer ohne Ausbildung, Arbeitslose, Waisen- und Heimkinder sowie Kinder geschiedener Eltern überdurchschnittlich, Studenten und Bauern unterdurchschnittlich vertreten. Rund die Hälfte der Legionäre wolle ei11 | Eine Gesamtdarstellung zu den Schweizern in der Fremdenlegion ist ein Desiderat. Vgl. einstweilen Fiala, »Die Fremdenlegion«; Rouiller, Les Suisses; Mahrer, »Fremdenlegion«. Für das 19. Jahrhundert: Maradan, Les Suisses; Maradan/Czouz-Tornare, »Du service«; Maradan/Czouz-Tornare, »Les légionnaires«. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg: Carron, »Un contentieux«; Carron, »Les dossiers«; Carron, »La guerre«; Truong Dinh, Von der Fremdenlegion; Oertle, Endstation; Ceschi, »Fremdenlegionäre«. 12 | Aufschluss ist von Peter Hubers laufendem SNF-Projekt Schweizer Fremdenlegionäre im Indochina- und im Algerienkrieg (1945-1962) zu erwarten. 13 | Porch, The French Foreign Legion, S. xiii. 14 | Blocher, »Von der französischen Fremdenlegion«, S. 337-339.
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nem Strafverfahren entkommen, 35 Prozent gingen aus familiären, beruflichen, finanziellen oder sentimentalen Gründen und 15 Prozent aus Abenteuerlust.15 Öffentliche Diskurse über die Fremdenlegion entfalteten sich neben Frankreich16 in den Hauptrekrutierungsgebieten wie der Schweiz und Deutschland und gewannen im Zeitalter des Hochimperialismus rasch an Intensität. In der Schweiz war die jahrhundertealte Tradition des fremden Solddienstes im 19. Jahrhundert immer mehr in die Kritik gekommen.17 Die Bundesverfassung von 1848 untersagte den Abschluss neuer Militärkapitulationen, und ab 1859 war auch der individuelle Eintritt in »fremde, nichtnationale Truppenkörper« untersagt. Dieses Verbot wurde indessen lange Zeit eher large gehandhabt. Bemerkenswerterweise erkundigte sich der Bundesrat etwa zeitgleich, im Jahre 1850, bei den französischen Behörden über Möglichkeiten, 1848er-Flüchtlinge aus der Schweiz in die Legion abzuschieben.18 Bereits 1854 beschrieb Gottfried Keller in seinem Gedicht Schlafwandel die Fremdenlegion als eine unwirkliche und zugleich ungastliche Lebenswelt, in welcher der sich selber entfremdete Gestrandete die Vorzüge seiner Heimat erkennen lernte.19 In den letzten eineinhalb Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde dann die Legionsliteratur zu einem eigentlichen Genre. Es erschienen zahlreiche Memoiren,20 aber auch explizite Antilegionspamphlete21 . Im Vergleich zu den Äquivalenten im Deutschen Reich22 waren diese Schriften in der Regel weniger frankophob und fokussierten eher auf individuelle Beweggründe für den Eintritt, Erfahrungen in der Legion und daraus zu ziehende Lehren. Auch der Bundesrat warnte in mehreren Kreisschreiben an die kantonalen Behörden vor dem Eintritt in die Legion.23 In der Zwischenkriegszeit verschärfte das Militärstrafgesetz von 1927 das Verbot des Eintritts in fremden Militärdienst.24 Ehemalige Fremdenlegionäre hatten nun mit militärgerichtlicher Verfolgung zu rechnen. Parallel ging die Publikation
15 | Kurz, »Entstehung«. 16 | Vgl. Larroumet, Mythe; Comor, »L’image«. 17 | Vgl. Aellig, Die Aufhebung. 18 | Vgl. »Kreisschreiben« 1850. 19 | Keller, Die Leute, S. 845f. Keller thematisierte die Fremdenlegion auch in der ungefähr zur selben Zeit entstandenen Novelle Pankraz der Schmoller (Keller, Pankraz). 20 | Vgl. Lüthi, Erinnerungen; Trüb, Erlebnisse; Kaufmann, Feldzug; Bolliger, Aus dem Leben; Frehner, Erinnerungen; Ulrich, Erinnerungen; Hofer, Elf Tage; Fischer, Drei Jahre; Spinner, Algier; Randin, Ein Schweizer; Moser, In der Fremdenlegion; Kugler, Erlebnisse. 21 | Vgl. zum Beispiel Spengler, Verkaufte Menschen; Pfanner, Der Anti-Legionär. 22 | Vgl. Christadler, »Schreckensbild«; Mergenthaler, Völkerschau; Michels, »Sklaven«. 23 | »Kreisschreiben« 1884 und 1887. 24 | Vgl. Bislin, Der unerlaubte Eintritt; Schrämli, Unerlaubter Eintritt; Fenner, Der Tatbestand.
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von Legionsmemoiren in Buchform wie auch in der Presse weiter.25 Der ehemalige Legionär Friedrich Soltermann hielt zahlreiche Lichtbildvorträge in Schulen und Vereinen, und es entstand auch ein Verein zur Bekämpfung der französischen Fremdenlegion.26 Von diesen Aktivitäten hoben sich die Texte des Schriftstellers Friedrich Glauser ab, der zwischen 1921 und 1923 in der Legion gedient hatte.27 Neben seinen autobiographischen Schriften Im afrikanischen Felsental und Legion publizierte Glauser über die Fremdenlegion mehrere Kurzgeschichten, den Kriminalroman Die Fieberkurve (1938) sowie vor allem den autobiographischen Roman Gourrama, der, in den späten zwanziger Jahren verfasst, nach zahlreichen Überarbeitungen erst 1937/38 in der Zeitschrift ABC und 1940 posthum in Buchform erschien.28 1944 brachte das auf den Vertrieb an Schulen spezialisierte Schweizerische Jugendschriftenwerk Glausers Erzählung Ali und die Legionäre als Heft für Kinder ab zwölf Jahren heraus.29 Von weit geringerer literarischer Qualität war eine Reihe weiterer Romane und Erzählungen30 sowie volkstümlicher Theaterstücke31, die sich in den dreißiger und vierziger Jahren in oft exotisierender Weise mit der Legion auseinandersetzten. Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die Diskussionen um die Fremdenlegion weiter.32 Im Bemühen, junge Schweizer von der Legion abzuhalten, arbeiteten staatliche und private Stellen eng zusammen, etwa bei der Verteilung von Propagandamaterial in Schulen und in der Armee.33 Eine zentrale Rolle spielte dabei das 1954/55 entstandene, vom Bund und einzelnen Kantonen subventionierte Komitee
25 | Seiler, Fünf Jahre (zuerst 1914 in loser Folge in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen); Vallotton, Patience!; Nef, Im Kampfe gegen die Rifkabylen; Bringolf, Der Lebensroman; Virès, Souvenirs; Strupler, Fünf Jahre (zuerst 1927 in loser Folge in der Thurgauer Zeitung erschienen); Strupler: Tollhaus; Soltermann, Ein Berner; Riederer, »Fremdenlegionär«; Stähli, Erinnerungen; Reybaz, Le 1er Mystérieux; Augustin, Sur le Front; Hunziker, Erlebnisse; Zehnder, Soldat; Rothen, 6 Jahre; Zwicky, Fremdenlegionär; Bringolf, Ein Schweizer Abenteurer; Marolf, Gustave Marolf; Cendrars, Le Main. 26 | Haldemann, Die Mutter, S. 43. 27 | Vgl. dazu ebd.; Mohr, Er konnte aus dem Vollen schöpfen; Saner, Friedrich Glauser; Jacksch, Friedrich Glauser; Ruoss, Friedrich Glauser; Matt, Lesarten. 28 | Glauser, »Im afrikanischen Felsental«; Glauser, »Legion«; Glauser, »Der erste August«; Glauser, »Seppl«; Glauser, »Kif«; Glauser, »Zeno«; Glauser, Die Fieberkurve; Glauser, Gourrama. 29 | Glauser, Ali. 30 | Vgl. Knittel, Der Commandant; Attinger, Kampf; Attinger, Selbander; Adrian, Kämpfer; Appenzeller, Schweizer. 31 | Vgl. zum Beispiel Flury, Der Fremdenlegionär. 32 | Vgl. Carron, Un contentieux. 33 | Vgl. zum Beispiel Schweizerisches Bundesarchiv E 2001(E)1970/217/190 Eidgenössisches Militärdepartement an Eidgenössisches Departement des Innern, 26.03.1955.
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gegen den Eintritt junger Schweizer in die Fremdenlegion, das bis 1966 aktiv war.34 Es organisierte Veranstaltungen für Jugendorganisationen, Lehrerverbände, Gewerkschaften, Berufsschulen, Behörden und die Presse, war an Messen mit Informationsständen präsent, produzierte und verteilte Broschüren35 und Flugblätter – Letztere erreichten Auflagen von bis zu 50.000 Exemplaren – und pflegte Kontakte zu Anwerbungswilligen, Angehörigen und ehemaligen Legionären. Die rege Vortragstätigkeit des Komitees an Schulen wurde vor allem vom umtriebigen Franz Rispy getragen, der auch an mehreren Befreiungen von Schweizern aus der Legion in Nordafrika beteiligt war36 und im Ruf stand, mit dem algerischen Front de Libération Nationale zusammenzuarbeiten. Weiterhin stellten Memoiren37, fiktionale Erzählungen38 und volkstümliche Theaterstücke39 sowie Referate40 die Legion in ein schlechtes Licht. 1955 brachte das Schweizerische Jugendschriftenwerk mit Unterstützung der Kulturstiftung Pro Helvetia ein zweites Legionsheft heraus, das 1959 und 1962 neu aufgelegt wurde.41 Verschiedentlich kam es zu schweizerischen Interventionen bei französischen Behörden.42 Und in mindestens zwei Fällen verboten kantonale Zensurstellen Vorführungen von Kinofilmen, die angeblich die Fremdenlegion zu positiv darstellten.43
34 | Vgl. Schweizerisches Bundesarchiv J II.188 Komitee gegen den Eintritt junger Schweizer in die Fremdenlegion, 1959-1988; Staatsarchiv St. Gallen CA 02/04.04.08 Fremdenlegion, 1954-1960 (Teil-Dossier); sowie Egli, Propaganda. 35 | Vgl. zum Beispiel Keller, Die Wahrheit; Komitee (Hg.), Dokumentation. 36 | Vgl. Rispy, Fremdenlegionär, und Rispy, Sie klagen an!. 37 | Vgl. Bedolla, Souvenirs; Widmer, In der Hölle; Noli, Aus der Hölle; Speck, Das Leben. 38 | Vgl. Jawista, Der Hölle. 39 | Vgl. Schneider, Der Frömdelegionär; Krattiger, De Legionär. 40 | Vgl. zum Beispiel Schweizerisches Sozialarchiv Ar 464.15.4 Schreiben von Herrn Paul Steiner Gladwin wegen Vortrag über die Fremdenlegion, 18.03.1953; Antwort des Volkshauses vom 20.03.53 und Ar 464.15.7 Weisser Saal, Vortrag über die Französische Fremdenlegion durch Paul Steiner Gladwin, 08.04.1953. 41 | Eggenberg, Fremdenlegionär. Vgl. Schweizerisches Bundesarchiv E 3001(B)1978/31, Bd. 88, Schreiben von Dr. K. Naef, Generalsekretär Pro Helvetia, an das Sekretariat des Schweizerischen Jugendschriftenwerkes, 19.03.1957. 42 | Vgl. zum Beispiel Schweizerisches Bundesarchiv E 2200.41(-)-/37/B/9 Légation de Suisse en France: Situation des ressortissants suisses enrôlés dans la Légion étrangère, 26.02.1951; E 2200.41(-)-/39/37 Légation de Suisse au Ministère des Affaires étrangères, 06.01.1954; E 2300(-)1000/716/353 Ambassade de Suisse en France: Entretien avec le Général de Gaulle, 24.10.1958; E 2001(E)1976/17/435 Notiz für die Herren Bundesräte: Fremdenlegion, 25.09.1961. 43 | Vgl. Schweizerisches Bundesarchiv E 3001(B)1978/31, Bd. 88 Herr Rütsche, Eidgenössisches Departement des Innern, Sekretariat Sektion Filmwesen, an Universal Film SA, 22.10.1957.
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Nach dem Ende des Algerienkrieges flaute das internationale Interesse an der Fremdenlegion stark ab. In der Schweiz verbreitete sich zu Beginn der sechziger Jahre in der Bevölkerung, aber auch bei politischen Entscheidungsträgern und in der Presse sogar die Vorstellung, die Einheit existiere nicht mehr. Auch die Publikation von Memoiren ehemaliger Legionäre ging zunächst stark zurück, um dann ab den achtziger Jahren wieder etwas anzusteigen.44
K AMER ADEN AUS GANZ E UROPA Die Erfahrung der Fremdenlegion als paneuropäischer Begegnungsort ist in den Memoiren schweizerischer Exlegionäre unübersehbar, allerdings schien sie jeweils schon kurz nach dem Eintritt in die Legion zu verblassen angesichts der Begegnung mit einem noch viel fremderen Fremden in Übersee. Bei den Beziehungen unter den Legionären scheint deren Nationalität eine eher untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Zwar finden sich zur Thematik der Kameradschaft in den untersuchten Erinnerungsschriften widersprüchliche Aussagen, diese werden indessen nirgends ursächlich an die multinationale Zusammensetzung der Truppe geknüpft. Wie Thomas Kühne konstatiert hat, strukturiert Kameradschaft »in der einen oder anderen Form die soziale Praxis des Soldatenlebens […] zumindest seit dem Anbruch der Moderne«45 . Die dabei festgestellte Funktion der Kameradschaft als Familienersatz mit familienanalogen Rollenaufteilungen46 war auch in der Fremdenlegion von Bedeutung. Bruno Noli meinte allerdings, er habe schon bald erkennen müssen, »dass es in der Legion keine Kameradschaft gibt. Hier ist sich jeder selbst der Nächste.«47 Ähnlich hatte Friedrich Glauser 1922 aus der Legion seinem Vater geschrieben, »der Hass von Soldat zu Soldat, die Verleumdung, die Bosheit, alles, was es Niedriges im Menschen gibt« drücke ihn »unglaublich nieder«48 . Später hatte er aber in Gourrama kameradschaftliche und auch erotische Beziehungen zwischen Legionären beschrieben. Auch aus anderen Memoiren geht hervor, dass es ein Kameradschaftsethos gab, dass indessen dieses sich nur auf den engeren Kreis der eigenen Einheit bezog.49
44 | Vgl. Angst, So erlebte ich Vietnam; Lottaz, Le Bourlingueur; Lutz, Der Herr; Küttel, Auf dem falschen Zug; Meister, Kanonenfutter. Zudem erschienen 1999 die nach einem Jahrhundert entdeckten Memoiren von Emil Wälti (Wälti, Fieberschub) und 2000 ein Kriminalroman eines ehemaligen Legionärs (Eggenberger, Mord). 45 | Kühne, »›… aus diesem Krieg‹«, S. 176. 46 | Ebd., S. 186; Kühne, »Imaginierte Weiblichkeit«, S. 248-250. 47 | Noli, Aus der Hölle, S. 19. 48 | Ringier, »Unveröffentlichte Briefe«, S. 43. 49 | Vgl. zum Beispiel Strupler, Fünf Jahre, S. 27.
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Dieses und andere Themen, etwa der allgegenwärtige exzessive Konsum von Alkohol, wurden in den Legionserinnerungen weder als Eigenheiten bestimmter Nationalitäten noch als etwas typisch Französisches behandelt, sondern stets spezifisch mit der Fremdenlegion als in einem exotischen Umfeld operierender Einheit in Verbindung gebracht. War die Legion ein paneuropäischer Begegnungsraum, so nicht in dem Sinne eines Austausches kultureller Eigenheiten, sondern als ein Ort, an dem die nationale Herkunft des Einzelnen unwichtig wurde – auch wenn diese in den Legionserinnerungen bei der namentlichen Erwähnung von Kameraden zumeist genannt wurde.
D AS »L EGIONSL ASTER« ALS D IFFERENZIERUNGS UND E XOTISIERUNGSK ATEGORIE Nahmen die schreibenden Exlegionäre kaum Wertungen zwischen den einzelnen Nationalitäten vor, so diente in vielen Memoiren die Kategorie der sexuellen Orientierung als Kriterium, um innerhalb der Legionäre eine (moralische) Hierarchisierung vorzunehmen. Die Passagen in den Erinnerungsschriften über das in Diskursen aller Art über die Fremdenlegion immer wieder angesprochene Thema Homosexualität50 spiegelten in der Regel die generelle zeitgenössische Homophobie wider und bezogen gleichgeschlechtliche Sexualität in der Legion auf deren exotisches Umfeld.51 Diese Vorstellungen hielten sich auch in der Legionsforschung bis in die jüngere Zeit. John Laffin behauptete 1974, die Legion sei »always a breeding ground for abnormal sex behaviour« gewesen: »The legionnaire’s environment […] were such that a normal man’s resistance to homosexual activity was easily broken down. […] The severe discipline, the adverse climate, deadly monotony, vicious influence and, above all, alcohol undermined the legionnaire’s mental faculties and gradually weakened his moral standards. Homosexuality grew on him in easy stages.« 52
Ähnlich argumentierte noch 1991 Douglas Porch: »[Homosexuality] contributed to the lower moral tone about which there were many complaints. Some confirmed homosexuals came into the Legion from the penal units after 1900, and these could be vicious.«53 50 | So hieß es in einem deutschen Legionslied: »Es war einmal einer Mutter Sohn, der ging in die Fremdenlegion, Französisch lernt er nicht verstehn’, aber Arschficken und Zigarettendrehn’.« (zit. n. Michels, Deutsche, S. 32). 51 | Vgl. dazu auch Koller, »Sex«. Generell zum Thema Homosexualität und Kolonialismus siehe Aldrich, Colonialism. 52 | Laffin, The French Foreign Legion, S. 42. 53 | Porch, The French Foreign Legion, S. 310.
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In den Memoiren des 19. Jahrhunderts wurden gleichgeschlechtliche Beziehungen bestenfalls angedeutet, während sie dann ab dem frühen 20. Jahrhundert explizit thematisiert und in aller Regel verdammt wurden. Emil Wälti, 1894/95 als Legionär in Westafrika, erwähnte in seinen (nicht zur Publikation bestimmten) Memoiren eine Schiffsreise, auf der die Legionäre paarweise Walzer tanzten, »dass die Schiffsoffiziere ihre Freude hatten«54 , ohne die homoerotische Komponente dieser Vergnügung weiter zu erörtern. Paul Strupler dagegen empörte sich ein Vierteljahrhundert später über das »Legionslaster«, dem »aus Hunger oder aus Mangel an Geld« viele zum Opfer fielen. Es sei »eine Schande für Frankreich, dass ein solches Laster nicht mit allen Mitteln bekämpft wird; aber solange es Offiziere gibt, die ihm frönen und sich offen dazu bekennen, ist es ganz natürlich, dass keine Aenderung eintritt. Wir hatten einen Kameraden in unserer Kompagnie, einen Jungen von 17 Jahren aus besserer Familie, der im Anfange einen blossen Gedanken an so was mit Entrüstung zurückgewiesen hätte. Der brüstete sich später, weil er beliebt war bei einigen Offizieren«. 55
In den Mannschaftsrängen herrschte aber nach Struplers Erachten eine klare heterosexuelle Hegemonie: »[J]eder Legionär, der sich damit abgibt, sei er, was er wolle, wird von den andern verachtet«56. Henry Stähli bemerkte 1932: »Natürlich, ein junger, hübscher Kerl hatte immer etwa eine leichtere Arbeit, das heisst, wenn er rückwärts in ein Büro eintrat, wie man sich ausdrückt, oder abends in einer dunklen Ecke von einem Vorgesetzten gleich welchen Grades zu einem intimen Schäferstündchen erwartet werden konnte.«57 Glauser thematisierte in Gourrama verschiedene homosexuelle Beziehungen, ohne diese pauschal zu verurteilen – ein Umstand, der ihm kontroverse Diskussionen mit seinem Verleger eintragen sollte.58 Die Legionäre Schilasky und Todd pflegen in seinem Roman eine liebevolle Beziehung. Während Todd offenbar vor seinem Eintritt in die Legion keine homosexuellen Erfahrungen hatte, fühlte sich Schilasky seit seiner Jugend zu Männern hingezogen, litt indessen immer noch unter dieser Neigung: »Kannst Du mir sagen, warum ich nachher Gewissensbisse habe? Ich tue doch niemand etwas zuleid. Vielleicht ist meine Erziehung daran schuld, wer weiss. Aber ich habe immer den Eindruck eine grosse Sünde zu begehen.«59 Auch die Legionäre Patschuli und Peschke bilden ein »Liebespaar«60. Glauser schilderte indessen auch homosexuelle Kontakte, bei denen wie in den 54 | Wälti, Fieberschub, S. 78. 55 | Strupler, Fünf Jahre, S. 37. 56 | Ebd. 57 | Stähli, Erinnerungen, S. 20. 58 | Vgl. Glauser, Gourrama, S. 317. 59 | Ebd., S. 122. 60 | Ebd., S. 29.
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Erinnerungen Struplers und Stählis hierarchische Abhängigkeitsverhältnisse eine wesentliche Rolle spielten.61 Etwas anders erschien die Thematik in H. Seilers Erinnerungen. Bei ihm waren es Arrestanten und Deserteure, denen die Legion ihren Ruf als Hort der Homosexualität verdankte. So bezeichnete er die Legionsgefängnisse in Nordafrika als »Brutstätten des niedrigsten Lasters«: »Die scheusslichen Dinge, die in jenen afrikanischen ›Prisons‹ trotz häufiger Kontrolle vorkommen, lassen sich nicht einmal andeutungsweise wiedergeben. […] Beim unvermuteten Herannahen der ›Chaous‹ ruft der erste beste ›vingtdeux‹ zur Warnung, worauf alles in harmlose Untätigkeit verfällt.«62 Seiler behauptete auch, manche Arrestanten liebten »den Aufenthalt in jenen Räumen, um gewissen Lastern zu frönen«63 . Insgesamt betteten die meisten schreibenden Exlegionäre das Thema Homosexualität einerseits in eine generelle Kritik an den Zuständen und Hierarchien in der Fremdenlegion ein und führten andererseits die angeblich zahlreichen Beispiele gleichgeschlechtlicher Sexualbeziehungen ursächlich auf den exotischen Kontext zurück, in dem die Legion agierte. Die mit dem Eintritt in die Legion und spätestens der Überfahrt nach Algerien vollzogene kulturelle Transgression erschien zugleich auch als eine Transgression europäischer Moralvorstellungen, ein Akt, den die meisten Schreiber scharf verurteilten. Homosexuelle Kontakte zu Einheimischen wurden jedoch – mit der Ausnahme gleichgeschlechtlicher Vergewaltigungen von gefangenen Legionären durch nordafrikanische Rebellen64 – in den Texten mit homophober Tendenz kaum erwähnt. Offensichtlich erschien das Thema an sich schon als so exotisch und sensationell, dass die narrative Involvierung von »Wilden« unnötig erschien. Lediglich der das Thema Homosexualität ausführlich, aber nicht sensationalistisch aufbauschend behandelnde Glauser erwähnte in Gourrama beiläufig eine Liebschaft zwischen einem Offizier und einem arabischen Jungen unbestimmten Alters.65
D ER KOLONIALE B LICK AUF DIE »W ILDEN « Der eingangs erwähnte, auch den Legionärsmemoiren zugrunde liegende koloniale Blick wird in den Legionärsmemoiren am offensichtlichsten bei den Beschreibungen von Afrikanerinnen und Afrikanern, Asiatinnen und Asiaten. Die Dichotomie zwischen Europäerinnen und Europäern und Nichteuropäerinnen und Nichteuropäern beziehungsweise »Wilden« ließ in der Regel alle Differenzen zwischen den einzelnen in der Legion vertretenen Nationalitäten verblassen. Das Por61 | Ebd., S. 78f. 62 | Seiler, Fünf Jahre, S. 36f. 63 | Ebd., S. 58. 64 | Ebd., S. 48; Strupler, Fünf Jahre, S. 152 und 225f. 65 | Glauser, Gourrama, S. 12.
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trätieren der »Fremden« verschob sich in vielen Memoiren nach der Beschreibung einer durch exotistische Erwartungen geprägten Anfangsphase66 zunehmend in Richtung rassistischer Verachtung. So bezeichnete etwa Emil Wälti Westafrikanerinnen und Westafrikaner regelmäßig als »schwarze Teufel«67. Für ihre Lebensweise, die ihm »komisch« vorkam,68 hatte er nur Verachtung übrig. Besonders widerten ihn die Tischsitten an: »Beim Essen sieht man weder Gabel noch Löffel […]. Auf ein Zeichen des Familien Oberhauptes langen Alle in die Speise und führen dieselbe mit den Händen zum Munde. Was an den Händen hängen bleibt, wird zurück in das Gefäss geschlagen. Natürlich kann man sich denken, dass wir Europäer mit gutem Appetite (zum K…) zu geschaut haben, und viele wurden eingeladen mit zu helfen. Es gab sogar solche, welche mit diesen Schweinen mit assen und es noch sehr gut fanden (Bon apetit).« 69
Während in Wältis Wahrnehmung der Kolonisierten ein absolutes Überlegenheitsgefühl klar dominierte, war die Einstellung anderer Legionäre gegenüber Nordafrikanerinnen und Nordafrikanern komplexer. Zwar stand auch hier die eigene zivilisatorische Überlegenheit außer Frage, diese schien aber doch weniger deutlich, ja zuweilen gar ambivalent zu sein. So behauptete Heinrich Spinner 1901, Nordafrikaner seien »abgehärtete Natursöhne, gegenüber denen wir Nordländer ein verweichlichtes Geschlecht genannt werden müssen«, und »von sehr kriegerischem, ja grausamem Charakter«70. Gegenüber solchen »Wilden«71 durfte man europäische Eigentumsvorstellungen außer Acht lassen. Hans Lüthi berichtete 1887 mit großer Bewunderung von Kommandant François de Négrier, der die Ausplünderung einer arabischen Karawane einfädelte, weil sie den Legionären zu »unverschämt hohe[n] Preise[n]« Früchte angeboten hatte: »Unvermerkt gab er uns die Erlaubnis, die feilgebotenen Früchte ohne Bezahlung zu behändigen, was keiner weitern Aufforderung bedurfte. Im Augenblick hatten wir uns der vollen Säcke bemächtigt, immerhin nicht, ohne dass einige Araber die Messer zuckten, womit sie aber nicht mehr ausrichten konnten, als eine Tracht Prügel einzuheimsen. Zu guter Letzt kamen noch unsere Kameelstreiber […], fielen […] über die Verkäufer her, zogen ihnen die Kleider vom Leibe und schickten sie nackt wieder dorthin, wo sie hergekommen waren. Die Esel behielten wir«72. 66 | Vgl. zum Beispiel Wälti, Fieberschub, S. 27, oder Hunziker, Erlebnisse, S. 10. 67 | Wälti, Fieberschub, S. 34, 36 und 39. 68 | Ebd., S. 56. 69 | Ebd., S. 54. 70 | Spinner, Algiers, S. 35. 71 | Strupler, Fünf Jahre, S. 227. 72 | Lüthi, Erinnerungen, S. 48.
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Am offensichtlichsten war in den Erinnerungsschriften der Rassismus in Passagen über kriegerische Handlungen. Wälti beschrieb eine Strafaktion gegen ein westafrikanisches Dorf, dessen Bewohnerinnen und Bewohner sich vor den anrückenden französischen Truppen über einen Fluss in Sicherheit zu bringen versuchten, folgendermaßen: »Wir gaben ein heftiges Salvenfeuer auf die Schiffchen, welche vollgestopft waren mit Insassen. Krank konnte man sich lachen, wie einige von [den] Schwarzen in den Fluss purzelten oder wenn ein Schiffchen umleerte.«73 Etwas weniger amüsant waren offensichtlich die Auseinandersetzungen mit Rebellinnen und Rebellen in Nordafrika. In den Ausführungen über das Schicksal gefangener Legionäre und aufgegriffener Deserteure finden sich verschiedene Gräueltopoi wieder, die im Kolonialdiskurs auch in anderen Kontexten auftauchten; so das Abschneiden von Nasen, Ohren und Köpfen,74 die rituelle Kastration durch die »jungen Weiber«75 oder die gleichgeschlechtliche Vergewaltigung.76 »Wehe dem, der den Beduinen oder Kabylen in die Hände fällt«, rief etwa Strupler aus, der an anderer Stelle sogar von »Bestien in Menschengestalt«77 sprach, »unter den grausamsten Martern haucht er sein Leben aus, und am allergrausamsten sind die Weiber, haben wir doch schon Kameraden aufgefunden mit abgeschnittenen Ohren, der Leib aufgeschlitzt, mit Steinen angefüllt und wieder zugenäht; auch werden sie noch entmannt.«78 Tendenziell noch negativer war das Bild von den Indochinesen, die als »Christenmörder«79 beziehungsweise »Christenschlächter«80, »wildbrüllende Bestien«81 oder »Barbaren«82 tituliert wurden. Auch bei ihnen wiesen die Schreibenden allenthalben auf die ausgesprochene Grausamkeit hin, mit der sie gefangene Europäer angeblich behandelten.83 Im Unterschied zu den Nordafrikanern, bei denen teilweise die Tapferkeit und sogar die »Wildheit« bewundert wurden, erschienen asiatische Krieger in den Erinnerungsberichten kaum je als Individuen, sondern tauchten »wie Ameisen aus dem Boden hervor und fingen an auf uns zu feuern«.84 Gegen diese Feinde kannten auch die Legionäre keine Gnade, wie in den Memoi-
73 | Wälti, Fieberschub, S. 70. 74 | Seiler, Fünf Jahre, S. 48; Strupler, Fünf Jahre, S. 54, 225f. und 228. 75 | Ebd., S. 54 und 225f. 76 | Seiler, Fünf Jahre, S. 48; Strupler, Fünf Jahre, S. 152 und 225f. 77 | Ebd., S. 225. 78 | Ebd., S. 54. Vgl. auch Seiler, Fünf Jahre, S. 58. 79 | Kaufmann, Feldzug, S. 4. 80 | Trüb, Erlebnisse, S. 56. 81 | Kaufmann, Feldzug, S. 24. 82 | Ebd., S. 24f. 83 | Bolliger, Aus dem Leben, S. 33f.; Kaufmann, Feldzug, S. 4, 24 und 39f.; Lüthi, Erinnerungen, S. 100 und 113. 84 | Kaufmann, Feldzug, S. 24.
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ren freimütig illustriert wurde.85 Robert Kaufmann etwa, der bei der französischen Eroberung Nordvietnams dabei gewesen war, schilderte eine Aktion lapidar mit den Worten: »Am 8. Dezember 1885 umringten wir die Feinde in einem Dorfe an der chinesischen Grenze, zündeten dasselbe an und bewachten die Ausgänge. Sämmtliche Tonkinesen starben den Feuertod.«86
K ONTAK TNAHMEN ZUM » UNTERLEGENEN « G ESCHLECHT DER » UNTERLEGENEN « V ÖLKER Die Kolonialgeschichte hat seit einiger Zeit auf die Relevanz geschlechtergeschichtlicher Aspekte bei der Analyse kolonisierter Gesellschaften und imperialistischer Machtbeziehungen hingewiesen.87 Auch in den Memoiren schweizerischer Exlegionäre finden sich häufig Passagen, die sich explizit oder implizit mit der Kategorie Geschlecht auseinandersetzen. Einige wenige Legionäre äußerten sich zu den Geschlechterrollen in kolonisierten Gesellschaften. Emil Wälti etwa bemerkte über Westafrika, »der schwarze Mann« liege »den ganzen Tag […] in der Sonne […], während dem seine Frau oder auch seine Frauen die Arbeiten verrichten«88. Ähnliches beobachtete Wilhelm Bolliger in Nordafrika, wo die Männer »sehr arbeitsscheu« seien, während »ihre Weiber und Kinder […] die schwersten Arbeiten zu verrichten haben«89 . Ein weitaus häufigeres Thema, in dessen Kontext die Männer der kolonisierten Gesellschaften weitgehend ausgeblendet wurden, waren Beziehungen zwischen Fremdenlegionären und einheimischen Frauen.90 Viele der schreibenden Legionäre vor 1914 schwiegen sich dazu indessen aus oder äußerten sich nur verklausuliert. So erzählte Wälti, nach der Zerstörung eines Dorfes im Senegal und der Ermordung seiner männlichen Bewohner habe der Hauptmann angeordnet, »dass ein Jeder Europäer sich ein Weib aussuchen solle, welches ihm waschen und putzen könne«; die übrigen Frauen habe man »mit genommen als Sklaven«91 . Als die Einheit ein paar Wochen später verlegt wurde, seien »einige mit schweren Her-
85 | Vgl. zum Beispiel Bolliger, Aus dem Leben, S. 33f.; Kaufmann, Feldzug, S. 21 und 39f.; Trüb, Erlebnisse, S. 56. 86 | Kaufmann, Feldzug, S. 39. 87 | Vgl. zum Beispiel Gouda, »Das ›unterlegene‹ Geschlecht«; Bryder, »Sex«; Stoler, »Making Empire«; Stoler, Race; Stoler, Carnal Knowledge; Burton, Gender; Levina, »Sexuality«. Zum Verhältnis der Kategorien Geschlecht und Rasse in europäischen Kolonialdiskursen siehe auch Weigel, »Zum Verhältnis«; Koller, »Enemy Images«. 88 | Wälti, Fieberschub, S. 54. 89 | Bolliger, Aus dem Leben, S. 18. 90 | Vgl. dazu auch Koller, »Sex«. 91 | Wälti, Fieberschub, S. 65.
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zen« von den Frauen geschieden, »da man doch gut gepflegt worden war, wenn man sich unwohl fühlte«92 . In der Zwischenkriegszeit wurden einige Autoren offener. In Gourrama unterhalten sowohl der Glauser selbst stark nachempfundene Korporal Lös als auch Leutnant Lartigue eine Beziehung zu einer Marokkanerin. Die Liaison zwischen Lös und der Marokkanerin Zeno wird mittels Geldgeschenken an Zenos Familie eingefädelt: »Lös dachte nicht lange nach. Ob er das Geld schliesslich vertrank oder es dem Alten gab, war doch gleichgültig. Und dann: Niemand kontrollierte ihn, ob er in der Nacht im Posten schlief oder nicht. Die Nächte würden weniger einsam sein […]. Zeno hatte sich aufgesetzt und blickte Lös erwartungsvoll an. Da griff er in die Tasche und holte die zwei Hundertfrankenscheine hervor und gab sie dem Alten. ›Sachar‹ sagte dieser, nickte und klopfte Lös auf die Schulter. Das Geschäft schien ihn nicht weiter aufzuregen.« 93
Das arabische Mädchen taucht auch in Glausers Kurzgeschichte Zeno auf, hier allerdings als Geliebte des Sergeanten Sitnikoff. In beiden Geschichten wird sie schließlich für eine Flasche Anisette an einen Kameraden weiterverkauft: »Zeno war traurig gewesen, zuerst, aber dann hatte sie gelacht […]: Dies Lachen war Pierrard teuer zu stehen gekommen. Denn Zeno hatte ihn gequält, ihn gezwungen, ihr Kleider zu kaufen und Schuhe und Strümpfe […] (europäische Kleider!)«94 . Von ähnlichen Praktiken in Indochina wusste zu Beginn der dreißiger Jahre August Riederer in einer Erlebnisserie in der Zürcher Illustrierten zu berichten.95 Er führte aus, dass es in Tonkin »Sitte« sei, »dass die Legionäre […] mit Annamitinnen in wilder Ehe leben«. »In Anbetracht vieler gegenseitiger Freiheiten« verliefen »diese schnell geschlossenen Ehen so gut wie nie unglücklich. Wem es nicht mehr recht passt, gleich ob Mann oder Frau, geht wieder seines Weges, um einen besser zusagenden Ehepartner zu suchen. Keine Seltenheit, dass die verschiedenrassigen Paare auch sehr gut zusammen auskamen. Kommt ein junger ›Soldat‹ zur Welt, so gilt der Mischling als französischer Staatsangehöriger und wird nach christlicher Weise getauft.«96
Verließ eine Einheit Tonkin, »so bleiben deren Frauen am jeweiligen Wohnort zurück, bis wieder ein neuer Soldat um ihre Hand anhält. Es kann deshalb vorkommen, dass viele Annamitinnen bis zehnmal eine neue Ehe eingehen.«97 Nach
92 | Ebd., S. 69. 93 | Glauser, Gourrama, S. 57f. 94 | Ebd., S. 278. 95 | Riederer, »Fremdenlegionär«. 96 | Ebd., S. 1176. 97 | Ebd., S. 1176.
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dieser freimütigen Schilderung des als Congaïsystem98 bezeichneten Phänomens der Legionärsehen auf Zeit wurde Riederers Artikelserie umgehend abgesetzt. Neben solchen Formen sexueller Kontakte war die offene Prostitution in der Fremdenlegion allgegenwärtig.99 Bereits vor dem Ersten Weltkrieg richtete die französische Armee in den Kolonien aus gesundheitspolitischen Überlegungen Truppenbordelle ein,100 in denen für die Legionäre im Unterschied zu den Bordellen für afrikanische Truppen keine Rassensegregation herrschte.101 Neben den B.M.C. – die Abkürzung konnte wahlweise für Bordel Militaire Contrôlé oder Bordel Mobile de Campagne stehen –, worunter neben den Bordellen an den Legionsstandorten auch das Mitführen von Prostituierten bei Feldzügen und Manövern verstanden wurde, gab es in Nordafrika einige eigentliche Bordellstädte, so im algerischen Sidi-Bel-Abbès und im nordmarokkanischen Meknès.102 Während die bis zum Ersten Weltkrieg entstandenen Erinnerungsschriften das Thema Prostitution ausklammerten, waren ab der Zwischenkriegszeit die schreibenden Exlegionäre mitteilsamer und erwähnten sexuelle Aktivitäten sowohl in offiziellen Bordellen als auch außerhalb derselben. Glauser widmete in Gourrama ein ganzes Kapitel einem als »Kloster« bezeichneten Militärbordell, das von einer Marokkanerin geleitet wurde und in dem arabische und schwarzafrikanische Frauen ihre Dienste anboten.103 Bruno Noli erwähnte, dass am Ende der Ausbildung in Saïda ein Truppenbordell mit vier Frauen – »drei Weisse und eine Negerin« – zur Verfügung gestanden habe, und nahm zugleich einen Preisvergleich mit den einheimischen Prostituierten vor: »Kostenpunkt: 120 Francs. Die Araberinnen sind billiger: 50 Francs. Wer aber mit einer solchen erwischt wird, erhält 14 Tage Prison. Und wer eine Krankheit einfängt, hat sie auf eigene Kosten kurieren zu lassen.«104 Erst Marius Lottaz, Fremdenlegionär 1936 bis 1941, berichtete 1983 in seinen Memoiren ausführlicher über Kontakte mit Prostituierten außerhalb der Militärbordelle und seine eigenen diesbezüglichen Aktivitäten. Nach Lottaz’ Darstellung war die Suche nach einer Prostituierten die übliche Handlung der Legionäre in Marokko nach der Soldverteilung. Bei der Schilderung eines Bordellbesuchs in Lottaz’ Memoiren spielt sich die präliminare Konversation mit der Bordellwirtin bemerkenswerterweise auf Arabisch ab. Der regelmäßige Konsum käuflichen Geschlechtsverkehrs fungierte bei den Legionären offensichtlich als Katalysator einer wenn auch basalen sprachlichen Akkulturation.105 Auch der von Lottaz ebenfalls 98 | Vgl. Porch, The French Foreign Legion, S. 507f.; Stoler, » Making Empire«. 99 | Vgl. dazu Koller, »Sex«; Comor, »Les plaisirs«. 100 | Vgl. Laffin, The French Foreign Legion, S. 38; Le Naour, Régénération, Bd. 2, S. 306. 101 | Le Naour, Régénération, Bd. 2, S. 402-407; Marks, »Black Watch«, S. 303-305. 102 | Vgl. Porch, The French Foreign Legion, S. 387; Laffin, The French Foreign Legion, S. 39f.; Rosen, In der Fremdenlegion, S. 129-131. 103 | Glauser, Gourrama, S. 157-170. 104 | Noli, Aus der Hölle, S. 37. 105 | Lottaz, Le Bourlingueur, S. 246.
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beschriebene Sex mit einer Gelegenheitsprostituierten im Slum wurde durch die Beherrschung einiger Brocken der Landessprache erleichtert.106 Eine engere Beziehung zu einer von Armut gebeutelten Araberin mochte der Westschweizer Legionär aber gleichwohl nicht eingehen: »Ces jeunes filles se donnaient pour une boîte de sardines ou de thon, pour quelques cigarettes ou un morceau de baveux, la misère et la faim les poussent à se prostituer. En sortir une du lot? Vous aviez alors toute la famille sur le dos jusqu’aux cousins éloignés. C’était sans espoir!«107 Sexuelle Beziehungen zwischen Fremdenlegionären und einheimischen Frauen, so vielgestaltig und asymmetrisch sie waren, schufen offenbar eine Zone gegenseitiger Akkulturation, die von den meisten schreibenden Legionären – die wichtigste Ausnahme ist hier einmal mehr Glauser – zwar nicht explizit thematisiert wurde, aber dennoch die Darstellung einzelner Kolonisierter veränderten. Während die Bewohnerinnen und Bewohner Afrikas und Asiens in den Erinnerungsschriften in der Regel als anonyme Kollektive repräsentiert und exotistisch und vor allem rassistisch stereotypisiert wurden, erhielten individuelle Sexualpartnerinnen, sogar wenn es sich um Prostituierte handelte, in den Beschreibungen wenn auch zuweilen keinen Namen, so doch wenigstens ein Gesicht.
F A ZIT Die untersuchten Erinnerungsschriften schweizerischer Exfremdenlegionäre zeichnen sich als Teil eines breiteren Diskurses über exotische koloniale Welten dadurch aus, dass ihnen im Unterschied zu zahlreichen anderen Texten eigene Erfahrungen der Autoren in den französischen Kolonien zugrunde lagen. Widerspiegeln sie primär den durch Exotismus und Rassismus konstituierten kolonialen Blick, so scheinen zuweilen auch von den Schreibenden in der Regel kaum reflektierte und durchaus reziproke Akkulturationsprozesse zwischen Kolonisierten und Legionären durch. Insofern erscheinen die schreibenden Exlegionäre als kolonial und postkolonial zugleich. Als ehemalige Mitglieder einer Kolonialarmee wurden sie durch ihre Schriften Multiplikatoren des kolonialen Blickes. Dennoch waren sie aber in verschiedener Hinsicht auch postkolonial: Individualbiographisch hatten sie mit ihrer Rückkehr in die Schweiz den Kolonialismus gleichsam hinter sich gelassen, ja einige lehnten ihn (zumindest in seiner französischen Variante) nun gar explizit ab. Zugleich waren sie durch ihre Transgression aber auch zu Trägern einer für postkoloniale Gesellschaften typischen Transkulturalität geworden. Positionierten die Schreibenden sich selbst grundsätzlich auf der Seite des überlegenen Europäertums, so kamen in ihren Ausführungen Vorstellungen einer zivilisatorischen Mission, wie sie gerade die französische Kolonialdoktrin betonte, kaum vor. Innerhalb der Gruppe der Legionäre spielte für die Selbstverortung der 106 | Ebd., S. 272. 107 | Ebd., S. 273.
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Schreibenden die Kategorie Nationalität kaum eine Rolle. Wichtiger war hier die Kategorie sexuelle Orientierung, wobei bezeichnenderweise bei der Dichotomisierung zwischen »normaler« Heterosexualität und »unmoralischer« Homosexualität jene der europäischen Moral, diese hingegen dem »exotischen« Kontext der Fremdenlegion zugewiesen wurde. Reziproke Akkulturationsprozesse, die sich in einer Kontaktzone im Umfeld der Legion beinahe zwangsläufig vollzogen haben, ließen manche Autoren namentlich bei Schilderungen von Kontakten zu einheimischen Frauen durchschimmern, ohne sie indessen als für die eigene kulturelle Identität relevant anzuerkennen. Die Rezeption dieser über einen Authentizitätsbonus verfügenden Texte und damit die Frage nach ihrer prägenden Reichweite in der schweizerischen Öffentlichkeit ist empirisch kaum erfassbar. Die Vielzahl der entsprechenden Schriften und ihr teilweiser Vorabdruck in der Presse deuten aber auf eine beträchtliche Nachfrage hin. Diese These kann auch durch die auf den ersten Blick in die gegenteilige Richtung deutenden Probleme bei der Publikation von Glausers Gourrama untermauert werden. Gerade weil sich der Roman in seiner literarischen Qualität von den üblichen Schriften abhob und die Legion statt als ein exotisches Abenteuer eher als einen Ort der Langeweile porträtierte, vermochte er offensichtlich der durch die Verleger antizipierten Erwartungshaltung des Publikums an ein Buch über die Fremdenlegion nicht zu genügen.108 Die französische Fremdenlegion und ihr koloniales Umfeld, so scheint es, verkörperten in den Augen der schweizerischen Öffentlichkeit geradezu idealtypisch den Gegensatz zu allem, was als »gutschweizerisch« gelten konnte. Dies machte sie verabscheuenswürdig und faszinierend zugleich.
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Bauern und Hirten reconsidered Umrisse der »erfundenen Schweiz« im imperialen Raum Bernhard C. Schär
Die Idee, dass die Schweiz aus einem freiheitsliebenden, frommen Volk von schlichten Bauern und Hirten hervorgegangen sei, gehört zum Kerngehalt schweizerischer nationaler Identität. Heute zählen Feste, an denen Menschen diese Idee mit Leben füllen, zu den aufwendigsten des Landes mit den meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmern.1 Seit den 1990er Jahren haben sich etliche Forschende über die Frage gebeugt, unter welchen historischen Bedingungen diese Idee entstand und weshalb sie so erfolgreich wurde. Der allgemeine Konsens dieser Debatte lautet, dass es sich um »imagologische Basteleien« (Guy Marchal) und Spekulationen mit Wurzeln im 15. Jahrhundert handle. Diese seien ab dem 18. Jahrhundert von städtischen europäischen Gebildeten zur Blüte getrieben worden. Der Mythos sei sodann im 19. Jahrhundert mit den Mitteln des neuen Bundesstaates – einer modernen Presselandschaft, Schulen und nationalen Festen – an breitere Bevölkerungskreise vermittelt worden. So eroberte er vorab im 20. Jahrhundert die Herzen und die Köpfe von immer mehr Menschen, die immer weniger nach der Art von Bauern und Hirten lebten. In der Geschichtsforschung ist daher von der »erfundenen Schweiz« die Rede.2 Während diese Analysen vieles für sich haben, versäumen sie es, einen wichtigen Umstand mit zu berücksichtigen. Wenn wir »Hirten und Bauern« als handliche Bezeichnung für Gesellschaften nehmen, die abseits der Städte Ackerbau 1 | Siehe unlängst etwa das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest 2010: http://www. frauenfeld2010.net, 14.06.2011. Für Kritik und Kommentare zu früheren Versionen dieses Textes danke ich den Herausgeberinnen sowie Tanja Rietmann, Andreas Zangger, Vera Sperisen, Michael Blatter, Konrad J. Kuhn und Andreas Weber. 2 | Den Auftakt dieser Debatte bildete der Sammelband Marchal/Mattioli, Erfundene Schweiz. Weitere wichtige Etappen waren: Lang/Sarasin, Die Erfindung; Weishaupt, Bauern; Altermatt/Bosshart-Pfluger/Tanner, Die Konstruktion einer Nation; Tanner, Nationale Identität; Zimmer, A Contested Nation; Marchal, Schweizer Gebrauchsgeschichte.
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betreiben oder mit Nutztieren leben, so sind wir mit folgendem erklärungsbedürftigen Phänomen konfrontiert: In der selben Zeit, in der europäische Gebildete die Idee eines frommen, freiheitsliebenden Hirten- und Bauernvolks in den Alpen erfanden, konstruierten sie ein weiteres Bild. Nämlich jenes, wonach die Mehrheit der Hirten und Bauern dieser Welt, die ab dem 16. Jahrhundert in den Amerikas sowie in Afrika, Asien und Australien unter europäische Herrschaft gerieten, das primitive, rückständige und zur Freiheit unfähige Gegenteil von dem darstellen, was Europa war oder sein sollte.3 Wie hängen also diese unterschiedlichen, aber zeitgleich sich entwickelnden Erfindungen von alpinen, respektive außereuropäischen Hirten und Bauern zusammen? Wie sich noch zeigen wird, gibt es etliche Evidenz dafür, dass Imperialismus und Kolonialismus für jene europäischen Gebildeten, die das Bild der schweizerischen Bauern- und Hirtennation mitkonstruierten, relevant war. Im Verbund mit einigen jüngeren Arbeiten zur schweizerischen Kolonialgeschichte4 schlage ich daher vor, die europäischen Debatten über das Wesen von Hirten und Bauern in den Alpen und andernorts in einem explizit imperialen Raum zu analysieren und damit eine postkoloniale Perspektive einzunehmen. Die Grundidee besteht darin, die im kolonialen Zeitalter entstandene Vorstellung, dass der »Westen« und der »Resten« zwei separate Sphären bilden und sich folglich auch separat erforschen lassen, aufzugeben. Und zwar zugunsten einer Konzeption, die die Austauschbeziehungen zwischen Europa und den Kolonien ins Zentrum der Analyse rückt. Eine solche »connected history« versteht Vergangenheit als etwas, das aus Verbindungen zwischen europäischen und kolonialisierten Gesellschaften innerhalb eines durch imperiale Machtverhältnisse strukturierten Raumes besteht.5 Bezogen auf das vorliegende Thema geht es also darum zu skizzieren, wie die »erfundene Schweiz« auch das Produkt einer mit dem Kolonialismus »verbundenen Schweiz« ist. Ich werde hierfür exemplarisch einige »Erfinder« des Bauern- und Hirtenmythos aus zwei Zeitabschnitten beleuchten: zum einen den Berner Universalgelehrten Albrecht von Haller. Er gilt als einer der Haupterfinder des Bauern- und Hirtenmythos im 18. Jahrhundert. Zum anderen beleuchte ich Naturforscher, die im 19. Jahrhundert Hallers umfassenden und vergleichenden Blick auf Steine, Pflanzen, Tiere und Menschen systematisierten. Etliche von ihnen widmeten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts dem anthropologischen Studium von »Naturvölkern« und lieferten damit wichtige Grundlagen für die Entstehung jener Wissenschafts3 | Insbesondere in Indien hat die Geschichte der »peasants« vor, während und nach der kolonialen Epoche im Rahmen der Subaltern Studies Group zu empirisch, epistemologisch und theoretisch wichtigen Einsichten geführt. Zusammenfassend: Chatterjee, »A Brief History«. 4 | Die hier vorgeschlagene Analyseperspektive hat wesentlich von der Lektüre von Zangger, Koloniale Schweiz, und Harries, Butterflies & Barbarians, profitiert. 5 | Als Gründungstext einer solchen relationalen Betrachtungsweise gilt der programmatische Sammelband von Cooper/Stoler, Tensions of Empire.
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disziplin, die sich ab 1900 auf das Studium der schweizerischen Bauern und Hirten spezialisieren sollte: die Volkskunde.
»I N JEDEM H OT TENTOT TEN STECK T NOCH EIN B ERNER O BERL ÄNDER «: A LBRECHT VON H ALLER (1708-1777) Als Hallers wichtigster Beitrag zur nationalen Identitätskonstruktion der Schweiz gilt sein Gedicht Die Alpen. Es handelt sich um eine romantische Beschreibung alpiner Natur und Menschen in 49 Strophen à zehn Zeilen. Sie wurde 1732 erstmals publiziert und avancierte schnell zum Bestseller. Elf Neuauflagen und Übersetzungen in zahlreichen europäischen Sprachen festigten in belesenen Kreisen die imaginäre Gleichsetzung von Hirten, Bauern und Alpen mit schweizerischer Identität.6 In der Haller-Forschung wird das Gedicht meist in einem europäischen Kontext interpretiert, als Beitrag zur zeitgenössischen Kultur- und Machtkritik. Hallers glückliche und freie Hirten in den Alpen hätten, so das Argument, als frühbürgerliche Kritik am höfischen Absolutismus und Luxus gedient sowie am Patriziat in Hallers Heimatstadt in Bern, das den europäischen Hochadel imitierte.7 Eine postkoloniale Analyseperspektive weitet diese Deutung aus, indem sie am Bewusstsein der europäischen Bildungseliten des 18. Jahrhunderts ansetzt. Diese Eliten lebten in der Zeit der Entdeckungsreisen und der europäischen Expansion. Das hatte zur Folge, dass sich Kultur- und Machtkritiker zu Hallers Zeit keinesfalls nur bei alpinen Hirten und Bauern bedienten. Sie argumentierten auch mit Verweis auf »wilde Völker« in den Amerikas, der Südsee, Afrika und andernorts, die vermeintlich außerhalb der Zivilisation lebten, und über welche sie mit zunehmend populären Reisebeschreibungen unterhalten wurden.8 So gesehen geht der Vorschlag hier dahin, Hallers Alpengedicht als Teil einer viel umfassenderen Debatte zu interpretieren, als dies bislang getan wurde – nämlich als Teil der anthropologischen Debatte, mit welcher europäische Gebildete die einsetzende europäische Eroberung der Welt, die ihnen eine enorme Vielfalt menschlicher Existenzweisen vor Augen führte, intellektuell verarbeiteten. Es ging um die Frage, was der vielgestaltige Mensch seiner Natur nach eigentlich sei. Als Argument für eine solche postkoloniale Lesart ziehe ich zunächst die Arbeit des Literaturwissenschaftlers Karl S. Guthke zu Hilfe, bevor ich darauf verweise, wie sich der koloniale Kontext im Alpengedicht selber manifestiert. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Karl S. Guthke hat Hallers frühe Lehrgedichte der 1730er Jahre untersucht, wozu auch das Alpengedicht zählt. Außerdem hat er die Rezensionen analysiert, die Haller als Redaktor der Göttingischen 6 | Steinke/Stuber, »Hallers Alpen«. 7 | Zusammenfassend dazu Achermann, »Dichtung«. 8 | Siehe dazu die klassische Studie von Pratt, Imperial Eyes.
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Gelehrten Anzeigen von 1746 bis zu seinem Tod 1777 über zeitgenössische Reisebeschreibungen aus Asien, den Amerikas und Afrika verfasste.9 Es kann hier nicht in extenso nachgezeichnet werden, wie Haller seine Lektüre von Reiseberichten nutzte, um mit Verweis auf »Huronen« in den französischen Kolonien Nordamerikas oder mit Verweis auf den Südseebewohner »Omai«, den Captain Cook nach Europa brachte, gegen katholische Erbsündtheorien anzuschreiben. Auch kann nicht vermittelt werden, mit welcher Polemik und Autorität sich Haller, der selber Europa nie verließ, über Fehler in den Beobachtungen von Forschungsreisenden und Widersprüchen in ihren Darstellungen ausließ. All dies und vieles mehr lässt sich mit großem Genuss bei Guthke nachlesen. Festzuhalten gilt nur, dass uns Guthke das Bild eines Gelehrten mit einem wahrhaft globalen Bewusstsein vor Augen führt. Haller war nicht nur über die neuesten Entdeckungen in Übersee bestens informiert, sondern gestaltete die europäische Debatte über die allgemeine Natur des Menschen, die sich als eine Folge der europäischen Expansion entfaltete, aktiv mit. Seine Position in dieser Diskussion lautete, so Guthke, »c’est tout comme chez nous«10. Wobei man wohl präzisierend ergänzen müsste, dass das »nous« nicht allzu wörtlich auf Haller selber bezogen werden sollte, sondern eher im Sinne von »unsere Wilden«. So sah Haller auf jeden Fall keine kategorialen Unterschiede zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern der Alpen oder Afrikas. Guthke hat diesen »aufgeklärten Universalismus«, wie er es nennt, prägnant so formuliert: »In jedem Hottentotten steckt noch ein Berner Oberländer«11 . Demnach sei das Alpengedicht, das Haller in jungen Jahren schrieb, als Teil einer humanistischen Aufklärungsanthropologie zu lesen. Sowohl in alpinen Hirten als auch in »Huronen« komme die wahre Natur des Menschen – seine Vernunft, Sittlichkeit und Freiheit – unverfälscht zum Ausdruck. Folglich gelte es, sie in Ruhe zu lassen, ja vor der üblen Zivilisation (etwa in Gestalt von katholischen Missionaren) zu schützen. Später sah Haller, im offenen Widerspruch zu seinem Zeitgenossen Rousseau, die »edlen Wilden« zunehmend durch ihren Mangel an Kultur in einem barbarischen Zustand gefangen. Sie müssten durch Bildung aus ihrer Unmündigkeit herausgeführt werden. Unabhängig davon, wo genau die »Anderen« auf dem Kontinuum zwischen Barbaren und edlen Wilden eingeordnet wurden, gilt es lediglich festzuhalten, dass es sich bei diesen Debatten um ein und denselben Diskurs handelte, den europäische Gelehrte mit Beispielen aus der ganzen Welt alimentierten. Und die Bewohnerinnen und Bewohner der Schweizer Alpen waren ein Beispiel unter anderen. Das heißt, wie sich gleich noch zeigen wird, nicht notwendigerweise, dass Haller alpine Hirten mit amerikanischen »Huronen« oder afrikanischen »Hottentotten« gleichsetzte. Der Punkt ist jedoch, dass Erstere ihre Position im anthro9 | Guthke, Das Abenteuer der Literatur; Guthke, Der Blick in die Fremde; Guthke, »Die Welt im Kopf«. 10 | Guthke, »Die Welt im Kopf«, S. 473. 11 | Ebd.
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pologischen Diskurs über die Natur des Menschen erst durch den Vergleich mit Letzteren erhielten. Ich komme daher zum zweiten Punkt meiner Argumentation: auf die Art und Weise, wie sich der koloniale Diskurs im Alpengedicht selber manifestiert. Eine wesentliche strukturelle Gemeinsamkeit besteht darin, dass das Alpengedicht ebenso wenig wie die europäischen Reisebeschreibungen aus den Kolonien an die beschriebenen Menschen selber adressiert ist. Haller benutzt gewissermaßen die alpinen Menschen für eine Diskussion, die nicht mit ihnen, sondern von gebildeten Städtern über sie geführt wird. Es handelt sich insofern um eine Fremddarstellung alpiner Wirklichkeiten, die vom »kommunikative[n] Machtgefälle« zwischen »Flachland und Bergland«12 profitiert, wie es in der kulturgeschichtlichen Alpenforschung genannt wird. Das zeigt sich im Gedicht selber etwa darin, dass die alpinen Menschen nie selber zu Wort kommen und auch nicht in ihrer je eigenen Individualität porträtiert werden, sondern lediglich als abstrakte Figuren, die dasjenige illustrieren sollen, was an ihnen »anders« ist als an jenen gebildeten Kreisen, an die sich Haller richtet. Der Fokus auf das »Anderssein der Anderen« – postkoloniale Theoretikerinnen und Theoretiker sprechen von »the othering of the other« – ist eines der wesentlichsten Merkmale europäischer kolonialer Kultur und hat in den Kulturwissenschaften in den letzten Jahrzehnten viel Aufmerksamkeit gefunden. Aus dieser umfangreichen Forschungsdebatte ist hervorgegangen, dass das Charakteristische an den »Anderen« in einer Sprache des Mangels oder der Abwesenheit von Etwas formuliert wurde, das für die europäische Gesellschaft wesentlich sei. Dazu zählen namentlich die Abwesenheit von Veränderung, Zivilisation und Kultur.13 Die Abwesenheit genau dieser Eigenschaften charakterisieren nun auch Hallers alpine Menschen, wobei dies im humanistischen Kontext seiner Zeit (noch) nicht unbedingt als Defizit, sondern auch als Vorzug verstanden wurde. Auf jeden Fall gibt es im Leben von Hallers Alpenmenschen keine Veränderungen und daher auch keine Zeit: »Das Leben rinnt dahin in ungestörtem Frieden, Heut ist wie gestern war, und morgen wird wie heut.« (93f.)14 Die gesellschaftlichen Regeln, nach denen die Hirten und Schäferinnen leben, geben sie sich nicht selber. Sie haben folglich keine Zivilisation, sondern leben in einem zeitlosen Ort, »wo die Natur allein Gesetze giebet« (121). Auch verfügen sie über keine Kultur, was sich auf verschiedene Weise äußert: In der Abwesenheit von Bildung (»Man bindet die Vernunft an keine Schulgesätze«, 83), der Abwesenheit von kulinarischer Verfeinerung (sie leben von »schlechten Speisen«, 198), aber auch in der Abwesenheit der Kunst des Flirtens, wie man heute sagen würde:
12 | Mathieu/Boscani Leoni, »Einführung und Zusammenfassung«, S. 15. 13 | Die klassische Studie hierzu stammt von Fabian, Time and the Other. 14 | Ich zitiere aus der neunten Auflage von 1762, siehe Haller, »Die Alpen«. Die Zeilenzahlen werden hier und für folgende Zitate im Haupttext in Klammern angegeben.
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B ERNHARD C. S CHÄR »Und lernt man nicht die Kunst nach Regeln liebzukosen, So klingt auch stammeln süss, ists doch nur das Herz,15 das spricht.« (157f.)
Ein weiteres wesentliches Merkmal des kolonialen »othering« besteht darin, die Unterschiede der »Anderen« zum gebildeten, europäischen Subjekt geschlechtsspezifisch zu differenzieren. So weist Haller den »Hirten« und den »Schäferinnen« unterschiedliche Rollen zu. In einer längeren Passage geht es etwa darum, dass sich Hirten beim Steinstoßen und Schwingen messen, während die »Schäferinnen« (110) zuschauen, bis sie von ihren Hirten erobert werden. Einmal vermählt, obliegt es dem Hirten seine Familie zu ernähren. Frühmorgens, »Entreißt der Hirt sich schon aus seiner Liebsten Küssen, Die seines Abschieds Zeit zwar haßt, doch nicht verschiebt.« (183-184)
Während er »mit freudigem Gebrüll« (186) die Kühe auf die Weide treibt, bleibt sie zuhause. Wenn er abends zurückkehrt, wartet sie bereits auf ihn: »Die Hirtin grüßt den Mann, der sie mit Lust erblicket, Der Kinder froh Gewühl frolockt und spielt um ihn. Und, ist der süsse Schaum der Euter ausgedrücket, So sitzt das matte Paar zu schlechten Speisen hin. Begierd und Hunger würzt, was Einfalt zubereitet, Bis Schlaf und Liebe sie umarmt ins Bett begleitet.« (195-200)
Obwohl also Haller die Frau als »Schäferin« oder »Hirtin« bezeichnet und ihr damit eine aktive Rolle in der Arbeitswelt – etwa beim Melken – zuspricht, sind in seiner Darstellung auch unverkennbar die frühen bürgerlichen Arbeits- und Geschlechterideale dargelegt, die in den naturbelassenen Alpenmenschen vermeintlich unverfälscht zum Ausdruck kommen. Dem Hirten kommt der vergleichsweise aktivere Teil der alpinen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft zu. Er verlässt das Haus, treibt die Kühe auf die Weide, während ihr Beitrag darin besteht, ihn gehen zu lassen, zuhause die Kinder zu betreuen und die Speisen zuzubereiten. Diese romantische Version eines glücklichen Lebens außerhalb der Zivilisation im alpinen Naturzustand erzählt also nicht nur davon, was die »Anderen anders« – und in diesem Fall so bewundernswert – macht. Das Gedicht handelt auch davon, dass Männer und Frauen im Naturzustand unterschiedliche Rollen einnehmen. Da diese Dichotomien auch charakteristisch sind für die Art und Weise, wie europäische Gebildete im 18. Jahrhundert über außereuropäische Gesellschaften zu schreiben beginnen, lohnt es sich, der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Mary Louise Pratt zu folgen. Sie hat in ihrer klassischen Arbeit über europäische Reiseberichte aus Übersee auf die systematische Verschränkung zwischen 15 | … und nicht etwa der verfeinerte Geist …
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der Wahrnehmung inner- und außereuropäischer Natur hingewiesen: »The systematizing of nature represents not only a European discourse about non-European worlds, […] but an urban discourse about non-urban worlds, and a lettered, bourgeois discourse about non-lettered, peasant worlds.«16 Mit Pratt lässt sich Hallers Alpengedicht folglich als integraler Teil des europäischen kolonialen Diskurses über die außereuropäische Welt lesen und fragen, wie er die alpinen Hirten in diesem Diskurs positionierte. So gewendet fällt auf, dass Haller – und viele seiner schweizerischen Nachfolger – alpine Hirten keinesfalls vollständig mit afrikanischen »Hottentotten«, kanadischen »Huronen« oder anderen außereuropäischen »Wilden« gleichsetzten. Um dasjenige, was die alpinen Wilden von den anderen unterschied, zu eruieren, mussten sie jedoch mit diesen verglichen werden. Im Alpengedicht geschieht dies mit folgender kleinen Bemerkung: »Wie sehr wünscht Peru nicht, so arm zu seyn als du!« (58)17 Im Vergleich zum Gold- und Silberreichtum in den Anden, so kann man Haller hier auslegen, sind die Alpen karg, »bedeckt … mit Steinen« (51) und ewigem Eis. Die relative Armut der Alpen im Vergleich zu den Anden entpuppt sich jedoch gleich mehrfach als Vorteil: Während das ehemals reiche Inka-Imperium von den Spaniern erobert und ausgebeutet wurde, sind die armen Alpenbewohnerinnen und -bewohner frei. Und: »[W]o die Freyheit herrscht wird alle Mühe minder« (59). Außerdem verhindert die Kargheit der Alpenlandschaft, dass ihre Bewohnerinnen und Bewohner die schlechten Sitten des reichen Mittellands annehmen beziehungsweise jene Faulheit und so weiter entwickeln, die Haller später bei anderen »Wilden« kommentiert, die im »Paradies« – etwa in der Südsee – lebten. Daher gelte: »Der Elementen Neid hat euer Glück vergrössert.« (40) Zusammenfassend lautet mein Argument hier also folgendermaßen: Obwohl Haller selber kaum reiste, war er kein Provinzler, sondern im Gegenteil aktiv in die Debatte über die allgemeine Natur des Menschen seiner Zeit involviert. Diese Debatte entfaltete sich als intellektuelle Reaktion unter europäischen Gelehrten auf die europäische Expansion, die laufend mehr »Wissen« über die Natur und Lebensweise von »Huronen«, »Hottentotten« und anderen außereuropäischen Menschen nach Europa brachte. Hallers Alpengedicht, das ein Beitrag über die Natur der alpinen Hirten und Bauern darstellt, würde ich als integralen Bestandteil dieser allgemeinen Debatte sehen. Um diese Sichtweise zu stützen, habe ich auf einige strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen kolonialen Repräsentationsweisen und der Repräsentation der Hirten im Alpengedicht hingewiesen: die Abwesenheit von Zivilisation, Kultur und Veränderung, die vermeintlich natürliche, patriarchale Geschlechterordnung sowie insgesamt die Tatsache, dass es sich hierbei nicht um einen Dialog unter gleichwertigen handelt, sondern um eine Debatte über diese Naturmenschen. Eine Debatte überdies, die von einem strukturellen »kommuni16 | Pratt, Imperial Eyes, S. 34f, meine Hervorhebung. 17 | Ins heutige Deutsch übersetzt entspricht der Sinn des Satzes in etwa der Formulierung »Wünschte sich nicht Peru, so arm zu sein wie Du?«
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kativen Machtgefälle« nicht nur zwischen helvetischem Bergland und Flachland, sondern generell von europäischen Zentren und zunehmend kolonisierten Teilen der außereuropäischen Welt profitierte. Auch wenn die alpinen Menschen nicht vollends mit außereuropäischen Wilden gleichgesetzt wurden, darf nicht übersehen werden, dass erst der Vergleich mit ihnen, das Charakteristische an ihnen enthüllt. Dabei fällt auf, dass das relative Mehr an Sittlichkeit und Freiheit, das die alpinen Menschen auszeichne, keinesfalls als intrinsische Eigenschaften gedeutet werden, sondern vielmehr als eine Folge der Abwesenheit von Bodenschätzen erklärt wird. Unausgesprochen verdankt es sich auch der Wohlgesinntheit jener herrschenden Familien in den Städten, die über ihre nur in einem sehr eingeschränkten Sinn »freien« Subjekte in den Alpen regieren. Wie ich im nächsten Abschnitt zeigen möchte, verfestigt sich diese diskursive Konstellation während des forcierten Imperialismus der europäischen Großmächte im 19. Jahrhundert. Die Debatte über die Natur der Alpenmenschen wird als integraler Bestandteil der umfassenderen Debatte über die »Naturvölker« (wie sie nun genannt werden) in den europäischen Kolonien fortgeführt. Sie gipfelt in der Institutionalisierung der Volkskunde als Spezialwissenschaft für alpine Völker in der Schweiz.
»D URCH DIE B EOBACHTUNG FREMDER V ÖLKER ZUR S ELBSTBEOBACHTUNG «: A NTHROPOLOGIE UND V OLKSKUNDE UM 1900 Als wichtigster institutioneller Ort dieser Entwicklung sind in der Schweiz zunächst die physikalischen Gesellschaften des ausgehenden 18. Jahrhunderts sowie später die Naturforschenden Gesellschaften im 19. Jahrhundert zu sehen.18 Sie vereinigten gebildete Männer unter der Selbstbezeichnung »Naturforscher«. Diese systematisierten und institutionalisierten Hallers umfassenden Gelehrtenblick, der alpine und außereuropäische Wirklichkeiten miteinander verknüpfte. Mit der Zeit fächerten sie diesen Blick in verschiedene Disziplinen wie Zoologie, Geologie oder Geographie auf, die sich in wissenschaftlichen Sammlungen in den naturhistorischen und völkerkundlichen Museen sowie mit entsprechenden Lehrstühlen an den Universitäten institutionalisierten.19 Durch ihre Mitglieder, den Austausch von Fachzeitschriften und den Aufbau von Bibliotheken waren die Naturforschenden Gesellschaften der Schweiz auf vielfältige Weise mit analogen Gelehrtengesellschaften in den Kolonialmächten vernetzt. Über diese Gesellschaften war daher auch die Schweiz in den Aufbau einer europäischen, imperialen Wissensordnung 18 | Zangger, Koloniale Schweiz, S. 348-363. 19 | Das Verhältnis der Beiträge über die außereuropäische und alpine Natur innerhalb dieser Gesellschaften ist empirisch noch ungeklärt. Für Hinweise siehe Harries, Butterflies & Barbarians, S. 123-131.
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eingebunden.20 Zu dieser Wissensordnung gehörte – ähnlich wie bei Haller – auch die anthropologische Diskussion der Frage, was denn der Mensch von Natur aus sei. Anders als bei Haller fand diese Debatte vor allem ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts jedoch nicht mehr unter humanistischen Gesichtspunkten statt. Es ging also nicht mehr um die Frage, ob es eine in der Natur begründete universelle Vernunft gäbe, an welcher alle Menschen teilhätten. Es ging nun vielmehr um das, was der Historiker Andrew Zimmerman mit Blick auf Deutschland als »antihumanistische Anthropologie« bezeichnet hat.21 Anders als die Geisteswissenschaften wollten die Anthropologen den Menschen nicht hermeneutisch, also nicht über das Studium seiner Texte, studieren. Eine solche Vorgehensweise hielten sie für elitär und eurozentrisch, da damit nur jene kleine Minderheit der Menschheit ins Blickfeld rücke, die Texte und andere Geisteserzeugnisse produziere – also die »Kulturvölker«. Jene Naturforscher, die sich vermehrt auf die Anthropologie zu spezialisieren begannen, propagierten daher eine naturwissenschaftlich fundierte Humanwissenschaft, die sich mit Schädeln, Knochen, Haut-, Augen- und Haarfarben der Menschen befasse und sich somit der Mehrheit der Menschheit zuwenden könne, die in Vergangenheit und Gegenwart ohne Kultur als »Naturvölker« gelebt hätten. Die historische Voraussetzung für die antihumanistische Anthropologie in Deutschland war der Kolonialismus des Kaiserreichs, der deutschen Forschern Zugang zu »Naturvölkern« ermöglichte. »Imperialism« war daher, so Zimmerman, »the sine qua non of anthropology«22 . Zum analytischen Schlüsselkonzept der antihumanistischen Anthropologie entwickelte sich jenes der »Rasse«. Ziel war es, die Menschheit in Vergangenheit und Gegenwart in verschiedene Rassen einzuteilen, ihre Beziehungen untereinander sowie ihre Entwicklungsstufen zu eruieren. In der Schweiz waren etliche Naturforscher aktiv in die Debatten der antihumanistischen Anthropologie eingebunden. Aus ihrer Feder entstanden zwischen den 1860er und den 1950er Jahren etliche Untersuchungen nicht nur zu »Naturvölkern« in den Kolonien, sondern auch zur Bevölkerung der Schweiz.23 Ähnlich wie bei Haller handelte es sich auch bei diesen rassenkundlichen Untersuchungen der Naturforscher um eine Diskussion, welche gebildete Städter nicht mit, sondern über alpine und ländliche Gesellschaften führten, die sie in einer zeitlichen Distanz zu sich selber positionierten. So hielt der Zürcher Anthropologieprofessor Rudolf Martin 1897 in seinem programmatischen Artikel über Ziele 20 | Siehe dazu die Analyse der internationalen Vernetzung von geographischen Gesellschaften in der Schweiz mit jenen der Kolonialmächte bei Zangger, Koloniale Schweiz, S. 359-363. 21 | Zimmerman, Anthropology. 22 | Ebd., S. 7. 23 | Eine historische Untersuchung dieser Wissenschaft steht noch aus. Für Hinweise, allerdings nur mit Fokus auf die Universität Zürich, siehe Zürcher, Unterbrochene Tradition, S. 215-237. Anregend auch die biographische Reportage von Keller, Der Schädelvermesser.
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und Methoden einer Rassenkunde in der Schweiz fest: »Dass wir uns hier zunächst an die Landbevölkerung, an mehr oder weniger abgeschlossene Dorf- und Thalschaften und erst in zweiter Linie an die einbruchsoffene Tiefebene, an die Völkerstrassen und die Städte mit ihrem Vielseitigen Zuzug wenden müssen, ist wohl selbstverständlich.«24 »Selbstverständlich« verwies im Diskurs der Anthropologen um 1900 auf die kollektiv geteilte Überzeugung, dass sich die »Landbevölkerung« in ihren rassischen Merkmalen im Verlauf der Jahrhunderte kaum verändert habe, während es in der »Tiefebene« durch Migration zu »Vermischungen« gekommen sei. Diese Hypothese zu prüfen, machten sich in der Deutschschweiz Martins Nachfolger Otto Schlaginhaufen und seine Schüler zur Aufgabe. Daraus resultierte eine ansehnliche Anzahl von Untersuchungen zu Disentis, Schangnau, dem Toggenburg, dem Vals, dem Emmental und anderen alpinen und voralpinen Regionen.25 In diesen Untersuchungen manifestierte sich das generelle Problem der Rassenforschung: Da empirisch keine eindeutigen »Rassenmerkmale« auffindbar waren, wurden immer kompliziertere Messmethoden eingesetzt, deren Resultate in langen Messtabellen präsentiert wurden. Diese wurden in einer Sprache interpretiert, die zunehmend nichtssagend wurde.26 Durch das Festhalten am Rassenkonzept verfestigte sich jedoch nicht nur in den Wissenschaften die Überzeugung, dass die Menschheit aus verschiedenen »Rassen« bestehe.27 Die groß angelegten Reihenuntersuchungen brachten auch erhebliche Teile der schweizerischen Wohnbevölkerung mit der Idee in Kontakt, dass sich die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zur Schweiz an körperlichen Merkmalen wissenschaftlich erfassen lasse.28 Wichtig zu sehen ist, dass die schweizerischen Rassenstudien sich als Teil des imperialen Herrschaftsverhältnisses über kolonialisierte Gesellschaften konstituierten. So begannen fast alle der in diesem Abschnitt erwähnten und noch zu erwähnenden Forscher ihre Karrieren mit Studien über »Naturvölker« in deutschen, britischen oder niederländischen Kolonien. Im Fall von Rudolf Martin waren dies unter anderem Studien über »Senoi« in den britischen Kolonien des malaiischen 24 | Martin, »Ziele und Methoden«, S. 34. 25 | Eine gute Zusammenfassung aus zeitgenössischer Optik liefert Studer, Über den Begriff; vgl. auch Zürcher, Unterbrochene Tradition, S. 221-229. 26 | Zum Versuch der Anthropologen, eine nichtnarrative Wissenschaftssprache zu entwickeln, siehe Zimmerman, Anthropology, S. 54-56. 27 | Speziell zur Verfestigung des Rassenkonzepts als Idee, trotz oder gerade wegen des empirischen Scheiterns der Anthropologie um 1900, siehe Hanke, Zwischen Auflösung. 28 | Die erste solche Untersuchung führte die Naturforschende Gesellschaft der Schweiz in den 1870ern an 400.000 Schulkindern durch (Kollmann, »Die statistischen Erhebungen«). Aus dem Umfeld von Otto Schlaginhaufen folgten zahlreiche weitere nach. Die Größte bestand aus der Vermessung von 35.511 Rekruten (vgl. Zürcher, Unterbrochene Tradition, S. 225).
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Archipels.29 Im Fall von Otto Schlaginhaufen war dies die Teilnahme an einer Forschungsexpedition auf der deutschen Kolonie »Neu-Mecklenburg«, einer Insel im heutigen Papua Neuguinea.30 Darüber hinaus manifestierte sich der koloniale Kontext aber auch in der Sprache der schweizerischen Rassenforscher: Der Berner Zoologieprofessor Theophil Studer etwa, der seine Karriere in den 1870ern als Teilnehmer auf dem deutschen Expeditionsschiff S.M.S. Gazelle startete, verglich prähistorische Schädel aus der Schweiz mit solchen von »Negern«, »Lappen«, »Buschmännern« oder anderen »alten, primitiven Rassen«31 . Da eine systematische Analyse der ideologischen Reichweite der schweizerischen Rassenwissenschaften noch aussteht,32 soll zum Schluss lediglich auf ein Phänomen hingewiesen werden, das genauer zu analysieren sich lohnen dürfte. Es geht um den Zusammenhang zwischen der Rassenforschung und jener Wissenschaft, die sich schließlich auf das Studium der schweizerischen alpinen Bevölkerung spezialisieren sollte: die Volkskunde. Der bereits erwähnte Zürcher Anthropologe Rudolf Martin publizierte seinen Grundlagenartikel über Ziele und Methoden einer Rassenkunde in der Schweiz 1897 im Archiv für Volkskunde.33 Diese Zeitschrift war vom Basler Germanisten und Gründungspionier der schweizerischen Volkskunde, Eduard Hoffmann-Krayer34 , ins Leben gerufen worden. Dass Martin in diesem Organ schrieb, war kein Zufall, bestanden doch zwischen Hoffmann-Krayer und den Rassenforschern nicht nur enge personelle Kontakte, sondern auch wesentliche theoretische und ideologische Übereinstimmungen. Die wichtigste dieser Verbindungen war zweifellos jene mit den Basler Privatgelehrten Fritz und Paul Sarasin. Die Sarasins waren ausgebildete Zoologen und verstanden sich als Naturforscher in der Tradition von Humboldt und Darwin. International berühmt wurden sie vor allem mit ihren anthropologischen Studien über die »Weddas« in der britischen Kronkolonie Ceylon (Sri Lanka) sowie die »Toala« in der niederländischen Kolonie Celebes (heute: Sulawesi, Indonesien). Sie deuteten diese Gruppen als vom Aussterben bedrohte Überreste einer evolutionären Übergangsstufe zwischen Schimpansen und Menschen.35 29 | Siehe etwa die Würdigung des Schaffens von Rudolf Martin für seine Beiträge zur Anthropologie des malaiischen Archipels durch Kleiweg de Zwaan, De Rassen, S. 124-132. Für diesen Hinweis danke ich Fenneke Sysling. 30 | Zimmerman, Anthropology, S. 228-235. 31 | Siehe hierzu etwa die zeitgenössische Zusammenfassung in Studer, Über den Begriff. 32 | Wichtige Hinweise bei Zürcher, der als Grund für den marginalen Einfluss der Soziologie auf die gesellschaftliche Selbstwahrnehmung der Schweiz im frühen 20. Jahrhundert die kulturelle Dominanz der Rassenforschung vermutet. Zürcher, Unterbrochene Tradition, S. 215-237. 33 | Martin, »Ziele und Methoden«. 34 | Lenzin: »Hoffmann«. 35 | Siehe die zeitgenössische Würdigung ihres Werkes in Kleiweg de Zwaan, De Rassen, S. 106-124.
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Der Bezug zur Volkskunde ergibt sich dadurch, dass die Rassenforschung nicht nur auf dem Sammeln und Vermessen von Schädeln beruhte, sondern auch auf der systematischen Sammlung von ethnographischen Objekten. Um diese in Basel ausstellen und wissenschaftlich auswerten zu können, übernahmen die Sarasins 1899 die Leitung der ethnographischen Sammlung im Naturhistorischen Museum, die sie bald zu einem eigenständigen Völkerkundemuseum ausbauten. Innerhalb des Museums wurde – neben einer urgeschichtlichen – auch eine volkskundliche Sammlung angelegt, also eine Sammlung mit ethnographischen Objekten aus der ländlichen und alpinen Bevölkerung der Schweiz.36 Den Aufbau und die Betreuung dieser Sammlung überließen die Sarasins 1904 ihrem Basler Kollegen Eduard Hoffmann-Krayer. Durch den systematischen Vergleich der Objekte aus all diesen Sammlungen konnte nun, wie Fritz Sarasin als Präsident der Naturforschenden Gesellschaft Basels 1917 ausführte, auch dasjenige erforscht werden, »was gewöhnlich als europäische Volkskunde bezeichnet wird, die alte Niederkultur, die von einer dünnen Decke von Hochkultur nur kümmerlich zugedeckt, dem aufmerksamen Auge überall und naturgemäss vorzugsweise auf dem Lande und in abgeschlossenen Gebirgstälern entgegentritt. Hier sind die Fäden zu suchen und unschwer zu finden, die unsere eigene Kultur aufs engste verknüpfen mit denen der Halbkultur- und Naturvölker der übrigen Erdteile.« 37
Die Früchte dieser Forschungen wurden 1924 von Ludwig Rütimeyer, der die Afrikasammlung im Basler Völkerkundemuseum betreute, in einer umfangreichen Monographie zusammengefasst.38 So führte Rütimeyer etwa am Beispiel der Ackerbaugeräte aus, wie die wirtschaftliche Entwicklung von Poschiavo, einem Tal im Kanton Graubünden, zwar noch auf einer vorindustriellen Stufe verblieben sei. Im Vergleich zu »Buschmännern«, »Weddas« und anderen »primitiven Völkern« sei sie jedoch durchaus vom Natur- in den Kulturzustand übergegangen. Verfügten »Naturvölker« nur über »äusserst primitive« Haken und Grabstöcke, die im Basler Völkerkundemuseum zu sehen waren, habe sich in Poschiavo bereits zur Zeit der Etrusker der von Tieren gezogene Pflug etabliert.39 Ähnlich wie Haller setzten die Volkskundler also die alpinen Menschen nicht mit außereuropäischen »Naturvölkern« gleich. Ihr relatives Mehr an Kultur konnte aber erst durch den Vergleich mit diesen eruiert werden. Dabei gilt es zu beachten, dass die Ablösung der Hacke durch den Pflug in Rütimeyers Konzeption nicht nur den Übertritt vom Natur- in den Kulturzustand anzeigte, sondern auch die Etablierung der für »Kulturvölker« angemessenen Geschlechterordnung. In Rütimeyers Worten: »Mit der Erfindung 36 | Eine Zusammenfassung der Museumsgeschichte liefert Sarasin, »Ansprache«. 37 | Ebd., S. 205. Man beachte, dass mit »unserer Kultur« nicht jene der bürgerlich-urbanen Gebildeten, sondern jene der alpinen Bevölkerung, die sie studierten, gemeint war. 38 | Rütimeyer, Ur-Ethnographie. 39 | Ebd, S. 266-281.
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des Pflugs als Spanngerät des Ackerbaus, wohl erst nur von Menschen (Frauen), dann von Haustieren gezogen, eröffnet sich mit der sogenannten Pflugkultur […] so recht die Männerarbeit im Ackerbau.«40 In der disziplinengeschichtlichen Forschung zur Volkskunde finden sich kaum je Hinweise zu den Sarasins und anderen Rassenforschern. Als eigentlicher Pionier gilt Eduard Hoffmann-Krayer,41 der als studierter Germanist seine Disziplin auf die Dauer gesehen tatsächlich stärker philologisch ausrichtete als seine naturwissenschaftlich ausgebildeten Kollegen im Völkerkundemuseum. Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass es die Rassenforschung war, die das Bewusstsein für vergleichbare Phänomene innerhalb der alpinen Gesellschaften stärkte und somit die Etablierung der Volkskunde als Disziplin, die sich auf diese Phänomene spezialisierte, förderte. Darauf wies Hoffmann-Krayer in seinem programmatischen Einleitungsartikel der ersten Nummer der frisch gegründeten Fachzeitschrift für Volkskunde von 1897 selber hin. Die ersten Sätze lauten: »Nachdem durch die grossartigen Forschungsreisen in unbekannte Gebiete das Interesse an der Anschauungs- und Lebensweise primitiver Völker in immer weiteren Kreisen geweckt worden war, hatte man in neuerer Zeit auch angefangen, sein Augenmerk auf die einheimischen Verhältnisse zu richten und dabei entdeckt, dass ein ungeheures Forschungsgebiet von höchstem historischen Interesse Jahrhunderte lang brach gelegen habe. Man war also auch hier wieder, wie so oft schon, durch die Beobachtung des Auffallenden an fremden Völkern auf dem Wege des Vergleichs zur Selbstbeobachtung vorgeschritten.« 42
Die theoretische Fundierung dieser »Selbstbeobachtung« präzisierte HoffmannKrayer 1902 in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Basel in der berühmt gewordenen Formulierung »vulgus in populu«43 . Der Text basiert auf einer Unterscheidung zwischen einerseits »Faktoren einer höheren Civilisation«44 , dem »populus«. Dazu zählten Dinge wie Schulen, Wissenschaften, Kunst oder Wirtschaft, die »unter der Führung prädominierender Individuen einer steten Entwicklung nach oben unterworfen sind«45 . Auf der anderen Seite gebe es in der Nation aber auch das »vulgus«, verstanden als die seit Urzeiten unveränderten, statischen Überreste, die sich beim »Volk« zeigten; so namentlich »die primitiven Anschauungen und die volkstümlichen Überlieferungen; Sitte, Brauch, abergläubische Vorstellungen, Dichtung, bildende Kunst, Musik, Tanz, Sprechweise usw. in ihren niedern, auf weite Schichten sich ausdehnenden Stufen«46. 40 | Ebd., S. 266, runde Klammern im Original. 41 | Siehe zum aktuellen Stand der Forschung Schürch/Eggmann/Risi, Vereintes Wissen. 42 | Hoffmann-Krayer, »Zur Einführung«, S. 1. 43 | Hoffmann-Krayer, Die Volkskunde. 44 | Ebd., S. 7. 45 | Ebd., S. 11. 46 | Ebd., S. 6, Hervorhebung im Original.
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Die Volkskunde habe sich vor allem mit Letzterem zu beschäftigen. Denn: »In erster Linie wird es das ›vulgus‹, das niedere, primitiv denkende, von wenig Individualität durchdrungene Volk sein, in dem sich das eigentliche, ursprüngliche Volkstum widerspiegelt, und nicht der ›populus‹, die ›Nation‹.«47 Was die frühe Volkskunde mit der Rassenforschung also verband, war ein gemeinsames, evolutionistisch begründetes Interesse am Primitiven – zeige es »sich nun bei Bantu-Negern oder hinterpommerschen Bauern«48, wie Hoffmann-Krayer anmerkte. Dieses gemeinsame Interesse ergab sich durch institutionelle, personelle und ideologische Verbindungen, die nicht nur in Basel und nicht nur in der Schweiz einen integralen Teil der Gründungsgeschichte der Volkskunde auszumachen schienen.49
F A ZIT : V ON DER » ERFUNDENEN « ZUR » VERBUNDENEN S CHWEIZ« Mit dieser Skizze der Geschichte der Debatte über alpine Bauern und Hirten in der Zeit des Berner Universalgelehrten Albrecht von Haller, über ihre Transformation im Rahmen der Natur- und Rassenforschung bis hin zu ihrer wissenschaftlichen Institutionalisierung in der Volkskunde um 1900, sollte Folgendes gezeigt werden: Die für die Schweiz so wichtige Hirten- und Bauernidentität wurde nicht außerhalb, sondern innerhalb des imperialen Raums konstruiert. Die »erfundene Schweiz« ist insofern auch eine mit dem Kolonialismus »verbundene Schweiz«. Die Konstruktion alpiner »Hirten« ist verbunden mit dem historischen Schicksal von »Huronen«, »Hottentotten«, »Weddas«, »Toalas« und anderen Gruppen, die im imperialen Zeitalter unter europäische Herrschaft gerieten und in der Folge erforscht und beschrieben wurden. Diese Verbindungen ergeben sich durch die Arbeit von schweizerischen Schreibtischgelehrten wie Albrecht von Haller, der die europäische Expansion via Reiseberichte mitverfolgte und ihre intellektuelle Verarbeitung durch seine Publizistik mitgestaltete. Die historischen Verbindungen ergaben sich aber auch durch verschiedene schweizerische Feldforscher wie die Sarasins, die selber in die Kolonien reisten, um noch unbekannte Völker zu »entdecken« und zu beschreiben. Es ist dieser Kontext, in welchem diese Wissenschaftler auch die alpine Gesellschaft der Schweiz für sich entdeckten – und damit den Untersuchungsgegenstand der Volkskunde mitkonturierten. Die Debatte über Hirten und Bauern im kolonialen Kontext zu lesen, erlaubt es auch, einen frischen Blick auf die Bedeutung der Volkskunde für die politische Kultur der Schweiz zu werfen. Die Gründer der Volkskunde sahen sich nämlich 47 | Ebd. 48 | Ebd., S. 17. 49 | Vgl. zum Beispiel die Hinweise für die Volkskunde in Zürich bei Kuhn, »Unterbrochene Tradition«. Für eine gute Analyse der Entwicklung in den Niederlanden vgl. Ginkel/Henkes, »On peasants«.
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ebenso wenig dem »niedere[n], primitiv denkende[n], von wenig Individualität durchdrungene[n] Volk« in den Alpen zugehörig, wie die Rassenforscher sich zu den »Naturvölkern« in den Kolonien zählten. Vielmehr ist, wenn man HoffmannKrayers Konzept folgt, ihr Ringen um die Anerkennung der Volkskunde als Wissenschaft als selbstermächtigender Akt zu sehen. Als Wissenschaftler enthoben sie sich dem »vulgus«, um sich als jene »prädominierende[n, männlichen] Individuen« zu konstituieren, denen die »Führung«, also unter anderem die politische Repräsentation des »populus«, der Nation, obliegt. Dem von ihnen erforschten »Volk« kam hingegen lediglich die symbolische Repräsentation der Schweiz zu: das Bild eines ewig gleichbleibenden, patriarchalen Bauern- und Hirtenvolks am Leben zu erhalten, das unter Schutz und Führung wohlmeinender Individuen aus den Zentren steht.
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Zeitreisen durch die Welt Temporale und territoriale Ordnungsmuster auf Weltausstellungen und schweizerischen Landesaustellungen während der Kolonialzeit Christof Dejung Die Weltausstellung 1900 in Paris hatte sich hohe Ziele gesetzt. »Das ganze XIX. Jahrhundert gleichsam zusammenzufassen und die erzielten Fortschritte vor Augen zu führen – dies war das Programm der Ausstellung«, hielt der Schweizerische Generalkommissar Gustav Ador in seinem Bericht an den Bundesrat fest: »Während sechs Monaten sollten alle Produkte gewerblicher Thätigkeit aus der ganzen civilisierten Welt an einem bestimmten Orte gesammelt, […] die mannigfachen Beziehungen der Völker zu einander und die Mittel zur Beseitigung aller Entfernungen unter ihnen dargestellt, […] und endlich auf allen diesen Gebieten die verschiedenen Entwicklungsstadien in scharfer Weise hervorgehoben werden.«1
Adors Aufzählung fasst programmatisch den Anspruch zusammen, den die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts an sich selbst stellten.2 Doch entgegen den idealistischen und von einem kosmopolitischen Geist beseelten Deklarationen der jeweiligen Organisatoren waren die Weltausstellungen auch Veranstaltungen, welche hierarchische Ordnungen abbildeten und bekräftigten, die zwischen unterschiedlichen Teilen der Welt herrschten. Zum einen stellten sie eine Bühne für den Wettstreit der verschiedenen Industrieländer dar.3 Zum anderen bekräftigten die Ausstellungen durch die Darstellung von außereuropäischen Völkern als den
1 | Ador, Weltausstellung in Paris, S. 1f. – Ich danke Svenja Goltermann, Bernd-Stefan Grewe, Clara Mansfeld und Andreas Zangger für ihre Kommentare zu einer früheren Version dieses Beitrags. 2 | Vgl. Wörner, Die Welt an einem Ort, S. 7-9. 3 | Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 982.
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kolonialen »Andern« auch die Vorstellung, dass sich die unterschiedlichen Völker der Welt auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen befinden würden. Dieser Aufsatz möchte am Beispiel der schweizerischen Selbstdarstellung auf Welt- und Landesausstellungen der Frage nachgehen, inwiefern es sinnvoll ist, die Geschichte eines europäischen Landes, welches selber keinen Kolonialbesitz aufwies, mit den Analyseinstrumenten der postkolonialen Theorie zu untersuchen.4 Hierzu ist es zuerst nötig zu klären, inwiefern ein solcher Zugang auch ein neues Verständnis von »Nation« erfordert. Die Nation stellte nicht nur eine symbolische Kategorie dar, um die politische Herrschaft über ein bestimmtes Territorium zu legitimieren und sich von dem Herrschaftsanspruch anderer Nationalstaaten abzugrenzen. Das Konzept der Nation war im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert auch direkt mit der kolonialen Weltordnung verknüpft. Denn bloß zivilisierte Länder – und damit waren in der Regel die europäischen Staaten oder ehemalige europäische Siedlerkolonien gemeint – konnten für sich den Status einer Nation in Anspruch nehmen. Der Rest der Welt, insbesondere viele Länder Asiens und Afrikas, galten nicht als Nationen, sondern waren Besitztümer der europäischen Kolonialmächte.5 Dipesh Chakrabarty etwa hat in einem vielbeachteten Aufsatz gefordert, Europa zu »provinzialisieren«. Darunter hat er nichts Geringeres verstanden, als dass es notwendig sei, den europäischen Ursprung von Deutungsmustern wie Fortschritt, Moderne, Geschichte oder Nation aufzuzeigen sowie darzulegen, wie diese Deutungsmuster aufgrund der europäischen Expansion universelle Gültigkeit erlangen konnten.6 Die Weltausstellungen stellen ein hervorragendes Beispiel für eine solche postkoloniale Lesart des Nationalen dar, da auf ihnen – sowie auch an den zahlreichen anderen nationalen und internationalen Ausstellungen dieser Zeit – zwei ganz unterschiedliche territoriale Ordnungen dargestellt wurden. Diese Ausstellungen waren im Wesentlichen gemäß der zeitgenössischen Vorstellung konzipiert, dass der Nationalstaat die territoriale Grundeinheit der zivilisierten Welt darstelle.7 Bjarne Stoklund vertritt deshalb die Ansicht, dass auf den Weltausstellungen eine internationale Grammatik des Nationalen geschaffen wurde, die als Leitlinie dafür diente, um zu bestimmen, was es bedurfte, damit ein Gebiet als Nation angesehen werden konnte.8 Für die Organisatoren dieser Ausstellungen war es selbstverständlich, dass nicht die ganze Welt in Nationen eingeteilt werden konnte. Nationenpavil4 | Vgl. hierzu Purtschert, »Postkoloniale Diskurse«. 5 | Ein interessanter Spezialfall ist Japan, das ab den 1860er Jahren an den Weltausstellungen vertreten war, aber erst Anfang des 20. Jahrhunderts – vor allem nach dem Sieg im Russisch-Japanischen Krieg von 1905 – als Industrieland und imperiale Macht ernst genommen und nicht mehr im Kreis der Kolonialländer präsentiert wurde: Greenhalgh, Ephemeral Vistas, S. 74f.; Hedinger, »›Fighting a Peaceful War‹«. 6 | Chakrabarty, »Europa provinzialisieren?«. 7 | Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 982. 8 | Stoklund, »The Role of the International Exhibitions«.
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lons waren in erster Linie für die europäischen Länder und die Staaten Nord- und Südamerikas vorgesehen.9 Während diese Nationen der »civilisierten Welt«10 die Art und Weise selber wählten, in der sie dargestellt sein wollten, wurden die Länder Afrikas und Asiens jeweils in abgetrennten Sonderschauen präsentiert, wobei diese außereuropäischen Gebiete in der Regel in Form von Völkerschauen, ethnographischen Dörfern oder orientalistischen Märchenbauten dargestellt wurden. So waren an der Weltausstellung von 1900 die Gärten beim Trocadéro nicht nur für die Ausstellung von französischen, britischen, russischen und portugiesischen Kolonien reserviert, sondern auch für halbkoloniale Besitztümer wie China oder Transvaal oder für das formal unabhängige und sich mitten in einer rasanten Modernisierung befindende Japan.11 Anne Maxwell und Timothy Mitchel haben deshalb argumentiert, dass die Europäer durch diese Art der Repräsentation die außereuropäischen Gebiete als das koloniale Andere dargestellt und damit die Kolonialherrschaft gerechtfertigt hätten.12 An den Weltausstellungen sollten die technischen, wirtschaftlichen, künstlerischen und sozialen Eigenheiten der verschiedenen Völker in systematisierter Form dargestellt und die verwirrende Vielfalt menschlicher Kultur in eine nachvollziehbare und hierarchische Ordnung gebracht werden. Das Publikum sollte durch den Besuch der Ausstellungen nicht bloß unterhalten, sondern auch über die grundlegenden Funktionsweisen von Zivilisation belehrt werden.13 Indem die Weltausstellungen Elemente aus geographisch weit auseinanderliegenden Teilen der Erde in einem genau begrenzten Gelände zusammenführten, können sie als Heterotopien im Sinne Michel Foucaults verstanden werden, als Orte also, an denen unterschiedliche Räume in Form von Repräsentationen zusammengeführt werden, die eigentlich unvereinbar sind.14 Diese räumliche Ordnung weist jedoch auch eine zeitliche Dimension auf. Schon Foucault hatte darauf hingewiesen, dass Heterotopien oft einen heterochronen Charakter aufweisen, indem sie mit der herkömmlichen Zeit brechen und verschiedene Zeitebenen miteinander in Beziehung setzen. Dies gilt in besonderem Maße für die Weltausstellungen. Die dort zur Schau gestellte Fortschrittseuphorie bekräftigte nicht zuletzt die Vorstellung, dass sich die unterschiedlichen Völker der Welt auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen befinden würden. An den Weltausstellungen kontrastierten die Errungenschaften der Industriegesellschaft in augenfälliger Weise mit den Völkerschauen und ethnographischen Dörfern, in denen Menschen aus kolonialen Gebieten als primitive Wilde dargestellt wurden. Dies kann als Hinweis dafür gelten, dass es sinnvoll ist, die Beziehungen zwischen 9 | Frey, Die Schweiz an der Pariser Weltausstellung, S. 15. 10 | Ador, Weltausstellung in Paris, S. 1. 11 | Ebd., S. 7. 12 | Maxwell, Colonial Photography and Exhibitions; Mitchell, »Die Welt als Ausstellung«. 13 | Wörner, Vergnügen und Belehrung; Barth, »Mikrogeschichte eines Weltereignisses«. 14 | Foucault, »Andere Räume«; Foucault, »Die Heterotopien«.
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Europa und der kolonialen Welt nicht bloß in räumlicher Hinsicht auf der Ebene von Territorialitätsregimes zu untersuchen, sondern auch im Hinblick auf das Konzept der Temporalität. Johannes Fabian hat gezeigt, dass Anthropologen des 19. Jahrhunderts ihre Reisen in entlegene Regionen oft als Zeitreisen in frühere Epochen der Menschheitsgeschichte verstanden.15 Die Neuordnung des Raumes in der Kolonialzeit war also auf eine Reorganisation der Zeit angewiesen, wobei den nicht westlichen Völkern die »Gleichzeitigkeit« verwehrt wurde. Sebastian Conrad hat deshalb vorgeschlagen, die Idee des Fortschritts einer postkolonialen Lesart zu unterziehen. Der Fortschrittsglaube beinhalte nicht bloß die Vorstellung, dass eine wirtschaftliche und technologische Modernisierung der Menschheit bessere Lebensbedingungen und neue Einsichten bescheren würde, sondern er stelle auch eine Ideologie dar, welche während der Kolonialzeit die Unterwerfung großer Teile der Erde unter die europäische Vormacht legitimierte.16 Wie passt nun die Geschichte der Schweiz zu einem solchen theoretischen Zugang? Und inwiefern müssen wir dabei unsere Definition von Europa überdenken? Europäische Geschichte wurde lange Zeit als Addition verschiedener Nationalgeschichten geschrieben. Dies ist aus den oben angeführten Gründen für einen globalhistorischen Zugang nur bedingt befriedigend.17 Im 19. Jahrhundert definierten sich die europäischen Nationen – trotz aller Konflikte und gegenseitigen Abgrenzungsbemühungen – nicht zuletzt durch ihre gemeinsame Teilhabe an der abendländischen Zivilisation. Dies beinhaltete immer auch eine Abgrenzung gegenüber der nicht westlichen Welt – welche größtenteils den Status von europäischen Kolonien hatte. Gemäß Edward Said ist die symbolische Trennung zwischen Orient und Okzident eines der zentralen Merkmale des Kolonialzeitalters.18 Ein Problem vieler postkolonialer Zugänge besteht jedoch darin, dass »Europa« oder »der Westen« in einer solchen Perspektive häufig als homogene Gebilde erscheinen. Angesichts der beträchtlichen Unterschiede zwischen den einzelnen europäischen Nationen ist eine solch essentialistische Sichtweise eher problematisch. Wenn man den Postkolonialismus in Relation zu einer europäisch-vergleichenden Geschichte setzt, drängt sich eine Differenzierung des Kollektivsingulars Europa geradezu auf. Das Beispiel der Schweiz als einem Land ohne eigene Kolonien bietet für eine solche Differenzierung eine gute Möglichkeit. Wenn die These der postkolonialen Theorie zutrifft, wonach der Westen seine Überlegenheit gegenüber außereuropäischen Gebieten durch die Konstruktion eines orientalistischen Gegenübers zu beweisen suchte, dann müssten solche kulturellen Muster auch für die Schweiz feststellbar sein – allerdings in einer anderen Weise als bei den europäischen Kolonialmächten.
15 | Fabian, Time and the Other. 16 | Conrad, »Doppelte Marginalisierung«, S. 153. 17 | Conrad, Globalisierung und Nation; Hill, »Nationalgeschichten und Weltsysteme«. 18 | Said, Orientalismus.
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Ein solcher Zugang muss eine doppelte Abgrenzung vornehmen. Zum einen muss die Schweiz als Teil Europas verstanden und die Art und Weise ihrer Repräsentation in Relation zur Darstellung der nicht westlichen Welt gesetzt werden. Zum anderen muss das schweizerische Beispiel jedoch unterschieden werden von demjenigen der europäischen Kolonialmächte, die aufgrund ihrer überseeischen Besitzungen ein grundlegend anderes Verhältnis zu den Kolonien hatten. Das impliziert ein differenziertes Bild von Europa: einerseits als Einheit und als gedachter Hort von Zivilisation, Fortschritt und Kultur gegenüber den kolonialen »Naturvölkern«, andererseits als heterogener Kontinent mit unterschiedlichen nationalen Ausprägungen. Der Beitrag gliedert sich in vier Teile. Zuerst soll gezeigt werden, wie die Weltausstellungen zu einem internationalen Wettstreit mutierten, auf denen die Industriestaaten ihre Leistungsfähigkeit maßen. Der darauffolgende, zweite Abschnitt beleuchtet die Bedeutung der historischen und ländlich-traditionellen Ensembles für die Selbstbeschreibung der europäischen Nationen ab dem späten 19. Jahrhundert. Ein besonderes Augenmerk soll dabei jeweils auf die Frage gelegt werden, wie sich die Schweiz auf diesen Ausstellungen präsentierte. Im dritten Abschnitt wird dargelegt, dass auf den Weltausstellungen nicht nur westliche Zivilisationen ausgestellt wurden, sondern auch koloniale Gebiete. Ich möchte hierbei insbesondere auf die temporalen Ordnungsstrukturen eingehen, mit denen das Verhältnis zwischen westlicher und nicht westlicher Welt sinnhaft gemacht werden soll. Im vierten Abschnitt wird das Feld der Weltausstellungen verlassen, und es wird am Beispiel von schweizerischen Landesausstellungen und Völkerschauen gezeigt, inwiefern diese koloniale Weltsicht auch die interne Selbstdarstellung der Schweiz prägte.
W ELTAUSSTELLUNGEN ALS K AMPFPL ÄT ZE DER N ATIONEN Am 1. Mai 1851 wurde in London die Great Exhibition of the Works of Industry of all Nations feierlich eröffnet. 17.062 Aussteller – die Zahl übertraf die der größten bis dahin durchgeführten Gewerbeschauen um mehr als das Dreifache – aus 25 Ländern und 25 britischen Kolonien stellten auf einer Fläche von 86.500 Quadratmetern ihre Erzeugnisse aus.19 Mit einem unerschütterlichen Fortschrittsoptimismus hatte Prinz Albert, der Ehemann von Königin Victoria und eine der treibenden Kräfte hinter dem Projekt, die Ausstellung als ersten Schritt hin zu Kooperation und Frieden unter den Nationen bezeichnet. Niemand könne bezweifeln, so der Prinz in einer Ansprache im Jahr 1850,
19 | Greenhalgh, Ephemeral Vistas, S. 12-19; Kretschmer, Geschichte der Weltausstellungen, S. 32-39.
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C HRISTOF D EJUNG »dass wir in der Zeit eines wunderbaren Ueberganges leben, welche der Verwirklichung des großen Ziels, auf das in der That die ganze Weltgeschichte gerichtet ist – der Darstellung der Einheit der Menschheit –, rasch zustrebt. […] Die Ausstellung des Jahres 1851 soll uns ein treues Zeugniß und lebendiges Bild von demjenigen Standpunkte der Entwicklung, zu welchem die ganze Menschheit in diesem großen Werke gelangt ist […], geben.« 20
Die Antriebskräfte hinter dieser Entwicklung waren der arbeitsteilige Kapitalismus und die industrielle Produktionsweise. So fanden die Fortschrittsenthusiasten ihre kühnsten Träume in der großen Maschinenhalle des Kristallpalastes verwirklicht, in der ein ständiges Rauschen, Pochen und Hämmern herrschte und in der zwei riesige Dampfkessel hydraulische Pressen, Walzwerke und Webmaschinen antrieben, die vor den Augen des staunenden Publikums Stecknadeln oder Packpapier in bis dahin nie gesehener Qualität herstellten.21 Karl Marx spottete in einem Zeitungsartikel, die englische Bourgeoisie habe mit diesem »Weltkongreß von Produkten und Produzenten« ihre sämtlichen »Vasallen von Frankreich bis China zu einem großen Examen« zusammengerufen, auf dem sie nachweisen sollten, »wie sie ihre Zeit genutzt haben«22. Tatsächlich war die Ausstellung von 1851 explizit mit der Intention organisiert worden, die englische Vormachtstellung in der industriellen Entwicklung zu demonstrieren und deren Vorbildwirkung zu zementieren. Die Konkurrenz zwischen den verschiedenen nationalen Volkswirtschaften verdrängte schon bald die von Prinz Albert 1851 geäußerte Hoffnung auf eine völkerverbindende Wirkung der Weltausstellungen. Diese eigneten sich aufgrund ihrer Konzeption ausgezeichnet für einen Vergleich der verschiedenen Industrieländer. »Durch die Vereinigung der Erzeugnisse aller Weltgegenden auf dem gleichen Punkte hat die Ausstellung eine vergleichende Würdigung derselben erleichtert; sie hat es möglich gemacht, die beinahe in allen Ländern gemachten Anstrengungen für die Hebung der Gewerbe und die erzielten Erfolge zu beurtheilen« 23,
hielt J. H. Barman, der Präsident des Zentralkomitees, welches die schweizerische Beteiligung an der zweiten Weltausstellung in Paris koordinierte, 1857 in seinem Bericht an den Bundesrat fest. Die Weltausstellungen wurden so immer mehr zu Bühnen, auf denen die Industrienationen ihre Leistungsfähigkeit maßen. Die Vergleichbarkeit der Produkte aus den verschiedenen Ländern wurde dadurch gewährleistet, dass die Ausstellungen nach einem doppelten Prinzip organisiert waren. Zum einen wurden die Aussteller gemäß ihrer nationalen Herkunft zusammengefasst, zum anderen wurden die Exponate nach Produktkategorien geordnet. An den Weltausstellungen 1867 20 | Zit. nach Berichterstattungs-Kommission, Amtlicher Bericht, S. 6. 21 | Kretschmer, Geschichte der Weltausstellungen, S. 42-44. 22 | Marx, »Revue, Mai bis Oktober 1850«, S. 430f. 23 | Barman/Bolley, Bericht an den Schweizerischen Bundesrat, S. 19.
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und 1878, die beide in Paris stattfanden, wurden die in der Haupthalle ausgestellten Exponate in sieben Themenbereiche wie etwa Maschinenbau oder Kunstgewerbe unterteilt, die in konzentrischen Kreisen angeordnet waren. Wenn die Besucher parallel zu den Wänden die Ausstellung abschritten, konnten sie die unterschiedlichen Produkte aus den jeweiligen Ländern direkt miteinander vergleichen. Die einzelnen Nationen waren in nebeneinander liegenden Sektoren untergebracht, die jeweils durch Radialgänge getrennt waren. Aufgrund des steten Wachstums der Weltausstellungen ließ sich dieses System aber nicht mehr durchhalten. Ab 1889 wurden die einzelnen Produktkategorien in separaten Hallen untergebracht, so dass es keine einheitlichen Ländersektoren mehr gab.24 Der spätere Bundesrat Emil Frey beklagte in einem Bericht über die schweizerische Beteiligung an der Pariser Weltausstellung 1898 die Unübersichtlichkeit, die daraus entstanden war, dass die verschiedenen Ausstellungsräume nicht mehr zusammenhingen, und meinte: »Wer alles Schweizerische sehen will, hat in Folge dieser Eintheilung etwelche Mühe, sich rasch zurecht zu finden, und jedenfalls bedarf man des Kataloges, sofern es darauf ankommt, nichts zu vergessen.«25 Während der Wettstreit der Industrieländer bis in die 1870er Jahre eine innereuropäische Angelegenheit war, erfuhr er mit dem Aufstieg der USA eine transatlantische Erweiterung. 1876 fand in Philadelphia die erste Weltausstellung statt, die nicht auf europäischem Boden durchgeführt wurde. Den europäischen Ausstellern wurde dabei deutlich vor Augen geführt, dass die USA drauf und dran waren, den alten Kontinent auf wirtschaftlichem Gebiete zu überholen. In einem Bericht meinte Heinrich Rieter, der Schweizerische Generalkommissär auf den Weltausstellungen in Wien 1873 und Philadelphia 1876, dass »keine der bisher abgehaltenen internationalen Ausstellungen […] genauen Einblick in die Thatkraft« der USA geboten habe.26 »[M]an hatte einen absolut unrichtigen Begriff des dortigen Verhältnisses von Produktion zur Consumation […] und liess sich in Folge dessen eine vor der Thüre stehende, erdrückende Konkurrenz der Amerikaner in Nordamerika selbst nicht träumen, noch weniger dachte man daran, dass die Verhältnisse jenseits des Ozeans ernstliche Wettkämpfe auf und mit unserem Kontinente demnächst gestatten dürften.« 27
Die europäischen Beobachter mussten sich angesichts des in Philadelphia Gezeigten ihre »Selbsttäuschung und Ueberraschung, verbunden mit Befürchtungen der Konkurrenzfähigkeit« eingestehen. Dies wurde von Rieter dahingehend interpretiert, dass eine internationale Ausstellung zu Unrecht »oft als ›Spielerei‹ beurt24 | Ador, Weltausstellung in Paris, S. 8f.; Kretschmer, Geschichte der Weltausstellungen, S. 288-295. 25 | Frey, Die Schweiz an der Pariser Weltausstellung, S. 15. 26 | Rieter, Memorial des Schweizerischen Generalkommissärs, S. 2. 27 | Ebd.
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heilt« werde, da sie bei »richtiger Verwerthung […] ernste Seiten«28 habe und den Behörden und Industriellen die Möglichkeit biete, sich über die ständig wechselnden Kräfteverhältnisse in der Weltwirtschaft Klarheit zu verschaffen. Dieser Appell ist als Reaktion auf die sinkende Bereitschaft vieler Unternehmer zu verstehen, die eigenen Produkte auf den Weltausstellungen zu präsentieren. Die Unternehmer waren der Ansicht, die Kosten, die ihnen durch eine Teilnahme erwuchsen, würden durch die mögliche Werbewirkung nicht annähernd aufgewogen. Die Reichsregierung und die deutsche Presse erhoben etwa im Vorfeld der Weltausstellung in Chicago von 1893 die Teilnahme der deutschen Industriellen zur patriotischen Pflicht, um die widerstrebenden Maschinenbauer und Elektrotechnikhersteller zu einer Teilnahme zu überreden.29 Auch in der Schweiz waren die Unternehmer je länger, je weniger gewillt, sich an den Weltausstellungen zu beteiligen. So beklagte der Schweizerische Handels- und Industrieverein 1887, dass die Ausstellungen schon lange keine industriellen Leistungsschauen mehr darstellten, sondern »zu blossen Lokalspekulationen und zu Demonstrationen des nationalen Patriotismus oder auch Chauvinismus geworden« seien.30 Die Schweizer Regierung appellierte daraufhin an die patriotischen Gefühle der Unternehmer. So hielt der Bundesrat im Vorfeld der Weltausstellung von 1900 in Paris fest, dass es sich die Schweiz nicht leisten könne, sich von einem Fest der Kunst, des Gewerbes und der Volkswirtschaft fernzuhalten, an dem alle Nationen der gebildeten Welt offiziell teilnehmen wollten.31 Immerhin, so meinte zumindest der Sekretär des nordwestschweizerischen Schifffahrtsverbandes Wilhelm Meile 1913, gehe es doch hierbei für die Schweiz um nichts Geringeres als darum, »den Wettkampf der Nationen ehrenvoll zu bestehen«32. Die zögerliche Bereitschaft der Industrie, sich an den Weltausstellungen zu beteiligen, rührte nicht zuletzt daher, dass Letztere ihren Charakter im Laufe der Zeit grundlegend gewandelt hatten. Während die ersten Weltausstellungen noch primär als wirtschaftliche Leistungsschauen konzipiert waren und damit die Tradition der seit dem späten 18. Jahrhundert durchgeführten Gewerbeschauen fortführte, stand ab den späten 1860er Jahren der Gedanke des Spektakels im Vordergrund. Nachdem die zweite Weltausstellung in Paris von 1855 mit einem Verlust geendet hatte, setzten die Veranstalter mehr und mehr auf die Unterhaltung des Publikums. In Paris 1867 wurde erstmals eine Weltausstellung nicht mehr in einer großen Halle, sondern im Freien durchgeführt, wodurch wesentlich höhere Besucherzahlen erzielt werden konnten. Unzählige Attraktionen wie Heißluftballone, Fechtvorführungen oder Feuerwerke warteten im Ausstellungspark auf die Besu-
28 | Ebd., S. 3. 29 | Fuchs, »Das Deutsche Reich auf den Weltausstellungen«, S. 72f. 30 | N. N., Zuschriften für das Schweiz. Handels- und Landwirthschaftsdepartement, S. 1f. 31 | Ador, Weltausstellung in Paris, S. 16. 32 | Meile, Die Schweiz auf den Weltausstellungen, S. 143.
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cher, deren Zahl auf zwölf bis fünfzehn Millionen geschätzt wird, was mehr als doppelt so viel war wie bei den vorangegangenen Weltausstellungen.33
F ORTSCHRIT TSIDEOLOGIE UND H EIMATIDYLLEN Die veränderte Konzeption der Weltausstellungen lässt sich auch an der neuen Inszenierung der teilnehmenden Nationen ablesen. Während diese bei den ersten Ausstellungen einzig und allein durch die Produkte repräsentiert wurden, die die jeweiligen Unternehmer ausstellten, sollten sie auf der Exposition universelle de Paris 1867 erstmals durch landestypische Bauten dargestellt werden. Die französische Ausstellungskommission forderte alle teilnehmenden Länder auf, möglichst repräsentative Bauwerke zu konzipieren: »Jede Nation […] soll durch irgend ein Gebäude, oder durch sonst ein passendes bauliches Unternehmen vertreten sein, und zwar durch ein solches, welches in möglichst deutlicher und interessanter Weise die Eigenthümlichkeiten des betreffenden Volkes in Bezug auf seine Sitten und Gebräuche wie auf seine ganze Lebensweise veranschaulicht.« 34
Auffallend ist, dass sich zahlreiche europäische Länder durch Bauernhäuser darstellten. So waren im parc étranger von 1867 etwa ein englisches Cottage, ein norwegisches Holzhaus sowie die originale Hütte einer Familie aus Lappland samt ausgestopftem Rentier zu bestaunen. Ähnliche Ensembles waren auch auf den folgenden Weltausstellungen zu sehen, wobei viele der Gebäude bewohnt waren und die ländliche Bevölkerung bei ihrer alltäglichen Beschäftigung zeigen sollten. 1889 wurde in Paris erstmals auf einer Weltausstellung eine exakte – wenn auch verkleinerte – Rekonstruktion eines historischen Ensembles errichtet: das Quartier rund um die Bastille, an deren Erstürmung 100 Jahre zuvor damit erinnert werden sollte. Auf späteren Weltausstellungen fanden sich immer wieder solche historisierenden Gebäude, so etwa ein deutsches Dorf und eine Darstellung von Alt-Wien in Chicago 1893, von Oud Antwerpen in Antwerpen 1894 oder von Vieux Paris bei der Weltausstellung in Paris von 1900.35 Auch die Schweiz inszenierte sich auf den Weltausstellungen auf diese Weise. Neben den stets dargebrachten Beweisen für die industrielle Modernität des Landes präsentierte man den ausländischen Besuchern stets auch eine ländlich-agra-
33 | Greenhalgh, Ephemeral Vistas, S. 42-47; Barth, »Mikrogeschichte eines Weltereignisses«. 34 | Bericht von der Central-Commission an den Kaiser vom November 1865, zit. n. Wörner, Vergnügen und Belehrung, S. 49. 35 | Ebd., S. 50-57; Wörner, Die Welt an einem Ort, S. 124.
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rische Schweiz, die sich an das Bild der Schweiz als Alpenland anlehnte.36 So war bereits 1867 in Paris eine schweizerische Sennenhütte zu sehen gewesen.37 Bei der Exposition universelle 1900 in Paris, an der laut dem französischen Handelsminister Jules Roche eine Bilanz des 19. Jahrhunderts gezogen und dessen Philosophie herausgestellt werden sollte38, erreichte die Inszenierung der schweizerischen Alpenromantik ihren Höhepunkt. Zwar zeigte die Schweiz auf ihren 14.825 Quadratmetern Ausstellungsfläche – womit die Schweiz raummäßig an fünfter Stelle aller ausstellenden Nationen stand – neben zahlreichen Industrieprodukten auch die neuesten Errungenschaften des schweizerischen Transportwesens und von Infrastrukturbauten wie der im Bau befindlichen Jungfraubahn und der Alpentunnels. Das eigentliche Zentrum der offiziellen schweizerischen Ausstellung war aber ein Chalet, in dem Schweizer Produkte wie Bier, Schokolade, Milch, Käse oder Maggisuppen konsumiert und Schweizer Zeitungen gelesen werden konnten.39 Dieses Gebäude wurde durch einen weiteren Schweizer Beitrag noch in den Schatten gestellt, das 2100 Quadratmeter große Village Suisse.40 Dieses Ensemble war nicht durch offizielle Stellen initiiert worden, sondern beruhte auf der Initiative von zwei Schweizer Unternehmern, die bereits 1896 an der Landesausstellung in Genf ein ähnliches Projekt verwirklicht hatten. Das Village Suisse umfasste 75 Gebäude, die einen repräsentativen Querschnitt der Architektur der Schweiz vermitteln sollten. Das Eingangstor wurde durch eine Nachbildung von zwei Berner Wahrzeichen flankiert, dem Käfigturm und dem Zeitglockenturm. In der anschließenden Straße standen Häuser aus verschiedenen Schweizer Städten. Darüber hinaus hatte man auch besonders symbolträchtige Gebäude wie die Tellskapelle oder das Geburtshaus von Jean-Jacques Rousseau nachgebaut. Das eigentliche Herzstück des Schweizerdorfes war jedoch die Darstellung des Ländlichen, welches als Keimzelle der Schweiz gesehen wurde: »C’est la campagne qui est l’élément primordial et charactéristique«, hieß es dazu in einem Ausstellungskatalog, »c’est en elle qu’est la force qui se dépense dans les villes, la source où se puisent les énergies.«41 Eingerahmt wurde das Ensemble durch eine bis zu 40 Meter hohe und 600 Meter lange künstliche Felslandschaft mit weidenden Kühen, einem Wasserfall sowie einem kleinen Gebirgssee. Die Illusion einer authentischen Schweizer Landschaft wurde noch dadurch gesteigert, dass auch in diesem Ensemble die Gebäude bewohnt waren von Personen, die »wie in der Heimat ihrer landesüblichen
36 | Vgl. hierzu Marchal, »›Das Schweizeralpenland‹«; Zimmer, »In Search of National Identity«. 37 | Wörner, Vergnügen und Belehrung, S. 52. 38 | Kretschmer, Geschichte der Weltausstellungen, S. 141. 39 | Ador, Weltausstellung in Paris, S. 70, 86 und 150-164. 40 | Die folgenden Ausführungen beruhen, wenn nicht anders angegeben, auf Wörner, Vergnügen und Belehrung, S. 92-96; Plato, Präsentierte Geschichte, S. 261-293. 41 | N. N., Guide du Village Suisse, S. 3.
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Arbeit« nachgingen oder den Besuchern »echte Alpenmilch credenzen«42, wie ein deutscher Journalist begeistert vermeldete. Auch der offizielle Bericht des schweizerischen Generalkommissariates an den Bundesrat lobte das Village Suisse, für »die Kunst, mit der das Dorf aufgebaut wurde, und […] den guten Geschmack, der dieser Zusammenstellung von historischen Häusern, von Alphütten und mannigfachen anderen Bauten innewohnte, die im Schmuck einer an unsere Thäler und Wälder erinnernden Umgebung dastanden«.43 Finanziell war das Projekt zwar weniger erfolgreich, als die Initiatoren gehofft hatten. Dennoch wurde im Bericht die Ansicht geäußert, es sei »unrichtig, anzunehmen, es habe unser ganzes Land daraus keinen Nutzen gezogen. In denjenigen, die die Schweiz bereits kannten, weckte das Schweizerdorf den Wunsch, sie nochmals zu sehen, und die französischen und auswärtigen Besucher, welche noch nie dorthin gekommen waren, wurden auf den Gedanken gebracht, die grossartigen Schönheiten unserer Natur, die es ihnen in so gelungener Weise im kleinen Abbild vor Augen führte, in Wirklichkeit bewundern zu wollen.« 44
Dieses Zitat zeigt, dass die Schweiz sich mit dieser Ausstellung nicht zuletzt vor der Weltöffentlichkeit als Reiseland profilieren und vom ab Ende des 19. Jahrhunderts boomenden Alpentourismus profitieren wollte.45 Doch mit dieser Zielsetzung war das Village Suisse eher eine Ausnahme. Ähnliche ökonomische Ziele scheinen bei den übrigen historisierend-ländlichen Ensembles der Weltausstellungen nicht im Vordergrund gestanden zu haben. Damit stellt sich die Frage nach den Motiven für die rückwärts gewandte Selbstinszenierung, die viele europäische Länder Ende des 19. Jahrhunderts betrieben, steht diese doch in auffallendem Kontrast zur gleichzeitig auf den Weltausstellungen zelebrierten Fortschrittseuphorie. Tatsächlich standen die beiden temporalen Darstellungsformen – die in die Zukunft weisenden technischen Neuerungen und die die Vergangenheit beschwörenden Bauernhäuser und historischen Gebäude – in einem engen Zusammenhang. Beide waren für das nationale Selbstverständnis essentiell. Während die ausgestellten Maschinen und Industrieerzeugnisse als Beweis für die Potenz und die Überlebensfähigkeit der jeweiligen Nationalstaaten im Ringen mit anderen Ländern angesehen werden konnten, betonten die dörflichen Ensembles und historischen Stadtteile die Tradition und die spezifische Identität der einzelnen Länder.46 Die Weltausstellungen können somit als Kunstwelten verstanden werden, welche unterschiedliche Zeitebenen miteinander in Verbindung setzten. Sie waren 42 | Illustrirte Zeitung vom 30.11.1899, S. 752, zit. n. Wörner, Vergnügen und Belehrung, S. 94. 43 | Ador, Weltausstellung in Paris 1900, S. 231. 44 | Ebd., S. 232. 45 | Wörner, S. 96. Vgl. hierzu u.a. Tissot, Naissance d’une industrie touristique. 46 | Vgl. hierzu Herren, »Gaslicht im Kerzenständer«, S. 108.
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sowohl Inszenierungen der Erfahrungsräume wie auch der Erwartungshorizonte der modernen Industrieländer – um hier das bekannte Begriffspaar von Reinhard Koselleck aufzugreifen.47 Aufgrund ihres heterochronen Charakters zeigten sie einerseits den Weg, welche die westliche Welt im 19. Jahrhundert gegangen war. In den Stolz auf diese Entwicklung mischte sich jedoch andererseits immer die Angst vor der Zukunft und die Befürchtung, im Wettlauf der Nationen nicht mehr mithalten zu können. So waren etwa bei der Weltausstellung von 1904 in St. Louis sozialdarwinistische Deutungsmuster äußerst präsent. Zwischen den einzelnen Pavillons hatten die Organisatoren allegorische Statuen aufgestellt, welche Namen trugen wie struggle for existence, survival of the fittest oder evolution of man.48
D IE D ARSTELLUNG VON KOLONIALEN V ÖLKERN Doch nicht nur die Eigenheiten der verschiedenen europäischen Nationen sollten auf den Weltausstellungen durch architektonische Ensembles dargestellt werden, sondern auch diejenigen von Völkern aus den Kolonien. Schon an der Great Exhibition von 1851 sollten die Requisiten eines indischen Hofstaates sowie Produkte aus Algerien die Macht der Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich darstellen. 1855 in Paris wurden Produkte aus den Kolonien in einem imperialen Pavillon gezeigt, der vom Rest der Ausstellung getrennt war. 1876 schließlich erhielten einzelne Kolonien ihre eigenen Pavillons. Von Beginn an waren diese Ensembles auch durch Menschen aus Ländern außerhalb Europas belebt. Auf der Pariser Weltausstellung von 1867 wurden verschiedene nordafrikanische Ausstellungsteile als tableaux vivants dargestellt. So konnten die Besucher durch einen ägyptischen Basar spazieren, sich von einem tunesischen Coiffeur frisieren lassen oder sich in einem algerischen Café erholen. Derartige Ensembles gehörten in der Folge zu jeder Weltausstellung.49 Bei der Pariser Weltausstellung von 1889 erfolgte ein grundsätzlicher Wandel in der Darstellung der außereuropäischen Welt. Die nicht aus Europa stammenden Menschen waren nun nicht mehr bloß in ihrer Funktion als Kellner, Handwerker oder Eseltreiber Teil der Ausstellungen, sie wurden selbst zu Ausstellungsstücken. Entlang der Seine wurde eine Ausstellung der Histoire de l’habitation humaine mit 44 Gebäuden eingerichtet.50 Eine erste Sektion zeigte mit Felsbehausungen, Pfahlbauten und einer Hütte aus der Eisenzeit das Wohnen in prähistorischer Zeit. 47 | Koselleck, »›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹«. 48 | Geulen, Wahlverwandte, S. 336. 49 | Greenhalgh, Ephemeral Vistas, S. 53-56 und 85; Maxwell, Colonial Photography and Exhibitions, S. 16. 50 | Wörner, Vergnügen und Belehrung, S. 67-69; Maxwell, Colonial Photography and Exhibitions, S. 16-21. Vgl. allgemein für die Weltausstellung von 1889: Wyss, Bilder von der Globalisierung.
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Die zweite Sektion bestand aus 17 Gebäuden, die in chronologischer Reihenfolge Wohnhäuser aus Altägypten, dem antiken Griechenland und Rom darstellten, gefolgt von germanischen und gallischen Behausungen und solchen aus dem Mittelalter und der Renaissance. In der dritten Sektion befanden sich 19 Gebäude von außereuropäischen Völkern. Diese repräsentierten zum einen races non civilisées wie die Eskimos, die Ureinwohner Nordamerikas oder die Bewohner Schwarzafrikas. Zum anderen waren hier mit chinesischen und japanischen Häusern auch Behausungen von Völkern zu sehen, denen die Ausstellungsmacher zwar eine Entwicklung zugestanden, die sich jedoch nach deren Ansicht deutlich von derjenigen Europas unterscheide. Entsprechend den Bauernhäusern und historischen Ensembles, mit denen sich die europäischen Länder ab 1867 selber darstellten, waren auch die Hütten dieser außereuropäischen Völker bewohnt, wobei man sich nicht zuletzt an der Darstellung von Eingeborenen an den Völkerschauen orientierte, die seit den späten 1870er Jahren in verschiedenen europäischen Ländern durchgeführt wurden. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Eingeborenendörfer gingen alltäglichen Arbeiten nach und zelebrierten zur Unterhaltung des Publikums angeblich authentische Rituale, die allerdings dem Geschmack der Besucher angepasst worden waren. Viele dieser Menschen stammten auch nicht aus den Teilen der Welt, die durch die jeweiligen Behausungen eigentlich dargestellt werden sollten, sondern kamen aus ganz unterschiedlichen geographischen Regionen und sprachen oft nicht einmal dieselbe Sprache. Einige dieser »Eingeborenen« waren professionelle Darsteller, die von europäischen Schaustellern an Völkerschauen wie diejenige in Paris 1889 vermittelt wurden. Mit der Darstellung der Kulturgeschichte der Menschheit stellte das Ensemble von 1889 nicht bloß eine Umsetzung des enzyklopädischen Anspruchs dar, die ganze Welt auf der Exposition universelle darzustellen, sondern griff auch eine Leitidee auf, die grundlegend für die Konzeption der Weltausstellungen war. Beeinflusst von sozialdarwinistischen Vorstellungen wurde die Entwicklung der Zivilisation als linear ansteigend interpretiert, von den prähistorischen Anfängen bis hin zur modernen westlichen Industriegesellschaft. Diesem evolutionären Ablauf mussten alle Völker folgen, wenn sie sich entwickeln wollten. Die primitiven Behausungen der außereuropäischen Völker repräsentierten deshalb mehr als bloß die Lebensweise in geographisch weitentfernten Regionen. Indem diese Häuser als Merkmale einer tieferen kulturellen Entwicklungsstufe angesehen wurden, markierten sie auch eine temporale Distanz. So wurden auf der Weltausstellung die Errungenschaften der europäischen Gesellschaft den primitiven Behausungen als anzustrebendes Ziel gegenübergestellt. Die Lage des Ensembles unterstrich diese teleologische Sicht auf die menschliche Entwicklungsgeschichte eindrucksvoll, lag es doch unmittelbar neben dem speziell für diese Weltausstellung errichte-
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ten Eiffelturm.51 Indem die Besucher auf der Pariser Weltausstellung nicht bloß die neuesten Errungenschaften der westlichen Industrie, sondern auch die primitiven Hütten außereuropäischer Völker vorfanden, konnten sie an einem einzigen Ort verschiedene Zeiträume durchschreiten und somit gleichsam eine Zeitreise durch die Welt machen. Ähnliche Völkerschauen waren auch bei den darauffolgenden Weltausstellungen zu finden. Sowohl in Chicago 1893 als auch in Paris 1900 wurden dörfliche Szenen nachgebaut, in denen Eingeborene aus verschiedenen außereuropäischen Regionen den Besuchern Einblick in den dortigen Alltag geben sollten.52 Diese Schauen entwickelten sich aufgrund ihres exotischen Charakters zu den eigentlichen Publikumsmagneten. Nach Ansicht von Anne Maxwell prägten sie jedoch nicht bloß das Bild, welches sich westliche Besucher von der nicht westlichen Welt machten, sondern sie hatten auch einen Einfluss auf das Selbstbild der europäischen Betrachter: »The visual representation of colonized people as savages not only helped to sustain imperialist expansion but also supplied Europeans with a new, empowering framework for identity based on racial and cultural essences«53. Auf den ersten Blick besteht eine erstaunliche Ähnlichkeit zwischen den kolonialen Völkerschauen und den ländlich-historisierenden Ensembles, mit denen die europäischen Nationen sich selber darstellten. Die jeweilige Funktion dieser beiden Ausstellungsteile war jedoch eine grundlegend andere. Während die europäischen Ensembles in eine geschichtliche Kontinuität eingepasst waren, wurden die Nichteuropäer als Naturvölker ohne Geschichte dargestellt. Wie Christopher Hill festgehalten hat, wurde in der Kolonialzeit die Herausbildung einer eigenen Nationalgeschichte als Voraussetzung dafür verstanden, dass ein Land den Status einer Nation im westlichen Sinne für sich in Anspruch nehmen konnte. Regionen, die keine eigene Nationalgeschichte besaßen, galten als unzivilisiert und durften deshalb kolonisiert werden. Dies unterstreicht nochmals die Bedeutung von zeitlichen Ordnungsmustern für die Legitimation von territorialer Herrschaft.54 Dies war auch der Grund, warum auf den Kolonialausstellungen in Marseille 1906 und 1922 sowie in Paris 1931 nicht nur große Kolonialmächte wie Großbritannien und Frankreich ihren Kolonialbesitz präsentierten. Auch kleinere europäische Länder wie Belgien, Portugal und Dänemark – mit Grönland – zeigten ihre überseeischen Besitzungen zur Demonstration ihrer nationalen Leistungsfähigkeit und ihrer Modernität.55 51 | Greenhalgh, Ephemeral Vistas, S. 86f.; Wörner, Vergnügen und Belehrung, S. 67-69; Plato, Präsentierte Geschichte, S. 123; Berthier-Foglar, »The 1889 World Exhibition in Paris«, S. 237; Habermas, »Wissenstransfer und Mission«, S. 274. 52 | Greenhalgh, Ephemeral Vistas, S. 67, 82-84 und 96-100. 53 | Maxwell, Colonial Photography and Exhibitions, S. 1-3 und 15, Zitat S. ix. 54 | Hill, »Nationalgeschichten und Weltsysteme«. 55 | Bezeichnenderweise präsentierten sich auch aufstrebende außereuropäische Nationen wie die USA – 1901 an der Pan American World’s Fair von 1901 – oder Japan – an der
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Obwohl es sich bei der Darstellung von kolonisierten Völkern um ein gesamteuropäisches Phänomen handelte, benutzten nicht alle europäischen Nationen diese Form der Inszenierung in gleicher Weise. Spanien etwa, welches bis Anfang des 20. Jahrhunderts fast sämtliche überseeischen Besitzungen verloren hatte, verzichtete aus nachvollziehbaren Gründen darauf. Doch auch eine Kolonialmacht wie Deutschland stellte sich auf internationalen Ausstellungen nie als Kolonialmacht dar, da man sich bewusst war, dass die deutschen Kolonien im Vergleich mit denen der anderen europäischen Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich eher bescheiden waren.56 Dies wiederum hieß nicht, dass sich nicht auch Deutschland bei anderen Gelegenheiten als Kolonialmacht inszeniert hätte. Auf der Berliner Gewerbeausstellung von 1896 – die bezüglich der Dimensionen durchaus mit den damaligen Weltausstellungen vergleichbar war – war auch eine Sonderschau zu Deutschlands Kolonialgebieten integriert. Die rund 7,5 Millionen Besucher konnten dort nicht bloß Produkte aus deutschen Kolonien konsumieren, sondern sie erhielten im ethnographischen Teil der Ausstellung auch leibhaftigen Anschauungsunterricht über das alltägliche Leben der »Schutzbefohlenen« in kolonialen Besitztümern. Die kolonialen Selbstdarsteller waren verpflichtet, traditionelle Kleidung zu tragen sowie die in ihrer Heimat üblichen Tänze und Gesänge vorzuführen.57 Das Beispiel Deutschlands bestätigt einerseits die Beobachtung, dass die Präsentation von kolonialen Besitztümern im Rahmen von nationalen und internationalen Ausstellungen nicht zuletzt im Hinblick auf die Stärkung der nationalen Identität vorgenommen wurden, und es zeigt andererseits auf, dass solche Inszenierungen stets auch durch die Position der jeweiligen Nationen im Verhältnis zu anderen Nationen geprägt waren.58
N ATIONALES S ELBSTBILD UND KOLONIALE O RDNUNG AUF A USSTELLUNGEN IN DER S CHWEIZ Es ist wenig überraschend, dass sich die Schweiz – als Land ohne eigene Kolonien – auf keiner der Weltausstellungen durch die Präsentation von außereuropäischen Kulturgütern oder Völkern inszenierte. Doch auch die Schweiz verstand sich als Teil der europäischen Zivilisation und benutzte das koloniale Andere als identitätsstiftende Kontrastfolie. Auf einer kulturellen Ebene war sie damit durchaus Teil der kolonialen Weltordnung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Wie man mit dieser Ambivalenz umging, soll im Folgenden durch einen Blick auf Japan-British-Exhibition von 1910 – an internationalen Ausstellungen als imperiale Mächte: Greenhalgh, Ephemeral Vistas, S. 74-77. 56 | Ebd., S. 69-74. 57 | Honold, »Ausstellung des Fremden«, S. 187f. 58 | Vgl. für dieses Argument insbesondere Stichweh, Die Weltgesellschaft, S. 13f.; Conrad, Globalisierung und Nation.
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die Landesausstellungen sowie die Völkerschauen gezeigt werden, die während der Kolonialzeit in der Schweiz durchgeführt wurden. Die Landesausstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts lehnten sich konzeptionell eng an die Weltausstellungen an, was zeigt, dass die nationale Selbstdarstellung nicht zuletzt von einem intensiven Ideentransfer über die Landesgrenzen hinweg beeinflusst wurde.59 Dieser Transfer konnte jedoch auch in die umgekehrte Richtung gehen. So wurde das Village Suisse, welches vier Jahre später auch auf der Pariser Weltausstellung für Aufsehen sorgen sollte, ursprünglich für die Landesausstellung 1896 in Genf konzipiert. Interessanterweise befand sich in Genf noch ein zweites dörfliches Ensemble: das sogenannte Village noire, in welchem 230 Afrikanerinnen und Afrikaner aus Senegal in Lehmhütten wohnten. Obwohl das afrikanische Dorf damit gewissermaßen zum Gegenstück des Schweizerdorfes geworden war – die Genfer Presse scherzte, dass man in beiden die Möglichkeit habe, echte Einheimische in artgerechter Umgebung anzutreffen –, waren sie in ihrer symbolischen Bedeutung doch klar unterschiedlich.60 Das Schweizerdorf mit seinen Sennen, Kühen und seiner Dorfplatzromantik repräsentierte eine Lebensweise, die angesichts der Industrialisierung immer mehr an Bedeutung verlor. Dieser Schluss war nur schon aufgrund der starken Präsenz der auf den Weltmarkt hin orientierten Industrie an der Landesausstellung naheliegend. In der Konzeption der Landesausstellung bildeten diese beiden unterschiedlichen Schweizbilder keinen Gegensatz, sondern stellten zwei sich bedingende Pole der schweizerischen Identität dar. Die Darstellung der modernen industrialisierten Schweiz sollte den Besuchern die Gewissheit geben, dass das Land auch angesichts des zunehmenden wirtschaftlichen Konkurrenzkampfes und der politischen Spannungen zwischen den europäischen Großmächten für die Zukunft gerüstet war. Die Inszenierung der ländlichen Ursprünge diente als Versicherung, dass die Schweiz trotz aller Modernisierungsprozesse nach wie vor in ihrer Tradition verwurzelt blieb, und kann somit als »erfundene Tradition« im Sinne Eric Hobsbawms angesehen werden.61 Die beiden in den damaligen Ausstellungen gezeigten unterschiedlichen nationalen Selbstbilder standen somit in einem dialektischen Zusammenhang. Dieser Umstand kam am deutlichsten an der Zürcher Landesausstellung von 1939 zum Ausdruck, bei welcher die moderne Schweiz auf dem linken Seeufer und die ländlich-traditionelle Schweiz im Landidörfli auf der rechten Seeseite dargestellt wurde. Die beiden Seeufer waren durch eine 900 Meter lange Seilbahn miteinander verbunden. Wie Martin Arnold in seinem Überblickswerk über die schweizerischen Landesausstellungen anführte, sollte diese Seilbahn nicht bloß »als verbindende Lebensader« zwischen diesen beiden unterschiedlichen Repräsentationen des Landes dienen, sondern auch »eine Art Zeit- oder Kulturreise zwischen mo59 | Herren, »Gaslicht im Kerzenständer«. 60 | Arnold, Von der Landi zur Arteplage, S. 60f.; Minder, »Human Zoos in Switzerland«, S. 330-334. 61 | Hobsbawm, »Das Erfinden von Traditionen«.
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derner und ländlich-konservativer Schweiz« ermöglichen.62 Das Landidörfli von 1939 wurde also – wie zuvor schon das Schweizerdorf von 1896 – in Bezug gesetzt zur modernen Schweiz. Im Kontrast zu dieser belegten die dörflichen Ensembles die soziale und technische Entwicklung, zu welcher die Schweiz seit Beginn der Industrialisierung fähig gewesen war. Das Village noire von 1896 stand im Gegensatz dazu außerhalb eines solchen Fortschrittsnarrativs. Getreu den Prämissen der zeitgenössischen Ethnologie wurden die afrikanischen Eingeborenen als Naturvölker dargestellt, die nicht bloß in einer anderen Zeit, sondern überhaupt außerhalb der historischen Zeit stehen würden.63 Wie generell die Völkerschauen des kolonialen Zeitalters war auch das Village noire nicht bloß zur Unterhaltung gedacht. Es sollte auch der Belehrung des westlichen Publikums dienen und Anschauungsmaterial für die sich zu einer wissenschaftlichen Disziplin entwickelnde Ethnologie darstellen. Da die Bewohner des afrikanischen Dorfes von 1896 als Angehörige eines rückständigen Naturvolkes angesehen wurden, war es naheliegend, sie nicht mit historischen oder kulturwissenschaftlichen Ansätzen, sondern mit naturwissenschaftlichen Methoden zu untersuchen. Ein Genfer Anthropologe hielt denn auch einen vielbeachteten Vortrag, an dem er 15 der Senegalesen präsentierte und den Zuhörern die Schädelformen und den Knochenbau der Afrikaner erläuterte und auf die besondere Beschaffenheit ihrer Füße und ihrer Handflächen einging.64 Obwohl die zur Schau gestellten Eingeborenen in der europäischen Öffentlichkeit als das koloniale Andere dargestellt wurden, führte der Kontakt zwischen Europäern und Nichteuropäern oft auch zu einer unerwarteten Relativierung der kulturellen Unterschiede. So wurde in einer Erinnerungsschrift an die Landesausstellung zwar festgehalten, dass das »Leben und Treiben der Schwarzen […] nichts an Naturwahrheiten zu wünschen übrig« gelassen habe. Dann wurde jedoch weiter vermerkt: »Sie nahmen übrigens im Laufe des Sommers etwas Zivilisation an«, und sie »parlieren nun ein paar Brocken Französisch«65. Schon während der Ausstellung war in der Genfer Presse verschiedentlich verwundert auf das gute Benehmen der Afrikaner hingewiesen und mit der Bemerkung kommentiert worden, dass sich die Besucher der Ausstellung ein Beispiel daran nehmen sollten. Da das Konzept der Ausstellung auf der behaupteten Differenz zwischen den afrikanischen Eingeborenen und den zivilisierten Europäern beruhte und die Organisatoren befürchteten, die Afrikaner könnten durch Kontakte zur schweizerischen Bevölkerung allzu sehr zivilisiert werden, versuchten sie, solche Kontakte auf ein Minimum zu beschränken. Zu Werbezwecken durften sie das Dorf aber verschie-
62 | Arnold, Von der Landi zur Arteplage, S. 81-86. 63 | Zimmermann, »Ethnologie im Kaiserreich«. 64 | Minder, »Human Zoos in Switzerland«, S. 334. 65 | N. N., Erinnerungen an die Schweizerische Landesausstellung in Genf 1896, S. 64.
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dentlich verlassen und mindestens in zwei Fällen gingen sie dabei ausgerechnet ins Theater.66 Obwohl diese Erfahrungen durchaus Anlass gegeben hätten, die Behauptung einer grundsätzlichen kulturellen Differenz zwischen den Eingeborenen der Kolonien und den Europäern in Frage zu stellen, wurden in der Schweiz auch weiterhin Menschen mit außereuropäischer Herkunft in ethnographischen Dörfern gezeigt. Dies geschah zwar nicht mehr im Rahmen einer Landesausstellung – weder vor noch nach 1896 wurden nicht westliche Völker auf einer Landesausstellung präsentiert –, dafür im Rahmen von privat organisierten Völkerschauen. Zwischen 1879 und 1939 wurden in der Schweiz rund einhundert ethnologische Ausstellungen in zoologischen Gärten, in großen Restaurants oder in Parks organisiert. Diese Veranstaltungen gingen auch nach dem Zweiten Weltkrieg und selbst nach dem Ende der Kolonialherrschaft weiter. In Zürich wurden etwa noch bis in die 1960er Jahre regelmäßig Völkerschauen durchgeführt.67 Dies zeigt, wie stark die Alltagskultur in der kolonialen wie in der nachkolonialen Periode durch die Vorstellung einer Differenz zwischen der Schweiz und der als exotisch dargestellten nicht westlichen Welt geprägt war.
S CHLUSS Wie dieser Beitrag erstens zu zeigen versuchte, waren die Welt- und Landesausstellungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht bloß durch die Repräsentation der verschiedenen Nationalstaaten geprägt, sondern auch durch eine symbolische Abgrenzung zwischen dem industrialisierten Westen und der kolonialen Welt. Während die Nationalstaaten ihre technologische, wirtschaftliche und künstlerische Leistungsfähigkeit zur Schau stellten, wurden die Kolonien als in ihren Traditionen verhaftete Naturvölker präsentiert, deren Entwicklungsstand nach Ansicht vieler Zeitgenossen demjenigen der prähistorischen Völker Europas entsprach. Dies zeigt, dass das europäische Konzept von Nation auch eine bestimmte Vorstellung von wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung beinhaltete und deshalb im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert auch in einen direkten Bezug zur kolonialen Ordnung gebracht werden kann. Wie prägend das Konzept des Nationalen als Grundlage für territoriale Ansprüche im 19. Jahrhundert geworden war, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass auch die antikolonialen Unabhängigkeitsbewegungen die Schaffung einer eigenen Nation proklamieren mussten, um sich so eine Legitimationsbasis für die Befreiung von der europäischen Kolonialherrschaft zu schaffen. Zweitens sollte dargelegt werden, dass die koloniale Weltordnung nicht bloß eine räumliche Aufteilung der Erde umfasste, sondern auch durch temporale 66 | Minder, »Human Zoos in Switzerland«, S. 323f. 67 | Brändle, Wildfremd, hautnah; Minder, »Human Zoos in Switzerland«, S. 329f.
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Ordnungsvorstellungen legitimiert wurde. Durch die Darstellung der Differenz zwischen den agrarisch-historischen Traditionen der einzelnen europäischen Nationen und dem technischen Entwicklungsstand, den sie bis Ende des 19. Jahrhunderts erreicht hatten, wurde einerseits die Dynamik und das Potential der westlichen Zivilisation unterstrichen. Andererseits vermochte diese Selbstinszenierung die Entwicklung der westlichen Gesellschaft auch in einen linearen Verlauf von »Geschichte« einzuschreiben. Diese Art der Selbstdarstellung wurde auf den Ausstellungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts der angeblichen Stagnation, Naturhaftigkeit und Geschichtslosigkeit der Nichteuropäer und Nichteuropäerinnen gegenübergestellt, wodurch wiederum die Kolonialherrschaft gerechtfertigt wurde. Drittens wurde gezeigt, dass sich die koloniale Weltordnung nicht auf die territoriale Beherrschung von bestimmten Teilen der außereuropäischen Welt durch europäische Mächte beschränken lässt. Sie stellt vielmehr auch eine symbolische Ordnung in Bezug auf das Verhältnis zwischen westlicher und nicht westlicher Welt dar. Die Schweiz war dabei auf der kulturellen Ebene durchaus ein Bestandteil dieser eurozentrischen Ordnung. Sie unterscheidet sich aber von den europäischen Kolonialmächten dadurch, dass die nationale Selbstrepräsentation auf den Welt- und – mit Ausnahme von 1896 – Landesausstellungen nie in einen direkten Bezug zum Kolonialismus gesetzt wurde. Eine solche Perspektivierung erlaubt es, die Schweizer Geschichte jenseits von eurozentrischen Blickverengungen und insbesondere nicht in der Form einer nationalen Nabelschau zu betrachten. Wenn man Schweizer Geschichte als Teil der europäischen Geschichte versteht, so impliziert dies zwangsläufig auch einen Blick über den europäischen Tellerrand hinaus, denn das moderne Europa hat sich immer auch durch die Beziehung zu und die Abgrenzung von anderen Kontinenten definiert. Es scheint deshalb unerlässlich, die schweizerische Geschichte in Zukunft stärker als bisher auch mit globalgeschichtlichen und postkolonialen Ansätzen zu untersuchen.
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Das Making-of von Gardis Afrika Gaby Fierz Wie kein anderer hat der Reiseschriftsteller, Fotograf und Filmer René Gardi (1909-2000) das Afrikabild der Schweizerinnen und Schweizer nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt. Mit seinen Bildern, Vorträgen, Büchern und Filmen brachte er seit den 1950er Jahren die fremde Welt Afrika vor allem in die Deutschschweizer Wohnzimmer. Zu seinen Vorträgen strömten Hunderte von Zuhörerinnen und Zuhörern, seine bebilderten Reportagen in Zeitungen und auflagenstarken Zeitschriften wie der Schweizer Illustrierten fanden eine breite Leserschaft. Auch im Schweizer Radio war seine Stimme oft zu hören, und später erzählte er vor der Fernsehkamera von seinem Afrika. Es gab kaum ein Dorfkino in der Schweiz, das nicht seine bekannten Filme Mandara (1959) oder Die letzten Karawanen (1966) spielte. Unverändert groß war das Interesse auch am Wochenende vom 28. Februar und 1. März 2009, als im Kino Kunstmuseum Bern anlässlich seines 100. Geburtstags Filmvorführungen und Podiumsgespräche stattfanden. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der diskursiven Verortung von Gardis Afrikabild. Er gibt keinen Überblick über das vielfältige und umfangreiche Werk Gardis. Auch ist es nicht die Absicht dieses Beitrags, Gardi in der Geschichte der Schweizer Ethnologie beziehungsweise Fotografie oder des Schweizer Afrikafilms zu verankern. Ein solches Vorhaben würde nicht nur die Grenzen des hier Möglichen sprengen, sondern auch eine andere Herangehensweise erfordern; vielmehr geht es in diesem Aufsatz um den Versuch aufzuzeigen, welche Bilder, Themen und Motive Gardis Erzählungen über Afrika zugrunde liegen. Es interessiert primär die mediale Inszenierung und wie es Gardi so überzeugend geschafft hat, ein Bild von einem »authentischen« und »ursprünglichen« Afrika zu konstruieren und erfolgreich zu verbreiten. Wie stellt sich in Gardis Texten und Bildern »Authentizität« her? Wie wird einerseits »Authentizität« als machtvolle Position inszeniert, oder mit anderen Worten: Was macht Gardi zum glaubwürdigen Afrikaexperten? Andererseits frage ich aber auch, was dieses authentische Afrika ausmacht, auf welche diskursiven Dispositionen und Stereotypen dieses Bild zurückgreift?
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René Gardi lebte von und durch die medialen Inszenierungen Afrikas. Er war selbständiger Unternehmer, der seine Bücher und Bilder über Afrika verkaufte und davon lebte. Seine Expeditionen wurden von keiner Institution finanziert. Er war weder in kolonialen Diensten noch von der Mission angestellt noch Medienkorrespondent oder in Hilfsprojekten tätig. Insofern war er frei von formellen institutionellen Bindungen, was nicht bedeutet, dass diese ohne Einfluss auf sein Schaffen geblieben wären; doch sein Kapital war sein (exklusives) Wissen über Afrika und seine Kompetenz der medialen Vermittlung. Was die »Inszenierung von Authentizität« vor diesem Hintergrund bedeutet beziehungsweise wie sich diese konstruiert, ist Thema des ersten Teils dieses Aufsatzes. In einem zweiten Teil steht die Frage der Repräsentation des authentischen Afrikas und dessen diskursive Verortung im Vordergrund. Auf welche Typenbildungen und Stereotype wird in Gardis Afrikabild zurückgegriffen? Wie kommt das Bild vom authentischen, ursprünglichen Afrika zustande? Was musste ausgeblendet werden und warum und mit welchen Folgen? Seit der Krise der Repräsentation in der Ethnologie, Resultat einer kritischen Beschäftigung mit ihrer Wissenschaftsgeschichte, ist ein unreflektiertes Schreiben und Darstellen des Anderen nicht mehr möglich.1 Vielmehr werden die Repräsentation des Anderen in wissenschaftlichen Schriften und populären Reiseberichten nun auf ihr »othering« hin untersucht. Der Begriff des othering, der auf die Arbeiten der postkolonialen Theoretikerin und Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak zurückgeht, bezeichnet die Konstruktion und Repräsentation des Anderen im kolonialen Diskurs.2 Wird diese kritische Perspektive auf Gardis Werk gerichtet, stellen sich folgende Fragen: Welche Typenbildung und Stereotype zeigen sich in René Gardis Afrikarepräsentation? Welche Repräsentationsregimes3, das heißt welche Wechselwirkungen zwischen Bildern und Texten, werden deutlich? Diesen Fragen soll hier nachgegangen werden.
D IE Q UELLENL AGE René Gardi hielt sich auf seiner Expedition an den Tschadsee 1952 zum ersten Mal für eine kurze Zeit in den Mandarabergen auf. Fasziniert von den nackten Schmieden an den Hochöfen, plante er daraufhin eine weitere Expedition, die Reise mit dem Ethnologen Paul Hinderling, von der im Folgenden ausführlich die Rede sein wird. 1955 reiste er zum dritten Mal und 1959 für seinen abendfüllenden Dokumentarfilm Mandara zum vierten Mal in dieses Gebiet, später folgten weitere Reisen und weitere Berichte. 1991 hielt er sich zum letzten Mal in den Mandarabergen auf. 1 | Clifford/Marcus, Writing Culture. 2 | Spivak, In Other Worlds. 3 | Hall, »Das Spektakel«, S. 115.
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Er hat ein umfangreiches Werk hinterlassen, das bisher kaum bearbeitet ist und erst in letzter Zeit in der historischen Forschung auf Interesse gestoßen ist.4 Diese fehlende kulturwissenschaftliche und historische Aufarbeitung hängt auch mit der Quellensituation zusammen. Es ist anzunehmen, dass René Gardi seinerzeit niemandem außer seinen Nächsten Einblick in sein Archiv gewährte. René Gardi habe dieses, das gleichzeitig sein Arbeitsraum und sein Allerheiligstes war, wohlwissend um dessen »Einzigartigkeit und Unersetzlichkeit«5 geschützt vor neugierigen Blicken, heißt es in einem Artikel, der anlässlich der Ausstellung Momente des Alltags. René Gardi 1996 erschienen ist. Gardis Nachlass ist nach wie vor in Familienbesitz und nicht öffentlich zugänglich. Einsicht in einen Teil des Archivmaterials habe ich im Rahmen eines Ausstellungsprojekts des Museums der Kulturen Basel erhalten, das für 2012 eine Schau zum Thema Expeditionen plant.6 In diesem Zusammenhang stellte mir dankenswerterweise Bernhard Gardi, der Sohn von René Gardi, alle Unterlagen zur Verfügung, welche die dreimonatige Expedition von Januar bis März 1953 mit dem Ethnologen des Basler Völkerkundemuseums Paul Hinderling nach Nordkamerun betrafen. Der Historiker Felix Rauh, der im Rahmen seines Dissertationsprojekts zu den Filmen Gardis arbeitet und in diesem Zusammenhang Zugang zum Archiv erhielt, gab mir Einsicht in die schriftlichen Materialien über die Produktion, Distribution und Rezeption des Dokumentarfilms Mandara. Die Quellen setzen sich aus unterschiedlichen Dokumenten und Unterlagen zusammen. Zum einen sind dies unveröffentlichte Texte, darunter das Expeditionstagebuch von Gardi, seine Korrespondenz, über 2000 Fotografien, Filmsequenzen und Tonbandaufnahmen, von denen jeweils nur ein Bruchteil veröffentlicht wurde, zum anderen die Veröffentlichungen: die journalistischen Beiträge und das populäre Reisebuch Mandara. Ein Bergland in Nordkamerun illustriert mit Schwarz-Weiß- und Farbfotografien, die Bildbände Der schwarze Hephästus und Kirdi, die vierteilige Reportage in der Schweizer Illustrierten über die Filmarbeiten für der Film Mandara, Zeitungsausschnitte über das Buch und den Dokumentarfilm Mandara. 4 | Felix Rauh arbeitet am Dissertationsprojekt Audiovisuelle Repräsentationen der Dritten Welt 1960-1980 (Arbeitstitel) und untersucht in diesem Zusammenhang das filmische Schaffen von René Gardi. Er ist ebenfalls beteiligt am NF-Projekt Aussereuropäische Kulturen in Reisefotografien und Dokumentarfilmen des deutschsprachigen Raums, 1924-1986. 5 | Zaugg, »Ich war ein reiner Abenteurer«. Die vom Sohn Bernhard Gardi konzipierte Ausstellung Momente des Alltags. René Gardi wurde 1994 zuerst im Völkerkundemuseum Basel (heute Museum der Kulturen) gezeigt und anschließend 1996 im Kornhaus Bern. Zur Ausstellung erschien der gleichnamige Katalog. 6 | Anhand ausgewählter Beispiele von ethnologischen Expeditionen, die vom Basler Völkerkundemuseum ausgingen, sollen in dieser Ausstellung personelle, fachliche, globale und lokale Verflechtungen aufgezeigt werden.
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Auch im Archiv des Museums der Kulturen finden sich Quellen über die Nordkamerunexpedition, die ich, sofern sie mir für den zu behandelnden Gegenstand relevant schienen, in die Untersuchung miteinbezogen habe: so beispielsweise den Briefwechsel zwischen Paul Hinderling und Alfred Bühler, dem Direktor des Basler Völkerkundemuseums, und den Expeditionsbericht zu Händen der Fritz Sarasin-Stiftung, die mit einem namhaften Betrag die Forschungs- und Sammelreise von Paul Hinderling unterstützte. Weiter habe ich die über 700 Fotografien von Paul Hinderling, die Dokumentation der Ausstellung Die Negerschmiede von 1954, bei der ein Teil der insgesamt 545 gesammelten Objekte gezeigt wurde, und die wissenschaftlichen Artikel sowie die erst 1969 erschienene Monographie Paul Hinderlings über die Mafa gesichtet. Mit dieser detaillierten Aufzählung mache ich nochmals deutlich, dass ich mich bei meinen folgenden Ausführungen über Gardis Afrikabild nur auf einen Teil des sehr umfangreichen Quellenmaterials in Gardis Archiv stütze.
I NSZENIERUNG VON A UTHENTIZITÄT Autorität und Glaubwürdigkeit sind wesentliche Merkmale, die den Status von Experten und Expertinnen ausmachen. Handelt es sich um solche, die über fremde Länder berichten, so erlangen sie gemäß Johannes Fabian ihre Expertise insbesondere auch über den Umstand, »selber dort gewesen zu sein«7. Dieses selber dort gewesen sein wird bezeugt durch Fotografien, Objekte und Erzählungen und verleiht Reiseschriftstellerinnen und Reiseschriftstellern und ebenso Ethnologinnen und Ethnologen den Status von Sachverständigen und ihren Berichten den Status des Tatsächlichen. Augenzeugenberichte bürgen für Authentizität. René Gardi war immer wieder in Afrika, davon legen seine Fotografien, Filme, Tonbänder und Texte beredtes Zeugnis ab, und daraus erwuchs ein Teil seiner Legitimation als Afrikaexperte. Authentizität ist jedoch nicht einfach gegeben, sie wird in einem performativen Akt hergestellt. Unabhängig davon, in welchem Medium Authentizität produziert und vermittelt wird, ob in der Fotografie, im Film oder im Text, die darin festgehaltene Wirklichkeit ist immer ein Ausschnitt, eine Auswahl, eine Konstruktion. Dieser Vorgang, der durch eine spezifische Auswahl, Organisation und Strukturierung von Personen und Materie etwas zur Erscheinung bringt, etwas entwirft und aufzeigt, kann mit dem Begriff der Inszenierung erläutert werden: »Als ästhetische und zugleich anthropologische Kategorie zielt der Begriff der Inszenierung auf schöpferische Prozesse, in denen etwas entworfen und zur Erscheinung gebracht
7 | Fabian, Im Tropenfieber, S. 11.
D AS M AKING - OF VON G ARDIS A FRIKA wird – auf Prozesse, welche auf spezifische Art und Weise Imaginäres, Fiktives und Reales (Empirisches) zueinander in Beziehung setzen.« 8
Im Folgenden interessiert das Inszenieren von Authentizität als kulturelle Praxis, die ganz im Sinne eines performativen Akts wirkungsvoll spezifische Inhalte vermittelt. Es geht hier also um die Frage, auf welche Art und Weise und mit welchen Rückgriffen auf bekannte Muster und Motive René Gardi in seinen Fotografien, Filmen und Texten afrikanische Wirklichkeiten als tatsächliche Realitäten zur Erscheinung bringt.
D IE E XPEDITION VON 1953 IN DIE M ANDAR ABERGE Im Januar 1953 flogen René Gardi und Paul Hinderling von Paris über Tripolis nach Fort Lamy und von da nach Maroua. Dort wurden sie von Missionar Hans Eichenberger, der für den Schweizer Zweig der Mission Unie du Soudan zu Beginn der 1950er Jahre in Soulédé eine Missionsstation aufbaute,9 abgeholt und nach Mokolo, der ersten Station ihres gut dreimonatigen Aufenthalts in den Mandarabergen Nordkameruns gebracht. Empfangen vom französischen Kolonialbeamten Monsieur Duc, richteten sie mit seiner und der Hilfe anderer in Mokolo lebender Europäerinnen und Europäer ihren Haushalt ein. Sie stellten den Koch Lulu und den »Boy« Buba ein und begannen mit ihrer ethnographischen Arbeit: der filmischen und fotografischen Dokumentation der Mafa-Kultur, insbesondere der Eisengewinnung, und dem Anlegen einer Sammlung der materiellen Kultur für das Völkerkundemuseum Basel.10 8 | Fischer-Lichte, »Theatralität und Inszenierung«, S. 22. 9 | Messina/Slageren, Histoire du Christianisme au Caméroun, S. 119. 10 | Paul Hinderling, Assistent am Völkerkundemuseum Basel, wurde von der Museumskommission mit dem wissenschaftlichen Sammeln beauftragt und von der Kuratel der Universität Basel für diese Zeit freigestellt. Im Bericht für die Fritz Sarasin-Stiftung, die die Forschungs- und Sammelreise finanziell unterstützte, skizziert Hinderling die Zielsetzungen der Kamerunexpedition: »Herr Gardi verfügte über ausgezeichnete Beziehungen zu den französischen Behörden des Landes, und er brachte zugleich Bilder und Berichte mit, aus denen hervorging, dass es sich bei der Bevölkerung dieser Berge, den ›Heidenstämmen‹, wie sie in der älteren deutschen Literatur genannt werden, oder ›Kirdi‹ (Heiden), wie sie bei den ringsumwohnenden mohammedanischen Fulbe und Mandara heissen, um noch von europäischem Einfluss fast unberührte sog. ›altnigritische‹ Stämme handelt. Wenig ist über diese Stämme in der einschlägigen Literatur zu finden, und es scheint, dass noch in keinem ethnographischen Museum Europas eine bedeutendere Sammlung von den Kulturgütern dieser Völklein zu finden ist. Diese Tatsache versprach für mich selbst wertvolle Einblicke in eine noch intakte Neger-›Kultur‹ und vor allem für das Museum eine gute Sammlung von zwar nicht grossartigen, doch sehr interessanten ethnographischen Objekten. Besonders
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Gardi und Hinderling begleiteten die französischen Kolonialbeamten auf ihren »tournées« in die abgelegenen und nur schwer zugänglichen Täler, waren bei der Volkszählung dabei und halfen mit beim Einziehen von Steuern. Als Gegenleistung gelangten sie mit Hilfe des Kolonialbeamten Monsieur Touteau und dessen Ehefrau in ein Dorf, in dem das sogenannte Cire-perdu-Verfahren (Verfahren der verlorenen Form) praktiziert wurde. Ihre Freizeit verbrachten sie mit Europäerinnen und Europäern. Den zweiten Teil ihres Aufenthaltes lebten sie in Soulédé beim Schweizer Ehepaar Eichenberger auf der Missionsstation. Hans Eichenberger, Kiligai, der sich als erster Einheimischer christlich taufen ließ, der Koch Lulu und der »Boy« Buba waren Übersetzer und zugleich wichtige Informanten. Nur wenige Jahre vor der Unabhängigkeit der seit Ende des Zweiten Weltkriegs unter dem Mandat der Vereinten Nationen stehenden französischen Kolonie Kamerun waren René Gardi und Paul Hinderling für wenige Monate Teil der kolonialen Gesellschaft. Paul Hinderling sammelte für das Museum, erstellte Skizzen der Gehöfte, zeichnete die handwerklichen und technischen Prozesse, insbesondere die Eisengewinnung, auf, führte Interviews und notierte seine Beobachtungen. Gardi filmte, fotografierte, machte Tonbandaufnahmen, führte Interviews, war fasziniert von der Eisengewinnung, die er ausführlich visuell dokumentierte, und suchte, wie er selber sagte, Stoff für ein Reisebuch.11
D ER E NTDECKER - UND R E T TERMY THOS Anders als französische Kolonialbeamte, die für ihre Herrschaftsausübung auf ethnologisches Wissen angewiesen waren, als Missionare, die ihre christlich-zivilisatorische Mission nur aufgrund guter Sprach- und ethnologischer Kenntnisse ausüben konnten, oder als Ethnologen, die im Auftrag eines europäischen Museums sammelten oder sich im Auftrag einer Universität wissenschaftlich betätigten, war Gardi als unabhängiger Reiseschriftsteller keiner Institution gegenüber verpflichtet, von keiner autorisiert, aber in umgekehrter Weise auch von keiner legitimiert, Wissen über Andere zu produzieren. Mit anderen Worten, er war zwar frei von institutionellen Bindungen, jedoch nicht von ökonomischen und gesellschaftlichen Zwängen. Wie legitimiert sich sein Status als Afrikaexperte? Folgendes Zitat aus dem im Sommer 1953 erschienen Buch Mandara gibt einen ersten Hinweis:
vielversprechend war, dass diese ›Kirdi‹ noch Eisen aus in den Bachbetten gesammeltem Mineralsand zu schmelzen verstehen.« Archiv MKB, Hinderling, Bericht, S. 1. 11 | Nicholas David würdigt in einem kürzlich erschienen Artikel die »Entdeckung« dieser spezifischen Schmiedekunst durch René Gardi. David, »Identification«, S. 36ff.
D AS M AKING - OF VON G ARDIS A FRIKA »So wird das kleine Bergland Mandara, das ich mit seinen Menschen beschreiben möchte, Symbol sein für eine Menge von Problemen, welche Gültigkeit für halb Afrika haben. Noch ist der ›Fortschritt‹, der so vieles zerstört, nicht weit eingedrungen, noch leben die Bergler abgeschlossen in Freiheit und gemäss ihren alten Sippengesetzen, noch kamen wir rechtzeitig, um von den letzten afrikanischen Hochöfen einige rauchend anzutreffen, und in den meisten Tälern, die wir durchstreiften, und auf den Bergen, die wir bestiegen, gehörten wir zu den zehn ersten Weissen, die dort ihren Fuss hingesetzt hatten. Ausser einer kleinen Studie eines früheren Administrators namens Lavergne ist über die Matakam nie etwas geschrieben worden, und ich bilde mir ein, in diesem Buche allerlei Unbekanntes zu erzählen, denn in gewissen Gegenden, die wir durchstreiften, sind zumindest die Frauen und Kinder zum ersten Male dem weissen Manne begegnet. Wir haben vor unserem Abflug nach Paris das ›Musée de l’Homme‹ durchstöbert, und mein Begleiter, der Ethnograph, hat zu seinem Vergnügen weder in den Ausstellungssälen noch unten in den Reserven noch im Sachkatalog irgendwelche Gegenstände aus dem Mandara-Land entdeckt.«12
Gardi inszeniert sich in der Einleitung seines Reisebuchs Mandara zum einen als »Entdecker« und zum anderen als »Retter« einer im Verschwinden begriffenen Welt. Beide Motive sind konstituierende Elemente der Expeditions- und Reiseliteratur und damit auch des kolonialen Diskurses.13 Die »Entdeckung« und die Betonung, der Erste oder einer der Ersten gewesen zu sein, sind beliebte und häufig anzutreffende Motive in den kolonialen Beschreibungen der außereuropäischen Welt.14 Dass gerade Frauen und Kinder für das noch nicht entdeckte Land bürgen, verweist zudem auf die von Anne McClintock aufgezeigte koloniale Asymmetrie der Geschlechter: »männliche Entdecker« und »weibliche Entdeckte« und wie »Women as Boundary Makers of Empire« fungieren.15 Der männlich konnotierte »Entdeckermythos« suggeriert, dass es diesen Teil der Erde vorher gar nicht gab. Seine Existenz beginnt erst durch die Beschreibung, die umfassende Dokumentation durch Fotografie, Film, Ton und Text. Clifford hat diese Form der Authentizitätsherstellung des Anderen auf folgende Formel gebracht: »Ihr seid dort, weil ich dort gewesen bin«16. René Gardis Aussage also ist: Alles, was ihr über diesen Teil Afrikas wisst, habt ihr René Gardis Entdeckung zu verdanken. Er war dort. Diese für sich selber in Anspruch genommene Rolle als Entdecker legitimiert einen Teil seiner Augenzeugenschaft und der daraus gewonnenen Autorität. Ebenso entscheidend für die Herstellung seiner Glaubwürdigkeit als »Afrikaexperte« sind strukturelle Begebenheiten. Als weißer Europäer war René Gardi Teil der kolonia12 | Gardi, Mandara, S. 13. 13 | Für den Diskurs von der Rettung aussterbender Kulturen, der hier nun nicht weiter ausgeführt wird, siehe u.a. Clifford, »Of Other Peoples«, S. 122, und Harries, From the Alps to Africa, S. 216ff. 14 | Mudimbe, The Invention of Africa; Mudimbe, The Idea of Africa. 15 | McClintock, Imperial Leather, S. 24ff. 16 | Clifford, »Über ethnographische Autorität«, S. 110.
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len Gesellschaft und dementsprechend auch Repräsentant der kolonialen Macht, was seinen Status als Wissender steigert. Edward Said hat in Orientalism die diskursiven Merkmale dieses Korpus von Wissen über die Anderen beschrieben und gezeigt, wie jeder neue Text, der über den Orient geschrieben wurde, bestimmte stereotype Bilder und Denkweisen verstärkte. Dieser Korpus von Wissen setzt sich aus ganz unterschiedlichen Texten zusammen – philologischen Studien, Reiseberichten, literarischen Texten. »Orientalism is premised upon exteriority, that is, on the fact that the Orientalist, poet or scholar, makes the Orient speak, describes the Orient, render its mysteries plain for and to the West. He is never concerned with the Orient except as the first cause of what he says.«17 Bereits die Position als weißer Beobachter ermöglichte es, Wissen über den Orient zu produzieren, während den Bewohnerinnen und Bewohnern selber eine Produktion von Wissen abgesprochen wird. Deshalb war es möglich, dass »selbst Menschen, die man wohl als AmateurEthnologen oder -Archäologen bezeichnen müsste, […] unter den Bedingungen des kolonialen Kontextes zu Experten hinsichtlich des kolonialisierten Landes«18 wurden. Bereits in diesem ersten Zitat von Gardi gibt es Hinweise auf ein spezifisch schweizerisches Afrikabild, bei dem er durchaus auch Anleihen bei Vorläufern machte. So spricht Gardi von den »Berglern«, die noch »abgeschlossen in Freiheit« leben würden, ein Motiv, das in seinen Beschreibungen wiederkehrt und an die »Afrika«-Beschreibungen der Neuenburger Missionare und Ethnologen Edouard Jacottet, Edmond Perregaux, Héli Chatelain und Henri-Alexandre Junod erinnert, die von Patrick Harries analysiert wurden. Harries zeigt, wie durch die Herstellung von Parallelitäten und Ähnlichkeiten in den Beschreibungen der Bewohnerinnen und Bewohner der Alpen und der afrikanischen Gesellschaften das Andere und Fremde in ein vertrautes Erklärungsmuster eingebunden wird: »Swiss missionary anthroplogists had at their command a positive image of primitive communities that could be used to instill their moribund culture with new lilfe while, at the same time, incorporating African societies into a familiar system of explanation. Both Alpine and African worlds were populated by uncomplicated, small scale societies that seemed to reflect a primitive past of communitarian values, firm social hierarchies and authentic traditions.«19
Gardi bedient sich ebenfalls dieses vertrauten Vokabulars, so zum Beispiel wenn er das Marayfest, das Stierfest, bei den Mafa beschreibt: »Sie lachen, jeder schwatzt, und es geht also genau zu wie in der Schweiz bei der Älplerchilbi: die Jungen tanzen, und die Alten trinken und schwatzen.«20 17 | Said, Orientalism, S. 20-21. 18 | Mills, Der Diskurs, S. 125. 19 | Harries, From the Alps to Africa, S. 203. 20 | Gardi, Mandara, S. 47.
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D AS S PEK TAKEL DER W EISSEN Der Status als Afrikaexperte wird jedoch nicht plötzlich hergestellt und bleibt für immer gültig. Diese Konstruktion bedarf der ständigen Versicherung, der kontinuierlichen Inszenierungen von Authentizität. Einerseits stellt sich diese durch eine spezifisch eigenständige Organisation des Wissens und seiner Darstellung her, worauf wir später mit Bezug auf die Repräsentationsstrategien eingehen werden. Andererseits konstruiert sich dieser Status aber auch mittels des ambivalenten Diskurses über die eigene Position innerhalb der kolonialen Gesellschaft. Diese Ambivalenz zeigt sich in den Fotografien, die das Expeditionsleben, den kolonialen Alltag und die Freizeit thematisieren und von denen bis heute erst wenige veröffentlicht sind. Als »Hybride« lassen diese Fotografien durchaus sehr unterschiedliche Deutungen zu21, Deutungen, die an Schärfe gewinnen, wenn Textstellen aus dem Reisebuch Mandara, dem Tagebuch und den Reportagen in der Berner Tageszeitung Der Bund, also dem von Hall für die Analyse von Fotografien geforderten Kontext, einbezogen werden.22 René Gardi schreibt ausführlich und anschaulich über den Alltag, den Paul Hinderling und er auf den Reisen mit den französischen Kolonialbeamten teilten. Seine Fotografien zeigen, wie sich Monsieur Duc morgens rasierte und Madame Touteau bei einer Rast unterwegs unter einem knorrigen Baum die Lippen schminkte, mit Tischtuch und Servietten gedeckte Tische, Träger, die Koffer, Tische, Betten und Stühle durch die hügelige Landschaft schleppen und Kolonialbeamte beim Einziehen der Steuern. Was bewog René Gardi, diese Szenen fotografisch festzuhalten? Wird hier eine »schweizerische Bescheidenheit« inszeniert, mit der Gardi sich – durchaus auch mit Blick auf seine Schweizer Leserinnen und Leser – von den Französinnen und Franzosen distanzieren will? Was interessierte ihn an der Morgentoilette eines französischen Kolonialbeamten? Die Fotografie (Abb. 1) zeigt zunächst einmal nur einen Mann im Pyjama bei einer völlig unspektakulären Alltagshandlung, dem Rasieren. Wir sehen aber auch, dass er dies unter freiem Himmel, am Klapptisch sitzend vor einer Strohhütte tut, was die Vermutung nahelegt, dass er in der brousse unterwegs ist, und sogleich auch die Frage aufwirft: Ist das nicht etwas übertrieben? Hat ihn Gardi deshalb fotografiert? Weil er mit einem Augenzwinkern auf ein in seinen Augen übertriebenes Festhalten an europäischer Zivilisation mitten in der brousse hinweisen wollte? Die Fotografie lässt aber auch noch eine andere Deutung zu: Dadurch, dass sie den französischen Kolonialbeamten beim Verrichten seiner Körperpflege zeigt, hat die Fotografie etwas Intimes, vermittelt den Eindruck von Nähe zum Fotografen, der bei einer sonst im privaten und nicht im öffentlichen Bereich vorgenommenen Körperpflege offensichtlich dabei ist. Gerade diese Nähe, das Private und Intime 21 | Jäger, Fotografie und Geschichte, S. 178ff. 22 | Hall, »Das Spektakel«, S. 111.
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Abbildung 1: Auf Volkszählungstournee mit dem französischen Kolonialbeamten M. Duc
Abbildung 2: Unterwegs mit Madame Touteau, um Steuern einzuziehen
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machen den Kolonialbeamten aber auch verletzlich und untergraben seine Autorität als offizieller Vertreter der französischen Kolonialregierung. Kann die Fotografie des Kolonialbeamten gar als subtile Kritik am Kolonialismus gelesen werden? In eine ähnliche Richtung drängt sich auch die Deutung der Fotografie (Abb. 2) auf, die eine junge Frau zeigt, die sich an einen Baumstamm anlehnt und schminkt. Auch sie wird bei einer Handlung gezeigt, die darauf abzielt, ihre äußere Erscheinung europäisch gepflegt aussehen zu lassen, und sie tut dies ebenfalls mitten in der Natur. Immer wiederkehrende Motive auf Gardis Fotografien sind neben der Körperpflege das Essen und die Esssitten der französischen Kolonialgesellschaft (Abb. 3). Er hält aber auch fest, wie die Franzosen und Französinnen unter schwierigsten Verhältnissen ihre kulturellen Praktiken aufrechterhalten, indem er den dafür notwendigen materiellen und personellen Aufwand zeigt (Abb. 4). Fotografiert er dieses Spektakel, weil er diesen Aufwand in bescheiden eidgenössischer Weise für übertrieben hält? Abbildungen 3 und 4: Monsieur Duc und ein weiterer französische Kolonialbeamter beim Essen in der brousse. Sie sind unterwegs auf Volkszählungstournee. Und: Aufwendiges Reisen der französischen Kolonialbeamten
Für die Aneignung und Deutung der Fotografien ist der weitere Kontext des Bildes, insbesondere auch der Text relevant. Dieser gibt in unserem Fall eindeutige Hinweise. Die Distanzierung Gardis von diesen als übertrieben empfundenen kolonialkulturellen Praktiken wird in verschiedenen Texten deutlich: »Waschschüsseln, Leintücher, Klappstühle und Tischtücher, tägliches Rasieren und Wein bei Tisch, man wird das übertrieben finden. Reisen Paul und ich allein, dann lebten wir al-
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An anderer Stelle im Tagebuch berichtet er von der umständlichen Reise mit Madame und Monsieur Touteau: »Touteau verspricht also, mit uns am anderen Tag mit dem Auto hinzufahren. Chef wird orientiert, ebenfalls der Chef der Tschide in Teleki, dass wir kommen werden, dass dann, potz Teufel, alles bereit sei für den nächsten Tag, für den Gelbguss und die Technik des Cire perdue. Schön, schön, und am anderen Morgen um acht Uhr wollen wir hinfahren, da erfährt der Gute, dass es gar keine Strasse gibt! Wir müssen zu Fuss hin! Wir konnten es in diesem kartenlosen Lande nicht wissen, wohl aber er, der adm [gemeint ist der administrateur, der Kolonialbeamte, GF]. Nun, so wurden wider ihren Willen ein Dutzend Kerle zusammengetrommelt, die tragen mussten. Es ging auch diesmal nicht ohne Tisch und Stühle, ohne die ganze Popote, und zum Mittagessen hat Madame trotz unserem Protest Voressen, Huhn, Kartoffeln, Salat, Dessert, Kaffee bestellt, die Köche schwitzten und schufteten, und von uns vieren hat keines sieben Gabeln gegessen, es war viel zu heiß, wir hatten nach dem Morgenmarsch nur Durst […]. Sie tun dumm und fürchterlich kompliziert, wenn wir beide allein sind, gibt es am Mittag sehr leichtes Picknick, und essen tun wir eigentlich nur am Abend, so um acht Uhr.« 24
Auch in seiner Reportage in Der Bund betont René Gardi ihre ganz andere einfache und unprätentiöse, von den Franzosen verschiedene Lebensweise, die einen sehr viel unkomplizierteren, näheren und vertrauteren Kontakt zu den Einheimischen ermöglichte. »Nur wir zwei, der fröhliche Basler und ich, ziehen zusammen hier durch die Berge, klettern über kleine Pässe, hocken beim Schmied und beim Bauern, sind neugierig und fragen; meine Tagebücher füllen sich, und kürzlich feierten wir die ersten tausend Meter meines Farbenfilmes. Wir leben oft recht primitiv, löschen den Durst unterwegs mit dem faden Tee oder Feldflaschenwasser, aber es geht uns gut.«25
Das Motiv der »bescheidenen und naturverbundenen« Schweizer gegenüber den »künstlichen und in übertriebenem materiellen Luxus« lebenden Franzosen ist ein Stereotyp, das in René Gardis Texten immer wieder auftaucht. Er lehnt sich damit an das weitverbreitete Selbstverständnis der Schweizerinnen und Schweizer an. Damit gibt er seinen Leserinnen und Lesern klar zu erkennen, dass er sich vom kolonialen Lebensstil der Französinnen und Franzosen, den er verschiedentlich kritisiert, distanziert. Das bedeutet aber nicht, dass er das koloniale Projekt an sich 23 | Gardi, Mandara, S. 32. 24 | Gardi, Tagebuch, S. 92. 25 | Gardi, »Von unserer Arbeit«.
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in Frage stellen würde. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass Gardi und Hinderling als Weiße durchaus die Wahl haben, »primitiv« leben zu können, und dass diese »Anpassung« an die Lebensgewohnheiten der Einheimischen fraglos und selbstverständlich positiv konnotiert ist. Hingegen wird, wie noch zu zeigen sein wird, die Umkehrung – Afrikanerinnen und Afrikaner, die einen europäischen Lebensstil annehmen – als lächerlich und unmöglich dargestellt. In René Gardis Texten scheint ein weiteres Motiv immer wieder auf; nämlich die Gefahr des »going native«, des »Verderbens« der Kolonialbeamten in der brousse. Darin kommt auch seine durchaus ambivalente Haltung zwischen Abgrenzung und Dazugehören, Verstehen und Nichtverstehen der Verhaltensweisen der kolonialen Gesellschaft zum Ausdruck. So wirbt er auch durchaus für Verständnis: »Man muss sich auch einen Administrator vorstellen, der ganz allein unterwegs ist. Oft denke ich daheim in meiner Geborgenheit plötzlich daran, dass dort im Busch, in der Wildnis meine Freunde wieder unterwegs sind, dass sie immer noch dort sind, dass das Leben, das ich mit ihnen teilte und das ich äusserst romantisch fand, zum grauen Einerlei werden kann. Man muss sich vorstellen, der eine Woche oder zwei allein mit seinen Schwarzen unterwegs ist, mit denen er kein vernünftiges Gespräch führen kann; der immer wieder sein Haus verlässt und in der strassenlosen Wildnis kampiert. Das ist nicht immer schön, und so begreife ich wohl, dass Tischtuch und Lehnstuhl, Licht und Lesekiste, gutes Essen und meinetwegen auch Abwechslung in der ›Hausbar‹ notwendig sind, um nicht zu verderben.« 26
Den Verlust zivilisatorischer Errungenschaften in der Wildnis – als wiederkehrendes Motiv im kolonialen Diskurs – hat Johannes Fabian in Im Tropenfieber untersucht. Anhand zahlreicher Textbeispiele aus Reiseberichten früherer Kongoexpeditionen zeigt er die Wichtigkeit der Aufrechterhaltung europäischer Sitten und Verhaltensweisen für die Erfüllung der kolonialen Aufgaben als Teil des Disziplinierungsapparates auf. Ihre Funktion war es, Struktur zu geben, die Emotionen der Forschungsreisenden zu kontrollieren und Distanz zur einheimischen Kultur zu bewahren. Gleichzeitig war das Spektakel, das die Europäerinnen und Europäer aufführten, auch eine unmissverständliche Machtdemonstration gegenüber den Einheimischen.27 Trotz leiser Kritik und Distanzierung von dem übertriebenen Spektakel der Französinnen und Franzosen führten auch René Gardi und Paul Hinderling ihr Spektakel auf. Sie unterstrichen nicht, wie der französische commandant, mit enorm viel Gepäck ihre Autorität, dafür versuchten sie die Afrikanerinnen und Afrikaner mit ihren modernen, technischen Apparaten wie Foto- und Filmkamera und dem Tonbandgerät zu beeindrucken. »Jetzt machen wir wieder das bekannte Spielchen, lassen etwas auf Band sprechen und spielen es anschliessend ab. Es ist immer wieder amüsant, die Verblüffung zu beobachten, wenn ich ihnen das Ge26 | Gardi, Mandara, S. 33. 27 | Fabian, Im Tropenfieber, S. 15ff.
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sagte vorspiele und sie ihre Stimme aus dem Apparat heraus hören«28, sagt Gardi auf einer Tonbandaufnahme, als er beim Chef der Baldama zu Besuch ist. Mit dieser Inszenierung stärken sie einerseits ihre Autorität vor Ort, aber andererseits auch ihre Glaubwürdigkeit als Afrikaexperten den Rezipienten und Rezipientinnen zuhause gegenüber. Das Spektakel wird inszeniert und gleichzeitig authentifiziert, indem es auf drei unterschiedlichen Informationsträgern – Tonband, Fotografie (Abb. 5) und Text festgehalten wird. Abbildung 5: René Gardi mit seinem Tonbandgerät
»Mein Ruf als ›Zauberer‹ wurde durch das Instrument, das mir erlaubte, die Stimmen einzupacken und mitzunehmen, sehr gefestigt, Natürlich habe ich nie unterlassen, alle meine ›Stars‹ sofort zuhören zu lassen, wenn sie mir gesungen, die Harfe gezupft oder auf den kleinen Instrumenten aus Horn und Ton geflötet hatten. […] Es war wunderschön, das Staunen, die Verwunderung und die Freude von all den Gesichtern abzulesen. Sie tanzten auf und nieder, diese Naturkinder, die doch oft ein so grimmiges Leben führen, sich von Berg zu Berg bekriegen, sich dabei gegenseitig die Schädel einschlagen, sich Büffel und Frauen stehlen und nie ohne Giftpfeile oder Wurfeisen ausgehen.«29
28 | Gardi, Tonbandaufnahme. 29 | Gardi, Mandara, S. 80f.
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Gardi inszeniert sich im Bewusstsein, seine Leserschaft hinter sich zu wissen, als Aufklärer und Botschafter der Zivilisation. Er greift dabei auf anerkannte und weitgehend unhinterfragte Dichotomien zwischen Technik und Zauberei, Moderne und Naturgesellschaft und zwischen Wissenschaft und Mythos zurück. Wie unter anderen auch Harries in seinem Beitrag über das Afrikabild der Neuenburger Missionarsethnologen zeigt, war die Zivilisierung wesentlicher Antrieb für die missionarische Tätigkeit. In den Augen der Missionarsethnologen war das noch intakte, einfache Leben der Afrikaner und Afrikanerinnen jenem europäischer Gesellschaften, das von der Moderne und Industrialisierung zerrüttet war, vorzuziehen. Dennoch galt es, den »Wilden« die Errungenschaften der Zivilisation zu bringen und sie von ihren Peinigern und ihrer Zauberei zu befreien. In Afrika konnte man, so deren Glaube, die Fehler, die Europa im Zuge der Modernisierung begangen hatte, noch vermeiden. So wird Afrika zu einer Projektionsfläche für Gesellschaftsvorstellungen, die sich einerseits auf einen helvetischen Mythos der »einfachen Bergler« und andererseits auf die christliche Moral berufen.30
R EPR ÄSENTATION – K ONSTRUK TION KULTURELLER D IFFERENZ Beim Sichten der insgesamt 2303 Fotografien der Nord-Kamerun-Expedition fällt auf, dass mehr als ein Drittel, nämlich 809 Fotografien, Europäer und Europäerinnen, europäisch gekleidete Afrikanerinnen und Afrikaner, moderne Transportmittel wie Autos oder Flugzeuge, europäische Kolonialbauten oder sonstige Zeugnisse europäischer Präsenz in Nordkamerun zeigen. Auch in der Reportageserie in Der Bund zur Expedition von 1953 wird mehrheitlich das Leben der Europäer und Europäerinnen in den Kolonien beschrieben und die Rolle der evolués der gebildeten Afrikanerinnen und Afrikaner, thematisiert. Auch in der Making-of-Reportage des Dokumentarfilms Mandara in der Schweizer Illustrierten31 und im Text des Reisebuches Mandara ist die europäische Präsenz und die aufstrebende afrikanische Elite Thema. Auf der Bildebene jedoch fehlen diese. Gänzlich weggelassen sowohl im Text als auch im Bild sind sie in den beiden Bänden Der schwarze Hephästus und Kirdi von 1954 und 1955. Der Dokumentarfilm Mandara von 1959 zeigt zu Beginn eine Szene über die Ankunft des Filmteams und den Transport bis zum Ziel im Sattalatal, wo sich die Filmcrew für die Dreharbeiten niederließ. In späteren Versionen hingegen, die von der Berner Schulwarte 1992 neu herausgegeben und vertrieben wurden, wurde diese Szene herausgeschnitten.32 30 | Harries, From the Alps to Africa, S. 203ff. 31 | Gardi, »Wiedersehen«. 32 | Der ursprüngliche Dokumentarfilm wurde 1992 auf Initiative des geographischen Instituts der Universität Bern und weiterer wissenschaftlicher Vereinigungen des Kantons Bern und des Schweizer Filminstituts mit Hilfe von Lotteriefondsgeldern restauriert. Vgl. Messerli, Brief an Regierungsrat P. Widmer. Die Schulwarte Bern übernahm den Film,
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Es fällt also auf, dass sich die Repräsentation europäischer Präsenz in Wort und Bild je nach Kontext und Medium ändert. Eine abschließende Antwort auf die Frage, welche Texte und Bilder in welchen Kombinationen wann und in welchem Zusammenhang veröffentlicht wurden, kann ich aufgrund der Quellenauswahl nicht geben. Dennoch wage ich die These, dass sich die Publikationen, veröffentlichten Filme und Fotografien umso stärker auf die visuelle Repräsentation eines ursprünglichen, von westlicher Zivilisation unberührten und geschichtslosen Afrikas konzentrieren, je jüngeren Datums sie sind. Die in den 1950er Jahren ausführlich beschriebenen Tätigkeiten der Kolonialbeamten, Missionare und der neuen gebildeten, afrikanischen Elite finden auf visueller Ebene, zumindest was die Buchveröffentlichungen und die Filme betrifft, keine Entsprechung. Dies scheint eine bewusste Entscheidung René Gardis zu sein, denn im Mandarabuch begründet er seine Fotoauswahl mit folgenden Worten: »Ich habe darauf verzichtet, Bilder vom Leben der Europäer in Mokolo zu zeigen, so reizvoll es gewesen wäre, meine Freunde, die Administratoren, die Missionare oder Techniker vorzustellen oder unsern eigenen Expeditionsbetrieb zu illustrieren. Aber ich fand es noch wichtiger, möglichst viele Bilder vom Leben der Eingeborenen zu zeigen.« 33
Für René Gardis Repräsentation Afrikas waren die Fotografien von Einheimischen somit wichtiger als solche, die Spuren europäischer Präsenz und kulturell hybrider Lebenswelten zeigten. Dieses Ausblenden der offensichtlichen und seit Jahrzehnten präsenten europäischen Kolonialmächte ermöglicht, wie der »Entdecker-Mythos«, die Konstruktion eines eigenen von der westlichen Zivilisation unberührten, von Europa gänzlich verschiedenen Afrikas. Valentin Mudimbe bezeichnet diesen Diskurs über afrikanische Völker und Kulturen in seinem für die postkolonialen Theorien wegweisenden Buch The Invention of Africa als colonial library. Dieser Diskurs wurde aus der Perspektive europäischer »Entdecker« gezeichnet und geschrieben und verfolgte das Ziel, ein von Europa verschiedenes Afrika zu entwerfen.34 Differenz wird demgemäß nicht nur als von der europäischen Norm abweichend dargestellt, sondern innerhalb eines Kontextes von Wertung und Bewertung produziert. Die Wirksamkeit verdankt der koloniale Diskurs insbesondere dem Erfolg spezifischer Differenzkonstruktionen, die die Kolonisierten als den Kolonisatoren unterlegen und unmündig repräsentieren. Diesen Diskurs von der »Unmündigkeit der Afrikaner und Afrikanerinnen« finden wir in René Gardis Inszenierung von Authentizität ebenfalls. Seine Repräsentation Afrikas zeichnet sich schnitt den ersten Teil, die Ankunft der Filmcrew im Sattala-Tal, weg und unterteilte ihn in zwei Filme: Das tägliche Leben und Die Eisengewinnung. Zu beiden Filmen wurden didaktische Informationsblätter erstellt. Gardi, Brief an Berner Schulwarte. 33 | Gardi, Mandara, S. 231. 34 | Mudimbe, The Invention of Africa.
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durch eine gezielte Auswahl authentifizierender Momente und das bewusste Weglassen von Spuren europäischer Zivilisation auf visueller Ebene aus.
»U NVERBILDE TE E INGEBORENE (NOCH KEINE L UMUMBAS E TC . DARUNTER)« 35 René Gardis Repräsentation Afrikas entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Zeit der Unabhängigkeitsbewegungen, des Prozesses der Dekolonialisierung und Gründung souveräner afrikanischer Staaten. Die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen waren auf Schritt und Tritt sichtbar, auch in den Bergen Nordkameruns, und haben René Gardi, wie aus seinen Tagebucheinträgen, aber auch seinen Reiseberichten hervorgeht, stark beschäftigt. Ein Thema, das immer wieder behandelt wird, ist die Frage, ob Afrika schon mündig sei für die Unabhängigkeit. »Die Menschen sind noch nicht reif«, schreibt René Gardi in Mandara, »[v] ieles, was man bringt, bringt man zu früh, denn es entspricht allzu sehr dem europäischen Denken. Es wird höchstens nachgeahmt, niemals verstanden.«36 Und in seiner Reportage im Der Bund schreibt er: »Hier möchte ich mit einem Müsterchen noch einmal dem Leser bewusst werden lassen, wie Schwarze so grundverschieden von uns denken. Ein Neger ist so dankbar wie bei uns ein fünfjähriges Kind. Das Kind sagt wohl ›danke‹ für eine gute Gabe, aber bloss, weil wir Eltern es dazu dressiert haben. In seinem wirklichen Denken sind wir Eltern jedoch dazu da, es zu kleiden und zu nähren. Das ist unsere Pflicht, und deshalb sind wir ja die Eltern. So ist es mit dem Schwarzen. Es ist einfach des Herrn Pflicht, für ihn zu sorgen, und der Leibeigene lebt im Schutze dieses Gesetzes. Nun ist der weisse Mann gekommen, er ist reich, mächtig und stark, also ist es nun seine Pflicht, für den Schwarzen, der sich ihm unterwirft, zu sorgen. Für das, was man vom Weissen bekommt, braucht man nicht dankbar zu sein.« 37
Hier zeigt sich ein kolonialer Paternalismus, der anscheinend auch in der Schweiz, die ja selber keine Kolonien hatte, weitverbreitet war. Der Kolonisierte als Kind und der Europäer als Wohltäter sind bekannte koloniale Denkfiguren.38 Vertreterinnen und Vertreter der afrikanischen Elite sind für Gardi keine Gesprächspartner. Das sind in erster Linie französische Kolonialbeamte, Missionare und als Übersetzer tätige Dienstboten. Doch die Stimmen der in europäischen Schulen und Universitäten ausgebildeten Kamerunerinnen und Kameruner fehlen. Berichtet Gardi von den Diskussionen, die er mit den Kolonialbeamten führt, 35 | Langenthaler Tagblatt. 36 | Gardi, Mandara, S. 212. 37 | Gardi, »Von Missionaren und Missionieren«. 38 | Vgl. Mbembe, On the Postcolony, S. 33.
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dann ist immer wieder die Rede von den evolués. Sie werden als unfähig und in ihren Forderungen nach Gleichberechtigung als anmaßend dargestellt. So galt in den Augen der colons der senegalesische Abgeordnete im französischen Parlament, Lamine Gueye, der die Gleichstellung der Kolonien in der Familien- und Sozialgesetzgebung durchbrachte, als Inbegriff des arroganten und anmaßenden evolué. Oder dann werden evolués, wie dies René Gardi bei der Beschreibung des Angestellten des französischen Geologen Monsieur Lormand macht, als lächerliche, nicht ernstzunehmende Figuren beschrieben: »Am Schlusse der Kolonne ging auf allen Wanderungen der nächsten Tage Joseph, der ›Topograph‹, ein ›Evolué‹ aus dem Süden, der zu seiner Tätigkeit stets ein kleines, grasgrünes Filzhütlein auf dem linken Ohr trug, seine Augen mit einer in dickes Horn gefassten Sonnenbrille schonte und zu eleganten kurzen Höschen immer blütenweisse Baumwollstrümpfe über seine strammen Waden spannte. Ich muss auch noch erwähnen, dass er es liebte, bei jeder Hitze ein dickes, blaues Frottiertuch um den Hals zu wickeln. Joseph verstand immerhin so viel von seinem Beruf, dass er jeden Weg, den wir zurücklegten, mit Hilfe einer Bussole und des Schrittmasses einigermassen genau skizzieren konnte, und er trug darin jede Stelle ein, wo man Steinproben einpackte oder wo gegraben wurde.« 39
Während sich Gardi und Hinderling gewandt und sicher in afrikanischen Gefilden bewegen, gar so »primitiv« leben können wie die Einheimischen und sich dabei wohl und sicher fühlen, werden Afrikanerinnen und Afrikaner, die sich westlich kleiden, eine ansonsten Europäern vorbehaltene Tätigkeit ausüben und einen westlichen Lebensstil annehmen, als lächerlich und unfähig dargestellt. Gardi macht sich über den jungen afrikanischen Geologen lustig, indem er ihn mittels Kleidung – dem Filzhütchen und dem Höschen – feminisiert oder seine Männlichkeit – stramme Waden – in weibliche Kleidung hüllt. Er wird durch diese Feminisierung seiner Männlichkeit lächerlich gemacht. Es fällt weiter auf, dass Gardi die Europäerinnen und Europäer immer mit Nachnamen einführt, Afrikanerinnen und Afrikaner hingegen, wie bei Kindern auch üblich, immer mit Vornamen: Lulu heißt der Koch, Buba der »Boy«, Joseph der afrikanische Angestellte des Geologen. Wenig schmeichelhaft fällt auch die Beschreibung der beruflichen Fähigkeiten des jungen Wissenschaftlers aus. Seine Berufsbezeichnung wird in Anführungszeichen gesetzt, und Gardi gibt seinem Erstaunen Ausdruck, dass dieser evolué seinen Beruf doch einigermaßen beherrsche. In René Gardis Tagebuch findet sich zu diesem Thema folgende Notiz: »Kluger Satz: Ils imitent, mais ils ne comprennent pas.«40 Hier wie auch schon an anderer Stelle bedient sich Gardi eines klassischen kolonialen Topos: Die kolonisierte Kultur existiert gewissermaßen nur als eine schlechte Parodie der westlichen Zivilisation. Homi K. Bhabha hat gezeigt, dass 39 | Gardi, Mandara, S. 54. 40 | Gardi, Tagebuch, S. 94.
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aber gerade dies nicht einfach eindimensional die Abhängigkeit kolonialer Beziehungen widerspiegelt, sondern durch ihre doppelte Sicht die Ambivalenz des kolonialen Diskurses enthüllt und damit auch dessen Autorität aufbricht. Für diesen ambivalenten Zustand prägte er den Begriff Mimikry: »Mimikry wiederholt anstatt zu re-präsentieren«.41 Abbildung 6: In der Bar von Mokolo
Gardi hat Vertreterinnen und Vertreter der neuen afrikanischen Elite zwar fotografiert, beispielsweise anlässlich eines Festes in Mokolo (Abb.6). Doch publiziert hat er keine dieser Fotografien. Sie bilden eine visuelle Leerstelle. Diese visuelle Nichtrepräsentation gebildeter Kamerunerinnen und Kameruner und ihre tendenziell abschätzigen schriftlichen Charakterisierungen kombiniert mit der visuellen Repräsentation eines ursprünglichen Afrikas entfalten in ihrem Zusammenspiel ihre Bedeutung und machen das Repräsentationsregime42 à la Gardi aus. Durch dieses Zusammenspiel wird suggeriert, dass Afrikanerinnen und Afrikaner, wie gebildet sie auch immer sind, immer noch »unzivilisierte Wilde« und damit unfähig seien, die Geschicke ihres Landes selber in die Hand zu nehmen. So apolitisch die Intention von René Gardis Afrikarepräsentation sein mag, in den heftig umstrittenen Diskursen über die Gleichstellung und die Unabhängigkeit afrikanischer Länder 41 | Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 129-130. 42 | Vgl. Hall, siehe Fußnote 3.
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in den 1950er und 1960er Jahren nimmt sie eindeutig Stellung gegen die Emanzipation und Souverenität ehemaliger Kolonien. Zumindest kommt Gardis Afrikabild bei den Rezipientinnen und Rezipienten so an, wie ein Zitat aus einer Filmbesprechung des Dokumentarfilms Mandara zeigt: »Wir erleben mit den unverbildeten Eingeborenen (noch keine Lumumbas etc. darunter), wie sie oft ihren harten Alltag gestalten von morgens bis abends«43. Wer auch in intellektuellen Kreisen eine deutlich antikoloniale Haltung einnahm, hatte mit Konsequenzen zu rechnen, wie dies beispielsweise die Regisseure Chris Marker und Alain Resnais erfahren haben. Ihr im Auftrag von Présence Africaine 1953 gedrehter Film Les statues meurent aussi thematisiert den Umgang mit afrikanischer Kunst unter kolonialen Bedingungen. Aufgrund seines antikolonialen Inhalts wurde er zensiert und durfte bis 1963 nicht gezeigt werden.44 Zwangsarbeit, abgebrannte Dörfer und andere Abscheulichkeiten, welche unter kolonialer Herrschaft in den afrikanischen Ländern verübt wurden, waren im offiziellen Diskurs kein Thema. Vielmehr wurde die politische Bühne vom Diskurs über ein chaotisches, von Konflikten und Stammesfehden geplagtes Afrika, das nur mit weißer und weiser Hand geführt werden kann, beherrscht. Stellvertretend für diesen Diskurs steht die Berichterstattung der Basler Nachrichten anlässlich der Unabhängigkeitsfeier in Kongo vom 30. Juni 1960: »Statt der 75-jährigen Gedenkfeier der Gründung der riesigen Kolonie am Kongo wurden die Souveränitätsrechte an die Kongolesen übertragen. Zu früh, das Land ist nicht vorbereitet.« Im Artikel wird große Besorgnis und die Befürchtung geäußert, dass die Europäer im Kongo das gleiche Schicksal erleiden müssten wie die Holländer in Indonesien und dass der erst 34-jährige Patrice Lumumba viel zu unerfahren sei, um das Land zu regieren. Tags darauf berichteten die Basler Nachrichten ausführlich über die Feierlichkeiten und zitierten den Passus aus Patrice Lumumbas Rede, der um die Welt ging und nicht nur den anwesenden belgischen König Baudouin verstimmte, sondern von der gesamten westlichen Welt als Affront empfunden wurde. »Kein Kongolese wird je vergessen, dass wir uns die Unabhängigkeit mit Tränen, Feuer und Blut haben erkämpfen müssen. Die Wunden sind nach einer 80-jährigen Kolonialherrschaft zu frisch und zu schmerzhaft, als dass wir sie aus unserem Gedächtnis tilgen könnten. Wir mussten harte Arbeit leisten gegen ein miserables Entgelt, mussten uns Schmähungen und Ironie gefallen lassen, nur weil wir Neger waren. Wir haben das Gesetz der Ungleichheit zwischen Schwarzen und Weissen zu spüren bekommen, wir wurden in politische und religiöse Verfolgungen hineingerissen, mussten die schönen Häuser der Weissen neben unseren verlotterten Hütten ansehen. Wer könnte alle die Erhängungen und Erschiessungen vergessen, denen so viele Brüder zum Opfer fielen.«45 43 | Vgl. Langenthaler Tagblatt, Fußnote 35. 44 | Frioux-Salgas, »Présence Africaine«, S. 17. 45 | Basler Nachrichten.
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Wie historische Aufarbeitungen der Ereignisse – unter anderem der Bericht der belgischen Untersuchungskommission 2001 – zeigen, hatten die bürgerkriegsähnlichen Zustände im eben erst unabhängig gewordenen Kongo nichts mit einer Patrice Lumumba zugeschriebenen Unmündigkeit und Unfähigkeit zu tun.46 Sie waren die Folge eines gezielten Schürens von Konflikten, um machtpolitische und vor allem wirtschaftliche Interessen Belgiens und der USA durchzusetzen.47 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass René Gardis »harmloses« Afrikabild auf fruchtbaren Boden fiel. Die Repräsentation Afrikas durch die in einfachsten Verhältnissen lebenden Bergbäuerinnen und -bauern in Nordkamerun verklärt und ignoriert die Komplexität und Vielfalt afrikanischer Verhältnisse. Der Diskurs von der Unmündigkeit der Afrikanerinnen und Afrikaner wird in doppelter Weise bestätigt: gebildete Afrikanerinnen und Afrikaner sind keine Gesprächspartner, ihr Standpunkt, ihre Weltsicht interessiert nicht beziehungsweise es werden ihnen keine Eigenständigkeit und keine kreativen und intellektuellen Fähigkeiten zugestanden: »Sie imitieren, sie begreifen nicht.48« Durch die visuelle Abwesenheit wird zudem suggeriert, dass es sie, die sich aktiv für eine neue Gesellschaft einsetzen, kreative Lösungen suchen und neue Wege gehen wollen, nicht gibt. Die Popularität und Wirksamkeit von René Gardis Afrikabild beruht auf unterschiedlichen Pfeilern: erstens auf der spezifischen diskursiven Verortung im kolonialen Diskurs – der gute Patron, der nur das Beste für seine Kinder will. Zweitens basiert sein Erfolg auf seiner unbestrittenen Glaubwürdigkeit der Konstruktion des Afrikaexperten Gardi als Inszenierung von Authentizität. Diese Inszenierungen folgen denselben Mustern und bemühen dieselben Motive, die in der Literatur und im Bilderrepertoire über außereuropäische Gebiete für ein europäisches Publikum seit ihren Anfängen erfolgreich eingesetzt werden und den kolonialen Diskurs so wirksam machen. Drittens finden sich in René Gardis Afrikabild aber auch Spuren von dem, was gemeinhin als typisch schweizerisch gilt, oder besser: was im Zuge der Nationalstaatenbildung der Schweiz zum typisch Schweizerischen erklärt wurde. Zu diesem Rückgriff auf bekannte Erklärungsmuster gehören die inszenierte Bescheidenheit und Nähe zur einheimischen Bevölkerung und der Vergleich der Bewohnerinnen und Bewohner der Mandaraberge mit den eigenen »Berglern« zuhause. Auch für die Afrikanerinnen und Afrikaner in den Mandarabergen, so Gardi, sind die als typisch schweizerisch geltenden Werte Unabhängigkeit, Freiheit und Bescheidenheit zentral – Werte, die in seinen Augen sowohl bei den Schweizer Alpenbewohnerinnen als auch bei den Afrikanerinnen und Afrikanern durch die Modernisierung bedroht sind, und vor allem Werte, die ganz im Gegensatz zum
46 | Bacquelaine/Willems/Coenen, Enquête parlementaire. 47 | Braeckman, Lumumba. 48 | Deutsche Übersetzung des Zitats aus Gardi, Tagebuch, S. 94. Vgl. Fußnote 41.
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aufwendigen und als übertrieben empfundenen Lebensstil der französischen colons stehen. Es sind diese spezifischen Ingredienzen, die René Gardis Afrikabild schweizerisch und hierzulande so erfolgreich machten – postulierte Nähe zu den Einheimischen, Distanzierung gegenüber dem französischen Kolonialstil kombiniert mit Inszenierungen, die dem gängigen kolonialen Diskurs folgen.
L ITER ATURVERZEICHNIS Bacquelaine, Daniel/Willems, Ferdy/Coenen, Marie-Thérèse, Enquête parlementaire visant à determiner les circonstances exactes de l’assassinat de Patrice Lumumba et l’implication eventuelle des responsables politiques belges dans celui ci. Rapport fait au nom de la commission d’enquête, Brüssel 2001, http://www.lachambre.be/ kvvcr/pdf_sections/comm/lmb/312_6_volume1.pdf, 04.08.2011. Basler Nachrichten vom 01.07.1960. Bhaba, Homi K., Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000. Breackman, Colette, Lumumba: un crime d’Etat, Brüssel 2002. Clifford, James, »Of Other Peoples: Beyond the Salvage Paradigm«, in: Foster, Hal (Hg.), Discussions in Contemporary Culture, Seattle 1987, S. 122-135. Ders., »Über ethnographische Autorität«, in: Berg, Eberhard/Fuchs, Martin (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a.M. 1995, S. 109-157. Clifford, James/Marcus, George E. (Hg.), Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley/Los Angeles/London 1986. David, Nicholas, »Identification of a slag-draining bloomery furnace in the Mandora Mountains (Cameroon)«, in: Historical Metallurgy, Vol. 44, Part 1 (2010), S. 36-47. Fabian, Johannes, Im Tropenfieber, München 2001. Ders., Memory against Culture. Arguments and Reminders, Durham/London 2007. Fischer-Lichte, Erika, »Theatralität und Inszenierung«, in: Fischer-Lichte, Erika/ Pflug, Isabel (Hg.), Inszenierung von Authentizität, Tübingen/Basel 2000, S. 1130. Frioux-Salgas, Sarah, »Présence Africaine. Une tribune, un mouvement, un réseau«, in: Gradhiva. Anthroplogies des arts, Jg. 10, numéro spécial (2009), S. 4-21. Gardi, Bernhard, Momente des Alltags. René Gardi, Basel 1994. Gardi, René, »Von Missionaren und vom Missionieren«, in: Der Bund vom 01.05.1953. Ders., »Von unserer Arbeit, vom Sammeln und Filmen«, in: Der Bund vom 14.04.1953. Ders., Mandara, Zürich 1953. Ders., Der schwarze Hephästus, Bern 1954. Ders., Kirdi, Bern 1955.
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Ders., Kirdi, Zürich 1957. Ders., »Wiedersehen mit den Matakam«, in: Schweizer Illustrierte Zeitung vom 24.08.1959a. Ders., »Wiedersehen mit den Matakam«, in: Schweizer Illustrierte Zeitung vom 31.08.1959b. Ders., »Wiedersehen mit den Matakam«, in: Schweizer Illustrierte Zeitung vom 07.09.1959c. Ders., »Wiedersehen mit den Matakam«, in: Schweizer Illustrierte Zeitung vom 14.09.1959d. Hall, Stuart, »Das Spektakel ›des Anderen‹«, in: Koivisto, Juha/Merkens, Andreas (Hg.), Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, Hamburg 2004, S. 108-166. Harries, Patrick, »From the Alps to Africa. Swiss missionaries and anthropology«, in: Tilley, Hellen/Gordon, Robert J. (Hg.), Ordering Africa. Anthropology, European imperialism and the politics of knowledge, Manchester 2010. Jäger, Jens, Fotografie und Geschichte, Frankfurt a.M. 2009. Mbembe, Joseph Achille, On the postcolony, Berkeley 2002. McClintock, Anne, Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest, New York 1995. Messina, Jean-Paul/Slageren, Jaap van, Histoire du christianisme au Cameroun, Paris/Yaounde 2005. Mills, Sara, Der Diskurs, Tübingen/Basel 2007. Mudimbe, Valentine Yves, The Idea of Africa, London 1994. Ders., The Invention of Africa, Bloomington 1988. Said, Edward W., Orientalism, London 2003. Spivak, Gayatari Chakravorty, In Other Worlds: Essays in Cultural Politics, London 1988. Zaugg, Fred, »Ich war ein reiner Abenteurer«, in: Der Bund vom 23.03.1993.
Q UELLENVERZEICHNIS Archiv René Gardi; c/o Bernhard Gardi, Basel Gardi, René, Brief an Berner Schulwarte, 15.12.1993. Ders., Fotografien Nordkamerun-Expedition 1953. Ders., Mandara (Film) 1959. Ders., Tagebuch Nordkamerun-Expedition 1953. Ders., Tonbandaufnahme, 12.03.1953. Messerli, Bruno, Brief an Regierungsrat P. Widmer, 05.05.1992. Langenthaler Tagblatt vom 08.09.1960.
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Archiv Museum der Kulturen Basel Museum der Kulturen Basel (MKB)/Hinderling, Paul (Hg.), Bericht über die ethnographische Reise nach Kamerun im Frühjahr 1953, 05.06.1953.
A BBILDUNGSNACHWEISE Alle Fotografien: René Gardi
Indien im Blick Schweizerische Imaginationen in vier Konfigurationen 1 Francesca Falk und Franziska Jenni
Ohne je eine formale Kolonialmacht gewesen zu sein, hat die Schweiz im Gefüge des globalen Kolonialismus eine wichtige Rolle gespielt, so auch in Indien. Die ersten Mitarbeiter der Basler Mission2 waren bereits 1834 in Südindien gelandet, unmittelbar nachdem nicht britische Missionsgesellschaften in Britisch-Indien systematisch zugelassen worden waren.3 Als Indien 1947 unabhängig wurde, war die Schweiz eine der größten ausländischen Investorinnen,4 die Schweizerinnen und Schweizer stellten zudem die drittgrößte nicht asiatische Bevölkerungsgruppe im Land.5 Auch aufgrund dieser regen Handelsbeziehungen und der Tätigkeit der Mission bildeten sich in der schweizerischen Gesellschaft Vorstellungen von Indien heraus, in der sich Macht- und Repräsentationsstrukturen bis in die Gegenwart erhalten haben. Im vorliegenden Aufsatz setzen wir in vier Konfigurationen Bilder über Indien, die von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute in der Schweiz kursier(t)en, zueinander in Beziehung.6 Wir kommen dabei auf indische Modell1 | Wir möchten uns bei folgenden Personen für das sachkundige Gegenlesen unseres Artikels und die wertvollen Anmerkungen dazu bedanken: Marcel Falk, Stephanie Lovász, Barbara Lüthi, Martin Mühlheim, Patricia Purtschert, Harald Fischer-Tiné. 2 | Heute firmiert die Basler Mission unter dem Namen Mission 21. 3 | Jenkins, »Die Basler Mission im kolonialen Spannungsfeld Indien«, S. 42. 4 | Dreyer/Imhasly, »Unequal«. Übrigens schloss das unabhängige Indien den ersten internationalen Vertrag mit der Schweiz (ein Freundschafts- und Niederlassungsvertrag). Nehru persönlich nahm an den Verhandlungen in Bern teil. Siehe Schweizer, »Indian-Swiss Treaty«. Zu den wirtschaftlichen Netzwerken siehe beispielsweise das Projekt von Christof Dejung zu den Gebrüdern Volkart in Indien: http://wwwuni-konstanz.de/geschichte/oster hammel/?cont=dejung&lang=de, 23.01.2011. 5 | Schweizer, »The Indian-Swiss Treaty«. 6 | Siehe dazu auch der Beitrag von Rohit Jain zur Comedyfigur Rajiv Prasad in diesem Band.
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figuren als beliebte Ausstellungsexponate, die mangelnde museale Präsenz von Objekten aus der Zeit der indischen Unabhängigkeit, Gandhi als Kommerzikone und schließlich Kolonialismusnostalgie in der Werbung zu sprechen.
E RSTE K ONFIGUR ATION : M ODELLFIGUREN AUS I NDIEN Lange in den Schubladen des Museums der Kulturen Basel eingelagert, wird bei der Neueröffnung des Hauses ein Teil der Sammlung indischer Modellfiguren wieder zu sehen sein. Die bis zu 25 Zentimeter großen Figuren sind je nach Herkunft aus Holz geschnitzt, aus Ton, Gips oder Mischmasse modelliert, bemalt und teilweise mit Stoff bekleidet. Sie stellen verschiedene Bevölkerungsgruppen Indiens dar, unterscheidbar nach Geschlecht, Beruf, Kaste, ethnischer und religiöser Zugehörigkeit. Als historische Dokumente sind sie in hohem Maße ambivalent, da ihnen je nach Kontext andere Bedeutungen zugeschrieben wurden/werden. Als Objekte eines zunächst genuin indischen Kontexts zeugen sie später von der Begegnung Indiens mit dem imperialen England. Die Modellfiguren, die in die »neutrale« Schweiz gebracht wurden, sind zudem Zeugnis missionarischer Tätigkeiten der Basler Mission auf dem Subkontinent. Im Folgenden sollen diese drei verschiedenen Kontexte kurz beleuchtet werden. Zunächst soll die Entstehung und Rolle der Modellfigurenherstellung in der Region des heutigen Westbengalens skizziert werden. Dort ist vor allem die Stadt Krishnanagar7 bekannt für die Herstellung besonders realitätsnah gestalteter Figuren. Das soziopolitische Gesellschaftsgefüge Bengalens geriet im 18. Jahrhundert nach der Etablierung der Briten als Kolonialherren, insbesondere nach der Schlacht von Plassey 1757, unter erhöhten Druck. Das Ringen um die Vormachtstellung unter einheimischen Fürsten und Großgrundbesitzern verschärfte sich. Um sich die Loyalitäten der ärmeren Gesellschaftsschichten zu sichern, begannen einflussreiche Großgrundbesitzer (zamindars) Feste auszurichten, die zunächst religiöser Natur waren, hauptsächlich aus einer (puja8) bestanden und sich wachsender Beliebtheit erfreuten. Von Anfang an spielten bei diesen Festlichkeiten dreidimensionale Götterstandbilder aus ungebranntem Ton eine herausragende Rolle.9
7 | Modellfiguren kommen auch aus Lakhnau (Lucknow), Pune (Poona), Jaipur, von der Malabarküste und der Konkanregion. 8 | Als Puja wird jener rituelle Akt bezeichnet, bei dem einem Gott, einem Geist oder einem Aspekt des Göttlichen die Referenz durch Anrufung, Gebete, Lieder und Rituale erwiesen wird. Wichtiger Bestandteil einer Puja im Hinduismus ist, dass die Glaubensanhänger und -anhängerinnen eine spirituelle Verbindung zum Göttlichen aufbauen können. Meist wird die Herstellung dieser Verbindung vereinfacht durch bestimmte Hilfsmittel wie einer Skulptur, einem Gefäß oder einem Bild. 9 | Bean, »The Flourishing Art of Clay Sculpture in Bengal«, S. 102f.
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Allmählich veränderten sich die beliebten pujas und nahmen andere Formen an. Vermehrt begannen dabei Gruppierungen aus der Bevölkerung selbst diese Jahresfeste zu organisieren. Mitte des 19. Jahrhunderts gehörten Musik, Tanz und satirische Pantomime (sawng) als unterhaltende Elemente selbstverständlich dazu. Immer noch wurden die alten Götterstandbilder gezeigt, neue kamen dazu. Wachsender Beliebtheit erfreute sich auf diesen Festen die satirische Pantomime. Inszenierten die Schauspieler zunächst nur bekannte Sprichwörter, gingen sie bald dazu über, in satirischer Form und bissigen Kommentaren die Frustrationen und Unzufriedenheiten der unteren Bevölkerungsschichten zu artikulieren.10 Die Kunsthandwerker begannen, die volkstümlichen Charaktere der Pantomime und schließlich alle möglichen Volkstypen figürlich darzustellen: Es entstanden die Modellfiguren.11 Mukharji fasst diese Neuorientierung folgendermaßen zusammen: »Gradually the gods and goddesses came to be furnished with attendants, and in public worships got up by subscription, more for amusement than for a religious obligation, lifesize mythological scenes, scenes from daily life, portrait figures of athletes and other celebrities, caricatures, comical subjects, and figures representing any scandal current at the time, were gradually introduced. The manufacture of toys and miniature figures is a natural growth from this stage of the industry.«12
Die gemeinschaftlichen pujas spornten die Kreativität der Modellierer an. Im Spannungsfeld herausfordernder Aufträge für pratimas (Bilder von Gottheiten) und für »satirische« Bilder begannen die Künstler immer mehr zu experimentieren. Im frühen 19. Jahrhundert vollzog sich denn auch eine Revolution im Modellierungsstil, die Technik hingegen veränderte sich kaum. Einige der Künstler entwickelten einen sehr naturalistischen Stil der Darstellung, womöglich von neoklassischen Skulpturen und Gemälden inspiriert, die zunehmend aus Europa nach Indien kamen.13 So passten sich die Modellierer geschickt den ästhetischen Vorlieben und dem Geschmack der neuen englischen Patrons an, die wiederum Modellfiguren zu Tausenden herstellen ließen, um sie für eigene Zwecke einzusetzen. Modellfiguren wurden zu einem Teil des kolonialen Projekts, einer Art dreidimensionaler haptischer Klassifizierung und gleichzeitiger Inventarisierung aller in Britisch-Indien lebenden Gesellschaften, Kasten, Berufsstände, ethnischen und religiösen Gruppierungen. Zwar wurde das Kastensystem nicht von der kolonialen Administration erfunden, aber in seiner Bedeutung wesentlich verändert.14 Mit Edward Said könnte die Motivation dieser Vorgänge folgendermaßen gefasst werden: 10 | Banerjee, The Parlour and the Streets, S. 189. 11 | Ebd., S. 124. 12 | Mukharji, Art-Manufactures of India, S. 62. 13 | Bean, »The Flourishing Art of Clay Sculpture in Bengal«, S. 103. 14 | Waligora, »What is«.
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Abbildung 1: Indische Modellfiguren: parsi (IIa 8183), Bankier (IIa 8281), HinduFrau, Korn mahlend (IIa 8201), dhobie (Wäscher, IIa 8233), pulatshi (»Reissklavin«, IIa 8193), namburi brahmana (IIa 8205), namburi brahmana (IIa 8176), shudra (IIa 8179), shudra-Frau (IIa 8178), sanyasi (»Heiliger Weltentsager«, IIa 8260), vor 1862-frühes 20. Jahrhundert, ehemalige Sammlung Basler Mission, Museum der Kulturen Basel
»to divide, deploy, schematize, tabulate, index, and record everything in sight (and out of sight); to make out of every observable detail a generalization and out of every generalization an immutable law about the Oriental nature«15. Modellfiguren wurden als Kuriositäten – changierend zwischen Kunst und Kunsthandwerk – bei Weltausstellungen gezeigt und als persönliche Souvenirs nach Hause mitgenommen. Die Modellfigurenproduktion nach Volkstypen kann nicht unabhängig von der Entwicklung des Company-Stils in der indischen Malerei betrachtet werden, der sich im frühen 19. Jahrhundert als indoeuropäischer Mischstil etablierte. Der Begriff bezieht sich auf Bilder, die speziell für Beamte der British East India Company in Auftrag gegeben wurden. Die Beamten der Company beschäftigten bei ihren regionalen ethnographischen und administrativen Erhebungen (surveys) bevorzugt einheimische Zeichner für Kartographie und naturwissenschaftliche Studien, aber
15 | Said, Orientalism, S. 86.
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auch für die nahezu photographische Wiedergabe16 verschiedener Ethnien im britischen Einflussbereich Südasiens.17 Die Modellierer wiederum griffen diesen schon im Ansatz bestehenden Trend zu naturalistischen Abbildungen auf und gestalteten ihre Figuren mit Blick auf die europäischen Sammler auch als Volkstypen im Company-Stil.18 Die Modellfiguren in den repräsentativen systematischen Sammlungen der sich etablierenden Völkerkundemuseen zeugen von der kolonialen Situation Indiens im 19. Jahrhundert. Auch auf den beliebten Welt- und Kolonialausstellungen stießen die Modellfiguren auf großes Interesse. Diese Ausstellungen sind Ausdruck des Siegeszuges des Kapitalismus; Attraktionen, die Millionen von Menschen anzogen und in ihrem Wesen eigentlich enzyklopädische »Monsterschauen« waren, die für sich in Anspruch nahmen, die Wirklichkeit, ja, die ganze Welt selbst darzustellen19. Zum einen ging es dabei darum, die Überlegenheit des kapitalistischen Wirtschaftssystems und die rasante technische Entwicklung Europas im Gegensatz zu den rückständigen Kolonien zu unterstreichen, und zum anderen, den daraus vermeintlich resultierenden Zivilisationsauftrag des Nordens gegenüber dem Süden zu legitimieren. Expansive Politik wurde zivilisatorisch gerechtfertigt, indem man die erzieherische Aufgabe (la mission civilisatrice) gegenüber den Kolonien für notwendig erklärte.20 Bereits 1851, bei der ersten Weltausstellung in London, war Indien eine gesamte Ausstellung gewidmet, und es wurden dem staunenden westlichen Publikum Modellfiguren gezeigt. Sie gehörten von da an bei allen weiteren Welt- und Kolonialausstellungen zum festen Inventar. Die meisten Modellfiguren, die sich heute im Museum der Kulturen Basel als Dauerdeposita befinden, sind durch Missionare der Basler Mission in die Schweiz gekommen.21 Sie stammen vornehmlich von der Konkanküste (Maharashtra) und aus dem ehemaligen Malabardistrikt, dessen Gebiet heute zu Kerala gehört, wo 16 | Die Company-Malerei mit ihrer möglichst präzisen Wiedergabe der Umwelt kann als Vorläuferin der Fotografie angesehen werden. Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Fotografie in Indien Einzug hielt, geriet diese Malform zunehmend ins Hintertreffen. Mit Hilfe des neuen Mediums, das nun so akkurat und »wahr« die Bilder des »Anderen« schießen konnte, haben sich die Kolonialherren ein weiteres Instrument zu eigen gemacht, mit dem noch genauere Klassifizierungen und Kontrollen ausgeübt werden konnten. Siehe dazu zum Beispiel Pinney, »Classification and Fantasy«. 17 | Bierschenk, Geschichte in Ton, S. 64. 18 | Jain/Aggarwala, National Handicrafts and Handlooms Museum, New Delhi, S. 178. 19 | Siehe dazu zum Beispiel auch Mitchell, »Die Welt als Ausstellung«, S. 148-176. 20 | Zanella, Kolonialismus in Bildern, S. 30-41. 21 | Auf den Karteikarten zu den Modellfiguren werden zwei Nachnamen von Missionaren genannt. Es handelt sich zum einen um (Philippe Charles) Piton (09.11.1835-29.08.1905) und zum anderen wahrscheinlich um (Johann Jakob) Huber (27.11.1814-15.01.1881). Die Sammlung des Letzteren muss sehr früh nach Basel gelangt sein, denn sie wird bereits im ersten Missionsmuseumskatalog erwähnt.
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die Basler Mission ab 1834 arbeitete.22 Ein Teil der Figuren ist bereits im 1862 erschienenen ersten Katalog23 zur Eröffnungsausstellung des Museums (1860) im neuen Missionsgebäude erwähnt.24 Sie wurden in vier Vitrinenkästen zusammen mit weiteren Objekten aus Indien ausgestellt.25 Die Sammlung hatte ursprünglich didaktische Funktion, diente sie doch der Ausbildung neuer Missionare an der Missionarsschule. Knapp 30 Jahre später sollte sie aber »ein möglichst getreues Bild des Zustandes, vor allem des religiösen Zustandes der Völker« vermitteln, wie es im Katalog von 1888 heißt.26 1908 begann ein neuer Abschnitt in der Geschichte des Museums. Ein Basler Lehrer äußerte den Wunsch, die Objekte doch einmal außerhalb des Missionshauses ausgestellt zu sehen, so dass sich Schulkinder eine Vorstellung von den Ländern machen könnten, in denen die Basler Mission tätig war. Diesem Wunsch kam die Mission nach. Eine erste Ausstellung wurde im Oberlichtsaal der Basler Kunsthalle organisiert.27 Sie sollte dem Publikum Ghana, Kamerun, Indien, China und Borneo näherbringen. Aufgrund ihres großen Erfolges war diese Ausstellung an über 40 Orten in der Schweiz und im benachbarten Ausland zu sehen.28 Die Ausstellungspräsentation war vornehmlich geprägt von raumeinnehmenden In-situ-Inszenierungen. Die Objekte mussten nicht erklärt werden, ihre Bedeutung ergab sich scheinbar aus der Betrachtung eines Gesamtarrangements. Man versuchte so, ein Stück Realität in die Ausstellung zu transferieren.29 Von den 22 | Zur Geschichte der Basler Mission in Indien siehe zum Beispiel Fischer, Die Basler Missionsindustrie in Indien 1850-1913, oder Jenkins, »Die Basler Mission im kolonialen Spannungsfeld«, S. 41-55. 23 | Im Jahre 1883 wurde ein zweiter und 1888 der dritte und letzte Katalog zur ethnographischen Sammlung der Basler Mission gedruckt. 24 | Der Grundstock der Missionssammlung geht auf Dr. Christian Barth aus Calw zurück, der seine Ethnographica Sammlung 1860 der Mission an der heutigen Missionsstrasse vermachte. Die bereits zuvor vorhandene eigene Sammlung wurde bis dahin im ComitéZimmer des alten Missionshauses an der Leonhardstrasse aufbewahrt. Vgl. Valentin, »Eine völkerkundliche Sammlung in Basel«, S. 213. 25 | Im Laufe der Zeit kamen immer mehr Modellfiguren dazu, meist aus dem Norden Indiens. Die Mehrheit der später eingegangenen Modellfiguren kann keinen Zulieferern mehr zugeordnet werden. 26 | Ziegler, Katalog und Beschreibung der Sammlungen im Museum des Missionshauses zu Basel, S. 3. 27 | Valentin, »Eine völkerkundliche Sammlung in Basel«, S. 218. 28 | Rund 250.000 Besucherinnen und Besucher haben die Missionsausstellung im Laufe dieser Zeit gesehen. Diese Ausstellungsgeschichte endete im Jahr 1953 mit der Ausstellung Licht aller Völker. 1981 wurde die gesamte Sammlung dem Museum für Völkerkunde, dem heutigen Museum der Kulturen Basel übergeben. 29 | In-situ-Darstellungen sind selbstverständlich nicht neutral, obwohl sie genau dies vorzugeben versuchen. Diese Ausstellungsweise negiert die Entkontextualisierung der
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Missionaren aus China etwa wurde eine Ahnenhalle in natürlicher Größe nach Basel verschifft, aus Indien eine ganze Kücheneinrichtung, aus Ghana kam eine »Fetischhütte«, und aus Kamerun wurden Palmrippen und -blätter geschickt, woraus ein Kameruner, der in der Schweiz weilte, Häuser im Stile seiner Heimat errichtete.30 Visuell verbunden wurden die verschiedenen ausgestellten Erdteile durch meterhohe üppige tropische Topfpflanzen. Abbildung 2: Missionsausstellung in Karlsruhe 1910, Archiv Basler Mission
In einem Quartalsbericht an die Basler Mission wird die Ausstellung in Lörrach von 1928 folgendermaßen beschrieben: »Sobald man unter die Pforte der Halle trat, sah man sich wie mit einem Schlag ins Tropenland versetzt. Unter der Pracht der Palmen und Blumen lagen säuberlich getrennt und wohlgeordnet im tiefen Frieden asiatische und afrikanische Länder nebeneinander. […] So eigenartig und verschieden Bildung, Einbildung, Religion und Sitte, Kultur und Geistesleben der Primitiven und der höherstehenden Asiaten erschienen, so staunten doch viele Zuschauer und Zuhörer darüber, wie Christus durch die Macht des Evangeliums und den gesegneten Dienst seiner Friedensboten einen derartigen Einfluss ausüben kann, dass sie
Objekte, die bei ihrem Eintritt in die Mission stattgefunden hat. Die Besucherinnen und Besucher erhalten den Eindruck, ganz nah am Geschehen zu sein. 30 | Valentin, »Eine völkerkundliche Sammlung in Basel«, S. 218.
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F RANCESCA F ALK UND F RANZISKA J ENNI gleichmässig willig werden, ihrem alten Leben den Abschied zu geben. Wie stünde sonst all der Götzenkram als Trophäen des Sieges Christi in dieser Ausstellung?« 31
Dieses Zitat fasst treffend die Meinung vieler Rezensenten zusammen, die Anfang des 20. Jahrhunderts über die Missionsausstellungen schrieben und berichteten.32 Was für Imaginationen und Bilder wurden da geweckt? Während auf den Welt- und Kolonialausstellungen das »koloniale Imaginäre«33 zelebriert wurde, präsentierte man in der Wanderausstellung der Basler Mission das »missionarische Imaginäre«. Die Ausstellung diente in erster Linie dazu, die Arbeit der Mission zu legitimieren und – ganz in der Manier der mission civilisatrice – aufzuzeigen, wie wichtig es sei, den »Götzenanbetenden« das Heil und das Licht Christi zu bringen.34 In einer der Archivmappen, in der die Mission 21 unterschiedliche Zeitungsausschnitte zu den Missionsausstellungen gesammelt hat, fanden wir aber auch einen kurzen Artikel, dessen Argumentation aus der Reihe tanzt. Er wurde von einem Lehrer geschrieben, der 1937 mit seiner Schulklasse die Ausstellung in Andelfingen besuchte und danach seine Schülerinnen und Schüler dazu einen Aufsatz schreiben ließ. Der Lehrer hält fest, »dass auch den Kindern unmerklich Gedanken gekommen sind, die auch die Älteren beschäftigen; nur sagen sie freier heraus, was sie denken.«35 Denn etliche Kinder äußern sich zum Gesehenen durchaus nachdenklich und kritisch, so etwa ein Junge: »Gewiss ist es schön, gequälte Menschen zu trösten. Sicher braucht es grosse, fast übermenschliche Menschenliebe; aber wer treibt denn in Europa Mission, wo es ebenso nötig wäre, wie in Afrika? Warum gehen die Missionare z.B. nach China und predigen, es sei Sünde, Menschen zu ermorden, und im Anfang des 20. Jahrhunderts noch zerfleischen sich fast alle europäischen Völker mit Mordmaschinen? – Hoffentlich werden die Neger
31 | Knittel, »Quartalbericht der Vertrauensmännerversammlung in Lörrach«, S. 4. 32 | Weitere Beispiele: N. N., »Basler Missionsausstellung in der Kunsthalle«, 1908a und b; Kurtz, »Völkerkundliche Ausstellung in Zürich« oder Kurtz, »Die Basler Missionsausstellung«. 33 | Siehe dazu Leprun, Le Théâtre des colonies. 34 | Den Missionaren ging es zum einen darum, Inder und Inderinnen zum Christentum zu bekehren, und zum anderen, die Bekehrten dann nach kapitalistischem Vorbild zu disziplinieren und zu tüchtigen Arbeitern und Arbeiterinnen zu »erziehen«. Deshalb errichtete die Basler Mission ab 1850 in Indien Werkstätten, die sich zu gut laufenden Kleinindustrien entwickelten und bald so florierten, dass auch »Heiden« eingestellt wurden. Aus diesen wirtschaftlichen Unternehmungen entwickelte sich langsam die »Basler Missionsindustrie«, deren »Industriebrüder«, wie sie genannt wurden, sich einen persönlichen Lohn auszuzahlen begannen. Schließlich erwuchs aus der »Basler Missionsindustrie« die »Basler Handelsgesellschaft«, die heute unter dem neuen Namen Welinvest nach wie vor tätig ist. Vgl. Imhoof, »Der Missionar, der Handelsherr und ich«. 35 | E. K., »Mission und Gegenwart«, o.S.
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bessere Menschen und wenden die Bibel in der Praxis besser an, als wir Europäer, und lassen keine Heere heilige Strassen ziehen.«36 Abbildung 3: Missionsausstellung in der Schweiz oder Deutschland, Jahr unklar. Großes Bild an der Wand von Hans Hinrikson (1873-1913), Archiv Basler Mission
Die Frau in Abbildung 3, gekleidet in einem indischen Sari, ist mit großer Wahrscheinlichkeit ein Missionsmitglied. Mit allen Ausstellungen reisten auch Vermittler und Vermittlerinnen mit, die zum Teil längere Zeit mit der Mission im Ausland verbracht hatten und den Ausstellungsbesuchenden Führungen anboten und von ihren eigenen Erlebnissen in der Ferne berichteten. Interessant an diesem Bild ist, dass sich diese europäische Frau in einen Sari gekleidet hat. Für was steht dieses cultural cross dressing in diesem Kontext? Soll es den Besuchern und Besucherinnen demonstrieren, dass sie selbst wirklich in Indien war und als Expertin dieses Landes in der Ausstellung auftritt? Bemerkenswert ist auch ihre Geste. Es hat den Anschein, als würde sie sich mit der linken Hand leicht auf einer Modellfigur »abstützen«. Oder hält sie in leicht paternalistischer Haltung schützend die Hand über die Inder und Inderinnen?
36 | Ebd.
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Abbildung 4: Missionsausstellung in Basel, Jahr unklar, Archiv Basler Mission
Bei allen Archivfotos, die den indischen Teil der Missionsausstellungen zeigen, sind die Modellfiguren auf mit Leintuch überzogenen Tischen zwischen Modellhäusern und Pflanzen aufgestellt. Diese Anordnung weist gewisse Ähnlichkeiten zu christlichen Krippenausstellungen auf. Es wird so eine visuelle Vertrautheit des eigentlich »Fremden« geschaffen, die jedoch gleich durch die Masken und Skulpturen an der Wand über der Szenerie wieder gebrochen wird. Indien wurde in den Ausstellungen wesentlich durch die Modellfiguren repräsentiert, die auf Tischen zwischen Modellhäusern so zu einem Straßenbild angeordnet wurden, »dass der Reihe nach alle Lebensverhältnisse des indischen Volkes zum Ausdruck kommen: Wohnung, Kasten, Kultus, Reiseleben, Handel und Wandel, Handwerker und Ökonomie«37. Differenzen zwischen den Figuren werden zum einen durch deren unterschiedlich hellere oder dunklere Hautfarbe geschaffen, zum anderen durch die Bekleidung sowie durch die Haartrachten und Kopfbedeckungen, aber auch durch die Tätigkeiten, die sie verrichten. Um diese Unterschiede der indischen Gesellschaftsschichten, Berufsgruppen und Religionen dem ungeschulten schweizerischen Besucher- und Besucherinnenblick erkennbar zu machen, gab es in den jeweiligen Ausstellungsführern zu jeder Modellfigur einen kleinen Eintrag, der wie folgt lauten konnte:
37 | N. N., Erläuterungen zur Basler Missions-Ausstellung. III. Indien, S. 3.
I NDIEN IM B LICK . S CHWEIZERISCHE I MAGINATIONEN IN VIER K ONFIGURATIONEN »Shudra mit seinem Weibe, sonst ein Schimpfwort als Name der viertniedrigsten Kaste der Hindu, bedeutet in Malabar den Gutsbesitzer und Krieger, d.h. Nayer (Anführer), und ist also ein Ehrentitel; denn es gibt kaum fünf Kschatria-Familien (d.h. von der eigentlichen Kriegerkaste) in Malabar, und keine Waishja (Ackerbauer, die dritte Kaste), so dass die meisten königlichen Dynastien auch nur Nayer oder Shudra sind. Die Nayer sind bekannt durch die Sittenlosigkeit ihrer Weiber, indem eigentlich Vielmännerei unter ihnen herrscht. – Unsre Figur stellt übrigens einen Shudra der niedersten Klasse vor.« 38
Diese kurze Beschreibung veranschaulicht, wie kompliziert es ist, Menschen in klar voneinander abgrenzbare Gruppen einzuteilen und wie dies zu Stereotypisierungen führt à la »die Frauen der Nayer sind sittenlos«. Oder: »Ein Parsi oder Feueranbeter. Die Parsis oder Parsen stammen ursprünglich aus Persien, wo sie, als die Muhamedaner Persien eroberten, ihrer alten Religion des Zoroaster treu blieben. Von den Muhamedanern schwer verfolgt, flüchtete sich ein Teil nach Indien, wo sie in Bombay und Surat und anderen Orten Duldung fanden und durch Handel und Betriebsamkeit zu Reichtum, Ansehen und Einfluss gelangt sind, auch im Aneignen abendländischer Bildung allen anderen vorangehen. Nur an ihren religiösen Gebräuchen halten sie sehr fest. Doch gibt es auch etliche recht gute Christen unter ihnen. Das einzig anstossende an dieser Bevölkerungsschicht ist, dass sie – obwohl westlicher Bildung zugetan – so leicht ihren Glauben zugunsten des Christentums nicht ablegen wollen.« 39
Schaut man sich die Rezensionen bezüglich des indischen Teils der Ausstellung genauer an, dann tauchen bestimmte Themen immer wieder auf. Es sind Klischees über Indien, die bis heute fortbestehen: Inder und Inderinnen essen scharfen Curryreis, verehren eine Vielzahl von Gottheiten, sind eingeengt durch ein starres »Kastenwesen« (Modellfiguren) und äußerst frauenfeindlich. Das Phänomen der Kaste, das zwar schon lange vor der europäischen Expansion in Südasien verbreitet war, wurde allerdings erst durch die koloniale Verwaltungspolitik, die beispielsweise ab den 1860er Jahren Zensuserhebungen unter der notwendigen Angabe der Kastenzugehörigkeit durchführen ließ, in ein rigideres Schema gepresst.40 Es ist ein Kennzeichen kolonialer Diskurse, das »Andere« als ahistorisch zu imaginieren, »as being always the same, unchanging, uniform and radically peculiar object«41. 38 | Ziegler, Katalog und Beschreibung der Sammlungen im Museum des Missionshauses zu Basel, S. 64. 39 | Ebd., S. 65. 40 | Siehe dazu Dirks, Castes of Mind. Ebenso ist der Ursprung starrer Geschlechterrollen im indischen Kontext eher in den Bildungen kolonialer Stereotype und den darauf reagierenden Reformbewegungen zu suchen als in angeblich unveränderlichen, religiös verankerten Gründen. Siehe dazu Sarkar, Hindu Wife, Hindu Nation. 41 | Said, Orientalism, S. 98.
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Dabei zeigen gerade die Modellfiguren das Gegenteil auf: Ihre Entstehung geht auf einen indischen, zunächst religiösen, später immer weltlicher werdenden Kontext zurück. Die Verwendung der Modellfiguren zur Repräsentation der Kastenhierarchie gewann erst im kolonialen Setting an Bedeutung. Nicht unerwähnt lassen möchten wir aber, dass zur gleichen Zeit, als die Europäer, und Amerikaner die Modellfiguren für sich und ihre Zwecke entdeckten, auch Personen aus Indien anfingen, Modellfiguren zu sammeln. Ob diese Tatsache als nationale Umdeutung gelesen werden könnte, wonach die in den Figuren gespiegelte kulturelle Vielfalt des Landes von den indischen Sammlern hinzugezogen wurde, um eine nationale Identität als Gegenentwurf zur britischen Herrschaft zu formulieren, ist eine offene Forschungsfrage.42
Z WEITE K ONFIGUR ATION : M ANGELNDE P R ÄSENZ VON O BJEK TEN AUS DER Z EIT DER INDISCHEN U NABHÄNGIGKEIT IN DER S AMMLUNG DES M USEUMS DER K ULTUREN B ASEL Im Museum der Kulturen Basel finden sich kaum Objekte, die die indische Unabhängigkeitsbewegung zu dokumentieren vermögen: kein Salz von Gandhis Salzmarsch, keine handgesponnenen und -gewobenen Khadi-Stoffe.43 Diese Lücke bei sonst so emsiger Sammlungstätigkeit ist augenscheinlich. Erwähnt werden muss, dass Indien nie zu den Sammlungsschwerpunkten des Museums gehört hat. Die Sammlung ist deshalb sehr heterogen. Ein großer Teil früher Objekte stammt aus der ehemaligen Sammlung der Basler Mission, etliche Objekte wurden von Basler Privatpersonen, vor allem von Geschäftsleuten der Pharmaindustrie, die längere Zeit in Indien gearbeitet haben, dem Museum vermacht. Die ersten großen Sammlungsreisen von Museumsangestellten setzen erst ab den 1960er Jahren ein.44 Trotz dieser Vielzahl unterschiedlicher Einlieferer scheint es so, als hätten sie alle das Interesse an der indischen Gesellschaft just in jenem Moment verloren, als diese sich gegen ihre Unterdrücker ernsthaft zu erheben begann. Zwischen 1885 – der Gründung des Indian National Congress (INC) – und Indiens tatsächlicher Unabhängigkeit 1947 wurde materielle Kultur des Subkontinents gesammelt, doch stets mit dem Blick auf religiöse Gegenstände und bewährte »traditi42 | Bierschenk, Geschichte in Ton, S. 74. 43 | Inzwischen wurde, angestoßen durch diesen Artikel, Khadi-Stoff vom Museum angekauft. 44 | Vor 1960 sind zwei größere vom Museum aus geplante Sammlungsreisen zu erwähnen: zum einen jene von Fritz Sarasin von 1925 (Ceylon und Südindien) und zum anderen jene von Paul Wirz von 1935 (Südindien). Erst 1964 wurde vom Museum aus wieder eine größere Forschungsreise nach Indien durchgeführt: Alfred Bühler reiste mit seiner Frau Kristin Bühler-Oppenheim nach Gujarat. Sie haben entscheidend die indische Textilsammlung geprägt und eine große Anzahl von Spielzeug nach Basel gebracht.
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onelle« Handwerkskunst, die (möglichst) keine Spuren von Beeinflussung durch den Westen aufwies. Die großen politischen und sozialen Umwälzungen auf dem indischen Subkontinent sind in der Sammlung des Museums der Kulturen Basel deshalb unsichtbar. Bis weit ins 20. Jahrhundert folgte das Museum der Kulturen evolutionistischen Theorien und dem damit einhergehenden salvage paradigm. James Clifford beschreibt mit diesem Begriff jenes Verlangen nach »Authentizität«, das materielle Kultur außereuropäischer Gesellschaften vor dem als destruktiv definierten historischen Wandel zu bewahren und zu retten suchte.45 Wie Fabian und andere aufgezeigt haben, geht das westliche Bild der Moderne von einem teleologischen Geschichtsverständnis aus, das heißt von der Idee, dass sich die Geschichte durch kontinuierlichen Fortschritt zielgerichtet auf eine zivilisierte, aufgeklärte und rationale Gesellschaft hin bewegt.46 Europa wird an die Spitze dieses Entwicklungsmodells gestellt, es fungiert als Maßstab, an dem die Geschichten und sozialen Formationen aller Gesellschaften gemessen und bewertet werden. In diesem Bedeutungssystem werden Kulturen rund um den Erdball gemäß ihrer Entwicklungsstufe so arrangiert, dass die »ethnographische Gegenwart« nicht westlicher Gesellschaften die Vergangenheit der europäischen Gesellschaft repräsentiert. Der Wert anderer Kulturen (und deren Artefakte) besteht darin, einen Einblick in »unsere« Vergangenheit zu gewähren. Museen als Aufbewahrungsorte dieser vor Verwestlichung »geretteten« Objekte spielen in diesem Zusammenhang eine eminente Rolle. Denn sie kreieren durch die Art und Weise, wie sie mit den Artefakten umgehen, wirkmächtige Vorstellungen. Was gesammelt und wie es geordnet, klassifiziert und ausgestellt wird, hängt demnach stark mit dem Bild zusammen, welches sich eine Gesellschaft in einem bestimmten historischen Moment von sich und von der Welt macht.47 Macdonald fasst dies folgendermaßen zusammen: »Any museum or exhibition is, in effect, a statement of position. It is a theory: a suggested way of seeing the world.«48 Dass Indien 1947 seine Unabhängigkeit erkämpft hat, gehört also nicht zu den Erinnerungen, die ins Museum der Kulturen Basel Eingang gefunden haben. Im Zuge von intensiven Recherchearbeiten im Depot sind wir allerdings auf ein Gandhi’sches Handspinnrad (book size charkha) gestoßen. Es wurde von einer Frau Rotzler, deren Vorname unbekannt ist, dem Museum geschenkt. Das Spinnrad wurde nicht in einem größeren Sammlungskontext, der zum Ziel gehabt hätte, die indische Unabhängigkeit zu dokumentieren, gesammelt. Es stellt vielmehr einen glücklichen Einzellfall dar. Es wird nun bei der Wiedereröffnung des Museums der Kulturen Basel zu sehen sein, als Zeuge des zivilen Ungehorsams der indischen Bevölkerung gegenüber ihren Kolonialbeam45 | Clifford, »Of Other Peoples«, S. 121. 46 | Fabian, Time and the Other. 47 | Lidchi, »Exhibiting Cultures«, S. 160. 48 | Macdonald, »Introduction«, S. 14.
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Abbildung 5: Indisches Handspinnrad (IIa 4348), Museum der Kulturen Basel
ten. In der Absicht, die britische Industrie zu schützen, hatten Letztere nämlich die mechanische Textilverarbeitung in Indien zunächst mit einem gänzlichen Verbot belegt und später die Entwicklung einer indischen Industrie mit hohen englischen Schutzzöllen verhindert. Gandhi rief als eine Strategie des gewaltfreien Widerstandes die Bevölkerung des Subkontinents dazu auf, die eigene Baumwolle statt nach England zu verfrachten, damit sie dort maschinell verarbeitet würde, eigenhändig am Handspinnrad zu Faden zu spinnen und aus diesem eigenen Stoff zu weben. Es wird somit klar, dass Museen und ihre Sammlungen, ja die Ethnologie überhaupt zu den Orten der Differenzproduktion zwischen »Wir« und den »Anderen« gerechnet werden müssen: »Awkward and faddish as it may sound, othering expresses the insight that the Other is never simply given, never just found or encountered, but made. For me, investigations into ›othering‹ are investigations into the production of anthropology’s object.«49
D RIT TE K ONFIGUR ATION : G ANDHI ALS K OMMERZ -I KONE Der Umstand, dass die indische Befreiungsbewegung im Museum kaum Spuren hinterließ, bedeutet allerdings nicht, dass die Schweizer Bevölkerung damals keine Notiz davon nahm. Mohandas Karamchand Gandhis wohl spektakulärste und medienwirksamste Aktion war sein im März 1930 durchgeführter Salzmarsch, der eine demonstrative Übertretung der Salzgesetze und ein bewusster Verstoß gegen 49 | Fabian, Time and the Work of Anthropology, S. 208.
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das britische Salzmonopol darstellte.50 Es war damals für Inderinnen und Inder gesetzeswidrig, Salz selbst zu gewinnen; wer sich weigerte, die Salzsteuer zu zahlen, riskierte eine Geldstrafe und bis zu sechs Monate Gefängnis. Gandhi persönlich sorgte kurz vor Beginn des Salzmarsches durch Publikmachung für die mediale Verbreitung dieser drakonischen Strafe.51 Dieses Gesetz war 1878 verabschiedet worden, in einem der schlimmsten Hungerjahre in Indien.52 Bis zur Jahrhundertwende verteuerten sich die Produktionskosten von Salz in der Folge schätzungsweise um das Achtfache. Die Salzsteuer wurde später reduziert, befand sich aber bald wieder auf alter Höhe.53 Dennoch war die Steuer, im Vergleich zu den gesamten Lebenskosten, relativ gering. Es gab demnach auch keine Massenbewegung, welche die Absetzung der Steuer forderte; besonders für die Armen stellte sie dennoch eine Belastung dar.54 Wichtiger als die finanzielle war jedoch die symbolische Dimension dieser Abgabe. Denn wer Steuern bezahlt, akzeptiert implizit die Legitimität einer Herrschaft; erinnert sei an die Parole »No taxation without representation« des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges. Tatsächlich brachte die amerikanische Presse den Salzmarsch mit der Boston Tea Party in Verbindung.55 Die dabei aufgerufene Analogie zum Unabhängigkeitskampf der USA gegen Großbritannien erzeugte vor allem in Nordamerika Sympathien. Gleichzeitig wurde mit dem Salzmarsch auch an lokale Narrationen angeknüpft, so beispielsweise an das in Indien populäre Märchen Sweetness of Salt, das die wichtige Bedeutung des Salzes betont.56 Zudem reihte sich die Salt Satyagraha57 ein in die von Gandhi propagierte indische Selbstversorgung und das Tragen von Kleidern aus Khadi, handgesponnener 50 | Siehe dazu das aktuelle Projekt von Francesca Falk: Wie hat sich die Demonstration globalisiert? Konfigurationen einer visuellen Kulturgeschichte. 51 | Weber, On the Salt March, S. 96-97. 52 | Arnold, Gandhi, S. 145. 53 | Weber, On the Salt March, S. 91. 54 | Ebd., S. 94. 55 | Ebd., S. 450. 56 | Ebd., S. 85. Als der König seine drei Töchter ihre Liebe zu ihm in Worte fassen ließ, antwortet die Jüngste, sie liebe ihren Vater wie Salz. Daraufhin verheiratete der verärgerte Vater die Tochter mit einem vermeintlichen Bettler. Als er Jahre später bei seiner Tochter, ohne sie zu erkennen, bei einem Mahl zustatten war und deren salzlose Speisen als Beleidigung empfand, lüftete die Tochter ihr Geheimnis: »His daughter then removed her veil and gently pointed out to her father how much he liked salt and how it was far more important to him on a daily basis than gold and jewels.« Ein König mit drei Töchtern – die Jüngste liebt ihn am meisten, doch der König verkennt das: Es handelt sich hier übrigens um das gleiche erzählerische Grundmotiv wie bei Shakespeares King Lear, wie wir von Martin Mühlheim erfahren haben. 57 | Die Wortschöpfung Satyagraha schuf Gandhi als Bezeichnung seines nicht gewalttägigen Protests: Satyagraha bedeutet wörtlich »an der Wahrheit festhalten«. Damit sollten
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Baumwolle: Khadi sollte der Bevölkerung die Möglichkeit zur Selbstversorgung bieten und gleichzeitig die britischen Stoffimporte verdrängen. Der Erfolg von britischen Industrietextilien in Indien ließ sich nicht nur aufgrund des niedrigeren Preises, sondern auch aufgrund der inhärenten symbolischen Zuschreibungen der Reinheit erklären,58 die von Gandhi umkodiert wurde.59 Khadi, ein Stoff, der früher von der armen Landbevölkerung getragen worden war, wurde nun zu einem Symbol der Unabhängigkeit, das von des Lesens und Schreibens Unkundigen verstanden werden konnte und im mehrsprachigen Indien an keine bestimmte Sprache gebunden war. Durch ein demonstratives Zeigen dieser materiellen Kultur wurde dabei auch der öffentliche Raum umkodiert, so beispielsweise durch Khadi: »India as a nation became imaginable not only through Anderson‹ print capitalism, but also through the common appearance of shared symbols which were available to people regardless of their literacy, language, religion, region or class.«60 Auch auf dem Salzmarsch trugen die Satyagrahi eine erfundene Uniform mit einer Kopfbedeckung, die von Gandhis Gefängnisaufenthalt in Südafrika oder von seinem Interesse, eine Verbindung zwischen Hindus und Muslimen herzustellen, geprägt sein mag. Während das Kastensystem von den Briten als »opposed to the national union« verstanden und gerade deshalb positiv gesehen und gefördert wurde,61 sollte Khadi soziale und andere Unterschiede unsichtbar machen: »Gandhi hoped that khadi dress could act as a blanket, covering internal differences with a façade of apparent sameness, implying national unity whether or not such unity actually existed.«62 Durch den Warenboykott und die Produktion von Khadi konnte Gandhi so ökonomische und symbolische Dimensionen auf sehr geschickte Art und Weise zusammenbringen. Gandhi und seine 78 Anhänger – zu denen auf dem Marsch Tausende hinzukamen – erreichten nach 24 Tagen am 5. April 1930 das Meer und begannen am folgenden Tag, Salzwasser in der Sonne verdunsten zu lassen, bis Salz übrigblieb.63 Auch wurde Salz ins Landesinnere getragen, wo es auf Hausdächern in Pfannen weiterverarbeitet und dann steuerfrei verkauft wurde. Über 60.000 Menschen wurden im Zuge dieser Aktionen verhaftet, darunter auch Gandhi selbst.64 Doch auch nach der Verhaftung Gandhis am 5. Mai ging dieser Akt des zivilen Ungehorsams weiter: Das Salzwerk Dharasana sollte besetzt werden. Es waren die dabei entstandenen Bilder der brutal zusammengeschlagenen Inder, die in den Akte des zivilen Ungehorsams wie beispielsweise die bewusste Übertretung ungerechter Gesetze bezeichnet werden. 58 | Siehe dazu Bayly, »The Origins«. 59 | Tarlo, Clothing Matters, S. 91. 60 | Trivedi, »A Nationalist«, S. 293. 61 | Waligora, »What is«, S. 143. 62 | Tarlo, Clothing Matters, S. 93. 63 | Interessant dazu auch Bruendel, »Gewaltlosigkeit«, S. 302. 64 | Gandhi, The Collected Works 43, S. 21.
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USA und Europa einen Meinungsumschwung bezüglich der indischen Unabhängigkeitsbewegung bewirkten: Das eigentliche Ziel des Salzmarsches war es, die Gewalttätigkeit des britischen Empire weltweit sichtbar zu machen.65 Gandhi selbst schrieb während des Marsches: »I want world sympathy in this battle of Right against Might.«66 Tatsächlich war dem Salzmarsch von Anfang an und trotz Zensurversuchen eine massenmediale Präsenz gesichert: »Three Bombay cinema companies filmed the march, and newspaper reports, photographs and newsreels carried the story of his long march to freedom in words and pictures around the world.«67 Auch in der Schweiz wurde über Gandhi berichtet. In der Neuen Zürcher Zeitung fiel die Berichterstattung über die indische Unabhängigkeitsbewegung und speziell über den Salzmarsch knapp aus.68 Die 1911 gegründete Schweizer Illustrierte Zeitung brachte hingegen Berichte von Gandhi und seinen »Gefolgsleuten«, in denen Fotografien eine wichtige Rolle einnahmen.69 Insbesondere Gandhis magerer Körper und sein kahler Kopf waren – was auch gegenwärtig der Fall ist, wie wir sehen werden – als Sujet schon damals beliebt, so beispielsweise in einem Artikel vom 23. April 1930. Der Bericht beginnt mit folgenden Worten: »Ob sich wohl jeder Leser, der zerstreuten Auges die letzten Telegramme von der Gandhibewegung in Indien überfliegt, Rechenschaft darüber ablegt, dass wir welthistorische Momente miterleben, in denen vielleicht das Schicksal des grössten Weltreichs seit Urbeginn der Historie entschieden wird?«70 Die Ereignisse in Indien werden hier als geschichtsprägend geschildert. Solche zeitgenössischen Sichtweisen beschreiben Sebastian Conrad und Dominic Sachsenmaier als global moments: »While periodizations are the product of historians with the benefit of hindsight, global moments owed their existence to the attention and concerns of contemporaries.«71 Global moments zeichnen sich durch eine starke symbolische Aufladung aus, was sie für Personen in unterschiedlichen Positionen zugänglich macht. Im erwähnten Bericht der Schweizer Illustrierten Zeitung wird, nachdem Gandhi als Freiheitsapostel, Radikaler und einzigartiger Mann beschrieben wird, ein deutliches Wohlwollen gegenüber der indischen Unabhängigkeitsbewegung artikuliert: »Wem Demokratie 65 | Sharp, Gandhi, S. 150. 66 | Gandhi, The Collected Works 43, S. 185. 67 | Arnold, Gandhi. 68 | So beispielsweise am 2. April (Nr. 632, Abendausgabe), 6. April (Nr. 660, Zweite Sonntagsausgabe) und 23. April (Nr. 782, Mittagausgabe) 1930. 69 | So beispielsweise am 12. März, 23. April und 14. Mai 1930. Was allerdings auch da fehlt, sind Bilder der beim Salzwerk Dharasana brutal zusammengeschlagenen Inder. Am 14. Mai wurde das Bild eines verhafteten Anhängers Gandhis gezeigt, der sich gegen das Salzgesetz vergangen hatte. Er wird von einem Polizisten von hinten an den Armen festgehalten; die berüchtigten Knüppelschläge werden auf dem Bild indes nicht sichtbar. 70 | E. D., »Sturm«. 71 | Conrad/Sachsenmaier, »Introduction«, S. 13.
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und Freiheitssinn noch mehr sind als leere Worte ohne Inhalt, der kann Gandhis Kampf für die indische Unabhängigkeit mit keinen anderen Gefühlen begleiten als mit denen aufrichtiger Sympathie.«72 Vor dem Hintergrund dieser Sympathiebekundung erstaunt es nicht, dass einige Ausgaben später in der gleichen Zeitschrift die Ikone des indischen Befreiungskampfes für Werbezwecke eingespannt wurde. Während im erwähnten Artikel die Bedeutung von Indiens Unabhängigkeit erkannt wird, wird sie im folgenden Beispiel bagatellisiert. Abbildung 6: Zahnpastareklame mit Gandhi in der Schweizer Illustrierten Zeitung, 1930
Diese Reklame knüpfte an die demonstrative Dimension des Salzmarsches an (das Demonstrative ist auch ein Charakteristikum von Werbung) so wie auch an den Umstand, dass es beim Salzmarsch um empowerment ging, um Selbstermächtigung und Selbstkontrolle, was auch im Zusammenhang mit Mundhygiene gerne betont wird. Die Zahnpastareklame vom Juli 1930 spielt dabei auf die massenmediale Präsenz von Gandhi an: Das Thymo-Männchen blickt in die Zeitung und sieht dabei nur das große Gesicht Gandhis. Die Zahnpastawerbung weist auf den tatsächlich überlieferten Umstand hin, dass Gandhi nach seiner Verhaftung, die kurz vor der erwähnten Besetzung des Salzwerkes stattfand, um Erlaubnis bat, sich zu waschen und seine Zähne reinigen zu dürfen, was ihm offenbar gewährt
72 | E. D., »Sturm«.
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wurde.73 Dieses Reinigungsprozedere mag auch im Zusammenhang mit einer nicht nur im Hinduismus ubiquitären »Verknüpfung von körperlicher Sauberkeit mit moralischer Reinheit« gesehen werden.74 So hatte Gandhi, bevor er mit einer inzwischen weltbekannten Geste Salz auflas, am Strand von Dandi ein Bad im Meer genommen.75 Der Produktname Thymodont spielt auf die Ingredienz Thymian an, was Natürlichkeit suggeriert und an die überlieferte Zahnputzmethode erinnert, mit Salz und Heilkräutern die Zähne zu reinigen. Gandhi selbst riet, sich die Zähne mit den Fingern oder einem Stecken zu reinigen und danach zu gurgeln.76 Das Thymo-Männchen entrüstet sich in der Werbung darüber, dass Gandhi dafür nicht Thymodont verwendet habe. Die Werbung inszeniert einen Gegensatz zwischen »westlicher Hygiene« und »östlichem Ritus«: Der Werbetext betont, bei dieser Zahnpasta handle es sich um ein von Schweizer Zahnärzten entwickeltes Produkt, für Schweizer Verhältnisse geschaffen. Hier sollen sowohl nationale als auch medizinische Diskurse die Wirksamkeit der Zahnpasta garantieren. Diese Legitimierungsstrategie befindet sich in einem Widerspruch zu Gandhis kritischer Haltung gegenüber der Schulmedizin.77 Ähnliches gilt für den nationalen Referenzrahmen, den die Werbung mit der Betonung des »Schweizerischen« aufruft. Einerseits wird hier demnach Gandhis Ideal der nationalen Selbstbestimmung für eine an den Schweizer Nationalismus appellierende Werbung verwendet, andererseits befindet sich Gandhis Position, die sich für eine nationale Souveränität und lokale Warenproduktion, aber gegen Nationalismen aussprach, dazu in einem Spannungsverhältnis. Ein nationalisierender Referenzrahmen zeigt auch drei Jahre später eine Firmenantwort auf die in der Schweizerischen Monatsschrift für Zahnheilkunde geäußerte Kritik, eine Thymodontwerbung für Kinder suggeriere, ein chemisches Präparat genüge, um Zange und Bohrer entbehrlich zu machen: Es sei unbegreiflich, lässt die Firma darauf verlauten, »dass Herr Brodtbeck gerade eine alte, durchaus ernste Schweizerfirma angreift, wo er doch wissen sollte, gegen welche gewaltige ausländische Konkurrenz wir gerade auf diesem Gebiet in der Schweiz zu kämpfen haben, und dass eine Schweizer Firma zahlreichen schweizerischen Arbeitskräften lohnende Verdienste vermittelt«78. Die Zahnmedizin selbst war zum Erscheinungszeitpunkt dieser Werbung in der Schweiz erst seit wenigen Jahren an den Universitäten etabliert.79 Ist nun die Aussage des Werbetextes, dass 73 | Sharp, Gandhi, S. 91. 74 | Fischer-Tiné, »Herbert Spencer«, S. 158. 75 | Arnold, Gandhi, S. 147. 76 | Siehe dazu auch Gandhis Beschreibung der Zahnpflege indischer Schafhirte auf http://www.ivu.org/history/gandhi/1891-5.html, 03.04.2011: »It is perhaps superfluous to add that he uses no tooth powder.« 77 | Alter, Gandhi’s Body. 78 | N. N., »Erwiderung«, S. 493. 79 | 1895 wurde das zahnärztliche Institut der Universität Zürich eröffnet, 1921 dasjenige von Bern und 1924 jenes von Basel. Siehe Sigron, »Zahnmedizin«.
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»bei uns die Zähne nicht gerade die schönsten und besten sind«, in diesem Zusammenhang zu sehen? Oder klingt da auch eine Degenerationsthese an, wonach »primitivere Völker« über gesundere, stärkere Zähne verfügen und Karies in dieser Logik als Krise der Zivilisation gedeutet wurde?80 In der Schweiz hatte sich der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch von Zucker von 1900 bis 1934 verdoppelt: »Kolonialismus und Kapitalismus verwandelten also Zucker im 19. Jahrhundert gewissermassen zum ›Betriebsstoff‹ der Industrialisierung – bewirkten aber auch, wie auch Sidney Mintz en passant erwähnt, eine Verbreitung der Karies.«81 Tatsächlich fällt beim Durchblättern der Schweizer Illustrierten Zeitung von 1930 auf, wie häufig sowohl für Zahnpasta als auch für Schokolade geworben wurde. Der Kolonialismus »verbilligte« zahlreiche Produkte, die, wie beispielsweise Zucker, oft auch durch Sklavenarbeit produziert wurden. Wenn dabei die Arbeiterschaft einen leichteren Zugang zu früheren Luxusprodukten wie Zucker erhielt, dann konnte sie damit nicht nur ihre Energiebilanz auf-, sondern durch den Konsum kolonialer Waren zugleich ihren Status verbessern. Werbung und Waren transportierten dabei koloniale Vorstellungen und legitimierten dadurch den Kolonialismus.82 Wie ist nun in diesem kolonialen Kontext unsere Zahnpastawerbung zu deuten, die auf den antikolonialen Befreiungskampf Indiens anspielt und dabei auf Gandhi als Werbeträger zurückgreift? In der konkreten Zahnputzsituation wirkt die Zeitung auf den ersten Blick wie ein Spiegel. Beachtenswert ist, dass uns Gandhi daraus anblickt. Ein ähnlicher Befund gilt vor dem Hintergrund der in der kolonialen Konstellation besonders ausgeprägten Gleichsetzung von Seife und Zivilisation für den Umstand, dass sich Gandhi aus »eigenem Antrieb« die Zähne putzt, auch wenn dies laut Werbung nicht aus hygienischen Gründen geschieht. Doch selbst wenn hier Gandhi als Werbeträger fungiert, ist diese Reklame, wie wir zeigen werden, von einer »kolonialen Logik« strukturiert. Das Thymo-Männchen wurde nämlich nicht nur mit Gandhi in Verbindung gebracht: Wir finden im gleichen Jahr in dieser Zeitschrift eine ähnliche Werbung mit Cicero, (Theodore) Roosevelt, Lord Beatty, Admiral in der Royal Navy83, dem Mikado, dem japanischen 80 | Siehe Schär, »Karies«. Erinnert sei hier an den bereits in der Einleitung dieses Bandes erwähnten Umstand, dass zahlreiche Zahnmediziner für ihre Dissertationen in die Alpen gingen, »um die Ernährungsweise der ›Bergvölker‹ zu studieren, die ebenfalls über auffallend gesündere Zähne verfügten als Europäer«, ebd., S. 104. Eine solche postulierte Analogie zwischen den eigenen und den fremden Wilden beschränkte sich nicht auf die Zahnmedizin: »When Arnold van Gennep accepted the first Chair in Anthropology at the University of Neuchâtel in 1921, he considered the study of Alpine communities a legitimate alternative to expensive fieldwork amongst the more primitive peoples of Africa, Tibet or New Guinea.« Harries, »From the Alps to Africa«, S. 219. 81 | Zitiert nach Schär, »Karies«, S. 100. 82 | McClintock, Imperial Leather, S. 220. 83 | Er war u.a. im Einsatz gegen den Boxeraufstand und gegen die Deutschen im Ersten Weltkrieg.
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Kaiser84, einem Schweizer Zöllner, der auf amerikanische Zollschranken und auf die Wirtschaftskrise anspielt und zum Kauf Schweizer Produkte animieren will, und schließlich Madame de Pompadour, der Mätresse von Ludwig XV. Auffallend ist, dass außer bei der einzigen Frau, Madame de Pompadour, der Kampf gegen die Karies mit einem militärischen Kontext verbunden wird, so auch bei der Werbung mit Roosevelt, die im März und April gedruckt wurde. Abbildungen 7 und 8: Zahnpastawerbung mit Roosevelt und Madame de Pompadour in der Schweizer Illustrierten Zeitung, 1930
Roosevelt, der als Präsident eine expansionistische Außenpolitik der Vereinigten Staaten befürwortete, wird in dieser Zahnpastawerbung auch als Oberst im spanisch-amerikanischen Kubakrieg porträtiert. In diesem Krieg hatten sich die USA nicht uneigennützig für die Unabhängigkeitsbestrebungen Kubas eingesetzt. Das Thymo-Männchen wird als stolzer Roosevelt inszeniert; die geschwungene und am Hut befestigte Zahnbürste erinnert an Roosevelts Säbelschwung, die Analogie zwischen Krieg und Kampf gegen die Karies wird so auch visuell in Szene gesetzt. Bemerkenswert ist der Umstand, dass auf allen Werbungen – außer bei jener von Gandhi – das Thymo-Männchen in die Rolle der jeweiligen historischen oder zeitgenössischen Persönlichkeit schlüpft. Bei Roosevelt heißt es beispielsweise: »Er 84 | Die positive Rezeption der japanischen Armee um 1930 sagt einiges aus. Es heißt in der Werbung: »Der Mikado gibt seinen Soldaten eine Zahnbürste ins ›Mannsputzzeug‹. Auch dadurch beweist Japan, dass es auf einer hohen kulturellen Stufe steht.« Schweizer Illustrierte Zeitung vom 13. August 1930, S. 1344. Eine solche Positionierung Japans in der kolonialen Konstellation verweist auf dessen »erfolgreichen Status« in der kolonialen Konkurrenz.
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fühlt sich heute als Roosevelt und meint, dass, wenn es damals schon THYMODONT gegeben hätte, auch es vom grossen Präsidenten nicht vergessen worden wäre.« Wie der Mikado oder Lord Beatty erscheint die porträtierte Persönlichkeit als äußerst positive Identifikationsfigur. Bei der einzigen Frau ist die Botschaft hingegen ambivalenter: »Madame, sprach Louis XV. zu der Pompadour, Puder und Schminke genügen nicht, Sie müssen sich auch die Zähne reinigen!« Hier wird die Werbeträgerin nicht wie bei den männlichen Helden mit positiven Eigenschaften in Verbindung gebracht, sondern mit einem Mangel an Reinlichkeit, wofür Ludwig XV. sie zurechtweisen muss. Doch auch hier wird »die Pompadour« von der Thymo-Figur verkörpert, wobei der Schattenwurf auch vom König stammen könnte. Beim Gandhi-Beispiel ist dies, wie bereits erwähnt, anders. Das ThymoMännchen repräsentiert hier nicht Gandhi, sondern einen (Schweizer) Zeitungsleser. Auch wird, im Gegensatz zu den anderen Reklamen, dem Ärger Ausdruck verliehen, dass nicht auf das beworbene Produkt zurückgegriffen wird: »Als unser Thymo-Männchen dies las, wurde seine Entrüstung grösser und grösser: Warum, dachte er, ist hier nicht von Thymodont die Rede?« Gandhi wird zwar (mit Ausnahme des typisierten Schweizer Zöllners) in eine Reihe historischer, meist kriegserfahrener Persönlichkeiten aufgenommen, gleichzeitig wird bei ihm aber in der konkreten Umsetzung der Werbung eine deutliche Differenz zu den anderen Figuren markiert, denn als einziger wird er nicht durch das Thymo-Männchen repräsentiert.85 Der Bezug auf Gandhi ist banalisierend und im wörtlichen Sinne diskriminierend.86 Trotz seiner Antikonsumhaltung wurde Gandhi also bereits zu Lebzeiten zu einem Werbesujet. Eine solche werberische Vereinnahmung gehört allerdings nicht der Vergangenheit an. Dieses Gandhi-Porträt war im Jahre 2010 als Großplakat auf Schweizer Telefonkabinen oder als doppelseitige Zeitungswerbung87 zu sehen. Es war Teil einer nationalen Kampagne der Swisscom, die mit Gandhi für Blackberry warb. Die Werbung spricht bei der Anpreisung einer Twitter-App den Salzmarsch kurz an. Gleichzeitig produzierte der Slogan »Das Gute zu verbreiten, war noch nie so einfach« eine Dekontexutalisierung, die die europäische Verantwortung am Kolonialismus unsichtbar macht.88 Er verkehrt zudem, vielleicht auch unbewusst, ein 85 | Das Gandhi-Beispiel und jenes des Schweizer Zöllners zeigen das Thymo-Männchen von hinten und als Zeitungsleser. Die Nachricht der amerikanischen Zollschranken ist eindeutig negativ konnotiert. 86 | Der Begriff Diskriminierung stammt vom lat. discrimen, was eine Spalte oder einen Riss bezeichnete, später dann auch das »Unterscheidende« oder das »Entscheidende«. »Discriminare« bedeutet also zunächst trennen, scheiden und unterscheiden; diese Trennung kann als Grundlage für eine Benachteiligung dienen. 87 | So beispielsweise in der Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag vom 23.05.2010, S. 8f. 88 | Ähnliches kann auch für einen preisgekrönten Spot der Telecom Italia von 2004/5 gesagt werden: http://www.youtube.com/watch?v=EUsbjaMIsdQ, 22.01.2010.
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Abbildung 9: Swisscom-Werbung für Blackberry, 2010
Zitat aus Gandhis berühmter Schrift Hind Swaraj in sein Gegenteil, heißt es doch da: »But evil has wings. To build a house takes time. Its destruction takes none.«89 Zugleich wird mit dem Slogan die Rolle der neuen Medien in aktuellen Protestbewegungen angesprochen. Auf den Mahatma als Werbeträger für Telekommunikationsunternehmen wurde in diesem Zusammenhang wohl auch deshalb gerne zurückgegriffen, weil dieser trotz seiner skeptischen Haltung gegenüber moderner Technik es meisterhaft verstand, die Medien für seine Zwecke einzusetzen.90 Auch wird Gandhi gern mit Kreativität und Einfachheit assoziiert, so beispielsweise 1997 bei der Apple-Kampagne »Think different«.91 Diese Assoziationen waren offenbar auch bei Swisscom entscheidend; der Kreativdirektor der zuständigen Werbeagentur Jung von Matt begründete die Wahl Gandhis laut Medienberichten mit folgenden Worten: »Mit seinem einfachen Lebensstil steht er für die einfache Bedienung der Geräte.«92 Unsichtbar bleiben dabei die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen; 89 | Gandhi, »Hind Swaraj«, S. 27. 90 | Arnold, Gandhi, S. 147. 91 | http://www.youtube.com/watch?v=WmWi3g4RWvI, 22.01.2010. 92 | http://www.20min.ch/news/kreuz_und_quer/story/15892975, 10.12.2010.
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erinnert sei an die im Jahre 2010 publik gewordenen Selbstmorde in der Firma Foxconn, die iPhones produziert, oder an die Gewinne von Coltan für Handys aus Kriegsgebieten.93 In Indien hat das Einsetzen von Gandhi für werberische Zwecke Kritik hervorgerufen.94 Ob der Mahatma für Computer, Smartphones oder Füllhalter der Luxusmarke Montblanc wirbt95 – Gandhi ist, ähnlich wie Che Guevara, zu einem Requisit geworden, heißt es in einem auf Deutsch übersetzten Artikel von Salman Rushdie, »ein Image, das ausgeliehen, benutzt, verdreht, überarbeitet und den verschiedensten Zwecken angepasst werden kann«96. Auch für nicht kommerzielle Zwecke wird auf die Ikone Gandhi zurückgegriffen (Abbildung 10). Dieses wild plakatierte Poster warb im Winter 2010 gegen die Ausschaffungsinitiative. Es spielt auf das in der Einleitung dieses Bandes analysierte Schafsplakat der SVP an, das für deren Annahme warb. Die 2010 angenommene Initiative verlangte die verschärfte Ausschaffung von in bestimmter Weise straffällig gewordenen Ausländerinnen und Ausländern. Da die große Mehrheit der Ausschaffungen allerdings nicht Kriminelle, sondern abgewiesene Asylsuchende und Sans-Papiers betrifft, ging es in diesem Abstimmungskampf neben der Spendeneinwerbung um Agenda-Setting: Die Ausschaffungsinitiative sollte Migration, Kriminalität und Ausschaffung als Themen verschränken. Das Gandhi-Plakat wurde vom Druckereikollektiv der Berner Reitschule als Teil einer Serie gestaltet, die sich mit prominenten »ausländischen« Köpfen wie Rosa Parks oder Spock gegen die Initiative einsetze. Das Zitat verweist auf eine Äußerung Gandhis von 1922 in der Zeitschrift Young India, in der er sich für Minderheitenrechte einsetzte.97 Während Gandhi bei der Swisscom als Heiliger inszeniert wird, erscheint er hier als mahnende Stimme. Interessanterweise zeigt das Plakat das gleiche Bild, das wir bereits bei der Swisscom-Werbung angetroffen haben. Bei dieser Fotografie handelt es sich um eine der raren Studioaufnahmen Gandhis.98 Sie war auf Anfrage von Lord Irwin 1931 in London aufgenommen worden. Irwin war als Vizekönig und Generalgouverneur Indiens für die Verhaftung Gandhis am 5. Mai 1930 verantwortlich; 93 | http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/0,1518,696991,00.html, 22.01.2010. http://www.sueddeutsche.de/wissen/kampf-ums-coltan-das-blut-am-handy-1.170029, 21.03.2011. 94 | http://timesofindia.indiatimes.com/india/Now-Gandhi-in-Swisscom-advertisementcampaign/articleshow/6125532.cms, 22.01.2011. 95 | http://www.montblanc.de/products/11867.php, 22.01.2011. 96 | http://www.zeit.de/1998/19/titel.txt.19980429.xml, 22.01.2011. 97 | »Democracy is not a state in which people act like sheep. Under democracy, individual liberty of opinion and action is jealously guarded. I, therefore, believe that the minority has a perfect right to act differently from the majority.« Gandhi, »Democracy«, S. 341. 98 | http://www.gandhiserve.org/cgi-bin/if2/imageFolio.cgi?action=view&link=Photo graphs/Personalities/Mahatma_Gandhi/---Top_100---&image=PEMG1931505003.jpg& img=30&tt=, 22.01.2011.
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Abbildung 10: Plakat gegen die Ausschaffungsinitiative, 2010
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Gandhi blieb damals bis Anfang Januar 1931 in Haft.99 Am 4. März schlossen die beiden den Gandhi-Irwin-Pakt; er erlaubte unter anderem der indischen Lokalbevölkerung, Salz für den Eigenverbrauch zu gewinnen, aber nicht, mit diesem zu handeln.100 Vor allem aber ebnete dieser Pakt den Weg zur Second Round Table Conference in London, wo das besagte Bild entstand. Der Umstand, dass dieses beliebte Gandhi-Bild, mit dem sowohl gegen die Ausschaffungsinitiative wie für Blackberry geworben wurde, auf Geheiß von Gandhis politischem Gegner angefertigt wurde, ist dabei nicht ohne Ironie. Bemerkenswert ist zudem, dass die Swisscom eine Aussage Gandhis in ihr Gegenteil verkehrt, um mit dem Bild des Asketen zum Konsum zu verführen, während das Plakat gegen die Ausschaffungsinitiative mit dem verwendeten Zitat an Gandhis politisches Projekt anknüpft.
V IERTE K ONFIGUR ATION : K OLONIALISMUSNOSTALGIE Das postkoloniale Imaginäre in der Werbung gehört, wie wir sehen, nicht der Vergangenheit an. Heute noch wird beim Eingang von Globus-Geschäften, so beispielsweise in Basel, die Rubrik delicatessa als »Kolonialwaren« bezeichnet. Der Umstand, dass gerade ein Anbieter im oberen Preissegment, der die Globalisierung im Namen trägt und dessen Werbefigur Globi 1932 erfunden wurde101, mit einem solchen Kolonialbezug wirbt, ist wohl kein Zufall, soll dieser doch besonders gute (Lebens-)Qualität verbürgen. Die Verschränkung von Kolonialismus und Kommerz zeigt sich auch bei einem ganzseitigen Globus-Inserat in der Neuen Zürcher Zeitung von 2004 (Abbildung 11).102 Hier wird mit einem Style Colonial der Eindruck von Luxus und Üppigkeit erweckt. Es wird nicht mit Khadi, sondern mit Seide geworben; das abgebildete Bett mit den vielen Kissen und dem servierten Tee vermag »Haremsfantasien« aufzurufen, die im Gegensatz zum politisch bewirtschafteten Feindbild der »Burkafrau« – erinnert sei an das Plakat der Minarettinitiative – hier positiv konnotiert sind. Eine solche Inszenierung kann als »Kolonialismusnostalgie« beschrieben werden: »Träumen Sie von der guten, alten Kolonialzeit«, lesen wird im Werbetext. Angespielt wird auf die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs in den Kolonien, das Moskitonetz vermag allerdings gleichzeitig auch, koloniale Krankheits- und Ansteckungsängste aufzurufen. Es verweist gleichzeitig auf die Notwendigkeit, eine Grenze zwischen sich und der kolonialen Umgebung einzuziehen.
99 | Arnold, Gandhi, S. 250. 100 | Weber, On the Salt March, S. 557. 101 | Siehe dazu den Beitrag von Patricia Purtschert in diesem Band. 102 | Noch ausführlicher behandle ich diese Werbung in Falk, »Postkolonialismus«.
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Abbildung 11: Globus-Werbung in der Neuen Zürcher Zeitung, 2004
Eine Kolonialismusnostalgie zeigt sich auch bei unserem letzten Beispiel (Abbildung 12). Als zum vierzigsten Jahrestag seiner Unabhängigkeit Indien »Gast« im Globus war, sollte die Sommermode »indische Farben und Formen aufnehmen«.103 Wir sehen vor einer mysteriös verschwommenen »indischen Kulisse« eine hellhäutige junge Frau im Profil, die mit ihrem aufgespannten schwarzen Schirm an das bekannte englische Kindermädchen Mary Poppins erinnert. Sie trägt ein weißes Kleid mit Spitzen, weiße Schuhe, weiß-durchsichtige Handschuhe, einen Strohhut und die bereits genannte Beschirmung, als ob sie sich vor der starken Sonne gleich zweifach schützen möchte. Die weiße Farbe ist in kolonialen Kontexten stark aufgeladen: Kindergeschichten erzählen von »Mohren«, die dank ihres guten Herzens weiß werden; erinnert sei auch an die Ausdrücke anschwärzen und weißwaschen.104 In der Tradition weiblicher Nationalallegorien werden hier demnach »indische Farben und Formen« notabene zur Feier der indischen Unabhängigkeit als weißes Britisch-Indien imaginiert und zelebriert. Gerade vor dem Hintergrund der wichtigen symbolischen Bedeutung von Khadi für die indische Unabhängigkeit zeugt dies von einer erstaunlichen Geschichtsblindheit. Es stellt sich die Frage, ob ein solcher Umgang mit kolonialen Versatzstücken in Großbritannien, wo die koloniale Vergangenheit mittlerweile im kollektiven Gedächtnis stärker präsent ist, gleichermaßen möglich wäre. 103 | Pfenninger, Globus, S. 290. 104 | Badenberg, »Die Bildkarriere«, S. 174.
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Abbildung 12: Globus-Werbung von 1987 in einer Publikation zum Firmenjubiläum 2007
F A ZIT Im vorliegenden Aufsatz haben wir in vier Konfigurationen schweizerische Bilder über Indien zueinander in Beziehung gesetzt. Dabei sind wir nicht nur auf das faktisch Vorhandene eingegangen, sondern haben auch Leerstellen und Lücken in die Analyse einbezogen. Kolonialismuschic in der Werbung fordert die Betrachtenden auf, sich mit den einstigen Kolonisatoren zu identifizieren und von den guten alten Kolonialzeiten zu träumen. Der Umstand, dass dabei die heutigen Arbeitsbedingungen für die Herstellung der beworbenen Produkte, die mit der (post-)kolonialen Konstellation in einer direkten Verbindung stehen, aus dem Blick fallen, erstaunt nicht. Auch die werberische Vereinnahmung von Gandhi, der Ikone des antikolonialen Befreiungskampfes, ist ambivalent und zuweilen sogar von einer kolonialen Logik strukturiert. Die diskutierten Modellfiguren sind ebenfalls
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mehrdeutig und erhielten durch die koloniale Vereinnahmung neue Zuschreibungen: Sie wurden als dreidimensionale haptische Hilfsmittel eingesetzt, um alle in Britisch-Indien lebenden Gesellschaften, Kasten, Berufsstände ethnischen und religiösen Gruppierungen visuell einprägend zu klassifizieren und zu inventarisieren: Durch das Zementieren bestehender Trennlinien soll eine einheitliche Widerstandsbewegung verunmöglicht werden. Weiter haben wir gezeigt, dass auch Unterlassungstechniken von kolonialen Logiken geprägt sein können, dann nämlich, wenn geschichtlich entscheidende Ereignisse und Handlungen des »Anderen« unterschlagen und verschwiegen werden, so zum Beispiel in der Absenz von Objekten in unseren Museen, die von der politischen Selbstbestimmung der indischen Gesellschaft Zeugnis ablegen. Sowohl die Werbung als auch das Museum vermitteln dabei, oft auf unauffällige Weise, (post-)koloniale Wahrnehmungsmuster.105
L ITER ATURVERZEICHNIS Konfigurationen 1 und 2 Banerjee, Sumanta, The Parlour and the Streets. Elite and Popular Culture in Nineteenth Century Calcutta, Kalkutta 1989. Bean, Susan, »The Flourishing Art of Clay Sculpture in Bengal«, in Madras Craft Foundation (Hg.): Maker and Meaning: Craft and Society: Proceedings of the Seminar January 1999, Tamil Nadu, India, Chennai 1999, S. 98-107. Bierschenk, Juliane, Geschichte in Ton. Bengalische Modellfiguren als Spiegel der Sammlerkultur des 19. Jahrhunderts, Magisterarbeit Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br. 1998. Clifford, James, »Of Other Peoples. Beyond the ›Salvage‹ Paradigm«, in: Foster, Hal (Hg.), Discussions in Contemporary Culture, Seattle 1987, S. 121-130. Dirks, Nicholas, Castes of Mind. Colonialism and the Making of Modern India, Princeton 2001. Dreyer, Dominique/Imhasly, Bernard, »Unequal Friends or Natural Partners?«, in: Imhasly, Bernard (Hg.), Friendship in Diversity. Sixty Years of Indo-Swiss Relations, Hyderabad 2008, S. 28-33. Fabian, Johannes, Time and the Other. How Anthropology Makes Its Object, New York 1983. Ders., Time and the Work of Anthropology. Critical Essays 1971-1991, Chur u.a. 1991.
105 | Beide sind identitätsbildende Vermittlungsinstanzen zwischen gesellschaftlichen Strukturen und dem »Individuum« und bestimmen so mit, was jeweils als fremd oder als vertraut empfunden wird. Doch auch solche Imaginationen und Projektionen werden nicht ohne »Verdauungsprozess« geschluckt, weshalb es ein weiteres Projekt wäre, die Reaktion der Rezipierenden zu erforschen.
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A BBILDUNGSNACHWEISE Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12
Fotograf: Derek Li Wan Po, 2011, © Museum der Kulturen Basel Archiv Basler Mission, Ref. Nr. QS-30.100.0013 Archiv Basler Mission, Ref. Nr. QS-30.100.0059, Jahr unklar Archiv Basler Mission, Ref. Nr. QS-30.100.0051, Jahr unklar Fotograf: Derek Li Wan Po, 2011, © Museum der Kulturen Basel Schweizer Illustrierte Zeitung, 2. Juli 1930, S. 1107 Schweizer Illustrierte Zeitung, 2. April 1930, S. 509 Schweizer Illustrierte Zeitung, 5. November 1930, S. 1844 Swisscom-Werbung, eigene Aufnahme, Mai 2010, Basel Plakat gegen die Ausschaffungsinitiative, eigene Aufnahme, Dezember 2010, Basel Neue Zürcher Zeitung, 18. März 2004, S. 6-7 Pfenninger, Ernst, Globus – das Besondere im Alltag. Das Warenhaus als Spiegel der Gesellschaft. Globus, 1907-2007, Zürich 2007, S. 290 (Ausschnitt)
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Autorinnen und Autoren Christine Bischoff Studium der Empirischen Kulturwissenschaft und Neueren Deutschen Literaturwissenschaft an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen. Junior Fellow am Collegium Pontes des Instituts für kulturelle Infrastruktur Sachsens in Görlitz-Zgorzelec. Dissertationsprojekt im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 51 »Integration und Ausschluss« des Schweizerischen Nationalfonds (SNF). Lehrt und forscht seit 2007 an der Universität Basel am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie.
Publikationen (Auswahl) Andris, Silke/Bischoff, Christine/Leimgruber, Walter, »Visuelle Anthropologie. Bilder machen, analysieren, deuten und präsentieren«, in: Johannes Moser et.al. (Hg.), Volkskundliche Methoden und Zugänge unter Veränderungsdruck (im Druck). Bischoff, Christine/Falk, Francesca/Kafehsy, Sylvia (Hg.), Images of Illegalized Immigration. Towards a Critical Iconology of Politics, Bielefeld 2010.
Christof Dejung Studium der Geschichte, Deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft und Sozialpsychologie in Zürich. 2004 Promotion in Zürich mit einer Studie zur Alltagsund Geschlechtergeschichte des Militärdienstes während des Zweiten Weltkrieges in der Schweiz. 2010 Habilitation in Konstanz mit einer Untersuchung der sozialund kulturhistorischen Grundlagen des Welthandels am Beispiel der Schweizer Handelsfirma Gebrüder Volkart, 1851-1999. Forschungsaufenthalte in Göttingen, London und Cambridge MA, zusätzliche Archivrecherchen in Guatemala, Costa Rica und Indien.
Publikationen (Auswahl) Dejung, Christof/Zangger, Andreas, »British Wartime Protectionism and Swiss Trading Firms in Asia during the First World War«, Past & Present, H. 207 (2010), S. 181-213. Dejung, Christof, »›Switzerland must be a Special Democracy‹, Sociopolitical Compromise, Military Comradeship and the Gender Order in 1930s and 1940s Switzerland«, Journal of Modern History, Jg. 82, H. 1 (2010), S. 101-126.
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A UTORINNEN UND A UTOREN
Dejung, Christof, »Oral History und kollektives Gedächtnis. Für eine sozialhistorische Erweiterung der Erinnerungsgeschichte«, Geschichte und Gesellschaft, Jg. 34, H. 1 (2008), S. 96-115. Dejung, Christof, Aktivdienst und Geschlechterordnung. Eine Alltags- und Kulturgeschichte des Militärdienstes 1939-1945 in der Schweiz, Zürich 2006.
Sara Elmer Studium der Zeitgeschichte, Religionswissenschaften und Staatswissenschaften an der Universität Freiburg i.Ue. (Lizenziatsarbeit: „Zwischen Idealismus und aussenwirtschaftlichem Kalkül. Die Entstehung der ersten Konzeptionen der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit anhand des Beispiels Nepal, 1948-1961“). Editorin am Center for Security Studies, ETH Zürich. Beauftragte der Eidgenössischen Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) für ein Projekt mit Zeitzeugen der Schweizer Entwicklungshilfe. Doktorandin an der Professur für Geschichte der modernen Welt, ETH Zürich, mit einem Projekt zu Entwicklungsdebatten und lokalen Entwicklungsexperten in Nepal.
Francesca Falk Studium der Geschichte und der Politischen Theorie in Basel, Freiburg im Breisgau, Genf und Zürich. Dissertation im Rahmen des nationalen Forschungsschwerpunktes eikones. 2007 als visiting scholar an der UC Berkeley, 2008 am Istituto Svizzero in Venedig. Seit 2009 SNF-Habilitationsprojekt zu einer visuellen Kulturgeschichte der Demonstration, Lehrbeauftragte an der Universität Basel und an der ETH Zürich.
Publikationen (Auswahl) Falk, Francesca, Eine gestische Geschichte der Grenze. Wie der Liberalismus an der Grenze an seine Grenzen kommt, Paderborn 2011. Bischoff, Christine/Falk, Francesca/Kafehsy, Sylvia (Hg.), Images of Illegalized Immigration. Towards a Critical Iconology of Politics, Bielefeld 2010. Falk, Francesca, Grenzverwischer. »Jud Süss« und »Das Dritte Geschlecht«: Verschränkte Diskurse von Ausgrenzung, Innsbruck 2008. (Mit dem Agpro-Förderpreis ausgezeichnet).
Gaby Fierz Studium der Ethnologie, Alten Geschichte und Volkswirtschaft an der Universität Basel. Nach dem Studium Arbeit in entwicklungs- und kulturpolitischen Zusammenhängen und in der Kulturvermittlung der Kulturstifftung Pro Helvetia. Seit 2007 Praxismentorin und Gastdozentin im Studiengang Art Education der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK, und seit 2010 Dozentin für Kulturvermittlung im Master-Studiengang Kulturmanagement der Universität Basel. Leitung der Abteilung Bildung und Vermittlung und Kuratorin am Museum der Kulturen Basel.
A UTORINNEN UND A UTOREN
Publikationen (Auswahl) Fierz, Gaby, »›Schnapsen, kegeln, Schnitzel-essen.‹ Österreichische Heimatvereine in der Schweiz. « Stimme von und für Minderheiten, Nr. 76, (2010), S. 19-21. Fierz, Gaby, »›Festivals of Light. Religious Diversity in a City‹ – Exhibition by the Museum der Kulturen Basel«, in: Marie-Paule Jungblut/Rosmarie Beier-de Haan (Hg.), Museums and Faith. ICMAH and Musée d’Histoire de la ville de Luxembourg, Luxembourg 2010, S. 30-49. Fierz, Gaby, »›Ich setzte mich durch‹. EinwandererInnen aus der Türkei erzählen vom Start in der Schweiz«, in: bazkulturmagazin, 05.11.2008
Alexander Honold Prof. Dr., geb. 1962 in Valdivia/Chile, ist Ordinarius für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Lehrtätigkeit u.a. in Berlin und Konstanz; zahlreiche Buchpublikationen, Aufsätze und Literaturkritiken.
Publikationen (Auswahl) Honold, Alexander (Hg.), Ost-westliche Kulturtransfers: Orient – Amerika, Reihe Postkoloniale Studien in der Germanistik, Bd. 1, Bielefeld 2011. Hamann, Christof/Honold, Alexander, Kilimandscharo. Die deutsche Geschichte eines afrikanischen Berges, Berlin 2011. Honold, Alexander et al. (Hg.), Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen, Göttingen 2009. Honold, Alexander/Scherpe, Klaus R. (Hg.), Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit. Stuttgart 2004.
Rohit Jain Studium der Soziologie und Ethnologie an der Universität Bern. Seit 2007 Stipendiat des Universitären Forschungsschwerpunkts Asien und Europa in Zürich und Doktorand am Ethnologischen Seminar Zürich.
Publikationen (Auswahl) Jain, Rohit, »›Viele Investmentbankerinnen haben das Gefühl, sie müssten aggressiv sein – wie die Männer.‹ Sonia Raman (*1978), Investmentbankerin«, in: Honegger, Claudia, Neckel, Siegfried, Magnin, Chantal (Hg.): Strukturierte Verantwortungslosigkeit – Berichte aus der Bankenwelt, Zürich 2010, S. 146-151. Jain, Rohit, »Intergenerationelle Aushandlungen und Übersetzungen von ›Indianness‹, Geschlechterrollen und sozialer Mobilität bei indischen Secondas in der Schweiz«, InterDIALOGOS: Soziales Engagement und Bildung in einer plurikulturellen Umwelt, Jg. 2 (2009), S. 22-25.
Franziska Jenni Studium der Ethnologie, Kunstgeschichte und Gender Studies in Basel, Bern und Dakar. Mitbegründerin von FOCUS, Plattform für zeitgenössische Kunst aus Af-
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A UTORINNEN UND A UTOREN
rika und ihrer Diaspora in Basel. Von 2009 bis 2011 Volontariat in der Abteilung Süd-, Zentral- und Ostasien am Museum der Kulturen Basel. Seit April 2011 Kuratorin der Abteilung Afrika im Museum der Kulturen Basel.
Meral Kaya Studium der Geschichte, Geschlechterforschung und Philosophie an der Universität Basel und Lausanne. 2011 Lizenziat, Lizenziatsarbeit zu »Dersim – Eine Geschichte des kurdischen Widerstandes«. Interessen: Feminismus, Alterität, Migration, Geschichte der sozialen und politischen Bewegungen und Aufstände.
Christian Koller Studium der Geschichte, Wirtschafts- und Politikwissenschaften, 1998 Promotion, 2003 Habilitation. 1997 bis 2007 Assistent/Oberassistent, 2003 bis 2011 Privatdozent und seit 2011 Titularprofessor an der Universität Zürich. 2003 bis 2005 Lehrbeauftragter an der Universität Bern. Seit 2007 Senior Lecturer an der Bangor University.
Publikationen (Auswahl) Koller, Christian, Streikkultur. Performanzen und Diskurse des Arbeitskampfes im schweizerisch-österreichischen Vergleich (1860 –1950), Münster 2009. Koller, Christian, Rassismus, Paderborn 2009. Koller, Christian, Fremdherrschaft: Ein politischer Kampfbegriff im Zeitalter des Nationalismus, Frankfurt 2005. Koller, Christian, »Von Wilden aller Rassen niedergemetzelt«. Die Diskussion um die Verwendung von Kolonialtruppen in Europa zwischen Rassismus, Kolonial- und Militärpolitik (1914 –1930), Stuttgart 2001.
Konrad J. Kuhn Studium der Geschichte, Volkskunde und Schweizergeschichte an der Universität Zürich. 2010 Promotion mit einer Studie zur politischen Kulturgeschichte der Dritte-Welt-Bewegung in der Schweiz. Lehrbeauftragter an den Historischen Seminaren der Universitäten Zürich und Basel, Dozent für Geschichte an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Seit 2012 wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Kulturwissenschaft/Europäische Ethnologie der Universität Basel.
Publikationen (Auswahl) Kuhn, Konrad J., Entwicklungspolitische Solidarität: Die Dritte-Welt-Bewegung in der Schweiz zwischen Kritik und Politik 1975-1992, Zürich 2011. Kuhn, Konrad J., Ziegler, Béatrice, »Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit – Geschichtspolitik, Gedenken und Wissenschaft in Europa«, Comparativ 19, H. 2/3(2009), S. 186-210. Kuhn, Konrad J., Fairer Handel und Kalter Krieg: Selbstwahrnehmung und Positionierung der Fair-Trade-Bewegung in der Schweiz 1973-1990, Bern 2005.
A UTORINNEN UND A UTOREN
Barbara Lüthi Juniorprofessorin an der Universität zu Köln. 2002-2009 Assistentin am Lehrstuhl Neuere Allgemeine Geschichte der Universität Basel. 2007/08 Stipendiatin des Fonds zur Förderung des akademischen Nachwuchses der Universität Basel mit Forschungsaufenthalten an der University of California, Santa Barbara und dem Chicago Center for Contemporary Theory. 2010-2011 Stipendiatin des Schweizerischen Nationalfonds für fortgeschrittene Forschende. Forschungsprojekt zu »Mobility and the Dilemma of Security in 20th Century USA and Beyond«.
Publikationen (Auswahl) Lüthi, Barbara, »Migration and Migration History«, in: Docupedia-Zeitgeschichte: Begriffe, Methoden und historische Debatten der zeithistorischen Forschung, URL: http://docupedia.de/docupedia/index.php?title=Migration_and_Migration_ History&oldid=75150, 06.05.2010. Lüthi, Barbara, »Invading Bodies«. Medizin und Immigration in den USA (18801920), Frankfurt a.M./New York 2009. Lüthi, Barbara, Brändli, Sibylle, Spuhler, Gregor (Hg.), Zum Fall machen, zum Fall werden – Wissensproduktion und Patientenerfahrung in Medizin und Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./New York 2009. David, Jérôme/Thomas David/Barbara Lüthi (Hg.), Globalgeschichte/Histoire globale/Global History, Traverse. Zeitschrift für Geschichte, Jg. 14, Nr. 3 (2007).
Martin Mühlheim Studium der Anglistik, Geschichte und Filmwissenschaft in Zürich (Lizenziatsarbeit »Past the Game of Fiction: History, Reconstruction, and Ideology in Five Narratives from the English-Speaking World«, Zürich 2004). Gegenwärtig Arbeit an einer Dissertation zum Thema Fictions of Home: Narratives of Alienation and Belonging, 1850 –2000, und Lehrbeauftragter an der Universität Zürich.
Publikationen (Auswahl) Mühlheim, Martin, »Between Wild West and Pastoral Peace: Nature, Gender, and Tragedy in Annie Proulx’s ›Brokeback Mountain‹«, In: Hyner, Bernadette H./McKenzie, Precious (Hg.), Forces of Nature. Natural(izing) Gender and Gender(ing) Nature in the Discourses of Western Culture, Newcastle upon Tyne 2009, S. 210 –241. Mühlheim, Martin/Heusser, Martin, »Narrative Space and the Location of Meaning«, Academic Exchange Quarterly, Jg. 11, Nr. 1 (2007), S. 26 –31. Mühlheim, Martin, »Hot Topics, Professed Beliefs, and Dissenting Voices. Theoretical Comments on Politics, Ideology, and Fiction«, Variations, Nr. 13 (2005), S. 133 –145.
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A UTORINNEN UND A UTOREN
Patricia Purtschert Studium der Philosophie, Geschichte und deutschen Literaturwissenschaft in Basel und Accra. 2005 Dissertation an der Universität Basel. Assistenz am Zentrum Gender Studies der Universität Basel. Forschungsaufenthalte an der UC Berkeley, Université Paris X und Humboldt-Universität zu Berlin. Seit August 2010 SNFProjekt zur Postkolonialen Schweiz an der ETH Zürich.
Publikationen (Auswahl) Purtschert, Patricia: »On the Limit of Spirit: Hegel’s Racism Revisited«, Philosophy & Social Criticism, Jg. 26(2010), S. 1039-1051. Purtschert, Patricia: »Anerkennung als Kampf um Repräsentation. Hegel lesen mit Simone de Beauvoir und Frantz Fanon«, Deutsche Zeitschrift für Philosophie Jg. 6 (2008), S. 923-33. Purtschert, Patricia/Meyer, Katrin/Winter, Yves (Hg.): Gouvernementalität und Sicherheit. Zeitdiagnostische Beiträge im Anschluss an Foucault, Bielefeld 2008. Purtschert, Patricia: Grenzfiguren. Kultur, Geschlecht und Subjekt bei Hegel und Nietzsche, Frankfurt a.M./New York 2006.
Shalini Randeria Studium der Soziologie und Sozialanthropologie in Delhi, Oxford und Heidelberg. Promotion und Habilitation an der Freien Universität Berlin. Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, Max Weber Professorin für Soziologie an der Universität München und Ordentliche Professorin und Institutsvorsteherin am Institut für Soziologie und Sozialanthropologie an der Zentraleuropäischen Universität Budapest. Frühere Präsidentin der European Association of Social Anthropologists sowie gegenwärtig Mitglied des Senates der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Seit 2003 Professorin für Ethnologie an der Universität Zürich. Ab Herbst 2012 Professur für Sozialanthropologie und Soziologie am Graduate Institute of International and Developmental Studies in Genf.
Publikationen (Auswahl) Randeria, Shalini/Conrad, Sebastian (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus: Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. (Zweite, erweiterte Ausgabe Shalini Randeria und Regina Römhild, im Druck). Randeria, Shalini/Begrich, Roger: »Kritische Anthropologie: Zur Problematik hegemonialer Wissensproduktion bei Talal Asad, Bernard S. Cohn und der Subaltern Studies Group«, in: Julia Reuter/Alexandra Karentzos (Hg.): Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, Wiesbaden (im Druck). Randeria, Shalini/do Mar Castro Varela, María/Dhawan, Nikita: »Postkolonialer Raum: Grenzdenken und Thirdspace«, in: Stephan Günzel(Hg.) Raum: Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weinmar 2010, S. 177-191. Randeria, Shalini/Eckert, Andreas (Hg.): Vom Imperialismus zum Empire: Nichtwestliche Perspektiven auf Globalisierung, Frankfurt a.M. 2009.
A UTORINNEN UND A UTOREN
Bernhard C. Schär Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie in Bern und Genf. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Politische Bildung und Geschichtsdidaktik der Pädagogischen Hochschule FHNW. 2010 bis 2011 Forschungsaufenthalt an der Universität Leiden. Laufendes Dissertationsprojekt über die Expeditionen der Basler Naturforscher Fritz und Paul Sarasin in der niederländischen Kolonie Celebes um 1900.
Publikationen (Auswahl) Schär, Bernhard C./Sperisen, Vera, »Switzerland and the Holocaust. Teaching contested history«, Journal of Curriculum Studies. National History and Beyond – Part Three, Jg. 42, H. 5 (2010), S. 649 –669. Schär, Bernhard C., »›Nicht mehr Zigeuner, sondern Roma!‹ Emanzipation, Forschung und Strategien der Repräsentation einer ›Roma-Nation‹«, Historische Anthropologie, Jg. 16, H. 2 (2008), S. 205 –226. Schär, Bernhard C., »Karies, Kulturpessimismus und KVG. Zur Geschichte der Zahnmedizin in der Schweiz«, Traverse. Zeitschrift für Geschichte, Jg. 15, H. 2 (2008), S. 99 –116.
Daniel Speich Daniel Speich Chassé, SNF-Förderungsprofessor für Geschichte an der Universität Luzern. 2005 bis 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Geschichte und Philosophie des Wissens an der ETH Zürich. 2007 als Visiting Scholar am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin. Im akademischen Jahr 2008/09 Gastprofessor an der Université de Nantes und chercheur invité am Institut d’études avancées de Nantes. Seine Forschungsinteressen umfassen die Kulturgeschichte von Wissenschaft, Technik und Umwelt sowie die Globalgeschichte. Er arbeitet an einer Wissensgeschichte der Entwicklungsökonomie.
Publikationen (Auswahl) Nützenadel, Alexander/Speich, Daniel, Themenheft zu »global inequality«, Journal of Global History, Jg. 6, H. 1 (2011). Büschel, Hubertus/Speich, Daniel (Hg.): Entwicklungswelten. Globalgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit, Globalgeschichte, Bd. 6, Frankfurt a.M. 2009.
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Postcolonial Studies Eva Bischoff Kannibale-Werden Eine postkoloniale Geschichte deutscher Männlichkeit um 1900 2011, 382 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1469-5
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