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German Pages 502 [504] Year 2016
Silke Martini Postimperiales Asien
Ordnungssysteme
Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegebenen von Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael
Band 49
Silke Martini
Postimperiales Asien Die Zukunft Indiens und Chinas in der anglophonen Weltöffentlichkeit 1919–1939
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
ISBN 978-3-11-046217-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-046438-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-046241-8 Set-ISBN 978-3-11-046439-9 ISSN 2190-1813 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Konvertus, Haarlem Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Andreas Stahl gewidmet
Danksagung Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner wissenschaftlichen Arbeit, die 2015 von der Universität Konstanz als Dissertation angenommen wurde. Der Grundstein zu dieser Arbeit wurde jedoch nicht erst mit Beginn meiner Doktorandenzeit gelegt. Es war mein jugendliches Interesse an der Geschichte Tibets und an dessen schwierigen Beziehungen zu China und zur westlichen Welt, das mich bereits bei Studienbeginn an der Universität Freiburg in die Seminare und Vorlesungen von Sabine Dabringhaus führte. Dafür, dass sie meinen Blick auf Asien bereichert und geweitet und mich bis zu meinem Magisterabschluss und darüber hinaus fachlich wie persönlich begleitet, inspiriert und gefördert hat, möchte ich ihr herzlich danken. Der Weg zur fertigen Dissertation ist spannend, voller außergewöhnlicher Begegnungen und Erfahrungen, aber zuweilen auch langwierig und steinig. Umso wichtiger waren für mich die Freunde und Kollegen, die in unterschiedlichen Stadien dieser Arbeit, in Freiburg, Konstanz und Cambridge/MA, an Doktorandentagen, in Workshops, auf Konferenzen und in persönlichen Gesprächen, mit ihrer Kritik und ihrer Ermutigung dazu beigetragen haben, dass aus ersten Ideen ein tragfähiges Konzept und schließlich dieses Buch hervorgehen konnten. Für die Durchsicht von Teilen des Manuskriptes danke ich besonders Valeska Huber, Franz Leander Fillafer, Patrick Christian Loos, Sarah Panter und Sören Urbansky; für wichtige Hinweise zum Konzept der Arbeit und die Erstellung des Zweitgutachtens geht mein besonderer Dank an Sven Reichardt. Eine bessere wissenschaftliche Heimat als am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte von Jürgen Osterhammel hätte ich nicht finden können. Um einzuschätzen, wie sehr diese Arbeit fachlich von ihrem Betreuer profitiert hat, genügt ein kurzer Blick in das Literaturverzeichnis. Mein ganz persönlicher Dank gilt dem großen Vertrauen und der unermüdlichen Unterstützung, die Jürgen Osterhammel mir und diesem Projekt zuteil werden ließ. Er stellte stets die richtigen Fragen und behielt den Überblick, wenn ich angesichts der immensen Fülle an Quellen einmal den Faden verlor. Die unabdingbaren und wertvollen Forschungsaufenthalte in den USA und Großbritannien wären ohne die Förderung durch die Studienstiftung des Deutschen Volkes und die Deutsche Forschungsgemeinschaft nicht möglich gewesen. Als großes Privileg empfinde ich zudem die Gelegenheit, meine überarbeitete Dissertation in Buchform veröffentlichen zu können. Ich danke den Herausgebern Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael für die Aufnahme in die Reihe „Ordnungssysteme“ sowie der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften für die finanzielle Förderung der Publikation.
Inhalt I Einleitung 1 Der „Aufstieg Asiens“: Eine transnationale Ideengeschichte 3 1.1 „The Changing East“: Ein Krieg und ein Perspektivwechsel 5 1.2 Text und Kontext: Zukunftsentwürfe als intellektuelle Geschichte 11 1.3 China und Indien in Zeit und Raum: Aufbau der Untersuchung 16 1.4 Ideen über Räume/Raum der Ideen: Eine transnationale Ideengeschichte der Transnationalität 19 1.5 Kultureller Relativismus als Forschungsprogramm und Forschungsobjekt 23 2 Asien in der Weltöffentlichkeit: Akteure und Strukturen im Aufstiegsdiskurs 29 2.1 Der Erste Weltkrieg und die Genese eines neuen Asienbildes 29 2.2 Amerikanische und britische Autoren der Idee: Missionare, Journalisten, Politiker 33 2.3 Asien und das Expertentum: Universitäten, Forschungsinstitute, Think Tanks 38 2.4 Schreiben zwischen Realität und Utopie, zwischen Ost und West 45 2.5 Die andere Sicht: Indische und chinesische Autoren im transnationalen Diskurs 48 2.6 Transnationale Öffentlichkeiten 52 2.7 Fazit 56
II Modernisierungsideen 3 Projekt Nationenbildung: Modernisierung im Namen der Nation 3.1 Einheit: Das „Erwachen“ zweier Nationen 69 3.2 Freiheit: Wege in eine selbstbestimmte Zukunft 83 3.3 Stärke: Zwischen Demokratie und Autoritarismus 100 3.4 Fazit 117
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Inhalt
4 Entwicklung zwischen Kapitalismus, Sozialismus und staatlicher Planung 119 4.1 Alle Hebel in Bewegung setzen: Wachstum durch Industrialisierung 121 4.2 Die Kontrolle behalten: Nationalisierung der Wirtschaft und staatliche Planung 134 4.3 Die vielen Gesichter des Sozialismus: Für eine soziale Ökonomie 147 4.4 Fazit 170 173 5 Der Mensch in der Moderne: Kultur und Gesellschaft im Wandel 5.1 Neue Fragen, neue Antworten: Intellektuelle und moralische Erneuerung 174 5.2 Allheilmittel Bildung 195 5.3 Neue Ziele, neue Rollen: Gesellschaftliche Erneuerung 211 5.4 Fazit 227
III Weltordnungskonzepte 6 Asien in der Weltpolitik: Auf der Suche nach einer neuen internationalen Ordnung 237 6.1 Kernfrage Gleichheit: Indien und China als souveräne Mächte 6.2 Die Anarchie überwinden: Internationale Kooperation und Organisation 252 6.3 Von Konkurrenz zu Kooperation? Internationaler Handel und Chancengleichheit 267 6.4 Fazit 278 7 Kulturelle Weltordnungen: Hinduismus, Christentum und die Suche nach Einheit 281 7.1 Das Genf der Idealisten: Kulturelle Kooperation 285 7.2 „Asien als Erzieher“: Kulturelle Asianismen 299 7.3 Fazit 321 8 Angst vor Asien? China und Indien in geopolitischen Machtkonstellationen 325 8.1 Neue und alte Großmächte in Asien: Die geostrategische Bedeutung Chinas und Indiens 329
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Inhalt
8.2 Geeintes Asien – starkes Asien: Politischer Panasianismus 349 8.3 Fazit 373
IV Schlussbetrachtung 9 Modernisierung und internationale Ordnung: Zur Räumlichkeit der Moderne 379 9.1 Die Internationalität der Modernisierungsprozesse 380 9.2 Das Fortschrittsnarrativ des Internationalismus 389 10 Asien, der Westen und das Paradigma der „geteilten Zukunft“: Zusammenfassung und Fazit 397 10.1 Weltwahrnehmung zwischen Universalismus und Relativismus 400 10.2 Die Transnationalität der Ideen: Mentale Dekolonisation 415 Anhang
421 425
Bibliographie Personenregister Sachregister
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I Einleitung
1 Der „Aufstieg Asiens“: Eine transnationale Ideengeschichte Im beginnenden 21. Jahrhundert ist die Rede vom „Aufstieg Asiens“ zu einem Gemeinplatz geworden. Die Prognose, dass asiatische Länder das kommende Jahrhundert entscheidend mitbestimmen werden, ist in der medialen Auseinandersetzung so allgegenwärtig wie die Zahlen und Bilder, die diesen Bedeutungsgewinn belegen: Neben hohe wirtschaftliche Wachstumsraten treten steigende militärische Investitionssummen und staatliche Machtdemonstrationen. Einer Studie des Internationalen Währungsfonds zufolge wird Asien im Jahr 2030 die größte Wirtschaftsregion der Welt sein und damit der wichtigste Wachstumsmotor für alle übrigen Weltregionen.1 Konnte das 19. Jahrhundert als das Jahrhundert Großbritanniens und das 20. noch als dasjenige Amerikas gelten, so wird nun über die Möglichkeit eines „Asiatischen Jahrhunderts“ spekuliert.2 Dabei werden Hoffnungen und Ängste geschürt. Der Bericht des IWF ist Teil einer weitverzweigten, wissenschaftliche Analysen ebenso wie kosmopolitische Utopien und xenophobische Polemiken umfassenden Publizistik über die gegenwärtige und zukünftige Entwicklung asiatischer Länder. Unzählige Monographien sowie Artikel in Tageszeitungen und Zeitschriften widmeten sich in den letzten beiden Jahrzehnten dem aufstrebenden Asien. China mit seiner volkswirtschaftlichen Kraft, seinem wachsenden politischen Einfluss und kulturellen Sendungsbewusstsein dominiert dabei die öffentliche Wahrnehmung. Den Bedingungen und Manifestationen seines immensen Aufschwungs, der sich für einige Analysten bereits in den 1980er Jahren abzeichnete, als sich das Land nach außen zu öffnen begann,3 gilt dabei längst nicht mehr die alleinige mediale Aufmerksamkeit. Die weitreichenden Konsequenzen für Gesellschaft und Umwelt, die ihn begleiten, werfen vielmehr Fragen nach der
1 Dabei wird vom BIP Asiens (inklusive Australien und Neuseeland) in Relation zu den G7 ausgegangen. Siehe Anoop Singh: „Asia leading the Way“, F&D, Bd. 47, Nr. 2 (Juni 2010), 4–7, hier 4. 2 Siehe etwa Kishore Mahbubani: „The Case against the West: America and Europe in the Asian Century“, FA, Bd. 87, Nr. 3 (Juni 2008), 111–124; Karl Pilny: Das Asiatische Jahrhundert: China und Japan auf dem Weg zur neuen Weltmacht, Frankfurt 2005; Theo Sommer: „Is the 21st Century going to be the Asian Century?“, Asien, 100 (Juli 2006), 70–78, sowie die Studie der Asian Developing Bank: Harinder S. Kohli/Ashok Sharma/Anil Sood (Hg.): Asia 2050: Realizing the Asian Century, Neu Delhi 2011. 3 Siehe z. B. die frühen Werke der Amerikaner Dwight Perkins: China: Asia’s Next Economic Giant?, Seattle 1986, sowie Harry Harding: China’s Second Revolution: Reform after Mao, Washington 1987. DOI 10.1515/9783110464382-001
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I Einleitung
Tragfähigkeit und Wünschbarkeit dieser Entwicklung auf. China scheint die realpolitischen und normativen Grenzen seines Aufstiegs zu erreichen.4 Umso brisanter ist der Vergleich mit Indien, dem zweiten großen Hoffnungsträger Asiens und geopolitischen Konkurrenten Chinas.5 Dabei ist es gerade die Mischung aus der Ähnlichkeit ihrer demographischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen einerseits und der Verschiedenheit ihrer politischen Systeme andererseits, die den Stoff für den „Contest of the century“ liefert, wie der britische Economist im August 2010 titelte.6 In seinem kulturellen Pluralismus, seiner politischen Diskussionskultur, seiner liberalen Marktorientierung und nichtregulativen Bevölkerungspolitik sehen Beobachter die Basis für eine vorteilhafte nationale und internationale Entwicklung Indiens – nicht nur in absoluten Werten, sondern gerade auch in Relation zu China.7 Obwohl die tiefgreifenden Probleme Indiens nicht ausgeblendet werden, scheint es anders als China sein wirtschaftliches, politisches und soziokulturelles Potential – ein Schlüsselbegriff des Aufstiegsdiskurses8 – noch nicht ausgeschöpft zu haben.9
4 „Is China creating a miracle or mirage?“, lautet die programmatische Frage des China Rises Companion der New York Times, der auf ein interdisziplinäres, pädagogisch ausgerichtetes Forschungsprojekt zurückgeht. Hier findet sich auch ein guter Überblick über die amerikanische Aufstiegsliteratur über China seit den 1980er Jahren: http://www.nytimes.com/ref/college/collchina-overview.html, abgerufen am 27.5.14. 5 Seit einigen Jahren wächst die Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen den beiden größten asiatischen Ländern in einem Maße, dass sie die Bezeichnung „Chindia“ hervorbrachte. Siehe Jairam Ramesh: Making Sense of Chindia. Reflections on China and India, New Delhi 2005. Für den deutschsprachigen Raum siehe z. B. Karl Pilny: Tanz der Riesen. Indien und China prägen die Welt, Frankfurt 2006. Auf die Konkurrenz der beiden Länder in Afrika verweist Amita Batra: „The Rise of China and India: Regional and Global Perspectives“, Indian Foreign Affairs Journal, Bd. 6, Nr. 4 (Oktober–Dezember 2011), 449–460, hier 453–455. Es wird auch betont, dass es vor allem an Indien ist, auf den Aufstieg Chinas richtig zu reagieren, nicht andersherum. Siehe H. V. Pant (Hg.): The Rise of China: Implications for India, Neu Delhi 2012. 6 „China and India. Contest of the century“, TE, Bd. 396, Nr. 8696 (21. August 2010), 9–10. 7 Es ist hier etwa von einer „demographischen Dividende“ zwischen einem alternden China und einem jung bleibenden Indien die Rede. Siehe Nicholas Kristof: „Slums into Malls“, The New York Times, Onlineausgabe, 28. Mai 2011 [http://www.nytimes.com/2011/05/29/opinion/29kristof. html, abgerufen am 26.5.14]. Kristof widmete dem indischen Take-off seine Sonntagskolumne bei der New York Times. Einflussreich im Sinne einer starken indischen Demokratie argumentiert Amartya Sen: The Argumentative Indian. Writings on Indian Culture, History and Identity, London 2005. 8 Edward Luce: „Indiaʼs Fortune: The Prospects of a Country on the Rise“, Besprechung von Nandan Nilekani: Imagining India: The Idea of a Renewed Nation, FA, Bd. 88, Nr. 4 (Juli/August 2009), 144–149, hier 144. 9 Die enormen Widersprüche zwischen Weltmachtanspruch und Armut werden auch herausgearbeitet bei Harald Müller: Weltmacht Indien. Wie uns der rasante Aufstieg herausfordert, Frankfurt
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Zentrales Merkmal der aktuellen Aufstiegsdebatte über China und Indien ist der Versuch, nicht nur die komplexen Wandlungsprozesse in den beiden Ländern als solche zu begreifen, sondern auch deren globale Implikationen abzuschätzen. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die beiden Länder mit ihrem wachsenden wirtschaftlichen und politischen Einfluss umgehen und welche Auswirkungen sich daraus für das weltweite Machtgefüge ergeben. Vor dem Hintergrund von 9/11 mit seinen weitreichenden sicherheitpolitischen Folgen und der Weltfinanzkrise nach 2007 wird die Multipolarität einer „post-amerikanischen Welt“10 Realität, in der eine postulierte Allgemeingültigkeit westlich geprägter Werte und Normen ebenso zur Debatte steht wie die immer noch weitgehend darauf basierenden internationalen Ordnungsstrukturen. Die beiden interpretativen Pole des Aufstiegs Asiens finden sich dabei einerseits in Nullsummen-Szenarien vom gleichzeitigen Niedergang Amerikas als führende westliche Macht11 sowie andererseits in Konzeptionen eines westlich-asiatischen Machtgleichgewichts durch internationale Integration, in dem unaufhaltsame Globalisierungsprozesse jedoch weiterhin die Dominanz des politischen und wirtschaftlichen Liberalismus westlicher Prägung im Allgemeinen und eine Führungsposition der USA im Besonderen garantieren.12 Gemeinsam ist diesen Prognosen die Anerkennung eines wachsenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Selbstbewusstseins asiatischer Länder, das die Anpassung tradierter Ordnungs- und Rollenbilder im Westen verlangt.
1.1 „The Changing East“: Ein Krieg und ein Perspektivwechsel Obwohl die mediale Auseinandersetzung mit dem Aufstieg Asiens seit Beginn des 21. Jahrhunderts durch die weltweiten politischen und wirtschaftlichen 2 006. Einen Überblick über die Indien-zentrierte Aufstiegsliteratur bietet Helmut Reifeld: „Weltmacht trotz Armut: Indien gibt es nur im Plural“, KAS-Auslandsinformationen, 2/07, 79–104. 10 Fareed Zakaria: The Post-American World and the Rise of the Rest, New York 2008. 11 Siehe etwa Kishore Mahbubani: The New Asian Hemisphere: The Irresistible Shift of Global Power to the East, New York 2008, sowie die Kritik daran von G. J. Ikenberry: „China and the Rest Are Only Joining the American-Built Order“, NPQ, Bd. 25, Nr. 3 (Juli 2008), 18–21. 12 In diesem Sinne liest sich Fareed Zakaris einflussreiches Werk wie ein außenpolitisches Strategiekonzept für Washington. Siehe die Rezension von Christian Hacke: „Anpassung und Gelassenheit. Die Rolle der Vereinigten Staaten im 21. Jahrhundert“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Onlineausgabe, 19. Mai 2009 [http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/politik/anpassungund-gelassenheit-1803165.html, abgerufen am 28.10.14]. Ähnlich wie Zakaria argumentieren E. S. Steinfeld: Playing Our Game: Why China’s economic rise doesn’t threaten the West, Oxford/New York 2010, sowie G. J. Ikenberry: „The Rise of China and the Future of the West. Can the Liberal System Survive?“, FA, Bd. 87, Nr. 1 (Januar/Februar 2008), 23–37.
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I Einleitung
ntwicklungen eine neue Dringlichkeit erhalten hat, ist sie kein neues Phänomen. E Für eine Beurteilung der heutigen Prognosen, der Themen, die darin berührt, und der Denkschemata, die darin angewandt werden, ist es wichtig zu sehen, dass sie über eine Vorgeschichte verfügen. Prognosen eines zukünftigen Bedeutungsgewinns asiatischer Länder finden sich vereinzelt schon vor und dann vermehrt nach 1900.13 Dominic Sachsenmaier und Sebastian Conrad haben darauf hingewiesen, dass die weltpolitischen Verhältnisse zwischen 1880 und 1940 insofern der heutigen Zeit ähneln, als auch sie von der Suche nach einer funktionalen Weltordnung im Spannungsfeld zwischen Globalisierung und Polarisierung geprägt waren.14 Besonders im Zuge des Ersten Weltkrieges mit seiner integrativen wie desintegrativen Wirkung auf das internationale System fühlten sich einige westliche Beobachter inspiriert – und gezwungen – ihren Blick auf Asien zu schärfen. Als Mitglieder des neu gegründeten Völkerbundes sahen sich die politischen Wortführer Chinas und Indiens nun als Teil der „internationalen Gesellschaft zivilisierter Staaten“15. Zusätzlich gespeist von der Freiheitsrhetorik während des Krieges und der Welle an Nationalstaatsgründungen nach dem Zerfall der großen kontinentalen Imperialreiche Europas und Westasiens, intensivierten die Nationalbewegungen beider Länder den politischen Widerstand gegen die Kolonialmächte und machten ihr Recht auf nationale Selbstbestimmung geltend.16 Obwohl sich die europäischen Überseereiche unter dem Mandatssystem des Völkerbundes noch vergrößerten, machte die „Illusion der Permanenz“17 dieser Reiche einer 13 Einen Überblick über das europäische Asienbild um 1900 geben Niels P. Petersson/Jürgen Osterhammel: „Ostasiens Jahrhundertwende. Unterwerfung und Erneuerung in west-östlichen Sichtweisen“, in: Ute Frevert (Hg.): Das Neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Göttingen 2000, 265–306. 14 Dominic Sachsenmaier/Sebastian Conrad: „Introduction: Competing Visions of World Order. Global Moments and Movements, 1880s–1930s“, in: dies. (Hg.): Competing Visions of World Order. Global Moments and Movements, 1880s–1930s, New York/Basingstoke 2007, 1–28, hier 3. Siehe auch Ian Clark: Globalization and Fragmentation. International Relations in the Twentieth Century, Oxford 1997, 75–78. 15 Siehe G. W. Gong: The Standard of ‚Civilization‘ in International Society, Oxford 1984. Daniel Gorman identifiziert die „internationale Gesellschaft“ mit dem Internationalismus der Nachkriegszeit. Siehe Daniel Gorman: The Emergence of International Society in the 1920s, Cambridge 2012, 1–20. 16 Die besondere Dynamik und gemeinsamen Beweggründe dieser Bewegungen wird beschrieben bei Erez Manela: „Dawn of a New Era: The ‚Wilsonian Moment‘ in Colonial Contexts and the Transformation of World Order, 1917–1920“, in: Sachsenmaier/Conrad: Competing Visions of World Order, 121–149. 17 Die Formulierung wurde geprägt von F. G. Hutchins: The Illusions of Permanence: British Imperialism in India, Princeton 1967. Siehe auch Benedikt Stuchtey: Die europäische Expansion und ihre Feinde. Kolonialismuskritik vom 18. bis in das 20. Jahrhundert, München 2010, 24. Die
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wachsenden Kolonialismuskritik Platz, die sich mit europäischen wie außereuropäischen Stimmen artikulierte. Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg kann vor diesem Hintergrund auch von der Frühphase der Dekolonisation gesprochen werden18 – eine Situation, die vor allem das wirtschaftlich enorm geschwächte Großbritannien herausforderte und gleichzeitig den Vereinigten Staaten von Amerika, die ebenso wie die aufstrebende ostasiatische Macht Japan gestärkt aus dem Krieg hervorgingen, eine neue internationale Führungsrolle eröffnete.19 Nach der Katastrophe des Krieges galt es, der sich verändernden Weltlage eine Bedeutung zuzuschreiben und die Chancen und Probleme zu ermessen, die sich durch ein dynamisiertes Asien für den Westen ergaben. Einige beschworen mit viel Pathos eine „Gelbe Gefahr“20 in Asien herauf oder extrapolierten aus gegenwärtigen Handelszahlen die Entstehung eines neuen Weltwirtschaftszentrums in Asien, in dem und demgegenüber sich die etablierten Mächte positionieren mussten.21 Andere sahen den Aufschwung asiatischer Länder als Antrieb für mehr politische Offenheit und Integration in der Weltpolitik oder postulierten die Überbrückung kultureller Differenzen zwischen Asien und der westlichen Welt.22 In jedem Fall schien die tradierte Vorstellung eines statischen, geschichtslosen Asien23 immer weniger mit dem kompatibel zu sein, was in den Medien über ntikoloniale Kritik in Großbritannien untersuchen auch Stephen Howe: Anticolonialism in Brita ish Politics. The Left and the End of Empire, 1918–1964, Oxford 1993, besonders 28–71, sowie Nicholas Owen: The British Left and India. Metropolitan Anti-Imperialism, 1885–1947, Oxford 2007. 18 Siehe Jan Jansen/Jürgen Osterhammel: Dekolonisation. Das Ende der Imperien, München 2013, 29–32. So ließ der Krieg „die ersten Elemente einer grundlegenden Legitimationskrise kolonialer Herrschaft erkennen“: ebd., 32. Den Prozess der Dekolonisation assoziiert Prasenjit Duara nicht nur mit der Übertragung politischer Souveränität an kolonisierte Gebiete, sondern auch mit einer antiimperialistischen Bewegung und der dieser zugrunde liegenden emanzipatorischen Ideologie. Siehe Prasenjit Duara: „Introduction: the decolonization of Asia and Africa in the twentieth century“, in: ders. (Hg.): Decolonization. Perspectives from now and then, London/New York 2004, 1–18, hier 2. 19 Siehe etwa Tomoko Akami: Internationalizing the Pacific. The United States, Japan and the Institute of Pacific Relations in war and peace, 1919–1945, London/New York 2002, sowie E. S. Rosenberg: Spreading the American Dream. American Economic and Cultural Expansion, 1890– 1945, New York 1982, 108–121. Die Gleichzeitigkeit von Fragmentierungs- und Integrationstendenzen nach dem Krieg wird hervorgehoben von T. T. Metcalf: Imperial Connections. India in the Indian Ocean Arena 1860–1920, Berkeley/Los Angeles/London 2007, 12. 20 Zur Geschichte des Schlagwortes der „Gelben Gefahr“: Ute Mehnert: Deutschland, Amerika und die Gelbe Gefahr. Zur Karriere eines Schlagworts in der Großen Politik, 1905–1917, Stuttgart 1995. 21 Siehe etwa die Studie von John Eperjesi über die Asienrepräsentationen amerikanischer Wirtschaftskreise: J. R. Eperjesi: The Imperialist Imaginary. Visions of Asia and the Pacific in American Culture, Hanover/London 2005. 22 Siehe etwa Akira Iriye: Cultural Internationalism and World Order, Baltimore/London 1997, 39–50. 23 Dieses Bild bekam schon um 1900 erste Risse. Entscheidend hierfür war u. a. der chinesische Boxeraufstand von 1899 bis 1901. Siehe Jonathan Utley: „America views China, 1900–1915: The
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I Einleitung
die Ereignisse in asiatischen Ländern zu lesen war – oder was man selbst vor Ort erlebte, gehörte man zu der wachsenden Gruppe von Asienreisenden. Die erstarkenden Nationalbewegungen Chinas und Indiens machten offenkundig, dass sich die beiden Länder in einem Wandlungsprozess befanden und dass sich dieser Prozess auf die innere Ordnung der internationalen Gesellschaft auswirken musste. Auf der Basis umfassender Untersuchungen ihres politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungspotentials kamen einige Beobachter zu dem Ergebnis, dass China und Indien trotz ihres gegenwärtigen Status kolonialer beziehungsweise semi-kolonialer Fremdbestimmtheit eine „große Zukunft“ beschieden sein musste. Vor dem Hintergrund der vielfältigen, oft konkurrierenden Interessen ihrer Länder in Asien fühlten sich besonders Amerikaner und Briten dazu aufgerufen, die Bedingungen, Formen und Konsequenzen des Aufstiegs Chinas und Indiens auszuloten. Von globaler Reichweite waren auch die Strategien der Selbstbehauptung, die gleichzeitig und in einem engen Wechselverhältnis mit der westlichen Asienpublizistik von indischen und chinesischen Intellektuellen entwickelt wurden.24 Ihre programmatischen Entwürfe für eine neue innere Ordnung ihrer jeweiligen Heimatländer gingen untrennbar mit Konzeptionen zukünftiger Weltordnungen einher.25 Nicht in jedem Fall waren diese Konzeptionen mit denjenigen der tonangebenden Mächte kompatibel: „Competing Visions of World Order“ – nicht selten mit einer dezidiert anti-westlichen Note – florierten unter asiatischen Intellektuellen, die mit westlicher Kultur zwar vertraut, jedoch nicht davon eingenommen waren.26 Wie die europäische und amerikanische Asienpublizistik verfügt auch die intensivierte Auseinandersetzung asiatischer Intellektueller mit den nwelcome but inevitable awakening“, in: Jonathan Goldstein/Jerry Israel/Hilary Conroy (Hg.): U America Views China. American Images of China Then and Now, Bethlehem/London/Toronto, 1991, 114–132. 24 Siehe zum Begriff der Selbstbehauptung: Iwo Amelung/Matthias Koch/Joachim Kurtz/EunJeung Lee/Sven Saaler (Hg.): Selbstbehauptungsdiskurse in Asien: China – Japan – Korea, München 2003. Und zur Abgrenzung des Begriffs von der Forderung nach Selbstbestimmung den Sammelband von Michael Lackner (Hg.): Zwischen Selbstbestimmung und Selbstbehauptung. Ostasiatische Diskurse des 20. und 21. Jahrhunderts, Baden-Baden 2008. 25 Der Zusammenhang von nationalen und internationalen Entwicklungskonzepten wird betont bei Dominic Sachsenmaier: „Alternative Visions of World Order in the Aftermath of World War I: Global Perspectives on Chinese Approaches“, in: ders./Conrad: Competing Visions of World Order, 151–178, hier 170. 26 Siehe hierzu Rana Mitter/Akira Iriye: „Foreword“, in: Sachsenmaier/Conrad: Competing Visions of World Order, vii–viii, sowie Cemil Aydin: The Politics of Anti-Westernism in Asia. Visions of World Order in Pan-Islamic and Pan-Asian Thought, New York 2007, und Michael Adas: „Contested Hegemony: the Great War and the Afro-Asian assault on the civilizing mission ideology“, in: Duara: Decolonization, 78–100.
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Praktiken, Theorien und Ideologien des „Westens“ über ihre eigene Geschichte, die sich etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts beschleunigte. Aus der Fülle der verschiedenen Antworten auf die Globalisierungstendenzen der „westlichen Moderne“ zur „Weltkultur“27 ist unmöglich eine einheitliche, gesamtasiatische Rezeptionstradition extrahierbar; jedoch kann konstatiert werden, dass diese Rezeption von Beginn an keine bedingungslose war und auch gesellschafts- und imperialismuskritische Theorien westlichen Ursprungs aufnahm.28 Die vorliegende Arbeit handelt also von vergangener Projektion asiatischer Zukunft. Sie will zeigen, dass die Wurzeln des heutigen Aufstiegsdiskurses über Indien und China in den zehn bis zwanzig Jahren nach dem Ersten Weltkrieg liegen, als das Nachdenken über Asien neue Impulse aus den weltpolitischen Umbrüchen, eine neue perspektivische Vielfalt und eine klare Zukunftsorientierung erhielt.29 Die aus der intellektuellen Landschaft der Zwischenkriegszeit nicht wegzudenkende Erfolgsgeschichte der „westlichen Zivilisation“ wurde mit dem makrohistorischen Narrativ des aufsteigenden Asiens in einen komplexen und komplementären Zusammenhang gebracht.30 Dieses Narrativ avancierte wenn nicht zu einem Thema der Massen, so doch zu einem Modethema US-amerikanischer, britischer, indischer und chinesischer Intellektueller, die hier in den Fokus gerückt werden. Die Realität internationaler Verflechtungen und Konflikte offenbarte, dass die Zukunft Asiens von derjenigen anderer Erdteile nicht zu trennen
27 J. W. Meyer: Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, Frankfurt 2005. 28 Siehe Jürgen Osterhammel: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Bonn 2001, 88. Siehe auch C. A. Bayly: Recovering Liberties. Indian Thought in the Age of Liberalism and Empire, Cambridge 2012, 4. 29 Während der Schwerpunkt der Analyse auf den 1920er Jahren liegt, soll ein Blick in die 1930er Jahre hinein Aussagen darüber zulassen, ob und inwiefern sich angesichts wachsender internationaler Spannungen Tonänderungen ergaben. Torsten Weber hat auf die Problematik hingewiesen, die sich mit dem Begriff der Zwischenkriegszeit ergibt, sobald der Blick auf Ostasien fällt. Siehe Torsten Weber: „Wer und was spricht für ‚Großasien‘? Chancen und Grenzen eines transnationalen Diskurses im Interbellum Ostasiens 1919–1931“, in: Sönke Kunkel/Christoph Meyer (Hg.): Aufbruch ins postkoloniale Zeitalter. Globalisierung und die außereuropäische Welt in den 1920er und 1930er Jahren, Frankfurt/New York 2012, 145–167, hier 148. Obwohl der Zweite Weltkrieg in Ostasien bereits 1937 begann und gerade im Fall Chinas keinesfalls von einer gewaltfreien Zeit zwischen den Kriegen gesprochen werden kann, wird hier jedoch der Begriff der Zwischenkriegszeit aus Gründen der Praktikabilität angewandt. 30 Johann Arnason argumentiert, dass „Visions of an Asian resurgence“ im kurzen 20. Jahrhundert nicht üblich waren: J. P. Arnason: „Contested divergence. Rethinking the ‚rise of the West‘“, in: Gerard Delanty (Hg.): Europe and Asia Beyond East and West, London/New York 2006, 77–91, hier 77–78. Der Band zielt auf eine „kosmopolitische“ Beziehungsgeschichte zwischen Asien und Europa.
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war; die Wahrnehmung einer sich räumlich und zeitlich verengenden Welt,31 in der sich nationale und internationale Probleme und Normen, Zuständigkeiten und Identitäten immer stärker verschränkten32 und sich ein wachsendes globales Bewusstsein in internationalen Organisationen verdichtete,33 floss auf vielfältige Weise in die Projektion der zukünftigen west-östlichen Beziehungen ein. Es ist Aufgabe dieser Studie, das Geflecht verschiedenster Zukunftsentwürfe über Asien vor dem Hintergrund dieser Weltwahrnehmung zu rekonstruieren, also auch die ihnen zugrunde liegenden „Wissens-, Wirklichkeits- und Rationalitätsstrukturen“34 aufzudecken. Ein vergleichender Blick auf Indien und China ist dabei aus mehreren Gründen lohnenswert: Nicht nur waren es diese beiden Länder, denen die Zeitgenossen aufgrund der schieren Größe von Territorium und Bevölkerung ein Großmachtspotential attestierten; auch luden die offensichtlichen Gemeinsamkeiten ebenso wie die eklatanten Unterschiede ihrer soziokulturellen sowie innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen schon damals zu Vergleichen ein. Die vergleichende Perspektive dieser Arbeit dient also mehr einer möglichst genauen hermeneutischen Annäherung an den historischen Aufstiegsdiskurs über Asien als einer streng systematischen Gegenüberstellung zweier Vergleichseinheiten. Ein Vergleich der unterschiedlichen Beziehungskonstellationen Chinas und Indiens mit der westlichen Welt hilft zudem, den Blick für zwei Hauptmerkmale des Aufstiegsdiskurses zu schärfen: seine Aufarbeitung entwicklungsprogrammatischer und ordnungsgebender Facetten der „westlichen Moderne“ sowie seinen transnationaler Charakter. Die vorliegende Arbeit möchte die historische Projektion asiatischer Zukunft als Geschichte des transnationalen Ideenaustausches über die Entwicklung Chinas und Indiens im Weltkontext greifbar machen. Sie bedient sich dabei ideen- und welthistorischer Ansätze, die inhaltlich wie strukturell in einen fruchtbaren Zusammenhang gebracht werden.
31 Es waren technologische Innovationen neben kulturellen Veränderungen, die Stephen Kern zufolge das Erleben von Raum und Zeit zwischen 1880 und 1918 revolutionierten. Siehe Stephen Kern: The Culture of Time and Space 1880–1918, London 1983, 1. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Evokation von „Interconnectedness“ im Zuge der Zeitreform zu Beginn des 20. Jahrhunderts findet sich bei Vanessa Ogle: The Global Transformation of Time, Cambridge/ London 2015. 32 Siehe u. a. Glenda Sluga: Internationalism in the Age of Nationalism, Philadelphia 2013, v. a. Kap. 2. 33 Siehe Akira Iriye: Global Community. The Role of International Organizations in the Making of the Contemporary World, Berkeley/London 2002, 8–9. 34 Achim Landwehr: Historische Diskursanalyse, Frankfurt/New York 2008, 165. Landwehr sieht in dieser Fragestellung eine besondere Gegenwartsrelevanz, da sie zeigen kann, inwiefern Wirklichkeiten und Wahrheiten historisch produziert werden. Siehe ebd., 168.
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1.2 Text und Kontext: Zukunftsentwürfe als intellektuelle Geschichte Wer die verschiedenartigen Ideen zukünftiger Weltgeltung für Indien und China historisch aufarbeiten möchte, der stößt schnell an die Grenzen einer Ideengeschichte im engeren Wortsinn. Die auf literaturwissenschaftlichen und philosophischen Grundlagen aufbauende „History of Ideas“ wird vor allem mit dem amerikanischen Historiker Arthur O. Lovejoy in Verbindung gebracht, der dieses Forschungsfeld in den 1930er und 1940er Jahren mitbegründete.35 Eine solche Ideengeschichte ist vor allem an den „großen ewigen Fragen“36 menschlicher Existenz und ihrer Beantwortung in der Geschichte interessiert.37 Lovejoy ging davon aus, dass individuelle Ideen über eigene, in unterschiedlicher Weise von Brüchen und Kontinuitäten geprägte „life-histories“38 verfügten, die in den Texten bedeutender politischer Theoretiker von der europäischen Antike bis zur Aufklärung und darüber hinaus nur erkannt werden mussten. Es war vor allem diesem Verständnis von Ideen als „quasiorganische, zeitlose Einheiten“39 geschuldet, dass seit den 1960er Jahren unter den Vertretern des Faches vermehrt Kritik an Lovejoys Ansatz aufkam. Zu dieser Zeit entwickelte eine Forschergruppe um Quentin Skinner und J. G. A. Pocock im englischen Cambridge die methodischen Grundlagen einer „Intellectual History“, die darauf abzielte, Ideen wieder im „eigentlich historischen Sinne“40 zu untersuchen, 35 1940 erschien die erste Ausgabe des Journal of the History of Ideas. Siehe D. J. Wilson: Arthur O. Lovejoy and the Quest for Intellegibility, Chapel Hill 1980, 194–195. 36 Martin Mulsow/Andreas Mahler: „Einleitung“, in: dies. (Hg.): Die Cambridge School der Politischen Ideengeschichte, Berlin 2010, 7–17, hier 8. 37 Sie nimmt dabei eine Kanonisierung vergangenen politischen Denkens insbesondere des europäisch-nordamerikanischen Kulturkreises vor. Obwohl sich die wichtigste Forschungsplattform der von Lovejoy geprägten Ideengeschichte im angloamerikanischen Raum, das Journal of the History of Ideas, heute bewusst auch außereuropäischen Denkern zuwendet, bleibt der Fokus auf die westliche Welt erhalten. Siehe das Interview mit Warren Breckman, Mitherausgeber der Zeitschrift, über dessen programmatische Ausrichtung: „Interview with Warren Breckman, University of Pennsylvania“, University of Pennsylvania Press (Oktober 2007) [http://jhi. pennpress.org/media/5287/breckmaninterview.pdf, abgerufen am 2.6.14]. 38 A. O. Lovejoy: „The Historiography of Ideas“, in: ders.: Essays in the History of Ideas, Baltimore 1948, 1–13, hier 9. Wichtige Beiträge zur methodischen Verortung dieser kanonischen Variante der Ideengeschichte lieferte neben Lovejoy auch George Boas: The History of Ideas: An Introduction, New York 1969. Boas betonte v. a. den Fokus der Ideengeschichte auf bewusst geäußerte und wiedererkennbare Ideen. Siehe ebd., 19. 39 Barbara Stollberg-Rilinger: „Einleitung“, in: dies. (Hg.): Ideengeschichte, Stuttgart 2010, 7–41, hier 13. 40 Eckhart Ellmuth/Christoph von Ehrenstein: „Intellectual History Made in Britain: Die Cambridge School und ihre Kritiker“, GG, Bd. 27, Nr. 1 (Januar–März 2001), 149–172, hier 153. Skinner
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nämlich in ihrer Gebundenheit an eine spezifische historische Situation. Ideen historisch zu rekonstruieren, bedeutete, sie von ihrer überzeitlichen und oft anachronistischen Essentialisierung in einer Reihe von Worten oder Sätzen zu lösen und den Blick zu weiten auf ihren Gebrauch „by a particular agent on a particular occasion with a particular intention (his intention) to make a particular statement“41. Um die Absichten eines Autors nachzuvollziehen, mussten die gattungsspezifischen und wissensdisziplinarischen Rahmenbedingungen und Adressaten seiner Texte sowie insbesondere die Denktraditionen und sprachlichen Konventionen42 bestimmt werden, die in diesen Texten zum Tragen kamen oder die er – möglicherweise in einem konfliktträchtigen und innovativen Akt43 – darin brach. Eine genaue Interpretation historischen Denkens machte es also notwendig, einen Text in den Kontext der Äußerungen anderer – mal mehr, mal weniger bekannter – zeitgenössischer Autoren zu stellen, auf die er antwortete, denen er widersprach und mit denen er einen „Gesprächszusammenhang, einen Diskurs“44 bildete. Der kontextualistische Ansatz der Cambridge School ist auch für die vorliegende Untersuchung richtungweisend. Zum einen handelt es sich beim Nachdenken über die Zukunft Asiens kaum um eine einheitliche, in sich abgeschlossene Idee; vielmehr bündelt es eine ganze Reihe von nicht immer kohärenten Ideen, Ideologien und Glaubenssätzen sowie unbewussten Haltungen, Vorurteilen und Stereotypen, die sich nur zu einem geringen Teil in klar identifizierbaren
ezog sich dabei u. a. auf den britischen Geschichtsphilosophen R. G. Collingwood, für den alle b Geschichte aus der Geschichte des Denkens bestand. Siehe Giuseppina DʼOro/James Connelly: „Robin George Collingwood“, in: E. N. Zalta (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Onlineausgabe (Sommer 2010) [http://plato.stanford.edu/archives/sum2010/entries/collingwood/, abgerufen am 3.6.14], v. a. Kap. 4. Siehe auch Stollberg-Rilinger: „Einleitung“, 21. 41 Quentin Skinner: „Meaning and Understanding in the History of Ideas“, History and Theory, Bd. 8, Nr. 1 (1969), 3–53, hier 37 [Hervorhebung i. O.]. Damit fiel der Fokus auf den Autor eines Textes und seiner darin vollzogenen Sprachhandlung. Skinner war darin beeinflusst von der Sprachakttheorie nach J. L. Austin und J. R. Searle. Siehe Hellmuth/von Ehrenstein: „Intellectual History“, 155. 42 Sprachliche Konventionen können definiert werden als „das ‚Normale‘, vor dem die spezifischen ideengeschichtlichen Auseinandersetzungen und Eigenheiten erst sichtbar werden“: Mulsow/Mahler: „Einleitung“, 10. Der Analyse politischer Sprachen widmete sich vor allem Pocock. Siehe etwa Pocock: „The concept of language“. 43 Skinner war besonders an den Neuerungen interessiert, die ein bestimmter Sprechakt gegenüber sprachlichen Konventionen vollzog. Siehe Hellmuth/von Ehrenstein: „Intellectual History“, 156. Auch der Einfluss der Wissenschaftsgeschichte Thomas Kuhns und dessen Konzept des Paradigmenwechsels waren hier bedeutend. Siehe Skinner: „Meaning and Understanding“, 7. 44 Stollberg-Rilinger: „Einleitung“, 20–21, 24, sowie auch Mulsow/Mahler: „Einleitung“, 10–11. Zum diskursiven Charakter von Ideengeschichte auch ausführlicher Marcus Llanque: Politische Ideengeschichte – Ein Gewebe politischer Diskurse, München/Wien 2008.
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Schlagworten ausdrücken und sich in einer großen thematischen Bandbreite entfalten.45 Zum anderen lassen sich die themenrelevanten Äußerungen nicht hinlänglich als Kanon formalisierter Studien derjenigen Autoren erfassen, die aus heutiger Perspektive als einflussreich gelten. Die intellektuelle Geschichte in der Tradition Skinners macht den Weg frei für einen umfassenden Quellenkorpus: Monographien, Rezensionen, Aufsätze in Monats- und Wochenzeitschriften, Zeitungsartikel sowie Reden und Pamphlete liegen dieser Untersuchung hauptsächlich zugrunde.46 Eine wichtige Aufgabe sieht sie gerade darin, die enorme Vielfalt der Aufstiegsideen über China und Indien offenzulegen. Somit kommen Wissenschaftler, freie Sachbuchautoren, Journalisten und Kirchenleute ebenso zu Wort wie politische Aktivisten, Parlamentarier, Staatsbeamte und Diplomaten – die bereits hoch angesehenen Vertreter ihres Metiers ebenso wie die noch nicht etablierten oder schnell wieder vergessenen.47 Ein großer Teil dieser Autoren lässt sich mit dem Begriff des Intellektuellen beschreiben beziehungsweise einer intellektuellen Elite zuordnen. Damit kann
45 Aus diesem Grund greift hier auch der Ansatz der Begriffsgeschichte zu kurz. Hilfreicher ist der Begriff der „Mentalität“, der von der französischen Annales-Schule eingeführt wurde. Er weist jedoch über das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit in dem Sinne hinaus, dass er auf die Faktoren abzielt, welche die Geisteshaltung einer ganzen Gesellschaft bzw. sozialen Gruppe zu einer bestimmten Zeit prägten. Einführend zur Mentalitätengeschichte in einem internationalen Kontext siehe Robert Frank: „Mentalitäten, Vorstellungen und internationale Beziehungen“, in: Wilfried Loth/Jürgen Osterhammel (Hg.): Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten, München 2000, 159–185. 46 Die Arbeit stützt sich vor allem auf veröffentlichte Quellen, wobei Fiktion und andere Formen künstlerischer Gestaltung ausgeschlossen wurden. Archivalien werden an einzelnen Stellen herangezogen, um Argumente zu bekräftigen. 47 Einen ähnlichen Ansatz verfolgte Heinz Gollwitzer mit seiner Geschichte des Weltpolitischen Denkens, die in zwei Bänden bereits 1972 und 1982 in Göttingen erschien. Wenngleich der Versuch unternommen wurde, eine möglichst großen Zahl an Autoren zu Wort kommen zu lassen, folgt die Auswahl der Autoren vor allem zwei strukturellen und inhaltlichen Kriterien: Zum einen werden v. a. diejenigen Autoren herangezogen, die auch von den Zeitgenossen als wichtige Beiträger zur Debatte verstanden und zitiert wurden und die sich meistens, wenn auch nicht ausschließlich, durch eine auffallend große Zahl von Beiträgen auszeichneten; die unabdingbare Orientierung an diesen „Trägern“ der Debatten macht jedoch die Seitenblicke auf weniger dominante Autoren, die sich v. a. in den themenrelevanten Zeitschriften zu Wort meldeten, umso notwendiger. Zum anderen zeigten die ausgewählten Autoren eine klare Neigung zur Abstraktion und zogen über ihren spezifischen – ökonomischen, politischen, missionarischen etc. – Rahmen fachlicher und sozialer Verankerung und dem damit verbundenen inhaltlichen Fokus auf die zukünftige Entwicklung Chinas und Indiens hinaus breitere Schlüsse über die internationalen und interkulturellen Dimensionen und Implikationen dieser Prozesse. Zur Logik der Korpusbildung siehe auch Kapitel 2, wo die wichtigsten Autoren und deren institutionelle Verankerung ausführlicher vorgestellt werden.
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jedoch nicht nur jener Intellektuelle gemeint sein, dem Wolf Lepenies ein zwischen Utopie und Melancholie schwankendes Weltverständnis zuspricht und dem er den wissenschaftlichen Denker mit seinem aufgeklärten und erklärenden Blick auf die Welt gegenüberstellt.48 Vielmehr wird er mit Richard Posner als „öffentlicher Intellektueller“ verstanden, der sich besonders durch seine gesellschaftliche Funktion auszeichnet: Er richtet sich mit wertenden Äußerungen zu Fragen von großem öffentlichen Interesse an ein breites Publikum; er wird dabei sehr schnell zum rhetorischen Mittel der Vorhersage greifen, nicht immer zum Zwecke einer möglichst realistischen Abbildung zukünftiger Entwicklungen, sondern auch – hier nähert er sich der Utopie an – im Sinne einer fiktionalen Skizzierung von aus seiner Sicht überzeugenden und möglicherweise auch moralisch richtigen innergesellschaftlichen und weltumspannenden Zuständen.49 In jedem Fall aber nehmen so definierte Intellektuelle als „Experten für gedankliche Ordnungen der Wirklichkeit durch Ideenbildung und Sinndeutung“50 meist eine kritische Haltung in wichtigen Gegenwarts- und Zukunftsfragen ein. Auch die Autoren, auf deren Texten diese Untersuchung aufbaut, werden als öffentliche und kritische Akteure mit einer „wirklichkeitskonstituierenden“ Argumentationskraft verstanden. Ihren kulturellen Denktraditionen, sozialen Lebensumständen, politischen Interessen, institutionellen Anbindungen und medialen Kommunikationsformen muss für eine Interpretation ihrer Zukunftsentwürfe ebenso Rechnung getragen werden wie den historischen Ereignissen und Entwicklungen, auf die sie mit ihren Texten reagierten.51 Es waren nicht zuletzt die nationalen Emanzipationsbewegungen in China und Indien und deren Auswirkungen auf britische und amerikanische Interessen, die den
48 Wolf Lepenies: Aufstieg und Fall der Intellektuellen in Europa, Frankfurt/New York/Paris 1992, 16. 49 Siehe R. A. Posner: Public Intellectuals: A Study of Decline, Cambridge, MA/London 2001, 35, 128–147. Es kann in diesem Zusammenhang auch von „public moralists“ gesprochen werden. Siehe hierzu etwa die Ausführungen Benedikt Stuchteys in Kolonialismuskritik, 36. Und für eine breite Anwendung des Begriffs siehe Stefan Collini: Public Moralists. Political Thought and Intellectual Life in Britain 1850–1930, Oxford 1991. Collini spricht den Intellektuellen in ihrer gesellschaftlichen Funktion eine grundsätzliche kulturelle Autorität zu. Siehe ebd., 28. 50 Gangolf Hübinger: Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte, Göttingen 2006, 10. Siehe auch ebd., 22–23. 51 Vgl. Stuchtey: Kolonialismuskritik, 34. Stuchtey legt dar, dass die politische und gesellschaftliche Gestaltungskraft der Intellektuellen zwar begrenzt, aber durchaus vorhanden war. Siehe ebd., 35. Obwohl von einer sehr unterschiedlich ausgeprägten Wirkkraft der Autoren auch in dieser Untersuchung ausgegangen werden kann, liegt hier jedoch nicht das primäre Erkenntnisinteresse.
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Prognosen – entsprechend der Innen- oder Außenperspektive eines Autors – gleichsam einen Rahmen vorgaben. Jedoch will diese Arbeit keine Sammlung intellektueller Biographien sein: Ein solches Unterfangen ist schon allein aufgrund der großen Zahl der berücksichtigten Autoren und ihrer unterschiedlichsten Kontexte unpraktikabel.52 Vielmehr werden die Autoren und ihre Texte als konstitutive Teile des Aufstiegsdiskurses über Asien behandelt, der sich durch eine breite Quellenbasis gerade in seinem besonderen Detailreichtum offenbart; dies schließt freilich nicht aus, dass einzelnen Autoren darin eine zentrale Stellung zukommt: sei es, weil sie eine herausragende „diskursive Kreativität“53 aufwiesen und den Debatten entscheidende Impulse gaben, sei es, weil ihre Aussagen als Einzelmeinungen herausstachen. Die historische Diskursanalyse, die somit angestrebt wird, folgt keinem formalen Diskursbegriff, wie er etwa mit einer machttheoretischen Unterfütterung von Michel Foucault eingeführt wurde.54 Sie will vielmehr mit Guenther Lottes den Aufstiegsdiskurs als Verhandlungsraum bestimmter Sachverhalte und Probleme verstanden wissen, der nicht zuletzt dazu diente, die Erfahrung oder Wahrnehmung von sich wandelnden Lebens- und Weltverhältnissen zu bewältigen.55 Die einzelnen Themen, die dabei berührt wurden, können als wichtige Bedeutungs- und Strukturelemente der intellektuellen Auseinandersetzung mit Asien betrachtet werden.56 Obgleich nicht streng voneinander abgrenzbar, stellen sie wichtige Kristallisationspunkte in einer Prognostik dar, die in ihrer ganzen inhaltlichen Bandbreite nicht enzyklopädisch erfasst werden kann.57
52 Auch das Verhältnis eines Autors zu seinen Texten und deren Stellung in seinem Lebenswerk müsste in einer intellektuellen Biographie problematisiert werden. Siehe hierzu Dominick LaCapra: „Rethinking Intellectual History and Reading Texts“, in: ders./S. L. Kaplan (Hg.): Modern European Intellectual History. Reappraisals and new perspectives, Ithaca/London 1982, 47–85, hier 60. Ein solches Projekt wäre darüber hinaus auch dadurch erschwert, dass in einigen Fällen schlicht keine ausführlichen biographischen Informationen vorliegen. 53 Peter Haslinger: „Diskurs, Sprache, Zeit, Identität. Plädoyer für eine erweiterte Diskursgeschichte“, in: F. X. Eder (Hg.): Historische Diskursanalyse. Genealogie, Theorie, Anwendungen, Wiesbaden 2006, 27–50, hier 34. 54 Siehe Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt 1991 [franz. Erstausgabe: 1971]. 55 Siehe Günther Lottes: „‚The state of the art‘: Stand und Perspektiven der ‚intellectual history‘“, in: Frank-Lothar Kroll (Hg.): Neue Wege in der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, Paderborn 1996, 27–45, hier 44–45. 56 Siehe zur Definition des „Themas“ in Abgrenzung zum „Diskurs“ Haslinger: „Diskurs“, 40– 42. 57 Bei der Auswahl der Themen, Autoren und Perspektiven besteht entsprechend kein A nspruch auf Vollständigkeit.
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1.3 China und Indien in Zeit und Raum: Aufbau der Untersuchung In stark abstrahierter und essentialisierter Form lässt sich der „Aufstieg“ Chinas und Indiens als eine Bewegung in Zeit und Raum beschreiben: In der Zeit, weil der Begriff des Aufstiegs Prozesscharakter hat, auf bestehende Zeitvorstellungen verweist, dabei einen „Fortschritt“ impliziert; und im Raum, weil er schon semantisch in einer – räumliche Vergleichsgrößen voraussetzenden – Hierarchie eine „Richtung“ vorgibt und dabei auf bestehende Raumvorstellungen verweist. Die beiden Analysekategorien Zeit und Raum zeichnen sich im Aufstiegsdiskurs deutlich ab. Sie bilden das hermeneutische Grundgerüst für die zwei stark miteinander verwobenen Themenkomplexe, die das Nachdenken über die Zukunft Asiens nach dem Ersten Weltkrieg vorstrukturierten: Dies sind zum einen die Möglichkeiten und Bedingungen der Modernisierung Indiens und Chinas (Teil II), sowie zum anderen ihre Rolle in zukünftigen politischen und kulturellen Weltordnungen (Teil III). Nationalismus, Kapitalismus, Rationalismus und Individualismus bildeten den ideologischen Kern eines „modernen Zeitalters“, in das man China und Indien eintreten sah. Weniger systematisch und theoretisch unterfüttert als die späteren Modernisierungstheoretiker, aber mit demselben Gestaltungseifer, beschrieben und analysierten britische, amerikanische, chinesische und indische Autoren die Veränderungen und Probleme der beiden Länder im Modernisierungsprozess und formulierten entsprechende Reformvorschläge. Oft griffen sie dabei auf ein Geschichtsparadigma zurück, das seit der europäischen Aufklärung von einer progressiv-evolutionären Entwicklung der Menschheit ausging und es erlaubte, „das Vergangene und Gegenwärtige zur minderen Vorstufe des Künftigen zu erklären“.58 Dieses Geschichtsbild wurde jedoch zunehmend in Frage gestellt. Einflussreiche Werke wie Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes (1918/1922) waren symptomatisch für einen Zukunfts- und Kulturpessimismus, der sich besonders nach dem Ersten Weltkrieg unter europäischen Intellektuellen breit machte.
58 A. U. Sommer: Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant, Basel 2006, 429. Eine ideenhistorische Aufarbeitung des Fortschrittsparadigmas findet sich bei Robert Nisbet: History of the Idea of Progress, New Brunswick/London 1994. Eng mit dem Fortschritts- und Modernisierungsparadigma in der Geschichtsphilosophie verbunden ist die Vorstellung einer universellen Menschheitszivilisation. Siehe hierzu etwa Brett Bowden: The Empire of Civilization: The Evolution of an Imperial Idea, Chicago/London 2009, Kap. 3 und 4.
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Nicht jede Veränderung bedeutete Fortschritt. Die Möglichkeit von Regression und zivilisatorischem Niedergang musste grundsätzlich anerkannt und die Versprechen der westlichen Moderne kritisch geprüft werden – dies umso mehr, als diese bereits kein einheitliches Bild mehr bot: Sozialismus, Anarchismus und Faschismus lieferten alternative Modelle zum Liberalismus angloamerikanischer Provenienz.59 Die zukünftige Entwicklung Chinas und Indiens war also keinesfalls vorherbestimmt. Nachdem in Kapitel 2 ein Blick auf die historischen, beruflichen und institutionellen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der Asienpublizistik nach dem Ersten Weltkrieg geworfen wurde, soll eine detaillierte Untersuchung konkurrierender Vorstellungen der politischen (Kapitel 3), wirtschaftlichen (Kapitel 4) und kulturellen (Kapitel 5) Entwicklung der beiden Länder eine differenzierte Interpretation des Modernisierungstopos ermöglichen. In dem Maße, wie sich Autoren den Zustand der Moderne für Indien und China ganz unterschiedlich ausmalten, wurde der Aufstieg der beiden Länder im Weltmaßstab an verschiedene Bedingungen auf nationaler Ebene geknüpft, die im Detail herauszuarbeiten sind. Die westliche Moderne, wie sie mit den Lebensverhältnissen insbesondere in den USA und Westeuropa assoziiert wurde, bildete dabei einen wichtigen positiven wie negativen Referenzrahmen. Wie Dominic Sachsenmaier feststellt, waren alle Zukunftsdebatten gewissermaßen auch Debatten über die Bedeutung und Wirkkraft des „Westens“.60 Unabhängig von der Herkunft des Autors oszillierten Ideen für eine Modernisierung Chinas und Indiens zwischen der Priorisierung einer nationalen Stärkung nach dem Vorbild der großen Mächte einerseits und dem Bedürfnis nach sozial und kulturell versöhnlicheren Lösungswegen innerer Probleme andererseits; zwischen der Suche nach universalen Standards und der Forderung nach kultureller Differenzierung. Vorstellungen davon, nach welchen Prinzipien die Welt geordnet sein sollte, in der sich Indien und China – durch innere Wandlungsprozesse gestärkt – wiederfinden würden, und welche Rolle sie darin einnehmen sollten, bildeten den zweiten großen Themenkomplex im Aufstiegsdiskurs. Vor dem Hintergrund der tatsächlichen und der wahrgenommenen weltpolitischen Umbrüche im Zuge des Ersten Weltkrieges entstanden Entwürfe für eine strukturelle und prinzipielle Neuformierung der internationalen Beziehungen. Neue und alte
59 Zur Rezeption verschiedener ideologischer Modelle in China siehe Dominic Sachsenmaier: „Chinese Debates on Modernization and the West after the Great War“, in: J. C. E. Gienow-Hecht (Hg.): Decentering Empire, New York/Oxford 2007, 109–131, sowie Werner Meißner: China zwischen nationalem „Sonderweg“ und universaler Modernisierung. Zur Rezeption westlichen Denkens in China, München 1994. Für eine ideenhistorische Aufarbeitung des Untergangsthemas siehe Arthur Herman: The Idea of Decline in Western History, New York 1997. 60 Siehe Sachsenmaier: „Chinese Debates“, 118.
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transnationale, regionale und globale Räume wurden evoziert, um darin die Signifikanz Indiens und Chinas zu verhandeln. Die Mehrdeutigkeit des Begriffs der „Weltordnung“, welcher der deskriptiven oder normativen Deutung zum einen von „relativ stabilen Beziehungsmustern im Verhältnis von Kollektiven“, zum anderen von dynamischen Globalisierungsprozessen dient und mithin auch als „diffuse Bezeichnung von etwas Umfassendem und Ganzheitlichem“61 zur Anwendung kommt, eignet sich besonders, um diese Raumvorstellungen zu deuten. Visionen einer Welt, in der spirituelle und kulturelle Kräfte wirken, um eine Ordnung jenseits nationaler und kultureller Grenzziehungen zu realisieren (Kapitel 7), standen Szenarien zukünftiger internationaler und regionaler Machtverteilung auf der Basis geographischer Gegebenheiten gegenüber (Kapitel 8). Zwischen diesen perspektivischen Polen entfalteten sich internationalistische Ideen einer zukünftigen Weltordnung, die internationale Integration und Kooperation als prinzipiell richtungweisend erklärten und als notwendig anerkannten, ohne jedoch das Primat der nationalen Souveränität gänzlich aufzugeben (Kapitel 6). So verschieden diese Ansätze für eine (Neu-)Ordnung der Welt waren, so schrieben sie alle China und Indien eine wichtige, wenn nicht zentrale Position darin zu: als Partner für die internationale Friedenssicherung, als spirituelle Quellen der Einheit oder als Konkurrenten auf dem Weltmarkt. Wann „realistische“ und „idealistische“ Weltbilder dabei weit auseinanderwiesen, wann und unter welchen Umständen sie sich jedoch annäherten, wird im Einzelnen zu zeigen sein.62 Die imperialistische Machtpolitik des 19. Jahrhunderts und die ihr zugrunde liegenden Denkmuster stellten ein schweres politisches und ideologisches Erbe dar, das sich auch bei Propagandisten einer „progressiven“ Weltordnung häufig in nationaler und regionaler Interessen- und Identitätswahrung niederschlug.63 Eine abschließende Reflexion über den engen Zusammenhang zwischen Modernisierungsideen und Weltordnungskonzeptionen soll vor diesem Hintergrund das Geschichtsbild und den Fortschrittsbegriff der Autoren in den Fokus rücken (Kapitel 9). Trat Asien aus seiner „Zeitlosigkeit“ heraus, dann
61 Jürgen Osterhammel: „Weltordnungskonzepte“, in: Jost Dülffer/Wilfried Loth (Hg.): Dimensionen internationaler Geschichte, München 2012, 409–425, hier 409–410. 62 Über die Realismus-Idealismus-Dichotomie in der Theorie der Internationalen Beziehungen wird in der Einleitung zu Teil III noch mehr zu sagen sein. Die Dichotomie war lange Zeit paradigmatisch für die Disziplingeschichte der Internationalen Beziehungen. Siehe Peter Wilson: „The myth of the ‚First Great Debate‘“, RIS, Bd. 24, Nr. 5 (Dezember 1998), 1–16. 63 Siehe hierzu vor allem den von David Long und B. C. Schmidt herausgegebenen Sammelband Imperialism and Internationalism in the Discipline of International Relations, Albany 2005. Siehe auch Osterhammel: „Weltordnungskonzepte“, 418.
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konnte dies für das Narrativ vom Aufstieg und Fall der Zivilisationen und den Verlauf der Menschheitsgeschichte nicht konsequenzlos bleiben. Mit der Beschreibung und Interpretation verschiedener Ideen von der zukünftigen Bedeutung Indiens und Chinas in der Welt soll ein Beitrag zur Geschichte des internationalen Denkens in der Zwischenkriegszeit geleistet werden. Diese erfreut sich seit den 1990er Jahren wieder eines großen wissenschaftlichen Interesses. Wie David Armitage darlegt, ist es einigen methodischen Neuerungen geschuldet, dass es in neuester Zeit zu einer Annäherung zwischen Politischer Theorie, Internationalen Beziehungen und Geschichtswissenschaft kam; Letztere wandte sich dabei ab von klassischer Diplomatiegeschichte und hin zu Fragestellungen, die transnationale Ströme, Kultur und Ideen in den Fokus rücken. Vor dem Hintergrund des wachsenden Interesses an der Geschichte der Globalisierung ergeben sich Armitage zufolge aus dieser Annäherung zwei Ansätze, die sich überlappen und gegenseitig beeinflussen: eine intellektuelle Geschichte des Internationalen und eine internationalisierte intellektuelle Geschichte.64 Die vorliegende Arbeit möchte beide Ansätze verfolgen.
1.4 Ideen über Räume/Raum der Ideen: Eine transnationale Ideengeschichte der Transnationalität Ein so umrissener dualer Ansatz bedeutet zunächst, dass Ideen als wirkungsvoller Bestandteil der internationalen Geschichte behandelt werden.65 Die Wiederentdeckung des „Raumes“ als wichtige Analyse- und Deutungskategorie in der
64 Siehe David Armitage: Foundations of Modern International Thought, Cambridge 2013, 2–7. Ähnlich Jürgen Osterhammel: „Internationale Geschichte, Globalisierung und die Pluralität der Kulturen“, in: Loth/Osterhammel: Internationale Geschichte, 389–408, hier 393. Wandte sich die Politische Theorie verstärkt globalen Zusammenhängen zu, so begann man sich auf dem Forschungsfeld der Internationalen Beziehungen für die eigene Disziplingeschichte und für die „Sprache“ des Internationalen zu interessieren. Einen Überblick über die (revisionistische) Disziplingeschichte gibt Duncan Bell: „Writing the world: disciplinary history and beyond“, IA, Bd. 85, Nr. 1 (2009), 3–22. 65 Dies gilt auch für die innergesellschaftliche Dimension der internationalen Geschichte: Siehe Eckart Conze: „Zwischen Staatenwelt und Gesellschaftswelt. Die gesellschaftliche Dimension in der Internationalen Geschichte“, in: Loth/Osterhammel: Internationale Geschichte, 117–140, hier 131. Der außenpolitischen Wirkkraft von Ideen widmen sich sozial-konstruktivistische Forschungsansätze. Siehe hierzu Sebastian Harnisch: „Sozialer Konstruktivismus“, in: Carlo Masala/Frank Sauer/Andreas Wilhelm (Hg.): Handbuch der Internationalen Politik, Wiesbaden 2010, 102–116, hier 110–111.
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Geschichtswissenschaft66 lenkt die Aufmerksamkeit dabei auf jene „Weltbilder“,67 „gedachte Ordnungen“68 oder „mental maps“, die „fast jeder politisch interessierte Zeitzeuge mit sich herum[trägt]“69 und die seine Wahrnehmung anderer Nationen und Völker prägen. Wie Duncan Bell bekräftigt, ist der Versuch, die verschiedenen Art und Weisen zu ergründen, „in which previous generations of thinkers conceived the dynamics of global politics“,70 angesichts des enormen Interesses der heutigen Zeit an Globalität, Großreichen und „Zivilisation“71 von ungebrochener Aktualität. Eine Analyse der Zukunftsentwürfe für China und Indien und der ihnen zugrunde liegenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen72 Weltordnungskonzeptionen kann dazu beitragen, ein Licht auf Formen west-östlicher Raumwahrnehmung in der Zwischenkriegszeit zu werfen.
66 Seit einiger Zeit ist vom „spatial turn“ der Geschichtswissenschaft die Rede. Siehe hierzu grundlegend: Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München/Wien 2003. Schlögel definiert den „spatial turn“ als „gesteigerte Aufmerksamkeit für die räumliche Seite der geschichtlichen Welt – nicht mehr, aber auch nicht weniger“: ebd., 68. Einen Überblick über alte und neue raumorientierte Ansätze in der deutschen Geschichtsschreibung gibt Jürgen Osterhammel: „Die Wiederkehr des Raumes: Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie“, NPL, Bd. 43 (1998), 374–397. 67 Hans Gebhardt/Helmuth Kiesel (Hg.): Weltbilder, Berlin/Heidelberg 2004. Iris Schröder und Sabine Höhler führten für eine Historisierung des Denkens in globalen Bezügen den Begriff der „Welt-Räume“ ein. Siehe Iris Schröder/Sabine Höhler: „Welt-Räume. Annäherungen an eine Geschichte der Globalität im 20. Jahrhundert“, in: dies. (Hg.): Welt-Räume. Geschichte, Geographie und Globalisierung seit 1900, Frankfurt/New York 2005, 9–50, hier 12. 68 Conze: „Zwischen Staatenwelt und Gesellschaftswelt“, 132. 69 Jürgen Osterhammel: „Raumbeziehungen. Internationale Geschichte, Geopolitik und historische Geographie“, in: Loth/Osterhammel: Internationale Geschichte, 287–308, hier 307. 70 Duncan Bell: „Victorian visions of global order: an introduction“, in: ders. (Hg.): Victorian Visions of Global Order, New York 2007, 1–25, hier 17–18. 71 Die Entwicklung dieses Konzeptes untersucht Bruce Mazlish: Civilization and its Contents, Stanford 2004. Der Begriff „Zivilisation“ verwies demnach zuerst auf den Prozess der Zivilisierung durch eine Reihe von kulturellen, wirtschaftlichen und politischen „Verbesserungen“ und später auf das Ergebnis dieses Prozesses, das wiederum identitätsstiftend wirkte. Er steht damit in enger Verwandtschaft zum Konzept der Moderne. Von Bedeutung für diese Arbeit ist besonders die intrinsische Spannung des Konzepts zwischen seiner Interpretation als „particularly Eurocentric perspective, which in the eighteenth century meant the ideas and ideals of the philosophes“ einerseits und als „universalistic measuring rod against which all societies could be compared“ andererseits. Siehe ebd., 12–17. 72 Hierbei ist die Definition Jacinta O’Hagans hilfreich, wonach sich der Begriff der kulturellen Weltordnung auf „assumptions about the nature of interactions between civilizational identities in world politics“ bezieht: Jacinta O’Hagan: Conceptualizing the West in International Relations. From Spengler to Said, Basingstoke/New York 2002, 3.
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Über die Bestimmung räumlicher Repräsentationen hinaus verweist der „spatial turn“ in den Geschichtswissenschaften auch auf den geographischen Raum, in dem sich die Ideen über die Zukunft Indiens und Chinas entfalteten. In der einfachen Erkenntnis, dass sich Ideen ihrem Wesen nach einer räumlichen Eingrenzung entziehen, liegen nicht nur Versuche einer „history of the borderless world“73 begründet, sondern auch das kosmopolitische Selbstverständnis der Ideengeschichte.74 Jedoch ergeben sich aus der angenommenen Mobilität von Ideen neue Herausforderungen, soll auch der methodische Anspruch ihrer Kontextualisierung erfüllt sein. Neue Ansätze einer „Global Intellectual History“ haben sich zum Ziel gesetzt, die Verbreitung von Ideen wenn nicht in jedem Fall in einem globalen Kontext, so doch „beyond familiar geographical boundaries“75 zu untersuchen, ohne ihre spezifische lokale Gebundenheit zu vernachlässigen. Indem herausgearbeitet wird, wo sie entstanden, wo sie angenommen und verändert, wo sie abgelehnt wurden, werden Ideen kartographiert, mögliche Zonen, Kanäle und Netzwerke des transnationalen Ideenaustausches identifiziert.76 Auch die Idee vom Aufstieg Indiens und Chinas hatte grenzüberschreitenden Charakter und speiste sich aus verschiedenen räumlichen Kontexten. Spätestens mit der Ausbreitung der europäischen Kolonialreiche seit der Mitte des 18. Jahrhunderts hatten Autoren Zugang zu Informationen von außerhalb ihrer direkten räumlichen Umgebung.77 Immer mehr waren sie in der Lage, auf politische, wissenschaftliche, journalistische, missionarische und private Plattformen und Kanäle zurückzugreifen, um Ideen über nationale und kulturelle Grenzen hinweg zu verbreiten und zu diskutieren. Ihre Texte waren an Leser dies- und jenseits
73 A. G. Hopkins: „The History of Globalization – and the Globalization of History?“, in: ders. (Hg.): Globalization in World History, London 2002, 11–46, hier 21. 74 Siehe Armitage: Foundations, 19–20. 75 Siehe Samuel Moyn/Andrew Sartori: „Approaches to Global Intellectual History“, in: dies. (Hg.): Global Intellectual History, New York 2013, 3–30, hier 21. Auch Emma Rothschild stellt die besonderen Schwierigkeiten einer transnationalen intellektuellen Geschichte heraus, aber auch ihre Chancen, etwa um die Veränderlichkeit von Ideen aufzuzeigen und den Fokus auf „high thought“ zu überwinden: Emma Rothschild: „Arcs of Ideas. International History and Intellectual History“, in: Gunilla Budde/Sebastian Conrad/Oliver Janz (Hg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, 217–226, hier 222–224. 76 Die Wissenschaftsgeschichte wird gemeinhin als Vorreiter bei der Verräumlichung von Ideen genannt. Siehe etwa die grundlegende Studie von Steven Shapin: Die wissenschaftliche Revolution, Frankfurt 1998. In der globalen Geschichte wird auf das komplexe Geflecht lokaler und globaler Entstehungsbedingungen dieses neuen Forschungsparadigmas hingewiesen. Siehe Dominic Sachsenmaier: Global Perspectives on Global History. Theories and Approaches in a Connected World, Cambridge 2011, 4–6. 77 David Armitage spricht von „global possibilities of thought“. Siehe Armitage: Foundations, 24.
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dieser Grenzen gerichtet: an „transnationale Öffentlichkeiten“ sowie zunehmend an eine alle Kontinente übergreifende und als Beobachtungsinstanz der Weltpolitik dienende „Weltöffentlichkeit“, die jedoch sehr viel weniger verdichtet daherkamen, als dies in nationalen Kontexten der Fall war.78 In den grenzübergreifenden Wahrnehmungsprozessen und Ideentransfers konstituiert sich der beziehungsgeschichtliche Charakter des Aufstiegsdiskurses, der mit den Methoden des historischen Vergleichs gerade deshalb nur bedingt erfasst werden kann, weil jener zu einer Gegenüberstellung nationaler Einheiten tendiert, die mit der transnationalen Perspektive gerade überwunden werden sollen.79 Die nationale Dimension als wichtiger Identitäts- und Bedeutungszusammenhang ist jedoch aus der transnationalen Geschichte und so auch aus dieser Untersuchung nicht wegzudenken.80 Wie auch die Objekte der untersuchten Zukunftsentwürfe – China und Indien –, sollen Autoren nicht systematisch, aber immer dann national vergleichend betrachtet werden, wenn es dem Erkenntnisinteresse der Arbeit dient: wenn also die Identifikation wichtiger nationaler Unterschiede oder Gemeinsamkeiten der Interpretation ihrer Ideen zuträglich ist.81 Die so verstandene transnationale Ideengeschichte soll zudem durch eine transkulturelle Perspektive erweitert werden, um „die Erfahrung von Vielfalt, Divergenz, manchmal auch Unvereinbarkeit und Konflikt“82 zum Ausdruck zu bringen.
78 Siehe Friedrich Kießling: „(Welt-)Öffentlichkeit“, in: Dülffer/Loth: Dimensionen internationaler Geschichte, 85–105, hier 95–101. Kießling betont hier auch, dass v. a. bei der Weltöffentlichkeit weniger von einem empirisch belegten als von einem imaginierten Kommunikationsraum ausgegangen werden muss. Siehe auch Rudolf Stichweh: „Die Entstehung einer Weltöffentlichkeit“, in: Harmut Kaelble/Martin Kirsch/Alexander Schmidt-Gernig (Hg.): Transnationale Identitäten und Öffentlichkeiten im 20. Jahrhundert, Frankfurt 2002, 7–33, hier 57–66. 79 Jürgen Kocka: „Transnational Approaches to Historical Sciences in the Twentieth Century. International Historical Congresses and Organizations“, in: E. Q. Wang/F. L. Fillafer (Hg.): The Many Faces of Clio. Cross-cultural Approaches to Historiography. Essays in Honor of Georg G. Iggers, New York/Oxford 2007, 175–186, hier 184–185. Kocka zeigt sich hier jedoch auch überzeugt, dass sich vergleichende Ansätze mit Fragen nach historischer Verflechtung gewinnbringend verbinden lassen. 80 Siehe etwa K. K. Patel: „Überlegungen zu einer transnationalen Geschichte“, in: Jürgen Osterhammel (Hg.): Weltgeschichte, Stuttgart 2008, 67–89, hier 74–75. 81 Zahlreiche Forschungsarbeiten haben die jeweiligen Vorzüge und Überschneidungen von Transferanalyse und Vergleich diskutiert. Siehe etwa Johannes Paulmann: „Internationaler Vergleich und internationaler Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts“, HZ, Bd. 267, Nr. 3 (Dezember 1998), 649–685, sowie den Überblick bei Hartmut Kaelble: „Die Debatte über Vergleich und Transfer und was jetzt?“, in: H-Soz-u-Kult, 2. Februar 2005 [http://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-574, abgerufen am 10.8.16]. 82 Jürgen Osterhammel: „Alte und neue Zugänge zur Weltgeschichte“, in: ders. (Hg.): Weltgeschichte, Stuttgart 2008, 9–34, hier 11. Dazu auch Arjun Appadurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis/London 1994, 12–14. Ebenso sind interkulturelle
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1.5 Kultureller Relativismus als Forschungsprogramm und Forschungsobjekt Da die Geschichte der transnationalen Zukunftsentwürfe über China und Indien auch eine Geschichte west-östlicher Wahrnehmungen und Beziehungen ist, kann sie nicht geschrieben werden, ohne die Kritik der postkolonialen Theorie ernst zu nehmen, die den Blick für Eurozentrismen und die implizite oder explizite Universalisierung westlicher Modernisierungswege schärft.83 Im Bewusstsein dieser Kritik gilt es, Weltgeschichte zu dezentralisieren:84 Dies geschieht erstens dort, wo die europäische Moderne in Relation zu anderen Formen moderner Zivilisation gesetzt und die „Vielfalt der Moderne“ betont wird,85 sowie zweitens, indem im Sinne des Konzeptes der „geteilten Geschichte“86 der Anteil außereuropäischer Gesellschaften am historischen Wandel – nicht zuletzt ihre Rolle für die Formierung der europäischen Moderne – aufgedeckt wird.87 rozesse, „die sich in breiteren Zonen des Kontakts, der ‚Hybridität‘, der sich überlappenP den Ränder von zwei (manchmal auch mehreren) relativ beharrungskräftigen Zivilisationen abspielen“, für die Kontextualisierung der Aufstiegsprognosen von Bedeutung: Osterhammel: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats, 40. Zur Unterscheidung von interkulturellem Transfer (von Ideen, Gütern, Menschen, Institutionen) und Kulturtransfer (im Sinne einer Hochkultur) siehe Paulmann: „Internationaler Vergleich“, 678–679. 83 Siehe u. a. Dipesh Chakraberty: Provincializing Europe: Postcolonial thought and historical difference, Princeton 2000, sowie Andre Gunder Frank: ReOrient. Global Economy in the Asian Age, Berkeley/Los Angeles/London 1998. Die postkoloniale Theorie wurde maßgeblich von Edward Saids Kritik des Orientalismus als imperialistischer Machtdiskurs vorangebracht. Siehe E. W. Said: Orientalism, New York 1978. Neuere Untersuchungen setzen sich kritisch mit den Prämissen der postkolonialen Theorie und ihrer Tendenz zur Vereinfachung auseinander. Ein Beispiel ist D. M. Varisco: Reading Orientalism. Said and the Unsaid, Seattle/London 2007. 84 Christopher Bayly plädiert für eine „global history of ideas, one that also stresses the multicentered origins of ideological production“: C. A. Bayly: The Birth of the Modern World, 1780– 1914: Global Connections and Comparisons, Malden/Oxford 2004, 470–471. 85 Siehe Dominic Sachsenmaier/Jens Riedel/Shmuel Eisenstadt: „The Context of the Multiple Modernities Paradigm“, in: dies. (Hg.): Reflections on Multiple Modernities. European, Chinese and other interpretations, Leiden/Boston/Köln 2002, 2–23. 86 Der Begriff der „geteilten Geschichte“ kann im Sinne von Gemeinsamkeiten und Verflechtungen („shared history“, „gemeinsame Geschichte“), aber auch von Abgrenzungen und Brüchen („divided history“, „getrennte Geschichte“) verstanden werden und steht damit für die „Ambiva lenzen einer Geschichte des Austauschs und der Interaktionen“. Siehe Sebastian Conrad/Shalini Randeria: „Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt“, in: dies. (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/New York 2013, 32–70, hier 39–44. 87 Für die konstitutive Austauschbeziehung zwischen Europa und der außereuropäischen Welt setzte die Studie von Ann Stoler und Frederick Cooper Maßstäbe: Ann Stoler/Frederick
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Die vorliegende transnationale Ideengeschichte versteht den Zukunftsdiskurs über China und Indien als Moment einer Geschichte der Verwobenheit, ohne die eurozentrischen Grundlagen eben dieses Diskurses verschleiern zu wollen: So wurden die englischsprachigen Texte, auf denen diese Arbeit beruht, auch von Seiten asiatischer Intellektueller zwar explizit mit Blick auf ein transnationales Publikum verfasst, jedoch handelte es sich bei diesen Intellektuellen zweifelsohne um eine Auswahl westlich gebildeter und der westlichen Kultur zugewandter Personen. Erleichterten internationale Organisationen und Netzwerke einerseits den transnationalen Ideenaustausch, so garantierten sie andererseits die Integration asiatischer Intellektueller in weitgehend westlich geprägte Wissenstraditionen und Kommunikationsstrukturen. Die Evokation dieser Netzwerke und Strukturen als Zeichen von Vernetzung und Globalität sollte nicht über die „Grenzen der Globalisierung“, den ideologischen und nicht selten nationalistischen Charakter von „Connectivity talk“ und die Persistenz internationaler Hierarchien und Ungleichheiten hinwegtäuschen.88 Weniger für den indischen89 als für den chinesischen Kontext muss vor diesem Hintergrund auch berücksichtigt werden, dass bedeutende Denker der Zeit auf den Gebrauch des Englischen verzichteten und sich mit ihren Zukunftsentwürfen in bewusster Abgrenzung zu westlichen Kultureinflüssen an eine durch die chinesische Schriftsprache definierte Öffentlichkeit richteten.90 Angesichts der Geschichte imperialer Expansion ist es unabdingbar, die Faktoren der Kompromittierung eines politisch und kulturell unvoreingenommenen Austauschs von Ideen und Wissen ebenso wie die darin verankerten Machtverhältnisse – also die Bedeutung von „Machtwissen“91 – mitzudenken und zu problematisieren. Gleichzeitig sollte dies nicht dazu ooper: „Between Metropole and Colony. Rethinking a Research Agenda“, in: dies. (Hg.): Ten C sions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley 1997, 1–56. Die Vorteile einer Einbeziehung nicht-westlicher Perspektiven speziell für die Analyse des internationalen Denkens betonen die Beiträge in: Robbie Shilliam (Hg.): International Relations and Non-Western Thought. Imperialism, colonialism and investigations of global modernity, London/New York 2011. 88 Siehe Valeska Huber: „Eine Sprache für alle: Basic English und die Grenzen der Globalgeschichte“, in: Boris Barth/Stefanie Gänger/Niels P. Petersson (Hg.): Globalgeschichten. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Frankfurt/New York 2014, 175–204, sowie Vanessa Ogle: The Global Transformation of Time, Cambridge/London 2015, 204. 89 Siehe zur Sprachproblematik in Bezug auf Indien Bayly: Recovering Liberties, vii–viii. 90 Zwar kann der chinesische Aufstiegsdiskurs somit nicht in seiner vollen Bandbreite abgebildet werden, jedoch liegt die Berücksichtigung chinesischer Quellen nicht im methodischen Rahmen der Untersuchung. Der anglophone Charakter der untersuchten Weltöffentlichkeit wird in Kapitel 2 noch genauer dargelegt. 91 Eine kritische Auseinandersetzung mit Edward Saids Orientalismus-These, die orientalistisches Wissen als „Ergebnis und Bedingung [der] ebenso textuellen wie materiellen subjektivierenden Unterwerfung“ definiert, findet sich unter anderem bei Markus Schmitz: Kulturkritik
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führen, die Spielräume der Partizipation und Emanzipation – gerade auch in Form einer Kritik oder Diversifizierung von Ideen und Strukturen – zu marginalisieren, die sich innerhalb der grenzübergreifenden Netzwerke eröffneten.92 Auch die Themen, welche in den Zukunftsentwürfen über China und Indien diskutiert wurden, waren keinesfalls allein von einer westlichen Wissenselite bestimmt; wie Christopher Bayly für das 18. Jahrhundert festgestellt hat, setzten sich Menschen in verschiedenen Erdteilen auf ganz ähnliche Weise mit der Erfahrung von „common global modernities“93 auseinander. Wie die revisionistische Globalisierungsforschung um Shmuel Eisenstadt dargelegt hat, ist der Plural hier entscheidend: Danach existierte kein uniformer Weg in die Moderne, dagegen viele kulturell spezifizierte Wege, die auf unterschiedliche Art und Weise Tradition und Wandel verbinden.94 hne Zentrum: Edward W. Said und die Kontrapunkte kritischer Dekolonisation, Bielefeld 2008, o 185. Die Machtfunktion von transnationalen Netzwerken wird neben anderen Aspekten untersucht in Berthold Unfried/Jürgen Mittag/Marcel van der Linden (Hg.): Transnationale Netzwerke im 20. Jahrhundert. Historische Erkundungen zu Ideen und Praktiken, Individuen und Organisationen, Leipzig 2008. 92 Daran erinnern u. a. Madeleine Herren: Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung, Darmstadt 2009, 13, 48, 81–82, sowie Bayly: Modern World, 477. Wie Zhang Qing feststellt, nutzte etwa Hu Shi gerade die englischsprachige Kommunikation dazu, die Zukunftsaussichten Chinas und der chinesischen Kultur in der Weltöffentlichkeit sehr viel selbstbewusster und positiver darzustellen, als er dies vor heimischem Publikum zu tun pflegte. Siehe Zhang Qing: „Zwei Formulierungsweisen für einen Befund: Hu Shi über die chinesische Kultur“, in: Michael Lackner (Hg.): Zwischen Selbstbestimmung und Selbstbehauptung. Ostasiatische Diskurse des 20. und 21. Jahrhunderts, Baden-Baden 2008, 290–310. Für die Spielräume (und Risiken), die sich durch die Einbindung Chinas in die internationale Wissenschaftsgesellschaft, etwa im Bereich der Geologie, boten, siehe etwa Grace Yen Shen: „Going with the Flow: Chinese Geology, International Scientific Meetings and Knowledge Circulation“, in: Bernard Lightman/Gordon McOuat/Larry Steward (Hg.): The Circulation of Knowledge Between Britain, India and China. The Early-Modern World to the Twentieth Century, Leiden/Boston 2013, 237–260, hier 257–260. Siehe allgemeiner auch Robbie Shilliam: „The perilous but unavoidable terrain of the non-West“, in: ders. (Hg.): International Relations and Non-Western Thought. Imperialism, Colonialism and Investigations of Global Modernity, London/New York 2011, 12–25, hier 17–19. 93 Bayly: Modern World, 471. So navigierte der Ideenhistoriker Benjamin Schwartz in seinen Studien über das intellektuelle Leben in China stets zwischen einer Verortung der Ideen und Fragestellungen chinesischer Intellektueller in einem spezifischen chinesischen Kontext und der Deutung dieser Ideen und Fragestellungen als universell. Siehe P. A. Cohen/Merle Goldman: „Introduction“, in: dies. (Hg.): Ideas Across Cultures. Essays on Chinese Thought in Honor of Benjamin I. Schwartz, Cambridge, MA/London 1990, 1–14. 94 Dem Thema der „Multiplen Modernen“ widmen sich neben dem bereits erwähnten Sammelband zahlreiche Studien. Grundlegend für das Paradigma sind die Überlegungen Shmuel Eisenstadts in seinem umfassenden Werk Comparative Civilizations and Multiple Modernities,
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Für die Geschichte des Aufstiegsdenkens über China und Indien ergibt sich aus der Prämisse des kulturellen Relativismus die Notwendigkeit, vereinfachte Rezeptionsmodelle von Ideen – und gerade der ideologisch aufgeladenen und machtpolitisch wirksamen Vorstellungen von Modernisierung und Weltordnung – sowie ihre Homogenität zu hinterfragen und die Aneignung dieser Ideen in verschiedenen Kontexten zu untersuchen.95 Es ist selbstverständlich geworden, an Beziehungs- und Wahrnehmungskonstellationen zwischen „Asien“ und „dem Westen“ – ebenso wie an diese Begrifflichkeiten selbst – mit einer grundlegenden Sensibilität gegenüber Praktiken kultureller Konstruktion, Essentialisierung und Hierarchisierung heranzugehen.96 Selbst- und Fremdzuschreibungen waren und sind subjektiv und selektiv.97 Ebenso angebracht ist es jedoch, auf die Komplexität
eil II, Leiden/Boston 2003, v. a. 493–518. Auch unter dem Begriff der „Postmoderne“ sammeln T sich Konzeptualisierungen globaler Kultur, die nicht von einer wachsenden Homogenisierung, sondern von der Vielfalt lokaler Praktiken ausgehen. Siehe etwa Mike Featherstone: „Global Culture: An Introduction“, in: ders. (Hg.): Global Culture. Nationalism, globalization and modernity, London 1990, 1–14, hier 1–2. 95 Zu einer solchermaßen sensibilisierten Diffusions- und Rezeptionsforschung siehe u. a. Jürgen Schriewer „Vergleich und Erklärung zwischen Kausalität und Komplexität“, in: Hartmut Kaelble/Jürgen Schriewer (Hg.): Diskurse und Entwicklungspfade. Der Gesellschaftsvergleich in den Geschichts- und Sozialwissenschaften, Frankfurt/New York 1999, 53–102, hier 78–81, sowie Osterhammel: „Pluralität der Kulturen“, 404–405; Moyn/Sartori: „Global Intellectual History“, 19–20, und Bayly: Modern World, 477. 96 Die kulturelle Konstruktion von „Asien“ bzw. „Osten“ und „Westen“ ist inzwischen Gegenstand zahlreicher Forschungsarbeiten. Metageographische Narrative problematisieren u. a. M. W. Lewis/K. E. Wigen: The Myth of Continents: A Critique of Metageography, Berkeley 1997. Mit einem postmodernen bzw. postkolonialen Ansatz: Richard King: Orientalism and Religion. Postcolonial theory, India and ‚the mystic East‘, London/New York 1999, und Rob Wilson/Arif Dirlik: Asia/Pacific as Space of Cultural Production, Durham/London 1995. Einer ideengeschichtlichen Aufarbeitung der Kategorie des „Westens“ widmen sich auch Christopher Gogwilt: The Invention of the West. Joseph Conrad and the Double-Mapping of Europe and Empire, Stanford 1995, sowie O’Hagan: Conceptualizing the West. Metageographische Begriffe sind fester Bestandteil der Zukunftsentwürfe und werden als solche in die Analyse miteinbezogen. Die Begriffe „Westen“, „Asien“ und andere räumliche und zeitliche Deutungskategorien wie „Zivilisation“ und „Moderne“ kommen in dieser Arbeit als Quellenbegriffe und im Bewusstsein ihres konstruktivistischen Charakters zur Anwendung. 97 Siehe Gottfried Niedhart: „Selektive Wahrnehmung und politisches Handeln: internationale Geschichte im Perzeptionsparadigma“, in: Loth/Osterhammel: Internationale Geschichte, 141– 157, hier 146. Dass kulturellen Differenzierungen eine für die Identitätsstiftung notwendige Funktion zukommt, betont Andrea Polaschegg: Der andere Orient. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin/New York 2005, 43.
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der verschiedenen Meinungen und Haltungen, auf „Negotiated Universals“98 und „Paradoxien der Urteilsbildung“99 zu verweisen und die Selbstreflexivität vieler Beobachter Asiens anzuerkennen, die kulturelle Arroganz und Abgrenzung zu einem Anachronismus erklärten. Zukunftsentwürfe westlicher und asiatischer Autoren über China, Indien und ganz Asien müssen als das gelesen werden, was sie ihrem Wesen nach waren: Eine Herausforderung vergangener und gegenwärtiger Machtbeziehungen und Distanzwahrnehmungen und die Aushandlung gemeinsamer Zukunft – ob man diese nun in jedem Fall begrüßte oder nicht.
98 Jürgen Kocka: „Multiple Modernities and Negotiated Universals“, in: Sachsenmaier/Riedel/ Eisenstadt: Multiple Modernities, 119–128. 99 Petersson/Osterhammel: „Ostasiens Jahrhundertwende“, 303–304. Siehe auch Kate Teltscher: India Inscribed. European and British Writing on India 1600–1800, Delhi 1995, 6–8.
2 Asien in der Weltöffentlichkeit: Akteure und Strukturen im Aufstiegsdiskurs 2.1 Der Erste Weltkrieg und die Genese eines neuen Asienbildes Der Erste Weltkrieg avancierte in der Interpretation vieler Zeitzeugen zur historischen Zäsur in den west-östlichen Beziehungen. Er markierte den Beginn einer Ära, in der das „alte Europa“ an Einfluss verlieren, dagegen Asien eine bedeutende Rolle spielen würde. Einige ideologische und politische Faktoren spielten hierfür zusammen: Erstens schien der Krieg den Modernisierungsprozessen in China und Indien neue Impulse gegeben zu haben. Wie kein anderes Ereignis hatte er aus der Sicht nationaler Eliten die Schwächen in der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Struktur der Länder offenbart und umfassende Rekonstruktionsmaßnahmen erzwungen.1 Ganz Asien und mit ihm China und Indien schienen mit Erneuerungsdrang erfüllt und – in den Worten des amerikanischen Auslandskorrespondenten Herbert Adams Gibbons – „in the throes of a rebirth“2 zu sein. Der westliche Modernisierungsweg taugte in diesem Wandlungsprozess nur noch bedingt als Vorbild. Auch den westlichen Beobachtern der internationalen Szenerie war bewusst, dass Europa angesichts der Gräuel des Ersten Weltkrieges einen politischen, moralischen und kulturellen Prestigeverlust erlitten hatte, der seine zivilisatorische Vorbild- und Führungsposition grundlegend in Frage stellte. „We even beginn to see“, schrieb der britische Sozialist Henry Hyndman, „that [the Asiatic] may have good grounds for regarding his white rivals as the uncultured and discourteous barbarians that, in many respects, we really are“.3 Vom Herrscherschicksal des „weißen Mannes“ war tatsächlich unter asiatischen Intellektuellen wie etwa dem chinesischen Sozialdarwinisten Yan Fu nur noch selten die Rede, dafür häufiger von einer kulturellen Läuterung des Westens.4 Nationale Entwicklungskonzepte zeugten gleichsam auf der Mikroebene von einer kulturellen Selbstvergewisserung asiatischer Eliten, die sich auf Makro ebene in Vorstellungen überlegener asiatischer Kulturen Bahn brach.
1 Vgl. beispielsweise Mokshagundam Visvesvaraya: Reconstructing India, London 1920, 1. 2 H. A. Gibbons: „The Storm out of Asia. The Passion of Revolt among the Missions of the East against the Overlordship of the West“, Asia, Bd. 24, Nr. 5 (Mai 1924), 345–348, 415–416, hier 348. 3 Henry Hyndman: The Awakening of Asia, New York 1919, 267. Ähnlich Savel Zimand: „The powder Mine in India“, TNR, Bd. 41, Nr. 524 (Dezember 1924), 89–91, hier 91. 4 Siehe D. C. Gordon: Images of the West. Third World Perspectives, Totowa 1989, 30, sowie Sachsenmaier: „Alternative Visions“, 165. DOI 10.1515/9783110464382-002
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Zweitens ging mit dem Krieg die Hoffnung auf ein Ende imperialistischer Dominanzbeziehungen einher. Nichts weniger als „A New World“ – so lautete der Titel des einflussreichen Werkes, das der amerikanische Geograph Isaiah Bowman als Kommentar zur Versailler Friedenskonferenz verfasste – sollte aus dem Krieg hervorgehen.5 Die Notwendigkeit für einen weltpolitischen Kurswechsel erschien deutlicher denn je. Aus moralischer Perspektive hatte der Krieg demonstriert, dass Friede nicht mit den Methoden der Gewalt realisiert werden konnte; wie die Friedensbewegung, die während des Krieges neuen Auftrieb erhielt, arbeiteten die Architekten der Nachkriegsordnung dem normativen Ziel gewaltfreier internationaler Beziehungen entgegen.6 Von unschätzbarem Wert werde sich der Krieg für Asien erweisen, prognostizierte der britische Romancier H. G. Wells, da er auf unabsehbare Zeit den imperialistischen Aggressionen der Europäer in Asien ein Ende gesetzt habe.7 Mehr noch als in der westlichen Welt brachte das Ende des Krieges in China, Indien und anderen asiatischen Ländern die „leidenschaftliche Erwartung“ hervor, dass sich das Verhältnis zwischen westlicher Welt und Asien unter dem Eindruck demokratischer Nachkriegsideale neu justieren könnte.8 Drittens, und eng mit den ersten beiden Punkten verbunden, konnte der Erste Weltkrieg in dem Maße als Weichenstellung für die west-östlichen Beziehungen interpretiert werden, wie er den antiimperialistischen Nationalbewegungen in Asien Vorschub leistete. Die Versailler Friedensordnung kreierte unübersehbare
5 Vgl. Isaiah Bowman: A New World, New York 1921. Siehe hierzu L. E. Ambrosius: Wilsonianism. Woodrow Wilson and his Legacy in American Foreign Relations, New York/Basingstoke 2002, 4. Auch Manela betont, dass verglichen mit anderen einschneidenden weltpolitischen Ereignissen die Erwartungen nach dem Ersten Weltkrieg ungewöhnlich groß waren. Siehe Erez Manela: „Dawn of a New Era: The ‚Wilsonian Moment‘ in Colonial Contexts and the Transformation of World Order, 1917–1920“, in: Sachsenmaier/Conrad: Competing Visions of World Order, 121–149, hier 122. 6 Wie Peter Brock und Nigel Young darlegen, bedienten sich Internationalisten und Pazifisten derselben Argumente gegen den Krieg. Siehe Peter Brock/Nigel Young: Pacifism in the twentieth century, New York 1999, 107. Die Friedensbewegung war abgesehen von Gandhis Bewegung der Gewaltlosigkeit in der Zwischenkriegszeit ein primär angloamerikanisches Phänomen. Pazifisten in den USA, Großbritannien und anderen Ländern organisierten sich jedoch in dieser Zeit auch international. So setzte sich etwa Hans Kohn für eine globale Friedensbewegung ein. Siehe ebd., 104. Wie Scott Bennett betont, radikalisierte sich die Friedensbewegung zunächst mit dem Ersten Weltkrieg, um dann in eine nonviolente soziale Bewegung zu münden. Siehe S. H. Bennett: Radical Pacifism. The War Resisters League and Gandhian Nonviolence in America, 1915–1963, New York 2003, xii–xvi. 7 H. G. Wells: A Forecast of the world’s affairs, New York/London 1925, 46. Siehe auch Richard Nate: Herbert G. Wells und die Krise der modernen Utopie, Wolnzach 2008, 23. 8 Vgl. etwa C. F. Andrews: India and the Pacific, London 1937, 209.
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Widersprüche zwischen der Hoffnung asiatischer Länder auf nationalen und internationalen Fortschritt einerseits und der Realität imperialistischer Kontinuitäten andererseits. Indien und China, obwohl Mitglieder des Völkerbundes, blieben unfrei und Objekte der Weltpolitik.9 In direkter Konsequenz richtete sich das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung, von Präsident Woodrow Wilson zum zentralen Organisationsprinzip der Nachkriegsordnung ausgerufen, in Asien gegen die Siegermächte, wobei auch die Idee der panasiatischen Solidarisierung und Koordination der Nationalbewegungen an Bedeutung gewann.10 Indem man ihn also mit umfassenden Modernisierungsprozessen, mit einer internationalen Neuordnung und mit den antiimperialistischen Nationalbe wegungen direkt in Zusammenhang brachte, erschien der Erste Weltkrieg als Katalysator nicht nur der politischen, sondern auch der mentalen Dekolonisation Asiens. Er nahm damit eine ganz ähnliche Bedeutung an wie der Russischjapanische Krieg von 1905, den viele Zeitgenossen als erste Stufe auf dem Weg zur Emanzipation Asiens von westlicher Hegemonie deuteten.11 In den USA und vor allem entlang der kalifornischen Westküste schürte Japans Sieg gegen Russland Ängste, die sich in xenophobischer Agitation gegen japanische Einwanderer entluden; im politischen Establishment der Ostküste hingegen betrachtete man den Aufstieg Japans zur Großmacht gerne als Erfolg der amerikanischen Zivilisierungsmission – eine Entwicklung, welche die eigene strategische Positionierung im Pazifik umso wichtiger machte.12 Verglichen mit dem Ersten Weltkrieg blieb der Russisch-japanische Krieg in westlichen Ländern jedoch eine Randnotiz: Eine relativ kurze militärische Auseinandersetzung um die Rohstoffe im äußersten Nordosten Chinas schien das Leben der Menschen im Westen nicht weiter zu tangieren. In Asien hingegen spürte man die historische Bedeutung
9 Vgl. etwa Annie Besant: India, Bond or Free? A World Problem, London 1926, 180. Siehe zum Fall Chinas auch Jürgen Osterhammel: China und die Weltgesellschaft, München 1989, 228–229. 10 Der globalen Wirkung von Wilsons 14 Punkten widmet sich ausführlich Erez Manela: The Wilsonian Moment. Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism, New York 2007. Der Nationalismus ebenso wie der Sozialismus konkurrierten in Indien und China mit dem oft rechtsgerichteten Panasianismus. Siehe Aydin: Politics of Anti-Westernism, Kapitel 6. 11 Siehe hierzu ausführlich Rotem Kowner: „Between a colonial clash and World War Zero: The impact of the Russo-Japanese War in a global perspective“, in: ders. (Hg.): The Impact of the Russo-Japanese War, London/New York 2007, 1–26. 12 Siehe Manfred Berg: „‚A Great Civilized Power of a Formidable Type‘: Theodore Roosevelt, die USA und der Russisch-Japanische Krieg“, in: M. H. Sprotte/Wolfgang Seifert/Heinz-Dietrich Löwe (Hg.): Der Russisch-Japanische Krieg 1904/05. Anbruch einer neuen Zeit?, Wiesbaden 2007, 241–258, und Pekka Korhonen: „The Pacific Age in World History“, JWH, Bd. 7, Nr. 1 (April 1996), 41–70, hier 49–50.
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des Konfliktes, die ihm auch von der neueren Forschung attestiert wird. Es war nicht nur ein Krieg des aufstrebenden japanischen gegen das zunehmend geschwächte russische Reich, sondern ein Krieg „between East and West“.13 Er trug maßgeblich dazu bei, das Gefühl der zivilisatorischen Minderwertigkeit Asiens gegenüber dem Westen zu beseitigen, indem er dessen Besiegbarkeit demonstrierte. Zum ersten Mal in neuerer Zeit hatte sich eine asiatische Nation der Waffen des Westens bedient und ging im Konflikt mit einer europäischen Nation als Sieger hervor. Das Beispiel Japans zeigte, dass Modernisierung kein Privileg des Westens war und zudem ohne die helfende Hand des Kolonisierers vonstattengehen konnte.14 Das Ergebnis beider Kriege war eine Situation der politischen und ideologischen Dynamik, die sich auf westliche wie östliche Repräsentationen von Asien auswirken musste: Asien wandelte sich, demonstrierte sein Modernisierungspotential, lehnte sich gegen den Westen auf, forderte ihn gar heraus. „I saw a great new East being born before my very eyes“, berichtete der amerikanische Journalist Frazier Hunt von seinen Reisen durch Asien, die er nach dem Ersten Weltkrieg unternahm. „It was a new East of hope emerging from a tired, ancient, hopeless world. It was a restless, moving world that I saw. Books have been written about the Unchanging East, but that is not what I found; it was a Changing East that greeted me everywhere.“15 Der gesamte asiatische Kontinent und insbesondere seine größten Länder China und Indien rückten in den Fokus der Weltpolitik und seiner Beobachter. Nun als „world problems“16 definierte wirtschaftliche und politische Konflikte schienen ohne Berücksichtigung dieser Länder nicht mehr lösbar. Die Zeiten, in denen Asien vom Westen weitgehend ignoriert werden konnte, waren unwiederbringlich vorbei. Die Auseinandersetzung mit den internen und externen Angelegenheiten Chinas und Indiens wurde vor diesem Hintergrund nicht nur für sich genommen als wichtig und lohnenswert, sondern schlicht als notwendig erachtet, wollte man den zukünftigen Gang der Geschichte verstehen und lenken. „It may well be, that a thousand years from now the most significant events of the twentieth century will be seen to have been, not in Europe or
13 Vgl. Besant: India, Bond or Free?, 159. Der Krieg betraf nicht nur die Stabilität Europas und das Verhältnis zwischen Japan und den USA, sondern auch den territorialen Status quo in Ostasien. Siehe Kowner: Russo-Japanese War. 14 Vgl. B. K. Sarkar: The Futurism of Young Asia. And other essays on the Relations between the East and the West, Berlin 1922, 18–19. Siehe hierzu auch Aydin: Politics of Anti-Westernism, 9–10. 15 Frazier Hunt: The rising temper of the East: sounding the human note in the world-wide cry for land and liberty, Indianapolis 1922, 11. Vgl. auch Frazier Hunts Autobiographie One American and his attempt at education, New York 1938. 16 A. F. Macdonald: „Foreword“, AAAPSS, Bd. 72, Nr. 211 (November 1925), v.
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America, but in China“,17 schrieb der amerikanische Historiker und Missionar Kenneth Scott Latourette. Zahlreiche Autoren der Zwischenkriegszeit fühlten sich aufgefordert, die zukünftige Rolle Asiens zu ergründen und ihr Wissen und ihre Meinung einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
2.2 Amerikanische und britische Autoren der Idee: Missionare, Journalisten, Politiker Im ausgehenden 19. Jahrhundert prägten Missionare maßgeblich das Asienbild der amerikanischen Öffentlichkeit. Sie berichteten von reichen kulturellen Traditionen und fremdartigen sozialen und religiösen Bräuchen. Es war ihre oft pejorative und paternalistische Haltung gegenüber den asiatischen „Ungläubigen“, die Vorurteilen und Stereotypen über asiatische Länder Vorschub leistete.18 Nicht nur, weil sie von der Überlegenheit der „christlichen Zivilisation“ und vom imperialistischen Narrativ der „white man’s burden“ überzeugt waren, sondern auch, weil sie bei ihrer Arbeit von kolonialen oder semi-kolonialen Strukturen profitierten, stellen sie die imperiale Weltordnung selten in Frage; im Gegenteil nutzten sie ihren weitreichenden Einfluss auf politische Kreise, um an der Ausweitung der Imperialreiche mitzuwirken.19 Auch nach dem Ersten Weltkrieg gehörten amerikanische Missionare zu den produktivsten Analysten Asiens. Während sie ihr politisches Gewicht weitgehend einbüßten, begann sich ihre Haltung jedoch zu liberalisieren.20 Kenneth Scott Latourette, der an der Yale University im amerikanischen New Haven lehrte und unter anderem für die pädagogisch-missionarische Yale-in-China Association tätig war, und Frank Joseph Rawlinson, der in Shang17 K. S. Latourette: The Development of China, New York 1937, 316. Ähnlich explizit bei V. K. W. Koo: „China, Great Britain and the United States“, CSM, Bd. 16, Nr. 8 (Juni 1921), 547–549, hier 547, sowie Lajpat Rai: „Why India is not happy“, in: ders.: India’s Will to Freedom. Writings and Speeches on the present situation, Madras 1921, 4–5. 18 Siehe M. A. Rubinstein: „American Board Missionaries and the formation of American opin ion toward China, 1830–1860“, in: Goldstein/Israel/Conroy: America Views China, 67–79. Wie Niels Petersson im Hinblick auf China feststellt, war die Zeit seit den Opiumkriegen von anhaltenden Konflikten der chinesischen Bevölkerung und ausländischen Missionaren geprägt, was sich wiederum auf Repräsentationen Chinas auswirkte. Siehe N. P. Petersson: Imperialismus und Modernisierung. Siam, China und die europäischen Mächte, München 2000, 23, 26. 19 Siehe Patricia Neils: „Introduction“, in: dies. (Hg.): United States Attitudes and Policies toward China. The Impact of American Missionaries, Armonk/London 1990, 3–22, hier 14–15. 20 Viele Missionare nahmen eine revisionistische Haltung gegenüber den „ungleichen Verträgen“ mit China ein. Siehe ebd., 12, 15–16, sowie bezüglich Indiens K. J. Clymer: Quest for Freedom. The United States and India’s Independence, New York 1995, 4–5.
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hai den Chinese Recorder herausgab, gehörten ebenso wie George Sherwood Eddy, den seine Führungsposition in der Young Men’s Christian Association (YMCA) auf zahlreiche Asienreisen führte, zu jener Gruppe von Autoren mit missionarischem Hintergrund, die ein differenzierteres Bild von Asien und besonders vom nationalistischen China zeichneten.21 Grundsätzlich reformorientiert, stellten sie die Entwicklungsmöglichkeiten des Landes ebenso heraus wie freilich die Bedeutung, die sie dem Christentum für dessen Zukunft zusprachen. Sie können als Miturheber eines „christlichen Chinakonzeptes“ in der amerikanischen Öffentlichkeit gelten, dem eine idealisierte Vorstellung vom christlichen Amerika zugrunde lag.22 In seinem impliziten Fortschrittsglauben deckte es sich mit Repräsentationen von China, die von der Wirtschaftslobby gefördert wurden: Der „China Market“ war nur ein Aspekt des riesigen chinesischen Entwicklungspotentials.23 Kirchenleute gehörten auch zu den wenigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, welche die Aufmerksamkeit der Amerikaner auf Indien lenkten. Das Land rangierte nicht besonders hoch im Bewusstsein selbst gut informierter Amerikaner. Wer von „Orientals“ sprach, der meinte meist Chinesen oder Japaner; gängige Vorurteile über das „braune“, rückständige und hilfsbedürftige Indien wurden derweil von der britischen Presse übernommen.24 Besuche berühmter indischer Philosophen wie Swami Vivekananda und Rabindranath Tagore befriedigten zwar das Bedürfnis künstlerischer und religiöser Kreise nach spiritueller Inspiration, trugen jedoch nicht dazu bei, stereotypisierte Vorstellungen von Indien zu beseitigen.25 Es waren vor allem die unitarischen Priester Jabez T. Sunderland und John Haynes Holmes in New York, welche die britische Kolonialpolitik öffentlich anprangerten und ein positives Bild von Mohandas
21 Eine Biographie Sherwood Eddys hat Rick Nutt vorgelegt: R. L. Nutt: The Whole Gospel for the Whole World. Sherwood Eddy and the American Protestant Mission, Macon 1997. Dem Werdegang Frank Rawlinsons widmet sich John Rawlinson: „Frank Rawlinson, China Missionary, 1902–1937: Veteran Deputationist“, in: Neils: United States Attitudes, 111–132. Zu Kenneth Scott Latourette siehe Norman Kutcher: „,The Benign Bachelor‘: Kenneth Scott Latourette between China and the United States“, JAEAR, Bd. 2, Nr. 4 (Winter 1993), 399–424, sowie G. H. Anderson: „Kenneth Scott Latourette, 1884–1968“, Biographical Dictionary of Chinese Christianity, Onlineausgabe [http:// www.bdcconline.net/en/stories/l/latourette-kenneth-scott.php, abgerufen am 13.10.14]. 22 Siehe T. C. Jespersen: American Images of China, 1931–1949, Stanford 1996, 6, 10. 23 Siehe Eperjesi: Imperialist Imaginary, 87–103, sowie P. A. Varg: The Making of a Myth. The United States and China 1897–1912, Westport 1980, 14–17. 24 Siehe M. S. Venkataramani/B. K. Shrivastava: Roosevelt, Gandhi, Churchill. America and the Last Phase of India’s Freedom Struggle, Neu Delhi 1983, 343–344, sowie B. G. Gokhale: India in the American Mind, London 1992, 35–36. 25 Siehe Clymer: Quest for Freedom, 4–5; A. G. Hope: America and Swaraj. The U.S. Role in Indian Independence, Washington 1968, 6.
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Gandhi als Vertreter des nationalistischen Indiens generierten; dabei stellte sich heraus, dass die antikoloniale Tradition Amerikas zahlreiche Anknüpfungspunkte für den indischen Patriotismus bot.26 Anders als Holmes, der sich vor allem mit spirituellen Fragen auseinandersetzte, entwickelte sich Sunderland im Laufe seines Lebens zum politischen Aktivisten. Zusammen mit dem indischen Nationalisten Lajpat Rai propagierte er in der New Yorker Home Rule League of America ein freies Indien. Unterstützer fand die Organisation im linken Spektrum der amerikanischen Öffentlichkeit, insbesondere in den Zeitschriften The New Republic und The Nation. Ihr eigenes Publikationsorgan, Young India, erreichte jedoch größtenteils jene kleine Gruppe von Lesern, die sich bereits der indischen Sache verschrieben hatte.27 Einen weitaus größeren Einfluss auf die amerikanische Öffentlichkeit hatte das Werk Mother India der amerikanischen Journalistin Katherine Mayo zu verzeichnen; ihre polemische Fundamentalkritik der indischen Gesellschaft erreichte in den drei Jahren nach ihrem Erscheinen 1925 dreißig Neuauflagen und resultierte in einer emotional geführten Debatte über die Legitimität der britischen Imperialherrschaft.28 In Großbritannien, wo die Zukunft Indiens eine zentrale imperialpolitische Frage darstellte, war auch die Aufmerksamkeit zumindest der informierten Öffentlichkeit für das Land notwendigerweise eine andere.29 Die Tendenz, Indien in ein neues, antikoloniales Licht zu rücken, ging – in unterschiedlicher Deutlichkeit – zumeist von der politischen Linken aus: von der Labour Party um Ramsay MacDonald, von der Fabian Society und ihren berühmten Mitgliedern wie H. G. Wells sowie von radikaleren Denkern wie Henry Hyndman, dessen provokantes Werk The Awakening of Asia aus dem Jahr 1919 von seinen Verlegern nur zögerlich veröffentlicht wurde.30 Darüber hinaus nahmen auch Kirchenleute und Spiritualisten Einfluss auf die Haltung der britischen Öffentlichkeit gegenüber Indien. Neben dem schriftstellerisch überaus produktiven anglikanischen Priester Charles Freer Andrews, der bereits 1913 nach Indien ausgewandert war, und Annie Besant, der berühmten Mitgründerin der Theosophischen Bewegung, 26 Siehe N. D. Palmer: The United States and India. The Dimensions of Influence, New York 1984, 14. 27 Siehe Spencer Lavan: Unitarians and India. A Study in Encounter and Response, Boston 1977, 175. 28 Gokhale: India in the American Mind, 44–45. Eine umfassende Einordnung von Katherine Mayos Werk aus postkolonialer Perspektive findet sich bei Mrinalini Sinha: Specters of Mother India. The Global Restructuring of an Empire, Durham/London 2006. 29 Studdert-Kennedy weist jedoch darauf hin, dass Indien auch in Großbritannien nur einen geringen Anteil des öffentlichen Interesses auf sich zog. Siehe Gerald Studdert-Kennedy: British Christians, Indian Nationalists and the Raj, Delhi 1991, 5–7. 30 Siehe Gregory Claeys: Imperial Sceptics. British Critics of Empire, 1850–1920, Cambridge 2010, 152, sowie J. P. D. Dunbabin: The Post-Imperial Age: The Great Powers and the Wider World, London/New York 1994, 14.
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spielte hierfür auch der indische Zweig der YMCA eine wichtige Rolle; unter der Führung des schottischen Missionars John Nicol Farquhar veröffentlichte die Institution von Kalkutta aus Pamphlete und Bücher, die auch in Großbritannien zahlreiche Leser fanden.31 Auch britische China-Missionare wie der Quäker Henry Hodgkin waren publizistisch tätig und forderten mehr Aufmerksamkeit für die Angelegenheiten Chinas. Verglichen mit Indien, Großbritanniens „Jewel in the Crown“, war das Interesse der Briten an China nach dem Krieg zunächst jedoch gering. Während einer Amerikareise im Sommer 1925 wurde der britische Historiker Arnold Toynbee von der hier vergleichsweise stark ausgeprägten öffentlichen Aufmerksamkeit für China überrascht: I found Chinese problems being discussed in New York and Boston with a degree of interest and familiarity which reminded me of the way in which my own countrymen were in the habit of discussing the problems of India. To most Englishmen, China was then almost a “terra incognita”.32
Bereits einige Monate später, so räumte Toynbee ein, habe auch die britische Öffentlichkeit begonnen, sich der Tragweite der Ereignisse in China bewusst zu werden. Hierfür mit verantwortlich waren die antiausländischen Ausschreitungen im Zuge der chinesischen Revolution von 1925 bis 1927, die sich gezielt auch gegen britische Interessen richteten. Bereits am Ende des Jahres 1928 wusste die britische Wochenzeitschrift The Economist zu berichten, dass das Interesse der Briten an den Ereignissen in China rapide zugenommen hatte; dieses „außergewöhnliche Phänomen“ führte sie darauf zurück, dass China jedem Beobachter etwas bot: dem, der Angst vor der Verbreitung des Kommunismus oder gar einer „Gelben Gefahr“ hatte, dem Londoner Investor, und dem expatriate, dessen Position vor Ort sich nun veränderte.33 Mit der Dynamik der innen- und außenpolitischen Ereignisse nahm auch die journalistische Berichterstattung über Indien und China zu. Im Dienste der großen Nachrichtenagenturen und Tageszeitungen – besonders Reuters, Times und New York Times – beschleunigten und verdichteten eine wachsende Zahl von Auslandskorrespondenten und unabhängiger „Stringer“ die Nachrichtenübermittlung aus Asien.34 Journalisten wie die Amerikaner George Sokolsky, 31 Siehe Studdert-Kennedy: British Christians, 153–154. 32 A. J. Toynbee: „A British view of Trade with China. The necessity of replacing the Middleman System by Modern Economic Methods“, Asia, Bd. 27, Nr. 4 (April 1927), 273–277, 336–338, hier 273. 33 „The Ferment in China“, TE, Nr. 4453 (Dezember 1928), 1204. 34 Reuters beschäftigte allein zwölf Angestellte in indischen, acht in chinesischen Städten. Siehe Donald Read: The Power of News. The History of Reuters 1849–1989, Oxford 1992, 195, 207.
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arguerite Harrison, Nathaniel Peffer und Josef Washington Hall oder die Briten M Sir Valentine Chirol und H. Hessell Tiltman basierten ihre Darstellungen der Ereignisse in Asien auf Erfahrungen, die sie während ausgedehnter Reisen auf dem gesamten Kontinent machten. Anders als in missionarischen und wirtschaftlichen Kreisen, deren Asienreisen und daran anschließende Veröffentlichungen nicht selten spezifischen Interessen dienten,35 ging es den Journalisten primär um die Aufklärung und Sensibilisierung einer breiten Öffentlichkeit. Eine große Bandbreite journalistischer Motive kam zum Tragen: Man wollte verlässliche Informationen bereitstellen, um so das scheinbar kaum vorhandene Verständnis der Entwicklungen in Asien und deren globaler Konsequenzen zu fördern; man sah seine Aufgabe nicht selten darin, die Bevölkerung gleichsam „wachzurütteln“ hinsichtlich der enormen Signifikanz dieser Ereignisse; auch galt es überkommene Asienbilder zu revidieren.36 Neben diesem Aufklärungs- und Bildungsauftrag ging es um die detektivische Suche nach einer von politischen und wirtschaftlichen Interessen verdunkelten Wahrheit. „Every foreign newspaper correspondent should write at least one book“, rechtfertigte Tiltman die Veröffentlichung seines Werkes The Uncensored Far East von 1937. „In that book“, so erläuterte er weiter, „he should devote at least one chapter to the news which the world doesnʼt get“.37 Persönliche Erfahrungen und der Kontakt zu politischen Entscheidungsträgern in China und Indien waren dabei für die Arbeit der Journalisten essentiell. „I have characterized individuals as I have known them“,38 schrieb George Sokolsky über seine Tätigkeit als Reporter in China. Sokolsky verhalfen seine vielfältigen und undurchsichtigen Verbindungen zu politischen und geschäftlichen Kreisen Shanghais zu zweifelhaftem Ruhm. „Sokolsky today wastes no time with futile ideals“, urteilte ein Kollege. „He appraises force and respects power.“39 Thomas
iehe hierzu auch Petersson/Osterhammel: „Ostasiens Jahrhundertwende“, 280. Voraussetzung S für die beschleunigte Nachrichtenübermittlung waren die Fortschritte in der Telekommunikation. Siehe hierzu R. W. Desmond: Windows on the World. The information process in a changing society 1900–1920, Iowa 1980, 203. Eine lebhafte Beschreibung des Auslandskorrespondentenwesens findet sich bei W. H. Chamberlin: The Confessions of an Individualist, New York 1941. 35 Der Missionar William Paton etwa legte dar, dass seine Reise der Planung einer Weltkonferenz des International Missionary Councils diente. Vgl. William Paton: Christianity in the Eastern Conflicts. A Study of Christianity, Nationalism and Communism in Asia, Chicago/New York 1937, 9. 36 Vgl. etwa Felix Morley: Our Far Eastern Assignment, New York 1926, vi, sowie Marguerite Harrison: Asia Reborn, New York/London 1928, vii. 37 H. Hessel Tiltman: The Uncensored Far East, London 1937, 2. 38 G. E. Sokolsky: The Tinder Box of Asia, New York 1932, ix. 39 L. S. Gannett: „The Tinder Box of Asia by G. E. Sokolsky“, TN, Bd. 135, Nr. 3505 (August 1932), 174–175, hier 175.
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F. Millard, der in Shanghai zusammen mit John B. Powell die Wochenzeitschrift China Weekly Review herausgab und der berühmten Journalistenschule der University of Missouri entstammte, kritisierte Sokolsky für seine wechselnden Loyalitäten; er selbst ergriff jedoch deutlich Partei für Sun Yatsens Guomindang und befand sich damit oft in Opposition zur konservativeren North China Daily News, die unter britischer Führung stand.40 Im journalistischen Milieu Shanghais agierten Auslandskorrespondenten nicht nur als Informanten der Öffentlichkeit zu Hause, sondern auch als Sprachrohr der expatriates, die von den politischen Entwicklungen unmittelbarer betroffen waren und auch stärker polarisiert wurden, als dies zu Hause der Fall war.41
2.3 Asien und das Expertentum: Universitäten, Forschungsinstitute, Think Tanks Zeitungsleute waren primär Meinungsmacher und Kommentatoren, wenn auch wahrheitssuchende, und keine grundsätzlich neutralen Analysten der westöstlichen Beziehungen. Diese Rolle kam in den 1920er und 1930er Jahren zunehmend einer weiteren Gruppe von Autoren zu: den Experten. Diese sehr heterogene Gruppe umfasste zum einen Vertreter von Politik und Diplomatie; so galt etwa Julean Herbert Arnold, seit 1914 amerikanischer Handelsattaché für China, weithin als Autorität für wirtschafts- und handelspolitische Fragen.42 Darüber hinaus rekrutierte sie sich vornehmlich aus der Wissenschaft: Historiker, Soziologen, Geographen, Ökonomen und Rechtswissenschaftler, daneben Philosophen, Religionswissenschaftler und in geringerem Maße die Spezialisten der Indologie und Sinologie trugen zu einer wachsenden wissenschaftlichen Publizistik über 40 Zum journalistischen Werdegang Sokolskys in China siehe W. J. Cohen: The Chinese Connection. Roger S. Greene, Thomas W. Lamont, George E. Sokolsky and American-East Asian Relations, New York 1978, 71–87. Zahlreiche Absolventen der Journalistenschule in Missouri arbeiteten in der Zwischenkriegszeit in China. Siehe hierzu S. R. MacKinnon/Oris Friesen: China Reporting. An Oral History of American Journalism in the 1930s and 1940s, Berkeley/Los Angeles/London 1987, 25. Jerome Ch’en weist darauf hin, dass ausländische Beobachter in China oft leichte Opfer für die politische Propaganda der Guomindang waren. Siehe Jerome Ch’en: China and the West. Society and Culture 1915–1937, London 1979, 53. 41 Zur Entwicklung des englischsprachigen Zeitungs- und Korrespondentenwesens in China siehe Desmond: Windows on the World, 200–207. Das Leben der Ausländer in den Vertragshäfen Chinas stellt Robert Bickers im Detail dar. Siehe Robert Bickers: Britain in China. Community, Culture and Colonialism 1900–1949, Manchester/New York 1999. 42 Vgl. Robert McElroy: „Foreword“, in: Julean Arnold: Salient Facts Regarding China’s Trade, New York 1923, 4.
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Asien bei. Die britischen Ökonomen Richard H. Tawney und Vera Anstey, die an der London School of Economics lehrten, sind nur zwei Beispiele für das enorme wissenschaftliche Interesse an den wirtschaftlichen Entwicklungen in Asien. Ihre Forschungsreisen waren problemlösungsorientiert: Wie konnte der Armut in weitgehend landwirtschaftlich aufgestellten Ländern effektiv entgegengewirkt werden? Ansteys Studie The Economic Development of India war nach eigener Aussage der Versuch, die wirtschaftlichen Probleme in Indien in synthetischer und unparteiischer Form aufzuzeigen.43 Für kolonialpolitische Richtungsentscheidungen etwa der britischen Regierung in Indien und anderen Teilen des Empire nahmen die Analysen spezialisierter Berater in der Zwischenkriegszeit eine immer größere Bedeutung an. Sie waren es, die politische Ereignisse in den Kolonien interpretierten und „Entwicklungsprobleme“ identifizierten; die ihr wirtschaftliches, technisches oder sozialwissenschaftliches Expertenwissen für die Lösung dieser Probleme bereitstellten; die den Austausch von Wissenschaftlern innerhalb des Empire förderten und auf diese Weise maßgeblich zur „globalization of colonial scientific knowledge“44 beitrugen. Wichtige Impulse für die wissenschaftliche und spezialisierte Asien- Publizistik gingen von einem wachsenden Interesse an den internationalen Beziehungen als neuem Forschungsfeld aus. Das internationale Staatensystem war im Rahmen der Rechtswissenschaft,45 der Politischen Theorie und der Geschichte schon lange vor dem Ersten Weltkrieg studiert worden; will man aber die Entwicklung einer eigenen wissenschaftlichen Identität, mit entsprechenden institutionellen Strukturen, inhaltlichen Debatten und Publikationen als konstitutiv für die wissenschaftliche Disziplin der Internationalen Beziehungen ansehen, dann wurden wichtige Schritte in der Zwischenkriegszeit getan. In Großbritannien entstanden Lehrstühle im walisischen Aberystwyth, in London und Oxford; und auch in den USA, wo sich das Studium der Internationalen Beziehungen anders als in Großbritannien vor allem als Subdisziplin der Sozialwissenschaften entwickelte, schlug sich das wachsende Interesse an internationalen Zusammenhängen in den Curricula der Colleges und Universitäten nieder.46 Alfred Zimmern,
43 Vgl. Vera Anstey: The Economic Development of India, London/New York/Toronto 1929, vi. Vgl. R. H. Tawney: Land and Labour in China, London 1932. 44 Siehe J. M. Hodge: Triumph of the Expert. Agrarian Doctrines of Development and the Legacies of British Colonialism, Athens 2007, 5. 45 Ein wichtiges Medium für den amerikanischen Internationalismus war etwa das 1906 gegründete American Journal of International Law. Siehe Herren: Internationale Organisationen, 45–46. 46 Siehe T. L. Knutsen: A History of International Relations Theory, Manchester/New York 1997, 193–196, sowie Jack Donnelly: „Realism and the Academic Study of International Relations“, in: James Farr/J. S. Dryzek/S. T. Leonard (Hg.): Political Science in History. Research Programs and
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erster Professor für Internationale Beziehungen in Oxford, wies darauf hin, dass die Universität das neue Fach sehr breit definiert hatte, als „study of the relations both between governments and between peoples, and of the principles underlying their development“.47 In ihrer Suche nach Gesetzen und Prinzipien in den Beziehungen zwischen sozialen Gruppen kämen fachliche Inhalte von den Naturwissenschaften bis hin zur Moralphilosophie zum Tragen; letztlich sei die Disziplin zu beschreiben als ein ganzes Bündel von Fächern, „viewed from a common angle“.48 Wie Harley Farnsworth MacNair deutlich machte, der an der Universität von Chicago fernöstliche Geschichte lehrte, ging es bei der wissenschaftlichen Perspektive auf die Außenbeziehungen speziell Asiens darum, Genauigkeit in eine Publizistik zu bringen, die, wie er es formulierte, unter den Generalisierungen von „Touristen“ leide; MacNair hatte dabei vor allem die Arbeit einiger Journalisten im Sinn. Für sein eigenes Werk China’s International Relations and other essays von 1926 erhob er den Anspruch, nicht dogmatisieren oder polemisieren, sondern weitere Forschungen anregen zu wollen und zu einer umfassenden Analyse der internationalen Probleme Asiens beizutragen.49 Experten für internationale Beziehungen – und das ist vielleicht die signifikanteste Entwicklung für die öffentliche und fachliche Auseinandersetzung mit Asien in der Zwischenkriegszeit – fanden sich nicht nur an Universitäten und in Außenministerien. Wichtige Impulse erhielt das Expertentum während der Versailler Friedenskonferenz, als eine Arbeitsgruppe aus amerikanischen Akademikern dem Präsidenten ihr Fachwissen für die Ausarbeitung des Friedensvertrags bereitstellte: An diesem „Inquiry“ nahmen namhafte Wissenschaftler wie der Geograph Isaiah Bowman und der Historiker James T. Shotwell teil. In der Folge setzte sich zunehmend die Meinung durch, dass für die Lösung internationaler Probleme und die Verhinderung zukünftiger Kriege eine der Politik zuarbeitende, von ihr jedoch unabhängige Rechercheinstanz notwendig war. Teilweise aus Wilsons Arbeitsgruppe heraus entstand im Jahr 1921 der Council on Foreign Political Traditions, Cambridge 1995, 175–197, hier 178, und B. C. Schmidt: The Political Discourse of Anarchy. A Disciplinary History of International Relations, Albany 1998, 12, 155–157. Schmidt betont jedoch, dass die Ursprünge der Disziplin bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt werden können. Siehe ebd., 229–230. Siehe auch Steve Smith: „Introduction“, in: ders. (Hg.): International Relations. British and American Perspectives, Oxford/New York 1985, ix–xiv, sowie zur Entwicklung der amerikanischen Sozialwissenschaften Dorothy Ross: The Origins of American Social Science, Cambridge 1991. 47 Alfred Zimmern: „Introductory Report to the discussions in 1935“, in: ders. (Hg.): University Teaching of International Relations. A Record of the Eleventh Session of the International Studies Conference Prague 1938, Paris 1939, 6–13, hier 7. 48 Ebd., 9 [Hervorhebung i. O.]. 49 Vgl. H. F. MacNair: China’s International relations and other essays, Shanghai 1926, 1–2.
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Relations (CFR) in New York – eines der ersten in einer Reihe von außenpolitischen Forschungsinstituten, die besonders in den USA von einflussreichen Stiftungen wie der Carnegie Endowment und der Rockefeller Foundation gefördert wurden.50 Das Publikationsorgan des Think Tanks, die Monatszeitschrift Foreign Affairs, sah es als seine Aufgabe an, unterschiedliche politische und theoretische Standpunkte der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, blieb jedoch elitär.51 Auch die Ursprünge des Institute of International Affairs (IIA) in London, das auch nach seinen Räumlichkeiten in Chatham House benannt ist, liegen in der Nachkriegszeit. Lionel Curtis (1872–1955), Professor für Kolonialgeschichte in Oxford, hatte als Mitglied der britischen Delegation an der Friedenskonferenz teilgenommen und Vorschläge für eine internationale Forschungsinstitution eingebracht, die den Austausch von Informationen sowie die professionelle Analyse und Diskussion internationaler Fragen ermöglichen sollte; aus politischen Gründen blieb es jedoch bei der Gründung eines rein britischen Instituts.52 Unter der Leitung Curtis’ und der wissenschaftlichen Direktion Arnold Toynbees entwickelten sich die Publikationen des Instituts in den Worten Heinz Gollwitzers zu „einer Art weltpolitischer Registratur des Empire“.53 Insbesondere dank seines jährlich erscheinenden und als Nachschlagewerk konzipierten Survey of International Affairs avancierte Toynbee, der seine Arbeit in Chatham House mit einer Professur für Internationale Geschichte an der University of London verband, auch außerhalb der englischsprachigen Welt zu einer Autorität in internationalen Fragen.54 Die neuen außenpolitischen Forschungsinstitute übernahmen in erster Linie eine Beratungs- und Bildungsfunktion, für Staat und Gesellschaft zugleich.55
50 Siehe Peter Grose: Continuing the Inquiry. The Council on Foreign Relations from 1921 to 1996, New York 1996, 1–13, sowie Katharina Rietzler: „From Peace Advocacy to International Relations Research. The Transformation of Transatlantic Philanthropic Networks, 1900–1930“, in: Davide Rodogno/Bernhard Struck/Jakob Vogel (Hg.): Shaping the Transnational Sphere. Experts, Networks and Issues from the 1840s to the 1930s, New York/Oxford 2015, 173–193. 51 Siehe R. D. Schulzinger: The Wise men of Foreign Affairs. The History of the Council on Foreign Relations, New York 1984, 8. Auch für den indischen Kontext stellt Benjamin Zachariah fest, dass Debatten zwar in einem öffentlichen Raum geführt wurden, die von den Debatten konkret konstituierte Öffentlichkeit jedoch selten über die Teilnehmer hinausging. Siehe Benjamin Zachariah: Developing India. An Intellectual and Social History, c. 1930–50, New Delhi 2005, 48. 52 Zu den Ursprüngen von Chatham House siehe W. H. McNeill: Arnold J. Toynbee. A Life, New York/Oxford 1989, 121–122, sowie Grose: Continuing the Inquiry, 8–9. 53 Gollwitzer: Weltpolitisches Denken, 424. 54 Siehe McNeill: Toynbee, 126–133. 55 Akami: Internationalizing the Pacific, 14–15. Nicht nur im Hinblick auf die Zirkulation von Wissen von der Gesellschaft zu Regierungen, sondern auch im Hinblick auf die Zusammensetzung des Expertenkreises aus verschiedenen Fachdisziplinen kann bei den Experten auch von
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Unabhängig davon, ob das von ihnen akkumulierte Wissen letztlich für politische Entscheidungen wirksam werden konnte oder nicht, hatte es nach Einschätzung des Harvard-Professors Stanley K. Hornbeck einen großen Eigenwert und diente der Herausbildung einer „intelligent public opinion“.56 Die zentrale Prämisse der Institute war ihre Überstaatlichkeit. „It is the approach of the scientist seeking truth, rather than that of the diplomat seeking advantage for his country“,57 beschrieb der in Australien geborene Wirtschaftswissenschaftler John Bell Condliffe den Neutralitätsanspruch der Experten.58 In einer Zeit des weltpolitischen Umbruchs und anhaltender internationaler Konflikte war der Anspruch auf politische Neutralität nicht leicht aufrechtzuerhalten. Lionel Curtis etwa sah sich nach einer längeren Chinareise gezwungen, seine Mitgliedschaft in Chatham House aufzugeben, um das Institut durch seine – seines Erachtens kontroversen – Stellungnahmen nicht zu kompromittieren. Mit seinem Werk The Capital Question of China von 1932 äußerte er sich explizit nicht als neutraler Experte zur Situation in China, sondern als Beiträger zu einer politischen Debatte. China, so lautete seine Nachricht, verdiene mehr Aufmerksamkeit, als ihm gemeinhin zukomme; in seinen ungelösten innen- wie außenpolitischen Problemen lauere die größte Bedrohung für den internationalen Frieden. „These pages“, fasste er seine schriftstellerische Intention zusammen, „are merely the result of studies made late in life by one seized with a strong conviction that he, in common with the mass of his countrymen, had too long been ignoring the state of China“.59 Der Übergang von professionellem Schrifttum zu privater oder politischer Meinungsäußerung war fließend. Sowohl hinsichtlich des Erkenntnisinteresses als auch der Form ihrer Beiträge ist oft schwer zwischen Fachexperten und informierten Beobachtern zu unterscheiden. Wenige Autoren griffen auf eine stringente wissenschaftliche Methodik zurück, die mit den Spezialisten späterer
e iner „epistemic community“ gesprochen werden. Siehe hierzu Gunnar Folke Schuppert: Wege in die moderne Welt. Globalisierung von Staatlichkeit als Kommunikationsgeschichte, Frankfurt/ New York 2015, 228. 56 S. K. Hornbeck: „Institutes of International Relations“, CSPSR, Bd. 9, Nr. 4 (Oktober 1925), 769–786, hier 786. 57 J. B. Condliffe: The Pacific Area in International Relations, Chicago 1931, 36. 58 Inoffizielle Studien hatten aus der Sicht ihrer Befürworter den Vorteil, dass internationale Probleme kompromisslos angegangen und Lösungsvorschläge konsequenzlos wieder revidiert werden konnten. Vgl. J. T. Shotwell: „The Puzzle of Chinese Foreign Relations“, Asia, Bd. 30, Nr. 4 (April 1930), 280–283, 300–301. 59 Lionel Curtis: The Capital Question of China, London 1932, v–vii. Nach seiner Rückkehr aus China begann Curtis für eine stärkere Unterstützung Chiang Kaisheks zu werben. Siehe Deborah Lavin: From Empire to International Commonwealth. A Biography of Lionel Curtis, Oxford 1995, 245–246.
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Zeiten vergleichbar wäre: Die Glaubwürdigkeit der Quellen war selten gesichert, die Angabe von Referenzen blieb die Ausnahme. Es war, wie es der Historiker Peter Wilson formuliert, „in many respects the golden age of the amateur“.60 Die Bezeichnung als Experte geschah jedoch nicht willkürlich, sondern stand im Zusammenhang von spezifischen Wissensbeständen, aus denen sich „Kompetenzansprüche und/oder Kompetenzunterstellungen“61 herleiteten. Das „Wissen“ über die internationalen Beziehungen in Asien wurde in westlichen Ländern von einer relativ kleinen Gruppe von Personen generiert, die sich im Idealfall auf der Basis ihrer Ausbildung, ihrer beruflichen Erfahrungen sowie durch systematische Informationssammlung und -auswertung „nicht-selbstverständliche Kenntnisse“62 über die wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Hintergründe und Entwicklungen in asiatischen Ländern angeeignet hatten. Zum „Experten“ wurden sie zum einen dadurch, dass diese Kenntnisse sowohl von Laien als auch von politischen Entscheidungsträgern nachgefragt wurden, andererseits durch ihre Fähigkeit, „sich als kompetent [...] darzustellen“.63 Das Expertentum wurde in der Zwischenkriegszeit besonders mit den technischen, wirtschaftlichen und politischen Kompetenzen der Mitarbeiter des Völkerbundes assoziiert, die einen neuen bürokratischen Funktionalismus in die Welt der internationalen Beziehungen einführten.64 Es ist jedoch wichtig zu sehen, dass im Hinblick auf Asien fachspezifische Schwerpunkte oft nicht entscheidend für den Status eines Experten waren. Das Erfahrungswissen des Missionars Henry Hodgkin über die Entwicklung des Christentums und damit verbundener kultureller und politischer Konflikte in China war auch in internationalen Forschungsinstituten geschätzt. Hodgkins langjährige Tätigkeit in China schien ihn nicht nur für missionsspezifische Fragestellungen zu qualifizieren, sondern auch für eine sehr viel weiter gefasste Interpretation der „various forces now working
60 Peter Wilson: „Introduction: The Twenty Years’ Crisis and the Category of ‚Idealism‘ in International Thought“, in: Long/Wilson (Hg): Thinkers of the Twenty Years’ Crisis, Oxford 2003, 1–24, hier 17. Auch viele Journalisten verfügten über wenig Hintergrundwissen und verließen sich auf Meldungen in anderen Zeitungen. Siehe Read: Power of News, 196–199. 61 Ronald Hitzler/Anne Honer/Christoph Maeder: „Vorwort“, in: dies. (Hg.) Expertenwissen. Die institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit, Opladen 1994, 5–7, hier 6. 62 Ronald Hitzler: „Wissen und Wesen des Experten. Ein Annäherungsversuch – zur Einleitung“, in: ders./Anne Honer/Christoph Maeder: Expertenwissen, 13–30, hier 26 [Hervorhebung i. O.]. 63 Ebd., 27. Der Journalist Nathaniel Peffer konnte bei seinem Verweis auf die Interpretation chinesischer Probleme durch „Experten“ seinen Sarkasmus nicht verbergen. Vgl. Nathaniel Peffer: China. The Collapse of a Civilization, New York 1930, 3. Zur kognitiven Macht von Experten auf der Basis ihrer Kontrolle von Diskursformen siehe Nico Stehr: Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie von Wissensgesellschaften, Frankfurt 1994, 365. 64 Siehe Herren: Internationale Organisationen, 10, sowie Mazower: Governing the World, 144.
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in China“.65 Als „Chinakenner“ galten auch die Philosophen John Dewey und Bertrand Russell, die nach dem Krieg zu den produktivsten und einflussreichsten Berichterstattern über China und dessen internationale Beziehungen gehörten. Missionare, Journalisten und andere Zeitdiagnostiker verstanden sich wenn nicht als Experten der internationalen Beziehungen, so doch als wissenschaftsnahe, neutrale und reformorientierte Analysten der inneren und äußeren Entwicklungen asiatischer Länder. „What follows is the work of a newspaper man, with a taste for, and some training in, the studies of politics and economics“,66 beschrieb der amerikanische Journalist Felix Morley sein Werk Our Far Eastern Assignment (1926), das der Ökonom Henry Morgenthau mit einer wohlwollenden Einleitung versah. Biographien wie diejenige des Journalisten Nathaniel Peffer, der seit Ende der 1930er Jahre an der Columbia University Internationale Beziehungen lehrte, zeugten von einer fließenden Grenze zwischen Zeitdiagnostik und Wissenschaft. Auch richteten sich Wissenschaftler oft nicht an die Fachwelt, sondern an den „durchschnittlichen Leser“, um einem öffentlichen Bildungs- und Informationsauftrag nachzukommen.67 Der amerikanische Orientalist Herbert Henry Gowen, der an der University of Washington lehrte, tat sich für seine History of China mit dem Journalisten Josef Washington Hall zusammen, um in der Kombination von wissenschaftlicher Recherche und „intimate personal touch“ zu einem dezidiert populärwissenschaftlichen Narrativ gelangen.68 In der weit verzweigten Asienpublizistik koexistierten und verschwammen überprüfbare Wissensbestände mit subjektiven Einzelmeinungen, spezialisierte Fachbeiträge mit unterhaltender Erzählung und mehr oder weniger offensichtlicher Propaganda.69 65 H. T. Hodgkin: China in the Family of Nations, London 1923, 9. Vgl. ders.: Memorandum on Missions. Institute of Pacific Relations Preliminary Paper Prepared for Second General Session July 15–29, 1927, Honolulu 1927. Vgl. auch ders.: „Institute of Pacific Relations“, CR, Bd. 58, Nr. 9 (September 1927), 584. 66 Morley: Far Eastern Assignment, xii. Ulf Hannerz vergleicht die Arbeit von Auslandskorrespondenten mit derjenigen von Anthropologen: Sie beide seien Übersetzer zwischen Kulturen, „managing meaning across distances“: Ulf Hannerz: Foreign News. Exploring the World of Foreign Correspondence, Chicago/London 2004, 3. Sherwood Eddy, der seine Sympathien für die Belange der Menschen in Indien und China nicht leugnete, erinnerte an die Notwendigkeit, bei der Problemanalyse jeden „sentimental romanticism“ zu vermeiden. Vgl. Sherwood Eddy: The Challenge of the East. Asia in revolution – India, China, Japan, Korea, Philippines, Turkey, Palestine, New York 1931, xx. Der amerikanische Missionar Sydney Gulick wandte sich gegen „[s]ensation-loving writers on international relations“. Vgl. S. L. Gulick: The Winning of the Far East. A Study of the Christian Movement in China, Korea and Japan, New York 1923, 140. 67 Vgl. etwa P. T. Moon: Imperialism and World Politics, New York 1926, 9. 68 H. H. Gowen/J. W. Hall: An Outline History of China. With a thorough account of the republican era interpreted in its historical perspective, New York/London 1926, vi. 69 Die enorme Bandbreite der Publizistik betont Gollwitzer: Weltpolitisches Denken, 359.
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2.4 Schreiben zwischen Realität und Utopie, zwischen Ost und West Dieses Oszillieren zwischen Öffentlichkeit und Fachwelt, Politik und Eigeninteressen kann als ein Grund dafür angesehen werden, dass die meisten Autoren über ihre Motive und Methodik Rechenschaft ablegten. Mögliche politische Befangenheit war dabei nur ein Aspekt ihres Schreibens, zu dem die Autoren Stellung bezogen. Auch die Bedingungen des Prognostizierens betrafen alle Autoren gleich. Angesichts der Wandlungsprozesse, in denen sich Asien und die west-östlichen Beziehungen befanden, war es verlockend, schwer zu widerlegende Spekulationen über zukünftige Entwicklungen anzustellen. Dass Prognosen jedoch nicht mit gesichertem Wissen verwechselt werden durften, wurde stets betont. Vor allem im Hinblick auf China waren politische und wirtschaftliche Trends für Außenstehende schwer zu ergründen. Der China-Korrespondent Nathaniel Peffer äußerte sich kritisch gegenüber vorschnellen Schlussfolgerungen über die Zukunft des Landes: Prospectuses abound in every newspaper, in every official pronouncement, in the works of all the articulate, the sometimes too articulate, members of the intelligentsia. But words are uttered and heard, or written and read, and before they can be taken in by the mind they are belied by what occurs. What is today in the eighteen provinces that constitute a continent rather than a country […] – that the mind cannot comprehend, because the eye cannot see clearly enough.70
Wie Peffer sah sich kaum ein Autor selbst gern als Prophet. Ein gewisses Maß an Prognostik war jedoch ein kaum wegzudenkender Bestandteil einer tendenziell reform- und problemlösungsorientierten Asien-Publizistik. Solange der Blick in die Zukunft nicht auf ungeprüfter Intuition basierte, sondern auf einer differenzierten Interpretation der Gegenwart im Licht der Vergangenheit, galt er für die Kommentatoren als legitime und notwendige Aufgabe, wollte man den transitorischen Charakter der Gegenwart erfassen.71 H. G. Wells legitimierte das prognostische Schreiben als konstitutives Element der Geschichtswissenschaft:
70 Peffer: China, 8. Vgl. auch Hodgkin: China, 10. Ähnlich kritisch war auch J. H. Maxwell: „H. G. Wells on the Future of India and Islam“, MR, Bd. 32, Nr. 5 (November 1922), 556–558, hier 556. 71 Vgl. etwa Curtis: Capital Question, 293; Upton Close [Josef Washington Hall]: The Revolt of Asia. The End of the White Man’s World Dominance, New York/London 1927, 318; Stanley Rice: The Challenge of Asia, London 1925, 214. Siehe zur Methodik der historischen Extrapolation der Zukunft etwa bei Alfred Zimmern Andreas Osiander: „Rereading early Twentieth-century International Relations Theory. Idealism revisited“, in: B. C. Schmidt (Hg.): International Relations and the First Great Debate, New York 2012, 33–59, hier 42.
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Science is not an account of facts but a criticism and analysis of facts, and history in so far as it is a science is not a mere record of events but an analysis of the relationship of events. It is an analysis of the main operating causes that determine the general flow of human affairs. It is therefore not merely legitimate for historians to attempt forecasts of the general trend of events in the future, but not to attempt them is a frank confession of the futility of history.72
Zudem wies unter anderem der amerikanischen Geologe Harry Foster Bain darauf hin, dass beispielsweise für die Ausrichtung des wirtschaftspolitischen Kurses westlicher Länder gegenüber China nicht die gegenwärtigen, sondern die antizipierten wirtschaftlichen Gewinne entscheidend waren.73 Wirtschaftliche Lobbygruppen wie die 1898 in New York gegründete American Asiatic Association, die sich vorwiegend aus Händlern, Bankern und Landwirten zusammensetzte, waren von der Notwendigkeit für Investitionen in einen scheinbar unbegrenzten chinesischen Markt überzeugt und propagierten diese Zukunftsvision ungeachtet der Frage, ob gegenwärtig Gewinne in China realisiert wurden oder nicht.74 Oft war zwischen einer Zukunft, die sein konnte, und einer, die sein sollte, kaum zu unterscheiden. In dem Maße, wie darin eine bestimmte Vorstellung von der Welt implizit werde, könne von objektiven Vorhersagen nicht die Rede sein, schrieb Antonio Gramsci in seinen Gefängnisheften (1929–1935).75 Vorhersagen waren oft durch spezifische Interessen, in jedem Fall aber durch Weltbilder vorgeprägt. Viele Autoren hielten es vor diesem Hintergrund für angebracht, über die kulturelle Bedingtheit ihrer Perspektive und dabei besonders über imperialistische Wahrnehmungsmuster zu reflektieren. Die Geschichte Asiens und asiatischer Länder schien allzu oft aus westlicher Perspektive erzählt und an westlichen Standards gemessen worden zu sein.76 Über die Bedingungen der Fremdwahrnehmung bemerkte der indische Philosoph und Dichter Rabindranath Tagore: Our knowledge of our own countrymen and our feelings about them have slowly and unconsciously grown out of innumerable facts which are full of contradictions and subject to incessant change. But in a foreign land we try to find our compensation for the meager-
72 Wells: A Forecast, 7. 73 Vgl. H. F. Bain: Ores and Industry in the Far East. The influence of key mineral resources on the development of Oriental civilization, New York 1927, 2. 74 Siehe Eperjesi: Imperialist Imaginary, 99–100. 75 Eperjesi zitiert Antonio Gramsci hinsichtlich des politischen Momentes aller Vorhersagen. Siehe ebd. 76 Vgl. etwa Grover Clark: The Great Wall Crumbles, New York 1935, 1. An die Schwierigkeiten bei dem Versuch, Konzepte wie dasjenige der „Nation“ zu generalisieren und auf China zu übertragen, erinnert John Dewey: „Is China a Nation?“, TNR, Bd. 21, Nr. 319, (Januar 1921), 187–190, hier 188. Ähnlich H. M. Diamond: „Changing Character of China’s Civilization“, CR, Bd. 4, Nr. 4 (April 1923), 154–155, 194, hier 154.
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ness of our data by the compactness of the generalisation which our imperfect sympathy itself helps us to form.77
Vor diesem Hintergrund sprach sich manch ein Autor für eine kosmopolitischere Perspektive aus. „Let us forget, for the present, country and race“, schrieb etwa die amerikanische Journalistin Pearl Buck, die für ihren Roman The Good Earth von 1931 den Pulitzer Prize gewinnen sollte, „and remember only that we are human beings dwelling together upon the earth, our common home“.78 Andere Autoren waren pragmatischer. Er widme sich den Ereignissen in Asien mit aller Offenheit, die seine westlichen Wurzeln zuließen, erklärte Sir Alexander Frederick Whyte, der für die Liberalen im Parlament politische Erfahrung gesammelt hatte, bevor er nach dem Krieg in Indien und China politisch und journalistisch tätig wurde.79 Die britische Perspektive insbesondere auf Indien baute auf völlig anderen historischen Voraussetzungen auf als die amerikanische; eine klare Abwendung vom Empire blieb auch im linken politischen Spektrum die Ausnahme.80 Einige britische Autoren wie etwa der Historiker Edward Thompson meinten daher, die antikolonialen Ansichten asiatischer und amerikanischer Publizisten widerlegen und die eigene Haltung rechtfertigen zu müssen.81 Auch amerikanische Autoren taten sich jedoch schwer damit, ihren „westlichen“ Blickwinkel abzulegen. So forderte Herbert Gowen zwar eine neue, „pazifische“ Perspektive auf Asien ein, legte den Fokus seiner eigenen Geschichte Asiens jedoch bewusst auf jene Ereignisse, die in direktem Zusammenhang mit der amerikanischen und europäischen Geschichte standen. „To attempt a history of Asia from the Asiatic point of view“, rechtfertigte er diesen Schritt, „would be to miss those interests which for the present furnish the bond between East and West“.82 Gute Voraussetzungen dafür, die Beziehungen zwischen asiatischen und westlichen Ländern auch aus „west-östlicher Perspektive“ zu analysieren, schienen Autoren mit asiatischem Hintergrund zu haben. Der in der Mandschurei als
77 Rabindranath Tagore: Creative Unity, London 1922, 93–94. 78 P. S. Buck: „China and the West“, AAAPSS, Bd. 168 (Juli 1933), 118–131, hier 119. 79 Vgl. A. F. Whyte: Asia in the Twentieth Century, New York/London 1926, 3. Zum Werdegang Whytes siehe A. B. Macaulay: „Whyte, Alexander (1836–1921)“, rev. H. C. G. Matthew, Oxford Dictionary of National Biography, Bd. 58, Oxford 2004, 796. 80 Siehe Claeys: Imperial Sceptics, 8. 81 Vgl. etwa Edward Thompson: America and India, London 1930. Für eine zeitgenössische britische Einschätzung der öffentlichen Meinung in den USA über die britische Politik in Indien vgl. Rushbrook Williams: „Indian Unrest and American Opinion“, AR, Bd. 26, Nr. 86 (Juli 1930), 479–508. 82 Vgl. H. H. Gowen: Asia. A short history from the earliest times to the present day, Boston 1926, vii–viii. Vgl. ders.: „Asia’s Challenge“, TWT, Bd. 9, Nr. 1 (Januar 1926), 27–28.
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Sohn koreanischer Flüchtlinge geborene Politologe No-Yong Park galt als Koryphäe in der jungen Disziplin der Internationalen Beziehungen und als Autorität für „Oriental Questions“. In Harvard, wo er seine Ausbildung erhalten hatte, ebenso wie in der Presse und an den Orten seiner zahlreichen Gastvorträge über die Mächteverhältnisse im pazifischen Raum pries man seine Fähigkeiten, Ost und West nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch zusammenzubringen. „Doctor No-Yong Park has combined the subdued humor of the East with the realism of the West“,83 schrieb Charles A. Beard, einer der einflussreichsten amerikanischen Politikwissenschaftler dieser Zeit, in seinem Vorwort zu Parks Werk Retreat of the West. The white man’s adventures in Eastern Asia (1937). Man erkannte und begrüßte einen Trend unter jungen asiatischen Wissenschaftlern und politischen Schriftstellern, zur Interpretation der Ereignisse in ihrer Heimat selbst beizutragen.84 Dass Chinas Probleme bisher zu wenig verstanden seien, könne zumindest teilweise dem Mangel an adäquaten Berichten und Interpretationen aus chinesischer Feder zugeschrieben werden, betonte der ehemalige britische Chefdiplomat in China, Sir John Jordan. Die kulturelle Vertrautheit und das „first-hand knowledge“, das die jungen Wissenschaftler in die Debatte einbrachten, erweiterten aus seiner Sicht auch den Erkenntnishorizont der westlichen Kollegen.85
2.5 Die andere Sicht: Indische und chinesische Autoren im transnationalen Diskurs Die diskursive Auseinandersetzung mit der Zukunft asiatischer in Relation zu westlichen Ländern war eine transnationale und transkulturelle Angelegenheit, die nicht in ihrer vollen Tragweite verstanden werden könnte, beschränkte man ihre Untersuchung geographisch auf ein Land oder einen der Erdteile. Die medialen und non-medialen Wege, auf denen sich westliche und asiatische Autoren
83 C. A. Beard: „Foreword“, in: No-Yong Park: Retreat of the West. The white man’s adventures in Eastern Asia, Boston/New York 1937, v. Siehe auch die digitalisierte Broschüre zur Ankündigung einer Vorlesung von 1924: „No Yong Park“, University of Iowa Libraries, Iowa Digital Library [http://digital.lib.uiowa.edu/cdm/compoundobject/collection/tc/id/25023/rec/1, abgerufen am 15.10.14]. 84 Vgl. „The Foreign Relations of China by M. J. Bau“, JBIIA, Bd. 2, Nr. 2 (März 1923), 77–79. 85 Vgl. J. N. Jordan: „Preface“, in: M. T. Z. Tyau: China Awakened, New York 1922, v–vi; P. S. Buck: „Introduction“, in: Lin Yutang: My Country and my People, New York 1935, x–xii; Herbert Wright: „Foreword“, in: Taraknath Das: Foreign Policy in the Far East, New York/Toronto 1936, vii–xi; sowie den Klappentext des Herausgebers in Maurice Parmelee: Oriental and Occidental Culture. An Interpretation, New York/London 1928.
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ustauschten, waren zahlreich. Im Hinblick auf die engen Verflechtungen zwia schen dem Publikationswesen Großbritanniens und der USA kann von einer angloamerikanischen Öffentlichkeit gesprochen werden, die in dieser Form keine asiatische Entsprechung fand; die inner-asiatische Kommunikation nahm unter dem Zeichen der Konfrontation mit dem westlichem Imperialismus zu, blieb aber von der sprachlichen Vielfalt her begrenzt und fand nicht selten auf Englisch statt.86 Die englische Sprache entwickelte sich immer mehr zur Universalsprache; sie war nicht nur die Sprache der beiden dominanten Wirtschaftsmächte Großbritannien und USA und zunehmend auch diejenige der Wissens- und Informationsverbreitung, sondern neben Französisch auch offizielle Sprache des Völkerbundes.87 Sie war der Schlüssel für jeden asiatischen Autor, der sich international vernetzen und mit seinen Texten auch die Menschen in westlichen Ländern erreichen wollte. Besonders eklatant war die Dominanz des Englischen in offiziellen und intellektuellen Kreisen Indiens, wo das gesamte Bildungssystem lange anglisiert war. Indische Gelehrte wie Rabindranath Tagore, Wissenschafter und politische Aktivisten wie Benoy Kumar Sarkar, Lajpat Rai, Jawaharlal Nehru und Taraknath Das hatten ein nationales, imperiales und globales Publikum im Sinn. Ein Zentrum der englischsprachigen Literatur in Indien waren Bengalen und seine Hauptstadt Kalkutta. Hier erschienen nicht nur viele englischsprachige Tageszeitungen, sondern mit der Modern Review auch die populärste indische Monatszeitschrift der Zwischenkriegszeit – der New Yorker Südasiens.88 Neben vielen anderen intellektuellen Zeitschriften wie der Indian Review (Madras), dem Indian Social Reformer (Bombay), der Hindustan Review (Allahabad und Kalkutta) und Gandhis Young India (Bombay) richtete sich die Modern Review an eine gebildete,
86 Während seiner Japanreise im Jahr 1916 hielt etwa Tagore seine öffentlichen Reden auf Englisch, wobei ihm jedoch nur ein Teil seiner überaus gebildeten Zuhörer folgen konnte. Siehe S. N. Hay: Asian Ideas of East and West. Tagore and His Critics in Japan, China, and India, Cambridge, MA 1970, 63. Siehe auch Gollwitzer: Weltpolitisches Denken, 419. Die panasiatischen Konferenzen, die Mitte der 1920er Jahre in Shanghai und Nagasaki organisiert wurden, machten die Kommunikationsprobleme mehr als deutlich. Weder Japanisch noch Chinesisch oder Englisch wurden hier als Lingua franca akzeptiert; die Folge war der Rückgriff auf Übersetzungen und der Plan für ein asiatisches Esperanto. Siehe Weber: „Wer und was spricht für ‚Großasien‘?“, 162–163. 87 Siehe David Crystal: English as a global language, Cambridge 2003, 80–121. Crystal weist darauf hin, dass die Anzahl der internationalen Organisationen, die Englisch als ihre Hauptsprache nutzten, in Asien besonders groß war. Siehe ebd., 88. Wie Valeska Huber darlegt, scheiterten jedoch die Versuche, ein stark vereinfachtes und standardisiertes „Basic English“ als Lingua franca zu etablieren. Siehe Huber: „Basic English“. 88 Siehe M. R. Frost: „,The Great Ocean of Idealism‘: Calcutta, the Tagore Circle, and the Idea of Asia, 1900–1945“, in: Shanti Moorty/Ashraf Jamal (Hg.): Indian Ocean Studies. Cultural, Social, and Political Perspectives, New York/London 2010, 251–279, hier 253.
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englischsprachige Leserschaft, die 1921 bereits mehr als zwölf Prozent der leseund schreibkundigen Bevölkerung Indiens ausmachte.89 In China war die Situation eine andere. Vergleichbare englischsprachige Publikationen fanden sich hier nur in Städten mit hohem Ausländeranteil, allen voran in Beijing und Shanghai, das auf der Basis eines modernen Druck- und Verteilungssystems zum Zentrum des modernen chinesischen Verlagswesens und der z ivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit avancierte. Ausländische Missionare und Zeitungsmacher hatten an dieser Entwicklung mitgewirkt.90 Ihre Publikationen dienten nicht nur den Ausländern, sondern auch dem Teil der chinesischen Bildungselite als Forum, dem die englischsprachige Kommunikation selbstverständlich geworden war. Das Englische galt vielen chinesischen Intellektuellen der Republikzeit als Medium der Moderne.91 Dennoch fand man hier von Chinesen herausgegebene englischsprachige Monatszeitschriften im Format der Modern Review selten. Im akademischen und politischen Umfeld Beijings gelang es der Chinese Social and Political Science Association, ihre dreimonatliche Review als intellektuelles Austauschforum für politische, wirtschaftliche und kulturelle Fragen zu etablieren. Man hatte sich nach eingehender Überlegung für eine englische Publikation entschieden, um der Internationalität der Organisation gerecht zu werden: If all the members or even a large majority of members of the Association could read Chinese, it would be preferable to have the magazine issued in Chinese, particularly in view of the fact that a periodical in the national language would secure a larger circulation and thereby more effectively achieve the object in view. However, on the other hand, it was found that a quite large percentage of the members were foreigners and that nearly all the members could read English; so it was decided that the magazine be published in the English language and that for the time being, if possible, an annual in Chinese be issued.92
Wer am Austausch mit Ausländern und der – nicht zuletzt nationalistisch motivierten – Repräsentation des Heimatlandes in Übersee interessiert war, der kam 89 Siehe Hay: Asian Ideas of East and West, 247. 90 Siehe Desmond: Windows on the World, 200–204, Natascha Vittinghoff: Die Anfänge des Journalismus in China (1860–1911), Wiesbaden 2002, 2–3, 434, und Barbara Mittler: A Newspaper for China? Power, Identity, and Change in Shanghai’s News Media, 1872–1912, Cambridge, MA/ London 2004, 3. Zur Entwicklung und den Charakteristika der chinesischen Öffentlichkeit auch R. G. Wagner: „Introduction“, in: ders. (Hg.): Joining the Global Public. Word, Image, and City in Early Chinese Newspapers, 1870–1910, Albany 2007, 1–11. 91 Siehe E. S. Henry: „Lending words. Foreign language education and teachers in Republican Peking“, in: A.-M. Brady/Douglas Brown (Hg.): Foreigners and Foreign Institutions in Republican China, London/New York 2013, 52–71, hier 57. Vgl. L. A. Lyall: China, London 1934, 364; William Gascoyne-Cecil/Florence Cecil: Changing China, New York 1910, 21–22. 92 Hawkling Yen: „The Chinese Social and Political Science Association. A retrospect and a pros pect“, CSPSR, Bd. 7, Nr. 1 (Januar 1923), 101–106, hier 102–103.
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nicht umhin, seine Ideen auf Englisch zu formulieren. Für Akademiker wie Hu Shi, Mingchien Joshua Bau (Bao Mingqian), Lowe Chuan-hua (Luo Chuanhua) und P. W. Kuo (Guo Bingwen) ebenso wie für Politiker und Diplomaten wie Sun Yatsen (Sun Yixian), Alfred Sao-ke Sze (Shi Zhaoji) und V. K. Wellington Koo (Gu Weijun) war es gang und gäbe, ihr Texte gleich in westlichen Ländern zu veröffentlichen, um sie der dortigen Leserschaft zugänglich zu machen. In diesen wissenschaftlichen und politischen Kreisen fand sich eine große Zahl der indischen und chinesischen Autoren, die sich an den Debatten über die Zukunft ihrer Länder beteiligten. Intention und Methodik dieser Autoren unterschied sich nicht grundsätzlich von derjenigen ihrer westlichen Kollegen. Auch sie betrachteten ihre Texte als konstitutiv für eine informierte öffentliche Meinung und richteten sie zumeist an eine breite Leserschaft. Es galt im In- und Ausland auf die weltpolitische Bedeutung der Entwicklungen in China und Indien aufmerksam zu machen, über die historischen Parameter und Aussichten dieser Entwicklungen sowie der internationalen Beziehungen zwischen westlichen und asiatischen Ländern aufzuklären und dabei Wissenslücken zu schließen, die man in der breiten englischsprachigen Publizistik entdeckte.93 Das Bedürfnis, konstruktiv an der Lösung nationaler Probleme mitzuwirken, war besonders stark ausgeprägt und floss nicht selten in politisierte Handlungsprogramme ein.94 Wer mit einem wissenschaftlichen Anspruch an Fragen von internationaler Reichweite heranging, tat dies jedoch wie seine westlichen Kollegen mit dem Anspruch auf historische Korrektheit und politische Neutralität. „It has been the author’s hope to give a true picture of things in the Far East and to suggest constructive schemes for every subject touched upon“, präsentierte der chinesische Politologe Sih-Gung Cheng sein Werk Modern China (1919). „He has tried to avoid patriotic bias and to discuss politics with disinterestedness“.95 Angesichts der antiimperialistisch aufgeladenen Stimmung in ihren Heimatländern hielten es manche Autoren für nötig, sich von propagandistischen Texten politischer Aktivisten abzugrenzen.96 93 Vgl. etwa Hu Shi: The Chinese Renaissance, Chicago 1934, ix; Das: Foreign Policy, xiii; Sarvepalli Radhakrishnan: Eastern Religions and Western Thought, Oxford 1939, ix; Lowe Chuan-hua: Facing Labor Issues in China, London 1934, ix. 94 Vgl. etwa Mokshagundam Visvesvaraya: Planned economy for India, Bengalore 1934, v, P. A. Wadia/G. N. Joshi: The Wealth of India, London 1925, v, und M. J. Bau: China and World Peace. Studies in Chinese International Relations, New York/Chicago/London/Edinburgh 1928, 7. 95 Sih-Gung Cheng: Modern China. A Political Study, Westport 1919, iii. Vgl. Pan Shu-lun: The Trade of the United States with China, New York 1924, xiv. 96 Vgl. etwa Radhakrishnan: Eastern Religions, 9. Der moderate Nationalist Lajpat Rai wurde jedoch im American Journal of Sociology als „propagandist of the safest and sanest kind“ beschrieben: Benjamin Stolberg: „The Political Future of India by Lajpat Rai“, AJS, Bd. 25, Nr. 5 (März 1920), 651.
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2.6 Transnationale Öffentlichkeiten Chinesische und indische Autoren waren also Teil „transnationaler Öffentlichkeiten“97 über die Zukunft Asiens, die sich in der Literatur deutlich abzeichneten: Chinesische und indische Autoren trugen Artikel zu amerikanischen und britischen Zeitschriften bei und umgekehrt; Bibliographien und Buchbesprechungen zeugen davon, dass die Monographien britischer und amerikanischer Autoren in den beiden asiatischen Ländern rezipiert wurden und umgekehrt; Briten und Amerikaner überarbeiteten die Manuskripte oder schrieben einleitende Worte für Monographien chinesischer und indischer Autoren, die teilweise in Großbritannien und den USA erschienen, und umgekehrt. „I am grateful to Mr. Bruno Lasker of the Institute of Pacific Relations“, schrieb Hu Shi in seinem 1934 in Chicago erschienenen Sammelband The Chinese Renaissance, „who has been kind enough to read through the whole manuscript, revise its English, and give me ten pages of very frank criticism“.98 Dieser west-östliche Kommunikationsraum basierte auf einer Vielzahl transnationaler und transkultureller99 Biographien, Institutionen und Netzwerke.100 97 „Öffentlichkeit“ wird hier verstanden als sprachlich vermitteltes „Diskussionssystem“. Der Begriff der Transnationalität verweist dabei auf den grenzüberschreitenden Charakter der kommunikativen Netzwerke. Siehe Hartmut Kaelble/Martin Kirsch/Alexander Schmidt-Gernig: „Zur Entwicklung transnationaler Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert. Eine Einleitung“, in: dies. (Hg.): Transnationale Identitäten und Öffentlichkeiten, 7–33, hier 22–29. Wie auch Vanessa Ogle darlegt, sind die kommunikativen Verbindungen zwischen den Autoren jedoch nicht immer gut belegbar. Oftmals entstand die Synchronität der Ideen auch aus der Parallelität der Umstände und Fragestellungen. Siehe Ogle: Transformation of Time, 210–211. Man kann mit Boris Holzer auch von einer „Gemeinschaft ohne Nähe“ sprechen, die sich durch „schwache Bindungen und einzelne besonders gut vernetzte Konnektoren“ auszeichnet. Siehe Boris Holzer: „Vom globalen Dorf zur kleinen Welt: Netzwerke und Konnektivität in der Weltgesellschaft“, in: Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft“, 2005, 314–329, hier 325–326. 98 Hu: Chinese Renaissance, ix. 99 Für Martin Löffelholz und Andreas Hepp verweist der Begriff der Transkulturalität auf die Verbindungen „durch Kulturen hindurch“, die die Vorstellung homogener, territorial definierter und abgegrenzter (National-)Kulturen widerlegen und das Konzept transkultureller Lebensformen naheliegender erscheinen lassen. Siehe Martin Löffelholz/Andreas Hepp: „Transkulturelle Kommunikation“, in: Andreas Hepp/Martin Löffelholz (Hg.): Grundlagentexte zur transkulturellen Kommunikation, Konstanz 2002, 11–33, hier 14–16. Der Begriff der transkulturellen – ähnlich wie derjenige der interkulturellen – Kommunikation bezeichnet im Kontext dieser Arbeit die Kommunikation über kulturelle Grenzen hinweg und kann darüber hinaus dazu beitragen, die Identität vieler Autoren als Produkt von ebenso wie als Vermittler zwischen verschiedenen Kulturen zu charakterisieren. Siehe hierzu auch Schuppert: Wege in die moderne Welt, 231. 100 Jürgen Mittag und Bertold Unfried beschreiben Netzwerke als „informeller, fluider, zeitlich begrenzter, weniger verfestigt und seltener auf Dauer angelegt als Institutionen“. Formal reichen
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Neben den vielfältigen medialen und missionarischen Strukturen waren diese, erstens, häufig akademischer Natur. Bildungskooperationen besonders zwischen amerikanischen und chinesischen Universitäten waren bereits fest etabliert.101 Einladungen ausländischer Wissenschaftler für Gastprofessuren, zu Vorträgen und Konferenzen stellten ebenso die Regel dar wie studentische Auslandsaufenthalte. Chinesische und indische Studenten nutzten die Zeit ihrer Ausbildung in den USA oder Großbritannien, um sich mit eigenen Zeitschriften wie beispielsweise der Chinese Students’ Monthly in New York an öffentlichen Debatten zu beteiligen; viele von ihnen, wie etwa der indische Politikwissenschaftler Sudhindra Bose, nahmen in ihrer Wahlheimat langfristige universitäre Positionen an. Zweitens sind politisch-revolutionäre Netzwerke zu nennen, wie sie von der internationalen Arbeiterbewegung, der Komintern und anderen antikolonialen Bewegungen geschaffen wurden. Wenn sie im Ausland für die Belange ihrer Heimat kämpften, mobilisierten politische Aktivisten wie Lajpat Rai und Taraknath Das nicht nur die indische Diaspora, sondern kultivierten auch intensive Kontakte zu einheimischen Medien und Sympathisanten, die ihnen wiederum zu einer starken öffentlichen Stimme verhalfen.102 Rais Freundschaft und
s ie „von der direkten menschlichen Begegnung bis hin zur virtuellen Kommunikation“: Jürgen Mittag/Bertold Unfried: „Transnationale Netzwerke – Annäherung an ein Medium des Transfers und der Machtausübung“, in: dies./van der Linden (Hg.): Transnationale Netzwerke, 9–25, hier 17. 101 Für den Bereich der Wirtschaftswissenschaften findet sich eine Übersicht über die intensive sino-westliche Bildungskooperation bei P. B. Trescott: Jingji Xue. The History of the Introduction of Western Economic Ideas into China, 1850–1950, Hong Kong 2007. 102 Die Aktivitäten der beiden Revolutionäre in den USA werden aufgearbeitet von H. A. Gould: Sikhs, Swamis, Students, and Spies. The India Lobby in the United States, 1900–1946, Neu Delhi 2006, Kapitel 6 und 7. Über die südasiatischen Aktivisten in den USA schreibt Gould, dass sich diese sehr frei innerhalb der USA, Europas und Asiens bewegen konnten, „with links to a host of kindred groups and individuals from a variety of revolutionary backgrounds in London, Paris, Berlin, Geneva, Stockholm, Shanghai, Hong Kong, and Tokyo“: ebd., 242. Siehe auch T. K. Mukherjee: Taraknath Das. Life and Letters of a Revolutionary in Exile, Kalkutta 1998, sowie die ältere Studie N. S. Hardikar: Lala Lajpat Rai in America, New Delhi 1966. Die Bedingungen der grenzübergreifenden antikolonialen Zusammenarbeit untersuchen auch Jürgen Dinkel: „Globalisierung des Widerstands: Antikoloniale Konferenzen und die ‚Liga gegen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit‘, 1927–1937“, in: Kunkel/Meyer: Aufbruch ins postkoloniale Zeitalter, 209–230, sowie Kris Manjapra: „Communist Internationalism and Transcolonial Recognition“, in: Sugata Bose/Kris Manjapra (Hg.): Cosmopolitan Thought Zones. South Asia and the Global Circulation of Ideas, Basingstoke/New York 2010, 159–177. Und mit einem Fokus auf den vielfältigen Interaktionen zwischen indischen und deutschen Revolutionären und Intellektuellen zwischen 1880 und 1945: Kris Manjapra: Age of Entanglement. German and Indian Intellectuals across Empire, Cambridge, MA/London 2014.
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I Einleitung
usammenarbeit mit Jabez Sunderland ist hierfür ein einschlägiges Beispiel. In Z einer Rede vor der League of Oppressed Peoples in New York beschrieb Rai seine Erfahrungen als politischer Exilant und seine Beziehung zum amerikanischen Publizisten Oswald G. Villard: The Liberal and Radical press of the country has been extremely generous and considerate towards me. Even the New York Times allowed me much space at first, but when the war dragged on it dropped me and would not even let me contradict things said against me in its columns. At this stage it was Mr. Villard who with his innate sense of fair play and justice came to my rescue. […] You gave me opportunities of putting the case for India before the American public at a time when no other paper was prepared to risk doing so.103
Wie das Beispiel Rais zeigt, ermöglichten drittens persönliche Verbindungen den transnationalen Diskurs. Während seiner Tätigkeit beim YMCA baute sich beispielsweise Sherwood Eddy ein vielfältiges Beziehungsnetzwerk auf, unter anderem mit John Rockefeller, Reinhold Niebuhr, Chiang Kaishek, Toyohiko Kagawa und Mohandas Gandhi.104 Hervorgehoben werden sollte auch die Initiative Rabindranath Tagores, der sich während seiner Reisen durch Asien, Europa und Amerika auf ein persönliches Netzwerk von Anhängern stützen konnte und in seiner Heimat Wissenschaftler und Sozialreformer aus allen Erdteilen um sich sammelte.105 Viertens stellte die wachsende Landschaft internationaler Organisationen und Konferenzen nach dem Ersten Weltkrieg einen institutionellen Rahmen für den Informations- und Ideenaustausch bereit. Die Internationalisierungsprozesse, die sich im 19. Jahrhundert noch weitgehend auf zivilgesellschaftlicher und privatwirtschaftlicher Ebene bewegt hatten, erlangten eine neue politischadministrative Qualität. Der Völkerbund – die erste internationale Organisation mit dem völkerrechtlichen Status der Extraterritorialität – und seine Unterorganisationen beschäftigten Experten verschiedenster Fachbereiche und entsandten diese in ihre Mitgliedstaaten, wo sie als Entwicklungsberater auftraten; das umfassendste technische Kooperationsprogramm dieser Art entstand in China.106 Aber auch außerhalb des Völkerbundes etablierten sich grenzübergreifende Handlungsfelder etwa in der Bevölkerungs- und Umweltpolitik. Immer bedeutender für diese „transnationale Infrastruktur des Wissens“107 wurden die 103 „Lajpat Rai’s Address“, UI, Bd. 1, Nr. 22 (Februar 1921), 346. 104 Siehe Nutt: The Whole Gospel, 3–4. 105 Siehe Uma Dasgupta: Rabindranath Tagore. A Biography, Oxford 2005, 70. 106 Siehe Susanne Kuß: Der Völkerbund und China. Technische Kooperation und deutsche Berater 1928–34, Münster 2005, 7. Siehe auch Herren: Internationale Organisationen, 54. 107 Sönke Kunkel/Christoph Meyer: „Dimensionen des Aufbruchs: Die 1920er und 1930er Jahre in globaler Perspektive“, in: dies.: Aufbruch ins postkoloniale Zeitalter, 7–33, hier 18.
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unabhängigen außenpolitischen Forschungseinrichtungen. Die beiden Institute in London und New York waren schon aufgrund ihrer Thematik international orientiert, zählten Asiaten zu ihren Mitgliedern und luden asiatische Redner zu ihren Konferenzen; sie blieben organisatorisch jedoch weitgehend im nationalen Rahmen verhaftet.108 Anders das 1925 gegründete Institute of Pacific Relations (IPR), das aus den internationalen Netzwerken des YMCA hervorging und dessen regionaler Fokus sich in seiner Organisationsstruktur widerspiegelte: Unabhängige nationale Sektionen unter anderem in den USA, Kanada, China, Japan, Australien, Neuseeland und auf den Philippinen arbeiteten eng mit dem internationalen Sekretariat der Organisation in Honolulu zusammen, das alle internationalen Aktivitäten, insbesondere die zwei- bis dreijährlichen Konferenzen koordinierte.109 Man sah die Aufgabe des Instituts darin, durch internationale Forschungskooperation das Verständnis gemeinsamer Probleme zu vergrößern und die neuen Erkenntnisse gemeinsam zu diskutieren.110 Dieser internationalistische Anspruch darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Einfluss der amerikanischen Sektion auf die Programmatik des IPR den der anderen Sektionen bei Weitem überstieg – eine Tatsache, die sich in der Verlegung ihres Hauptquartiers nach New York im Jahr 1933 widerspiegelte. In ihren Anfangsjahren war die Organisation Wilsons liberal-demokratischer Variante des Internationalismus verpflichtet, und die Vorstellung einer „pazifischen Gemeinschaft“, auf der die Organisation aufbaute, unterlag dem regionalen Führungsanspruch der USA.111 Ungeachtet ihrer 108 Die Konferenz mit dem Titel „The Chinese Republic and the Powers“, die 1926 vom Institute of Politics im amerikanischen Williamstown einberufen wurde, richtete sich an „experts on all phases of the Far Eastern problem: Chinese, Japanese, Russians, diplomats, missionaries, educators, business men, economists, sociologists, and military men“: H. K. Norton: China and the Powers, New York 1927, x. Arnold Toynbee betrachtete die Internationale Konferenz für Institute der Internationalen Beziehungen als eine mit dem Institute of Pacific Relations vergleichbare Einrichtung. Vgl. A. J. Toynbee: „World Sovereignty and World Culture: The Trend of International Affairs Since the War“, PA, Bd. 4, Nr. 9 (September 1931), 753–778, hier 773–775. 109 Eine Auflistung der Konferenzen mit ihren verschiedenen Themenschwerpunkten findet sich in Akami: Internationalizing the Pacific, Appendix 1. 110 Condliffe: Pacific Area, 37. 111 Siehe Akami: Internationalizing the Pacific, 4–5, 44–45, sowie Rosenberg: American Dream, 110–112. Mit der Zuspitzung des sino-japanischen Konfliktes im Verlauf der 1930er Jahre ließ sich bei einigen Mitgliedern des amerikanischen IPR eine Sympathie für die marxistische Theorie und das Ideal der sozialen Gerechtigkeit feststellen, was dazu führte, dass das Institut nach dem Zweiten Weltkrieg der Kollaboration mit den Kommunisten bezichtigt wurde. Siehe hierzu Akami: Internationalizing the Pacific, 212–213. Zu den Verwicklungen des Instituts mit der linksgerichteten Zeitschrift Amerasia siehe Harvey Klehr/Ronald Radosh: The Amerasia Spy Case. Prelude to McCarthyism, Chapel Hill/London 1996, 38–42.
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i deologischen Ausrichtung kann die Organisation und ihre Publikationen jedoch als wichtige Kommunikationsplattform für Experten aller pazifischen Länder angesehen werden; wie keine andere nichtstaatliche Organisation dieser Zeit rückte sie Asien in den Fokus ihrer Arbeit und stellte das eurozentrische Weltbild in Frage. Als das „Neue Genf“ sollte in Hawaii auch die Gleichheit der Rassen diskutiert und praktiziert werden.112
2.7 Fazit „Why have private people taken a sudden interest in international politics since the war?“, fragte Arnold Toynbee in seiner Rede bei der vierten Konferenz der Institute für Internationale Beziehungen, die 1931 in Kopenhagen tagte. „Because the War showed us all, in a startling and tragic way, that international politics are a matter of life and death to every man, woman and child in the world.“113 Der Erste Weltkrieg hatte in großen Teilen der Welt die internationalen Beziehungen gleichsam nach Hause gebracht, in die Wohnzimmer der Menschen; mit ihm war deutlich geworden, dass Innen- und Außenpolitik untrennbar verbunden waren und dass sich lokale und regionale Ereignisse global auswirkten; er hatte auf nationaler wie internationaler Ebene alte Kräfte zerstört und neue geschaffen; ihm folgte ein Paradigmenwechsel in der Weltpolitik: eine kooperative internationale Ordnung sollte die alte imperialistische Ordnung ersetzen. Und mit diesem Paradigmenwechsel brachte er schließlich die Einsicht, dass die internationalen Beziehungen einer systematischeren und wissenschaftlicheren Analyse bedurften, um Kriege künftig zu vermeiden. Die Verwissenschaftlichung internationaler Zusammenhänge war ein wichtiger Impuls für die intensivierte Auseinandersetzung mit Asien und steht in direktem Zusammenhang mit dem zweiten zentralen Faktor: der Wahrnehmung einer Zäsur in den Beziehungen zwischen Asien und der westlichen Welt. Mit dem Bedeutungsverlust Europas waren Asien und der pazifische Raum in den Fokus gerückt. Wer die Formierung einer neuen Weltordnung untersuchte, der kam nicht umhin, jene Weltgegenden besonders ins Auge zu fassen, in denen sich die Strukturen des imperialistischen Systems aufzulösen schienen. Wer die Möglichkeiten langfristiger Friedenssicherung ergründen wollte, der konnte die internationalen Spannungen, die in Asien aufgrund dieser Auflösungsprozesse entstanden, nicht ignorieren. Die antiimperialistischen Nationalbewegungen in 112 Siehe Sluga: Internationalism, 63. 113 Toynbee: „World Sovereignty“, 772–773.
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China und Indien taten das Ihre, um Wissenschaftler, Journalisten und andere Beobachter mit Argumenten für die zukünftige weltpolitische Bedeutung dieser Länder – im negativen wie im positiven Sinne – zu versorgen. Lionel Curtis war verantwortlich dafür, dass sich ein großer Teil der Arbeit des IIA in seinen Anfangsjahren auf Ostasien konzentrierte. In einer Diskussionsrunde im Jahr 1929 rechtfertigte er diesen Schwerpunkt: Some members have suggested to me that China and the Far East are taking an undue share of the attention of Chatham House and its available funds. [...] The field of international affairs is literally infinite and the means, human and financial, are both limited. The whole secret of successful and fruitful study lies in the capacity for picking out the things which really matter.114
Er selbst, wie viele Beobachter und Analysten der internationalen Beziehungen, war zu der Erkenntnis gelangt, dass kein Faktor für eine neue, stabile Weltordnung bedeutender war als die internationale Situation in Asien. Der Mangel an Informationen über diese Weltgegend schien ihm ein untragbarer und gefährlicher Zustand.115 Musste Curtis im britischen Institut seinen Standpunkt rechtfertigen, so war das neu entfachte Interesse an Asien im IPR institutionalisiert. Hier versammelten sich Experten aus allen pazifischen Ländern zum inoffiziellen Austausch von Informationen und Meinungen. Wie sich in den Publikationen des Instituts ebenso wie in anderen Fachzeitschriften und in zahlreichen Monographien zum Thema nachvollziehen lässt, war die Beschäftigung mit der Zukunft der west-östlichen Beziehungen eine transnationale Angelegenheit. Und auch die Erfahrungswelt der allermeisten Autoren war eine transnationale. Arnold Toynbee, ein großer Verfechter der internationalen Zusammenarbeit und Kommunikation in weltpolitischen Fragen, stellte in seiner Rede in Kopenhagen auch fest, die wichtigste Entwicklung für die internationalen Beziehungen der Nachkriegszeit sei die Internationalisierung aller menschlichen Angelegenheiten. Gleichzeitig, so räumte er ein, werde sowohl Struktur als auch Charakter dieser Internationalisierung – er sprach von der „internationalen Gesellschaft“ – westlich geprägt sein.116 Diese Einschätzung Toynbees traf sicherlich auf die zunehmend globalisierte Wissensproduktion zu, welche noch weit über den Zweiten Weltkrieg hinaus die „Dominanz westlicher Wissensbestände
114 Lionel Curtis: „The Institute of Pacific Relations“ (11. Juni 1920), Royal Institute of Interna tional Affairs Meeting Papers, Chatham House, London: RIIA 8/87. 115 Curtis: Capital Question, vi. 116 Toynbee: „World Sovereignty“, 768.
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I Einleitung
g arantierte“;117 nicht zuletzt war auch der Zugang zum transnationalen Diskurs durch die englische Sprache geregelt. Dennoch überwog in der zeitgenössischen Wahrnehmung die Aufbruchstimmung. In missionarischen, journalistischen, wissenschaftlichen und politischen Kanälen etablierte sich eine Weltöffentlichkeit, in der die Beziehungen zwischen westlichen und asiatischen Ländern neu verhandelt wurden.
117 Kunkel/ Meyer: „Dimensionen des Aufbruchs“, 18. Schmidt betont jedoch, dass die Disziplin der Internationalen Beziehungen eine globale Debatte konstituierte, wenn auch die Entwicklung v. a. in den USA essentiell für die Disziplingeschichte ist. Vgl. Schmidt: Discourse of Anarchy, 13–14.
II Modernisierungsideen
Wenige Begriffe sind in der Forschungsliteratur über die Geschichte und Gegenwart west-östlicher Beziehungen und Wahrnehmungen umstrittener als diejenigen der Modernisierung und der Moderne. Die Diskussion multipler,1 alternativer2 oder kontingenter3 Formen von Moderne in neuester Zeit ist als Kritik an einem ethnozentrischen und universalisierenden Modernebegriff zu verstehen, wie er insbesondere von den Modernisierungstheoretikern der 1960er Jahre kultiviert wurde. Die Modernisierungstheorie zeichnete sich durch eine Dichotomisierung traditionaler und moderner Gesellschaften aus, wobei Erstere vor allem mit Teilen Afrikas und Asiens, Letztere mit der westlichen Welt identifiziert wurden. Die Dichotomie wurde indes durch die Prämisse aufgehoben, alle traditionalen Gesellschaften seien dazu bestimmt (und in der Lage), westliche Werte und institutionelle Strukturen zu übernehmen, also durch nachholende Entwicklung mit der „westlichen Moderne“ zu konvergieren. Letztere gab damit zeitlich unspezifischen Entwicklungsprozessen in anderen Teilen der Welt ein Ziel vor.4 Dabei war die Modernisierungstheorie nicht nur ein Produkt ihrer Zeit, speziell des amerikanisch-russischen Systemkampfes,5 sondern stand in der intellektuellen Tradition der sozialen Evolutionstheoretiker des 19. Jahrhunderts.6 Diese teilten eine Interpretation der Geschichte als Fortschritt in Richtung einer anfangs europäisch, später universal gedachten Moderne, definiert als „culmination of the human capacity for self-realization“.7 Den höchsten Stand dieser Selbstver1 Siehe Dominic Sachsenmaier/Jens Riedel/Shmuel Eisenstadt (Hg.): Reflections on Multiple Modernities. European, Chinese and other interpretations, Leiden/Boston/Köln 2002. 2 Siehe D. P. Gaonkar (Hg.): Alternative Modernities, Durham 2001. 3 Siehe Wolfgang Knöbl: Die Kontingenz der Moderne. Wege in Europa, Asien und Amerika, Frankfurt/New York 2007. 4 Siehe u. a. Nils Gilman: Mandarins of the Future. Modernization Theory in Cold War America, Baltimore/London 2003, 4–5, 14–15. Wie Fischer et al. darlegen, zeichnen sich Entwicklungstheorien durch ihre Zeitlosigkeit aus. Siehe Karin Fischer/Gerald Hödl/Wiebke Sievers: „Einleitung“, in: dies. (Hg.): Klassiker der Entwicklungstheorie. Von Modernisierung bis post-Development, Wien 2008, 9–24, hier 13. Zur Problematik der nachholenden Modernisierung wird in Kapitel 9 noch mehr zu sagen sein. 5 Siehe M. E. Latham: Modernization as Ideology. Social Science and ,Nation Buildingʻ in the Kennedy Era, Chapel Hill/London 2000, 3. 6 Zur Kontinuität der Ideologie und Sprache der Modernisierung seit dem 19. Jahrhundert auch ders.: „Introduction“, in: D. C. Engerman/Nils Gilman/M. H. Haefele/M. E. Latham (Hg.): Staging Growth. Modernization, Development, and the Global Cold War, Amherst/Boston 2003, 1–22, hier 3–5. Im 19. Jahrhundert war oft von „material progress“ die Rede. Siehe Arndt: Economic Development. The History of an Idea, Chicago/London 1987, 1. 7 Gilman: Mandarins of the Future, 26. Die klassische Modernisierungstheorie sah eine Entwicklung von der Agrar- zur Industriegesellschaft vor, verbunden mit wirtschaftlichem, politischem und soziokulturellem Wandel. Einen Überblick hierzu gibt Nina Degele/Christian Dries: Modernisierungstheorie. Eine Einführung, München 2005, 16–18.
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II Modernisierungsideen
wirklichung sah man in den Errungenschaften der westlichen Gesellschaften, besonders ihrer Mechanisierung und ihren aufklärerischen Ideen gegeben, zu denen die kolonisierten Völker eine Kontrastfolie bildeten.8 Wenngleich der Begriff der „Modernisierung“ vor dem Zweiten Weltkrieg selten auf die Entwicklung ganzer Gesellschaften angewandt wurde,9 existierten die grundlegenden Prämissen der Modernisierungsidee lange vor ihrer Verwissenschaftlichung in den 1960er Jahren. Modernisierungsvorhaben prägten nicht nur die europäische und amerikanische Imperialpolitik um die Jahrhundertwende, sondern auch indische und chinesische Reformbewegungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. In der Zwischenkriegszeit reflektierten sowohl amerikanische und britische als auch indische und chinesische Autoren in großem Maße über den Eintritt Chinas und Indiens in das „moderne Zeitalter“. Die beiden Länder schienen in einem fundamentalen Wandlungsprozess begriffen, der die großen ideologischen und sozio-politischen Umwälzungen des neuzeitlichen Europa – Aufklärung, Industrialisierung, Nationalstaatsgründung – vereinte. Der „Westen“ fungierte dabei als „stereotyped reference space that symbolized the hopes and threats of modernity“.10 Als Hauptinitiator dieses Wandlungsprozesses galt der seit dem 19. Jahrhundert intensivierte Kontakt mit der westlichen Zivilisation, als Beschleuniger die weltpolitischen Veränderungen seit der Jahrhundertwende. Zur Beschreibung und Interpretation des Wandels dienten eine Vielzahl von Bewegungsbegriffen: Es ist von Transformation, Entwicklung und Fortschritt die Rede, von Evolution und Revolution, von Regeneration, Rekonstruktion und Reformation. Ungeachtet jeglicher Wertung im Hinblick auf die zukünftige Bedeutung Indiens und Chinas im Weltkontext stach die bloße Tatsache ihres gegenwärtigen und antizipierten Wandels in den beiden Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg den Beobachtern als entscheidendes Charakteristikum der beiden Länder hervor. Ein wichtiges Merkmal des frühen Aufstiegsdiskurses über China und Indien ist, dass er nicht nur die Denkarten und teilweise das Vokabular der Modernisierungstheorie vorwegnahm, sondern auch die daran geäußerte Kritik. Bereits in der Zwischenkriegszeit bezweifelte eine Vielzahl westlicher und asiatischer Autoren die universale Gültigkeit westlicher Vorstellungen von Modernität und Fortschritt in einer postimperialen Welt. Dies nicht zuletzt, da es nach dem Ersten 8 Siehe Michael Adas: „Modernization Theory and the American Revival of the Scientific and Technological Standards of Social Achievement and Human Worth“, in: Engerman/Gilman/ Haefele: Staging Growth, 25–45, hier 34. 9 Siehe zum Gebrauch des Modernisierungsbegriffs in der Zwischenkriegszeit allgemein Gilman: Mandarins of the Future, 32. 10 Sachsenmaier: „Chinese Debates“, 118.
II Modernisierungsideen
63
Weltkrieg weder einen einheitlichen „Westen“ noch einen einheitlichen „westlichen Entwicklungsweg“ mehr gab. Es galt, neue Strategien zu finden, wie mit dem wirtschaftlichen, politischen und soziokulturellen Wandel umzugehen war. Die Frage, wie westliche Strukturen und Ideologien mit indischen und chinesischen Traditionen und Entwicklungsbedingungen vereinbart werden konnten, um die interne und externe Lage der beiden Länder zu verbessern, strukturierte vor diesem Hintergrund die Modernisierungsdebatten. Das Verhältnis zwischen Moderne und Tradition ebenso wie dasjenige zwischen westlichen und asiatischen Kulturelementen musste verhandelt werden. Diese zentralen Konfliktlinien taten sich indes nicht zwischen anglo- amerikanischen Autoren einerseits und asiatischen Autoren andererseits auf. Zwar bedeutete die Möglichkeit eines alternativen Entwicklungswegs aus asiatischer Sicht auch immer ein Mittel der Emanzipation von imperialistischer Bevormundung; jedoch schien das Beispiel des international zu hohem Ansehen gelangten Japans für viele chinesische und indische Autoren gerade die Modernisierung nach westlichem Vorbild als Weg zu nationaler Stärke und Souveränität auszuweisen. Gleichzeitig war das kulturelle Krisenbewusstsein vieler amerikanischer und britischer Autoren nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur individuell unterschiedlich stark ausgeprägt, sondern auch auf bestimmte gesellschaftliche Bereiche beschränkt. Während etwa der Glaube an die politische Demokratie weitgehend ungebrochen blieb, stellte die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit eine größere Herausforderung für den liberalen Kapitalismus angloamerikanischer Provenienz dar. Ebenso wenig wie indische und chinesische waren sich also britische und amerikanische Autoren darüber einig, auf welchen Gebieten und unter welchen Bedingungen die westliche Lebensweise für Indien und China notwendig oder erstrebenswert war. Dem Legitimationsmangel einer Verwestlichung begegnete man indessen oft durch drei Strategien: erstens durch die Idee einer „aufgeklärten“, also die Errungenschaften des Westens nutzenden, jedoch seine offensichtlichen Probleme vermeidenden Modernisierung; zweitens durch die Vorstellung einer kreativen anstatt imitativen Aneignung westlicher Werte und Institutionen; drittens durch die Forderung einer eigenständigen Entwicklung, frei von imperialistischer Bevormundung, wenn nicht gänzlich frei von ausländischer Unterstützung. Verschiedene Grade von Paternalismus auf westlicher Seite entsprachen dabei Abstufungen von Selbstbewusstsein bei asiatischen Autoren. Wie dominant die oft in philosophisch-abstrakter Manier geführten Debatten über die richtige Navigation zwischen Tradition und Moderne bzw. zwischen „eigener“ und „fremder“ Moderne waren, zeigt sich daran, dass sie bei einigen Kommentatoren bereits auf Widerwillen stießen; eine strikt an den drängenden Problemen der Gegenwart ausgerichtete Auslotung von Reformmöglichkeiten
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II Modernisierungsideen
schien für manchen „Modernisierer“ zielführender zu sein.11 Dennoch zieht sich die Spannung zwischen Partikularismus und Universalismus, in unterschiedlich starker Ausprägung, durch alle drei zentralen Themenbereiche der Modernisierungsdebatte: Nationalismus und politische Rekonstruktion (Kapitel 3), wirtschaftliche Entwicklung und soziale Frage (Kapitel 4) sowie kulturelle und gesellschaftliche Erneuerung (Kapitel 5).
11 Siehe Gunter Schubert: „Chinas Traum von einer anderen Moderne“, in: Andreas Beockh/ Rafael Sevilla (Hg.): Kultur und Entwicklung. Vier Weltregionen im Vergleich, Baden-Baden 2007, 141–164, hier 151. Dass es bei der Suche nach dem „Neuen China“ nicht etwa um utopische Pläne auf dem Papier, sondern um konkrete Ansätze zur Lösung drängender Probleme ging, machte P. C. Chang, Professor für Philosophie an der Nankai Universität in Tienjin, auf einer Sitzung des Royal Institute of International Affairs deutlich. Vgl. P. C. Chang: „The New China“ (6. Juli 1931), Royal Institute of International Affairs Meeting Papers, Chatham House, London: RIIA 8/157, 1. Ebenso äußerte sich auch F. T. Tsiang: „The Present Situation in China“ (21. März 1935), Royal Institute of International Affairs Meeting Papers, Chatham House, London: RIIA 8/373, 2.
3 Projekt Nationenbildung: Modernisierung im Namen der Nation Innerhalb weniger Wochen im Frühjahr 1919 kam es in China und Indien zu zwei Ereignissen, die symptomatisch für den unsicheren Frieden nach dem Weltkrieg waren.1 Am 13. April 1919 versammelte sich eine friedliche Menschenmenge in der nordindischen Stadt Amritsar, um gegen die britische Kolonialherrschaft zu demonstrieren, die nach dem Krieg nicht wie von der indischen Bevölkerung erhofft gelockert, sondern im Gegenteil verschärft wurde. Mit dem Rowlatt Act war kurz zuvor gegen den Widerstand des Nationalkongresses ein Ermächtigungsgesetz verabschiedet worden, das die britischen Machthaber mit weitgehenden Befugnissen ausstattete, um gegen rechts- wie linksorientierte „Revisionisten“ vorzugehen. Das Gesetz ließ die ohnehin angespannte Stimmung im Land kippen, landesweite Proteste und gewaltsame Ausschreitungen waren die Folge. In Amritsar führte die Fehlhandlung eines einzelnen Generals, der auf zivile Demonstranten feuern ließ und dabei hunderte von ihnen tötete, zu einem irreversiblen Vertrauensbruch zwischen Machthabern und Bevölkerung. In Großbritannien nicht selten als heldenvoller Akt der Rettung des Empire in Indien gefeiert, symbolisierte Amritsar für die große Mehrheit der indischen Bevölkerung den repressiven Charakter einer überholten Herrschaft. „There comes a time“, bewertete H. G. Wells 1924 das Massaker, „in the relationship of nations and peoples, as in the relationships of partners [...], when offences become irrevocable. The breaking point seemed to have been reached by the British in India“.2 Kurze Zeit später, am 4. Mai 1919, gingen in Beijing Studenten auf die Straße, um gegen den Beschluss der Verhandlungsführer in Versailles zu demonstrieren, die ehemals deutschen Gebiete in der Küstenprovinz Shandong nicht an China zurückzugeben, sondern einem geheimen Kriegsabkommen entsprechend japanischer Kontrolle zu unterstellen.3 Wie in Indien dominierte in China das Gefühl des Verrats von Freiheitsidealen, für die man gemeinsam gegen die Mittelmächte gekämpft hatte. Es brachte eine Welle des Widerstandes gegen das Privilegiensystem der „ungleichen Verträge“ ins Rollen, die China nach der Niederlage in 1 David Fromkin bezeichnet den Versailler Friedensvertrag in diesem Sinne als „peace to end all peace“: David Fromkin: A Peace to End all Peace: The Fall of the Ottoman Empire and the Creation of the Modern Middle East, 1914–1922, London 1989. 2 H. G. Wells: A Year of Prophecying, London 1924, 220. Zur Bedeutung von Amritsar für die britisch-indischen Beziehungen siehe Alfred Draper: Amritsar. The Massacre That Ended the Raj, London 1981, 13–123, besonders 15–16. 3 Ausführlich zu Wilsons Entscheidung über Shandong B. A. Elleman: Wilson and China. A Revised History of the Shandong Question, Armonk/London 2002. DOI 10.1515/9783110464382-003
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den Opiumkriegen aufgezwungen worden waren und die in den großen Küstenstädten einen semi-kolonialen Zustand generiert hatten.4 Erstmals fanden sich Studenten und Intellektuelle mit Arbeitern und Bauern zu einer „total, popular, patriotic protest movement of the Chinese people“5 zusammen, um jenes Ziel zu erreichen, an dem die chinesischen Delegierten bei den Friedensverhandlungen auf diplomatischem Wege gescheitert waren: die Würde und Unabhängigkeit Chinas wiederherzustellen. Die politische Spannung entlud sich am 30. Mai 1925, als britische Beamte in der Internationalen Konzession Shanghais auf eine Gruppe von Demonstranten schossen. In den Augen der chinesischen Bevölkerung offenbarte der Vorfall den menschenverachtenden Charakter des Imperialismus.6 Die Proteste im Zuge des „Shanghai Incident“ gingen in ihrer Radikalität und zielgerichteten, professionellen Durchführung weit über diejenigen von 1919 hinaus – nicht zuletzt, weil die antiausländischen Ressentiments von Guomin dang und Kommunistischer Partei nun in einen „full blown radical nationalism“7 kanalisiert wurden.
4 Die „ungleichen Verträge“ ermöglichten ein System des informellen Imperialismus in China: Sie bestimmten abgegrenzte territoriale Enklaven – Niederlassungen oder Konzessionen – für Ausländer in vielen chinesischen Städten, die der effektiven Kontrolle der chinesischen Behörden entzogen waren und den Ausländern Residenz und Handel unter westlichen Bedingungen ermöglichten. Ausländer genossen auch außerhalb dieser Enklaven den Status der Extraterritorialität, waren also nicht der chinesischen, sondern der konsularischen Rechtssprechung ihrer Heimatländer unterworfen. Eine Meistbegünstigungsklausel in den Verträgen sicherte die von einer Fremdmacht errungenen Rechte und Privilegien allen Fremdmächten zu, die zudem gemeinsame Kontrolle über zentrale chinesische Institutionen wie die Seezollbehörde ausübten. Schließlich sicherten ausländische Kriegsschiffe den Privilegienkatalog durch Androhung oder gezielte Anwendung von Gewalt. Zum Vertragssystem siehe Osterhammel: Weltgesellschaft, 153–167; ders.: „Semi-Colonialism and Informal Empire in Twentieth-Century China: Towards a Framework of Analysis“, in: W. J. Mommsen/Jürgen Osterhammel (Hg.): Imperialism and After. Continuities and Discontinuities, London 1986, 290–314; Albert Feuerwerker: The foreign establishment in China in the early twentieth century, Ann Arbor 1976, 1–24. Zur Extraterritorialität siehe E. P. Scully: Bargaining the State from Afar. American Citizenship in Treaty Port China, 1844–1942, New York 2001. 5 J. T. Chen: The May Fourth Movement in Shanghai. The Making of a social Movement in Modern China, Leiden 1971, xi. Siehe zur enormen Bedeutung der 4.-Mai-Bewegung für die Entwicklung Chinas im 20. Jahrhundert die Studie von Rana Mitter: A Bitter Revolution. China’s Struggle with the Modern World, Oxford 2004, sowie die wegweisende Studie von Chow Tse-tung: The May Fourth Movement. Intellectual Revolution in Modern China, Cambridge 1960. 6 Siehe Jürgen Osterhammel: Shanghai, 30. Mai 1925. Die chinesische Revolution, München 1997, 14, sowie C. M. Wilbur: The Nationalist Revolution in China 1923–1928, Cambridge 1983, 547–549. 7 N. R. Clifford: Shanghai, 1925: Urban Nationalism and the Defense of Foreign Privilege, Ann Arbor 1979, 11. Siehe auch Osterhammel: Shanghai, 7; Chen: May Fourth, 196.
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„Just as the massacre of Amritsar shocked the scattered fragments of India into a unified life“, schrieb 1926 der irische Missionar Frederick O’Neill, „so the rifles of Shanghai awoke the unwieldy Chinese leviathan once and for all“.8 Tatsächlich schürten die Ereignisse in Amritsar, Beijing und Shanghai wie wenige andere den Nationalismus in Indien und China. Sie standen am Beginn der Massenmobilisierung durch Gandhis Strategie des zivilen Ungehorsams und des gewaltfreien Widerstands, welche die innere Kohärenz der britischen Herrschaft im Verlauf der 1920er und 1930er Jahre aufweichte; sie waren ebenso der Funke für die „nationale Revolution“ in China, den Nordfeldzug der Guomindang und die Etablierung von Chiang Kaisheks Nationalregierung in Nanjing im Jahr 1927. In Indien wie in China formierte sich die Nation – dieses Kernelement westlicher Einflüsse in der Welt – im Widerstand gegen eben diese Einflussnahme.9 Der Nationalismus – „the ideology based on the nation as a self-aware citizen body drawing its legitimacy from an idea of ‚the people‘“10 – prägte wie keine andere politische Ideologie Zukunftsentwürfe für Indien und China: Er dominierte das Selbstbild der chinesischen und indischen Intellektuellen als Teil und Gestalter einer aufstrebenden Nation ebenso wie den Blick von außen auf zwei Gesellschaften in einem tiefgehenden Transformationsprozess. Was Sabine Dabringhaus im Sinne Ernest Gellners für den Fall des chinesischen Nationalismus konstatiert, nämlich dass die nationalistische Bewusstseinsbildung eng mit gesellschaftlicher Modernisierung in Zusammenhang gebracht wurde,11 ist auch im Hinblick auf Indien in hohem Maße relevant. Für chinesische und indische ebenso wie für westliche Intellektuelle entfaltete der Nationalismus in dreifacher Hinsicht eine Signalwirkung für die politische Modernisierung der beiden Länder: Erstens schien das neu entfachte Nationalbewusstsein jene Form der Einheit in einer politischen Form und in einem gemeinsamen politischen Ziel zu stiften, die notwendig war, um das Bestehen der beiden Länder im „modernen Zeitalter“ zu sichern. Vor dem Hintergrund einer engen Assoziation der Idee der Nation mit Moderne und Fortschritt im westlichen politischen Denken galt es, die indische 8 F. W. S. O’Neill: „The New Era“, TCR, Bd. 57, Nr. 5 (Mai 1926), 315–321. Siehe T. J. Thompson: „Frederick W. S. O'Neill, 1855–1952“, Biographical Dictionary of Chinese Christianity, Onlineausgabe [http://www.bdcconline.net/en/stories/o/oneill-frederick-w-s.php, abgerufen am 15.10.14]. 9 Auf diese inhärente Ambiguität in der weltweiten Verbreitung des Nationalismus weist Andreas Eckert hin: Andreas Eckert: „Anti-Western Doctrines of Nationalism“, in: John Breuilly (Hg.): The Oxford Handbook of the History of Nationalism, Oxford 2013, 56–74, hier 59. 10 Rana Mitter: „Nationalism in East Asia, 1839–1945“, in: Breuilly: History of Nationalism, 287– 307, hier 288. 11 Sabine Dabringhaus: Territorialer Nationalismus in China. Historisch-geographisches Denken 1900–1949, Köln 2006, 5.
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und chinesische Nation so zu deuten, dass sie einerseits einem universalen Standard entsprach, ohne andererseits den Kern der eigenen kulturellen Identität zu kompromittieren, in dem man häufig einen Vorteil gegenüber den westlichen Varianten des Nationalismus sah.12 Zweitens war für indische und chinesische Nationalisten ebenso wie für westliche Sympathisanten das Ziel der Nationenbildung von dem der nationalen Freiheit nicht zu trennen: Die „nationale Entwicklung“ bedurfte aus dieser Sicht der politischen Selbstbestimmung und der freien Verfügungsgewalt über die Ressourcen des Landes; die politische Unabhängigkeit setzte wiederum ein „nationales Erwachen“ voraus. In der politischen wie ideellen Überwindung des Imperialismus manifestierte sich der spezifische Charakter des indischen und chinesischen Nationalismus.13 Wer von der Notwendigkeit der politischen Modernisierung Chinas und Indiens überzeugt war, der sah, drittens, im Nationalismus die entscheidende Kraft für die Herausbildung eines Nationalstaates. Obwohl das politische Ziel des starken Staates nicht unangefochten blieb – in Indien fand sich in Gandhi ein großer Skeptiker gegenüber staatlicher Machtanhäufung –, war die Hoffnung auf einen Aufstieg der beiden Länder in den Kreis der großen Mächte meist an die Etablierung eines starken Nationalstaates geknüpft.14 Das Ideal der Demokratie galt es dabei mit der notwendigen Machtkonzentration in Einklang zu bringen, die Freiheit des Einzelnen gegen die Freiheit der Nation abzuwägen. Die Ideale der Einheit, Freiheit und Stärke verbanden sich in unterschiedlicher Gewichtung zu einer Vielzahl von Nationalismen und Reflexionen hierüber. Die Perspektive der westlichen Beobachter war dabei zwangsläufig ambivalenter als die der indischen und chinesischen Autoren. Konnte der Nationalismus
12 Siehe Partha Chatterjee: Nationalist Thought and the Colonial World. A Derivative Discourse, Minneapolis 1998, 1–2; Benjamin Zachariah: „Residual Nationalism and the Indian (Radical?) Intellectual: On Indigenism, Authenticity and the Colonizer’s Presents“, in: Debraj Bhattacharya (Hg.): Of Matters Modern. The Experience of Modernity in Colonial and Postcolonial South Asia, London 2007, 330–359, hier 336; Prasenjit Duara: Rescuing History from the Nation. Questioning narratives of Modern China, Chicago/London 1995, 8: „Nationalism is rarely the nationalism of the nation, but rather marks the site where different representations of the nation contest and negotiate with each other.“ [Hervorhebung i. O.]. 13 Siehe Makarand Paranjape: „Indian Alternationals: Aurobindo, Ambedkar, and After“, in: Takashi Shogimen/C. J. Nederman (Hg.): Western Political Thought in Dialogue with Asia, Plymouth 2009, 209–233, hier 211. 14 Dies trifft in besonderem Maße auf China zu. Siehe etwa M. H. Hunt: „Chinese National Identity and the Strong State: The Late Qing-Republican Crisis“, in: Lowell Dittmer/S. S. Kim (Hg.): China’s quest for national identity, Ithaca 1993, 62–79. Für Indien siehe Gyan Prakash: Another Reason. Science and the imagination of modern India, Princeton 1999, 179.
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einerseits als funktional und progressiv im Sinne der Modernisierung angesehen werden, so entfaltete er auch eine unfunktionale, anti-westliche Dimension, die als „Fehlleitung“ seiner Entwicklungskräfte interpretiert werden konnte.15 Ein Unbehagen über die unberechenbare politische Dynamik der Nationalbewegungen schwang nicht selten in den Untersuchungen mit.16 Ihrer Bedeutungszuschreibung als gewaltige Transformationskraft tat dies jedoch keinen Abbruch.
3.1 Einheit: Das „Erwachen“ zweier Nationen Die Rede vom „nationalen Erwachen“ Indiens und Chinas begleitete den erstarkenden Nationalismus in diesen Ländern nach dem Ersten Weltkrieg.17 Sie diente insbesondere der historischen Einordnung und Sinnstiftung. Die Rhetorik der erwachenden Nation griff das orientalistische Narrativ des „schlafenden“ Chinas oder Indiens auf, um es gleichzeitig gegen seine ursprüngliche Funktion als Bezeichnung des Vormodernen und als Legitimation imperialistischer Herrschaft zu wenden: China und Indien waren nun nicht mehr „unveränderlich“, sondern „regten sich“. Der Übergang von der Metapher des Schlafes zu der des Erwachens wurde auf diese Weise auch zum Abschied vom 19. Jahrhundert, das im Falle Chinas und Indiens in erster Linie eine Zeit der imperialistischen Unterdrückung und inneren Schwäche markierte. Für die indische Zeitschrift Prabuddha Bharata („Erwachtes Indien“), die im Auftrag Swami Vivekanandas erstmals Ende des 19. Jahrhunderts erschien, markierte das Erwachen Indiens eine historische Zeitenwende: One who has eyes must see the signs of awakening everywhere. The darkest, stormy night, so discouraging, so chilly and dreary, is now going to have its end, and we can see the first flush of a sunny dawn. The history of the world bears testimony to the fact that there are ups and downs in the march of a nation. India too went to sleep for some time after a glorious period of her national life. This sleep – this lull and pause after years of tremendous useful
15 Siehe Jürgen Osterhammel: „Modernisierungstheorie und die Transformation Chinas 1800 bis 1949. Kritische Überlegungen zur historischen Soziologie“, Saeculum, Bd. 35 (1984), 31–72, hier 55, sowie Suisheng Zhao: A Nation-state by construction. Dynamics in Modern Chinese Na tionalism, Stanford 2004, 5. 16 Siehe Ch’en: China and the West, 51. 17 John Fitzgerald untersucht die Metapher ausführlich im chinesischen Kontext. Er unterscheidet dabei vor allem zwischen einer transitiven und einer intransitiven Variante. Das evolutionäre Erwachen Chinas wurde demnach bei Sun Yatsen in ein aktives revolutionäres Erwecken des chinesischen Volkes umgedeutet. Siehe John Fitzgerald: Awakening China. Politics, Culture, and Class in the Nationalist Revolution, Stanford 1996, besonders Kapitel 1.
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activity, cannot be everlasting. By the inevitable law of nature, India is rising unmistakably and getting ready for laying her role in the future history of humanity. There is already a stir among the young and old, and instances of sacrifice for the national cause are multiplying from day to day. […] Is it not encouraging and hopeful?18
Solch Pathos war nicht jedermanns Sache. Jedoch blieben kaum einem in- oder ausländischen Beobachter die fundamentalen Veränderungen verborgen, deren Zeuge man in Indien und China werden konnte.19 Mit der Überwindung von Pessimismus und Lethargie wurde eine deutlich spürbare Aufbruchstimmung charakterisiert. Hatte man sich in der Vergangenheit mit den Gegebenheiten abgefunden, so stand in den Worten Alfred Szes auch das chinesische Volk nun „wide-awake“ und in Erwartung einer besseren Zukunft.20 Wie die indische Zeitschrift wurden ganze Bücher den neuen regenerativen Kräften gewidmet – so etwa das Werk China Awakened (1922) des Politikwissenschaftlers Min-ch’ien T. Z. Tyau (Tiao Minqian).21 Als die Kraft, die Indien und China aus ihrem Schlaf erweckte, war schnell der erstarkende Nationalismus in den beiden Ländern identifiziert. Man hatte es – so der breite Konsens – mit dem Erwachen zweier Nationen zu tun. Die Frage, ob die beiden Nationen bereits vorher existierten oder vom Nationalismus erst erschaffen wurden,22 konnte für deren historische Legitimation von Bedeutung 18 Zitiert in MR, Bd. 36, Nr. 6 (Juni 1926), 704. Siehe auch Fitzgerald: Awakening China, 47. 19 Es lassen sich unzählige Stimmen finden. Vgl. z. B. A. F. Whyte: „A Goal in India“, FA, Bd. 5, Nr. 3 (April 1927), 393–406, hier 394; „These Unruly Revolutions“, TNR, Bd. 49, Nr. 648 (Mai 1927), 287–289, hier 288; Eddy: Challenge of the East, 87; E. H. Hume: „The United States and China“, AAAPSS, Bd. 132 (Juli 1927), 67–71, hier 69; B. Lenox-Simpson: „To-day in the East“, CWR, Bd. 19, Nr. 4 (Dezember 1921), 148–150, hier 149; John Dewey: „The Student Revolt in China“, TNR, Bd. 20, Nr. 248 (August 1919), 16–18, hier 16. 20 A. S. Sze: „Reconstruction in China“, AAAPSS, Bd. 177 (Januar 1935), 257–267, hier 267. Auch Wang Chung-hui, Rechtsexperte und ehemaliger Rechtsminister der chinesischen Regierung, sprach 1917 in einem Vortrag vor der Chinese Social and Political Science Association in Beijing davon, dass der Erste Weltkrieg den schlafenden Drachen China erweckt habe, der in einer sich erneuernden Welt seinen Platz einnehmen wolle. Vgl. Wang Chung-hui: Law Reform in China, London 1919, 7. 21 Vgl. Tyau: China Awakened. 22 Siehe die klassischen Studien von Ernest Gellner: Nations and Nationalism, Ithaca 1983, 55: „It is nationalism which engenders nations, and not the other way round“, sowie Eric Hobsbawm: Nations and Nationalism since 1790: Programme, Myth, Reality, Cambridge 1990, 10: „In short, for edingungen the purpose of analysis nationalism comes before nations.“ Die Position, dass die B der Moderne die Formierung von Nationen zwar begünstigte, jedoch einige Nationen auf der Basis ethnischer Bindungen und Zusammengehörigkeitsgefühle bereits vor der Modernisierung existierten, vertritt A. D. Smith: Nationalism and Modernism. A critical survey of recent theories of nations and nationalism, London/New York 1998, 226.
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sein, trat jedoch angesichts der Zukünfte, die sich zu eröffnen schienen, in den Hintergrund. Trugen nationalistische Intellektuelle und westliche Autoren maßgeblich zur „Erfindung“ der Nation in Indien und China bei, so waren die nationalen Bewegungen in beiden Ländern von Beginn an dem konstruktiven Ziel des Nationalstaats verpflichtet.23
3.1.1 „Kampf ums Überleben“: Nationalismus in China Die Wurzeln des modernen chinesischen Nationalismus liegen in der tief emp fundenen Demütigung durch die Opiumkriege in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die militärische Niederlage und die mit dem Friedensschluss erzwungenen „ungleichen Verträge“ brachten die Gewissheit, dass das „Reich der Mitte“ verletz lich und den Imperialmächten militärisch unterlegen war. Am Ende des Jahrhunderts spielte die Niederlage gegen den ehemaligen Vasallen Japan, das gerade einen staatspolitischen Transformationsprozess nach westlichem Vorbild durchlaufen hatte, mit innergesellschaftlichen Faktoren zusammen, um aus der Verunsicherung des imperialen Selbstverständnisses eine veritable Staatskrise zu machen. War der Nationalismus dem politischen Denken Ostasiens nicht gänzlich fremd, so wurde doch diese Krisenerfahrung zur wichtigsten Triebkraft für die Suche chinesischer Staatsdenker nach einer neuen chinesischen Identität, welche die Stärken des Kaiserreichs mit den Erfordernissen des modernen Zeitalters in Einklang brachte, um das Land von innen heraus zu stärken und gegen äußere Feinde zu wappnen.24 In diesem Selbstfindungsprozess floss von Anfang 23 Siehe die Überlegungen von Sabine Dabringhaus zu den Einsichten der Nationalismusforschung über den konstruktivistischen Gehalt des Nationalismus: Dabringhaus: Territorialer Nationalismus, 4. Die historische Einheit Chinas, so gibt Jonathan Unger zu bedenken, habe zwar weniger auf einem nationalen Bewusstsein im modernen Sinn als auf kultureller Loyalität beruht, dennoch sei die chinesische Nation nicht aus einem Flickenteppich feudaler Kleinstaaten entstanden, wie in großen Teilen Europas, oder das Ergebnis kolonialpolitischer Grenzziehungen wie in Afrika. Siehe Jonathan Unger: „Introduction“, in: ders. (Hg.): Chinese Nationalism, New York 1996, xi–xxiii, hier xii. Auch für den Fall Indiens erinnert Christopher Bayly daran, dass die Prämisse der „Erfindung von Tradition“ relativiert werden muss. Siehe C. A. Bayly: Origins of Nationality in South Asia: Patriotism and ethical government in the making of modern India, Delhi 1998, 2. 24 Siehe Mitter: „Nationalism in East Asia“, 288, 291, sowie Torbjörn Lodén: „Nationalism Transcending the States: Changing Conceptions of Chinese Identity“, in: Stein Tønnesson/ Hans Antlöv (Hg.): Asian Forms of the Nation, Richmond 1996, 270–296. Zu Formen des ethnischen proto-Nationalismus in China siehe James Townsend: „Chinese Nationalism“, in: Unger: Chinese Nationalism, 1–30. Townsend sieht seine Studie dezidiert als Antwort auf eine zu einfache Abgrenzung des chinesischen Nationalismus von der kulturellen Identitätsbildung im
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an staatsbürgerliches und sozialdarwinistisches Gedankengut zusammen. Frühe chinesische Nationalisten wie Yan Fu und Liang Qichao waren mit den Theorien Charles Darwins und Thomas Huxleys ebenso vertraut wie mit dem konstitutionellen Staatsdenken etwa John Stuart Mills. Im sozialdarwinistischen Kampf der Nationen galt es nicht nur, den „politischen Körper“ des Staates in einen modernen Nationalstaat zu überführen, sondern auch die Dynamik, Aggressivität und das Selbstvertrauen seiner Bürger zu stärken, also die notwendige Vitalität im „struggle for survival“ wieder herzustellen.25 Auch in der Generation nach 1919 blieben beide Denkströmungen wirksam. Die Anhänger der 4.-Mai-Bewegung setzten mit „Mr. Science and Mr. Democracy“ auf rationale und staatsbürgerliche Mittel zur „Rettung“ der Nation.26 Eines der zentralen Anliegen der Bewegung, Sprachreform und Massenbildung, diente dem politischen Ziel, dem chinesischen Volk eine Stimme zu geben: als Zeichen nationaler Einheit und als Medium einer partizipativen Öffentlichkeit.27 Für einen Beiträger in der New Yorker Studentenzeitschrift Chinese Students’ Monthly hatte der Nationalismus das unmittelbare Ziel, das Volk auf eine Art und Weise zu integrieren, die nicht nur Solidarität und Autarkie garantierte, sondern auch in eine friedliche Zukunft wies. Um dies zu erreichen, müsse die leitende Kraft des Nationalismus aus einer universalen Ethik bestehen.28 Die Anforderungen an einen solchen „Rationalen Nationalismus“ waren ebenso hoch gesteckt wie seine Ziele. Gehe jeder Bürger erst einmal in Liebe und Hingebung zu seinem Land auf, werde sich ein wunderbarer demokratischer Wandel einstellen. Der Nationalismus, wenngleich ein neues Selbstbewusstsein nach außen signalisierend, durfte aiserreich. Siehe ebd., 1–2. Die globale Kontextualität des chinesischen Nationalismus als K Selbstidentifikation mit den „Unterdrückten der Welt“ betont derweil R. E. Karl: Staging the World. Chinese Nationalism at the Turn of the Twentieth Century, Durham/London 2002, 195–196. 25 Siehe Karl: Staging the World, 191, 195, sowie Benjamin Schwartz: „Themes in Intellectual History: May Fourth and After“, in: Merle Goldman/Ou-fan Lee (Hg.): An Intellectual History of Modern China, Cambridge 2002, 97–141, hier 104–105, und Kai-wing Chow: „Narrating Nation, Race, and National Culture: Imagining the Hanzu Identity in Modern China“, in: ders./K. M. Doak/Poshek Fu (Hg.): Constructing Nationhood in Modern East Asia, Ann Arbor 2004, 47–83, hier 53–54. 26 Siehe Mitter: „Nationalism in East Asia“, 293. Zum Einfluss sozialdarwinistischer Ideen auf die 4.-Mai-Bewegung siehe auch J. R. Pusey: China and Charles Darwin, Cambridge, MA/London 1983, 437–439. 27 Siehe C. W. Hayford: To the People. James Yen and Village China, New York 1990, 32–59. Die politischen Aspekte der Sprachreform hat bereits 1950 John DeFrancis aufgearbeitet: John DeFrancis: Nationalism and Language Reform in China, Princeton 1950. Siehe hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 5. 28 Y. H. Ho: „The Significance of the Chinese Nationalist Movement“, CSM, Bd. 21, Nr. 2 (Dezember 1925), 3–6, hier 3.
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aus der Sicht dieser jungen Idealisten nicht mit der traditionellen Friedfertigkeit brechen, die man den Chinesen zusprach.29 Die Herausgeber und Beiträger der chinesischen Studentenzeitschrift waren mit den Ideen des britischen Philosophen Bertrand Russell bestens vertraut, der zu Beginn der 1920er Jahre eine Vorlesungsreise in chinesischen Universitäten unternahm und sich in The Problem of China (1922) ausführlich zur Lage in China äußerte. Auch Russell sah die Notwendigkeit eines aufgeklärten, friedlichen Nationalismus und bevorzugte deshalb wie viele chinesische Intellektuelle den politisch neutraleren Begriff des Patriotismus. Werde der Patriotismus nicht mit dem „bigoted anti-foreign spirit of the Boxers“30 verwechselt, sondern als Bereitschaft verstanden, von anderen Nationen zu lernen, ohne deren Dominanz zu akzeptieren, dann sei er von unschätzbarem Wert für die Entwicklung Chinas. Stets müsse er dem Zweck dienen, eine starke Gesellschaft aufzubauen, welche die eigenen Interessen gegen innere und äußere Feinde verteidigen könne – eine Fähigkeit, die Russell in der jungen Generation („Young China“) in hohem Maße gegeben sah. Gerade weil China das Potential zur Großmacht inhärent sei, könne nur ein solcher, in der Gesellschaft verankerter und aufgeklärter Patriotismus dafür Sorge tragen, dass der Nationalismus nicht wie in den westlichen Ländern in Imperialismus ausarte.31 Alfred Sze und andere Vertreter der chinesischen Führungselite zögerten nicht, Russells hohe Erwartungen an den chinesischen Nationalismus zu bekräftigen. Nicht die negativen Gefühle des Fremdenhasses und der Selbstverliebtheit, sondern Zuneigung und Selbstaufopferung für die Nation waren Sze zufolge die prägenden Elemente des chinesischen Patriotismus.32 Diese Interpretation des chinesischen Nationalismus kann auch als idealistische Reaktion auf die politische Realität gedeutet werden. Die Gefahr einer Militarisierung war angesichts anhaltender innenpolitischer Konflikte substantiell und wuchs im Verlauf der 1920er Jahre, als sich die nationale Revolution radikalisierte. Die ideologische Radikalisierung zeigte sich unter anderem in der wachsenden Popularität des Kommunismus. In dem politischen Aktivisten und Intellektuellen Chen Duxiu, der in seiner akademischen Position an der BeijingUniversität und als Herausgeber politischer Publikationen zu einem zentralen Akteur der 4.-Mai-Bewegung avancierte, findet sich ein einschlägiges Beispiel 29 Hawking Chen: „Rational Nationalism – The Regeneration of China’s Soul“, CSM, Bd. 19, Nr. 3 (Januar 1924), 11–13. Ähnlich auch Dison Poe: „A Reply to Mr. J.A.L. Wadell’s ‚Scheme for the Regeneration of China‘“, CSM, Bd. 19, Nr. 3 (Januar 1924), 7–10. 30 Bertrand Russell: The Problem of China, London 1922, 241. 31 Vgl. ebd., 242, 245. 32 A. S. Sze: „The Future of Chinese Democracy“, AAAPSS, Bd. 101 (Mao 1922), 242–248, hier 246–247.
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dafür, wie sich ein Anhänger des konstitutionellen Reformmodells zu einem Befürworter des klassenzentrierten Nationalismus kommunistischer Färbung entwickelte.33 Letztlich waren es der nationalistische Kern dieser Ideologie und die gemeinsame Identifikation zweier nationaler Feinde – „Warlordism“ und Imperialismus –, welche radikale Denker wie Chen Duxiu mit den Nationalisten um Sun Yatsen verband.34 Als erstes seiner „Drei Volksprinzipien“ stellte Sun Yatsen den Nationalismus ins Zentrum seiner politischen Ideologie.35 Die Einheit der Nation zu verwirklichen, das bedeutete für ihn, die Integration der fünf Rassen – der Han, der Mandschuren, der Mongolen, der Tibeter sowie der Muslime – in einem gemeinsamen Nationalstaat; diese Definition Chinas als „Republik der fünf Rassen“ diente ebenso wie der Begriff des „chinesischen Volkes“ (zhonghua mingzu) nicht zuletzt dem Ziel, in Zeiten des politischen Übergangs die Vorherrschaft der HanChinesen sicherzustellen.36 Über die ethnisch-territoriale Bedeutung hinaus zielte Suns Nationalismus auf die Verteidigung eines geeinten chinesischen Nationalstaats gegen fremde Mächte. Der Sturz der mandschurischen Qing-Dynastie 1911 war für Sun nur ein erster Schritt zur Selbststärkung (Han-)Chinas gegenüber den Imperialmächten. Wie im Fall vieler seiner Zeitgenossen war sein politisches Denken von der Erfahrung imperialistischer Aggression sowie kultureller Diskriminierung in
33 Siehe Mitter: „Nationalism in East Asia“, 295, sowie Hunt: „Chinese National Identity“, 71. Chen Duxius Bedeutung für den frühen chinesischen Kommunismus diskutiert Lee Feigon: Chen Duxiu. Founder of the Chinese Communist Party, Princeton 1983, v. a. Kapitel 5. Zur kommunistischen Lösung der „nationalen Frage“, insbesondere der Haltung gegenüber ethnischen Minderheiten, siehe Xiaoyuan Liu: „Communism, Nationalism, Ethnicism, and China’s ‚National Question,‘ 1921–1945“, in: C. X. G. Wie/Xiaoyuan Liu (Hg.): Chinese Nationalism in Perspective, Westport 2001, 121–148. 34 Beide Formen des Nationalismus erhoben zudem Anspruch auf Rationalität und das Streben nach Demokratie. Siehe Mitter: Bitter Revolution, 119–120. Siehe auch John Fitzgerald: „The Nationless State: The Search for a Nation in Modern Chinese Nationalism“, in: Unger: Chinese Nationalism, 56–85, hier 69–83. 35 Das zweite Prinzip, Demokratie, sowie das dritte Prinzip, Volkswohl, vervollständigen Sun Yatsens Weg zur nationalen Rettung. Siehe zum politischen Denken Sun Yatsens S. H. Chang/ L. H. D. Gordon: All Under Heaven. Sun Yat-sen and His Revolutionary Thought, Stanford 1991; zu den „Drei Volksprinzipien“ besonders Kapitel 6. 36 Siehe Sabine Dabringhaus: Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert, München 2009, 105–106. Für Sun Yatsen waren Staat und Nation mit dem chinesischen Volk identisch. Siehe Peter Zarrow: After Empire. The Conceptual Transformation of the Chinese State, 1885–1924, Stanford 2012, 286–287. Zur ethnischen Komponente im Nationalismus Sun Yatsens siehe auch Fitzgerald: „The Nationless State“, 68–69. Die ethnische Komponente verlor jedoch nach dem Ende der Mandschu-Dynastie an Bedeutung. Siehe Mitter: Bitter Revolution, 119.
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den Küstenorten mit hohem Ausländeranteil geprägt. Vor dem Hintergrund der schwelenden politischen Konflikte und der anhaltenden Abhängigkeit von ausländischer Gunst wurden Patrioten zu Antiimperialisten.37 Selbst erklärte Befürworter westlicher Einflüsse wie Hu Shi interpretierten das politische Prinzip des Nationalismus als eine Form des Glaubens an die Fähigkeit der Nation, die Last ausländischer Mächte abzuschütteln und über die kulturellen und politischen Ressourcen des Landes frei verfügen zu können.38 Es war vor diesem Hintergrund die immense ideologische Einigungskraft, die der chinesische Nationalismus besonders in seinen antiimperialistischen Elementen entfaltete, welche die Aufmerksamkeit externer Beobachter auf sich zog.39 Angesichts anhaltender antiausländischen Ausschreitungen fanden sich Stimmen, die den Nationalismus als unproduktiv oder gar destruktiv für die Entwicklung Chinas kritisierten.40 Die Mehrzahl westlicher Kommentatoren hob jedoch den zukunftsweisenden Charakter des Nationalismus hervor – „for even an aggressive and bumptious spirit of nationalism is preferable to a spineless and jellylike spirit of cowardly acquiescence, or hopeless pessimism“,41 wie es der Politologe Harley MacNair in seiner Studie China’s New Nationalism and Other Essays von 1925 formulierte. Die nationale Bewegung schien weitaus mehr zu sein als ein formelles Bekenntnis zur politischen Modernisierung, gepaart mit einer Revolte gegen die Fremdmächte. Sie verkörperte den Zukunftsoptimismus, den Willen und die Opferbereitschaft, die notwendig waren, um ein völlig neues China zu schaffen. Einer der entschiedensten Fürsprecher der nationalen Bewegung in China war der amerikanische Philosoph John Dewey. Neben Bertrand Russell einer der bekanntesten westlichen Besucher im China der Nachkriegszeit, war Dewey in seiner Interpretation des chinesischen Nationalbewusstseins sehr darum
37 Vgl. Chang/Gordon: All Under Heaven, 99–103. Siehe auch J. K. Fairbank/E. O. Reischauer/A. M. Craig: East Asia. The Modern Transformation, Boston 1965, 673. Die enge Assoziation von Nationalbewusstsein und Antiimperialismus wurde auch deutlich bei Chung-fu Chang: „What could nationalism do for China?“, CSM, Bd. 21, Nr. 2 (Dezember 1925), 7–11, hier 11. 38 Vgl. Hu Shi: „Forward or Backward in China?“, FPAP, Nr. 43 (März 1927), 6–9, hier 9. 39 Vgl. „The Present Situation in China“, ISR, Bd. 36, Nr. 11 (November 1925), 164–165, hier 164. Ähnlich auch bei Julean Arnold: „The New China and the Yellow Peril“, CRW, Bd. 14, Nr. 8 (Oktober 1920), 294–295, hier 295. 40 Julean Arnold etwa kritisierte den Widerstand gegen ausländische Wirtschaftsinteressen, die er als essentiell für den wirtschaftlichen Aufbau des Landes erachtete. Vgl. Julean Arnold: „Commercial Problems of China“, AAAPSS, Bd. 152 (November 1930), 142–159, hier 154. Über die Reaktion westlicher Autoren auf die anti-ausländischen Proteste wird im nächsten Teilkapitel noch mehr zu sagen sein. 41 H. F. MacNair: China’s New Nationalism and Other Essays, Shanghai 1925, 3.
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bemüht, Skeptiker zu versöhnen. Es sei falsch, die nationale Bewegung auf ihre antiausländischen Manifestationen zu reduzieren, ohne die tiefe innere Krise zu sehen, die sich dahinter verbarg. China sei im Begriff, sich von einem mittelalterlichen Zustand („medieval aggregate“) in eine moderne Nation zu wandeln – eine gewaltige Transformation, deren Dauer und Tragweite in China ebenso schwer abzuschätzen sei wie anderswo: „[T]he world as well as China is in flux, and that answers to the questions whether and when China is to be a nation, and what kind of nation it is to be, cannot be found till we know also what is going to happen in Russia, and Europe generally.“42 Die Parallele unterstrich Deweys Überzeugung, dass China von westlicher Seite nicht Zweifel und Kritik, sondern Geduld und Unterstützung im schwierigen Prozess der nationalen Selbstfindung zuteil werden musste. Zu den kritischeren Beobachtern der Entwicklungen in China gehörte dagegen Frederick Whyte, der den Chinesen noch 1926 ein Nationalgefühl absprach. „[I]t is doubtful whether the word China connotes to them either the geographical area, or the community of interest and culture, or the allegiance to a common flag or throne, which the name of any European country conjures up before its citizens“.43 Jedoch ergriff die allgemeine Aufbruchstimmung bereits ein Jahr später auch ihn. In seiner Eröffnungsrede zur Konferenz des IPR in Honolulu 1927 meinte er die Geburtsschmerzen der chinesischen Nation deutlich zu spüren – nicht zufällig zur selben Zeit, als sich mit der Etablierung der Guomindang-Regierung in Nanjing die Hoffnungen auf die nationale Einheit in China verdichteten. Von 1929 bis 1932 beriet Whyte dann auch die neue chinesische Regierung, nachdem er zuvor bereits als Vermittler zwischen Guomindang und der britischen Siedlergemeinde in China aufgetreten war.44 Sollte das chinesische Nationalbewusstsein in demselben Tempo weiter anwachsen, so kommentierte auch der amerikanische Sozialreformer Kirby Page, dann werde China bald genauso wie Japan – und 42 Vgl. John Dewey: „The Real Chinese Crisis“, CWR, Bd. 40, Nr. 14 (Mai 1928), 355–356, ders.: „Intervention a challenge to nationalism“, TCD, Bd. 11, Nr. 135 (Juni 1928), 100–101, und ders.: „Is China a Nation?“ TNR, Bd. 21, Nr. 319 (Januar 121), 187–190, hier 187. 43 Whyte: Asia, 71–72 [Hervorhebung i. O.]. 44 A. F. Whyte: „Opening Statement for the British Group“, CWR, Bd. 44, Nr. 3 (März 1928), 23–29, hier 29. Den chinesischen Nationalismus verortete Whyte im Kontext einer globalen B ewegung hin zu mehr politischem Bewusstsein. Siehe zu Whytes Rolle in Shanghai auch Bickers: Britain in China, 38. Auch Hornbeck hegte die Hoffnung, dass die nationalistische Bewegung nationalen Fortschritt und Einheit generiere. S. K. Hornbeck: China to-day: political, Boston 1927, 439. Ähnlich der amerikanische Journalist Stanley High: China’s Place in the Sun, New York 1922, 115: „In the further development of this spirit [d. h. Nationalismus] is to be found the surest guarantee that China’s human resources will be realized in actual power.“
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in neuester Zeit die Türkei – stark genug sein, die verschiedenen Provinzen des Landes zu vereinen. Noch ein Jahr vor der japanischen Besetzung der Mandschurei charakterisierte Kirby, der ein Weggefährte Sherwood Eddys war und in seiner Laufbahn als „social evangelist“ 43 Länder bereiste, die politischen Turbulenzen der Gegenwart als eine Phase der „Darkness before Dawn“ in China.45 Angesichts des wachsenden Nationalbewusstseins waren demnach auch externe Beobachter bereit, China eine große Zukunft zu attestieren. Man glaubte an das Vermögen der chinesischen Bevölkerung, den Nationalismus im Sinne der nationalen Entwicklung konstruktiv zu nutzen, und setzte auch darüber hinaus hohe Erwartungen in ihn: einer friedfertigen Nation sollte er Vorschub leisten, dabei aber Stärke und Selbstbewusstsein ausstrahlen. Eine erfolgreiche nationale Revolution konnte den Beobachtern zufolge nicht nur in einen starken chinesischen Nationalstaat münden, sondern auch gewaltige Strahlkraft für antiimperialistische Bewegungen in anderen Teilen der Welt entfalten, nicht zuletzt für Indien.46
3.1.2 Nationalismus in Indien: „Wanted – a new type of nation“ Es gehörte lange Zeit zum rhetorischen Arsenal der britischen Kolonialpolitik in Indien, die Existenz einer indischen Nation zu bestreiten. Erst die Herrschaft der Briten, so wurde argumentiert, habe aus dem riesigen südasiatischen Kontinent mit seiner Vielfalt an Sprachen, Ethnien und Religionen wenigstens eine funktionale politisch-administrative Einheit herausbilden können. Der Kolonialpolitik des divide et impera entsprechend diente die Negierung einer nationalen Identität auch dem Ziel, dem im Verlauf des 19. Jahrhunderts unverkennbar anwachsenden Nationalismus in Indien den Wind aus den Segeln zu nehmen.47 Wenngleich die Ursprünge einer indischen nationalen Identität in der Zeit vor der Etablierung Britisch-Indiens zu finden sind,48 waren es vor allem die Widersprüche in der bri-
45 Siehe Charles Chatfield/Charles DeBenedetti: „Introduction: Kirby Page and the Social Gospel“, in: dies. (Hg): Kirby Page and the Social Gospel: An Anthology, New York/London 1976, 13–36, hier 13. Vgl. Kirby Page: „The Darkness before Dawn in China“, TWT, Bd. 13, Nr. 6 (Juni 1930), 271–274, hier 273–274. Sokolsky sah in der kulturellen Einheit Chinas die Voraussetzung dafür, dass „retarding regionalism or degenerative partitioning“ immer nur temporäre Hindernisse für die nationale Einheit sein könnten: Sokolsky: Tinder Box, 53. 46 Vgl. H. A. Miller: „The Nationalist Epidemic“, AAAPSS, Bd. 174 (Juli 1934), 9–14, hier 13. 47 Siehe Sunil Khilnani: The Idea of India, London 1997, 154. 48 Siehe hierzu vor allem die Studie von Bayly: Origins of Nationality.
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tischen Kolonialpolitik – die Diskrepanz zwischen der Rhetorik des Liberalismus und der Praxis der Unterdrückung –, welche insbesondere ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Widerstände in der indischen Bevölkerung erzeugte und zur „reconfiguration of colonial space as national space“49 beitrugen. Der Indische Nationalkongress, der 1885 als zentrale Kommunikations- und Organisationsplattform eines gemäßigten und dezidiert „gesamtindischen“ Nationalismus gegründet wurde, sah sich dabei stets mit konkurrierenden Ausdrucksformen nationaler Solidarität konfrontiert. Insbesondere seit der Teilung Bengalens im Jahr 1905 radikalisierten sich hinduistische und muslimische Nationalisten und hielten dem Säkularismus und politischen Reformismus des Nationalkongresses die Frage nach der Bedeutung der Religion und der Rolle religiöser Minderheiten für die Konstituierung der indischen Nation entgegen.50 Wie konnte die in der hinduistischen Bevölkerung weit verbreitete Vorstellung von Indien als Muttergöttin (Bharat Mata) mit dem religiösen Pluralismus in Einklang gebracht werden?51 Obwohl während und nach dem Ersten Weltkrieg der Nationalismus weiter Auftrieb erhielt, blieb die Deutungsmacht über die indische Nation umkämpft und die Idee der indischen Nation in der Folge ebenso fragil wie ihre Realität – ein Umstand, zu dem auch der Government of India Act von 1919 beitrug, mit dem die britische Regierung die indischen Provinzregierungen stärkte.52 Der bedeutendste nationale Führer und politische Denker im spätkolonialen Indien, Mohandas Karamchand Gandhi, fand eine religiöse Antwort auf die Frage nach der Einheit Indiens: India cannot cease to be one nation because people belonging to different religions live in it. [...] In reality, there are as many religions as there are individuals, but those who are conscious of the spirit of nationality do not interfere with one another’s religion. If they do, they are not fit to be considered a nation.53
49 Manu Goswami: Producing India. From Colonial Economy to National Space, Chicago/London 2004, 26. Siehe auch Bipan Chandra: „The Making of the Indian Nation“, in: Anand Kumar (Hg.): Nation-Building in India. Culture, Power and Society, Delhi 1999, 9–22, hier 12–14. 50 Siehe Joya Chatterji: „Nationalisms in India, 1857–1947“, in: Breuilly: History of Nationalism, 250–253. 51 Siehe zur identitätsstiftenden Wirkung der Bharat Mata Goswami: Producing India, 188–201. 52 Siehe Chatterji: „Nationalisms in India“, 253. Siehe zur fehlenden nationalen Einheit in den 1920er Jahren auch J. M. Brown: Gandhi. Prisoner of Hope, Delhi 1992, 217–218. 53 M. K. Gandhi: Hind Swaraj and Other Writings, hg. v. A. J. Parel, Cambridge 1997, 52. G andhis Vision einer Nation beruhte auf der Vorstellung einer erneuerten und auf sozialer Harmonie beruhenden Gesellschaft. Siehe Brown: Gandhi, 213. Die Forschungsliteratur zu Gandhis facettenreichem Denken und Wirken ist umfassend. Einen sehr guten Überblick und bibliographische Hinweise gibt der Sammelband von Judith Brown und Anthony Parel (Hg.): The Cambridge Companion to Gandhi, New York 2011.
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Für Gandhi war das Nebeneinander verschiedener Religionen in Indien kein Hindernis für die Formierung der Nation; gerade in ihrer Fähigkeit, verschiedene, auch ausländische Religionen zu assimilieren, sah er den Kern und die Daseinsberechtigung der indischen Nation.54 Gandhis „eclectic and pluralist morality“,55 die sich selbst aus einer Vielzahl religiöser Traditionen, unter anderem dem Christentum, speiste, grenzte sich damit einerseits vom hinduistischen Nativismus ab, der in den 1920er Jahren vor allem in Vinayak Savarkar einen rigiden Vertreter fand;56 andererseits unterschied sich Gandhis moralisch-inklusiver Nationalismus auch vom Säkularismus des Nationalkongresses und Jawaharlal Nehrus. Der junge Nationalist, der 1929 erstmals den Vorsitz des Kongresses und damit die Führung der gesamtindischen Nationalbewegung übernahm, sah zwar ebenso wie sein Mentor Gandhi in Indiens historisch verbürgter Fähigkeit zur kulturellen Assimilation eine wichtige nationale Identitätsgrundlage, jedoch den Garanten nationaler Einheit weniger in der Religion als in gemeinsamen Entwicklungszielen und einem Gefühl der politischen Zusammengehörigkeit.57 Gandhi konnte mit Nehrus rationalistischer Interpretation der Nation nicht einverstanden sein, wies sie ihm doch zu viele Gemeinsamkeiten mit europäischen Formen des Nationalismus auf, die er bereits in seinem frühen Werk Hind Swaraj (1909) stark kritisiert hatte. Das Ideal der Nation war Gandhi zufolge in Europa auf dem Rücken der Minoritäten realisiert worden; Säkularismus sei hier nichts weiter als eine nachträglich erfolgende Legitimation erzwungener nationaler Homogenität und Rationalität. Die pluralistische Gesellschaft, die er sich vorstellte, beruhte dagegen gerade nicht 54 Nationalismus und Kommunalismus, das Gemeinschaftsgefühl auf der Basis der Religion, mussten sich aus der Sicht indischer Muslime nicht widersprechen. Siehe Ayesha Jalal: „Exploding Communalism: The Politics of Muslim Identity in South Asia“, in: Sugata Bose/Ayesha Jalal (Hg.): Nationalism, Democracy and Development. State and Politics in India, Delhi 1997, 76–103, hier 82. 55 Siehe Khilnani: Idea of India, 154, 165. 56 V. D. Savarkar veröffentlichte seine nationalistischen Ideen erstmals 1923 in seiner Schrift Essentials of Hindutva. Die Brisanz dieser Ideen resultierte aus seiner Assoziation der brahmanischen Kultur mit einer indischen Ethnie. Siehe Khilnani: Idea of India, 160–161. Der Begriff „Hindutva“ avancierte in der Folge zum Schlagwort des nativistischen Nationalismus und auch nach der indischen Unabhängigkeit blieb Savarkars Schrift die Bibel militanter Hindu-Nationalisten. Siehe Janaki Bakhle: „Country First? Vinayak Damodar Savarkar (1883–1996) and the Writing of Essentials of Hindutva“, Public Culture, Bd. 22, Nr. 1 (Winter 2010), 149–186, hier 151, sowie Jyotirmaya Sharma: Hindutva: exploring the idea of Hindu nationalism, New Delhi 2003, Kapitel 5. 57 Zum „klassischen“ Nationalismus Nehrus und des Nationalkongresses Amartya Sen: „On Interpreting India’s Past“, in: Sugata Bose/Ayesha Jalal: Nationalism, Democracy and Devel opment, 22–25. Zugunsten einer säkularen Nation äußerten sich auch Bhupendranath Datta: „Reflections on the Hindu Mohammedan Problem“, MR, Bd. 46, Nr. 1 (Juli 1924), 21–25, hier 24–25, sowie S. D. Chitale: „Cosmopolitanism – the need of the hour“, ISR, Bd. 39, Nr. 21 (Januar 1929), 325.
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auf ihrer Desakralisierung, sondern auf einem toleranten und weltoffenen Hinduismus.58 Die Idee der „Einheit in der Vielfalt“, auf die er seine Vision einer indischen Nation aufbaute und an der er letztlich scheitern sollte,59 konnte Gandhi zufolge einer Gesellschaft nicht durch utilitaristische Erwägungen übergestülpt werden, sondern musste durch innere Bereitschaft entstehen. Gandhis tiefe Ablehnung der westlichen Zivilisation – ihres Materialismus und Utilitarismus – prägte seine Vorstellung der indischen Nation. Die britische Kolonialherrschaft stellte sich ihm wie vielen anderen indischen Nationalisten als Manifestation eines entarteten, weil exklusiven und aggressiven Nationalismus dar; das indische Nationalbewusstsein durfte nicht dieselbe Entwicklung nehmen.60 „Wanted – a new type of nation“, titelte auch der Indian Social Reformer im Januar 1924. Nicht eine kommerziell-militaristische Nation nach britischem Vorbild, die ihre politische und wirtschaftliche Integrität gegenüber anderen Nationen rigide verteidige, sondern ein „cultural type of nation“ müsse in Indien entstehen, „founded upon the basis of plain living and high thinking“.61 Das Verhältnis des indischen nationalistischen Denkens zur westlichen Zivilisation war jedoch ambivalent.62 Während Gandhi seine Idee 58 Akeel Bilgrami: „Gandhi’s religion and its relation to his politics“, in: Brown/Parel: Cambridge Companion to Gandhi, 93–116, hier 112–113, sowie Sen: „Interpreting India’s Past“, 18. Zur wichtigen Rolle der Religion im indischen wie im britischen Nationalismus siehe allgemein Peter van der Veer: Imperial Encounters. Religion and Modernity in India and Britain, Princeton/Oxford 2001. 59 Einerseits war Gandhis Persönlichkeit so stark mit seinem hinduistischen Glauben verflochten, dass seine Idee der indischen Nation für viele muslimische Inder keine Identitätsgrundlage bot. Andererseits war er für radikale Hindus zu kosmopolitisch und kompromissorientiert. Die Teilung des britisch-indischen Hoheitsgebietes in Indien und Pakistan erlebte Gandhi als bittere Niederlage. Siehe J. M. Brown: „Introduction“, in: ders./Parel: Cambridge Companion to Gandhi, 1–8, hier 6–7, und Barbara Metcalf/T. T. Metcalf: A Concise History of Modern India, Cambridge/ New York 2008, 174. 60 Siehe Anthony Parel: „Gandhi and the state“, in: Brown/Parel: Cambridge Companion to Gandhi, 154–172, hier 156. Vgl. auch C. R. Das: „Nationalism: The Ideal“, IR, Bd. 24, Nr. 1 (Januar 1923), 42–45. In Abgrenzung zum „aggressiven“ Nationalismus des Westens war der von ihm gedachte nicht nur vereinbar mit, sondern notwendige Voraussetzung für den Frieden in der Welt, Vgl. ebd., 43. 61 Vgl. „Wanted a new type of nation“, ISR, Bd. 43, Nr. 20 (Januar 1924), 307. 62 Das Ausmaß der Abhängigkeit des indischen Nationalismus von westlichen Konzeptionen der Nation ist Gegenstand intensiver Forschung. Die Debatte grundlegend geprägt hat Chatterjee: Nationalist Thought. Darin zeigt Chatterjee auf, dass das nationalistische Denken Indiens einerseits an koloniale Denkstrukturen und Wissenshorizonte gebunden war und sich andererseits auf universale Werte bezog. Chatterjee zufolge muss deshalb unterschieden werden zwischen einem materiellen Nationalismus, der in Indien im Bezug auf die Kolonialherrschaft entstand, und einem spirituellen Nationalismus, der zuvor existierte und den Kern der nationalen Identität bildete. Siehe ebd., Kap. 1.
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einer auf der Religion basierenden Nation gänzlich außerhalb der Moderne verortete, war sein „anti-westlicher“ Nationalismus nicht frei von westlichem Gedankengut. Nicht der britische, sondern der italienische Liberalismus mit seiner Betonung von kultureller Differenz, Gemeinschaftsgefühl und Territorialität hatte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts indische Nationalisten und so auch Gandhi inspiriert.63 Es galt, eine nationale Identität zu definieren, die dem „Fortschritt“ Indiens in einem universalen Referenzrahmen diente, dabei jedoch authentisch war; wie in China wurden die Begriffe des „Patriotismus“ und der „nationalen Gemeinschaft“ gebraucht, um die indische Partikularität zu verankern.64 Wie Amartya Sen betont, war die Idee der Nation in Indien keine Notwendigkeit, sondern ein Mittel zur Herstellung religiöser und ethnischer Balance.65 Die Idee der „Einheit in der Vielfalt“ – ob nun in einer religiösen oder säkularen Gesellschaft – generierte eine mehrheitsfähige Basis für die nationale Identität Indiens. Kritiker, nicht nur von radikaler Seite, gab es dennoch. Rabindranath Tagore war selbst ein inklusiver Nationalismus nicht kosmopolitisch genug. Obwohl auch er sich als Patriot verstand und eine nationale Identität für notwendig befand, um Indiens kulturelle Traditionen darin zu bewahren, ging seine Angst vor den Gefahren eines westlichen Nationalismus in Indien noch tiefer als Gandhis. Bereits in seinem 1917 erschienenen Band Nationalism und in zahlrei chen anderen Schriften mahnte er vor der Tendenz zum kulturellen Isolationis mus, zur Gewalt und zum Eigennutz, die dem Nationalismus inhärent sei. „Nationalism is the training of a whole people for a narrow ideal“, schrieb Tagore 1922 in seinem Werk Creative Unity; „and when it gets hold of their minds it is sure to lead them to moral degeneracy and intellectual blindness“.66 War die westliche Nation für ihn der Inbegriff des organisierten Selbstinteresses eines Volkes,67 so sah er auch die nationalistische Bewegung in Indien mit Sorge. Öffentlich, wenn auch stets im Zeichen ihrer gegenseitigen Anerkennung, trugen er und Gandhi
63 Siehe C. A. Bayly: „Liberalism at Large: Mazzini and Nineteenth-century Indian Thought“, in: ders./E. F. Biagini (Hg.): Giuseppe Mazzini and the Globalisation of Democratic Nationalism 1830–1920, Oxford 2008, 355–374, hier 359–360, sowie Eckert: „Anti-Western Doctrines“, 70. 64 Siehe Prakash: Another Reason, 180, 232, sowie Zachariah: „Residual Nationalism“, 336. Christopher Bayly interpretiert den Patriotismus im vorkolonialen Indien – definiert als „active love of country and veneration of its traditions“ sowie „loyalty to the overlord“ – als Vorläufer des späteren Nationalismus. Siehe Bayly: Origins of Nationality, 11, 26. 65 Siehe Sen: „Interpreting India’s Past“, 22–25. 66 Tagore: Creative Unity, 148. Siehe hierzu Ashis Nandy: The Illegitimacy of Nationalism. Rabindranath Tagore and the Politics of Self, Delhi 1994, 2–3. 67 Tagore zitiert in Ramachandra Guha: Makers of Modern India, Cambridge, MA/London 2011, 181.
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ihre Meinungsverschiedenheiten über Sinn, Mittel und Ziele des Nationalismus aus. Bewunderte Tagore einerseits das Ideal des gewaltfreien Widerstandes, so konnte sich der primär an harmonischen und konstruktiven internationalen Beziehungen interessierte Gelehrte andererseits mit Gandhis Initiative der Nichtkooperation mit den Briten nicht identifizieren.68 Trotz dieser Kontroversen um eine spezifisch indische Nation69 schien die Nationenbildung in Indien real und rapide voranzuschreiten: In allen Bereichen des nationalen Lebens, der Religion, der Wissenschaft, der Politik, der Bildung, meinten die Beobachter Anzeichen einer neuen Vitalität wahrzunehmen, die in Indien „true nationality“70 generiere. „The Indian Nation is feeling a unity and a consciousness such as it has perhaps never felt in its long centuries of history“, schrieb der indische Historiker und Staatsmann Kovalam Madhavan Panikkar.71 Mit seinem Landsmann Tagore teilte Panikkar jedoch eine tiefe Skepsis gegenüber dem politischen Nationalismus: Kritisierte der Philosoph den kulturellen Separatismus, so monierte der Historiker, das Nationalgefühl sei nicht viel mehr als eine Revolte gegen die existierenden politischen Bedingungen. Jedoch war es gerade jener Aspekt der politischen Revolte, der als antikoloniales Element des indischen Nationalismus für die Projektion einer indischen nationalen Zukunft maßgeblich war. Das wachsende Nationalbewusstsein in China und Indien wurde von internen und externen Beobachtern als Zeichen des Aufbruchs in eine große Zukunft wahrgenommen. Für die Intellektuellen im Umfeld der 4.-Mai-Bewegung und der Guomindang in China und des Nationalkongresses in Indien galt der Nationalismus als wichtigstes Mittel zur Generierung innerer Geschlossenheit und 68 Die zahlreichen Aufsätze und Briefe, welche die Beziehung zwischen Gandhi und Tagore offenlegen, sind gesammelt in Sabyasachi Bhattacharya: The Mahatma and the Poet. Letters and debates between Gandhi and Tagore 1915–1941, New Delhi 1997. 69 Chandra: „Indian Nation“, 16. Judith Brown spricht von einer „crisis of nationhood“: J. M. Brown: Modern India. The Origins of an Asian Democracy, Delhi/Oxford/New York 1985, 282–283. 70 Stanley Reed/P. R. Cadell: India: the New Phase, London 1928, 5. Vgl. Ramsay MacDonald: The Government of India, New York 1920, 26–27; Chandra Chakraberty: National Problems, Kalkutta 1923, 27. 71 K. M. Panikkar: „The Interpretation of History“, HR, Bd. 34, Nr. 271 (April 1922), 316–323, hier 316. Siehe zu Panikkars Werdegang auch die Würdigung durch Ramachandra Guha: „A salute to smaller states“, The Hindu, Onlineausgabe (9. Mai 2004) [http://www.thehindu.com/ mag/2004/05/09/stories/2004050900160300.htm, abgerufen am 16.10.14]. Auch Annie Besant sah in der Geschichte Indiens eine tragfähige Basis für das indische Nationalbewusstsein, denn sie erfülle die Inder mit Stolz und Zusammengehörigkeitsgefühl. Vgl. Annie Besant: Birth of New India. A Collection of Writings and Speeches on Indian Affairs, Aydar 1917, 32–35. Zur historischen Einheit Indiens vgl. B. C. Vaidya: „An historical view of the political unity of India“, AR, Bd. 17, Nr. 52 (April 1921), 425–445.
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damit als Voraussetzung für die Etablierung eines geeinten Nationalstaats, der einen Platz im Kreis der großen Mächte beanspruchen konnte. Für keines der beiden Länder kann jedoch von einem homogenen Nationalismus gesprochen werden – zu unversöhnlich waren die politischen und religiösen Lager, die in China und Indien das Recht für sich beanspruchten, für die Nation zu sprechen. In sehr viel größerem Ausmaß als in China mussten in Indien, wo die Religion eine zentrale Bedeutung im gesellschaftlichen Leben einnahm, Konzepte der nationalen Einheit dem religiösen Pluralismus Rechnung tragen. Wandten sich viele chinesische Intellektuelle einem rationalen Nationalismus zu, so fand sich in Indien mit Gandhi ein vehementer und einflussreicher Vertreter eines religiösen Nationalismus. In beiden Ländern gleich bedeutsam war jedoch das Bemühen, das erwachende Nationalbewusstsein vom Nationalismus westlicher Länder abzugrenzen. In „chinesischer Friedfertigkeit“ und „indischer Religiosität“ sah man die Voraussetzung dafür gegeben, dass gesunder Patriotismus nicht in aggressiven Imperialismus umschlug. Die Spielarten des Nationalismus in beiden Ländern verband ein antiimperialistischer Charakter, der angesichts militärischer Unterlegenheit zumindest moralische Überlegenheit signalisierte. Westlichen Beobachtern wurde eine Positionierung dadurch signifikant erschwert. Zwar interpretierte die Mehrheit der britischen und amerikanischen Autoren den Nationalismus als Zeichen des Fortschritts, jedoch war dieser in der politischen Realität mit handfestem Widerstand gegen westliche Einflussnahme und Interessen verbunden.
3.2 Freiheit: Wege in eine selbstbestimmte Zukunft 3.2.1 Swaraj für Indien True development of the Indian Nation must necessarily lie in the path of Swaraj. A question has often been asked as to what is Swaraj. [...] Swaraj is the natural expression of the national mind. [...] Swaraj begins when the true development of a nation begins.72
Die enge Assoziation des indischen Nationalbewusstseins mit Swaraj (wörtlich: Selbst-Regierung) wurde von dem bengalischen Unabhängigkeitskämpfer und Journalisten Chittaranjan Das, der als Reaktion auf das Scheitern von Gandhis Bewegung der Nicht-Kooperation 1922 die oppositionelle Swaraj-Partei
72 Das: „Nationalism“, 43.
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itbegründete, deutlich beim Namen genannt.73 So unterschiedlich die Visionen m einer indischen Nation sein konnten, so war der indische Nationalismus doch im Widerstand gegen die britische Kolonialherrschaft geeint. Für Das ebenso wie für Gandhi und andere Mitglieder der Unabhängigkeitsbewegung bedeutete die Nation in erster Linie das im Freiheitsdrang geeinte Volk. Die Bedeutung des indischen Nationalismus für die Zukunft Indiens konnte deshalb nie ohne Bezug zum Freiheitsgedanken und einem dadurch legitimierten antikolonialen Widerstand ermessen werden. Nationen wohne das Recht auf Freiheit inne, so waren sich indische und westliche Liberale einig, und weder die Geschichte noch die Philosophie rechtfertige die Herrschaft einer Nation über eine andere; solange dies jedoch so sei, beinhalte der Nationalismus immer ein Element des Widerstands.74 Der indische Nationalismus galt den Zeitzeugen also zugleich als Quelle der nationalen Integration und der politischen Opposition. Die erste Notwendigkeit bestand darin, die Massen der indischen Bevölkerung zu politisieren und zu mobilisieren, um sie nicht nur fest in die indische Nation zu integrieren, sondern gar zu den „torchbearers of freedom“75 zu machen. Gandhi hatte großes Vertrauen in die revolutionäre Kraft der Massen. Sein demokratischer Nationalismus war stark von den Ideen Giuseppe Mazzinis und dem italienischen Freiheitskampf geprägt, wobei die aufständische Komponente in Mazzinis Denken von Gandhis Maxime der Gewaltlosigkeit entschärft wurde.76 In dem Maße, wie die britische Herrschaft auf der Kollaboration der Inder basierte, konnte Gandhi zufolge eine landesweite Massenbewegung der Nicht-Kooperation die Fremdherrschaft zu Fall bringen. Die Komplexität des indischen Nationalismus und der politischen Entwicklung, die im Jahr 1947 zur Unabhängigkeit Indiens führte, lassen zwar davon abraten, Gandhi in diesem Prozess eine allzu bestimmende Rolle zuzusprechen;77 gleichwohl war er es, der mit dem Prinzip des passiven Widerstands (Satyagraha) der nationalen Bewegung eine klare Richtung vorgab und dem es mit dem Symbol
73 Siehe zur Spaltung der Kongresspartei Sugata Bose: Modern South Asia, New York/London 2004, 117. Zum politischen Werdegang C. R. Das’ siehe auch R. N. Sen: Life and Times of Deshbandhu Chittaranjan Das, New Delhi 1989. 74 Vgl. etwa C. Delisle Burns: „Nationalism“, YMI, Bd. 38, Nr. 5 (Mai 1926), 297–305, hier 304, sowie Satyamurthi: „The Political Philosophy of National Independence“, TNE, Bd. 1, Nr. 5 (Februar 1929), 403–404. 75 Bhupendranath Datta: „Our aim“, HR, Bd. 47, Nr. 280 (April 1924), 303–306. „It was this extraor dinary stiffening-up of the masses that filled us with confidence“, beschrieb Jawaharlal Nehru aus der Retrospektive den immensen Glauben an die Kraft der Massen, ihr Schicksal und dasjenige Indiens in die Hand zu nehmen. Vgl. Jawaharlal Nehru: An Autobiography, London 1947, 76. 76 Siehe Fabrizio De Donno: „The Gandhian Mazzini: Democratic Nationalism, Self-rule, and Non-violence“, in: Bayly/Biagini: Giuseppe Mazzini, 375–398, hier 375–379. 77 Chatterji: „Nationalisms in India“, 254–255.
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des Spinnrads (charka) sowie bedeutungsvollen Gesten und Aktionen wie dem Salzmarsch gelang, große Bevölkerungsschichten hinter sich zu vereinen.78 Der Kampf um Unabhängigkeit konnte aus Sicht der indischen Nationalisten nur in einem gemeinsamen Kraftakt erfolgreich ausgetragen werden und galt somit als patriotische Pflicht – auch dies ein revolutionäres Diktum, das auf Mazzini zurückging. „Freedom never came with ‚bargaining‘“, schrieb der indische Philosoph und Bildungstheoretiker T. L. Vaswani. „Freedom must be won. [...]. Once this Awakening spreads to villages, and the Will-to-Win becomes stronger, India will stand erect“.79 Als einer der frühesten öffentlichen Befürworter von Gandhis Strategie des friedlichen Widerstands forderte Vaswani nichts weniger als eine „psychologische Revolution“ der gesamten Gesellschaft: Opferbereitschaft und Siegeswillen bedingten das Bewusstsein von Repression und Abhängigkeit. Die großen Opfer aller Gesellschaftsschichten mussten erbracht werden, um die Inder wieder zu „Herren im eigenen Hause“ zu machen. Für Lajpat Rai, der Ende des Jahres 1919 von einem vierjährigen Aufenthalt in den USA zurückkehrte, hatte die Rückgabe politischer Entscheidungshoheit an das Volk erste Priorität.80 Nur unter dieser Voraussetzung konnte aus seiner Sicht das nationale Leben von Grund auf neu gestalten werden. Ihm ging es dabei insbesondere um die Möglich keit, das Ideal der politischen Gleichheit zu realisieren und das Leben der Massen grundlegend zu verbessern.81 Der Kampf um nationale Unabhängigkeit wurde also nicht nur für das abstrakte Ideal der Freiheit gefochten, sondern sollte konkrete Handlungsspielräume für Reformen eröffnen, die für eine bessere Zukunft notwendig schienen. „You can rise only by your own effort“,82 mahnte Rai in einer
78 Siehe Eckert: „Anti-Western Doctrines“, 64. Obwohl die Massenbewegung stets von der politischen Elite gesteuert und kontrolliert blieb, stand sie im Zentrum der Strategie des passiven Widerstands. Siehe zur sozialen Basis der Unabhängigkeitsbewegung in ihren verschiedenen Phasen Bipan Chandra: Nationalism and Colonialism in Modern India, London 1979, 126–143. Siehe auch Bidyut Chakrabarty: „Radicalism in Modern Indian Social and political Thought: Nationalist Creativity in the Colonial Era“, in: V. R. Mehta/Thomas Pantham (Hg.): Political ideas in Modern India: Thematic Explorations, New Delhi 2006, 3–25, hier 17. Christopher Bayly betont die Bedeutung, die das Vertrauen der politischen Führung in „das Volk“ für die Inklusion der Massen hatte. Siehe Bayly: Recovering Liberties. 275. 79 T. L. Vaswani: India in Chains, Madras o. J., xvii [Hervorhebung i. O.]. Vaswanis Patriotismus wird beschrieben in J. P. Vaswani: Sadhu Vaswani. His Life and Teachings, Neu Delhi 2002. Ähnlich in Rai: India’s Will to Freedom, 90–98. Siehe auch De Donno: „Gandhian Mazzini“, 382. 80 Lajpat Rai: The Political Future of India, New York 1919, 40–41. 81 Vgl. etwa ders.: „The Indian Problem“, MR, Bd. 26, Nr. 12 (Dezember 1919), 605–609, hier 607–608; ders.: „Political Independence versus Dominion Status for India“, HR, Bd. 52, Nr. 299 (Januar 1929), 24–27, hier 24; Nehru: Autobiography, 76. 82 Rai: India’s Will to Freedom, 84. Vaswani sprach in diesem Zusammenhang vom „creative genius“ der Inder. Vgl. Vaswani: India in Chains, xvii.
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seiner vielen öffentlichen Ansprachen; das indische Volk müsse Vertrauen in seine Gestaltungskraft zeigen. Dem politischen Ziel, Herr über die eigene Zukunft zu sein, wohnte aus der Sicht indischer Nationalisten zudem ein Element moralischer Notwendigkeit inne. Selbst wenn die Masse der Inder unter britischer Herrschaft ein Leben in Wohlstand führen könnte, bekräftigt ein Leitartikel der Modern Review, so erfülle ein solches Leben in Abhängigkeit nicht das Ideal eines menschenwürdigen Daseins.83 Es war nicht zuletzt diesem hohen moralischen Anspruch geschuldet, wie er sich auch im Ideal der Gewaltlosigkeit manifestierte, dass die Unabhängigkeitsbewegung unter westlichen Beobachtern oft starke Sympathien weckte. Gandhis „spiritualisation of politics“,84 wie Jawaharlal Nehru dessen religiös motivierten politischen Kurs später nennen sollte, hatte große Anziehungskraft. In Gandhi als dem Anführer der friedlichen Freiheitsbewegung meinten nicht wenige britische und amerikanische Autoren den „Geist“ der erwachenden indischen Nation zu sehen.85 Eine von den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs geprägte pazifistische Grundüberzeugung verband sich dabei mit einem tiefen Vertrauen in die Fähigkeiten des „Mahatma“, die indische Nation durch Charakterstärke und Idealismus zu vereinen, zu erneuern und auf diese Weise zu neuer Größe zu führen.86 Allein in der Person Gandhis schien eine neue Ära für Indien angebrochen und ein neues Zukunftspotential eröffnet. Nicht selten verband sich ein grundlegendes Interesse an der indischen Religiosität mit politischem Engagement für die Unabhängigkeitsbewegung. Noch vor der Ankunft Gandhis auf der politischen Bühne Indiens hatte sich die britische Theosophin Annie Besant für den indischen Nationalismus stark gemacht und war dabei zu großem Einfluss gelangt.87 Auch der amerikanische Unitarier Jabez Sunderland setzte sich für die indische Sache ein. Bereits seit Beginn des Jahrhunderts hatte dieser unter anderem in der Modern Review, mit deren Herausgeber Ramananda Chatterjee er in engem Briefkontakt stand, Kritik an der 83 „Indiaʼs political goal“, MR, Bd. 30, Nr. 5 (November 1921), 614–615, hier 615. 84 Nehru war davon überzeugt, dass würdige Ziele auch würdiger Mittel bedurften. Vgl. Nehru: Autobiography, 73. Auch die chinesische Zeitschrift Chinese Students’ Monthly sah in Gandhis Weg zu nationaler Einheit die Chance für eine „un-britische“ Form des Nationalismus. Vgl. „Tagore and Gandhi“, CSM, Bd. 17, Nr. 4 (Februar 1922), 281–282, hier 281. 85 Das Vertrauen in Gandhi als politischen Führer konzentrierte sich in Großbritannien vorwiegend auf christliche Liberale wie Charles Andrews. Siehe Metcalf/Metcalf: Concise History, 182. 86 Es handelte sich dabei oft um Geistliche und Missionare. Z. B. Reginald Reynold: India, Gandhi and World Peace, London 1931, 18; Wilfred Wellock: Indiaʼs Awakening. Its national and worldwide significance, London 1922, 46–52; Bernard Houghton: The Revolt of the East, Madras o. J.; Nicol Macnicol: The Making of Modern India, London 1924, 19–22; Eddy: Challenge of the East, 6. 87 Siehe Anne Taylor: Annie Besant. A Biography, Oxford 1992, 294.
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britischen Kolonialherrschaft geäußert. An der Seite Lajpat Rais gründete er 1917 die Indian Home Rule League of America in New York, der es durch einen relativ gemäßigten Kurs gelang, substantielle Unterstützung von progressiven Kreisen der amerikanischen Gesellschaft zu rekurrieren. Die Organisation wurde so zu einem zentralen Propagandaorgan der indischen Unabhängigkeitsbewegung in den USA.88 Sunderlands gesammelte Schriften mit dem Titel India in Bondage. Her right to freedom – ein emotionales Plädoyer – wurden nach ihrem Erscheinen 1927 von der britisch-indischen Regierung verboten, jedoch trotz weitgehender inhaltlicher Zustimmung auch von amerikanischen Medien für ihren Mangel an Objektivität kritisiert.89 Nach Ansicht Sunderlands trug das Argument, die Kolonialregierung erfülle ihre Funktion zum Wohle eines dafür selbst nicht fähigen indischen Volkes, für den Entzug der Freiheitsrechte nicht weit genug. Ebenso wie Rai betrachtete er die Frage, ob Indien „fit for self-government“ sei, als grundsätzlich fehlgeleitet – stehe dahinter doch nicht zuletzt das Bemühen, Indien nach dem Bild Großbritanniens formen und es deshalb am britischen Standard messen zu wollen. Werde Indien dagegen erlaubt, „to remain her own true self, instead of trying to become a feeble and foolish imitation of Europe“,90 dann war es Sunderland zufolge unbestreitbar bereit für die Unabhängigkeit. Der politische Freiheitskampf war aus dieser Perspektive auch ein Kampf um die Anerkennung kultureller Partikularität. Sunderlands Kritik galt nicht nur den britischen Kolonialherren, sondern auch der amerikanischen Öffentlichkeit, die den Souveränitätsbemühungen Chinas größere Aufmerksamkeit zolle als Indien, das ungleich mehr unter fremder Herrschaft gelitten habe. Indien, so erinnert er seine Landsleute, machte dasselbe Recht geltend, sich von der Fremdherrschaft der Briten zu befreien, wie im 18. Jahrhundert die amerikanischen Kolonien. Auch der bengalische Revolutionär Taraknath Das, der sich als Mitglied der aufständischen Gadhar-Partei auf der radikaleren Seite der amerikanischen „India Lobby“ wiederfand, unterstrich diese historische Parallele. Die Geschichte der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung konnte ihm zufolge dem indischen Volk als Inspiration und Vorbild dienen.91 Auf diese Weise konnte nicht nur der indische Freiheitskampf
88 Siehe Gould: India Lobby, 231–232, 245. 89 Die Emotionalität des Werkes ist unbestritten. Vgl. J. T. Sunderland: India in Bondage. Her Right to Freedom, Kalkutta 1928, 484. Siehe zu Sunderlands Engagement für die indische Selbstbestimmung auch Lavan: Unitarians and India, 162–179. 90 Sunderland: India in Bondage, 496, sowie Kapitel 6: „Is Britain Ruling India ‚For India’s Good‘?“ 91 Z. B. in Taraknath Das: „An Indian view of Anglo-American Relations and India“, CWR, Bd. 50, Nr. 11 (November 1929), 410–411, 430, hier 411. Siehe auch Gould: „India Lobby, 243. Ähnlich
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legitimiert, sondern auch die Erfolgsgeschichte der amerikanischen Nation gleichsam auf die Zukunft Indiens projektiert werden. Linksorientierte amerikanische Medien wie die New Yorker Zeitschriften The Nation und The World Tomorrow, herausgegeben von Harry F. Ward beziehungsweise Norman Thomas, hatten jedoch schon früh begonnen, zugunsten der indischen Nationalisten Stellung zu beziehen. Großbritannien solle endlich die Fruchtlosigkeit seiner Indienpolitik anerkennen, so las man hier häufig, und den indischen Forderungen durch klare Zugeständnisse gerecht werden.92 Angesichts eklatanter Vereinfachungen der Lage in Indien durch amerikanische Medien sah sich der britische Indologe und Autor Edward J. Thompson gezwungen, die Kolonialpolitik seiner Landsleute zu verteidigen – „[v]ery greatly to my surprise“, wie er feststellte. Für das Empire Stellung zu beziehen, sei eine Erfahrung „which has befallen other Englishmen by no means of the ‚Imperialist‘ type“,93 schrieb Thompson, der in engem Kontakt zu führenden Persönlichkeiten der indischen Gesellschaft wie Nehru und Tagore stand. Die britische Perspektive unterschied sich zwangsläufig von derjenigen der Amerikaner. Die von Sunderland und Rai so rigide abgewiesene Frage, ob Indien sich selbst regieren könne, sollte vor dem Hintergrund britischer „zivilisatorischer Errungenschaften“ in Indien nicht unter den Tisch fallen. Jedoch standen auch aus britischer Sicht die Zeichen auf Wandel.
3.2.2 Facetten der Freiheit: Indien zwischen „Dominion status“ und Unabhängigkeit Darüber, dass die britische Herrschaft in Indien nicht für die Ewigkeit gemacht war, herrschte angesichts der anhaltenden Proteste während der 1920er Jahre wenig Zweifel. Über die Geschwindigkeit und die Art und Weise der Loslösung Indiens von der Kolonialherrschaft jedoch schon. Die totale Unabhängigkeit war nur eine von mehreren Antworten auf die Frage, wie die Zukunft Indiens
etrachtete Annie Besant den indischen Unabhängigkeitskampf als neuen Höhepunkt einer b weltweiten Demokratiebewegung, die in den USA ihren Anfang genommen habe, um in einer teleologischen Entwicklung dem indischen Volk die Augen zu öffnen. Vgl. Besant: India, Bond or Free?, 178–179. 92 Vgl. z. B. H. F. Ward: „The New Situation in India, TN, Bd. 120, Nr. 3121 (April 1925), 489–490. 93 Vgl. Thompson: America and India, 1. Thompsons enge mentale Bindung an Indien und seine Sorge um die Zukunft der britisch-indischen Beziehungen bewog Gandhi dazu, ihn als „India’s Prisoner“ zu bezeichnen. Siehe Mary Lago: „India’s Prisoner“. A Biography of Edward John Thompson, 1886–1946, Columbia/London 2001.
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gestaltet werden sollte. Hinter den Begriffen „Home Rule“, „Dominion status“ und „Self-government“ verbarg sich der Verhandlungscharakter der indischen Unabhängigkeit. Der Government of India Act von 1919, der eine stärkere Regierungsbeteiligung von Indern vorsah, war ein Versuch, die britisch-indischen Beziehungen neu zu regeln. Die Anerkennung indischer „Self-government“ gehörte gleichsam zum guten Ton.94 Der britische Liberale Edwin S. Montagu, von 1917 bis 1922 Außenminister für Indien und Mitgestalter des Gesetzes von 1919, räumte in der amerikanischen Zeitschrift Asia ein, den Indern sei das Verlangen nach Selbstbestimmtheit ebenso inhärent wie jeder anderen Nation. Um es zu realisieren, müsse jedoch ein partnerschaftlicher Geist zwischen Indien und Großbritannien walten. „We have done all we can for India“, bekräftigt auch Ramsay MacDonald, der 1924 zum ersten Premierminister der Labour Party gewählt wurde, „we must now carry on our work with India“.95 Die Zukunft Indiens lag für Großbritanniens liberale Regierungs- und Meinungsführer in einer steten, aber kontrollierten Evolution des Raj, an deren Ende man sich Indien als selbstregiertes Dominion und Partner Großbritanniens vorstellte.96 Liberale Imperialisten fanden sich in einem Dilemma wieder: Einerseits wuchs die antikoloniale Stimmung und man anerkannte den indischen Anspruch auf Freiheit; andererseits glaubte man an die Zukunft des Empire und den positiven britischen Einfluss auf Indien.97 Hier gab es viele Abstufungen. Auf der konservativen Seite fand sich Valentine I. Chirol wieder. Chirols langer Laufbahn als Auslandskorrespondent und Redakteur der Londoner Times war eine kurze Anstellung im britischen Foreign Office 94 In der Zeitschrift India wird die Forderung nach mehr Entscheidungsfreiheit für Indien bereits als orthodox, weil allgegenwärtig, beurteilt. Vgl. die Besprechung von Stanley Reed: The New Phase, India, Bd. 2, Nr. 1 (Januar 1929), 42. Siehe zum Stimmungswechsel in Großbritannien zugunsten von indischer Selbstbestimmung auch Guha: Modern India, 134. 95 MacDonald: Government of India, 268 [Hervorhebung i. O.]. Vgl. E. S. Montagu: „Self-Government for India“, Asia, Bd. 23, Nr. 3 (März 1923), 161–165; George Lansbury: „Britain and India“, IR, Bd. 26, Nr. 12 (Dezember 1927), 785–786. 96 Vgl. „MacDonald on India’s Future“, IR, Bd. 29, Nr. 8 (August 1928), 578. Ähnlich auch bei Edward Thompson: Reconstructing India, New York 1930, 299. 97 Zur anhaltenden Bedeutung des „trusteeship“-Ideals und der „imperial beliefs“ in der britischen Öffentlichkeit siehe Studdert-Kennedy: British Christians, 13, sowie A. S. Thompson: Imperial Britain. The Empire in British Politics, c. 1880–1932, Harlow 2000, 36. Eine grundlegende Schwäche des antiimperialistischen Denkens in der britischen Linken sieht Owen: The Brit ish Left and India, 5–8. Trotz liberaler Tendenzen blieben auch konservative Stimmen stark. Metcalf spricht von einem neuen britischen Konservatismus, der darauf abzielte, das Empire in einer unsicheren Zeit „truly British“ erscheinen zu lassen. Siehe Metcalf: Imperial Connections, 208–209. Winston Churchill lehnte den konstitutionellen Reformprozess stets ab. Siehe Metcalf/ Metcalf: Concise History, 169.
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orausgegangen. Sein Selbstverständnis als Diplomat legte Chirol, der sehr gut v vernetzt war und sich für seine journalistische Tätigkeit tief in die Strukturen der internationalen Beziehungen einarbeitete, niemals ab. Auch nachdem er sich 1912 aus dem Arbeitsleben verabschiedet hatte, blieb er schriftstellerisch außerordentlich produktiv, wobei seine Aufmerksamkeit vor allem den politischen Entwicklungen in Indien galt, wo er schließlich einige Jahre an der Reformierung des Beamtenwesens mitwirkte.98 Chirol legte seinen Landsleuten die guten Seiten der nationalen Bewegung dar und forderte eine offenere Haltung ein. Gleichzeitig war der ausgewiesene Patriot überzeugt, dass Gandhis Bewegung der NichtKooperation ein Ende haben und Großbritannien weiterhin die Verantwortung für einen Ausgleich der beiden Kulturen in Indien tragen musste.99 Aus der Sicht Charles Andrewsʼ hatte Chirol damit den emanzipativen Kern des indischen Freiheitsstrebens verkannt, obwohl er, so Andrews, mit seinen Veröffentlichungen dazu beitrage, die anachronistische „mailed fist“-Mentalität der Briten zu beseitigen. Taraknath Das’ Urteil fiel eindeutiger aus: Chirol war für ihn ein „apostle of ‚White supremacy‘“.100 Dabei war Chirol mit seiner konservativen Haltung keinesfalls allein. Für indische Befürworter des Empire war die Verbindung zu Großbritannien nicht zuletzt eine Frage der Notwendigkeit und Praktikabilität. Indien hatte aus dieser Sicht weder die nötige politische Einheit noch die militärische Stärke, um den sicheren Hafen des Empire zu verlassen. Bei einer zu frühen Abkoppelung schien nicht nur die zukünftige Entwicklung des Landes, sondern auch Indiens internationale Integration gefährdet.101 Niemand, der nur halbwegs über die inneren Verhältnisse Indiens informiert sei, so äußerte sich Sultan Muhammed Shah, Aga
98 Siehe Linda Brandt Fritzunger: „Chirol, (Sir) Valentine Ignatius (1852–1929)“, in: H. C. G. Matthew/Brian Harrison (Hg.): Oxford Dictionary of National Biography, Bd. 11, Oxford 2004, 477–479. 99 „We shall in time so far improve the character of our Indian subjects to enable them to govern and protect themselves“ – so wurde Thomas Munroe, Gouverneur von Madras, von Valentine Chirol zitiert. Vgl. Valentine Chirol: India old and new, London 1921, Titelei. Vgl. auch ders. in S. S. Thorburn: „India: A democracy?“, AR, Bd. 15, Nr. 41 (Januar 1919), 29–75, hier 29–39, 43–44; ders.: „A Great Speech – or a Great Event“, IR, Bd. 10, Nr. 12 (Dezember 1927), 777–779, hier 779, sowie ders.: India, New York 1926. 100 Taraknath Das: „The Occident and the Orient“, CSM, Bd. 20, Nr. 5 (Mai 1924), 37–42, hier 42. Ähnlich kritisch äußerte sich C. F. Andrews: „Modern China“, MR, Bd. 39, Nr. 1 (Januar 1926), 31–33, hier 33. 101 Vgl. A. Yusuf Ali in Stanley Reed: „The Political Situation in India. Address given at a Section Meeting“, JRIIA, Bd. 9, Nr. 3 (Mai 1930), 351–365, hier 364; Chakraberty: National Problems, 27; B. C. Pal: „Dominion Status vs. isolated independence“, HR, Bd. 52, Nr. 299 (Januar 1929), 43–45, hier 43.
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Khan III., könne sich die Übertragung der vollen Regierungsverantwortung in der nahen Zukunft wünschen. Auch der Aga Khan, der schon als junger Mann in die hohe Gesellschaft Europas eingeführt worden war, sah Indiens Zukunft innerhalb des Empire. Als Imam der ismailitischen Nizariten und Mitbegründer der All-India Muslim League distanzierte er sich von Gandhis Bewegung; als Teilnehmer der Round Table Conference, die von 1930 bis 1932 in London über die konstitutionelle Entwicklung Indiens beriet, ging er von einem langen und schwierigen Prozess der politischen Emanzipation aus.102 Das Streben nach politischer Emanzipation verlor hier gegenüber dem Ziel nationaler Entwicklung an Bedeutung. Es ist offensichtlich, dass die Frage der indischen Unabhängigkeit die Beobachter spaltete. Direkter Kontakt und emotionale Beteiligung der Autoren spielten eine große Rolle, wenn es darum ging, die Bedeutung der Unabhängigkeit für die indische Zukunft zu beurteilen. Nicht jeder wurde so unmittelbar Zeuge des indischen Freiheitswillens wie Sunderland oder Andrews. Für einige Beobachter, wie etwa Valentine Chirol, konnte Indien als selbstbestimmter Teil des britischen Empire stärker und bedeutender sein als getrennt von ihm. In jedem Fall jedoch wiesen die Vorstellungen einer aufstrebenden indischen Nation lange vor der tatsächlichen Unabhängigkeit über den kolonialen Rahmen hinaus. Die Zukunft Indiens musste von der indischen Nation bestimmt werden. Als im Verlauf der 1920er Jahre keine substantielle Verbesserung der britisch-indischen Beziehungen festzustellen war, verloren viele indische Unabhängigkeitskämpfer das Vertrauen in den politischen Reformprozess – wenn sie es denn je gehabt hatten. Anders als viele seiner Mitstreiter im Nationalkongress hatte Nehru sich schon früh für die totale Unabhängigkeit Indiens ausgesprochen. Seine Überzeugung, Indiens Freiheit könne in der Rolle eines Dominion nicht bewahrt werden, teilte er mit chinesischen Kommentatoren in der Zeitschrift Chinese Nation: Freiheit, so müsse die britische Regierung endlich einsehen, „cannot be granted by degrees“.103
102 Aga Khan: India in Transition. A study in political evolution, London 1918, 282. Siehe zum Werdegang des Aga Khan auch „Aga Khan“, Encyclopædia Britannica Online, Encyclopædia Britannica Inc 2014 [https://www.britannica.com/topic/Aga-Khan, abgerufen am 10.8.16]. 103 C. A. Pao: „The Indian Crisis. Nationalism and the British Empire“, CN, Bd. 1, Nr. 7 (Juli 1930), 100–101. Vgl. Jawaharlal Nehru, zitiert in „India’s Future“, MR, Bd. 41, Nr. 2 (Februar 1927), 245. Vgl. die Erinnerungen Nehrus an sein Engagement für indische Unabhängigkeit im Nationalkongress: Nehru: Autobiography, 166–173. Siehe hierzu auch Metcalf: Imperial Connections, 210.
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3.2.3 Die doppelte Herausforderung: Nationale Souveränität und Rekonstruktion in China In einer ähnlichen Spielart prägte der Freiheitsgedanke die Auseinandersetzung über die nationale Entwicklung Chinas. Obwohl in Indien das Trauma der ausländischen Herrschaft tiefer, ihre Präsenz allgegenwärtiger und ihre Beseitigung schwieriger war als in China, wurde der Wunsch der Chinesen nach Freiheit von ausländischer Einflussnahme als nicht weniger existentiell empfunden. Was für Indien die britische Herrschaft war, waren für China die ungleichen Verträge. Die politische Situation zwischen China und dem Westen sei derjenigen zwischen Indien und Großbritannien besonders ähnlich, urteilte der amerikanische Historiker William Shepherd. Auch hier sei die entscheidende Frage, ob Europa „selfgovernment in the Western sense of the term“ einführen und damit die inneren Transformationskräfte stören sollte, die aus dem Land derzeit eine „modern nation free, self-respecting, progressive and prosperous“ machten.104 Trotz dieser Parallele war die Problematik der nationalen Souveränität im Hinblick auf China dennoch etwas anders gelagert als im Falle Indiens. Verglichen mit Indien, das unter direkter britischer Herrschaft stand, schien die Möglichkeit einer unabhängigen nationalen Entwicklung für das zumindest nominell souveräne China in größerem Ausmaß gegeben; das Vertragssystem, basierend auf der Einigung zweier Vertragspartner, hatte theoretisch immer die Möglichkeit seiner Auflösung beinhaltet.105 Was die Situation in China komplizierte, war seine innenpolitische Krise. Die Revolution von 1911 hatte das alte politische System zerstört, jedoch kein tragfähiges neues geschaffen. Sherwood Eddy etwa empfand die chinesische Revolution deshalb akuter und fundamentaler als diejenige in Indien: China of all countries in the world today is undoubtedly the most chaotic and complicated, the hardest to analyze or to understand. Here is one-quarter of the human race in the midst of a vast transition, suddenly plunged from the ancient and medieval into the modern world, from an ancient static society unto the volcanic upheaval of a new social order.106 104 W. R. Shepherd: „Interaction of Europe and Asia. II: Western Ways in Eastern Lands“, WU, Bd. 1, Nr. 4 (Januar 1928), 245–260, hier 254. Der Arbeitsschwerpunkt Shepherds wird kurz umrissen in „William Robert Shepherd“, Encyclopædia Britannica Online, Encyclopædia Britannica Inc 2014 [http://www.britannica.com/EBchecked/topic/539945/William-Robert-Shepherd, abgerufen am 16.10.14]. 105 Siehe J. K. Fairbank/E. O. Reischauer: China. Tradition and Transformation, Sydney 1989, 440. Dementsprechend sah auch Benoy Kumar Sarkar den Weg der Modernisierung Chinas noch offen: Diese könne „along Indian lines, i. e. through slavery to alien domination or along the Western and Japanese lines of unhampered and independent development“ verlaufen. Vgl. B. K. Sarkar: „The eternal Chinese Question“, MR, Bd. 37, Nr. 2 (Februar 1925), 174–180. 106 Eddy: Challenge of the East, 64. Die Schwere der Regierungskrise in China wurde auch betont in „These Unruly Revolutions“, TNR, Nr. 648 (Mai 1927), 287–289, sowie bei Peffer: China, 173.
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Die nationale Bewegung der 1920er Jahre hatte vor diesem Hintergrund das vorrangige Ziel, die Krise zu überwinden und die innere Ordnung wiederherzustellen.107 Für Nathaniel Peffer, der während des Vierteljahrhunderts, das er als Auslandskorrespondent der New York Tribune in China verbrachte, eine große Sympathie für das Land und seine Menschen entwickelte, fanden damit zwei Revolutionen in China statt: die interne der nationalen Transformation und – als deren Ziel und Voraussetzung – diejenige für nationale Souveränität; beide Kämpfe mussten gleichzeitig ausgefochten werden.108 Nicht nur regimekritische liberale Intellektuelle wie Hu Shi, sondern auch zahlreiche westliche Autoren setzten dabei große Hoffnungen in die Nationalisten der Guomindang, diese doppelte Herausforderung zu bewältigen und ein geeintes und unabhängiges China zu schaffen. Die Einschätzung des amerikanischen Abenteurers und Journalisten Arthur de Carle Sowerby, der in Shanghai das China Journal herausgab, war symptomatisch für diesen Zukunftsoptimismus: To-day in China the terrible internal wars that for over fifteen years have been tearing the country to pieces have ceased, and while we are fain to admit that there are still ramblings in certain quarters, and there are those who prophecy that fighting will soon break out again, yet on the whole we find a feeling of optimism prevailing throughout the country, a feeling that at last the birth pangs of the new republic are over, and that this country is entering upon a period of growth and civil, political and industrial development that will soon place her where she rightly belongs amongst the nations. For almost the first time since the outbreak of the revolution in 1911 the country is at least nominally under one government, and while that government may have a big task before it to straighten everything out, and will doubtless have many difficulties to overcome, yet a great deal has been accomplished. It is to be congratulated on having so far got the situation in hand.109
107 Vgl. D. Z. T. Yui: „Nationalist China“, FPAP, Nr. 54 (März 1929), 13–19, hier 14, sowie Wang Jingwei: China’s Problems and their Solution, Shanghai 1934, 149; A. S. Sze: „The Present Position in China“, AR, Bd. 13, Nr. 49–52 (Januar 1921), 10–15, hier 14; Tyau: China Awakened, 340. 108 Vgl. Nathaniel Peffer: „The foreigner’s commercial future in China“, Asia, Bd. 30, Nr. 12 (Dezember 1939), 827–831, 881–883, hier 827. Siehe zum Werdegang Peffers „In Memoriam: Nathaniel Peffer“, PSQ, Bd. 79, Nr. 3 (September 1979), o. S. 109 Arthur de Carle Sowerby: „Peace and Goodwill“, CJ, Bd. 9, Nr. 6 (Dezember 1928), 267–268. Sowerbys Artikel wurde auch in der indischen Modern Review abgedruckt: „China to-day“, MR, Bd. 45, Nr. 2 (Februar 1929), 250. Vgl. auch Hu: „Forward or Backward in China?“, 7; Hornbeck: China to-day, 439–440; A. N. Holcombe: The Chinese Revolution. A Phase in the Regeneration of World Power, Cambridge, MA 1930, 7–8. Zur doppelten Herausforderung durch interne und externe Faktoren auch C. T. Liang: „Constructive forces in China“, CWR, Bd. 38, Nr. 5 (Oktober 1926), 120–124, 126, hier 124.
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Bereits 1930, als die von den Nationalisten unter Chiang Kaishek in Nanjing etablierte Zentralregierung zwei Jahre Bestand gehabt hatte, war sich Nathaniel Peffer über den langfristigen Erfolg der Nationalbewegung und das baldige Ende des Vertragssystems „almost astronomically certain“; zwar gebe es immer noch unübersehbare Einschränkungen der chinesischen Unabhängigkeit, jedoch habe China seine Selbstachtung zurückgewonnen: „Today, for all practical purposes China has recovered sovereignty“.110 Ebenso wie im Falle Indiens leitete der chinesische Nationalismus der Zwischenkriegszeit das Ende der ausländischen Einflussnahme ein, wenn auch nur in kleinen Schritten. Bereits 1921/22 wurde die nationale Souveränität Chinas von der internationalen Staatengemeinschaft offiziell anerkannt. Nicht die Frage seiner Souveränität per se, sondern die des Zeitrahmens der Vertragsrevision stand im Verlauf der 1920er und 1930er Jahren zur Debatte. Es ist auffällig, dass sich an dieser Diskussion deutlich mehr Amerikaner beteiligten, als dies zur Frage der indischen Unabhängigkeit der Fall war. Die wirtschaftlichen Interessen der Amerikaner in China erreichten zwar nicht den Umfang der britischen, die amerikanische Haltung gegenüber der nationalen Bewegung und den Möglichkeiten der Vertragsrevision war deshalb aber nicht weniger ambivalent. Sie war geprägt von inkonsequentem Antiimperialismus: Einerseits rühmte man sich einer vom europäischen Kolonialismus verschiedenen Chinapolitik, andererseits gab man angesichts der britischen und japanischen Konkurrenz im Chinahandel einmal erlangte, vertraglich zugesicherte Privilegien schwer wieder auf.111 Offizielle Schritte zur Sicherung der chinesischen Autonomie blieben weitgehend symbolisch.112
110 Peffer: China, 260. Das Ende des Imperialismus in China sah auch Eddy: Challenge of the East, 67. 111 Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität in der amerikanischen Position in China beschrieb Fairbank: J. K. Fairbank: The United States and China, Cambridge, MA 1971, 289–290. 112 Die Konferenz von Washington und der daraus hervorgehende Nine Power Treaty stellten keine klare Abwendung von ausländischer Einmischung in China dar. Siehe etwa E. S. K. Fung: The Diplomacy of Imperial Retreat. Britain’s South China Policy, 1924–1931, Hongkong 1991, 16–21. Auch das britische Dezembermemorandum von 1926 stellte eine theoretische Abwendung Großbritanniens vom Vertragssystem dar, ohne jedoch einen klaren Zeitplan festzulegen. Siehe Wm. Roger Louis: British Strategy in the Far East, Oxford 1971, 153–154. Ab Mitte der 1920er Jahre wurde ein deutliches Bekenntnis der amerikanischen Regierung zur Vertragsrevision sichtbar, das nicht nur der öffentlichen Meinung in den USA, sondern auch dem nationalen Interesse geschuldet war; Letzteres verlangte die Eindämmung des kommunistischen Einflusses auf die Nationalbewegung und die langfristige Sicherung chinesischer Kooperation. Siehe W. I. Cohen: America’s Response to China. A History of Sino-American Relations, New York/Oxford 1990, 88–101.
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Die anhaltenden Einschränkungen der chinesischen Souveränität durch das Vertragssystem rechtfertigte man in Regierungs- und Expertenkreisen mit Verweis auf die ungelösten innenpolitischen Probleme und die unsichere Lage der Ausländer in China; Stanley Hornbeck, der die Far Eastern Division des amerikanischen Außenministeriums leitete, sprach den Verträgen einen unverzichtbaren Schutzcharakter zu.113 Auch räumliche Nähe und unmittelbare Betroffenheit verstärkten die Ambivalenz in der Frage der Vertragsrevision. Im direkten Erleben der antiimperialistischen Unruhen und anti-ausländischen Boykotte der 1920er Jahre nahmen Ausländer in China die von den Westmächten verwalteten Gebiete in den Küstenorten als Inseln der Sicherheit wahr. John Powells und Thomas Millards China Weekly Review war verglichen mit ihrer ebenso einflussreichen britischen Konkurrenz North China Daily Herald ein liberales Blatt, das großes Vertrauen in die nationale Bewegung setzte und wiederholt an die amerikanische Regierung appellierte, bei der Vertragsrevision voranzugehen. Dennoch ging Millard davon aus, dass die politische Entwicklung Chinas nicht ohne westliche Unterstützung und damit auch nicht ohne eine Sicherung westlicher Interessen möglich war. Wie viele seiner Zeitgenossen war Millard mit einem starken Sendungsbewusstsein nach China gekommen: Amerika – und auch er selbst – hatten für die Zukunft Chinas einen bedeutsamen Dienst zu erfüllen.114 Als Prinzipienfrage wurde demnach der chinesische Anspruch auf Souveränität anerkannt, jedoch nicht bedingungslos. Wann die Souveränität Chinas komplett wiederhergestellt werden konnte, war aus dieser Sicht abhängig von den Fortschritten bei der Nationenbildung.115 Das Argument der Nationalisten, nationale Entwicklung bedinge Souveränität, wurde hier auf den Kopf gestellt. 113 Vgl. etwa S. K. Hornbeck: „Forward or Backward China?“, FPAP, Nr. 43 (März 1927), 19–20. Stanley Hornbeck änderte seine ablehnende Haltung gegenüber der Vertragsrevision bis 1942 nicht grundlegend. Siehe Shizhang Hu: Stanley K. Hornbeck and the Open Door Policy, 1919– 1937, Westport/London 1995, Kapitel 5. Ähnlich wie Hornbeck äußerte sich auch W. E. Soothill: „Western Races and the Far East“, in: F. S. Marvin (Hg.): Western Races and the World, London 1922, 181–208, hier 203. Der Earl of Gosford hielt vor dem Royal Institute of International Affairs in London trotz offensichtlicher Fortschritte des Landes das direkte Eingreifen der Westmächte notwendig für ein sicheres China. Vgl. Earl of Gosford: „Reconstruction in China“, IA, Bd. 5, Nr. 5 (September 1926), 239–244, hier 242. 114 Vgl. T. F. Millard: Democracy and the Eastern Question. The Problem of the Far East as Demonstrated by the Great War, and its relation to the United States of America, New York 1919, 355–356. Vgl. auch ders.: „China’s Case of the Peace Conference“, CWR, Bd. 8, Nr. 5 (April 1919), 200–204, hier 203. Siehe hierzu auch MacKinnon/Friesen: China Reporting, 23–24; Utley: „America views China“, 118, 121; N. R. Clifford: Spoilt Children of Empire. Westerners in Shanghai and the Chinese Revolution of the 1920s, Hanover/London 1991, 15. 115 Auch ausländische Gelder würden erst in den Aufbau Chinas fließen, wenn das Land zeigen könne, dass es seine inneren Angelegenheiten selbst „with vigour and integrity“ regele. Vgl. Hodgkin: Family of Nations, 236.
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Einer solchen Erwartungshaltung begegneten chinesische Denker und Politiker mit unterschiedlichen Argumenten und mit mehr oder weniger deutlichem Ressentiment. Alfred Sze sah China in einer vorübergehenden Schwächephase auf dem Weg zum stabilen Nationalstaat, die auch andere Länder durchmachten und die eine Einschränkung von Souveränitätsrechten keinesfalls rechtfertige.116 M. T. Z. Tyau fühlte sich dagegen genötigt, auf die Fortschritte hinzuweisen, die im Bereich der Rechtsreform gemacht worden seien, um die Bereitschaft Chinas für eine komplette Vertragsrevision zu bekräftigen.117 Ungeduld und Unverständnis hinsichtlich westlicher Intervention und Kontrolle in China fanden sich nicht nur bei chinesischen Kommentatoren. Besonders die in New York erscheinenden Zeitschriften The New Republic und The Nation rieben sich an der ambivalenten Haltung der Westmächte gegenüber der Vertragsrevision.118 Diese entspreche keinesfalls einer realistischen Einschätzung der Situation in China. Die Frage sei schon lange nicht mehr, ob die Chinesen in der Lage seien, über ihr Land und die darin lebenden Ausländer zu regieren, „but whether foreign nations can do anything to prevent them“.119 Die Dynamik des Nationalismus hatte aus dieser Sicht den Westmächten längst die Kontrolle über die Entwicklung Chinas aus der Hand genommen. Der linksradikale methodistische Pastor Harry F. Ward zeigte sich in der Frage der chinesischen Souveränität ebenso kompromisslos wie schon im Hinblick auf das indische Freiheitsstreben. Was chinesische Politiker und Intellektuelle, gestützt von hunderttausenden organisierten Arbeitern, wollten, sei die Gestaltungsfreiheit ihrer wirtschaftlichen und politischen Zukunft. Die Verträge würden gerade deshalb als „Stigma der Minderwertigkeit“ empfunden, weil sie das nationale Entwicklungspotential der Chinesen in Frage stellten. Eine Geste des Vertrauens in diese Fähigkeiten könne dagegen die konstruktiven Kräfte auf nationaler Ebene entfesseln.120 Ward war mit dieser Überzeugung nicht
116 A. S. Sze: „International Aspects of the Chinese Situation“, in: ders.: Addresses, Baltimore 1926, 56–57. 117 Vgl. M. T. Z. Tyau: „How Powers can assist Chinese to abolish Extraterritoriality“, FER, Bd. 2, Nr. 9 (Juni 1920), 132–137, hier 134. Der Journalist und Politiker T’ang Leang-li ging noch deutlicher auf Konfrontationskurs, indem er den Zustand der Justiz in den „fortschrittlichen“ Ländern in Frage stellte. Vgl. T’ang Leang-li: China in Revolt: How a civilization became a nation, London 1927, 150–151. 118 Vgl. etwa L. S. Gannett: „America’s Job in China“, TN, Bd, 123, Nr. 3192 (September 1926), 212. 119 „Can the powers keep their ‚rights‘ in China?“, TNR, Bd. 49, Nr. 628 (Dezember 1926), 100–102, hier 102. Auch Pearl Buck konstatierte, dass der Patriotismus vor allem der jungen Chinesen eine Dynamik entwickelt habe, der nur noch durch Vertragsrevision begegnet werden konnte. Vgl. P. S. Buck: „The Chinese abandon their inherent Quietism“, TCD, Bd. 10, Nr. 114 (Januar 1928), 174–175. 120 H. F. Ward: „What the Chinese want“, TNR, Bd. 44, Nr. 560 (August 1925), 9–11.
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allein. Der amerikanische Journalist Grover Clark, der die Jahre der stärksten nationalistischen Agitation als Herausgeber des Peking Leader und als Gastdozent an der Beijing-Universität verbrachte, sah die chinesische Öffentlichkeit in der Forderung nach Revision der Verträge geeint. Auf die Kraft dieses Wunsches nach Freiheit, den man selbst in den Chinesen geweckt habe, bekräftigte er in einer Diskussionsrunde der New Yorker Foreign Policy Association mit Stanley Hornbeck und Hu Shi, könne sich China nun stützen, um seine inneren Probleme zu lösen.121
3.2.4 „The Chinese Development of China“ Es zeigt sich, dass die Haltung zur Vertragsrevision vor allem eine Frage der angemessenen Reaktion auf die politischen Regenerationskräfte Chinas war. Dabei ging es nicht nur um moralische Solidarisierung mit der nationalen Revolution. Die Dynamik des Moments zu verkennen, barg aus der Sicht einiger Beobachter auch die unmittelbare Gefahr, konstruktive in destruktive Kräfte umzuleiten. Wie der amerikanische Geschäftsmann Charles R. Crane in seiner Einleitung zu Tyaus Werk China Awakened darlegte, stand dabei die Zukunft Chinas als friedliche Nation auf dem Spiel. Crane galt als Ostasien-Experte in wirtschaftspolitischen Fragen und genoss hohes Ansehen in den Kreisen der „Old China Hands“. Die chinesische Souveränität sah er als Voraussetzung dafür, dass sich China nicht zu einem militärischen Aufrüsten provoziert fühle: China should be so treated by the other nations that she may follow her natural inclination and habit to develop peacefully; she should not be so menaced and harassed as to feel obliged to add the modern military establishment, burdens and practices to the rest of her Western acquisitions.122
Die Erwartungshaltung an die nationale Bewegung kehrte sich an dieser Stelle um in eine Erwartungshaltung hinsichtlich der Rolle westlicher Länder im Prozess
121 Grover Clark: „Forward or Backward China?“, FPAP, Nr. 43 (März 1927), 14. Wie auch anderen ausländischen Journalisten haftete Clark, der sich zugunsten der chinesischen Regierung positionierte, das Stigma der Käuflichkeit und politischen Befangenheit an. Siehe Paul French: Through the Looking Glass. China’s Foreign Journalists from Opium Wars to Mao, Hongkong 2009, 167–168. 122 C. R. Crane: „Introduction“, in: Tyau: China Awakened, vii–xiv. Ähnlich auch bei C. S. See: The Chinese Question, Oxford 1925, 39. Siehe auch N. E. Saul: The Life and Times of Charles R. Crane, 1858–1939. American Businessman, Philantropist, and a Founder of Russian Studies in America, Lanham 2013, 88–96.
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der chinesischen Nationenbildung. Nicht durch Opposition und Einschränkungen, sondern durch Kooperation und vor allen Dingen durch Zurückhaltung, „abstaining from criticism of transitory mistakes and unwise choices“,123 sollten die Westmächte zum Erfolg der nationalen Rekonstruktion Chinas beitragen. Tyau zufolge war dies nicht nur eine Frage des wohlwollenden Entgegenkommens, sondern auch der Begleichung der „Schulden“, welche die Westmächte seiner Meinung nach durch ihre Politik in China angehäuft hatten.124 Wenngleich sich die ausländischen Mächte aus dieser Sicht unterstützend in den Prozess der nationalen Entwicklung einbringen sollten, so musste diese ihrem Wesen nach doch eine chinesische bleiben, um die friedliche Entwicklung Chinas zu gewährleisten. Für Bertrand Russell wie für Alfred Sze lag in der Möglichkeit eines eigenständigen, auf chinesischen Werten aufbauenden Entwicklungswegs der eigentliche Sinn und Zweck sowie der höhere Wert eines politisch unabhängigen China. „The Chinese Development of China“ bringe sein friedliches Wesen zum Vorschein, da die chinesische Kultur auf dem Glauben an die Macht der Moral basiere. Die auf dem Konfuzianismus beruhende Geringschätzung materieller und Hochschätzung moralischer Kräfte werde auch in Zukunft bewahrt, solange sich das chinesische Volk „along the lines of their own national genius“125 entwickeln könne. Unabhängig davon, ob man aus der konfuzianischen Tradition die Aussicht auf eine friedliche Entwicklung extrapolierte, nahm die Vorstellung spezifisch chinesischer Regenerationswege und -kräfte eine zentrale Bedeutung in der Debatte über die politische Modernisierung Chinas ein. Die „Rettung“ der Nation musste von innen heraus, auf der Basis der eigenen Ressourcen gelingen. Hu Shi zufolge war die nationale Revolution, die China entlang der „Drei Volksprinzipien“ Sun Yatsens durchmachte, eine moderne, an liberal-demokratischen Werten orientierte Bewegung, die China in die Lage versetzen sollte, „to work out solutions for our own problems in the light of our own needs and in the light of our historical heritage“.126
123 Hume: „The United States and China“, 70. Ähnlich auch Holcombe: Chinese Revolution, 347, sowie John Dewey: „The American Opportunity in China“, TNR, Bd. 21, Nr. 261 (Dezember 1919), 14–17, hier 16. 124 Vgl. Tyau: China Awakened, 339–340. 125 Sze: „The Problem of China“, in: ders.: Addresses, Baltimore 1926, 3–15, hier 14–15. Vgl. Russell: Problem of China, 241–242. Ähnlich auch Stanley High: „Can China afford to stand for peace?“, CCS, Bd. 1, Nr. 5 (März 1926), 2. 126 Hu: „Forward or Backward in China?“, 6. Ähnlich auch bei T. Z. Koo: „The Present Situation in China – A Chinese view“, ISR, Bd. 37, Nr. 37 (Mai 1927), 583–585, hier 584.
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Das neue China, transformiert von den Einflüssen des Westens, konnte aus dieser Sicht zwar keinesfalls zurück zu den alten Strukturen des alten Reiches, wohl aber durch einen kreativen Umgang mit fremden Einflüssen das eigene historische Erbe der neuen Zeit anpassen und auf diese Weise die Nation der Lösung ihrer spezifischen Probleme näherbringen. Gerade ein differenzierter Umgang mit westlichen und chinesischen Kulturelementen wurde als hoffnungsvolles Zeichen für eine erfolgreiche nationale Rekonstruktion Chinas gedeutet; aus diesem Prozess der Neubewertung, so hoffte man, konnte China zugleich „creatively modern and distinctively Chinese“127 hervorgehen. Dazu gehörte auch, die Geschwindigkeit dieser Entwicklung selbst zu bestimmen. Darüber, dass die Rekonstruktion Chinas nur in einem langsamen und schwierigen Prozess vonstattengehen könne, waren sich die meisten Beobachter einig. Was Japan nicht über Nacht gelungen war und womit Russland immer noch kämpfte, nämlich die politische Macht auf nationaler Ebene zu bündeln und bis in die Peripherie zu leiten, musste auch in China seine Zeit dauern.128 Nicht gehetzt von falschen Ansprüchen und externem Druck, sondern nach eigenem Maß und in eigener Zeit solle Chinas Entwicklung vonstattengehen, um einen Treibhaus-Effekt zu vermeiden, „which might hasten its blossoming as well as its early withering and death“129 – so formulierte es David Z. T. Yui (Yu Rizhang), der sich unter dem Eindruck der Regierungskrise seit seiner Studienzeit mit der „Rettung“ Chinas auseinandersetzte und sich später als führender Kopf des chinesischen YMCA dieser Aufgabe widmete. Die Forderung nach Freiheit, so wird ersichtlich, blieb weder in China noch in Indien eine Prinzipienfrage, sondern war eng mit dem Projekt der nationalen Selbststärkung verknüpft. Für Mitglieder der chinesischen und indischen Führungselite ebenso wie für westliche Beobachter der Szenerie waren mit dem Freiheitsgedanken enorme Hoffnungen auf eine Zukunft verbunden, die in vielerlei Hinsicht „besser“ war als die Gegenwart. Die imperialistischen Argumente der Fremdeinmischung zum Wohle des Volkes beziehungsweise zum Schutz ausländischer Interessen verloren zunehmend an Bedeutung angesichts der wachsenden Überzeugung, dass nur eine von den beiden Ländern selbst bestimmte
127 P. C. Chang: „The New China“ (6. Juli 1931), Royal Institute of International Affairs Meeting Papers, Chatham House, London: RIIA 8/157, 16. Vgl. auch Clark: The Great Wall Crumbles, 242; K. S. Latourette: „The Shantung Question: An unpopular view“, AM, Bd. 124 (November 1919), 708–713, hier 712; Hume: „The United States and China“, 69–70. 128 George Sokolsky: „Political Movements in China“, AAAPSS, Bd. 168 (Juli 1933), 18–22, hier 22. 129 D. Z. T. Yui: „The National Spirit of China“, TWT, Bd. 9, Nr. 1 (Januar 1926), 4–6, hier 5–6. Siehe auch P. C.-M. Wang: „A Patriotic Christian Leader in Changing China – Yu Rizhang in the Turbulent 1920s“, in: C. X. George Wei/Xiaoyuan Liu (Hg.): Chinese Nationalism in Perspective. Historical and Recent Cases, Westport 2001, 33–51.
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Entwicklung auch in deren Sinne sein konnte und dass nur die realpolitische und, damit eng verbunden, die mentale Unabhängigkeit notwendige Regenerationskräfte in der Bevölkerung der beiden Länder entfesseln konnte. Im indischen Kontext wurde die britische Fremdherrschaft als Hauptursache für die nationalen Probleme des Landes identifiziert. Obwohl unterschiedliche Vorstellungen darüber konkurrierten, welche Form von „Self-government“ Indien annehmen und wie das Verhältnis zu Großbritannien in der Zukunft gestaltet werden sollte, avancierte das Ziel der politischen Selbstbestimmung hier zum Versprechen nationaler Regeneration. Etwas komplizierter stellte sich die Lage im nominell souveränen China dar, wo zur eingeschränkten Handlungsfreiheit der politischen Führung noch das Erbe der imperialen Staatskrise und der unvollendeten republikanischen Revolution von 1911 trat. Trotz der schwierigen Ausgangslage zeigten chinesische und westliche Kommentatoren jedoch großes Vertrauen in „the future greatness of China“.130 Oft verwies man auf ein weit verbreitetes Reformbewusstsein, auf Anzeichen nationaler Integration und auf die Fortschritte unter der Regierung der Guomindang, welche zum Hoffnungsträger auch vieler ausländischer Beobachter avancierte. Die Wiederherstellung absoluter nationaler Souveränität durch die Revision der ungleichen Verträge wurde vor diesem Hintergrund nicht nur als ein Akt der Befreiung von Fremdbestimmung interpretiert, der neue Wege einer spezifisch chinesischen Entwicklung eröffnete; darüber hinaus lag darin auch ein Akt der Anerkennung der Guomindang als legitime Vertreterin der indischen Nation und als Garant politischer Einheit und Stabilität. Die in der Wahrnehmung wohlwollender Beobachter zügig voranschreitende Bündelung der Regierungsgewalt in der Partei Sun Yatsens schien mehr als alles andere den Rahmen für die Entwicklung Chinas zum starken Nationalstaat zu setzen.
3.3 Stärke: Zwischen Demokratie und Autoritarismus 3.3.1 Politische Prioritäten in China: Einheit und Stabilität des Staates Die Idee der Nation war im chinesischen Kontext stets eng mit der Idee des Staates verknüpft.131 Während der imperialen Staatskrise des späten 19. und frühen
130 R. S. Liang: „Let us not forget“, CSM, Bd. 19, Nr. 7 (Mai 1924), 37–38, hier 37. 131 Siehe Fitzgerald: „The Nationless State“, 56.
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20. Jahrhunderts avancierte der „starke Staat“ für liberale und konservative Intellektuelle zugleich zu einem Synonym der Moderne und des nationalen Überlebens. Unter dem Eindruck des von äußerem und innerem Druck zermürbten Kaiserreiches reflektierten führende Staatsreformer wie Liang Qichao den Übergang der politischen Identität Chinas „vom Zentrum einer eigenen Weltordnung zum Nationalstaat“ und kamen dabei zu dem Schluss, dass die Prinzipien der repräsentativen Demokratie, wie sie etwa in Frankreich wirkten, ihren Hoffnungen auf einen „nach innen und außen durchsetzungsfähigen Reformstaat“ nur bedingt gerecht wurden.132 Als die republikanische Revolution von 1911 die Phase staatlicher Schwäche nicht beendete, sondern vielmehr eine Zeit der politischen Zerrissenheit zwischen regionalen Warlords einleitete, verlor die Maxime der Machtzentralisierung in einem Nationalstaat, der gleichsam aus der Asche des Imperiums hervorgehend dessen alte Stärke im alten Territorium wiederherstellte, nichts von seiner Gültigkeit und existentiellen Dringlichkeit.133 Die Identifikation von Nation und Staat diente dabei einer Solidarisierung von Regierung und Volk.134 Die „Nationale Rekonstruktion“ – eine in der Zwischenkriegszeit häufig bemühte Formulierung für eine große Spannbreite von Reformen zur Modernisierung und damit zur „Rettung“ des chinesischen Staates – musste nach Ansicht chinesischer Entscheidungsträger wie ausländischer Beobachter „Good Governance“ (im zeitgenössischen Sprachgebrauch: „Good Government“) hervorbringen.135 Mit der Regierungsbildung der Guomindang 1927/1928 veränderte sich freilich der Rahmen, in dem die politische Zukunft Chinas ausgehandelt und beurteilt wurde. Das Land schien nun zum ersten Mal seit 1911 wieder in einer Zentralregierung geeint, und Mitglieder dieser Regierung beanspruchten die Fähigkeit, „to
132 Zitate Dabringhaus: Territorialer Nationalismus, 6–7. Siehe zur Transformation des chinesischen Staatsdenkens die wegweisende Studie von J. R. Levenson: Liang Qichao and the Mind of Modern China, Berkeley 1967. Liang Qichao stellte sich vor 1911 einen „aufgeklärten Despotismus“ vor, wandte sich nach der Revolution aber dem Konstitutionalismus zu. Siehe Zarrow: After Empire, 112–118. Zur Idee des starken Staates in China auch Hunt: „Chinese National Identity“, 62, 76, und E. S. K. Fung: The Intellectual Foundations of Chinese Modernity. Cultural and Political Thought in the Republican Era, New York 2010, 160–161, 258. 133 Die Tatsache, dass er an einen imperialen Großstaat anknüpfen konnte, ist für Sabine Dabringhaus zentrales Charakteristikum des chinesischen Nationalismus. Siehe Dabringhaus: Territorialer Nationalismus, 4. 134 Siehe K. E. Brodsgaard/David Strand: „Introduction“, in: dies. (Hg.): Reconstructing Twentieth-Century China. State Control, Civil Society, and National Identity, Oxford 1998, 1–29, hier 6. 135 Vgl. etwa Hodgkin: China, 99. Jedoch sahen nicht alle westlichen Beobachter eine organisierte Regierung als notwendige Voraussetzung für die nationale Entwicklung Chinas an. Vgl. Hume: „The United States and China“, 71. Siehe auch Margherita Zanasi: Saving the Nation. Economic Modernity in Republican China, Chicago/London 2006, 17.
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build up a new China – a strong State which will command the respect and, we hope, the admiration of the rest of the civilised world“.136 Die Einschätzung vieler westlicher Beobachter spiegelte dieses Selbstbild der politischen Führungselite Chinas wider. Auch sie glaubten an das Potential der nationalistischen Führungselite, China trotz großer Rückschläge in der Vergangenheit in einen modernen Staat zu verwandeln: also politisch zu integrieren, die allgemeine Sicherheit wiederherzustellen und Rechtsstaatlichkeit zu etablieren; der Brite Henry Hodgkin schätzte im Jahr 1932 den notwendigen Zeitraum auf höchstens fünfzig Jahre.137 Trotz des Vertrauensvorschusses schienen politische Reformen dringend notwendig, um das Problem der inneren politischen Instabilität zu lösen und damit die Grundlage für einen starken Staat zu schaffen. China stand offensichtlich vor einer immensen Aufgabe, die jedoch keinesfalls ohne historische Parallele war. Wer mit der nationalistischen Führung sympathisierte, der betonte den Übergangscharakter der gegenwärtigen politischen Lage, die das Land mit denselben Problemen konfrontiere, mit denen andere große Nationen wie die USA und Frankreich vor ihm gekämpft hatten.138 Angesichts der Größe des Landes und des vom Westen neu importierten politischen Unruheherds des Kommunismus schien die Aufgabe sogar noch schwieriger als zu Zeiten der amerikanischen Staatsgründung.139 Nathaniel Peffer, der mehr als zwanzig Jahre lang als Herausgeber der China Press und als Fernost-Korrespondent der New York Tribune in China lebte, beobachtete die politischen Ereignisse mit viel Realismus. Für ihn war das politische Vakuum, das 1911 entstanden war, noch längst nicht gefüllt. Die politischen Aufgaben Chinas wurden ihm zufolge „much too glibly called reconstruction“,140 schließlich gehe es um nichts weniger als den Aufbau eines völlig neuen politischen Systems. Die Regierung musste sich ihm zufolge nicht nur neu organisieren, sondern auch ein einiges Regierungskonzept entwickeln, das der veränderten Lebenssituation der Chinesen entspreche. Vor allem, so Peffer, müsse die psychologische Disposition überwunden werden, die zu den politischen „Abenteuern“ der vergangenen Jahre geführt habe: eine undurchdachte Orientierung an ausländischen politischen Ordnungskonzepten wie der Parteidiktatur.141 Wenngleich
136 Wang: China’s Problems, 149. 137 Vgl. H. T. Hodgkin: Living Issues in China, London 1932, 17. Dewey sah die Transformation zum modernen Staat als Aufgabe von Generationen an. Vgl. Dewey: „Real Chinese Crisis“, 546. Vgl. auch Eddy: Challenge of the East, 109, 95. 138 Vgl. etwa Tang Chi-Chien: „An optimistic view of China“, CWR, Bd. 24, Nr. 2 (März 1923), 50–52, hier 50. 139 Vgl. Hodgkin: Living Issues, 21. 140 Peffer: China, 214–215. 141 Ebd., 227. Vgl. ebd., 225–226.
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Peffers Kritik sehr weit führte, wurden die Ansprüche an eine politische Führungselite, die den Fortschritt des Republikanismus in China garantieren konnte, von allen Seiten hoch gesteckt. Wie der linke Guomindang-Funktionär und enge politische Weggefährte Sun Yatsens Wang Jingwei – sicherlich nicht gänzlich uneigennützig – erklärte, hatte China politische Führungskräfte nötig, die über einen starken Charakter und hohe moralische Grundsätze verfügten: einen Lloyd George oder Clemenceau Chinas.142 Staatsmännisches Führungspotential sprach man den Chinesen – „by tradition as politically minded as any people on earth“,143 wie K. S. Latourette bemerkte – in hohem Maße zu; ebenso wie die großen Völker der Römer und der Angelsachsen, so fuhr Latourette fort, seien auch die Chinesen zu einer stabilen Regierungsbildung in der Lage. Ein an der westlichen Zivilisation gemessenes Potential zu „Good Governance“ stilisierte er zum zivilisatorischen Fortschrittsfaktor. Wie zentral der Anspruch auf gute Staatsführung für westliche Beobachter war, zeigte sich auch in Arthur N. Holcombes Werk The Chinese Revolution von 1930. Der Harvard-Politologe widmete sich darin ausführlich Chinas politischen Kapazitäten, „to organize and operate a modern government, capable of meeting the obligations which fall upon governments under the strenuous conditions of the modern world“,144 und machte an diesen nichts weniger als den zukünftigen Frieden im Pazifik fest. Holcombes Studie ist weniger visionär als pragmatisch. China müsse mit ganz Europa verglichen werden, um das Ausmaß der Anstrengungen verstehen zu können, die mit der Formierung einen chinesischen Einheitsstaates einhergingen. Jedoch glaubt er an den langfristigen Erfolg der Modernisierung des chinesischen Staates unter der Voraussetzung grundlegender Reformen. Dies betraf seiner Meinung nach besonders das Training der Staatsbeamten, das sich jedoch nicht auf die Vermittlung von modernem Wissen beschränken dürfe, sondern auch die Prinzipien traditioneller chinesischer Politik lehren müsse, „since they still determine in great measure the political behavior
142 Vgl. Wang: China’s Problems, 67; Hodgkin: China, 96; W. E. Soothill: China and the West. A short story of their contact from ancient times to the fall of the Manchu dynasty, Oxford 1925, 193– 194; W. W. Willoughby: „Causes which have impeded the Process of Republicanism in China“, in: M. T. Z. Tyau (Hg.): China in 1918, Beijing 1919, 5–8; L. T. Chen: „Under the Nationalist Government“, IPRNB, (April/Mai 1927), 1–4, hier 3. 143 Latourette: Development of China, 293–294. 144 Holcombe: Chinese Revolution, vii–viii. Zur Notwendigkeit von Good Government z. B. auch „Wherein lies China’s salvation?“, CSM, Bd. 15, Nr. 8 (Juni 1920), 7–8. Zum Werdegang Arthur Holcombes siehe „Arthur N. Holcombe Personal Papers“, Online Finding Aid, John F. Kennedy Presidential Library and Museum [http://www.jfklibrary.org/Asset-Viewer/Archives/ ANHPP.aspx?f=1, abgerufen am 16.10.14].
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which may be expected from the peoples of China“.145 Obwohl Holcombe von der Überlegenheit moderner staatspolitischer Methoden gegenüber dem traditionellen politischen System Chinas überzeugt war, sah er also ebenso wie Peffer die Notwendigkeit, den radikalen Bruch mit der Tradition abzumildern, um den Prozess der politischen Modernisierung auf ein stabiles Fundament zu stellen. Wer die Regierungsfähigkeit Chinas – und das bedeutete ab 1928: des Guomindang-Regimes – beurteilen wollte, der musste über die Frage der politischen Führungskapazitäten hinaus aber vor allem zu zwei intensiv diskutierten politischen Problemen Stellung beziehen: dem Spannungsverhältnis zwischen Zentralismus und Föderalismus sowie zwischen staatlicher Autorität und Demokratie.
3.3.2 Demokratie im starken Staat: „The United States of China“? Die föderale Bewegung, die sich seit Beginn der 1920er Jahre als Alternative zum zentralistischen Kurs der Nationalisten angeboten hatte, konnte sich zwar politisch nicht behaupten; der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen eines auf regionaler, provinzieller oder lokaler Autonomie basierenden Regierungssystems in China kam dennoch eine zentrale Bedeutung in den Staatsbildungsdebatten zu.146 Amerikanische Kommentatoren der politischen Entwicklungen in China, etwa John Dewey und der an der Universität von Minnesota lehrende Politikwissenschaftler Harold Quigley, sprachen von der Geburtsstunde der „United States of China“. Beide Autoren zogen für die Legitimation einer föderalen Struktur historische und kulturelle Argumente heran:147 Da bereits das Kaiserreich in autonome Provinzen unterteilt gewesen sei, so Quigley, stünden die Zeichen für eine graduelle „Föderalisierung“ nach amerikanischem Vorbild gut; die politische Dezentralisierung könne „unnatürliche“ Grenzlinien beseitigen, „leaving the peoples of large areas with similar interests [...] free to work out common problems“.148 Die Idee, mit der Freisetzung lokaler Kräfte die politische Selbstheilung
145 Holcombe: Chinese Revolution, 299–300. 146 Zanasi: Saving the Nation, 8. Zur föderalen Bewegung ausführlich auch Jean Chesneaux: „The Federalist Movement in China, 1920–23“, in: Jack Gray (Hg.): Modern China’s Search for a Political Form, London 1969, 96–137. 147 Wie Fitzgerald betont, war die Befürwortung eines föderalen oder zentralistischen Systems in großem Maße davon abhängig, ob die kulturellen Unterschiede oder aber die kulturelle Einheit in der chinesischen Geschichte betont wurden. Siehe Fitzgerald: Awakening China, 161. 148 H. S. Quigley: „Federalism and Foreign Relations in China“, PSQ, Bd. 42, Nr. 4 (Dezember 1927), 561–570.
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und damit die nationale Rekonstruktion zu fördern, wie sie John Dewey vertrat,149 musste den Machthabern wenig zielführend erscheinen, zumal von Seiten Japans und der Kommunisten neue Gefahren für die nationalstaatliche Konsolidierung drohten. In der Vorstellung Sun Yatsens war die chinesische Nation wie ein „loose sheet of sand“ und konnte nur durch zentralstaatliche Durchdringung aller Verwaltungsebenen zusammengehalten werden; die Einführung einer standardisierten Nationalsprache stellte vor diesem Hintergrund ein wichtiges Projekte der Zentralisten dar.150 Machtkonzentration war das Gebot der Stunde und die politische Maxime Chiang Kaisheks.151 Dies bedeutete auch, dass die Rechte des Einzelnen und die Beteiligung des Volkes an den Entscheidungen des Staates geringe Priorität besaßen. In der kritischen Lage Chinas, befand ein Kommentator des Chinese Students’ Monthly, „what she needs is certainly not the differentiating agency of individualism and democracy, but the integrating force of idealism and nationalism“; weniger nach der Freiheit des Individuums gelte es zu streben, als im Sinne Hegels nach der Realisierung von Freiheit im Kollektiv des Staates.152 Für das Demokratieverständnis der jungen Chinesen war wie so häufig das Denken Sun Yatsens richtungweisend, der zunächst den politischen Prioritäten seines Landes Rechnung trug. Einerseits interpretierte er Demokratie als universale Fortschrittskraft und Schlüssel für das Überleben im sozialdarwinistischen Kampf der Nationen; andererseits sah er angesichts der autokratischen Tradition des Kaiserreiches die Grundlagen für eine Demokratie nach westlichem Vorbild in China noch nicht gegeben. Auch teilte er das Ideal der individuellen Freiheit nicht uneingeschränkt: Kritisch gegenüber den Revolten des 4. Mai 1919, meinte er darin Anzeichen dafür zu sehen, dass „zu viel“ Freiheit mit nationaler Solidarität nicht kompatibel war. Das demokratische System, das er sich vorstellte, folgte zwar grob dem amerikanischen Modell, sollte jedoch auf spezifisch chinesischen Erfahrungen beruhen. 149 Vgl. John Dewey: China, Japan and the U.S.A. Present-day Conditions in the Far East and Their Bearing on the Washington Conference, New York 1921, 48–49. Historisch argumentierte auch Bertrand Russell. Vgl. Russell: Problem of China, 70. David Z. T. Yui lehnte eine zentralistische Regierungsstruktur aus realpolitischen Gründen ab; hierzu brauche es einen „leader of most extraordinary personality“, was derzeit jedoch nicht der Fall sei: D. Z. T. Yui: „The Present political outlook in China“, in: T. T. Lew/Hu Shi/Y. Y. Tsu/C. C. Yi (Hg.): China to-day through Chinese eyes, London 1922, 1–9, hier 3. 150 Siehe zum Zentralismus und verschiedenen föderalen Staatskonzeptionen innerhalb der Guomindang Fitzgerald: Awakening China, 155–160, 163–164. 151 Siehe zum Autoritarismus Chiang Kaisheks Jonathan Spence: The Search for Modern China, New York/London 1999, 346. 152 Lin Ho: „Idealist and Individualist Theories. A comparative study with special reference to their application in China“, CSM, Bd. 24, Nr. 4 (Februar 1929), 180–188, 205.
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In seinem Entwurf für eine „Five-Power Constitution“ strebte er nach einer Regierungsform, welche einerseits die Rechte und Partizipation des Volkes schützte und förderte, andererseits das Zentrum stärkte.153 Konkret bedeutete dies, dass China mehrere Stufen durchlaufen musste, um den Zustand der Demokratie zu erreichen: Nach der abgeschlossenen militärischen Phase befand man sich demnach in der Phase der demokratischen „Erziehung“ des Volkes, auch „Tutelage“ genannt. Erst deren Abschluss leitete Sun zufolge die Phase der demokratischen Selbstregierung des Volkes ein.154 Es fanden sich also mindestens zwei Strategien, um das autoritäre politische System zu legitimieren, das Chiang Kaishek nach der Machtübernahme der Nationalisten etablierte: entweder als bewusste und souveräne Entscheidung gegen die Imitation ausländischer Staatssysteme oder, mit Rekurs auf das Diktat des Staatserhalts, als einziger Weg zu einer effektiven nationalen Rekonstruktion. Dies sahen pro-nationalistische westliche Kommentatoren genauso. Arthur Holcombe sah den entscheidenden Vorteil des Autoritarismus pragmatisch in der Stärkung der herrschenden Regierung für die Aufgabe der Landesentwicklung, wobei er den Mangel an „demokratischer Perfektion“ ohne Weiteres mit dem Fortschrittsprinzip in Einklang brachte. Holcombe, der nach dem Zweiten Weltkrieg als politischer Berater Chiang Kaisheks tätig war, maß die Regierung der Guomindang weder an westlichen Staaten noch an den ostasiatischen Nachbarn, sondern am Kaiserreich, dem sie weder prinzipiell als Diktatur noch praktisch in ihrer Ordnungskraft unterlegen sei und damit einen Fortschritt markiere.155 In der Regel wurde die gegenwärtige politische Entwicklung Chinas jedoch nicht an ihrer autoritären Vergangenheit, sondern am Ziel einer liberaldemokratischen Zukunft gemessen. Trotz aller Hindernisse und Gefahren sollte die republikanische Revolution von 1911 erfolgreich zu Ende gebracht werden. „China is a Republic in name in the past nine years“, schrieb der chinesische Journalist G. Zay Wood 1920 in der eigens diesem Thema gewidmeten, in San Francisco 153 Siehe Chang/Gordon: All Under Heaven, 108–111, sowie Pusey: China and Charles Darwin, 335. Zum Staatsverständnis Sun Yatsens auch Fung: Intellectual Foundations, 168, sowie Zhao: Nation-state by construction, 26–27. 154 Vgl. T. Z. Koo: „The Aspirations of New China“, IPRNB (September 1927), 23–26, hier 25. Die propagandistische Stellungnahme bei V. Y. Chow: „When China shall be free“, CD, Bd. 21, Nr. 266 (Januar 1931), 137–140, Wang: China’s Problems, 50, 151, und Bing-Shuey Lee: „Why political tutelage is necessary. Is China ready for Constitutionalism?“, CN, Bd. 1, Nr. 3 (Juli 1930), 36, 38. 155 Vgl. Holcombe: Chinese Revolution, 313–314, 330, 338. Als der Konflikt mit Japan eskalierte, war für den Briten P. H. B. Kent, der lange in China gelebt hatte, der Mangel an Alternativen schon Legitimation genug für eine autoritäre Regierung. Vgl. P. H. B. Kent: The Twentieth Century in the Far East. A Perspective of Events, Cultural Influences and Politics, Port Washington/London 1937, 318.
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erscheinenden Zeitschrift Far Eastern Republic, „she will be a Republic in fact in a short time to come“.156 Die geeinte Republik stand für chinesische und westliche Modernisten einerseits für das Ende von Autokratie, Korruption und Reaktion, andererseits für „everything that is good; [...] for progress, for patriotism, for a clean constitutional government“.157 Sollte die republikanische Entwicklung in China zu einem erfolgreichen Abschluss kommen, so die Prognose vieler Zukunftsoptimisten, werde nicht nur die Gefahr eines „Oriental Prussianism“, wie er in Japan zu beobachten sei, abgewendet, sondern auch eine demokratische Revolution in ganz Asien angestoßen.158 Dass mit dem Demokratiepostulat keinesfalls die Hoffnung auf einen starken Staat aufgegeben werden musste, zeigte indessen das Beispiel der USA. Chinas „big sister republic“159 war mächtiger denn je aus dem Krieg hervorgegangen. Durch ihren Erfolg gewann die westliche Demokratie den Status eines universalen Machtmodells, dem es nachzueifern lohnte. Das Prinzip der Volkssouveränität, das der amerikanischen Verfassung zugrunde lag, sollte auch der chinesischen Republik als Vorbild dienen – ohne jedoch ihre konstitutionelle Entwicklung zu determinieren, wie Robert McElroy, Professor der Geschichte an der Columbia University und ein Mitglied der China Society of America, bekräftigte: „Progress does not demand a number of mere replicas of the American Republic.“160 Eine Beurteilung des chinesischen Demokratisierungspotentials war angesichts der Hoffnungen westlicher und chinesischer Intellektueller auf eine chinesische Republik ein naheliegender Ansatzpunkt für Zukunftsprognosen.161 In einem Vergleich der chinesischen Bevölkerung mit der japanischen kam 156 G. Z. Wood: „The Chinese Republic“, FER, Bd. 3, Nr. 1 (Oktober 1929), 2–3, hier 3. 157 R. S. Norman: „The Obligation of Chinese in America Towards China“, FER, Bd. 2, Nr. 10 (Juli 1920), 157. 158 Vgl. G. C. Chen: „A foreign policy of good intentions“, FER, Bd. 1, Nr. 1 (Oktober 1919), 2–5, hier 5, und Pao-tien Hsieh: „The Future of Democracy in China“, CSM, Bd. 17, Nr. 3 (Januar 1922), 189–194. 159 Norman: „The Obligation of Chinese in America“. Hierzu auch der amerikanische Historiker Tyler Dennett: The Democratic Movement in Asia, New York 1918, 5. Siehe auch Theodor von Laue: The World Revolution of Westernization. The Twentieth Century in Global Perspective, New York/Oxford 1987, 5, sowie Fung: Intellectual Foundations, 164–165. 160 Robert McElroy: „The American Constitution and the Chinese Republic“, CSP, Serie 1, Nr. 1 (1922), 4–10, hier 9. 161 Robert McElroy verwies auf die Geschichte: Über Generationen hatten die Chinesen unter einer in ihrer Reichweite begrenzten imperialen Herrschaft gelebt und Formen lokaler Selbstverwaltung und Kontrolle herausgebildet. Vgl. ebd., 8. Während China in früheren Zeiten demokratisch ohne demokratische Institutionen sein konnte, so Frederick Whyte, müsse es nun jedoch seine Fähigkeit zur politischen Demokratie erst unter Beweis stellen. Vgl. Whyte: Asia, 74–75.
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herwood Eddy zu einem interessanten Ergebnis: Obwohl China auf den ersten S Blick autokratisch, Japan demokratisch sei, handle es sich bei der chinesischen Regierung um eine der demokratischen Basis aufgezwungene Autokratie, bei der japanischen dagegen um eine liberalisierte Oligarchie.162 Während also der Drang nach individueller Freiheit von Sun Yatsen als Hindernis im Prozess der Nationenbildung gedeutet wurde, sah Eddy darin einen spezifischen Entwicklungsvorteil Chinas.163 Auch der Harvard-Absolvent David Z. T. Yui zeigte in Publikationen und auf internationalen Konferenzen sein Vertrauen in die Demokratisierung Chinas nach amerikanischem Vorbild. Das Land könne sich für die erfolgreiche Beendigung des demokratischen Experiments besonders auf die wachsende öffentliche Meinung stützen, welche zu einem unverzichtbaren Stützpfeiler politischer Macht avanciert sei. Damit das Volk der Autokratie langfristig den Rücken kehre, müsse die Kraft der öffentlichen Meinung jedoch durch „staatsbürgerliches Training“ weiter gefördert werden.164 Hierzu äußerte sich Y. S. Tsao (Cao Yunxiang), Präsident des Qinghua College in Beijing, ausführlich unter Verweis auf den britischen Rechtswissenschaftler James Bryce. Eine gute Staatsbürgerschaft verlange die richtige Balance zwischen Gehorsam und Unabhängigkeit, in der Bereitschaft, seine Meinung öffentlich zu äußern und Bürgerpflichten wahrzunehmen. Darüber hinaus müsse die Kommunikation zwischen Staat und Öffentlichkeit verbessert werden, etwa über das Medium eines Ältestengremiums.165 Tsaos Gedanke, dass das demokratische Potential entsprechende institutionalisierte Wirkungskanäle brauche, um sich in einem repräsentativen 162 Vgl. Sherwood Eddy: The new era in Asia, New York 1913, 89. Dass in China eine Autokratie nach japanischem Vorbild entstehen könnte, werde zudem vom Einfluss amerikanischer Werte verhindert. Vgl. W. C. Cole: „Between China and the United States“, CSM, Bd. 18, Nr. 6 (April 1023), 40–44, hier 40. 163 Grover Clark sah dagegen gerade den Mangel an Individualismus als prägende Kraft einer „verstopften“ chinesischen Gesellschaft an, weshalb die demokratische Idee hier nicht Teil des Lebenskonzeptes sei. Diese Gesellschaftsordnung breite sich auch in westlichen Ländern aus. Vgl. Clark: The Great Wall Crumbles, 12. 164 Vgl. Yui: „Present political outlook“, 4–5. Zum Erwachen der demokratischen Öffentlichkeit auch A. S. Sze: „China’s new birth“, CWR, Bd. 17, Nr. 2 (Juni 1922), 52–53, hier 52: „By the consciousness of citizenship, I meant there is now in China a growing realization of the right and duty which the individuals have in a democratic country“; außerdem L. B. Keng: „The Chinese Renaissance“, CN, Bd. 1, Nr. 1 (Juni 1930), 8, 10. Ein gutes Zeichen für die demokratische Entwicklung des Landes sah man auch im Bedeutungsgewinn der einheimischen Presse. Vgl. Y. P. Wang: „The Rise of the Native Press in China“, CSM, Bd. 19, Nr. 8 (Juni 1924), 22–47, hier 46–47. Zur Langwierigkeit des modernen demokratischen Experiments P. W. Kuo/Michimasa Soyeshima: Oriental Interpretations of the Far Eastern Problem, Chicago 1925, 110; Paul Monroe: China. A Nation in Evolution, New York 1928, 11. 165 Vgl. Y. S. Tsao: „The Cause of Democracy in China“, CSPSR, Bd. 10, Nr. 1 (Januar 1926), 62–91.
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System entfalten zu können, wurde an anderer Stelle jedoch selten aufgegriffen. In der politischen Praxis hatte die Regierung wenig demokratische Fortschritte etwa in Form eines erweiterten Wahlrechts vorzuweisen.166 John Dewey machte die Spannung zwischen Anspruch und Realität der staatsbürgerlichen Integration zum Ausgangspunkt seiner Prognose für eine demokratische Zukunft Chinas. Schon 1919 stellt er fest, dass China zwar „moralisch und intellektuell“ eine Demokratie sei, jedoch noch nicht über die Organe und rechtlichen Mittel verfüge, um die starke öffentliche Meinung zu organisieren.167 Dabei ging Dewey nicht unbedingt von einer konstitutionellen oder repräsentativen Demokratie in China aus. Es sei durchaus möglich, dass China, wo persönliches Ermessen traditionell schwerer wiege als formelle Regeln, sich gänzlich vom Legalismus und Formalismus westlicher Staaten abwende. Dann könne ein politisches System entstehen, das direktdemokratische Elemente auf lokaler Ebene, etwa die Meinungsäußerung auf Versammlungen, mit einem großen exekutiven Spielraum der Beamten verbinde, „as long as the latter give general satisfaction“.168 Im Zentrum von Deweys Demokratieverständnis stand wie bei Sun Yatsen das Prinzip der Herrschaft zum Wohle des Volkes, und seine basisdemokratischen Ideen waren auch mit dessen Forderung nach einer starken Exekutive vereinbar. Eine ähnlich emanzipative Stoßkraft wie die Ideen Suns und Deweys besaß Alfred Szes Idee einer „humanistic democracy“, die er in den Annals of the American Association of Political and Social Science darlegte. Diese sollte die chinesische Tradition der „sozialen Demokratie“ in eine politische Demokratie überführen, ohne von Regierungsmechanismen erdrückt zu werden. Soziale Demokratie definierte er als geistige Haltung, die nur in einer auf Kompetenz, Gleichheit und Gemeinsinn beruhenden Gemeinschaft entstehen konnte. Die Demokratie nach westlichem Modell dagegen war für ihn eine wegen der Komplexität der modernen Gesellschaft notwendig gewordene künstliche Form der Regierung: „Unlike social democracy, which is a general ethical ideal, looking to human equality and brotherhood, democratic government is merely a means to an end and an expedient for the better and smoother government of certain states at certain junctures.“169 Für das an Komplexität zunehmende China gelte es, die
166 Dies beklagte auch Hodgkin: Living Issues, 26. Vorschläge für eine verbesserte Kooperation zwischen Staat und Volk durch „civic bodies“ machte Wang: China’s Problems, 56. 167 John Dewey: „Transforming the mind of China“, Asia, Bd. 19, Nr. 11 (November 1919), 1103– 1108, hier 1107–1108. 168 Ders.: „The New Leaven in Chinese Politics“, Asia, Bd. 20, Nr. 3 (April 1920), 267–272. 169 Sze: „Future of Chinese Democracy“, 243.
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politische Maschinerie des Westens an die soziale Demokratie anzupassen und auf diese Weise zu humanisieren. Sei es in den demokratietheoretischen Ausführungen im Stile Deweys oder Szes, in der Rhetorik autoritärer Führer oder in der Analyse pragmatisch orientierter Beobachter: Demokratie war meist die politische Organisationsform, die man sich langfristig für den chinesischen Staat vorstellte – wenn auch in der unmittelbaren Gegenwart die politischen Prioritäten der Stabilität und Einheit auch für westliche Beobachter oft Vorrang hatten. Die beiden zentralen Fragen, die es zu beantworten galt, waren dabei erstens, wie viel Demokratie ein starker Staat vertragen konnte, und zweitens, welche Form der Demokratie für China angestrebt werden sollte. Das Diktat der Staatsbildung bedurfte aus der Sicht der Beobachter eines flexiblen Umgangs mit den in westlichen Ländern vorgelebten politischen Strukturen. Dies wird im indischen Kontext noch deutlicher, wo ein Nationalstaat gerade dies ermöglichen sollte, was das als undemokratisch und entwicklungshemmend empfundene britisch-indische Herrschaftssystem nicht zu leisten schien.
3.3.3 Eine Regierung für Indien: „Of the people, for the people, by the people“ Die Zwischenkriegszeit war in Indien eine Zeit des kontrollierten politischen Wandels. Während mit dem Fortschreiten der nationalen Bewegung das politische Bewusstsein der Öffentlichkeit zunahm, Autoritäten hinterfragt wurden und demokratische Ideen Verbreitung fanden, zielte das „konstitutionelle Experiment“ der britischen Imperialregierung darauf ab, diese demokratische Dynamik durch Zugeständnisse im Bereich der lokalen und provinziellen Selbstverwaltung zu lenken. „The Indian Constitution has defeated the Indian Revolution“,170 schrieb Frederick Whyte, der von 1920 bis 1925 der gesetzgebenden Versammlung für Indien vorsaß; nun müsse die Ausarbeitung der britisch-indischen Beziehungen jedoch mit dem wachsenden politischen Bewusstsein Schritt halten. Wer Vertrauen in die konstitutionelle Lösung des politischen Konfliktes zwischen den Kolonialherren und der indischen Bevölkerung hatte, der hob besonders 170 Whyte: „Goal in India“, 402. Siehe hierzu auch Brown: Modern India, 187, 242, 305. Der Government of India Act von 1935 zielte auf die föderale Verwaltung autonomer Provinzen, die es den Engländern ermöglichen sollte, möglichst lange die Kontrolle über die politischen Entscheidungen im Zentrum zu bewahren. Siehe David Washbrook: „The Rhetoric of Democracy and Development in Late Colonial India“, in: Bose/Jalal: Nationalism, Democracy and Development, 36–49, hier 42–43.
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die Notwendigkeit hervor, die politischen, administrativen und militärischen Strukturen des Landes schrittweise zu reformieren.171 Die Übertragung von Regierungsverantwortung auf die lokale Ebene, wie im konstitutionellen Prozess vorgesehen, schien die Grundlagen für ein demokratisches Regierungssystem zu legen – obwohl die Dorfbevölkerung noch stärker in die politischen Entscheidungsprozesse miteinbezogen werden musste, wie der Sozialist Henry Brailsford einräumte, der den Ruf als „outstandig Labour journalist of the period“172 genoss. Liberale wie konservative britische Regierungen stellten sich für Indien ein politisches System nach dem Vorbild der eigenen parlamentarischen Tradition vor. Den indischen Nationalkongress betrachtete man dabei als „Juniorpartner“, dessen Führungsqualitäten man an seinen Fähigkeiten maß, Good Government nach britischen Vorstellungen einzuführen.173 Auch Frederick Whyte war ein typischer Vertreter eines liberal-imperialistischen Paternalismus, demzufolge die politische Kultur Großbritanniens der indischen überlegen war. Ein neues politisches Verantwortungsgefühl der indischen Führungselite sei zwar feststellbar, jedoch gehe dieses mit einer gewissen Ungeduld einher, den Weg zu einer demokratischen Regierungsform abkürzen zu wollen. Wie viele seiner Landsleute war Whyte davon überzeugt, dass der Aufbau demokratischer Strukturen in Indien nur mit Hilfe der Briten und nach vorheriger Lösung seiner sozialen Probleme gelingen konnte; sollte Letzteres nicht gewährleistet sein, betonte Whyte, dann werde England sich seiner Verantwortung gegenüber Indien nicht entziehen.174 Die verfassungsgebenden Schritte der britisch-indischen Regierung stellten vor dem Hintergrund dieses kulturellen Überlegenheitsgefühls nicht nur praktisch, sondern auch ideologisch Akte kolonialer Herrschaft dar, denen stets ein Element des Zwangs anhaftete.175 Spannungsfelder in der Debatte über die p olitische
171 Vgl. H. N. Brailsford: India in Chains, London 1935, 8. Vgl. ders.: Rebel India, 259, sowie MacDonald: Government of India, 267. Zur schrittweisen Nationalisierung der indischen Regierung vgl. auch K. V. Rao: The Future Government of India, London 1918. 172 F. M. Leventhal: The Last Dissenter. H. N. Brailsford and His World, Oxford 1985, 147. Vgl. Brailsford: Rebel India, 238, 240–241. Zur Etablierung lokaler Autoritäten auch J. N. Gupta: Foundations of National Progress. A Scheme of Constructive Work for an Indian Province, Kalkutta 1927, 5. Sowie der Aga Khan: India in Transition, 275. 173 Siehe Owen: The British Left and India, 10. Auch die „great mass of educated Indian opinion“, so zeigte sich Rufus Isaacs, Marquess von Reading, überzeugt, wünsche sich eine Verfassung „of the English parliamentary type“: The Marquess of Reading: „The Progress of Constitutional Reform in India“, FA, Bd. 11, Nr. 4 (Juli 1933), 609–620, hier 610. 174 Whyte: „Goal in India“, 405. Vgl. auch Reed/Cadell: India, 150–153. 175 Die Briten, ungewillt die Kontrolle über die Reformen aus der Hand zu geben, verkauften diese gerne als „Belohnung“ bei entsprechender Qualifikation. Siehe Metcalf/Metcalf: Concise History, 168.
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ntwicklung Indiens entwickelten sich deshalb vor allem dort, wo die Frage E nach der zukünftigen politischen Verfasstheit der indischen Nation im Zusammenhang mit dem Ziel der politischen Emanzipation gestellt wurde: Konnten die Kolonialherren überhaupt Stifter von Good Government für Indien sein, und was war darunter zu verstehen? Es bestand große Einigkeit, dass sich Indien demokratisch entwickeln sollte. Im Unabhängigkeitskampf konstituierten die Ziele der nationalen Selbstbestimmung (innerhalb oder außerhalb des britischen Empire) und der Demokratisierung zwei Seiten desselben politischen Problems: Wie das Recht auf nationale Souveränität verwehrte die britische Kolonialherrschaft auch das Recht auf Staatsbürgerschaft.176 Nun galt es, mit der Unabhängigkeit auch die staatsbürgerliche Freiheit und politische Mitbestimmung des Einzelnen zu erkämpfen. Das Streben nach einem unabhängigen Nationalstaat avancierte damit zum Akt der politischen Ermächtigung seiner Bürger: Die Verfügungsgewalt sollte von der fremden Regierung direkt auf das indische Volk übergehen. Wie viele seiner Mitstreiter hatte Lajpat Rai großes Vertrauen in das Demokratisierungspotential Indiens. Er bekräftigte, dass das indische Volk den schwierigen Weg zur Demokratie selbst gehen müsse, auch wenn es grundsätzlich bereit sei, sich dabei von den Briten anleiten zu lassen.177 Eine zentrale Führungsrolle für die Zukunft der Demokratie in Indien sprach man der indischen Intelligenz zu. Während sich nur vereinzelte Stimmen für ein oligarchisches System aussprachen, das den traditionellen aristokratischen und autokratischen Gesellschaftsstrukturen besser entspräche,178 schien angesichts des niedrigen Bildungsstandards großer Teile der Bevölkerung die politische Führung der Bildungselite unverzichtbar. Das Ideal bestand in der Verbindung der besten Elemente aus Demokratie und Oligarchie, wenn sich die Bildungsschicht mit den Interessen des Volkes vollständig identifizierte.179 Rai glaubte an den Idealismus der „public men“, das Land zum Wohle der Massen leiten zu wollen, „working with them in a spirit of co-operation and not working for them in a spirit of patronage“.180 Nur auf der Basis eines solchen Kooperationsverhältnisses zwischen Führungselite und Massen sah er eine „neue Form“ der D emokratie
176 Siehe Bose: Modern South Asia, 202. 177 Rai: Political Future, 40–41. 178 Vgl. Reed/Cadell: India, 165–166. 179 Vgl. S. K. Chakrabarti: „The Democracy in India“, IR, Bd. 24, Nr. 11 (November 1923), 675–678, hier 678. 180 Rai: India’s Will to freedom, 69 [Hervorhebung i. O.]. Vgl. ders.: Political Future, 10–11, sowie ders.: „Congress Presidential Address“, 1920, in: ders.: Writings and Speeches, Bd. II: 1920–28, hg. v. V. C. Joshi, Delhi 1966, 22–55, hier 50, 54.
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realisierbar: nämlich eine, die sich über alle sozialen, ethnischen und religiösen Schranken hinwegsetzte. Eine solche Demokratie der Massen basierte jedoch nicht nur auf der Vorstellung tugendhafter und selbstloser politischer Führer, sondern auch auf einem starken Vertrauen in die demokratischen Kräfte der breiten Öffentlichkeit. Ähnlich wie hinsichtlich Chinas wurde dem indischen Volk trotz Bildungsdefiziten ein großes demokratisches Potential attestiert. Dabei verwies man auf den Umstand, dass eine partizipative Öffentlichkeit in Indien bereits vor der Kolonialzeit existiert hatte. Ein Geist der Freiheit und der Demokratie, so argumentierte etwa Jabez Sunderland, sei nicht nur in den Dorfgemeinschaften spürbar, in denen seit jeher Selbstregierung geübt worden sei; auch das staatspolitische Denken sei von demokratischen Idealen durchwirkt, weshalb keinesfalls die Gefahr einer indischen Despotie bestehe: The ideal of practically every public leader in British India, of whatever party or name, is essentially that of Abraham Lincoln, a government “of the people, for the people, by the people”. In other words, the almost universal desire is for a great Republican Nation, to be known by some such name as “The United States of India”, in which all the individual states and provinces shall have their places as smaller and subordinate republics, with local self-rule like that of the individual States of the American Union or the individual Provinces of the Dominion of Canada.181
In einer weiteren Parallele zur Debatte über die politische Zukunft Chinas wurde demnach nicht das britische Vorbild, sondern vielmehr dasjenige der föderalen USA bemüht. Das föderale Staatsprinzip, obwohl im konstitutionellen Prozess von der britisch-indischen Regierung gefördert, stieß selten auf Ablehnung.182 Mehr noch als im vergleichsweise kulturell homogenen China sah man in einem föderalen Indien einen gangbaren Weg zur harmonischen Integration der verschiedenen Völker und Religionen.183 In seinem Werk Democracies of the East von 1923 setzte sich der Soziologe Radhakamal Mukerjee ausführlich mit der Zukunft des Föderalismus in Indien und anderen asiatischen Ländern auseinander. Mukerjee zufolge brauchte es hier einen komplexeren Typus des Föderalismus als im Westen, welcher der ungleich größeren Bedeutung des kommunalen 181 J. T. Sunderland: „Democracies and Republics in India“, IR, Bd. 28, Nr. 8 (August 1927), 498–500, hier 499. Siehe zu den Ursprüngen der indischen Öffentlichkeit C. A. Bayly: Empire and Information. Intelligence gathering and social communication in India, 1780–1870, Cambridge 1996, Kapitel 5. 182 Brailsford mahnte, die Zentralregierung müsse in der Lage sein, die Rechte des Individuums zu schützen. Vgl. Brailsford: Rebel India, New York 1931, 224–225. M. Visvesvaraya sah die nationale Einheit durch unterschiedlich organisierte Provinzen gefährdet. Vgl. Visvesvaraya: Reconstructing India, 72. 183 Vgl. etwa Thompson: Reconstructing India, 350–351; Gupta: Foundations, 281.
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Zugehörigkeitsgefühls Rechnung trug. Der Kommunalismus, definiert als die freie Einflussnahme des Einzelnen auf und durch die lokale oder funktionale Gruppe, der er sich zugehörig fühlt, vermochte es ihm zufolge, den im Westen vorherrschenden „unglücklichen Dualismus“ zwischen Individuum und Staat zu durchbrechen und die Bedürfnisse des Menschen wieder in den Mittelpunkt zu stellen.184 Die Berücksichtigung der ethnischen, sprachlichen, kulturellen oder beruflichen Gruppenloyalitäten auf der niedrigsten Ebene der politischen Struktur, dem Dorfrat und der Dorfversammlung, könne den Charakter der Repräsentation grundlegend aufwerten, „from a mere administrative mechanism to a vital delegation and reciprocal responsibility between the individual and the electorate, preserving the reality of the primary groupings as something more important than the efficiency of the political fabric itself“.185 Eine kommunalistische Demokratie dieser Art könne für Indien mehr leisten als eine bloße Imitation westlicher Strukturen und zudem auf den Westen zurückwirken: Humanity all over the world is imprisoned in the bleak institutional orderliness of a mechan ical and exploitative type of State. And nothing is more needed to-day than a new principle of social constitution which will once again orient man and his allegiances in natural and elastic groups for a freer expression of his gifts and instincts.186
Mukerjee zufolge erwuchs demnach gerade aus einem Bekenntnis zu Indiens sozio-politischen Realitäten ein spezifischer Vorteil gegenüber den demokratischen Systemen westlicher Länder: die Möglichkeit, das politische System zu „humanisieren“. Seiner selbstbewussten Auslegung der kommunalistischen Tradition Indiens standen Stimmen gegenüber, die darin nur Unverständnis für das „Wesen“ der politischen Repräsentation sahen. Dem einflussreichen Historiker Jadunath Sarkar zufolge basierte dieses gerade auf der Distanz zu der Interessenlage vor Ort. Repräsentation in ihrer höheren und wahren Form impliziere die Fähigkeit, die Dinge auch aus der Ferne richtig einzuschätzen.187 Auch auf weniger abstrakter Ebene schienen kommunale Wählerschaften dem politischen Ziel der nationalen – vor allem der muslimisch-hinduistischen – Einheit abträglich, weshalb sich auch Gandhi stets gegen getrennte Wählerschaften aussprach.188
184 Vgl. Radhakamal Mukerjee: Democracies of the East. A Study in Comparative Politics, London 1923, ix. 185 Ebd., ix–x. Vgl. auch Aga Khan: India in Transition, 275. 186 Mukerjee: Democracies of the East, xxv. 187 Vgl. Jadunath Sarkar: „India through the Ages. Indian Renaissance of the 19th Century“, HR, Bd. 53, Nr. 302 (August 1929), 116–122, hier 121. Ähnlich kritisch äußerte sich Stanley Reed: „The Governance of India“, JRIIA, Bd. 6, Nr. 5 (September 1927), 314–326, hier 325. 188 Zu Gandhis Reaktion auf zunehmende religiöse Konflikte siehe Brown: Gandhi, 185–187.
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3.3.4 Nation ohne Staat? Anhänger wie Gegner des Kommunalismus sprachen sich für eine alternative, nicht dem Ideal des britischen Parlamentarismus, sondern den indischen kulturellen Voraussetzungen und nationalen Zielen entsprechende demokratische Entwicklung aus. Ein demokratisches System konnte viele Formen annehmen. Wollte Indien eine wahrhaft große Nation werden, so schien der Weg eines „little Europe, an imitation-England“189 ausgeschlossen. Nicht nur angesichts der Katastrophe des Ersten Weltkrieges und der faschistischen Auswüchse der 1930er Jahre hatte sich der europäische Typus der repräsentativen Demokratie aus der Sicht vieler Kritiker disqualifiziert, sondern auch mit Blick auf die Regierungsmechanismen der britischen Kolonialherrschaft, die nicht nur Gandhi als zutiefst undemokratisch und unmoralisch empfand.190 Wie so oft stand Gandhi für eine radikale Gangart bei der Suche nach einer „indischen“ Demokratie: die Abwendung vom modernen Staat. Zum westlichen Parlamentarismus hatte er ebenso wenig Vertrauen wie zur Fähigkeit des seiner Meinung nach zu Gewalt tendierenden zentralistischen Nationalstaats, für das Wohl der Menschen zu sorgen.191 Wenngleich Gandhi deutlich machte, dass er das ideale System für Indien nicht kannte, beschrieb er es als Ram Rajya (das Reich des Königs Rama) im antiken hinduistischen Epos Ramayana.192 Er gab damit seiner Hoffnung auf den utopischen Zustand einer „Herrschaft der Rechtschaffenheit“ Ausdruck, in dem der Patriarch als Verkörperung der Moral stets im Sinne des kollektiven Willens handelt und in dem das Prinzip der Repräsentation durch die Übereinstimmung der Interessen von Volk und Staat aufgehoben ist.193
189 Vaswani: India in Chains, 30. 190 Vgl. etwa P. M. L. Verma: „The Future Constitution of India“ [I], HR, Bd. 53, Nr. 301 (Juli 1929), 53–57, hier 54. Oder auch Rai: „Congress Presidential Address“, 50. Gandhi zufolge konnte Demokratie nicht von einer zentralisierten Verwaltung ausgehen, sondern musste aus den Dörfern hervorgehen. Das westliche liberal-demokratische Modell konnte seiner Meinung nach keinen sozialen Frieden stiften. Siehe Thomas Pantham: „Beyond Liberal Democracy: Thinking with Mahatma Gandhi“, in: ders./K. L. Deutsch (Hg.): Political Thought in Modern India, Neu Delhi/ Beverly Hills/London 1986, 325–346, hier 334–335. 191 Seine Funktion als Garant individueller Rechte und Freiheit sowie letztlich auch der inneren Ordnung befand er jedoch für notwendig. Siehe Parel: „Gandhi and the state“, 156–157, 161–165. 192 Vgl. M. K. Gandhi: „Speech at Exhibition Ground, Faizpur“ (27. Dezember 1936), in: Collected Works of Mahatma Gandhi, Bd. 64, Ahmedabad 1976, 192. 193 Siehe Bilgrami: „Gandhi’s religion“, 102–103; Peter van der Veer: „Gender and Nation in Hindu Nationalism“, in: Tønnesson/Antlöv: Asian Forms of the Nation, 131–149, hier 145; Eckert: „Anti-Western Doctrines“, 64; Bose: Modern South Asia, 110.
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Wird Nationalismus als politische Bewegung für staatliche Macht definiert, so kann Gandhi anders als Nehru demnach nicht als Nationalist im engeren Sinne bezeichnet werden.194 Wenngleich die Idee des starken Staats in der Debatte über die politische Entwicklung Indiens nicht denselben Stellenwert annahm wie im chinesischen Kontext, wurden die Voraussetzungen staatlicher Macht diskutiert. Die Kolonialismuskritik lieferte hier Argumente. Was der britische Kolonialstaat nicht zu leisten imstande war, wurde nun auf den zukünftigen indischen Nationalstaat projiziert: Er sollte in erster Linie das moralische und materielle Wohlbefinden des Volkes garantieren, darüber hinaus dauerhaft sein, Solidarität erzeugen und als Schutzmacht fungieren.195 Die staatstheoretischen Überlegungen Taraknath Das’ waren in diesem Zusammenhang besonders aussagekräftig. In einem Vortrag vor der American Association of Political and Social Sciences beschuldigt er die westlichen Staatstheoretiker, das Konzept der „human welfare“ zu monopolisieren. Den Ländern des Ostens sei keinesfalls – wie oft behauptet – nur die despotische Regierungsform inhärent, vielmehr hätten sie sich in der Geschichte ebenso wie im Westen mehr oder weniger erfolgreich um das Wohl des Volkes gekümmert. Die internationalen Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit führten seiner Meinung nach dazu, dass in asiatischen Ländern die Freiheit des Einzelnen der Etablierung starker, souveräner Nationalstaaten untergeordnet wurde.196 Taraknath Das teilte seine Überzeugung, die Freiheit des Einzelnen gehe im Staat auf, mit den chinesischen Nationalisten der Guomindang, auf deren staatspolitische Maßnahmen er in seiner Analyse auch direkt verwies. Nach eigener Aussage ging es Das um deutlich mehr als nur um die Konsolidierung staatlicher Macht: Es bedürfe einer neuen politischen Philosophie, um eine Regierungsform zu schaffen, die das entscheidende politische Problem der Zukunft, die soziale Sicherheit, in Angriff nahm.197 Im Staat sah nicht nur er das soziale Prinzip erfüllt. Indien müsse moderne politische Institutionen mit seiner Tradition des Dharma verbinden, so hieß es in der Hindustan Review, also einer Soziologie, „[which] prescribes the functions and duties for all the various orders, groups and institutions of mankind“.198 Im Gegensatz zur westlichen Gesellschaft, die den Individualismus zu weit getrieben habe, baue die indische Gesellschaft
194 Siehe Chatterji: „Nationalisms in India“, 253. 195 Vgl. Gupta: Foundations, 258. Siehe auch Prakash: Another Reason, 188–199. 196 Taraknath Das: „Significance of Political Trends in the Far East“, AAAPSS, Bd. 180 (Juli 1935), 14–25, hier 14–15. 197 Ebd., 25. 198 P. M. Verma: „The future Constitution of India – II“, HR, Bd. 53, Nr. 301 (Juli 1929), 161–167, hier 161.
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auf der Gemeinschaft auf, die den Regeln des Dharma folge und in der das Dasein des Einzelnen aufgehe. Indien konnte aus dieser Perspektive als Geburtsstätte des Staatssozialismus gedeutet werden. Staatstheoretische Überlegungen dieser Art, ebenso wie Mukerjees Plädoyer für eine kommunalistische Demokratie, eröffneten neue politische Zukünfte nicht nur für Indien, sondern auch für westliche Länder.199 Sie konnten dabei entweder an bereits vorherrschende Diskurse im Westen anschließen oder aber traditionelle Vorstellungen einer politischen Ordnung der Gesellschaft universalisieren.
3.4 Fazit Das Bild des Treibhaus-Effekts, das David Z. T. Yui bei seiner Analyse des Nationalismus anbrachte, beschrieb die Lage nicht nur in China, sondern auch in Indien sehr treffend. In beiden Ländern spielten nach dem Ersten Weltkrieg einige Faktoren zusammen, die den nationalen Bewegungen enormen Auftrieb gaben: Gewaltsame Konfrontationen zwischen einheimischer Bevölkerung und Fremdmächten schürten antiausländische Ressentiments und verstärkten das Bewusstsein einer nationalen Identität im gemeinsamen Kampf gegen die Imperialisten. Ebenso wie Gandhi in Indien gelang es den Studenten und Intellektuellen in den urbanen Zentren Chinas, immer größere Teile der Bevölkerung für den antiimperialistischen Widerstand zu mobilisieren. Obwohl weder Gandhi und der Nationalkongress noch die Guomindang, welche die nationalistische Dynamik für die eigene Machtergreifung nutzen konnte, das ganze Land ideell oder de facto einten, fanden sie sich öffentlich in ihrer Rolle als Repräsentanten der Nation bestätigt. Und obwohl weder in Indien noch in China die absolute politische Unabhängigkeit vor dem Zweiten Weltkrieg realisiert wurde, hatten die nationalen Bewegungen den Weg dorthin unwiderruflich geebnet. Der Nationalismus war in beiden Ländern ein revolutionärer, und wie die weitere Entwicklung Chinas und Indiens zeigen sollte, blieb Yuis Befürchtung, er könne ebenso schnell verblühen, wie er seine Blüte erreicht habe, unbestätigt.
199 „The Western type of democracy has to adopt the Eastern functional idea of discharging individual duties to the good of the State“ [Hervorhebung i. O.], schrieb ein weiterer Beiträger für die Hindustan Review. „Modern democracy neglects the individual and his (or her) responsibilities and is thereby digging its own grave; and its impossible pabulum of equality has led to much bloodshed.“ K. R. Sastry: „Future of Free Countries“, HR, Bd. 53, Nr. 303 (September 1929), 247–248, hier 248.
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In Yui selbst fand sich weniger ein revolutionärer Antiimperialist als ein patriotischer Reformer. Wie viele seiner Zeitgenossen sah er den Nationalismus in erster Linie als produktive Kraft der nationalen „Rettung“. Seine Metapher des Treibhaus-Effektes zielte weniger auf die innere revolutionäre Dynamik als auf die externen Erwartungen an den chinesischen Nationalismus. Es war ihm wie zahlreichen chinesischen und indischen Intellektuellen ein zentrales Anliegen, die Entwicklung des Landes zu einer Sache der Nation zu machen. Die angestrebte politische Unabhängigkeit war nur das äußere Zeichen für die innere Emanzipation von westlichen Einflüssen. Dementsprechend durchliefen westliche Vorstellungen der politischen Modernisierung im Allgemeinen sowie von Nation, Demokratie und Staat im Besonderen einen Prozess der nationalen Aneignung. Stand dabei im indischen Kontext die Suche nach einer politischen Form im Vordergrund, die der Vielfalt der Religionen Rechnung trug, so war es im chinesischen das Ziel eines Einheitsstaats, der die innere Kohärenz und äußere Stärke des Kaiserreichs wiederherstellte und gleichsam in das 20. Jahrhundert übersetzte. Auch in der Außenperspektive der britischen und amerikanischen Beobachter sah man den Nationalismus vorwiegend als identitäts- und einheitsstiftende Kraft, die aus den vormodernen Vielvölkerreichen China und Indien moderne Nationalstaaten generieren konnte. Wenngleich vor allem die britische Sicht auf die nationale Entwicklung Indiens von der Vorstellung historisch gewachsener Vormundschaft geprägt war, bestand ein breiter Konsens darüber, dass China und Indien ihre nationale Zukunft selbst gestalten mussten. Die Emanzipation von westlichen politischen Ideen und Strukturen oder deren Anpassung an die spezifischen Bedürfnisse Indiens und Chinas schien dabei in dem Maße angebracht, wie diese Schritte dazu beitrugen, Kernideale der westlichen politischen Kultur wie individuelle Freiheit und Good Government mittel- oder zumindest langfristig zu verwirklichen. Die Hoffnungen auf zukünftige „United States of China“ nach amerikanischem oder einen indischen Parlamentarismus nach britischem Vorbild waren groß. Entsprechend dominierten positive Beurteilungen des demokratischen Entwicklungspotentials beider Länder und seiner Verankerung in den traditionellen Gesellschaftsstrukturen. Ebenso offensichtlich waren jedoch auch für externe Beobachter die Schwierigkeiten, die sich für die nationale Einheit in Indien durch den religiösen Pluralismus, in China durch die anhaltenden politischen Konflikte zwischen Nationalisten, Kommunisten und Warlords ergaben. Nicht selten vertraute man deshalb darauf, dass gerade ein „kreativer nationaler Geist“ – sei es in Form des religiösen Nationalismus Gandhis oder des Autoritarismus der Guomindang – Indien und China in eine bessere Zukunft führte.
4 Entwicklung zwischen Kapitalismus, Sozialismus und staatlicher Planung Während der Begriff der wirtschaftlichen „Entwicklung“ besonders die Beziehungen der Industrienationen zur „Dritten Welt“ nach dem Zweiten Weltkrieg prägt, kann die ihm zugrunde liegende Idee des materiellen Fortschritts ins 19. Jahrhundert zurückverfolgt werden. Der Wirtschaftswissenschaftler Heinz Arndt macht in seiner Ideengeschichte der wirtschaftlichen Entwicklung auf die hohen, oft utopischen Erwartungen aufmerksam, die diesem Konzept seit seiner Entstehung anhaften: Higher living standards. A rising per capita income. Increase in productive capacity. Mastery over nature. Freedom through control of man’s environment. Economic growth. But not mere growth, growth with equity. Elimination of poverty. Basic needs satisfaction. Catching up with the developed countries in technology, wealth, power, status. Economic independence, self-reliance. Scope for self-fulfilment for all. Liberation, the means to human ascent.1
Auch im Aufstiegsdiskurs der Zwischenkriegszeit zeigt sich, dass es bei der wirtschaftlichen Entwicklung Indiens und Chinas um mehr als nur die Aneignung materieller Errungenschaften ging. Wirtschaftliche Entwicklung bedeutete das Überleben des Einzelnen und der Nation und sie eröffnete die Möglichkeit, das Stigma der Rückständigkeit ablegen und in den Kreis der großen Mächte aufsteigen zu können.2 Darüber hinaus lag in der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas und Indiens auch für die Industrienationen die Chance, langfristig von Investition und Handel zu profitieren. Aus der Sicht der meisten Beobachter handelte es sich um eine Win-win-Situation. Sun Yatsens 1920 erschienenes Werk The International Development of China stieß bei westlichen Ökonomen im Umkreis des IPR auf große Resonanz und machte die wirtschaftliche Entwicklung Chinas zu einem bedeutenden Thema in den Debatten und Veröffentlichungen des I nstituts.3 Indien und China teilten eine schwierige wirtschaftliche Ausgangslage: ein geringes Pro-Kopf-Einkommen bei schnell wachsender Bevölkerung, ein großer 1 Arndt: Economic Development, 1–2, 9. 2 Die Assoziation wirtschaftlicher Entwicklung mit Fortschritt und nationaler Regeneration untersucht Benjamin Zachariah ausführlich für den indischen Kontext: Zachariah: Developing India, hier 4. 3 Vgl. etwa Wu Ding-Chang: „International Economic co-operation in China“, in: J. B. Condliffe (Hg.): Problems of the Pacific 1929. Proceedings of the Third Annual Conference of the Institute of Pacific Relations, Nara and Kyoto, October 23 to November 9, 1929, Chicago 1930, 368–376, hier 373. Siehe auch Arndt: Economic Development, 16, 34. DOI 10.1515/9783110464382-004
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landwirtschaftlicher Sektor neben einer nur langsam Fuß fassenden industriellen Produktion, die Abhängigkeit vom Import von Maschinen und dem Export von Rohstoffen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen sowie die Armut großer Teile der Bevölkerung präsentierten sich als Tatsachen. Wirtschaftliches Wachstum war in beiden Ländern zwar vorhanden, aber mit starken regionalen und sektoralen Schwankungen und ohne nachhaltigen Einfluss auf die Produktivitäts- und Wohlstandsentwicklung der Gesamtbevölkerung.4 In der Erwartung einer besseren wirtschaftlichen Zukunft lag eine zentrale Antriebskraft auch für das Streben nach politischer Souveränität. Im Fall Indiens existierte ein komplexes Abhängigkeits- und Wechselverhältnis mit der britischen Wirtschaft, das sich auf die industrielle Entwicklung des Landes teils fördernd, teils hemmend auswirkte.5 Die zugespitzte und von der neueren Forschung relativierte Theorie des „Drain of Wealth“, also der kolonial induzierten Unterentwicklung, war als konsensfähige Kritik an der britischen Herrschaft fester Bestandteil des indischen Nationalismus seit dem 19. Jahrhundert und begleitete auch nach 1919 konkurrierende Ideen einer nationalen Ökonomie.6 In China geht die Debatte über die Möglichkeiten wirtschaftlicher Modernisierung auf die Selbststärkungs- und Reformbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurück. Nach 1927, als die Guomindang ihre politische Macht konsolidiert hatte, avancierte das Ziel einer modernen nationalen Ökonomie zum Kern der Nationenbildung.7 Wie in Indien war in China der Einfluss westlicher ökonomischer Theorien groß. Über 1200 chinesische Studenten waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allein in den USA in wirtschaftswissenschaftliche
4 Vgl. zu China Albert Feuerwerker: „Economic trends, 1912–49“, in: J. K. Fairbank (Hg.): The Cambridge History of China, Vol. 12: Republican China 1912–1949, Part I, Cambridge 1989, 28–127, hier 28–29. Und zu Indien B. R. Tomlinson: The Economy of Modern India, 1860–1970, Cambridge 1993, 9–11. 5 Zur zentralen Position Indiens im imperialen wirtschaftlichen Gefüge siehe Goswami: Producing India, 61–67. Bipan Chandra plädierte Ende der 1970er Jahre dafür, die Zeit der britischen Kolonialherrschaft in Indien als spezifisch koloniales System der Modernisierung zu bewerten. Siehe Bipan: Nationalism and Colonialism, 2–8. Die Bedingungen und Begleiterscheinungen der imperialen Marktintegration Indiens und das Paradigma der Unterentwicklung in einer marxistischen Interpretation der indischen Wirtschaftsgeschichte untersucht ausführlich Tirthankar Roy: India in the World Economy. From Antiquity to the Present, New York 2012, besonders Kapitel 7. 6 Siehe etwa Goswami: Producing India, 209–220. Einen kurzen Überblick über das „Left- nationalist Paradigm“ in der indischen Wirtschaftsgeschichtsschreibung und die Kritikpunkte der neueren Forschung gibt Tirthankar Roy: The Economic History of India, 1857–1947, New Delhi 2000, 14–18. 7 Zanasi: Saving the Nation, 4, 16.
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Masterstudiengänge eingeschrieben; viele davon nahmen nach ihrer Rückkehr leitende Funktionen im wirtschaftlichen und politischen Leben Chinas ein.8 Während die Mehrzahl der westlichen Ökonomen den Ländern Asiens und Afrikas vor dem Zweiten Weltkrieg wenig Aufmerksamkeit widmete, war für diejenigen Autoren, die Indien und China in der Zwischenkriegszeit im Blick hatten, deren wirtschaftliche Entwicklung ein wichtiger Bestandteil ihrer Zukunftsprognosen.9 „Is India now on the brink of a great forward movement which will eventually bring her into economic line with the West?“, fragte 1929 die britische Ökonomin Vera Anstey in ihrer einflussreichen Untersuchung der indischen Wirtschaft.10 Angesichts der noch unerschlossenen Rohstoffe und dem Überschuss an Arbeitskraft wurde den beiden Flächenstaaten ein großes Entwicklungspotential attestiert. Jedoch fielen die Antworten auf die Frage, wie das Potential realisiert und die wirtschaftliche Situation der beiden Länder verbessert werden konnte, sehr unterschiedlich aus. Sie hingen davon ab, welches Ziel primär angestrebt wurde und welche Methoden als angemessen, notwendig oder umsetzbar erschienen. Nationaler Wohlstand und staatliche Macht wurden ebenso mit der wirtschaftlichen Entwicklung in Verbindung gebracht wie Armutsbekämpfung und Demokratisierung. Die Entwicklungsentwürfe bewegten sich zwischen drei Polen: erstens der Aussicht auf wirtschaftliches Wachstum durch Industrialisierung nach westlichem Vorbild, zweitens dem Ziel der nationalen Emanzipation von kolonialen oder semi-kolonialen Verhältnissen sowie drittens dem Anspruch auf soziale Gerechtigkeit.
4.1 Alle Hebel in Bewegung setzen: Wachstum durch Industrialisierung 4.1.1 Ein „zweites Eldorado“ in China Der deutsche Geograph Ferdinand von Richthofen unternahm von 1868 bis 1872 eine ausgedehnte Forschungsreise durch China, die unter anderem dazu dienen sollte, die dort vorhandenen Kohlevorkommen zu schätzen. Richthofens Ergebnisse legten nahe, dass Chinas Reichtum an mineralischen Rohstoffen unschätzbar groß war, und prägten nach ihrer Veröffentlichung ein Bild des Landes als
8 Siehe Trescott: Jingji Xue, 63, 110–111. 9 Arndt: Economic Development, 28–29, 34. 10 Anstey: Economic Development, 9.
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noch unerschlossenes „zweites El Dorado“.11 Richthofens Untersuchungen blieben jedoch nicht unhinterfragt. So kam eine Arbeitsgruppe des Council on Foreign Relations um den Geologen H. Foster Bain zu dem Ergebnis, dass Chinas mineralische Rohstoffe – gemessen an westlichen Standards – für eine umfassende Industrialisierung nicht ausreichten.12 Bains Annahme, dass die Rohstoffvorkommen des Landes in der Vergangenheit weit überschätzt worden waren, tat dem Glauben an Chinas industrielles Entwicklungspotential jedoch keinen Abbruch. Waren die Kohle- und Eisenvorkommen nicht vergleichbar mit denen der USA, so doch immer noch größer als diejenigen Europas oder Japans,13 das gerade eine erfolgreiche Modernisierung durchlaufen hatte.14 Der amerikanische Journalist Felix Morley errechnete, dass Chinas Kohlereserven – gemessen an aktuellen Verbrauchsraten – für die nächsten zweitausend Jahre ausreichen sollten. Morley, der als erster China-Korrespondent der Baltimore Sun ein großes Interesse an Ostasien entwickelte und für seine Leitartikel bei der Washington Post 1936 den Pulitzer Preis gewinnen sollte, machte Chinas wirtschaftlichen Reichtum auch an seltenen Industriemetallen wie Antimon und Wolfram fest.15 Insgesamt schienen die natürlichen Bedingungen Chinas – reichlich industriell verwertbare Rohstoffe, fruchtbare Böden und gutes Klima, eine lange Küstenlinie, ein großes Netzwerk an Wasserwegen und viele potentielle Quellen für Wasserkraft – optimale Grundvoraussetzungen für die wirtschaftliche Erschließung des Landes zu bieten.16 In Verbindung mit dem lange etablierten Binnenmarkt sah man China genauso wie Japan und Indien in der Lage, sich auf der Grundlage
11 Diesen Titel gibt H. Foster Bain einem seiner Aufsätze zu den Rohstoffvorkommen Chinas. Vgl. H. F. Bain: „Second El Dorado“, in: Joseph Barnes (Hg.): Empire in the East, New York 1934, 185–214. 12 Vgl. Bain: Ores and Industry. Siehe auch Schulzinger: Council on Foreign Relations, 26. Nach seiner Veröffentlichung wurde Bain vielfach zitiert, um hohe Schätzungen der chinesischen Rohstoffvorkommen zu relativieren. Vgl. etwa H. M. Vinacke: „Obstacles to Industrial Development in China“, AAAPSS, Bd. 152 (November 1930), 173–180, hier 174. Von Richthofen wurde vereinzelt jedoch noch immer als Quelle zitiert. Vgl. High: China’s Place in the Sun, 38. 13 Vgl. Hodgkin: China, 179; Eddy: Challenge of the East, 89; Peffer: China, 193–194. 14 Vgl. z. B. Soothill: „Western Races“, 191. Sachsenmaier weist jedoch darauf hin, dass chinesische Autoren sich weniger an Japan als an westlichen Ländern orientierten. Vgl. Sachsenmaier: „Chinese Debates“, 111. 15 Vgl. Morley: Far Eastern Assignment, 125. Zu Felix Morley siehe E. A. Brennan: Who’s Who of Pulitzer Prize Winners, Phoenix 1999, 167–168. Vgl. auch Julean Arnold: „The New China“, 294. 16 Bezüge zu den natürlichen Ressourcen Chinas finden sich in fast allen Analysen. Vgl. exemplarisch A. S. Keister: „The Economic Future of China“, FER, Bd. 2, Nr. 8 (April 1920), 65–66, hier 65; C. D. Bruce: „‚East and West‘: The gulf that threatens“, AR, Nr. 56 (Oktober 1922), 575–582, hier 579.
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dieser Ressourcen in Zukunft nicht nur selbst zu versorgen, sondern zusätzlich Überschüsse für den Export zu produzieren.17 Neben den natürlichen Ressourcen galt Chinas großes Arsenal an Arbeitskraft als zweiter Garant des Wachstums. „Her development will come with a tremendous rush“, schrieb der spätere amerikanische Finanzminister Henry Morgenthau in seinem Vorwort zu Felix Morleys Our Far Eastern Assignment. „She will not have to wait for immigration from other countries as we did, to develop her resources and create feeders for her coming railroads. She has unlimited manpower.“18 Im Vergleich mit westlichen Ländern sah er hier den eigentlichen Entwicklungsvorteil Chinas. Die chinesische Bevölkerung, der man gerne Fleiß, Zähigkeit und Geschäftssinn zusprach,19 stellte ein Überangebot ungebildeter Arbeitskräfte, welche die Lohnkosten niedrig hielten. Dass aber der Vorteil, den Chinas Produzenten aus billiger Arbeitskraft zogen, nur für eine Übergangszeit der industriellen Entwicklung galt, machte der Wirtschaftswissenschaftler John B. Condliffe in einem Aufsatz für die in Beijing ansässige Chinese Social and Political Science Review deutlich. Condliffe hatte seine Karriere am neuseeländischen Canterbury College begonnen und wirkte seit 1925 am Aufbau des Institute of Pacific Relations mit. Von Honolulu aus koordinierte und besuchte er internationale Konferenzen in Asien, Europa und Amerika und machte sich als Analyst weltwirtschaftlicher Zusammenhänge einen Namen. Ihm zufolge waren nicht ungebildete, sondern kompetente Arbeitskräfte mit wissenschaftlichem Knowhow und Führungsqualitäten der Schlüssel zu nachhaltigem wirtschaftlichen Erfolg in China.20 In den heimkehrenden Auslandsstudenten ebenso wie in den Absolventen einheimischer Universitäten sahen Condliffe und zahlreiche
17 Vgl. Hyndman: Awakening, 110–111, ähnlich Soothill: „Western Races“, 195; Chao-Hsin Chu: „China waiting for Development“, AR, Bd. 29, Nr. 58 (Juli 1923), 386–395, hier 386; H. K. Li: „China’s Industrial Development. Obstacles and Opportunities“, CR, Bd. 2, Nr. 8 (Februar 1922), 83–84, hier 84. 18 Vgl. Henry Morgenthau: „Introduction“, in: Morley: Far Eastern Assignment, vii. 19 Vgl. etwa George Sokolsky: „China in Revolution“, CWR, Bd. 21, Nr. 1 (Juni 1922), 3–5, hier 4. Eine „commercial nation“ mit enormem Organisationstalent sah Henry Hodgkin in den Chinesen: H. T. Hodgkin: „When China Competes. International Consequences of her Industrial Devel opment“, TWT, Bd. 6, Nr. 11 (November 1923), 329–330, hier 329. 20 J. B. Condliffe: „Industrial Development in the Far East“, CSPSR, Bd. 12, Nr. 3 (Juli 1928), 361–368, hier 362–363. Condliffe wurde 1927 zum Thema „Industrial Revolution in the Far East“ promoviert. Zu seinem Werdegang siehe Grant Fleming: „Condliffe, John Bell“, Dictionary of New Zealand Biography, Te Ara – the Encyclopedia of New Zealand [http://www.teara.govt.nz/en/ biographies/4c28/condliffe-john-bell, abgerufen am 14.10.14]. – Zur Funktion gelernter Arbeiter auch Hodgkin: „When China competes“, 330, und Keister: „Economic Future“, 64.
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andere Kommentatoren wie etwa der chinesische Politikwissenschaftler M. T. Z. Tyau eine große Entwicklungskraft.21 Lag in den natürlichen und demographischen Voraussetzungen Chinas ein enormes Entwicklungspotential, so schienen die gegenwärtigen Trends zu zeigen, dass das Land dieses Potential zu realisieren begann. Man setzte große Hoffnungen in das chinesische Bankgewerbe, das in der Republikzeit florierte und das ebenso wachsende einheimische Unternehmertum mit Kapital versorgte;22 aus den Fortschritten der einheimischen Industrien – besonders der Textil- und Stahlindustrie – und dem wachsenden Handelsvolumen schloss man auf einen wirtschaftlichen Aufwärtstrend.23 Gerne bezogen sich westliche und chinesische Autoren dabei auf den amerikanischen Handelsattaché Julean Arnold. Arnold galt als Experte für die wirtschaftliche Entwicklung Chinas, seine Beiträge waren in Fachzeitschriften gefragt. Auf der Grundlage umfassender Analysen von Industrie und Handel sah Arnold unter der Oberfläche der politischen Turbulenzen – und beinahe ungestört von ihnen – eine starke und moderne Wirtschaft entstehen.24 P. W. Kuo, ein Columbia-Absolvent, der in den 1930er Jahren 21 J. B. Condliffe: „The Pressure of Population in the Far East“, EJ, Bd. 42, Nr. 166 (Juni 1932), 196–210, hier 207–208. Vgl. M. T. Z. Tyau: „The Future of Chinese Labor“, FER, Bd. 1, Nr. 6 (März 1920), 19–23, hier 21. Zur Rolle der „foreign returned students“ vgl. auch „Letter from C. T. Chu“, CSM, Bd. 15, Nr. 12 (Dezember 1919), 36. Zur Rolle der Bildung für die Industrialisierung auch K. H. Li: „China’s Industrial Development – Opportunities and Obstacles“, CR, Bd. 5, Nr. 5 (Dezember 1923), 169–170. 22 Vgl. etwa P. T. Bowen: „The Commercial Future of China“, AR, Bd. 18, Nr. 55 (Juli 1922), 459– 467, hier 463–465, und C. E. Low: „The Future development of Indian Industries“, AR, Bd. 20, Nr. 61 (Januar 1924), 99–121, hier 112. 23 Vgl. Tyau: China Awakened, 200. Vgl. auch Sokolsky: „China in Revolution“, 4; High: China’s Place in the Sun, 37; Russell: Problem of China, 231. Zur neuen Dynamik auch John Melbourne: „Why we can have faith in China“, TCD, Bd. 10, Nr. 118 (Februar 1928), 3–8, hier 8. Speziell zur Baumwollindustrie B. Y. Lee: „Cotton, China’s most important Industry“, CSM, Bd. 21, Nr. 4 (Februar 1926), 21–23, hier 23. Zum Handelsvolumen Eddy: Challenge of the East, 89. Zu den Formen des industriellen Wachstums in der Zwischenkriegszeit siehe T. G. Raski: Economic Growth in Prewar China, Berkeley/Los Angeles/ Oxford 1989, 344–452 sowie Appendix 1. Auch Marie-Claire-Bergère betont, dass die einheimischen Industrien ebenso wie die ländliche Wirtschaft den Rückgang des Außenhandels in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg relativ unbeschadet überstanden. Siehe Marie-Claire Bergère: „The Consequences of the Post First World War Depression for the China Treaty-Port Economy, 1921–1931“, in: Ian Brown (Hg.): The Economies of Africa and Asia in the Inter-war Depression, London/New York 1989, 221–252. Sabine Dabringhaus weist jedoch darauf hin, dass zur industriellen Entwicklung in der Republikzeit belastbare Statistiken fehlen. Siehe Dabringhaus: Geschichte Chinas, 89. 24 Z. B. Julean Arnold: „China’s Post-War Trade“, AAAPSS, Bd. 122 (November 1925), 82–95, hier 94–95. Ähnlich auch Morley: Far Eastern Assignment, 127. Die Fähigkeit der Chinesen, trotz politischer Unruhen ihrem Tagesgeschäft nachzugehen, stellte nicht nur Arnold als besonderes Merkmal der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas heraus. Vgl. etwa Grover Clark: China’s Economic Emergence, Philadelphia 1933, 94.
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in verschiedenen privatwirtschaftlichen und staatlichen Positionen eine bedeutende Rolle für das chinesische Wirtschaftsleben spielte, griff diesen Gedanken Arnolds auf, um China eine große wirtschaftliche Zukunft zu attestieren: We are inclined to share the views of Mr. Arnold. The financial troubles in China are not economic but political. There is every reason to believe that as soon as a stable government is maintained, her financial status will be greatly improved. That China is bound to become one of the greatest industrial nations of the world is a foregone conclusion [...]. But that she has been able to make great strides in this direction, in spite of her internal unrest and political instability, reveals the strength as well as the resources of her people.25
Eine solche Uminterpretation politischer Schwächen in wirtschaftliche Stärken diente nicht zuletzt dem Zweck, das Vertrauen in China als Investitionsland zu erhöhen.26 Kuo und andere chinesische Autoren waren davon überzeugt, dass in China mehr schlummerte als nur ein Absatzmarkt, dass sich das Land vielmehr zu einer großen Industrie- und Exportnation entwickeln konnte. „China is at the threshold of a great industrial development that has been unrivaled anywhere except in the United States and Germany“,27 schrieb Alfred Sze zu Beginn der 1920er Jahre. Der Enthusiasmus beschränkte sich nicht auf chinesische Patrioten. In einflussreichen indischen Zeitschriften wurde die chinesische Industrialisierung als eines der bedeutendsten Themen der Zeit bewertet.28 Und auch amerikanische und britische Autoren sahen in China eine industrielle Revolution vonstattengehen, wobei seine wirtschaftliche Rückständigkeit als zweifacher Vorteil interpretiert wurde: nicht nur, weil sein Reichtum im Gegensatz zu anderen Ländern noch unerschlossen war, sondern auch, weil es von den Errungenschaften und Rückschlägen bereits industrialisierter Länder profitierte. Unter diesen Bedingungen, so war etwa George Sokolsky überzeugt, würde sich China wesentlich schneller entwickeln als Japan.29 Die Vorstellung, China könne in seiner wirtschaftlichen 25 Kuo/Soyeshima: Oriental Interpretations, 121. 26 Eine ähnlich apologetische Stoßrichtung hatte der Hinweis auf die lange Tradition vormoderner Methoden, die den Wandlungsprozess verlangsamten und die Erwartungshaltung der Beobachter dämpfen müssten. Vgl. C. T. Wang: „Industrial Progress in China“, CSPSR, Bd. 10, Nr. 1 (Januar 1926), 1–12, hier 2. 27 A. S. Sze: „China’s place in the Far East“, CWR, Bd. 20, Nr. 7 (April 1922), 242–246, hier 244. Vgl. auch J. C. Siong Tec: „China turns to Industrialism. Her future as a producer and a market“, CN, Bd. 1, Nr. 39 (März 1931), 1005–1006, 1022–1023. 28 Vgl. „The Commercial Future of China“, IR, Bd. 23, Nr. 2 (Februar 1922), 613. Ähnlich T. B. Partington: „Industrial China“, MR, Bd. 32, Nr. 1 (Juli 1922), 231. 29 Vgl. Sokolsky: „China in Revolution“, 5. Der Gedanke war verbreitet, China müsse keine alten wirtschaftlichen Strukturen abbauen, sondern könne das Beste übernehmen, was der Westen zu bieten habe. Vgl. Partington: „Industrial China“, 231.
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Entwicklung gleichsam das 19. Jahrhundert des Westens überspringen, teilten jedoch nicht alle Beobachter.30 Mit der Industrialisierung war nicht nur die langfristig Erwartung internationaler Geltung, sondern auch die kurzfristige Lösung drängender nationaler Probleme verbunden. Nur eine Industrialisierung konnte aus der Sicht ihrer Befürworter die Armut effektiv bekämpfen und somit das Leben aller Chinesen verbessern.31 Nicht selten wurde dabei das wirtschaftsliberale Narrativ von den kumulativen Effekten frei waltender Wirtschaftskräfte bemüht. Der Aufbau von modernen Kommunikations- und Transportwegen führte demnach zu einer Kettenreaktion: Neue Arbeitsplätze in diesen Bereichen sicherten das Einkommen der Bevölkerung und erhöhten damit ihre Kaufkraft, die wiederum Handel und Industrie Impulse verlieh und Arbeitsplätze kreierte.32 In China wie anderswo werde die Aussicht auf höhere Löhne und wirtschaftliche Profite ein übriges tun, um die Bevölkerung von der Notwendigkeit des industriellen Wandels zu überzeugen, schrieb Charles C. Batchelder, der für das amerikanische Handelsministerium in China und Indien tätig war.33 Für einige Autoren ergab sich die Notwendigkeit der Industrialisierung jedoch nicht primär aus den Bedürfnissen der Gegenwart, sondern aus historischen Gesetzen. Für Bertrand Russell war die Verbreitung industrieller Methoden in allen Teilen der Welt mit einer Naturgewalt vergleichbar: Überall dort, wo es Ressourcen gebe, werde sich der Industrialismus entwickeln – eine Tatsache, die man trotz aller Kritik am Kapitalismus akzeptieren müsse.34 Der Gang wirtschaftlicher Entwicklung war aus dieser Sicht keine Frage bewusster Entscheidungen, sondern determiniert. Damit trat auch die Frage in den Hintergrund, ob der moderne Industrialismus China den richtigen Weg deute; einmal vom Strom der wirtschaftlichen Modernisierung erfasst, ergo: in das Weltwirtschaftssystem integriert, schien seine Industrialisierung mit allen Konsequenzen unvermeidbar.35 Im Chinese Students’ Monthly mahnte der namhafte amerikanische 30 Vgl. Condliffe: „Industrial Development“, 363–364: Wie Großbritannien im 19. Jahrhundert habe China eine langsame Mechanisierung vor sich; es werde nicht sprunghaft den Stand der USA erreichen. 31 Vgl. Peffer: China, 191; Soothill: „Western Races“, 195; C. K. Edmunds.: „Modern Education in China II“, FA, Bd. 10, Nr. 2 (Oktober 1919), 174–179. 32 Von diesem „economic cycle“ ist z. B. die Rede bei C. W. Mason: „China’s Economic Progress and Monetary Reform“, CR, Bd. 3 (Dezember 1922), 60–61, 88–89, hier 61, 88. 33 C. C. Batchelder: „China’s Industrial Revolution“, CWR, Bd. 34, Nr. 9 (Oktober 1925), 208–210, hier 209. 34 Vgl. Bertrand Russell: „Future Relations of East and West“, TNO, Bd. 2, Nr. 2 (Oktober– Dezember 1924), 1–6, hier 2. 35 Dies zumindest so lange, wie kein überzeugendes alternatives Konzept menschlicher Entwicklung gefunden sei. Vgl. Carroll Lunt: „Applying Fundamentals to the Chinese Problem“, TCD, Bd. 6, Nr. 75 (April 1927), 225–228, hier 227–228. Vgl. Monroe: Nation in Evolution, 12.
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irtschaftswissenschaftler Edwin Seligman die chinesischen AuslandsstudenW ten in Amerika, die Zeichen der Zeit zu erkennen: I do not say that you are going to become Englishmen, Americans, or Germans, God forbid, but you are going to remain Chinese and will continue to preserve what is best in your traditions. But your economic life is bound to be changed to a new economic life. [...] But what I mean is simply to make you realize that this economic transformation is one that is coming along. You cannot help it if you would. But you can do a great deal to steer it in the right direction.36
Was bei Seligman anklingt, der sich im Übrigen auch mit dem indischen Freiheitskampf solidarisierte,37 ist die Frage, wie viel kulturelle Tradition im Prozess wirtschaftlicher Modernisierung bewahrt werden konnte. Chinas Wirtschaft nach westlichem Vorbild zu modernisieren, bedeutete, sie durch Mechanisierung und wissenschaftliche Methodik produktiver und effektiver zu gestalten, die Infrastruktur auszubauen, die Finanzwirtschaft zu reformieren.38 Man sah Bedarf an Ingenieuren und Geschäftsleuten mit Visionen für ein neues China.39 Ein Zurück zu den alten, von Handwerk und Kleingewerbe geprägten Strukturen stand für die meisten chinesischen und westlichen Autoren außer Frage – dies umso mehr, als es in China keinen Gandhi gab, der die Mechanisierung öffentlichkeitswirksam bekämpfte.40 Auch Julean Arnold schloss sich dieser Meinung an; jedoch räumte er ein, dass die neue Wirtschaftsordnung traditionelle mit modernen wissenschaftlichen Methoden produktiv kombinieren konnte: One sees everywhere in China striking evidences of the pride of the individual in the products of handicraft industry. The new economic order should strive to accord the individual
36 E. R. Seligman: „Some Economic Problems of China“, CSM, Bd. 18, Nr. 3 (Januar 1923), 11–14, hier 13. 37 Seligman, der unter anderem als Präsident der New York Ethical Society tätig war, unterstützte Lajpat Rai darin, Kontakt zu indischen Studenten aufzunehmen. Siehe Lavan: Unitarians and India, 173. 38 T. Z. Koo: „China in the Remaking“, AAAPSS, Bd. 152 (November 1930), 10–17, hier 12. Vgl. auch Condliffe: „Industrial Development“, 365. Zur Notwendigkeit moderner Wissenschaft für die chinesische Industrie vgl. C. C. Woo: „The Value of Scientific Research to the Advancement of Manufacturing Methods“, CSM, Bd. 16, Nr. 1 (November 1920), 80–81, hier 81. 39 Um gegenüber modernen Ökonomien zu bestehen, waren aus der Sicht einiger Beobachter nicht nur materielle Umstrukturierungsmaßnahmen nötig, sondern auch ein neues Verantwortungsgefühl, das in China von den kollektivistischen Tendenzen des Familiensystems noch unterdrückt schien. Vgl. Holcombe: Chinese Revolution, 310–311. Holcombe bezieht sich dabei auf Julean Arnold. Ähnlich auch bei C. C. Yu: „Industrial Changes in China“, CSM, Bd. 16, Nr. 1 (November 1920), 39–41, hier 41. 40 Vgl. Clark: The Great Wall Crumbles, 366; Hodgkin: China, 178–179; F. X. Tsu: „China’s Share in the Future of Aviation“, CSM, Bd. 19, Nr. 7 (Mai 1924), 36.
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opportunities for continued expression of talents which represent the heritage of a rich civilization, while giving to Chinese society generally the benefits of the scientific achievements of the world during the past six or eight decades.41
Arnold ging es dabei um die Möglichkeit einer wirtschaftlichen Ordnung, die nicht nur rational und effektiv war, sondern den Menschen persönliche Zufriedenheit stiften konnte; China schien ihm in der Lage, dem Individuum einen Stellenwert in der wirtschaftlichen Moderne einzuräumen, der im Westen unerreicht blieb. Obwohl es auch Gegenstimmen gab – der amerikanische Journalist und Literaturkritiker Lewis Stiles Gannett, der in den frühen 1920er Jahren als Korrespondent der linksgerichteten Nation aus China berichtete, sah die wirtschaftliche Entwicklung Chinas in den verwestlichten Küstenstädten vorgezeichnet42 –, teilten zahlreiche Autoren Arnolds Meinung, dass Chinas Industrialisierung langfristig anders verlaufen konnte als in den Industrienationen: Sie musste nicht mit demselben allumfassenden Streben nach Lebenskomfort und verschwenderischen Umgang mit Ressourcen einhergehen.43 Obwohl man sich der Eigendynamik wirtschaftlicher Modernisierung bewusst war, schien besonders die Intensität der vom Westen vorgelebten Industrialisierung für China vermeidbar. Vorstellungen eines alternativen Entwicklungswegs und Kritik am Industrialismus blieben bei liberal-kapitalistisch orientierten Autoren jedoch meist nur angedeutet.44 Die Zurückhaltung ist zumindest teilweise den hohen Gewinnerwartungen auf nationaler wie internationaler Ebene geschuldet, die viele Autoren an die Industrialisierung Chinas nach westlichem Vorbild knüpften. Kulturkritik und die Suche nach Alternativen zum Industrialismus erreichten in sozialistischen Entwicklungsentwürfen eine ganz andere Stoßkraft. Dies nicht nur im chinesischen Kontext, sondern besonders auch im indischen, wo die Entwicklungsvorstellungen über eine noch stärkere emanzipative Note verfügten.
41 Arnold: „Commercial Problems“, 143. 42 L. S. Gannett.: „Is China being Americanized?“, TN, Bd. 123, Nr. 3184 (Juli 1926), 31–32. Siehe auch Cohen: The Chinese Connection, 124. 43 Vgl. Bain: Ores and Industry, 211; Peffer: China, 202; Clark: Economic Emergence, 93. 44 Genauso wurde die Frage, ob die Industrialisierung die Chinesen zufriedener mache, zwar in den Raum gestellt, aber meist offengelassen. Vgl. etwa Peffer: China, 191. Ähnlich Charles Hodges: „The Chinese Crisis – a conflict of culture“, CWR, Bd. 34, Nr. 7 (Oktober 1925), 161–164, hier 163–164.
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4.1.2 Industrienation Indien: Ein indischer Diskurs Auch Indiens wirtschaftliche Denker setzten sich nach dem Ersten Weltkrieg intensiv mit den Möglichkeiten der Industrialisierung auseinander.45 Diese sah man in erster Linie als effektivstes Mittel gegen Armut, da sie Arbeitsplätze schaffen und auf diese Weise den Druck auf die ländliche Bevölkerung lindern konnte. Einer der bekanntesten und international am besten vernetzten indischen Ökonomen dieser Zeit war Benoy Kumar Sarkar. In seiner 1926 in der Modern Review sowie in Pamphletform erschienenen Schrift Scheme of Economic Development for Young India erklärte er den Industrialismus zum Heilmittel gegen Armut, da hierbei die „wirtschaftliche Aktivität“ der Menschen und damit der Wohlstand „an allen Fronten“ ansteige.46 Angesichts der Möglichkeit, die große indische Bevölkerung für die Industrie nutzbar zu machen, konnte diese vom Problem im malthusischen Sinn zum Rädchen im Mechanismus der Industrialisierung umgedeutet werden.47 Auch andere einflussreiche Analysten der Gegenwartslage, wie James W. Petavel, Dozent an der Universität Kalkutta, und Pestonji A. Wadia, Professor für Politik und Geschichte in Bombay und Mitglied der britischen Royal Economic Society, sprachen sich deshalb ausdrücklich für eine Industrialisierung Indiens aus.48 Diese Autoren – obwohl grundsätzlich kritisch gegenüber einer unkontrollierten Mechanisierung – wandten sich von Gandhis Modell einer anti-modernen wirtschaftlichen Entwicklung als unzeitgemäß und „negativ“ ab.49 Besonders Sarkar argumentierte dabei im Sinne des linearen Forschrittsglaubens. Jede Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung berge Risiken, ein Festhalten an alten Strukturen sei jedoch angst- und deshalb fehlgeleitet.50 Wurde der
45 Seit Mahadev Govind Ranade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Überlegungen zu den Möglichkeiten und Hindernissen der Industrialisierung Indiens zentral im indischen wirtschaftlichen Denken. Siehe A. K. Dasgupta: A History of Indian Economic Thought, London/ New York 1993, 147–148. 46 Vgl. B. K. Sarkar: A Scheme of Economic Development for Young India, Kalkutta 1926, 3. 47 Besonders deutlich bei V. Natesan: „The Population Problem and its Applicability to India“, IR, Bd. 21, Nr. 7 (Juli 1920), 438–440. Natesan bezieht sich hier auf Edwin Seligman. 48 Vgl. J. W. Petavel: Self-Government and the Bread Problem, Kalkutta 1921, xix, sowie Wadia/ Joshi: Wealth of India, 162. Ähnlich auch Chakraberty: National Problems, 13. 49 Vgl. B. K. Sarkar: Economic Development. Snapshots of world-movements in commerce, economic legislation, industrialism and technical education, Madras 1926, 328. Ähnlich Petavel: SelfGovernment, xx. Taraknath Das spricht Gandhis Modell zwar einen Wert für die Formierung einer nationalen sozialen Wirtschaft zu, beurteilt den Versuch, zu primitiven Produktionsmethoden zurückzukehren, jedoch als fruchtlos. Vgl. Taraknath Das: „Gandhi and Indian Industrialism“, TWT, Bd. 124, Nr. 12 (Dezember 1924), 370–372, hier 371. 50 Vgl. Sarkar: Scheme, 5.
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Industrialismus bei Bertrand Russell als eine Naturgewalt gedeutet, deren Kraft man sich nicht entziehen könne, so sah ihn Sarkar als Herausforderung, der sich Indien stellen müsse, um am universalen Fortschritt teilzuhaben. Eine ähnliche Haltung fand sich bei Mokshagundam Visvesvaraya – oder Sir MV, wie er auch genannt wurde. Der Ingenieur und Staatsmann, der sich im Dienst des südindischen Prinzenstaates Mysore unter anderem mit dem Bau von Dämmen und Bewässerungssystemen einen Namen gemacht hatte,51 war der Meinung, dass sich Indien an industrialisierten Ländern orientieren musste. In seinem einflussreichen Werk Reconstructing India von 1920 verglich er das Entwicklungspotential Indiens mit demjenigen Japans sowie Kanadas als „India’s future model“.52 Für eine schnellere wirtschaftliche Entwicklung Indiens propagierte er dieselben Maßnahmen, wie sie auch im chinesischen Kontext gefordert wurden: die Entwicklung der natürlichen Ressourcen, vor allem der Kohle- und Eisenvorkommen – die der ein oder andere sogar für größer hielt als diejenigen Chinas – für den industriellen Take-off; wissenschaftliche Methoden und Maschinen für mehr Produktivität in Industrie und Landwirtschaft; Finanzreformen für mehr Kapital und zur Sicherung des Privateigentums; industrielle Bildung und die Förderung individueller Initiative für eine bessere Nutzung der Arbeitskraft.53 Was die Industrienation Indien bisher zurückgehalten habe, so argumentierte Visvesvaraya in einer Mischung aus Kultur- und Kolonialkritik, sei einerseits die veraltete sozioökonomische Struktur, andererseits die britische Politik: Letztere habe die Entwicklung des Landes nicht nur wenig gefördert, sondern aktiv verhindert. Ebenso wie China könne Indien von seiner Unterentwicklung aber profitieren, da die zu erwartenden Gewinne auf wirtschaftliche Investitionen größer
51 Siehe Chandan Gowda: „Visvesvaraya – an engineer of modernity“, The Hindu, Onlineausgabe, 15. September 2010 [http://www.thehindu.com/opinion/op-ed/article646018.ece, abgerufen am 13.10.14]. 52 Visvesvaraya: Reconstructing India, besonders Kapitel 2. Visvesvaraya bemühte sich, dem Entwicklungsrückstand des Prinzenstaates u. a. durch die Gründung der Mysore Bank 1913 entgegenzuwirken. Zu Visvesvarayas vielfältigem Einfluss auf das wirtschaftliche Leben Mysores zusammenfassend Michael Mann: Geschichte Indiens. Vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Paderborn 2005, 302. Der Aga Khan vergleicht die indische Industrie interessanterweise mit der skandinavischen: Auch Indien könne sich auf die Fischindustrie konzentrieren. Vgl. Aga Khan: India in Transition, 194. 53 Vgl. Taraknath Das: India’s Position in World Politics, Kalkutta 1922, 79–80; Sarkar: Economic Development, 160; Visvesvaraya: Reconstructing India, 14; Wadia/Joshi: The Wealth of India, 15, 35, 37, 190–193; Aga Khan: India in Transition, 195–196. Ähnlich zum indischen Entwicklungspotential und den notwendigen Reformmaßnahmen Chakraberty: National Problems, 29–30. Zur zentralen Bedeutung wissenschaftlicher Methoden für den Fortschritt der indischen Industrie auch Rajendranath Mukherjee: „Science and Industry“, IR, Bd. 22, Nr. 2 (Februar 1921), 92.
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ausfielen als in entwickelten Ländern; angesichts dessen sei der wirtschaftliche Fortschritt Indiens absehbar.54 Was die Debatte über eine zukünftige Industrialisierung Indiens von derjenigen über China unterscheidet, sind vor allem zwei Dinge: Erstens blieben Visionen einer großen Industrienation Indien von der Art, wie sie bei Visvesvaraya und Sarkar zu finden sind, unter indischen Intellektuellen die Ausnahme. Sarkar bezichtigte die indischen Ökonomen diesbezüglich gar eines mangelnden Patriotismus, „for they fail genuinly to visualize a world in which India functions as a mighty economic power“.55 Ein Grund hierfür ist sicherlich in der indischen Unabhängigkeitsbewegung zu sehen. Für viele indische Intellektuelle, die sich nach dem Ersten Weltkrieg der wirtschaftlichen Entwicklung ihres Landes widmeten, stand nicht die Industrialisierung per se, sondern wirtschaftliche Unabhängigkeit von Großbritannien und vor allem sozialer Ausgleich im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen; auch wenn führende wirtschaftliche Denker Gandhis Strategie der Reanimation traditioneller Wirtschaftsformen als den falschen Weg kritisierten, so waren viele von ihnen, darunter auch Wadia und Petavel, stark von dem Gedanken einer sozialen wirtschaftlichen Entwicklung getrieben. Zweitens äußerten sich im direkten Vergleich mit China nur wenige westliche Autoren zum indischen Potential als Industrienation. Auch dies ist in erster Linie der kolonialen Situation geschuldet. Indien erlebte in der Zwischenkriegszeit zwar einen Aufschwung seiner Industrien, blieb jedoch im imperialen Wirtschaftsgefüge verankert.56 Solange seine Wirtschaft weitgehend von London aus kontrolliert wurde, war Indien vor allem aus amerikanischer Sicht als Investitionsland und Wirtschaftspartner weniger interessant als China. Eine 1923 erschienene Schrift zum indischen Ressourcenreichtum57 erreichte nicht die Wirkkraft von H. Foster Bains Studie über die chinesischen Rohstoffvorkommen. Aus
54 Vgl. Visvesvaraya: Reconstructing India, 1–5. Etwas gemäßigter auch beim britischen Journalisten John A. Spender: Changing East, New York 1926, 21. Auch für Sarkar war Indien bereits eine Industrienation, jedoch war er sich mit Visvesvaraya nicht darüber einig, ob der Zeitpunkt für eine Industrialisierung besonders günstig war oder nicht. Betont Ersterer die starke Konkurrenz, der Indien im Gegensatz zu anderen großen Nationen in ihrer formativen Phase ausgesetzt sei, so sah Letzterer diese Konkurrenz gerade nicht gegeben. Vgl. Sarkar: Economic Development, 348, sowie Visvesvaraya: Reconstructing India, 170–171. Ähnlich optimistisch ist auch ein Leitartikel der indischen Zeitschrift To-morrow, Bd. 1, Nr. 2 (April 1921), 63. 55 Sarkar: Economic Development, 146. 56 Indien blieb bis in die späten 1930er Jahre hinein der größte Abnehmer britischer Waren. Siehe Brown: Modern India, 240. 57 J. C. Brown: India’s Mineral Wealth, London 1923. Dieselbe Zurückhaltung westlicher Autoren findet sich auch in der Debatte über das Pro und Contra einer Nationalisierung der Wirtschaft und staatlicher Planung (siehe Abschnitt 4.2).
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merikanischer Perspektive fand sich in Indien nicht ein zweites Eldorado für a Industrielle, sondern ein Land, in dem der modernisierungskritische Gandhi auf dem Vormarsch war. Und auch britische Autoren sahen Indien selten als kommende Industriemacht. Trotz der Bedeutung wirtschaftlicher Interessen für die britisch-indischen Beziehungen war aus britischer Sicht die Frage, ob die politische Zukunft Indiens innerhalb oder außerhalb des Empire lag, von größerer Dringlichkeit und letztlich entscheidend für die industrielle Zukunft des Landes. Viele der britischen Autoren, die sich dennoch der wirtschaftlichen Situation Indiens widmeten, wie etwa Charles Andrews, Annie Besant, Henry Brailsford oder Reginald Reynolds, standen wiederum der indischen Unabhängigkeitsbewegung und dem britischen Sozialismus nahe. Wie die meisten indischen Ökonomen waren sie vor allem an alternativen Wirtschaftsmodellen interessiert. In gewisser Hinsicht ist die britische Ökonomin Vera Anstey eine Ausnahme. Anstey hatte von 1914 bis 1920 mit ihrem Ehemann in Bombay gelebt, bevor sie eine Lehrposition an der London School of Economics antrat. In ihrem Werk The Economic Development of India aus dem Jahr 1929, in dem sie sehr große Mengen statistischer Daten auswertete und das der Ökonom Walt Rostow später als „classic, pioneering study“58 beschreiben sollte, untersuchte sie die Gründe für Indiens „arrested development“.59 Anstey vertrat dabei die These, dass das wirtschaftliche Wachstum des Landes nicht von materiellen, sondern von ideologischen und sozialen Faktoren verzögert werde. Ein Mangel an persönlicher Ambition in Verbindung mit dem hohen Bevölkerungswachstum resultiere in einer spezifischen Form von „Eastern Economics“: Diese prägten ihr zufolge jedoch erst seit dem 19. Jahrhundert das Land, während die indische Industrie zuvor „relativ fortschrittlich“ gewesen sei.60 Um Indiens wirtschaftliche Selbstständigkeit langfristig zu sichern, sei eine ausgewogene Wirtschaftsstruktur mit einem modernisierten industriellen Sektor notwendig. Dafür brauche es jedoch weniger detaillierte Entwicklungsentwürfe als tiefgreifende soziale Reformen; so könnten neben Geburtenkontrolle auch ein neuer „economic outlook“ und mehr individuelles Engagement entscheidend dazu beitragen, das Potential der indischen Bevölkerung freizusetzen.61 Von der Vorstellung einer bloßen 58 Siehe hierzu W. W. Rostow: Theories of Economic Growth from David Hume to the Present. With a Perspective on the Next Century, New York 1990, 206. Siehe zu Ansteys Werdegang auch J. J. Thomas: „Anstey [née Powell], Vera (1889–1976)“, in: H. C. G. Matthew/Brian Harrison (Hg.): Oxford Dictionary of National Biography, Bd. 2, Oxford 2004, 274–275. 59 Anstey: Economic Development, 472. 60 Ebd., 2–4. 61 Ebd., 474–477, Zitat 476. Auch der Vizepräsident der International Philosophy Society in New York, J. W. T. Mason, warnte in einem Artikel für die in Kalkutta herausgegebene Zeitschrift India
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erwestlichung der indischen Wirtschaft wandte auch sie sich zugunsten eines V „new culture-type“62 ab: Die dezentrale Verwaltungs- und Organisationsstruktur der indischen Gesellschaft sei dem Zentralismus westlicher Länder nicht unterlegen, könne aber in Verbindung mit wissenschaftlichem und technischem Knowhow effektiver gestaltet werden. Die Anwendung westlicher Methoden auf die indische Situation barg aus ihrer Sicht neue Chancen. Es zeigt sich also, dass das Vertrauen in die positiven Effekte einer Industrialisierung für Indien durch eine – zumindest teilweise – Aneignung westlicher Methoden ebenso vorhanden war, wie dies hinsichtlich Chinas der Fall war.63 „Whatever has been done with brain and brawn in the United States will be done in India“,64 las man in der Zeitschrift India, dem offiziellen Organ der Hindustan Association of America in Chicago – einer Institution, die sich der indisch-amerikanischen Kulturkooperation verschrieben hatte. Dennoch war das Bekenntnis zum westlichen Industrialismus in Indien, wo dieser nicht selten mit kolonialer Ausbeutung assoziiert wurde und Gandhis traditionalistische Kritik an Mechanisierung und Materialismus großen Einfluss hatte, weniger stark ausgeprägt als in China. „There is little of that vague dreaming about the dead past in China which is so common in India“, konstatierte die Indian Review in einer vergleichenden Darstellung der indischen mit der chinesischen und der japanischen Industrie. „[T]he materialism of the Chinese mind enables it to project itself vigor ously into the future.“65 Chinesische Autoren, die hier gemeint waren, gingen derweil selbstverständlich davon aus, dass China die notwendigen strukturellen Veränderungen einer wirtschaftlichen Modernisierung selbst stemmen konnte; wurden Probleme erwähnt, so meist mit dem Zweck, die Erwartungshaltung westlicher Beobachter zu senken und die eigene Leistung hervorzuheben. Der Beitrag, den einheimische Industrielle und Wissenschaftler für den wirtschaftlichen Fortschritt zu leisten imstande waren, wurde stets betont. Zwar räumten chinesische wie auch indische Autoren der internationalen Kooperation einen wichtigen Platz für die wirtschaftliche Entwicklung ihrer Länder ein; jedoch hatte nd the World, „[t]o gain in utilitarian well-being it is essential that utilitarian skill be constantly a maintained“: J. W. T. Mason: „India, China and the West“, IW, Bd. 1, Nr. 4 (April 1932), 83–84, hier 83. 62 Anstey: Economic Development, 482–484. 63 Dies stellt auch Dasgupta in seiner Studie des indischen wirtschaftlichen Denkens fest. Siehe Daspupta: Indian Economic Thought, 148. 64 S. R. Wagel: „The Wealth of India“, India, Bd. 1, Nr. 2 (Sommer 1931), 30–31, hier 30. Ein sehr optimistischer Ton hinsichtlich des Potentials Indiens, sich nach westlichem Vorbild zu industrialisieren, wird auch in einem Artikel für die britische Asiatic Review angeschlagen. Vgl. Low: „Future Development“. 65 „Modern Industrial Methods“, IR, Bd. 22, Nr. 6 (Juni 1921), 390.
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der Aufbau einer nationalen Ökonomie Priorität gegenüber einem Bekenntnis zu freiem Handel. Wirtschaftliche und politische Autonomie konnten nicht gesondert voneinander verhandelt werden.
4.2 Die Kontrolle behalten: Nationalisierung der Wirtschaft und staatliche Planung 4.2.1 Friedrich List statt Adam Smith: Wirtschaftlicher Nationalismus in Indien Mit Christopher Bayly kann der indische Liberalismus in dem Maße als „liberalism of fear“ bezeichnet werden, wie darin stets das Bewusstsein zum Ausdruck kam, dass Freiheit nicht selbstverständlich anwuchs und die ihr entgegenwirkenden Kräfte stark waren.66 Dieser Skeptizismus betraf auch die Idee der frei wirkenden Marktkräfte: [I]t is now generally agreed that the Free Trade doctrine has its limitations and that, while laying stress on the well-being of the world as a whole, it rather tends to throw into the background the idea of the nation as a unit with interests often at variance with the interests of other nations. A free exchange of goods and services between nations may be a good thing provided the different countries are at about the same stage of economic development, but it may be positively harmful to economically backward countries preventing them from ever producing those commodities in respect of which they may have the greatest potential advantages. On this consideration rests in fact the well-known Infant Industry argument for protection.67
In den Worten der beiden indischen Ökonomen Ganesh B. Jathar und Shridhar G. Beri ist der Einfluss des deutschen Ökonomen Friedrich List und anderer Kritiker des englischen Freihandelsprinzips nach Adam Smith spürbar. Besonders Lists Schrift Das Nationale System der Politischen Ökonomie, 1841 in Stuttgart erschienen, 1856 erstmals ins Englische, später von B. K. Sarkar sogar in Bengali übersetzt, entfaltete seine enorme Wirkung auch auf die Vordenker einer politischen Ökonomie Indiens.68 List hatte darin angemahnt, die „kosmopolitischen 66 Siehe Bayly: Recovering Liberties, 5–6. 67 G. B. Jathar/S. G. Beri: Indian Economics. Being a Comprehensive and Critical Survey of the Economic Problems of India, Bombay 1929, 2 [Hervorhebung i. O.]. 68 Zwar wurden auch andere Vordenker des Protektionismus wie etwa der Amerikaner Alexander Hamilton rezipiert, jedoch war der Einfluss Lists in Indien am stärksten. Siehe P. R.
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Redensarten und Argumente“69 der Freihandelstheoretiker seien nichts weiter als der rhetorische Deckmantel einer Politik, die den Nachzüglern der Industrialisierung eben jene Schutzmaßnahmen verwehrte, die die eigenen Industrien stark werden ließen. Dementsprechend sahen schon die frühen indischen Nationalisten den Hauptgrund für das schwache wirtschaftliche Wachstum Indiens nicht in innergesellschaftlichen Faktoren, sondern in einer kolonialen Handelspolitik, in deren Folge das nationale Einkommen nach Großbritannien abfloss. Um die Jahrhundertwende verhalfen vor allem Dadabhai Naorojis Poverty and un-British Rule in India (1901) sowie Romesh Chunder Dutts Economic History of India (1902) dieser Lesart der wirtschaftlichen Geschichte Indiens zu großer Verbreitung.70 Im Umkehrschluss lag die Lösung des indischen Armutsproblems in wirtschaftlicher Selbstständigkeit: Nur wenn Indien seine Ressourcen zum eigenen Vorteil nutzen konnte, schien es in der Lage, sein Außenhandelsdefizit zu beseitigen.71 Die Forderung nach einer nationalen Ökonomie manifestierte sich erstmals in der Swadeshi-Bewegung, in deren Zuge britische Waren boykottiert und vermehrt einheimische Waren produziert wurden.72 Während des Krieges hatte ein Wachstum des indischen Binnenmarktes eingesetzt, das in den darauffolgenden Jahren anhielt. Auch einige Kernindustrien, vor allem die Baumwoll- und Stahlproduktion mit der erfolgreichen Tata Iron and Steel Company an der Spitze, expandierten. Dennoch avancierte der Mangel an einer energischen und durchdachten Wirtschaftspolitik erneut zum Streitpunkt.73 rahamanda: „Lists Ausstrahlung auf das wirtschaftspolitische Denken in Indien“, in: Eugen B Wendler (Hg.): Friedrich List. Politische Wirkungsgeschichte des Vordenkers der europäischen Integration, München 1989, 167–177. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg übten Lists Ideen für eine nationale Ökonomie starken Einfluss auf Mao Zedong und andere politische Führer der „Dritten Welt“ aus. Siehe Roman Szporluk: Communism and Nationalism. Karl Marx Versus Friedrich List, New York 1988, 234, 237. 69 Vgl. List: „Das Nationale System“, 349. 70 Obwohl sie auch Kritiker fand, erfüllte die Theorie eine machtvolle moralische Integrationsfunktion für den Nationalismus. Vgl. Dasgupta: Indian Economic Thought, 74–82. 71 Wadia: „The True Basis of Protection in India“, EJ, Bd. 134, Nr. 124 (Juni 1924), 193–199, hier 196. 72 Sarkar sah den indischen Swadeshism deshalb in direkter Tradition Friedrich Lists. Vgl. B. K. Sarkar: „Die Entwicklung und weltwirtschaftliche Bedeutung des modernen Indien“, in: E. Wunderlich (Hg.): Indien in der modernen Weltwirtschaft und Weltpolitik, Stuttgart 1931, 37–54, hier 47. 73 Vgl. Wadia/Joshi: Wealth of India, 195. Vgl. auch Wadia: „Protection“, 197. Siehe zum langsamen Wachstum von Industrie und Binnenmarkt in der Zwischenkriegszeit M. D. Morris: „The Growth of Large-Scale Industry to 1947“, in: Dharma Kumar/Meghnad Desai (Hg.): The Cambridge Economic History of India, Vol. 2: 1757–1970, Cambridge 1983, 553–676, hier 555–611, sowie Aditya Mukherjee: Imperialism, Nationalism and the Making of the Indian Capitalist Class, 1920–1947, New Delhi 2002, 23–24. Der Erfolg von Tata Iron and Steel hatte auch damit zu tun, dass das Unternehmen in die Ausbildung eigener Fachkräfte investierte. Siehe Mann: Geschichte
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Der Fokus lag nun besonders auf der britischen Zollpolitik. Hatte Großbritannien die Einfuhrzölle nach Indien bewusst niedrig gehalten, so sollten nun Schutzzölle dem indischen Binnenmarkt und den indischen Industrien zugute kommen. Höhere Zölle waren nur ein Aspekt eines „enlightened system of protection“,74 das nach Ansicht Pramathanath Banerjeas vom indischen Staat ausgehen musste. Der Parlamentarier und renommierte Professor für Ökonomie an der Universität Kalkutta legte in einer Analyse der britisch-indischen Fiskalpolitik dar, dass nur der Schutz und die Förderung der Industrien durch den Staat Indiens wirtschaftliche Probleme lösen und dem Land einen Platz unter den großen Mächten sichern konnte. Im Zuge des wirtschaftlichen Nationalismus wurde damit die Rolle des Staates neu definiert. Der britisch-indische Staat war angewiesen, jene Funktion zu erfüllen, die er in der Vergangenheit vernachlässigt hatte: als Patron der nationalen statt als Handlanger der imperialen Ökonomie.75 Ein staatliches Entwicklungsprogramm für Indien legte unter anderem Visvesvaraya vor. In seinem Werk Planned Economy for India von 1934 propagiert er einen nationalen Zehn-Jahres-Plan, der neben den Bereichen Infrastruktur und Finanzwesen vor allem den Aufbau einer indigenen Schwerindustrie einleiten sollte. Letztere konnte nicht zuletzt zu Verteidigungszwecken nutzbar gemacht werden und war deshalb für Visvesvaraya zentral im Prozess der Nationenbildung. Obwohl der Staatsmann hinsichtlich der zentralen Bedeutung der Schwerindustrie für den wirtschaftlichen Fortschritt auf Lenin und Stalin verwies, stellte er sich die nationale Entwicklung Indiens nicht nach sowjetischem, sondern nach amerikanischem Vorbild vor.76 Indiens, 300. Die Arbeiter des Unternehmens nahmen bei der Herausbildung der indischen Arbeiterklasse eine wichtige Rolle ein. Siehe Vinay Bahl: The Making of the Indian Working Class. The Case of the Tata Iron and Steel Co., 1880–1946, New Delhi 1995. 74 Pramathanath Banerjea: Fiscal Policy in India, Kalkutta/Bombay/Madras/London 1922, 158, 208. Vgl. Jathar/Beri: Indian Economics, 6. Um unabhängig von ausländischen Fachkräften zu werden, wurde auch die Notwendigkeit industrieller Bildung betont. Vgl. ebd., 26. 75 Bereits Mahadev Govind Ranade, Gründungsmitglied des indischen Nationalkongresses, hatte im ausgehenden 19. Jahrhundert darauf hingewiesen, dass die Regeln des Laissez-faire in Indien nicht wirksam seien und dass vielmehr die Regierung entsprechende Schritte unternehmen müsse, um die industrielle Entwicklung anzukurbeln. Siehe Dasgupta: Indian Economic Thought, 94. 76 Kollektives Engagement sollte gefördert werden, jedoch individuelle Initiative nicht einschränken. Vgl. Visvesvaraya: Planned Economy, 335–336, 346. Visvesvaraya hatte bereits in seinem Werk Reconstructing India von 1920 Planwirtschaft propagiert, jedoch entsprechende Pläne noch nicht so detailliert dargelegt wie 1934. Zu Visvesvarayas Konzept von „Entwicklung“ siehe auch Zachariah: Developing India, 5. Die Notwendigkeit staatlicher Planungspolitik betonten auch Aga Khan: India in Transition, 193, sowie Rajendranath Mukerjee: „The Chain of Politics, Science and Industry“, IR, Bd. 26, Nr. 1 (Januar 1925), 38–40, hier 39–40.
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Während sich die indischen Ökonomen über die Vorteile staatlicher Schutzpolitik einig waren, galt das weniger für deren Bedeutung für die langfristige wirtschaftspolitische Ausrichtung Indiens. Die meisten indischen Denker des 19. Jahrhunderts sahen in Schutzzöllen keinen grundsätzlichen Widerspruch zur Freihandelstheorie, wobei sie sich auf John Stuart Mill berufen konnten.77 Aus der Sicht Banerjeas und anderer dienten die Zölle transitorisch der Vorbereitung Indiens auf das Weltmarktsystem, nicht der Isolation von diesem; so nachteilig der Wettbewerb für infant industries sein mochte, so wichtig schien er, um Fortschritt zu gewährleisten.78 Die Entwicklung der „Nachzügler“ im Weltwirtschaftssystem mit gezielten Maßnahmen zu fördern, hieß nicht zwangsläufig, die wirtschaftliche Globalisierung als solche abzulehnen.79 Mit dem Verweis auf weltweite Trends bekräftigte auch Visvesvaraya, dass sich Indien nicht international abschotten, jedoch auch nicht mehr wirtschaftliche Freizügigkeit leisten wolle als andere Länder80 – nicht zuletzt Großbritannien selbst, das bereits während des Ersten Weltkrieges Schutzzölle eingeführt hatte, sowie die USA, deren protektionistische Maßnahmen im Zuge des New Deal eine starke Wirkung auf planwirtschaftliche Ideen in Indien entfalteten.81 Während diese Autoren in der kompetitiven Weltwirtschaftsordnung nach Vorteilen suchten, lag für P. A. Wadia im Austreten aus der Konkurrenzsituation der eigentliche Sinn einer nationalen Ökonomie. Die Schutzzollpolitik, so legte er in einem Artikel für das britische Economic Journal dar, diene nicht einem imperialistischen Industrialismus, wie ihn Großbritannien in Indien oder auch Japan in Korea verfolgten.82 Indien müsse sich nicht an anderen Nationen messen, sondern sich selbst genügen. Wirtschaftliche Selbstständigkeit bedeutete aus dieser Sicht, sich vom westlichen Wirtschaftssystem distanzieren zu können.
77 Vgl. Dasgupta: Indian Economic Thought, 120–121. Bayly weist darauf hin, dass unter Berufung auf Mill schon vor der Verbreitung von Lists Denken in Indien ein rigides Laissez-faire-Regime abgelehnt wurde. Siehe Bayly: Recovering Liberties, 14–15. 78 Vgl. Banerjea: Fiscal Policy, 177. Ähnlich Jathar/Beri: Indian Economics, 6–7. 79 Auch im Bewusstsein dieser Balance sah 1997 der mexikanische Wirtschaftswissenschaftler den Nutzen, den Lists Ideen für das gegenwärtige Mexiko haben konnte. Siehe Eugen Wendler: „Einführung“, in: ders.: Friedrich List, 17–18. 80 Visvesvaraya: Planned Economy, 376–377. 81 Vgl. Das: „India’s Position“, 39. Siehe auch Roy: India in the World Economy, 211. 82 Wadia: „Protection“, 195. Wadia brachte hier einen zentralen Punkt nationalistischer Kritik am Kolonialismus vor, der besagte, „that it had systematically distorted, fragmented, and disrupted a previously unified, internally coherent, autonomous, and diversified economic space“. Siehe Goswami: Producing India, 222.
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4.2.2 Wie viel politische Unabhängigkeit braucht wirtschaftliche Selbstständigkeit? Der fehlende Konsens indischer Intellektueller über die Bedeutung wirtschaftlicher Selbstständigkeit entspricht den diversen Ideen von politischer Selbstbestimmung und indischer Partikularität, die im Unabhängigkeitskampf konkurrierten. Brauchte Indien die politische Unabhängigkeit, um seine inneren Probleme zu lösen, zu nationaler Größe zu gelangen und seine Identität zu bewahren? Man musste dabei nicht die kompromisslose Haltung Jawaharlal Nehrus teilen, nur ein von Großbritannien gänzlich unabhängiger Staat könne die wirtschaftliche Zukunft des Landes im Sinne der indischen Bevölkerung lenken.83 Die Forderungen nach staatlicher Planung, fiskalischer Autonomie und Schutzzöllen, wie sie etwa von Banerjea und Visvesvaraya vorgebracht wurden, bezogen sich auf einen britisch-indischen Staat, der sich im Zuge des Übergangs zu einem gleichberechtigten Dominion von imperialen Wirtschafts- und Handelsmaximen emanzipieren sollte.84 Wolle Indien einen legitimen Platz im britischen Commonwealth einnehmen, so mahnte auch Lajpat Rai in seiner Zeitschrift Young India, sei fiskalische Autonomie unbedingt notwendig. „Considering her size and resources, it wounds her self-respect and makes her feel exceedingly mean and small to go begging for alms and charity every time there is a failure of rains and the cry of famine is raised.“85 Wurde das Ziel wirtschaftlicher Selbstständigkeit von dem Ingenieur und Staatsmann Visvesvaraya systematisiert, so wurde es bei dem Freiheitskämpfer Lajpat Rai emotionalisiert. Auf beide Strategien des wirtschaftlichen Nationalismus reagierte Großbritannien unter dem Druck der wirtschaftlich schwierigen Kriegs- und Nachkriegsjahre mit fiskalpolitischen Zugeständnissen sowie im Laufe der 1920er Jahre mit Ansätzen einer kolonialen Entwicklungspolitik.86 Grundsätzlich war die 83 Vgl. etwa Jawaharlal Nehru: „Presidential Address to the National Congress, 1936“, in: ders.: India and the World. Essays, London 1937, 64–107, hier 83–84. Unabhängigkeit stellte aus dieser Sicht die „Verfügungsgewalt über die eigenen Entwicklungsmöglichkeiten“ dar: Michael Gottlob: „Indische Geschichtswissenschaft und Kolonialismus“, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hg): Geschichtsdiskurs, Band 4: Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880–1945, Frankfurt 1997, 314–338, hier 329. 84 Vgl. etwa Visvesvaraya: Planned Economy, 342–343, und ders.: Reconstructing India, 171. 85 Lajpat Rai: „India’s claim to fiscal autonomy“, YI, Bd. 2, Nr. 1 (Januar 1919), 8, 10, hier 10. 86 Nach dem Krieg gewannen die Kolonien als Rohstofflieferant Großbritanniens an Bedeutung, weshalb in der britischen Kolonialpolitik ein Bewusstsein dafür entstand, dass Investitionen in die koloniale Wirtschaft notwendig waren. Im Mittelpunkt standen dabei jedoch stets die Interessen des Heimatlandes; so sah man koloniale Entwicklung als wirksames Mittel gegen die hohe Arbeitslosigkeit in Großbritannien. Erst im Laufe der 1930er Jahre macht der eigennützige
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egierung in London weder gewillt, ihren Einfluss auf die indische WirtschaftsR und Handelspolitik aufzugeben, noch die Prinzipien des Laissez-faire in Frage zu stellen.87 Den ohnehin sehr beschränkten Handlungsspielraum nutzte die britisch-indische Regierung jedoch nur ansatzweise und es blieb bei Schutzzöllen für ausgesuchte Industrien.88 Indische Kapitalträger, die nach dem Krieg zunehmend als homogene soziale Klasse auftraten, sprachen sich gegen den fiskalpolitischen Einfluss der Briten und den Einsatz ausländischen Kapitals für die wirtschaftliche Entwicklung Indiens aus.89 Das Vertrauen in die Kapazitäten der indischen Banken war groß: Die unter indischer Leitung stehende und international agierende Tata Industrial Bank wurde nicht nur von indischen Autoren als Beispiel für die neue verantwortungsvolle Rolle der indischen Kapitalwirtschaft angeführt; auch H. Foster Bain betonte die Bedeutung des indischen Kapitals als Motor erfolgreicher Unternehmen und wünschte sich dieselbe Bereitschaft, in die eigene Wirtschaft zu investieren, auch in China.90 Ebenso offensichtlich war jedoch, dass der immense Kapitalbedarf für die Industrialisierung Indiens nicht aus nationalen Quellen I mpuls der Entwicklungspolitik langsam einem Wohlfahrtsdenken Platz. Siehe Herward Sieberg: Colonial Development. Die Grundlegung moderner Entwicklungspolitik durch Großbritannien 1919–1949, Stuttgart 1985, 652–655. Zu den Anfängen der britischen Entwicklungspolitik in den Kolonien auch Stephen Constantine: The Making of British Colonial Development Policy, 1914– 1940, London 1984. Beide Werke beschäftigen sich jedoch nicht schwerpunktmäßig mit Indien. 87 Zum Konflikt zwischen Laissez-faire und staatlichem Interventionismus in der britischen Kolonialpolitik siehe B. R. Tomlinson: The Political Economy of the Raj 1914–1947. The Economics of Decolonization in India, London/Basingstoke 1979, Kapitel 3. 88 Siehe ebd. Zur Fiskalpolitik der britisch-indischen Regierung auch A. K. Baghi: Private Investment in India 1900–1939, Cambridge 1972, 43–47. Wenig überraschend fanden sich in der britischen Asiatic Review skeptische Stimmen hinsichtlich einer größeren fiskalischen Autonomie für Indien. So warnte etwa Sir Campbell Rhodes, der 1922 die Präsidentschaft des Bengal Chamber of Commerce innehatte, vor den negativen Effekten der Schutzzollpolitik. Vgl. Campbell Rhodes: „India’s Tariff Policy“, AR, Bd. 29, Nr. 60 (Oktober 1923), 593–600, hier 597– 589. Dagegen argumentierte A. S. Pearse, Generalsekretär der International Federation of Master Cotton Spinners’ and Manufacturers’ Association in Manchester, man müsse die fiskalische Autonomie Indiens akzeptieren und das Beste daraus machen. Vgl. A. S. Pearse: „The Cotton Industry of Japan, China and India and its effect on Lancashire“, IA, Bd. 11, Nr. 5 (September 1932), 633–657, hier 646–647. 89 Siehe Mukherjee: Indian Capitalist Class, 19–21. 90 Vgl. Bain: Ores and Industry, 183. Ähnlich V. N. Pai: „Recent Progress in Indian Banking“, YMI, Bd. 1, Nr. 1 (August 1926), 6–11; K. S. Ramachandra Iyer: „Has India progressed?“, YMI, Bd. 1, Nr. 11 (Juli 1927), 478–480; B. K. Sarkar: „The New Responsibilities of Indian Capital“, MR, Bd. 28, Nr. 1 (Juli 1920), 16–19. Sarkars Aussagen hinsichtlich des indischen Bankenpotentials werden jedoch noch in derselben Ausgabe der Modern Review in Frage gestellt. Vgl. Jagdin Prasad: „The Three factors of Production in India“, MR, Bd. 28, Nr. 1 (Juli 1920), 124–128.
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gedeckt werden konnte. Wenngleich dies „no unmixed blessing“ sei, forderte Benoy Kumar Sarkar vor diesem Hintergrund doch, ausländisches Kapital für die Entwicklung Indiens nutzbar zu machen: From the standpoint of national vanity the situation is not encouraging. But when the alternative is between the object destitutions of millions without any hope of redress and the sure possibility of an economic regeneration although under conditions of tutelage it is the better part of patriotism to choose the latter.91
Aus Sarkars Worten wird ersichtlich, dass Patriotismus auch pragmatisch gedeutet und die Lösung wirtschaftlicher Probleme gegenüber der Forderung nach politischer Unabhängigkeit priorisiert werden konnte, um die Situation Indiens zu verbessern. Entgegen der „Drain of Wealth“-Theorie lag aus dieser Perspektive der Weg zu wirtschaftlichem Wohlstand gerade in der stabilen Verbindung zu Großbritannien. Dies umso mehr, als der politische Entwicklungsprozess auf eine zwar langsame, aber stete Erweiterung politischer und wirtschaftlicher Autonomie hoffen ließen.92 Sollte am Ende dieses Prozesses nicht mehr einseitige Abhängigkeit, sondern eine Situation gegenseitiger Bereicherung von Gleichberechtigten die britisch-indischen Beziehungen prägen, dann schienen die Vorteile der Wirtschaftskooperation zu überwiegen.93 Im chinesischen Kontext beruhten auf dieser Idee der gegenseitigen Bereicherung souveräner Staaten auch Sun Yatsens nationale Entwicklungsideen.
4.2.3 „The International Development of China“: Ein Entwurf nationaler Ökonomie Im Werk Sun Yatsens nimmt neben den „Drei Volksprinzipien“ die 1920 in hanghai und 1922 in New York erschienene Abhandlung The International DeveS lopment of China einen zentralen Platz ein. Darin postulierte Sun Yatsen erstmals, 91 Sarkar: Scheme, 6–13. Sarkar sympathisierte aus diesem Grund auch mit der Klasse der Zamindars als Kapitalgeber der Industrie, solidarisierte sich zugleich jedoch mit der Arbeiterklasse. Siehe S. K. Bhattacharyya: Indian Sociology. The Role of Benoy Kumar Sarkar, Burdwan 1990, 118. 92 Etwa bei N. Gangulee: India. What now? A Study of the Realities of Indian Problems, London 1933, 74–75. Und bei H. P. Mody: „The need for a national economic policy“, IR, Bd. 30, Nr. 1 (Januar 1929), 2–3. Auch die Ernüchterung über den politischen und wirtschaftlichen Verhandlungsprozess konnte aus Unternehmersicht zu der Einstellung führen, das Beste aus der bestehenden Verbindung machen zu wollen. Siehe Claude Markovits: Indian Business and Nationalist Politics 1931–39, Cambridge 1985, 179, 189. 93 Wadia: „Protection“, 196. Visvesvaraya sah diese Win-win-Situation zwischen Großbritannien und Indien in der Zukunft unbedingt gegeben. Vgl. Visvesvaraya: Reconstructing India, 15.
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die wirtschaftliche Modernisierung durch ein nationales Entwicklungsprogramm voranzubringen.94 Ihm zufolge musste China zwei industrielle Revolutionen gleichzeitig absolvieren, um gegenüber den entwickelten Staaten aufzuholen: Eine erste Revolution der Mechanisierung sollte die chinesische Wirtschaft von traditionellen handwerklichen Produktionsstrukturen lösen, wofür es neben Kapital vor allem Maschinen bedurfte. In einem zweiten revolutionären Schritt sah Suns Programm die Nationalisierung von Industrie und Infrastruktur vor – wobei dem Ausbau des Eisenbahnnetzes und der Wasserwege Priorität zukam.95 Der besondere Kniff dieses Entwicklungsprogramms bestand darin, die Industrialisierung Chinas in die internationale Nachkriegswirtschaft zu integrieren. Sun zufolge war China vor dem Ersten Weltkrieg als Absatzmarkt für die industrielle Überproduktion imperialistischer Mächte missbraucht worden. Diese Politik habe zu einem eklatanten Handelsdefizit geführt. Mit dem Ende des Krieges hatte sich ihm zufolge die Chance eröffnet, den Handelskrieg mit und in China zu beenden und in konstruktive Entwicklungszusammenarbeit umzuwandeln.96 Suns Plan sah vor, dass ausländische Mächte zum einen ihr Expertenwissen, zum anderen ihr nach Kriegsende in großem Umfang freigesetztes Kapital in die Industrialisierung Chinas einbringen sollten, um Arbeitsplätze zu schaffen und den Lebensstandard zu erhöhen.97 Auf diese Weise konnten sie Sun zufolge direkt zur Entstehung eines riesigen Marktes beitragen und doppelt profitieren: durch die Rendite ihrer Investitionen sowie den Absatz ihrer Waren. Sun zog bei dieser Vision die historische Parallele zur amerikanischen Industrialisierung, von der die ganze Welt profitiert habe: „China with her four hundred millions of population, will be another New World in the economic sense.“98 Indem er ein nationales Entwicklungsprojekt zu einem internationalen erhob, ohne seine
94 Siehe William Kirby: „Engineering China. The Birth of the Developmental State, 1928–1937“, in: Wen-hsien Yeh (Hg.): Becoming Chinese. Passages to Modernity and Beyond, Berkeley 2000, 137–160, hier 137. Zur Entwicklungsrhetorik Sun Yatsens auch David Strand: „Calling the Chinese People to Order: Sun Yat-sen’s Rhetoric of Development“, in: Brodsgaard/Strand: Twentieth-Century China, 2–68. Den politischen Charakter von Suns Entwicklungsdenken betont auch Trescott: Jingji Xue, 51. 95 Vgl. Sun Yatsen: The International Development of China, Taipei 1953 [New York/London 1922], 5, 11. Um private Initiativen anzuregen, sollte das Steuersystem grundlegend reformiert werden. 96 Vgl. ebd., 8. Dies könne auf dem Weg einer internationalen Organisation geschehen, die eine gemeinsame Strategie entwickeln und dabei stets das Wohl der chinesischen Bevölkerung verfolgen müsse. Vgl. ebd., 9–10. 97 Vgl. ebd., 11–12, 187. In sechs Programmen legt er die verschiedenen Einsatzbereiche des ausländischen Kapitals in Schlüsselindustrien und für die Versorgung mit lebensnotwendigen Waren dar. 98 Ebd., 8–9.
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ationale Zielsetzung zu kompromittieren, machte Sun aus der Not des chinesin schen Kapitalmangels eine Tugend. Die internationale Komponente der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas verhalf Suns Entwicklungsprogramm über die chinesischen Landesgrenzen hinaus zu besonders großer Resonanz. In vielen Zeitschriften fanden sich Besprechungen des Werkes, etwa diejenige des Außenhandelsexperten Charles Hodges. Hodges lehrte an der New York University und war in der China Society of America ebenso wie in verschiedenen Gremien des Völkerbunds aktiv. In der vom China Trade Bureau in New York herausgegebenen China Review äußerte er sich zu den Bedingungen der wirtschaftlichen Modernisierung Chinas und beurteilte Suns Programm als „practical and yet progressive“.99 Wie Hodges, der während ausgedehnter Asienreisen auch als politischer Berater Sun Yatsens tätig war, teilten viele westliche Beobachter die Überzeugung, dass Chinas wirtschaftliche Modernisierung von ausländischer Unterstützung und ausländischem Kapital abhängig war.100 Julean Arnold, der 1915 die amerikanische Handelskammer in Shanghai gegründet hatte, setzte sich für amerikanische Investitionen in China ein. Die USA verfügten ihm zufolge über die einzigartige Chance, „to establish our trade-marks, our machinery, our standards and our methods“,101 solange das wirtschaftliche System Chinas noch formbar war. Diese langfristige Sicherung
99 Charles Hodges: „Sun Yat-sen on the Economic Reorganization of China“, CR, Bd. 3 (November 1922), 192. Für Hodges Urteil schien dabei nicht zuletzt die Tatsache entscheidend, dass die Entwicklungsprojekte unter ausländischer Expertenaufsicht stehen sollten, was Investitionen einen hohen Grad an Sicherheit verlieh. Vgl. ders.: „China’s credit-power and the consortium. An analysis of the financial approach to her economic rehabilitation“, CR, Bd. 2 (Januar 1921), 23–26, sowie ders.: „Transportation – the key to China’s future“, CR, Bd. 3 (Oktober 1922), 106–109. Es handelt sich bei der Oktoberausgabe der China Review um eine Sonderausgabe zum Thema „China the Pulse of Asia in commerce – finance – politics“. Zu Hodges Werdegang siehe „Charles Hodges of N.Y.U., 69, dies“, The New York Times, Archiv der Onlineausgabe (9. Oktober 1964) [http://www. nytimes.com/1964/10/09/charles-hodges-of-nyu-69-dies.html, abgerufen am 17.10.14]. 100 Charles Batchelder schlug wie Sun Yatsen eine internationale Instanz für die Ausarbeitung von Finanz- und Entwicklungsplänen vor. Vgl. Batchelder: „China’s Industrial Revolution“, 209. Arnold Toynbee sprach von einer „practical apprenticeship“ der Chinesen bei den westlichen Ländern, um die Regeln des wirtschaftlichen Geschäfts zu erlernen. Vgl. Toynbee: „A British view“, 337. Zur Notwendigkeit fremden Kapitals auch J. N. Condliffe: China today: Economic, Boston 1932, 174; Mason: „China’s Economic Progess“, 89; Chao-Hsin Chu: „China waiting for development“, 393–394. 101 Julean Arnold: „Salient facts regarding China’s trade“, CSP, Series II, Nr. 1 (1923), 10. Siehe auch „Julean Herbert Arnold Papers“, Online Finding Aid, Hoover Institution Archives, Stanford University [https://searchworks.stanford.edu/view/4088518, abgerufen am 10.8.16]. Natürlich sahen auch britische Autoren das Potential von Investitionen in die chinesische Wirtschaft. So mahnt T. Bowen Partington seine Landsleute in der Asiatic Review, „the greatest opportunities
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der amerikanischen Position und liberal-kapitalistischer Methoden konnte aus seiner Sicht nicht nur dem zunehmend populären Kommunismus, sondern auch den Nationalisierungstendenzen der chinesischen Wirtschaft entgegenwirken.102 Wenngleich auch chinesische Autoren „America’s Opportunity“103 in China hervorhoben, wird bei Arnold bereits deutlich, dass Vorstellungen wirtschaftlicher Auslandskooperation nicht selten über eine paternalistische Stoßrichtung verfügten. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass auch Autoren wie der für seine konservative Haltung bekannte „Shanghailander“ John Otway Percy Bland für die finanzielle Sanierung Chinas unter ausländischer Kontrolle votierte. Der britische Journalist, der unter anderem für die North China Daily News berichtete, lieferte sich in der New Yorker Zeitschrift Asia einen hitzigen Schlagabtausch mit John Dewey über die Rolle der Ausländer in China. Während Bland zufolge die chinesische Regierung von ausländischer Finanzkontrolle uneingeschränkt profitierte, sah Dewey darin ein Schlupfloch für politische Einmischung.104 Auch andere linksorientierte Autoren wie Bertrand Russell und Henry Hyndman erklärten, dass China keinesfalls von ausländischen Wirtschaftsinteressen abhängig werden durfte; sein Potential für eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung, so zeigte sich Hyndman überzeugt, konnte durch Kapitalmangel zwar verlangsamt, aber nicht aufgehalten werden.105
i n the history of commerce between nations“ in China zu nutzen. Vgl. T. B. Partington: „The Commercial Future of China“, AR, Bd. 28, Nr. 55 (Juli 1922), 459–467, hier 467. 102 Vgl. Arnold: „Salient facts“. Ähnlich High: China’s Place in the Sun, 55; Batchelder: „China’s Industrial Revolution“, 208; Lunt: „Applying Fundamentals“, 225–228. Auch für Arnold Toynbee war die Einführung des liberalen Kapitalismus in China eine wichtige Maßnahme gegen den Kommunismus. Vgl. Toynbee: „A British View“, 337. 103 Liu-Wu Han: „America’s Opportunity“, CSM, Bd. 23, Nr. 1 (November 1927), 31–32; J. S. Lee: „Foreign Trade“, FER, Bd. 2, Nr. 9 (Juni 1920), 109; A. S. Sze: „China and the United States“, CWR, Bd. 18, Nr. 8 (Oktober 1921), 259–261, hier 260. Die sino-amerikanische Finanz- und Handelskooperation stand im Mittelpunkt der Vorstellungen einer „special relationship“ beider Staaten, die von chinesischen und amerikanischen Autoren gleichermaßen gepflegt wurde und über die noch mehr zu sagen sein wird (siehe Kapitel 6). 104 Vgl. J. O. P. Bland: „Saving China“, Asia, Bd. 21, Nr. 6 (Juni 1921), 499–503, und John Dewey: „China old and new“, Asia, Bd. 21, Nr. 5 (Mai 1921), 445–450, 454, 456, hier 445. Blands Rolle in der britischen Gemeinschaft Shanghais untersucht Bickers: Britain in China, 32–33. Bickers weist auch auf die ambivalente Haltung Blands hin, der stets einen realistischen Blick auf China einforderte, jedoch selbst zu einer Mystifizierung der chinesischen Kultur tendierte. 105 Vgl. Hyndman: Awakening, 107–109; Russell: Problem of China, 235, 237. Ähnlich riet 1930 auch Nathaniel Peffer, China solle sich auf seine eigenen finanziellen Möglichkeiten stützen. Vgl. Peffer: China, 197. Henry Hodgkin schlug vor, China müsse ein Kreditsystem zur Finanzierung seiner Industrien entwickeln, um finanzielle Unabhängigkeit zu gewährleisten. Vgl. Hodgkin: „When China Competes“, 330.
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4.2.4 Nationale Ökonomie in der Nanjing-Dekade Der Journalist und Politiker T’ang Leang-li (Tang Liangli), der nach dem Tod Sun Yatsens 1925 dem linken Flügel der Guomindang um Wang Jingwei nahestand, datierte in seinem Werk Reconstruction in China von 1935 die Geburt des modernen China auf das Erscheinen von Sun Yatsens International Development of China.106 Suns Ideen für eine wirtschaftliche Modernisierung Chinas erfuhren in der Nanjing-Dekade ihre eigentliche Wirkkraft. Erst als die Nationalregierung 1927/28 das Land zumindest nominell geeint hatte, war die Grundbedingung für das Vorhaben erfüllt. Andersherum konnte aus der Sicht der Nationalisten nur eine moderne, industrialisierte Wirtschaft auch eine moderne Nation und einen starken Staat hervorbringen.107 Wie im indischen Kontext stellte die Industrialisierung nicht nur einen Weg zu wirtschaftlichem Wachstum, sondern auch ein Mittel nationaler Integration dar. Als Kernstück der Wirtschaftsplanung wurde 1931 auf Drängen des einflussreichen Finanzministers Song Ziwen der National Economic Council eingerichtet. Dieser sollte den Aufbau moderner Industrien, die Modernisierung der Landwirtschaft und den Ausbau der Infrastruktur systematisieren und überwachen. Man orientierte sich größtenteils am westlichen Entwicklungsmodell – dies nicht nur, weil viele Ingenieure und Beamten in westlichen Ländern ausgebildet worden waren, sondern auch aus Mangel an Alternativen: Das zunehmend feindlich gesinnte Japan taugte immer weniger, Sowjetrussland noch nicht maßgeblich als Vorbild.108 Obwohl sich die Rahmenbedingungen mit der Weltwirtschaftskrise noch verschlechtert hatten und es nicht nur an einer kohärenten Entwicklungsstrategie, sondern auch an messbaren Erfolgen mangelte, kann die Nanjing-Dekade vor diesem Hintergrund als Geburtsstunde des „Developmental State“ in China gelten. „For the new National Government after 1927, economic planning was not just policy: it was gospel and ritual. All arms of government were believers and practitioners.“109 106 Vgl. T’ang Leang-li: Reconstruction in China. A Record of Progress and Achievement in Facts and Figures, Shanghai 1935, 26. Zur Rezeption der wirtschaftspolitischen Ideen Sun Yatsens in der Guomindang-Regierung siehe Trescott: Jingji Xue, 55–57. Einen kurzen Überblick über den Werdegang T’ang Leang-lis geben M. S. Heidhues/Leo Suryadinata: „Tang Leang-li“, in: Leo Yuryadinata (Hg.): Southeast Asian Personalities of Chinese Descent. A Biographical Dictionary, Bd. 1, Singapur 2012, 1133–1135. 107 Vgl. etwa Wang: Chinaʼs Problems, 34. Auch T’ang: Reconstruction, ix. 108 Siehe Fairbank/Reischauer/Craig: East Asia, 692. An der Sowjetunion ebenso wie an Deutschland orientierten sich jedoch planwirtschaftliche Ansätze. Siehe S. C. M. Paine: The Wars for Asia, 1911–1949, New York 2012, 60–61. 109 Kirby: „Developmental State“, 152. Siehe auch Zanasi: Saving the Nation, 4, sowie A. N. Young: China’s Nation-building effort, 1927–1937. The Financial and Economic Record, Stanford 1971, 387.
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Dass dem Ziel der wirtschaftlichen Rekonstruktion eine zentrale Rolle in den Aufstiegsprognosen zukam, war also seiner ideologisch-integrativen und nicht zuletzt seiner antiimperialistischen Natur zuzuschreiben: Für Autoren wie T’ang Leang-li, Wang Jingwei oder auch Alfred Sze, die Teil der aufstrebenden Politik elite des neuen Regimes waren, diente die wirtschaftliche Modernisierung in erster Linie der Selbstbehauptung gegenüber den Imperialmächten. Zwar erfuhr die Idee der internationalen Wirtschaftskooperation auch nach Sun Yatsens Tod Kontinuität,110 doch die zunächst erfolgreich beendete nationale Revolution schien den wirtschaftlichen Aufbau aus eigener Kraft möglich zu machen. Nicht zufällig verfasste Bertrand Russell, der bereits 1922 die wirtschaftliche Autarkie Chinas gefordert hatte, das Vorwort zu T’angs Werk China in Revolt. Hier stellte T’ang die ambitionierte Prognose auf, China werde sich ohne fremdes Kapital eigenständig modernisieren und nach einer Übergangszeit politischer Konsolidierung sogar in der Lage sein, seine Schulden zu begleichen. Um seine Prognose zu stützen, verwies er unter anderem auf Aussagen des ehemaligen amerikanischen Botschafters in China Paul S. Reinsch sowie des amerikanischen Politikwissenschaftlers Westel W. Willoughby, die das Entwicklungspotential Chinas hervorhoben. T’ang zufolge konnte eine „genuin chinesische“ wirtschaftliche Entwicklung nur dann zustande kommen, wenn sie einem „natürlichen“, wenn auch langsamen Prozess entsprach, der nicht von externen Kräften forciert wurde.111 T’angs Argumentation für ein eigenes Tempo der Modernisierung erinnert an diejenige Henry Hyndmans. Im Hinblick auf die selbstbewusste Inbesitznahme der wirtschaftlichen Kontrolle durch China herrschte ein reger Austausch zwischen einigen westlichen und chinesischen Autoren. Dies wird auch deutlich, wenn Alfred Sze in einer Rede vor der American Academcy of Political and Social Science in New York, in der er die Fortschritte der nationalen Rekonstruktion darlegte, den Amerikaner Grover Clark zitiert.112 Clark maß der ökonomischen Emanzipation der chinesischen Regierung sogar einen höheren Stellenwert bei als der politischen oder kulturellen. Verliefe Chinas Industrialisierung unter westlicher Kontrolle, so zeigte er sich wie bereits zehn Jahre zuvor Bertrand Russell und John Dewey überzeugt, sei der endgültige Verlust politischer Souveränität absehbar.113
110 Z. B. bei Wang: China’s Problems, 48, und Wang: „Industrial Progress“, 12. 111 Vgl. T’ang: China in Revolt, 153–154. Ähnlich auch S. H. M. Chang: „The Chinese Economic Problem“, CSM, Bd. 23, Nr. 6 (April 1928), 10–13. T’angs Aversion gegen ausländische Finanzkontrolle richtete sich letztlich vor allem gegen die „jüdisch-amerikanische“ Geschäftswelt. Siehe Zhou Xun: Chinese Perceptions of the „Jews“ and Judaism. A History of the Youtai, Abingdon/New York 2013, 147. 112 Sze: „Reconstruction“, 259. 113 Vgl. Clark: The Great Wall Crumbles, 363–364. Ähnlich auch der Brite Archibald Rose: „China Revisited“, JRIIA, Bd. 7, Nr. 1 (Januar 1928), 1–11, hier 9.
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Es wird ersichtlich, dass die Wirtschaftspolitik der Guomindang-Regierung auch aus britischer und amerikanischer Sicht weitestgehend positiv beurteilt wurde – obgleich ihre liberal-kapitalistische Grundausrichtung von einer starken autoritären Komponente flankiert war, die sich unter anderem in der Militärund Rüstungskooperation Chiang Kaisheks mit dem sich zunehmend radikalisierenden Deutschen Reich ausdrückte.114 Der britische Anwalt Percy H. B. Kent, der lange Zeit im nordchinesischen Tianjin lebte, zog 1937 aus dem zaghaften Vorgehen des National Economic Council den Schluss, ein autoritäres Regime sei derzeit für China das einzig richtige.115 Kents Haltung muss vor dem Hintergrund der sich verschärfenden internationalen Lage und der Bedrohung Chinas durch Japan gesehen werden. Dennoch trug die Nationalisierung der chinesischen Wirtschaft zur Legitimierung des starken Staates bei. Dass sie privatwirtschaftliche Initiativen kaum förderte, hielt die Regierung nicht davon ab, diese zu staatlichen Zwecken nutzbar zu machen.116 Der planwirtschaftliche Ansatz des GuomindangRegimes folgte keiner eindeutigen Ideologie, sondern offiziell nur der Maxime des „Volkswohls“. Die anvisierte Modernisierung der öffentlichen Versorgung, der Transport- und Kommunikationswege sowie der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion sollte die Lebensbedingungen der chinesischen Bevölkerung verbessern.117 Im direkten Vergleich Chinas und Indiens wird deutlich, dass der wirtschaftliche Nationalismus untrennbar mit dem politischen Prozess der Nationenbildung verknüpft war. Er entfaltete sich entlang zweier zentraler Konfliktlinien: zum einen dem Konflikt zwischen dem freien Spiel liberal-kapitalistischer Kräfte und der Kontrolle dieser Kräfte durch einen starken, planenden Staat; zum anderen zwischen dem Anspruch auf eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung und der Notwendigkeit ausländischer Hilfe für die Industrialisierung beider Länder. Vor allem aus der Perspektive vieler asiatischer, aber auch einiger westlicher Autoren sollte die wirtschaftliche Zukunft Chinas und Indiens weder Fremdmächten noch Marktkräften überlassen werden; die wirtschaftliche Modernisierung sollte vielmehr gegen jede Art der Fremdbestimmung immunisieren.
114 Die Geschichte deutscher Militärberater in China im Kontext der deutschen Fernostpolitk arbeitet der Sammelband Bernd Martins auf. Siehe einführend Bernd Martin: „Die deutsche Beraterschaft – ein Überblick“, in: ders. (Hg.): Die deutsche Beraterschaft in China, 1927–1938. Militär, Wirtschaft, Außenpolitik, Düsseldorf 1981, 15–53. 115 Kent: Twentieth Century, 310–318. 116 Zu einer Verstaatlichung des gesamten privatwirtschaftlichen Sektors kam es unterdessen nicht. Siehe Coble: Shanghai Capitalists, 3. 117 Vgl. Yui: „Nationalist China“, 16–17; Wang: China’s Problems, 24; T’ang Leang-li: The New Social Order in China, Shanghai 1926, 257; Sze: „Reconstruction“, 261.
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Obwohl die Modernisierungserfolge der chinesischen Nationalisten weitgehend ausblieben, beanspruchte das autoritäre Regime die Handlungsautonomie, die für eine staatlich geplante nationale Ökonomie notwendig war. Im indischen Kontext war die Nationalisierung der Wirtschaft ein Prozess, der nur auf diplomatischem und demokratischem Weg, durch Verhandlungen mit der britischen Imperialmacht sowie legitimiert durch das Volk vonstattengehen konnte. Diese Situation wirkte wiederum auf die indischen Vorstellungen einer nationalen Ökonomie zurück. Anders als in China wurde der planende Staat von indischen Ökonomen und Nationalisten weniger als autoritär-kontrollierender denn als liberal-initiierender gedacht, welcher der indischen Wirtschaft jene Impulse geben sollte, die in anderen Ländern vom freien Markt ausgingen.118 Während der kontrollierende Staat mit dem imperialen britisch-indischen Staat assoziiert wurde, musste der wohlwollende, initiierende Staat erst neu entstehen. In beiden Ländern reagierten die Intellektuellen mit ihren Vorstellungen nationaler Ökonomie einerseits auf die Bedürfnisse der Nationenbildung, andererseits auf externe Einflussfaktoren: Die sich ab 1929 zuspitzende weltwirtschaftliche Situation nahm nicht nur in Indien und China liberal-kapitalistischen Entwicklungsideen den Wind aus den Segeln. Die Vorstellung einer staatlich regulierten Wirtschaft zum Wohle des Volkes war in den 1930er Jahren auch in der „entwickelten“ Welt allgegenwärtig und verband liberale und autoritäre mit sozialistischen Entwicklungsansätzen.
4.3 Die vielen Gesichter des Sozialismus: Für eine soziale Ökonomie 4.3.1 Wider den westlichen Kapitalismus: „Humanizing industry in China“ Die berühmtesten westlichen Chinareisenden der Zwischenkriegszeit, der Brite Bertrand Russell und der Amerikaner John Dewey, konnten sich nicht zuletzt deshalb eines enormen Zulaufs zu ihren Vorlesungen erfreuen, weil sie über ihre spezifischen wissenschaftlichen Inhalte hinaus große Hoffnungen in die chinesische Zivilisation setzten. Wie viele Intellektuelle dieser Zeit standen sie einem ungebremst waltenden Laissez-faire-Kapitalismus kritisch gegenüber. Wurde die Notwendigkeit einer umfassenden Industrialisierung für die wirtschaftliche Entwicklung Chinas auch aus zivilisationskritischer Sicht meist nicht bestritten,
118 Deutlich etwa bei Mukerjee: „Politics, Science and Industry“, 40.
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war die Methode entscheidend: menschliche Bedürfnisse konnten geopfert oder aber geltend gemacht werden.119 Für China bestand diesbezüglich die Möglichkeit einer historischen Kurskorrektur: „Is the industrial development of China to repeat the history of Great Britain, the United States and Japan until the evils of total laissez faire bring about a labor movement and a class struggle?“, fragte John Dewey in einem Artikel für die New Republic. „Or will the experience of other countries be utilized and will the development be humanized?“.120 Aus den Fehlern westlicher Länder zu lernen und die Übel des Kapitalismus zu vermeiden, avancierte zum Leitgedanken für eine alternative wirtschaftliche Entwicklung in China. Eine „humanisierte“ Industrie, wie John Dewey, Bertrand Russell und andere liberale Denker sie im Blick hatten, war nicht dem freien Wettbewerb überlassen, sondern reguliert; sie war nicht primär an effektiver Ressourcenverwertung und kommerziellem Profit interessiert, sondern an sozialem Ausgleich. Der Westen selbst hatte mit dem Sozialismus eine machtvolle wirtschaftliche Systemkritik hervorgebracht, die auch in China neue Wege eröffnete. Bertrand Russell zeigte sich optimistisch, dass in China wie in anderen asiatischen Ländern, wo ihm zufolge noch nicht derselbe „respect for the successful hustler“121 vorherrschte wie in den USA, junge überzeugte Sozialisten das wirtschaftspolitische Ruder übernehmen konnten. Bei seinem Besuch in China in den Jahren 1920 bis 1921 stand er unter dem Eindruck der 4.-Mai-Bewegung, die neben liberalem auch sozialistisches Gedankengut rezipierte. In Studienzirkeln prüften die jungen Intellektuellen die Wirksamkeit verschiedener sozialistischer Theorien – neben liberalem und demokratischem Sozialismus auch Anarchismus, Syndikalismus, Gildensozialismus und Marxismus – für die „nationale Rettung“ Chinas. Fanden sich viele Gildensozialisten letztlich in der Progressiven Partei (Jinbudang) wieder, so gründeten Chen Duxiu und Li Dazhao, beide zentrale Figuren in der 4.-MaiBewegung, 1921 die Kommunistische Partei Chinas (KPCh).122 119 Die Bewertung eines wirtschaftlichen Systems nicht nach ökonomischen, sondern nach sozialen Kriterien wurde im Rahmen des IPR sehr treffend beschrieben von Romanzo Adams: „Industrialization and the Outlook for Chinese Culture“, IPRNB (März 1927), 6–9, hier 7. 120 John Dewey: „Industrial China“, CWR, Bd. 15, Nr. 7 (Januar 1921), 360–362, hier 362. Ähnlich auch Russell: „Future Relations“, 3; Hodgkin: China, 195; Peffer: China, 231–232. 121 Russell: „Future Relations“, 5–6. Vgl. ders. Problem of China, 236. Auch Sherwood Eddy betonte, dass chinesische Arbeitgeber grundsätzlich human und vernünftig agierten und das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer noch nicht von Distanz geprägt sei. Vgl. Sherwood Eddy: The New World of Labor, New York 1923, 86. Ähnlich optimistisch Hodgkin: China, 229–230, sowie der amerikanische Soziologe A. J. Todd: Three Wise Men of the Orient and other lectures, Minneapolis 1927, 119. 122 Der enge Zusammenhang zwischen den Ursprüngen der KPCh und der 4.-Mai-Bewegung wird hervorgehoben von Arif Dirlik: The Origins of Chinese Communism, New York/Oxford 1989.
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Britische wie amerikanische Autoren gingen davon aus, dass in China eine sozial ausgeglichene wirtschaftliche Entwicklung möglich war, doch sie stellten sich – je nach Nähe zur sozialistischen Theorie – hierfür ganz unterschiedliche Gangarten vor. Amerikanische Beobachter aus dem Umkreis des IPR waren erwartungsgemäß an einem liberalen Weg zur Lösung der sozialen Frage interessiert. Um die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu verbessern und eine Ausbreitung des sowjetischen Kommunismus in China zu verhindern, baute man auf soziale Organisation und Gesetzgebung nach westlichem Vorbild. Eine Allianz der politischen Führung mit den kapitalistischen Kräften war aus dieser Perspektive einer Allianz mit den Massen von Bauern und Arbeitern vorzuziehen.123 Einen anderen Weg sah dagegen John Dewey. Dem Philosophen zufolge konnte wirtschaftlicher Konservatismus die sozialen Übel des Kapitalismus heilen. In der bisherigen Resistenz der chinesischen Gesellschaft gegen moderne Produktions- und Verteilungsmethoden meinte er einen „mighty social instinct“124 zu entdecken, der darin bestehe, geduldig abzuwarten, bis Mechanismen entwickelt waren, um die industrielle Revolution zu kontrollieren, statt von ihr kontrolliert zu werden. Dewey teilte diese Meinung mit Chao-hsin Chu (Zhu Zhaoxin), dem chinesischen Chargé d’affaires in London. Dieser legte dar, dass sich China erst in den späteren Stufen seiner nationalen Entwicklung der Industrialisierung widmen sollte: Perhaps I am not alone in thinking that if for the time being China can be maintained as an agricultural country, the result for her well-being and happiness will be much greater. Every villager owns his house; most of the farmers own and cultivate their fields […] Industrialism may bring wealth and add to material comfort, but in an agricultural nation you will find no agitation, no revolutionary tendencies, and dynamic outbursts, no excesses. The nation will be kept in static development; there will, on the whole, be greater health and more pure contentment.125
Eine solche „Strategie des Aufschiebens“ blieb jedoch angesichts der sozio- politischen Realitäten in China die Ausnahme. Die „Naturgewalt der industriellen Entwicklung“, von der Bertrand Russell sprach, hatte China fest im Griff und in den industriellen Zentren entlang der Küste waren ihre sozialen Konsequenzen deutlich spürbar: Schlechte Arbeitsbedingungen in den Fabriken und niedrige Löhne ie organisatorische Kohärenz, die von der KPCh verlangt wurde, führte schließlich zum Bruch D zwischen den Kommunisten und anderen Sozialisten. Siehe ebd., 11. Zu den verschiedenen linksorientierten Gruppen in der 4.-Mai-Bewegung siehe auch Chow: May Fourth Movement, 216. 123 Vgl. Batchelder: „China’s Industrial Revolution“, 208–209; Holcombe: Chinese Revolution, 323; W. L. Holland: „Population Problems and Policies in the Far East“, AAAPSS, Bd. 188 (November 1936), 307–317, hier 317; Condliffe: „Industrial Development“, 366. 124 Dewey: „Industrial China“, 362. 125 Chao-hsin Chu: „China waiting for Development“, 387–388.
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hatten soziale Unruhen, Boykotts und Arbeiterstreiks zur Folge, die sich – inspiriert und geführt von den Intellektuellen der 4.-Mai Bewegung – im Verlauf der 1920er Jahre intensivierten. Obwohl sich eine organisierte Arbeiterbewegung erst in den Anfängen befand, sahen linksradikale Beobachter wie etwa die Amerikaner Scott Nearing und James H. Dolsen Anzeichen dafür, dass die chinesische Arbeiterschaft für eine soziale Revolution bereit war. Nearing, der in New York zusammen mit Lajpat Rai, Norman Thomas und Oswald G. Villard in der Home Rule League sowie neben John H. Holmes in der Union against Militarism aktiv war, bezog seine sozialistische Überzeugung aus seinem Pazifismus und einer starken Solidarität mit dem Underdog. „China is not moving from village economy toward capitalist imperialism“, ließ er in seiner politisierten Studie Whither China? von 1927 verlauten, „but from village economy, past capitalist imperialism, toward a new form of social organization“.126 Wenngleich Nearings sozio-politisches Engagement nicht immer der kommunistischen Parteilinie entsprach, war er davon überzeugt, dass der kapitalistische Imperialismus in China nur mit Hilfe einer radikalen marxistischen Bewegung nach russischem Vorbild überwunden werden konnte. Auch für den britischen Romancier und Sozialisten H. G. Wells, der 1920 die Sowjetunion bereiste und sich für die russische Kultur begeisterte, schien es möglich, dass sich China nicht am westlichen, sondern am sowjetischen Vorbild orientieren würde – jedoch weniger aus ideologischer Überzeugung denn aus Pragmatismus.127 Wells lag mit seiner Prognose nicht falsch: Die nationalistische Bewegung in der Tradition Sun Yatsens fühlte sich zwar dem Ideal des sozialen Ausgleichs verpflichtet, nicht aber der marxistischen Ideologie des Klassenkampfes.
4.3.2 Sozialismus ohne Klassenkampf: Staatssozialismus in China Während sozial-revolutionäre Impulse zur Gründung der KPCh führten, war das politische Denken einer großen Zahl chinesischer Intellektueller in der 126 Scott Nearing: Whither China? An economic interpretation of recent events in the Far East, New York 1927, 12. Siehe auch S. J. Whitfield: Scott Nearing: Apostle of American Radicalism, New York/London 1974, 136–140, 169–171, sowie „A Puritan Revolutionist: The Story of Scott Nearing“, TWT, Bd. 13, Nr. 7 (Juli 1930), 305–308. Vgl. auch J. H. Dolsen: The Awakening of China, Chicago 1926, 111–114; L. S. Gannett: „China: The World’s Proletariat“, TN, Bd. 123, Nr. 3188 (August 1926), 122–124; ders.: „,Bolshevistʻ China“, TN, Bd. 124, Nr. 3224 (April 1927), 419–420. Der Wirtschaftswissenschaftler Felix Morley betonte aus nicht-sozialistischer Perspektive die integrative Funktion der aufkommenden Arbeiterbewegung. Vgl. Morley: Far Eastern Assignment, 128–131. 127 Vgl. H. G. Wells: The Way the World is going. Guesses and Forecasts of the Years ahead, London 1928, 21. Siehe auch Michael Sherborne: H. G. Wells. Another Kind of Life, London/ Chester Springs 2010, 256.
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epublikzeit von einem reformerischen Sozialismus geprägt.128 Sun Yatsen hatte R mit dem dritten seiner „Drei Volksprinzipien“, dem „Volkswohl“, bessere Lebensbedingungen für die chinesische Bevölkerung zu einem wichtigen Baustein der nationalen Revolution erklärt.129 Diese soziale Agenda entsprang keinesfalls der Begeisterung für das radikale Umwälzungspotential einer sozialen Revolution, sondern dem pragmatischen Streben nach nationaler Stärke, die eines höheren Lebensstandards der Bevölkerung bedurfte.130 Einen ungezügelten Kapitalismus ebenso vermeidend wie einen unkontrollierbaren Marxismus, sollte eine völlig neue sozialistische Formel für China gefunden werden.131 Deren Kern bildete Suns Ideal der Zusammenarbeit: Wie die internationalen Wirtschaftsbeziehungen sollten auch die Beziehungen zwischen den sozialen Klassen und besonders zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer von Kooperation anstatt von Kampf geprägt sein.132 Diejenigen Nationalisten, die sich von den Kommunisten als politischem Gegner abgrenzten, betrachteten dementsprechend die aufkommende Arbeiterbewegung selten wie die genannten amerikanischen Sozialisten als konstruktive Kraft für eine neue soziale Ordnung, sondern als destruktiv im Sinne des wirtschaftlichen Wachstums.133 In dem Maße, wie Letzteres zum zentralen Faktor für die nationale Integration erklärt wurde, stellte der Klassenkampf eine direkte Bedrohung für die Nationenbildung dar. Anstatt die Gesellschaft von innen zu schwächen, mahnte ein Artikel in Chinese Nation, einem Propagandaorgan der Guomindang, sollten sich die Arbeiter der traditionellen chinesischen 128 Siehe Fung: Intellectual Foundations, 21. Ähnlich Arif Dirlik: Revolution and History. The Origins of Marxist Historiography in China, 1919–1937, Berkeley 1978, 259. 129 Zu Suns Prinzip des Volkswohls siehe Chang/Gordon: All Under Heaven, 114–119. Sun hatte schon um 1900 ersten Kontakt zu russischen und europäischen Sozialisten und war von Lenins Oktoberrevolution beeindruckt. Sein drittes Prinzip, min sheng zhu yi, identifizierte er mit dem Sozialismus. Vgl. Chow: May Fourth Movement, 245. 130 Zur freien Adaption des Sozialismus bei chinesischen Intellektuellen Pusey: China and Charles Darwin, 356, sowie Dirlik: Revolution and History, 20. 131 Siehe Chang: All Under Heaven, 116, sowie Pusey: China and Charles Darwin, 358–359. 132 Der Konflikt zwischen aufkommender Arbeiterbewegung und dem Ideal der K ooperation wurde auch von T. Z. Koo in einer Sitzung des IPR beschrieben: Koo: „Aspirations of New China“, 25. 133 Vgl. z. B. O. S. Lieu: „Certain Vital Problems of China’s Industry“, AAAPSS, Bd. 152 (November 1930), 180–183, hier 182. Lieu sprach als Direktor der Shanghai Cement Company: „[N]o matter how well a business may be organized, labor activities disrupt it. Neither can discipline ever be enforced among the employees. […] Hedged round by such unhealthful surroundings, China’s infant industries can only face ruin. How to bring order out of industrial chaos, to put the labor leaders in their proper places, and to turn labor’s thoughts for destructive obstruction to constructive cooperation with the employer, are the problems that challenge all who have China’s industrial future at heart.“
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oralvorstellungen und ihrer nationalen Funktion besinnen: „Labourers as well M as other classes of people are citizens of China. In order to restore China’s national status to its former standing all Chinese people should work in unison and every single citizen has his own individual duty to discharge.“134 Neben dem einzelnen Arbeiter nahm man aus dieser Perspektive aber auch die Nationalregierung in die Pflicht, eine soziale Revolution zu verhindern. Demnach war es Aufgabe der Regierung, die soziale Frage durch Reformmaßnahmen zu lösen und auf diese Weise wirtschaftliches Wachstum ebenso zu garantieren wie den Schutz der Arbeiter und eine gerechte Vermögensverteilung.135 Die Strategie, die Sun Yatsen dabei verfolgte, ist in seinen wirtschaftlichen Rekonstruktionsplänen für China dargelegt: eine gerechtere Landverteilung und soziale Sicherungssysteme sollten das Leben der Bauern und der Arbeiter verbessern.136 Darüber hinaus ging es ihm um staatliche Kapitalkonzentration. Demnach sollte der Staat als Verwalter eines „Great Trust owned by the Chinese people“137 agieren, in dem die nationalen Industrien zusammengeführt und alle Spuren von Wettbewerb und Konkurrenz beseitigt würden. Diese Form der nationalen Vermögenskonzentration im Staat konnte Sun zufolge dafür Sorge tragen, dass industrielle Profite nicht in erster Linie privaten, sondern öffentlichen Interessen dienten: „In a nutshell“, so lautete Sun Yatsens berühmtes Fazit, „it is my idea to make capitalism create socialism in China so that these two economic forces of human evolution will work side by side in future civilization.“138 Der Kapitalismus sollte also nicht abgeschafft, sondern vom Staat gezähmt und vom Volk nutzbar gemacht werden. Dieser „Volksauftrag“ war der Grund, warum staatliche Planung auch für liberale Intellektuelle wie Hu Shi grundsätzlich akzeptabel war – zumindest so lange, wie Beamten qualifiziert und Freiheitsrechte nicht beschnitten waren.139 Hu Shi setzte sich im Zuge seiner philosophischen Betrachtungen über die westliche Zivilisation mit dem Sozialismus auseinander. Er kam dabei zu dem Ergebnis, dass der Sozialismus als eine Ergänzung der demokratischen Ideale Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit entstanden war, nachdem diese von einer Politik
134 C. A. Pao: „Kuomintang’s Labour Policy“, CN, Bd. 1, Nr. 11 (August 1930), 183–184, 196, hier 183. 135 Ebd., 184. Ähnlich Kuo/Soyeshima: Oriental Interpretations, 122, und Sze: „Reconstruction“, 258. 136 Seine Forderung, das Land den Bauern zurückzugeben, war nicht mit Enteignungen verbunden. Siehe Trescott: Jingji Xue, 50–51. 137 Sun: International Development of China, 236. 138 Ebd., 237. Ähnlich bei Chien-tsen Mai: „Whither should China go in her economic reconstruction“, CSM, Bd. 23, Nr. 6 (März 1928), 1–9. 139 Schon nach einigen Jahren war Hu Shi wie andere liberale Intellektuelle vom autoritären Regime jedoch ernüchtert. Vgl. Fung: Intellectual Foundations, 170, 189–190, 218.
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des Laissez-faire nicht mehr hinreichend erfüllt wurden. Anders als die meisten Sozialisten verband Hu Shi mit dieser Entwicklung jedoch keine fundamentale Kulturkritik; im Gegenteil sah er in der utilitaristischen Idee des „größten Glücks der größten Zahl“ den Kern des Sozialismus und das bedeutendste spirituelle Erbe der westlichen Zivilisation.140 Die Idee eines evolutionären Sozialismus als Alternative zum sowjetischen Kommunismus einerseits und dem westlichen Kapitalismus andererseits entstand in China unter dem Einfluss des amerikanischen Progressivismus, der deutschen Sozialdemokratie sowie des britischen gemäßigten Sozialismus der Fabians und der Labour-Partei.141 G. D. H. Coles Self-Government in Industry von 1917 war ebenso ins Chinesische übersetzt worden wie einige Werke Bertrand Russells: Dessen Principles of Social Reconstruction (1916), Political Ideals (1917) sowie Roads to Freedom: Socialism, Anarchism and Syndicalism (1918) wiesen Russell in China als sozialistischen Denker und Anhänger des Gildensozialismus aus.142 Hatte er noch 1917 große Hoffnungen in die russische Revolution gesetzt, so zeigte er sich nach einer Russlandreise im Jahr 1920 von der bolschewistischen Variante des Sozialismus jedoch tief enttäuscht und moralisch abgestoßen; in seinem Werk The Practice and Theory of Bolshevism (1920) verurteilte er dessen diktatorische Tendenzen.143 Umso größer waren Russells Erwartungen an China, das er im Anschluss besuchte. Seine Vorlesungen zur sozialen Rekonstruktion Chinas, die er an der Beijing-Universität hielt, enttäuschten jedoch jene unter seinen Zuhörern, die ein klares und theoretisch unterfüttertes sozialistisches Programm erwarteten.144 Unter dem Eindruck der Armut eines Großteils der chinesischen Bevölkerung und dem Zustand der Unterentwicklung, in dem sich China 140 Hu Shi: „The Civilizations of the East and the West“, in: Charles Beard (Hg.): Whither Mankind. A Panorama of Modern Civilization, New York/London/Toronto 1930, 25–41, hier 38–40. 141 Zum sozialdemokratischen Charakter des chinesischen Sozialismus der Zwischenkriegszeit ausführlich Fung: Intellectual Foundations, 221–225. 142 Siehe Chow: May Fourth Movement, 233. 143 Siehe Nicholas Griffin: „Introduction“, in: ders. (Hg.): The Cambridge Companion to Bertrand Russell, Cambridge 2003, 1–50, hier 8. 144 Principles of Social Reconstruction schrieb Russell nach eigener Aussage nicht in seiner Kapazität als Wissenschaftler, sondern als Mensch, „who suffered from the state of the world, wished to find some way of improving it“: Russell zitiert in C. R. Pigden: „Bertrand Russell: Moral Philosopher or Unphilosophical Moralist?“, in: Griffin: Cambridge Companion, 475–506, hier 481. Russells Einfluss auf das soziale Denken in China blieb letztlich gering. Suzanne Ogden analysiert in ihrem Aufsatz ausführlich die Gründe für Russells „Scheitern“ in China: S. P. Ogden: „The Sage in the Inkpot. Bertrand Russell and China’s Social Reconstruction in the 1920s“, in: MAS, Bd. 16, Nr. 4 (1982), 529–600. Zum Einfluss Russells auf den Reformismus der chinesischen Sozialisten äußerte sich auch der in Berlin für die China Times aktive Journalist Zon-hui Yui: „China and Socialism“, CSM, Bd. 17, Nr. 7 (Mai 1922), 587–588, hier 588.
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befand, riet der Philosoph von einer Ideologisierung der sozialen Frage ab und dagegen zu pragmatischen Lösungsansätzen. Russells Pragmatismus, mit dem er unter Chinas Intellektuellen auf offene Ohren stieß, setzte auf eine möglichst schnelle Industrialisierung in einem staatssozialistischen System: Given good government, a large amount of State enterprise would be desirable in Chinese industry. There are many arguments for State Socialism, or rather what Lenin calls State Capitalism, in any country which is economically but not culturally backward. In the first place, it is easier for the State to borrow than for a private person; in the second place, it is easier for the State to engage and employ the foreign experts who are likely to be needed for some time to come; and in the third place, it is easier for the State to make sure that vital industries do not come under the control of foreign Powers. […] If China can acquire a vigor ous and honest State, it will be possible to develop Chinese industry without, at the same time, developing the overweening power of private capitalists by which the Western nations are now both oppressed and misled.145
Russell Verständnis von Staatssozialismus entsprach damit den Prämissen einer wirtschaftlichen Modernisierung unter nationalistischen Vorzeichen: Ausländische Unterstützung und Kapital wurden zwar gebraucht, durften aber nicht zu einem Verlust staatlicher Kontrolle führen. Dennoch stand Russell dem liberalen Sozialismus eines Hu Shi näher als dem autoritären Sozialismus Sun Yatsens. Von einer „Whiggish suspicion of the state“146 geprägt, ging es ihm auch in seinem sozialen Denken stets um die Bewahrung liberaler Werte. Ein staatssozialistisches Modell befürwortete er nur unter der Bedingung, dass der Staat – anders als das leninistische Russland – seine Aufgabe „ehrlich“, „energievoll“ und mit den notwendigen Qualifikationen anging.147 Dieser Punkt wurde auch von dem jungen Wirtschaftswissenschaftler und Journalisten Lowe Chuan-hua betonte, der Russells staatssozialistisches Konzept teilweise wörtlich übernahm.148 Lowe sah in den großen Besitzunterschieden in den USA und der geringen Teilhabe der indischen Bevölkerung am nationalen Wohlstand genug Beweise dafür, dass ein primär auf Gewinnmaximierung
145 Russell: Problem of China, 246. „This, we all recognize, is simple good common sense“, urteilte Jiang Tingfu, Professor für Geschichte an der Qinghua-Universität und Herausgeber der Chinese Social and Political Science Review. Vgl. Jiang Tingfu: „The Values of the New in China“, CSM, Bd. 16, Nr. 8 (Juni 1921), 564–569, hier 565. Jiang selbst tendierte eher zum Gildensozialismus, den er in der chinesischen Tradition der Handwerker- und Händlergilden verankert sah. 146 Siehe Philip Ironside: The Social and Political Thought of Bertrand Russell. The Development of an aristocratic liberalism, Cambridge, MA 1996, 4–5. 147 Vgl. ebd., 247. 148 Vgl. Lowe Chuan-hua: „The Economic Crisis in China“, CSM, Bd. 20, Nr. 1 (November 1924), 24–28, hier 27–28.
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ausgelegtes wirtschaftliches System nicht mehr zeitgemäß war.149 Konnte China seines Erachtens für den Aufbau eines modernen wirtschaftlichen Systems im Bereich der Organisation und Wissenschaft noch viel von westlichen Gesellschaften lernen, so sah er sein Heimatland der Lösung der sozialen Frage wesentlich näher. Anders als im Westen, wo wirtschaftlicher Erfolg über die soziale Position eines Menschen entscheide, sei Reichtum in China für die meisten Menschen gleichermaßen unerreichbar; diese Situation einer „negativen Chancengleichheit“ resultierte ihm zufolge in grundlegender Skepsis gegenüber zweckentfremdeter Wohlstandsanhäufung: With the growth in quantity, one may question whether there has been any corresponding betterment in quality, whether the moral faculty has succeeded to keep pace with the mechanical development, and whether the improvement in physical communication has affected any remarkable progress in intellectual and spiritual understanding among nations. For, we believe, the increase of wealth is not necessarily good in itself. Does it not seem plausible that much depends upon its equitable distribution, wise application, and influence upon the moral character of the people?150
Ein sozialistischer Staat musste sich also das ethische Erbe der chinesischen Zivilisation vergegenwärtigen, um die hohen moralischen Anforderungen zu erfüllen, die Lowe genauso wie Russell an den Staatssozialismus stellte.151 Lowe griff dabei ein zentrales Argument Sun Yatsens auf, der die Realisierung des „Volkswohls“ auch als moralisches und in der chinesischen Geschichte fest verankertes Projekt begriffen hatte.152 Die Idee, dass China aus seiner ethischen Tradition ein Vorteil für die Realisierung sozialer Gerechtigkeit entstünde, fand sich unter anderem auch bei Harry F. Ward. „[A] liberal and a radical“,153 engagierte sich der methodistische Priester in den 1920er Jahren besonders für die linke American Civil Liberties Union und stand für eine sozialistische Radikalisierung des protestantischen „Social Gospel“. „Long before we began blindly trusting to the supposedly automatic
149 Vgl. ebd., 24–25. 150 Ebd., 26. 151 Vgl. ebd., 28. Auch T’ang Leang-li betonte in seinem Werk die staatssozialistische Tradition des chinesischen Reiches. Vgl. T’ang: New Social Order, 269, 273. 152 Diesen Aspekt betonte der amerikanische Politikwissenschaftler Paul Anthony Myron Linebarger in seiner bereits 1937 erschienenen Dissertationsschrift über Sun Yatsens Drei Prinzipien, wobei er sich auf Aussagen seines Vaters, eines Vertrauten Sun Yatsens, beruft. Vgl. P. M. A Linebarger: The Political Doctrines of Sun Yat-sen, Baltimore 1937, 155–156. 153 Siehe Doug Rossinow: „The Radicalization of the Social Gospel: Harry F. Ward and the Search for a New Social Order, 1898–1936“, RAC, 15, 1 (Winter 2005), 63–106, hier 91, für Wards Aktivitäten in der Zwischenkriegszeit: 84–95.
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results of unrestrained individualism“, schrieb Ward für die Chinese Studentsʼ Monthly, „[China] surrounded it with an ethical philosophy which sought and secured harmony by precept and custom“.154 Eine wirtschaftliche Modernisierung unter öffentlicher Kontrolle schien vor dem Hintergrund dieser moralischen Grundbildung der Chinesen jenseits der militanten sowjetischen M ethoden möglich. Dieselbe Abkehr vom Sowjetsystem fand sich auch unter indischen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit. Obwohl indische Sozialisten eher dem theoretischen Marxismus anhingen als chinesische,155 blieb der Kommunismus eines Manabendra Nath Roy oder Rajani Palme Dutt die Ausnahme.
4.3.3 Swaraj als soziale Revolution in Indien Rajani Palme Dutt war in Cambridge geboren und in Oxford ausgebildet worden. Mit seinem Kommilitonen Ralph Fox, der bereits 1917 kommunistische Agitationsblätter verteilt hatte, war er an der Gründung der Kommunistischen Partei Großbritanniens beteiligt, die 1920 von revolutionären Vertretern verschiedener sozialistischer Parteien wie der Workers’ Socialist Federation ins Leben gerufen wurde.156 Anders als bei der Labour Party standen die britische Kolonialpolitik und besonders der indische Fall von Anfang an auf der Tagesordnung der kommunistischen Partei. Das Geburtsland seines Vaters war auch für R. P. Dutt ein naheliegendes Objekt seiner antikolonialen Kritik.157 Zum Unabhängigkeitskampf hatte er eine klare Haltung: Die politische Freiheit Indiens sei wertlos, solange sie nur genutzt wurde, um ausländische durch indische Kapitalisten zu ersetzen. Politische Unfreiheit war für ihn nicht mehr als ein Hindernis für die eigentliche soziale Revolution, der wahren Bedeutung von Swaraj: „Real liberation is social – that is, the ending of class divisions and exploitation“.158 Die Methoden, die sich 154 H. F. Ward: „The Challenge of the Chinese Revolution“, CSM, Bd. 23 (Februar 1928), 1–4, hier 2. Ähnlich, mit Verweis auf das traditionelle System der Gilden, äußert sich auch der britische Ökonom J. B. Tayler über die traditionelle soziale Ethik der Chinesen, auf der seiner Meinung nach auch die Missionare in China aufbauen konnten. Vgl. J. B. Tayler: „China’s industrial future. Can she develop a distinctive order?“, TWT, Bd. 6, Nr. 11 (November 1923), 337–339, hier 338–339. 155 Vgl. Fung: Intellectual Foundations, 254. 156 Siehe John Callaghan: Rajani Palme Dutt. A Study in British Stalinism, London 1993, 98. Die russische Oktoberrevolution spaltete den britischen Sozialismus in radikale und gemäßigte Elemente. Viele Gründungsmitglieder der KP waren ursprünglich Anhänger des Gildensozialismus. Siehe ebd., 20–21, 29. 157 Indische Nationalisten wie Romesh Chunder Dutt prägten früh Palme Dutts Haltung gegenüber der britischen Kolonialpolitik. Siehe ebd., 11, 85. 158 R. P. Dutt: Modern India, London 1927, 126.
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Dutt für die Realisierung der sozialen Revolution vorstellte, folgten dem kommunistischen Programm. Als „pivot of change“159 sollte die Arbeiterklasse fungieren. Ihr oblag es nicht nur, die Massen zu mobilisieren und zu organisieren, sondern auch, nach politischer Macht zu streben – eine Aufgabe, die nicht den Gewerkschaften, sondern nur einer revolutionären Arbeiterpartei anvertraut werden konnte. Diese Analyse Dutts stand unter dem Eindruck der britischen Arbeiterbewegung, die ihm zufolge von einer bourgeoisen politischen Führung, nicht zuletzt der Labour Party, verraten worden war; die indische Arbeiterbewegung durfte nicht in dieselbe Falle politischer Ohnmacht geraten.160 Ebenso wie Ralph Fox propagierte Dutt eine enge Zusammenarbeit der britischen mit der indischen Arbeiterklasse. Deren gemeinsame Interessen sahen sie von der internationalen Arbeiterbewegung am besten vertreten.161 Die Integration der sozialen Revolution Indiens in die Idee der proletarischen Weltrevolution ermöglichte es Autoren wie Dutt, sich frei zwischen nationalen Identitäten zu bewegen. Wie Fox war auch er für die Komintern aktiv, die Kommunisten aus allen Ländern zusammenbrachte.162 Der international am besten vernetzte, aktivste und bekannteste indische Kommunist war Manabendra Nath Roy. Als überzeugter Marxist sah M. N. Roy die Zukunft Indiens vom historischen Materialismus vorgegeben. Die indische Gesellschaft, so konstatiert er in seinem Werk India in Transition von 1921, sei in einer Übergangsphase begriffen, in der sie sich mittels eines sozialen Aufstandes von den alten sozioökonomischen Strukturen befreien und in den „Strom des menschlichen Fortschritts“ eintreten werde.163 Überzeugt vom freiheitlichen und humanistischen Gehalt der marxistischen Theorie hing Roy zu keinem Zeitpunkt
159 Ebd., 153. Vgl. auch Ralph Fox: Colonial Policy of British Imperialism, London 1938, 79–80. 160 Vgl. Dutt: Modern India, 159–162. Trotz seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem gemäßigten Sozialismus arbeitete Palme Dutt bis 1924 noch mit Vertretern von Labour wie MacDonald oder auch den Webbs zusammen. Vgl. Callaghan: Rajani Palme Dutt, 21. 161 Vgl. Dutt: Modern India, 169–174. Neben der gemeinsamen sozialistischen Agenda waren die Arbeiterklassen beider Länder vereint im Kampf gegen den britischen Imperialismus. So wie soziale Freiheit für Indien nur auf dem Weg der politischen Unabhängigkeit denkbar war, konnte aus marxistischer Sicht das britische Volk nicht frei sein, solange es ein anderes unterdrückte. Vgl. Fox: Colonial Policy, 118. Shupurji Saklavala, der dem britischen Parlament angehörte, sah man als Bindeglied zwischen indischer und britischer Arbeiterbewegung. Vgl. „The Outlook“, TCo, Bd. 1, Nr. 2 (März 1927), 53–58. 162 Dutt wurde ab Mitte der 1920er Jahre zu einer der wichtigsten Verbindungen zwischen Komintern, der britischen KP und den kommunistischen Bewegungen in anderen Teilen des Empires. Siehe Callaghan: Rajani Palme Dutt, 8. Zur internationalistischen und geopolitischen Dimension sozialistischer Zukunftsvisionen wird in Kapitel 8 mehr zu sagen sein. 163 M. N. Roy: India in Transition, Bombay 1971 [Genf 1921], 16–18.
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einer orthodoxen Interpretation des Marxismus an, sodass es bereits 1920 zur offenen Konfrontation mit Lenin kam.164 Da er weder dem totalitären Regime der Sowjetunion noch der repräsentativen Demokratie westlicher Länder vertraute, stellte er sich eine Basisdemokratie durch Volkskomitees Rousseau’scher Art vor, in denen er die Freiheit des Einzelnen am besten vertreten meinte.165 Wie Dutt ging es auch Roy im indischen Unabhängigkeitskampf in erster Linie darum, das Wohl der Bevölkerung durch wirtschaftliche Demokratie zu garantieren.166 Mit einer klaren Absage an Gandhis Modell sah er wirtschaftliche Demokratie nur durch einen höheren Lebensstandard und diesen wiederum durch Industrialisierung und den Einsatz moderner Maschinen erreichbar: „Why should we suffer, sacrifice and die for something which will not improve our material condition?“167 Waren die sozialen Übel der Industrialisierung durch Arbeiterkontrolle vermeidbar, so keineswegs die industrielle Modernisierung per se. Trotz der gemeinsamen antiimperialistischen Stoßrichtung ihrer politischen Agenda wandten sich Roy und Dutt vom Nationalkongress ab, den sie als reaktionäre Kraft kritisierten.168 Die Situation in Indien unterschied sich erheblich von derjenigen in China, wo Sun Yatsen unter starkem sowjetischen Einfluss stand und es in den Jahren 1924 bis 1927 zu einer Allianz aus nationalistischen und kommunistischen Kräften kam. In Indien war der Kommunismus eine von den Briten rechtlich verfolgte und durch Zensur eingeschränkte Oppositionsbewegung. Dennoch kämpfte die 1925 gegründete, wenig organisierte oder schlagkräftige Kommunistische Partei Indiens um die Kontrolle der Arbeiterschaft, die sich 164 Siehe Gyanender Singh: Indian Political Thinkers, New Delhi 2008, 225–226. Die Roy-LeninDebatte auf dem Zweiten Weltkongress der Komintern 1920 entstand über der Frage, ob die soziale Revolution in Indien (wie in anderen kolonialen Gebieten) unter Führung der bourgeois- demokratischen Nationalbewegung oder aber des Proletariats stattfinden sollte; anders als Lenin glaubte M. N. Roy an die Fähigkeit der indischen Arbeiterklasse, eine „Revolution von unten“ einzuleiten. Siehe J. P. Haithcox: Communism and Nationalism in India. M.N. Roy and Comintern Policy 1920–1939, Princeton 1971, 17. Siehe auch G. D. Overstreet/Marshall Windmiller: Communism in India, Berkeley/Los Angeles 1960, 30. 165 Vgl. Singh: Indian Political Thinkers, 231. 166 Politische Veränderungen reichten auch ihm zufolge nicht aus: „Therefore, what we want is not only a change of government, but the end of the system which permits the exploitation of man by man.“ Roy: India in Transition, 250 [Hervorhebung i. O.]. 167 Ebd., 271. Roy ging es mittelfristig um die Kontrolle der Industrie und die Beteiligung der Arbeiter am Gewinn und langfristig um die Beseitigung des Privatbesitzes. Vgl. ebd., 274–280. 168 Vgl. Dutt: Modern India, 92–105; Roy: India in Transition, 203; ders.: Aftermath of Non-cooperation, London 1926, 124. Callaghan zufolge war Dutt Gandhi gegenüber positiver gestimmt als Roy, v. a. weil es ihm gelungen war, die Massen zu mobilisieren. Anders als Roy unterstützte Dutt auch den Komintern-Kurs der Kollaboration mit den Nationalisten. Siehe Callaghan: Rajani Palme Dutt, 91, 107.
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in Streiks und Gewerkschaften zunehmend politisch artikulierte. Sie tat dies etwa durch Infiltration der gemäßigten Arbeiter- und Bauernpartei, die ebenfalls 1925 unter dem Dach des Kongresses entstanden war, um die Agitationen der Arbeiter und Bauern zu lenken.169 Die Arbeiterbewegung stand somit zwischen dem illegalen Kommunismus und einer Nationalbewegung, die stets Kompromisse finden musste zwischen den Zielen der nationalen Stärke, Integration und Unabhängigkeit und einer wirtschaftlichen Entwicklung, welche soziale Gerechtigkeit garantierte.
4.3.4 Gemäßigter Sozialismus in Indien: Eine Zukunft für die Massen und von den Massen „What, then is our duty as Socialists, to India? Plainly, to undo the conquest, and make an end of capitalist imperialism.“170 Für die britische Socialist League, an deren Gründung im Jahr 1932 er mitgewirkt hatte, verfasste Henry Braisford ein Pamphlet über die sozialistische Haltung zur „India Question“. Indien werde sich sozialistisch entwickeln, so Hyndman, wenn es von den Zwängen des kapitalistischen Imperialismus erst einmal befreit worden sei. Nur eine unabhängige, sozialistische Regierung könne die Emanzipation der unterdrückten sozialen Klassen, zu denen er neben Arbeitern und Bauern auch die „Unberührbaren“ zählte, ermöglichen. Jedoch legte Brailsford großen Wert darauf zu betonen, dass der Sozialismus Indien nicht aufgezwungen werden könne. In demokratischen Prozessen müsse das Land selbst über seine Zukunft entscheiden. Anzeichen dafür, dass die sozialen Kräfte in der Tat an Kraft gewannen, schienen reichlich vorhanden: zum einen in der sozialen Reform- und Arbeiterbewegung – der All India Trade Union Congress wurde 1920 gegründet –, zum anderen in den sozialistischen Tendenzen indischer Intellektueller. „The future of India“, so wurde Jawaharlal Nehru vom britischen Pazifisten Reginald Reynolds zitiert, „lies with the peasantry“.171
169 Zu den Ausweichtaktiken der Kommunisten in Indien – ein wichtiger Außenposten war Berlin – siehe Callaghan: Rajani Palme Dutt, 100–102. 170 Brailsford: India in Chains, 8–9. 171 Reginald Reynolds: India, Gandhi and World Peace, London 1931, 18. Vgl. Wellock: India’s Awakening, 64, und MacDonald: Government of India, 270. Der Amerikaner Sherwood Eddy sah zwar ein wachsendes soziales Bewusstsein der indischen Regierung, nicht aber der Nationalbewegung, der Intellektuellen, der Öffentlichkeit oder der Geschäftskreise. Vgl. Eddy: World of Labour, 198–199.
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II Modernisierungsideen
Entwickelte sich das Wohl der indischen Massen besonders nach dem Ersten Weltkrieg zum Credo aller politischen Parteien, so war der Gedanke der sozialen Chancengleichheit und Gerechtigkeit nicht neu. Zeitlich parallel zur Entstehung der marxistischen Theorie, in deren Bewusstsein, aber unabhängig von ihr, hatten sich indische Ökonomen und soziale Reformer lange mit der Armut der Massen und den Wegen aus dieser Armut auseinandergesetzt; die soziale Frage stand in direktem Zusammenhang mit der Theorie des „Drain of Wealth“.172 Auch in der Zwischenkriegszeit bestimmten die Kritik am westlichen Kapitalismus und die Suche nach Alternativen das wirtschaftliche Denken in Indien. In dieser Situation bot der Sozialismus nicht nur jungen Menschen mit einem starken Veränderungsdrang eine Alternative zu Gandhis Traditionalismus, sondern auch desillusionierten Kongressmitgliedern.173 Der Einfluss des britischen Sozialismus war hier deutlich spürbar. Ebenso wie Dutt standen auch Nehru, Rai und andere indische Nationalisten in persönlichem oder beruflichem Kontakt zu britischen Fabians und Labour-Mitgliedern wie Henry Hyndman, Sidney und Beatrice Webb, Josiah Wedgewood oder Ramsay MacDonald.174 Im Vorwort zu seinem Werk Wealth of India, in dem er Wohlstand als Mittel zur Befriedigung sozialer Bedürfnisse definierte, verurteilte P. A. Wadia die „sickness“ der „acquisitive society“;175 er zitierte damit nicht zufällig das Werk Acquis itive Society (1920) Richard H. Tawneys. Der 1880 in Kalkutta geborene britische Historiker, Pädagoge, Sozialphilosoph und Politiker stellte das Streben nach sozialer Gerechtigkeit als universalen Wert ins Zentrum seines Denkens und Handelns und erlangte eine hohe moralische Autorität in allen politischen Lagern Großbritanniens.176 Ebenso wie im chinesischen Kontext fühlten sich viele indische Intellektuelle zwar der sozialen Reform und den Interessen der Massen verpflichtet, lehnten jedoch marxistisch-leninistische Methoden und besonders den Klassenkampf ab. An die Haltung Bertrand Russells erinnernd, betonte Lajpat Rai in einer Ansprache an „Young India“, dass für die soziale Agenda der Freiheitsbewegung 172 N. C. Mehrotra: The Socialist Movement in India, New Delhi 1995, 2. 173 Siehe Overstreet/Windmiller: Communism, 16. Nachdem die erste Bewegung der Nichtkooperation gescheitert war, wurde linksorientiertes Denken im Kongress immer offensichtlicher. Siehe Mehrotra: Socialist Movement, 4–5. 174 Vgl. Callaghan: Rajani Palme Dutt, 12, 21, und Mehrotra: Socialist Movement, 1. 175 Vgl. Wadia/Joshi: Wealth of India, v, 1. Siehe zum Sozialismus Wadias auch Bayly: Recovering Liberties, 286. In einem Artikel des Sozialisten Ganapati Pillay wird der Einfluss George Bernard Shaws deutlich. Vgl. Ganapati Pillay: „The Problem of India’s Poverty – its Solution“, MR, Bd. 46, Nr. 6 (Dezember 1929), 561–562. 176 Siehe Ross Terrill: R. H. Tawney and His Times. Socialism as Fellowship, Cambridge, MA 1973, 3–10.
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heorien hintangestellt werden müssten: „We know that we cannot fly the flag of T Socialism. We do not understand Socialism. We have never studied it. We do not go by dogmas and doctrines.“177 Das wirtschaftspolitische Programm durfte nicht zu Lasten der Arbeiter und Bauern gehen, jedoch ebenso wenig das Streben nach Produktivität durch Kollektivierung von Besitz unattraktiv gestalten.178 Ähnlich wie in China kamen deshalb viele indische Intellektuelle und Politiker zu dem Schluss, dass das Ziel der sozialen Gerechtigkeit nur durch Kooperation sowohl zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, etwa in Form von Gewinnteilung, als auch zwischen Regierung und Bevölkerung in Form von Reformen und sozialer Gesetzgebung zu erreichern war.179 Auch in Indien prägte diese Prämisse die Bewertung der Arbeiterbewegung. Dieser wurde neben ihrer politischen Funktion als Sprachohr der arbeitenden Klassen auch eine bedeutende Rolle für die Information, Motivation, Bildung und Erziehung der Arbeiter zu mehr Selbstständigkeit und Effizienz zugesprochen.180 Zusammenarbeit und Wirtschaftlichkeit konnten dann zu einem höheren Lebensstandard führen und auf diese Weise auch das „stigma of being a nation of coolies“181 beseitigen. Aus reformerischer Sicht waren alle Mitglieder der Gesellschaft, die arbeitenden Klassen, Arbeitgeber, Intelligenz und Regierung, in der Pflicht, die neue sozioökonomische Ordnung aktiv zu gestalten. Das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit war vom Gesichtspunkt der nationalen Stärke untrennbar und ebenso wie in China die Solidarität aller Bürger gefragt. Zwischen den Fronten des revolutionären Kommunismus einerseits und dem gemäßigten Sozialismus der Reformer andererseits stand Jawaharlal Nehru. Als Nehru 1927 von einem zweijährigen Aufenthalt in Europa nach Indien 177 Rai: India’s Will to Freedom, 36–37. 178 Vgl. ebd., 39; N. C. Mehta: „The Genesis of Labour Unrest“, IR, Bd. 20, Nr. 4 (April 1919), 235–240. Siehe zur Haltung gegenüber dem wissenschaftlichen Sozialismus auch Mehrotra: So cialist Movement, 7. Jedoch machte der Erfolg der Sowjetunion besonders während der Depression in Indien Eindruck. Siehe Zachariah: Developing India, 7. 179 Vgl. Rai, India’s Will to Freedom, 172. Ähnlich B. K. Bhattarcharya: „Industrial Democracy“, MR, Bd. 31, Nr. 2 (Februar 1922), 141–143; Gangulee: India, 173–178, Visvesvaraya: Reconstructing India, 233–234; Wadia/Joshi: Wealth of India, 382. 180 „First All-India Trade Union Congress“, ISR, Bd. 31, Nr. 10 (November 1920), 167–168, hier 167. Es fehlte hier jedoch noch an Führungsarbeit. Wenngleich der indische Sozialismus nicht wie in Frankreich ein Phänomen der Bildungsschicht werden dürfe, so der Social Reformer, müsse diese die Führung der Arbeiterbewegung ergreifen. Vgl. „Labour movement in India“, ISR, Bd. 31, Nr. 11 (November 1920), 184–186; S. H. Jhabvala: „Trade Unions“, ISR, Bd. 33, Nr. 2 (September 1923), 20–21. 181 C. E. Low: „Possibilities of industrial development in the Central Provinces and Berar“, JIIL, Bd. 1 (Februar 1921), 3–16, hier 11–16; Jagdish Prasad: „The Standard of Living“, HR, Bd. 43, Nr. 260 (Mai 1921), 42–59.
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z urückkehrte, hatte sich seine politische Haltung radikalisiert.182 Ebenso wie Roy und Dutt war er davon überzeugt, dass ein politischer Machtwechsel in Indien nur dann von Bedeutung war, wenn er mit einer sozialen Neuordnung einherging.183 Auch für ihn war dieser Ordnungswechsel historisch bedingt. „History has never offered a more amazing paradox“, schrieb er 1933 vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise. „[T]echnical advance has gone far ahead of the existing social structure“.184 Aus der Ungleichzeitigkeit dieser Prozesse zog er den Schluss, dass der Kapitalismus sich selbst überlebt hatte und mit einer Ordnung ersetzt werden musste, die dem wissenschaftlichen Fortschritt besser entsprach. Als er 1936 in Lucknow zum zweiten Mal die Präsidentschaft des Nationalkongresses antrat, machte Nehru kein Geheimnis aus seiner sozialistischen Überzeugung: I am convinced that the only key to the solution of the world’s problems and of India’s problems lies in Socialism, and when I use this word I do so not in a vague humanitarian way but in the scientific, economic sense. Socialism is, however, something even more than an economic doctrine; it is a philosophy of life and as such also it appeals to me. I see no way of ending the poverty, the vast unemployment, the degradation, and the subjection of the Indian people except through Socialism. That involves vast and revolutionary changes in our political and social structure, the ending of vested interest in land and industry, as well as the feudal and autocratic Indian States system. That means […] the replacement of the present profit system by a higher ideal of co-operative service. It means ultimately a change in our instincts and habits and desires. In short, it means a new civilization, radically different from the present capitalist order.185
Angesichts des sozialistischen Gehalts seiner Antrittsrede interpretierte Dutt Nehrus Präsidentschaft als Zeitenwende.186 Tatsächlich wies der Kongress nicht zuletzt aufgrund Nehrus hartnäckiger Einflussnahme bereits seit Ende der 1920er Jahre eine stärkere Linksorientierung auf und verabschiedete mit der Karachi Resolution von 1931 ein soziales Wirtschaftsprogramm.187 Dutts Hoffnungen waren aber nur teilweise begründet: Erstens forderte Nehru zwar eine revolutionäre 182 S. Gopal: „Editorial Note“; in: ders. (Hg.): Selected Works of Jawaharlal Nehru, Bd. 3, Neu Delhi 1972. Nehrus Sozialismus war stark internationalistisch geprägt. Siehe Dietmar Rothermund: Nehru and Early Indian Socialism, Heidelberg 1966, 193. 183 Vgl. Jawaharlal Nehru: „Swaraj and Socialism“, in: Gopal (Hg.): Selected Works, 369–372, hier 371. 184 Jawaharlal Nehru: „Whither India“, in: ders.: India and The World, 39–63, hier 47, 50–55, 62. 185 Nehru: „Presidential Address, 1936“, 82–83. 186 R. Palme Dutt: „Left Nationalism in India“, TLM, Bd. 12, Nr. 10 (Oktober 1936), 635–638. 187 Repressive Maßnahmen der Briten, die Weltwirtschaftskrise und die faschistische Bedrohung verstärkten diesen Linkstrend zu Beginn der 1930er Jahre. Vgl. Mehrotra: Socialist Movement, 8–14. Nehru unterstützte auch die Sozialistische Kongresspartei, die 1934 gegründet wurde. Siehe Rothermund: Nehru, 107–109.
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Haltung ein, schloss aber jede Art von Gewalt und damit auch den Klassenkampf aus. Als Advokat von Demokratie und Freiheit lehnte er den Kommunismus ab und strebte vielmehr nach einem „kooperativen sozialistischen Gemeinwesen“.188 Wie im obigen Zitat deutlich wird, verstand Nehru den Sozialismus auch als Lebensphilosophie, die in einem solchen kooperativen Gemeinwesen den Weg zu einer gerechteren Gesellschaft leitete; in dieser moralisch-philosophischen Lesart des Sozialismus war weniger der Einfluss Lenins als derjenige Gandhis spürbar.189 Zweitens betonte Nehru in derselben Ansprache, dass er sich nicht in Konfrontation mit den konservativeren Kräften der Nationalbewegung begeben, sondern mit ihnen kooperieren wollte.190 Ansatzpunkte für eine gemeinsame Wirtschaftspolitik existierten über die geteilte Ablehnung des Klassenkampfes hinaus. Wie im vorigen Unterkapitel dargelegt, herrschte ebenso wie unter den chinesischen auch unter den meisten indischen Nationalisten ein Konsens darüber, dass das Land zur Lösung des Armutsproblems eines planenden Staates bedurfte. Nehrus Ideen zur Rekonstruktion des kapitalistischen Systems folgten dem planwirtschaftlichen Ansatz: Stellte das Ideal der sozialen Gerechtigkeit die Legitimationsgrundlage seines Sozialismus dar, so war der autonome Staat sein Organisationsprinzip.191 Nur der Staat konnte aus seiner Sicht Verteilungsgerechtigkeit garantieren. Ebenso wie im Fall Sun Yatsens orientierte sich Nehrus Staatssozialismus an den nationalen Bedürfnissen und lief letztlich auf eine Form des Wohlfahrtskapitalismus hinaus.192 Im direkten Vergleich fiel dennoch Nehrus freiheitlich-demokratische Grundüberzeugung stärker ins Gewicht. Der indische Staat, den er sich vorstellte, war kein autoritärer. Die Sowjetunion diente ihm als Vorbild für seine staatlichen Planungsprogramme, doch Gandhis wirtschaftliches Modell, das nicht die Zwänge des Kollektivs, sondern die Freiheit und Moral des Einzelnen
188 Vgl. Nehru: „Whither India“, 62–63. 189 Siehe Singh: Indian Political Thinkers, 203–204; Rothermund: Nehru, 98, 107. 190 Vgl. Nehru: „Presidential Address, 1936“, 84–85. Siehe auch Rothermund: Nehru, 104. Die konservativen Kräfte im Kongress betonten stets, dass der Privatbesitz geschützt bleibe; Gandhi forderte in erster Linie Geduld und Gewaltlosigkeit im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit. Vgl. Mehrotra: Socialist Movement, 16–18. 191 Vgl. Chatterjee: Nationalist Thought, 132–133. Vgl. zur Rolle des Staates in Nehrus Sozialismus Singh: Indian Political Thinkers, 207–208. Ein staatssozialistisches System, in dem der Staat die Rolle eines industriellen Unternehmers einnimmt und die Folgen des kapitalistischen Systems abfedert, schlägt auch C. V. H. Rao vor, der der britischen Labour Party nahestand. Vgl. C. V. H Rao: „State and Industrial Control“, TNE, Bd. 1, Nr. 6 (März 1929), 491–498, hier 493, 496. 192 R. V. Pillai: „The Political thought of Jawaharlal Nehru“, in: Pantham/Deutsch: Political Thought in Modern India, 260–274, hier 266–268. Dass Indien nicht den Modellen anderer Länder folgen musste, wird deutlich in Jawaharlal Nehru: „Presidential Address to the Congress, 1929“, in: ders.: India and the World, 13–38, hier 17.
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in den Mittelpunkt stellte, war sein ideeller Kompass. Gandhis Pläne dörflicher Rekonstruktion können als traditionalistisches Pendant zu sozialistischen Entwicklungsideen angesehen werden, die auf eine gemeinschaftliche Entwicklung in Kooperativen oder Gilden setzten statt auf staatlichen Direktivismus. 4.3.5 Das indische Dorf als Kooperative Gandhi sah die wirtschaftliche Zukunft seines Landes in seiner Vergangenheit. Der nationale Freiheitskampf war für ihn auch ein Kampf gegen die moderne, von Materialismus geprägte Gesellschaft. Seine Vision eines politisch freien und wirtschaftlich selbstständigen Indiens baute auf der Dorfgemeinschaft und traditionellen Produktionsmethoden auf. „Spinning and weaving“, also die häusliche Produktion eigener Stoffe und Kleidung, avancierte zum doppelten Symbol einerseits des politischen Widerstandes gegen Importe aus Großbritannien sowie andererseits einer wirtschaftlichen Strategie gegen Armut. Swadeshi, das Prinzip einer unabhängigen nationalen Ökonomie, dachte Gandhi radikal zu Ende.193 Die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen hatte dabei Priorität gegenüber wirtschaftlicher Gleichheit im marxistischen Sinn. Um soziale Gerechtigkeit zu realisieren, war laut Gandhi nicht Kampf, sondern Gewaltlosigkeit, nicht die Arbeiterklasse oder der Staat, sondern das Individuum gefragt. Das moralische Prinzip der Vormundschaft ersetzte jede Form der Ordnung und des Zwangs: In Gandhis Vorstellung übernahm der Einzelne in der dörflichen Gemeinschaft Verantwortung nicht nur für sein eigenes materielles Wohl, sondern auch für dasjenige seines Nächsten.194 Die durch körperliche Arbeit erzielten Profite und Erzeugnisse sollten der Gemeinschaft zugute kommen – nicht etwa durch Enteignungen und Kollektivierung, sondern durch einen freiwilligen Akt des Teilens und der gegenseitigen Hilfe. In der Beschränkung persönlicher Bedürfnisse, die hierfür notwendig war, sah Gandhi die moralisch-spirituelle Grundlage eines unmateriellen Wohlfahrtsdenkens. Wirtschaftliche Einfachheit konnte ihm zufolge das Armutsproblem besser lösen als der Einsatz moderner Maschinen, der Arbeitslosigkeit zur Folge hatte. Gandhis normative Ökonomie verband wirtschaftliche mit ethischen Prinzipien zu einer Einheit.195 193 Siehe etwa Goswami: Producing India, 239. 194 Zum Prinzip der Vormundschaft siehe Singh: Indian Political Thinkers, 166–170; Dasgupta: Indian Economic Thought, 142. 195 Im Kern dieser Ökonomie stand die Identifikation mit den Ärmsten. Siehe Thomas Weber: „Gandhi’s moral economics: The sins of wealth without work and commerce without morality“, in: Brown/Parel: Cambridge Companion to Gandhi, 135–153. Siehe auch Dasgupta: Indian Economic Thought, 133, 148–149.
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Gandhis Abwendung von der Industrialisierung und sein gleichzeitiges Festhalten an freien Markt- und Besitzstrukturen machten ihn aus der Sicht vieler indischer und westlicher Linker zu einer reaktionären Kraft. Für seine zahlreichen Anhänger wies Gandhis Weg dagegen in eine Zukunft frei von kapitalistischer Zerrüttung. „We must never try to rip out the past“, mahnte der Kirchenmann und Sozialreformer Charles Andrews, für den Gandhis Traditionalismus von einem progressiven christlichen Geist beseelt war. „The history of India cannot possibly be swept away and the industrial experience of Europe substituted for it.“196 Vielmehr müsse sich Indien wie von Gandhi vorgelebt auf die Stärken seiner wirtschaftlichen Vergangenheit besinnen und alte Produktionsmethoden in Landwirtschaft und Handwerk wiederbeleben – dies umso mehr, als auch westliche Soziologen neuerdings mit traditionellen wirtschaftlichen Strukturen, besonders den Gilden, experimentierten. Die Vorstellung, das wirtschaftliche System Indiens von den Dorfstrukturen her zu stärken, musste aber nicht zwangsläufig mit Antimodernismus einhergehen. Angesichts der Bedeutung der Landwirtschaft im wirtschaftlichen System Indiens spielte das Dorf als sozioökonomische Organisationseinheit schon in kolonialen Entwicklungskonzepten von John Stuart Mill bis Karl Marx eine zentrale Rolle und so auch in den Modernisierungsprogrammen der Zwischenkriegszeit.197 Der Ökonom Radhakamal Mukerjee setzte sich an der Universität von Lucknow mit der Verbesserung landwirtschaftlicher Produktionsmethoden und der Reform des Pachtsystems auseinander. Die Vergrößerung der Anbauflächen auf der Basis eines neuen Erb- und Besitzrechts schien ihm eine notwendige Voraussetzung dafür zu sein, dass die Landwirtschaft profitabel betrieben und damit das Problem der Verschuldung auf dem Land gelöst werden konnte.198 Die Rolle der Zamindars, der traditionellen Klasse der Landbesitzer, wurde als r eformbedürftig, wenn nicht
196 C. F. Andrews: „Christ and Labour“, YMI, Bd. 31, Nr. 12 (Dezember 1920), 714–715. Als Inbegriff der Einfachheit wies das indische Dorf für den Schriftsteller K. S. Venkataramani den Weg zur Rettung der Menschheit. Vgl. K. S. Venkataramani: „The Indian Village“, IR, Bd. 28, Nr. 10 (Oktober 1927), 651–654. 197 Goswami: Producing India, 63. Siehe zur Bedeutung des „economic regionalism“ in Indien auch Bayly: Recovering Liberties, 283–286. 198 Vgl. Radhakamal Mukerjee: „The Problem of Agricultural Labour in India“, MR, Bd. 36, Nr. 3 (September 1924), 256–261, hier 260–261. Eines der einflussreichsten Werke Mukerjees, The Rural Economy of India, erschien 1926 in London. Seine wissenschaftliche Herangehensweise an die Probleme der indischen Landwirtschaft beschrieb er in seiner Autobiographie: Radhakamal Mukerjee: India. The Dawn of a New Era, New Delhi 1997, Kapitel 11. Siehe zur Arbeit Mukerjees in diesem Zusammenhang auch Bayly: Recovering Liberties, 283–285.
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überflüssig bewertet.199 Mukerjee und seinen Anhängern ging es letztlich um eine grundlegende Neujustierung des Verhältnisses zwischen Stadt und Land durch die Stärkung ländlicher Kleinbauern und Kleinindustrien. Das Ziel der dörflichen Modernisierung motivierte den Agrarwissenschaftler Leonard K. Elmhirst, zusammen mit Rabindranath Tagore im westbengalischen Santiniketan das Institute of Rural Reconstruction aufzubauen. Der Brite hatte die Bekanntschaft des Dichters gemacht, als jener an der amerikanischen Cornell University sprach, wo er selbst studierte und arbeitete. „Progress must be from the bottom up“,200 betonte Elmhirst, der sich wie kein anderer in Asien, Europa und den USA für Tagores ländliche Entwicklungsprojekte stark machte. Die dörfliche Gemeinschaft solle nicht zu den „miserable days“ ihrer Vergangenheit zurückgeführt, sondern mit modernen Mitteln auf eine sichere Basis gestellt werden. Dazu gehörten ihm zufolge nicht nur neue landwirtschaftliche Methoden, sondern auch eine Reorganisation aller Bereiche des dörflichen Lebens: Einkauf und Verkauf, Produktion, Bewässerung und Hygiene. Um dieses Ziel zu erreichen, stellte sich Elmhirst eine frühe Form der Entwicklungsarbeit durch ausgebildete Dorfarbeiter vor, welche nicht nur sich selbst versorgen, sondern auch einen Dienst an der Gemeinschaft leisten und ihrer Arbeit damit einen höheren Sinn geben sollten.201 Das Prinzip der gegenseitigen Hilfe, das Elmhirst ins Zentrum seiner Entwicklungspläne stellte, spannte den Bogen einerseits zu Gandhis Wirtschaftsethik, andererseits bildete es auch den Kerngedanken der sozialistischen Produktionsund Konsumkooperativen. Wie in Europa und den USA fanden diese in Indien als alternatives Organisationsprinzip landwirtschaftlichen Zusammenlebens und -arbeitens Anklang. Definiert als eine Gruppe von Menschen „working in mutual effort for some improvement, all taking part on an equal footing“,202 formten Kooperativen im Idealfall eine Mikrogesellschaft, in der Gewinnstreben und Wettbewerb durch Gleichheit und Gemeinschaftsgefühl ersetzt wurden. Sie stellten ein sozioökonomisches System in Aussicht, das zwei essentielle Prämissen zu e rfüllen 199 Das System der Zamindars sollte entweder gänzlich ausgeschaltet werden, um das Land den Bauern direkt zugänglich zu machen, oder aber nach dem Vorbild des englischen Landadels reformiert werden. Vgl. N. C. Sengupta: „Some Problems of agricultural and economic reorganization“, MR, Bd. 39, Nr. 5 (Juni 1926), 623–631, hier 629–630, und B. G. Bhatnagar: The Basis of Indian Economy, Allahabad 1925, 129–143. 200 L. K. Elmhirst: „The Robbery of the Soil“, MR, Bd. 32, Nr. 4 (Oktober 1922), 437–443, hier 441. Siehe auch Krishna Dutta/Andrew Robinson: Rabindranath Tagore. The Myriad-Minded Man, London 1995, 241–242, sowie Krishna Kumar: Political Agenda of Education. A Study of Colonialist and Nationalist Ideas, New Delhi 1991, 165. 201 Vgl. Elmhirst: „Robbery of the Soil“, 438, 441. 202 C. F. Strickland: „The Cooperative Movement in the East“, JRIIA, Bd. 11, Nr. 6 (November 1932), 812–832, hier 815.
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schien: Nicht nur konnten die Fehler des westlichen Kapitalismus vermieden, sondern gleichzeitig auch „the Indian type and spirit“203 bewahrt werden. Aus der Sicht linksorientierter indischer wie westlicher Beobachter konnten Kooperativen auf dem traditionellen Dorfsystem Indiens besonders leicht aufbauen. „The Indian leans upon his family, his village, his community“, so äußerte sich etwa Ramsay MacDonald. „To him the virtues of co-operation and the spirit of interdependence are an inheritance and not an acquired habit.“204 Auf der Basis dieses überlieferten „sozialen Geistes“ in den Dörfern schien der Sozialismus in Indien nicht nur schneller etablierbar als im Westen, sondern auch eine neue, vom Sowjetsystem zu unterscheidende Form herauszubilden: ein Sozialismus nicht „top-down“, sondern „bottom-up“, der sich aus auch für andere asiatische Länder und besonders China anzubieten schien.205 Gerade in seiner dezentralen Struktur schien demnach der entscheidende Vorteil des kooperativen Sozialismus für Indien zu liegen. J. W. Petavel, Soziologe an der Universität von Kalkutta, stellte diesen Aspekt in seinen Vorlesungen ebenso heraus wie die Mitglieder der Congress Socialist Party, die 1934 in Abgrenzung zu Kommunismus und Traditionalismus vom linken Flügel des Nationalkongresses gegründet wurde.206 Die Debatte um nichtstaatliche, im direktesten Sinne von den Massen kommende und kontrollierte wirtschaftliche Entwicklung, die weniger dem Ziel staatlicher Wirtschaftskraft als der unmittelbaren Armutsbekämpfung diente, wurde in Indien mit besonderer Vehemenz ausgetragen. Die europäischen Denkströmungen des Syndikalismus, Gildensozialismus und kooperativen Sozialismus übten nicht zuletzt deshalb einen so starken Einfluss sowohl auf indische Intellektuelle als auch auf westliche Beobachter Indiens aus, weil eine dezentrale Wirtschaftsstruktur der kommunitaristisch geprägten indischen Gesellschaft zu entsprechen schien. So wurde die Idee des starken Staates in politischen und wirtschaftlichen Aufstiegsprognosen für Indien von Gandhis starkem Einfluss austariert. 203 L. N. Govindarajan: „The Future of Cottage Industries“, HR, Bd. 47, Nr. 278 (Oktober 1923), 60–62, hier 61. Für Govindarajan stellten die Kooperativen v. a. eine geeignete Organisationsform für die traditionellen cottage industries dar. Ein Programm zur Unterstützung der cottage indus tries fordert auch D. D. Sapat: „Home Industries“, IR, Bd. 24, Nr. 7 (Juli 1923), 439–440. 204 MacDonald: Government of India, 281. In diesem Sinne auch Wadia/Joshi: Wealth of India, 161–162, und „The Co-operative movement“, YI, Bd. 3, Nr. 10 (Oktober 1920), 228–231. 205 Vgl. H. F. Ward: „The Comparative Influence of Current Thought in Russia and India upon the Future Development of Asia“, CSPSR, Bd. 9, Nr. 3 (Juli 1925), 543. Vgl. auch Annie Besant: „Socialism in India“, UI, Bd. 1, Nr. 7 (November 1919), 105–106, und D. G. M. Leith: „Christ and Social Reconstruction“ [2], YMI, Bd. 30. Nr. 5 (Mai 1919), 272–275. 206 Vgl. Petavel: Self-Government, 77–78. Wadia betonte dagegen, die kooperative Bewegung könne eine kluge staatliche Politik nicht ersetzen. Vgl. Wadia/Joshi: Wealth of India, 310. Zur Congress Socialist Party siehe Mehrotra: Socialist Movement, 42.
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4.3.6 Ländliche Entwicklung und kooperative Bewegung in China Es brauchte jedoch keinen Gandhi, um zu sehen, dass auch in China ein Großteil der Bevölkerung von der Landwirtschaft abhängig war. „China is a country whose structure of civilization has for centuries stood upon the vast foundations of her agriculture“, schrieb der amerikanische Agrarwissenschaftler und presbyterianische Missionar John L. Buck. „[I]n this day of her rebuilding it is pertinent for those interested in her future development to study as intensively as possible what part agriculture must play in the new China that is to come.“207 John Buck, dessen erste Ehefrau Pearl 1931 mit ihrem Roman The Good Earth das amerikanische Bild des „fleißigen Chinesen“ prägte, hatte seine Ausbildung ebenso wie Elmhirst an der Cornell University absolviert. Bevor er 1920 eine Professur an der Universität von Nanjing antrat, hatte er bereits einige Jahre Missionarsdienst im ländlichen China absolviert. Mit seinen Lehrveranstaltungen betrat er Neuland: „Agricultural economics“, „farm management“, „rural sociology“ oder „farm engineering“ waren in dieser Form bisher weder in den USA noch in China gelehrt worden.208 Mit seinen Studenten unternahm John Buck umfassende statistische Erhebungen landwirtschaftlicher Kleinbetriebe in China und kam dabei zu ähnlichen Ergebnissen wie Analysten in Indien: Der niedrige Lebensstandard auf dem Land war vor allem auf kleine, unprofitabel betriebene Anbauflächen zurückzuführen. Maßnahmen für höhere Produktivität, etwa durch den Einsatz moderner Maschinen oder auch eine urbane Industrialisierung im großen Stil,209 waren für ihn nur Teil der Lösung; um den Druck auf die schnell wachsende ländliche Bevölkerung zu mindern, setzte er auf größere Anbauflächen, auf eine Ausweitung arbeitsintensiver anstatt -sparender Anbaumethoden und auf den Ausbau industrieller Produktion, „on a scale small enough to be managed in the home, very much as she has in the past, rather than in large centers such as one finds in the Occident“.210 Die starke landwirtschaftliche Basis Chinas brauchte
207 J. L. Buck: „Agriculture and the Future of China“, AAAPSS, Bd. 152 (November 1930), 109– 115, hier 109. 208 Siehe R. E. Stross: The Stubborn Earth. American Agriculturalists on Chinese Soil, 1898–1937, Berkeley 1989, 161–162. Zum Wirken John Bucks in China auch Trescott: Jingi Xue, 167–183. 209 Vgl. O. E. Baker: „Agriculture and the Future of China“, FA, Bd. 6, Nr. 3 (April 1928), 483–497. 210 Buck: „Agriculture“, 113. Chinesische Beiträger in der „Agricultural Number“ der Chinese Students’ Monthly setzten dagegen entweder auf wissenschaftliche Methoden, Bildung und Tierhaltung oder aber auf die Kolonisation benachbarter Gebiete. Vgl. D. Y. Lin: „Some Economic Features of Chinese Agriculture“, CSM, Bd. 21, Nr. 4 (Februar 1926), 4–7, hier 6–7, und F. H. Liu: „Revolutionizing the existing agricultural practices in China“, CSM, Bd. 21, Nr. 4 (Februar 1926), 35–44.
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aus dieser Sicht ebenso wie in Indien Lösungskonzepte, die auf den traditionellen wirtschaftlichen Methoden aufbauten.211 Neben dem Ungleichgewicht zwischen Bevölkerungswachstum und Anbaufläche litten die chinesischen Bauern besonders unter Kapitalmangel und unvorteilhaften Verkaufsstrukturen. Ein Blick nach Europa und nach Indien, wo erfolgreich mit Genossenschaftskooperativen experimentiert worden war, überzeugte Buck, dass eine kooperative Bewegung auch in China von großem Nutzen sein konnte; nicht nur im Hinblick auf ihre wirtschaftliche, sondern auch ihre erzieherische Funktion zu mehr Selbstständigkeit, Demokratie und Moral. Mit den Geldern der amerikanischen Famine Relief Commission finanzierte er die erste Kreditkooperative nach europäischem Vorbild in Nanjing.212 Nur wenn die kleinen Familienfarmen aufgegeben würden und sich die Bauern basierend auf den Prinzipien der Selbsthilfe und gegenseitigen Hilfe stattdessen selbst organisierten, so das Hauptargument der Kooperativen-Bewegung, konnte Chinas Landwirtschaft modernisiert und die riesige ländliche Bevölkerung effektiv regiert werden.213 Stellte ein solches Wirtschaftssystem auch für Chinas nationalistische Führungselite eine gangbare Strategie für wirtschaftliches Wachstum dar? Zwar sah der Vordenker einer nationalen Ökonomie, Sun Yatsen, in der Verteilungsfunktion der Konsumentenkooperativen ein wichtiges Mittel zur Generierung des „Volkswohls“ und zur sanften sozioökonomischen Transformation. Da der angestrebten „Aufholjagd“ gegenüber den großen Industrienationen mit neuen landwirtschaftlichen Methoden jedoch nur ansatzweise gedient schien, bevorzugten er und seine Nachfolger in der Partei die urbanen industriellen Zentren gegenüber den ländlichen Gebieten.214 Damit stand die Nationalregierung nicht nur auf Konfrontationskurs zu den akademischen und missionarischen Kreisen um John Buck und später seinem Nachfolger an der Universität von Nanjing, Paul C. Hsu (Xu Cheng); auch unter den ländlichen Eliten, innerhalb der eigenen Partei und besonders bei den Kommunisten fanden sich Fürsprecher einer dezentralen wirtschaftlichen Modernisierung Chinas von den Dörfern her. Diese Interessengruppen sorgten dafür, dass das Ideal und die Praxis der landwirtschaftlichen
211 Ähnlich stellte auch der Brite J. B. Tayler, Professor für Ökonomie an der Yenching Universität, auf kooperativer Basis organisierte „small scale industries“ ins Zentrum seines Entwicklungsprogramms für China. Vgl. J. B. Tayler: „A program for The Chinese Economic Society“, CSPSR, Bd. 110, Nr. 4 (Oktober 1926), 845–859. 212 Stross: The Stubborn Earth, 167–168. Vgl. auch J. A. Reisner: „Wanted: Rural Leaders for China“, CSM, Bd. 21, Nr. 4 (Februar 1926), 11–12. 213 Siehe Yichin Chen: The Guomindang’s Approach to rural socioeconomic problems. China’s rural cooperative movement, 1918–1949, Washington 1995, 11. 214 Siehe Trescott: Jingji Xue, 54.
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Kooperativen auch im China der Republikzeit nicht ohne politische Wirkung blieben, wenn sie auch nie die Stoßkraft einer Massenbewegung erreichten. Nicht zuletzt angesichts der radikalen Landreformen, die in den kommunistisch besetzten Gebieten durchgeführt wurden, fehlten Vorschläge für die ländliche Entwicklung in keinem Programm der „nationalen Rekonstruktion“.215 Dass diese Politik zumindest in der Nanjing-Dekade weitgehend erfolglos blieb, wird in der historischen Forschung oft als Grund für die Entfremdung der Nationalisten von der ländlichen Bevölkerung gedeutet, die zum Sieg der Kommunisten beitrug.216
4.4 Fazit Es lassen sich zwei zentrale Prämissen ausmachen, die in der Zwischenkriegszeit wirtschaftliche Modernisierungsideen für China und Indien entscheidend prägten: Erstens standen Ideen für eine wirtschaftliche Zukunft der beiden Länder unter dem Eindruck einer moralischen Krise des Kapitalismus. Eine Kritik westlichen Gewinnstrebens und Materialismus, gepaart mit sozialem Reformeifer, durchzog die wirtschaftlichen Entwicklungsprogramme journalistischer, wissenschaftlicher und politischer Provenienz: Das Versprechen eines starken Industriestaates China oder Indien durfte nicht – wie offensichtlich in Großbritannien und den USA geschehen – auf Kosten der Arbeiter erfüllt werden; wirtschaftliches Wachstum galt es direkt in Wachstum des Konsums in der gesamten Bevölkerung zu überführen und den ersten Anzeichen einer sich durch die Industrialisierung noch verstärkenden sozialen Ungleichheit entschieden entgegenzusteuern. Gemäßigt-reformerische Ansätze des sozioökonomischen Wandels dominierten in den 1920er und 1930er Jahren noch radikal-revolutionäre: Deutlich spürbar war der Einfluss der europäischen Sozialdemokratie und des amerikanischen Progressivismus nicht nur auf die chinesische und indische Intelligenz, sondern auch auf westliche Autoren, die über die beiden Länder berichteten oder selbst dort tätig waren. Ein sozio-politisches Mobilisierungspotential wurde auf die nationalen Bewegungen beider Länder projiziert, ohne jedoch mehrheitlich die soziale Revolution gegenüber der nationalen zu priorisieren. Der Sozialismus war in aller Munde, aber selten in seiner marxistischen, noch seltener in seiner bolschewistischen Auslegung: In China und Indien, wo die Armut der ländlichen Bevölkerung eine Tatsache war, musste die soziale Frage aus der Sicht vieler Analysten pragmatisch angegangen werden, ohne den Ballast 215 Siehe Zanasi: Saving the Nation, 10, sowie Trescott: Jingji Xue, 55. Vgl. etwa Wang: China’s Problems, 24; Sze: „Reconstruction“, 261; Kuo/Soyeshima: Oriental Interpretations, 124; T’ang: New Social Order, 246–247. 216 Siehe Chen: Guomindang’s Approach, 39–40.
4 Entwicklung zwischen Kapitalismus, Sozialismus und staatlicher Planung
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der politischen Doktrin; sie musste dem konkreten Ziel des nationalen Fortschritts dienen, nicht dem abstrakten Ziel eines gesellschaftlichen Idealzustands. Die soziale Entwicklung Indiens und Chinas wurde oft mit dem Verweis auf die nationale Kultur propagiert und legitimiert. War der Sozialismus eine europäische Ideologie, so galt das Ideal der sozialen Gerechtigkeit als universal und in dem Maße wandel- und formbar, dass es im indischen und chinesischen Kontext an die ländlichen Bedürfnisse angepasst werden konnte; handelte es sich bei den Produktionskooperativen um ein importiertes Konzept, galt das keineswegs für die ihnen zugrunde liegende Gemeinschaftsethik: Eine sozial gerechte Wirtschaftsordnung konnte aus der Sicht der Modernisierer in beiden Ländern auf traditionelle Strukturen und Normen aufbauen, traf hier also auf besonders günstige Bedingungen. Die breite landwirtschaftliche Basis, die den Status der Länder als „unterentwickelt“ definierte, konnte in einen Vorteil umgedeutet werden. Zweitens standen auch wirtschaftliche Entwicklungsentwürfe unter dem Eindruck des antiimperialistischen Nationalismus. Ob man sich eine Industrialisierung im großen Stil, geplant und ausgeführt durch einen starken Staat, vorstellte oder aber eine dezentrale wirtschaftliche Modernisierung von den Dörfern her, in den meisten Fällen hatten Analysten und Planer nicht nur wirtschaftliches Wachstum und die Lösung des Armutsproblems im Sinn, sondern darüber hinaus (und untrennbar damit verbunden) die nationale Emanzipation und Autonomie. Sun Yatsens International Development of China stellte ebenso einen Entwurf nationaler politischer Ökonomie dar wie konservative oder sozialistische Ideen einer Dorfwirtschaft. Aus westlicher Sicht wurden wirtschaftliche Nationalisierungstendenzen einerseits anerkannt; andererseits fand sich häufig der Versuch, die als imperialistische Einflussnahme kritisierten ausländischen Interessen als Ansatzpunkt produktiver Zusammenarbeit umzudeuten. Jedoch stellen sich auch die wenigsten indischen und chinesischen Autoren ihr Land zukünftig isoliert von ausländischen Wirtschaftskräften vor. Es galt vielmehr, Handlungsspielräume frei zu halten, um auf die spezifischen Bedürfnisse ihrer Länder flexibel reagieren zu können. Es wird damit ersichtlich, dass die Idee der wirtschaftlichen Modernisierung für den zukünftigen Aufstieg Chinas und Indiens selten bei jenem Kernkonzept der westlichen wirtschaftlichen Moderne stehenblieb: der Industrialisierung. Unter dem Eindruck kritischer Wirtschaftstheorien von List bis Marx, der eigenen nationalen Prioritäten sowie der gegebenen wirtschaftlichen Bedingungen sollten Indien und China nicht primär der wirtschaftlichen Stärke Großbritanniens und den USA nacheifern – obwohl dies für viele westliche wie asiatische Autoren ein wichtiger Antriebsfaktor blieb; in erster Linie ging es darum, durch die Berücksichtigung politischer und gesellschaftlicher Prioritäten die wirtschaftliche Theorie und Praxis weiterzuentwickeln und damit in eine neue, noch progressivere wirtschaftliche Moderne einzutreten.
5 Der Mensch in der Moderne: Kultur und Gesellschaft im Wandel Eine politische und wirtschaftliche Transformation, wie sie die Modernisierer der Zwischenkriegszeit für Indien und China projektierten, setzte ebenso weitreichende Veränderungen im kulturellen und gesellschaftlichen Leben voraus. Für den Übergang in die Moderne schien eine neue Lebens- und Denkart vonnöten. Anzeichen einer kulturellen und gesellschaftlichen Modernisierung der beiden Länder offenbarten sich nicht zuletzt in der Neuformierung sozialer Strukturen, insbesondere in den Städten:1 Im Ausland ausgebildete Akademiker prägten das urbane intellektuelle Leben und agierten als politische Aktivisten; die Rolle der Frau wurde neu verhandelt; Arbeiter organisierten sich in Gewerkschaften; Unternehmer kamen in der städtischen Gesellschaft zu Einfluss. Viele Beobachter bewerteten die Veränderungen in der traditionellen Gesellschaftsstruktur Indiens und Chinas positiv im Sinne des Fortschritts der beiden Länder: Frauen, Studenten und andere gesellschaftliche Gruppen konnten für den Aufbau einer modernen Zivilgesellschaft wichtige Funktionen einnehmen. Die Befreiung der ländlichen Bevölkerung von sozialen Zwängen durch Reformen war für einige westliche und asiatische Autoren gleichbedeutend mit nationaler Befreiung. Zum wichtigsten Instrument der sozialen Reform wurde die Bildung erhoben: Von der Massenbildung in den Dörfern über die berufliche Bildung bis zur höheren Bildung in den Städten und im Ausland galt sie als Basis der nationalen Regeneration und damit als Grundelement jeder glaubwürdigen Aufstiegsprognose. Sie ermöglichte nicht nur dem Einzelnen, seine sozioökonomische Situation zu verbessern, sondern der Gesellschaft als Ganzes, ihr volles Potential zu entfalten; sie vermittelte nicht nur Faktenwissen für sozialen, politischen und wirtschaftlichen Fortschritt, sondern das moderne Denken als solches. Das moderne Denken – verstanden als unabhängiges und kritisches Denken mit den Mitteln der modernen Wissenschaften für eine Neubewertung der Tradition – musste vielen Autoren zufolge durch eine „intellektuelle Revolution“ nach dem Vorbild der europäischen Renaissance und Aufklärung in China und Indien
1 Dies trifft für den chinesischen Kontext besonders zu. Eine Untersuchung der Entwicklungen in der städtischen Gesellschaft Chinas, insbesondere des Verhältnisses zwischen Bourgeoisie und Politik, findet sich bei Marie-Claire Bergère: „The Chinese Bourgeoisie, 1911–37“, in: Fairbank: Cambridge History of China, 722–825. Für den indischen Kontext weist Judith Brown darauf hin, dass es zwar keine radikalen Veränderungen der sozialen Struktur gab, dass sich aber neue soziale Gruppen herausbildeten, die mit den traditionellen Strukturen in einem Austauschverhältnis standen. Brown: Modern India, 240–241. DOI 10.1515/9783110464382-005
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erst erschaffen werden. Nur so schienen die Gesellschaften dieser Länder den materiellen Wandel in die richtigen Bahnen lenken und seine negativen Effekte verarbeiten zu können. „Unless China is to be rent asunder, even more than its neighbor, Japan, is spiritually rent today“, mahnte John Dewey 1921 in einem Aufsatz für das amerikanische Magazin Asia, „changes of thought, of belief, of outlook on the world must come too. A new mind must be created“.2 Dabei stellte sich sogleich die Frage nach der Quelle geistiger Erneuerung. Für die wenigsten Autoren war sie so eindeutig verortbar wie für einige Missionare und ihre asiatischen Partner im Christentum. In jedem Fall aber basierte für die Mehrheit der Autoren ein neues Denken nicht auf einer totalen Abkehr von Traditionen, sondern auf der Erneuerung der Tradition durch kreative Verbindung mit westlichen Ideen, Werten und Methoden. Der kulturelle Konservatismus, der sich häufig unter chinesischen und indischen Intellektuellen fand, ist nicht als Gegendebatte, sondern als integraler Teil des Modernisierungsdiskurses zu bewerten.3
5.1 Neue Fragen, neue Antworten: Intellektuelle und moralische Erneuerung 5.1.1 Eine Renaissance für China In the early days we wanted to be modern, but we were afraid of losing the other things which we were told were good. We have been constantly flattered, even by missionaries, that we were heirs to a great heritage, and we were adjured to cherish it and cling to it – at whatever cost. Even to-day we are hypnotized continually by praises of our old civilisation. We want to be modernised, and we are expected to become modern. But at the same time we are requested not to lose what we have. We are expected to perform a miraculous task – to change and to remain the same.4
In seinem Vortrag „The Renaissance in China“ im Londoner Royal Institute of International Affairs erläuterte der einflussreichste Philosoph und Liberale im China seiner Zeit, Hu Shi, dem britischen Publikum das Dilemma der kulturellen
2 Dewey: „China old and new“, 446. 3 Siehe etwa Charlotte Furth: „Culture and Politics in Modern Chinese Conservatism“, in: dies. (Hg.): The Limits of Change. Essays on Conservative Alternatives in Republican China, Cambridge, MA/London 1976, 22–53, hier 47. 4 Hu Shi: „The Renaissance in China“, JRIIA, Bd. 5, Nr. 6 (November 1926), 265–283, hier 271.
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Modernisierung seines Heimatlandes. Dieses Dilemma war bereits in der kulturellen Reformbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts offenbar geworden, die auf das ti-yong-Prinzip der partiellen Modernisierung gesetzt hatte: Vor allem die militärischen Fähigkeiten des Westens mussten erlernt, gleichzeitig aber die als überlegen erachtete chinesische Kultur bewahrt werden, um das nationale Überleben zu sichern.5 Mit dieser konservativen Haltung konnten Staatsreformer wie Kang Youwei und Liang Qichao jedoch weder das Ende der Qing-Dynastie in der Revolution von 1911 noch das Scheitern der Republik unter der reaktionären Herrschaft Yuan Shikais verhindern. Vor diesem Hintergrund erteilten Intellektuelle im Umkreis der BeijingUniversität (Beida) der Kompromissformel ti yong eine Absage.6 Es waren unter anderem Hu Shi, der hier Philosophie lehrte, sowie Chen Duxiu, Dekan der School of Letters, die neue Ideen und Perspektiven von Auslandsaufenthalten mitbrachten und anders als die vorausgehende Intellektuellen-Generation an der prinzipiellen Überlegenheit der traditionellen chinesischen Kultur zweifelten.7 Seit etwa 1915 bildeten sie die Avantgarde einer kulturellen Reformbewegung, die sich in Zeitschriften wie New Youth, New Tide und New Life artikulierte und das intellektuelle Leben in den chinesischen Städten prägte.8 Nur eine neue Literatur und mit ihr ein neues Denken und eine neue Moral konnten aus der Sicht der Kulturreformer die Gesellschaft regenerieren, um auf diesem Weg auch die existentielle Staatskrise zu überwinden.9 Im Fahrwasser der Neuen Kulturbewegung, die vor allem auf die Etablierung neuer literarischer und sprachlicher Formen zielte, formierte sich 1919 die 4.-Mai-Bewegung. Von studentischem Aktivismus
5 Zum Changieren der frühen Reformer zwischen Tradition und Moderne siehe Schwartz: „May Fourth and After“, 112. 6 Zur Bedeutung der gescheiterten Revolution von 1911 für die Bewegung Vera Schwarcz: The Chinese Enlightenment. Intellectuals and the Legacy of the May Fourth Movement of 1919, Berkeley 1986, 34–38. 7 Die Beijing-Universität erlangte immense Bedeutung als Ort gesellschaftlicher Einflussnahme der intellektuellen Elite. Siehe T. B. Weston: The Power of Position. Beijing University, Intellectuals, and Chinese Political Culture, 1898–1929, Berkeley 2004, 8–9, sowie Zhang: „Hu Shi über die chinesische Kultur“, 292. 8 Während sich die urbane Bevölkerung zunehmend den unterschiedlichsten Denkströmungen ausgesetzt fand, lebte die Mehrheit der chinesischen Bevölkerung jedoch immer noch mit den alten Denktraditionen. Siehe Schwartz: „May Fourth and After“, 99. 9 Siehe Charlotte Furth: Ting En-chiang. Science and China’s New Culture, Cambridge 1970, 4, sowie Lin Yu-sheng: The Crisis of Chinese Consciousness. Radical Antitraditionalism in the May Fourth Era, Madison/London 1979, 26. Der bedeutendste Vertreter der „Neuen Literatur“ mit ikonoklastischem Programm war Lu Xun. Siehe Eva Shan Chou: Memory, Violence, Queues. Lu Xun Interpretes China, Ann Arbor 2012, 1–2.
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geprägt, verlieh diese dem kulturellen Reformismus eine sozio-politische Stoßrichtung: Es gab „masses to educate, women to emancipate, schools to reform“.10 Der Begriff der Renaissance, mit dem Hu Shi die kulturelle Reformbewegung junger Studenten und ihrer Lehrer bezeichnete, ist missverständlich. Anders als in Europa zielte die Bewegung nicht auf eine Wiedergeburt antiker Kultur in der Gegenwart, da diese keine Antworten auf die existentiellen Fragen der Gegenwart bereitzustellen schien. Im Sinne der Kulturreformer meinte Wiedergeburt vielmehr die Emanzipation und Freiheit des Individuums von den „out-of-date evils of the old China“:11 den alten Bräuchen, Denkweisen, Loyalitäten, politischen Strukturen sowie der alten Sprache und Unterwerfungskultur. Grundsätzlich ikonoklastisch, ging es der Bewegung damit um die Schaffung einer verjüngten, modernen Kultur. Das Moderne war aus dieser Sicht nicht nur fortschrittlicher als das Alte, sondern sicherte in einem darwinistischen Sinn auch die internationale Konkurrenzfähigkeit Chinas. Eine solche moderne Kultur konnte in China aus der Sicht Hu Shis und anderer nur durch eine kritische Werteprüfung im Lichte der westlichen Zivilisation entstehen, als deren Kern man neben Demokratie auch die modernen Wissenschaften betrachtete.12 Erst das wissenschaftliche Denken habe die moderne Welt zu einem Zeitalter der Aufklärung und der Wahrheitssuche gemacht, schrieb Sophia H. Chen Zen (Chen Hengzhe), eine der einflussreichsten Denkerinnen im China der Republikzeit und eines der wenigen weiblichen Mitglieder des IPR.13 10 Hu Shi zitiert in Schwartz: „May Fourth and After“, 119. Das Verhältnis der beiden Bewegungen zueinander wird unterschiedlich analysiert. Sabine Dabringhaus spricht von verschiedenen Phasen der Kulturbewegung, wobei die erste Phase (1915–1919) mit dem 4. Mai 1919 zu einem Abschluss kam. Siehe Dabringhaus: Geschichte Chinas, 84–85. Joseph Chen legt in seiner Arbeit großen Wert auf die Unterscheidung zwischen der intellektuellen Agenda der Neuen Kulturbewegung und der politischen der 4.-Mai-Bewegung. Siehe Chen: May Fourth, ix. Chow Tse-tung dagegen betont, dass die 4.-Mai-Bewegung intellektuelle mit politischen und sozialen Aspekten vereinte und deshalb breiter anzulegen ist. Unter Zeitgenossen sei die Studentenbewegung entweder als Teil der Neuen Kulturbewegung angesehen (wie etwa von Hu Shi) oder mit ihr identifiziert worden. Siehe Chow: May Fourth Movement, 2–5. Auch Rana Mitter vertritt ein breites Verständnis von „Kultur“ im Kontext des 4. Mai als Nachdenken über „identities, understandings, assumptions, systems of shared comprehension“. Siehe Mitter: Bitter Revolution, 18. 11 J. K. Fairbank: China. A New History, Cambridge, MA/London 1992, 268. Siehe zum Ikonoklasmus der Bewegung v. a. Mitter: Bitter Revolution, 108–110, sowie Pusey: China and Charles Darwin, 437. 12 Vgl. etwa Hu Shi: „Renaissance in China“, 272. Timothy Westen betont jedoch, dass die Neue Kulturbewegung auch über konservative Strömungen verfügte, etwa das Festhalten an der Autorität der intellektuellen Elite. Siehe Weston: Power of Position, 9. 13 Vgl. S. H. Chen Zen: „Science. Its Introduction and Development in China“; in: dies. (Hg.): Symposium on Chinese Culture, Shanghai 1931, 142–151, hier 150–151. Vgl. Koo: „China in the Remaking“, 11.
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In dem Maße, wie die Reformbewegung Skeptizismus und Rationalität zu den wichtigsten Mitteln der intellektuellen Erneuerung, Voltaire und Descartes zu ihren Helden erklärte, konnte sie auch als Strömung der europäischen Aufklärung interpretiert werden, die mit einiger Verzögerung nun auch China erreicht hatte.14 Tatsächlich wurden beide Begriffe – Aufklärung und Renaissance – im Sinne einer intellektuellen Revolution für ein modernes China meist synonym gebraucht. Die Überlegenheit der westlichen Kultur, die man seit 1911 nicht mehr vorrangig auf militärische und politische Strukturen, sondern auf die Fähigkeit zu Analyse und Kritik und einer daraus resultierenden Handlungsdynamik zurückführte,15 war aus dieser Sicht durch eine „Modernisierung des Denkens“ einzuholen. Das Bedürfnis vor allem der jungen Generation, China mit Hilfe westlicher Wissenschaften und Philosophie zu neuer Größe zu verhelfen, sei ebenso groß wie die intellektuellen Fähigkeiten der Chinesen, dieses Ziel zu verwirklichen, erklärte Alfred Sze in einer Rede vor der American Association of Political and Social Sciences.16 Mit dem wissenschaftlichen Rationalitäts- und Fortschrittsglauben trat ein positives Zukunftsbild neben die Krisenstimmung unter Chinas Intellektuellen.
5.1.2 Chinesische Renaissance zwischen Revolution und Reaktion Die jungen Intellektuellen, welche die Auseinandersetzung mit westlichen Ideen – dabei besonders Liberalismus, Pragmatismus, Utilitarismus, Anarchismus und Sozialismus – zur Voraussetzung für die kulturelle und soziale Transformation Chinas machten, setzten sich aus der Sicht konservativer Denker dem Vorwurf des kulturellen Verrats aus.17 Wie die historische Forschung zeigen konnte, handelte es sich beim chinesischen Konservatismus um ein komplexes Phänomen, das mit dem Begriff des Antimodernen nicht hinreichend charakterisiert werden kann. Wenngleich von liberalen und linksradikalen Denkern und Aktivisten oft als unprogressiv und unmodern verurteilt, war der Konservatismus
14 Vgl. S. H. Chen Zen: „Summary of China’s Political and Cultural Problems“, in: dies. (Hg.): Symposium on Chinese Culture, Shanghai 1931, 305–316, hier 306. Siehe zur Charakterisierung der Neuen Kulturbewegung als Renaissance bzw. als Aufklärung auch Chow: May Fourth Movement, 338–341. 15 Besonders deutlich etwa bei Chai-Hsuan Chuang: Tendencies toward a democratic system of education in China, Shanghai 1922, 41. Siehe Meißner: China, 5–7. 16 Sze: „Future of Chinese Democracy“, 245. Vgl. Sao-ke Alfred Sze: „The Chinese Development of China“, CSM, Bd. 16, Nr. 7 (Mai 1921), 469–472, hier 471. 17 Siehe etwa Schwarcz: Chinese Enlightenment, 4.
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von Nationalismus und sozio-politischem Reformdenken durchdrungen; traditionelle Werte sollten vor dem Hintergrund neuer Herausforderungen revitalisiert werden.18 Dennoch beharrten neo-traditionalistische Intellektuelle stets auf der spirituellen Überlegenheit der chinesischen gegenüber einer auf Materialismus und Mechanisierung reduzierten westlichen Zivilisation.19 Modernisierer wie Hu Shi reagierten auf die Haltung der Konservativen mit zwei Strategien: Zum einen galt es, die Idee der mangelnden Spiritualität westlicher Zivilisation zu widerlegen. Jede Zivilisation – definiert als „the forms through which the life of a given civilization is expressed“20 – hatte Hu zufolge sowohl materielle (natürliche) Kräfte als auch spirituelle Quellen (intellektuelle Fähigkeiten und Gefühle). Den Ursprung der westlichen Spiritualität sah er in den Wissenschaften und dem Drang, die Natur zu kontrollieren: [T]hat civilization which makes the fullest possible use of human ingenuity and intelligence in search of truth in order to control nature and transform matter for the service of mankind, to liberate the human spirit from ignorance, superstition, and slavery to the forces of nature, and to reform social and political institutions or the benefit of the greatest number – such a civilization is highly idealist and spiritual. This civilization will continue to grow and improve itself.21
Eine rückständige Gesellschaft wie die chinesische, in welcher der Mensch zum Sklaven der Natur degradiert werde, stelle das Gegenbild einer spirituellen Zivilisation dar. Der Fortschritt der westlichen Welt wies aus dieser Sicht auch China den Weg in die Zukunft. Es überrascht nicht, dass Hu Shis Vorstellung von
18 Siehe Benjamin Schwartz: „Notes on Conservatism in general and in China in particular“, in: Furth: The Limits of Change, 3–21, hier 16–17, sowie Furth: „Culture and Politics“. 19 Siehe etwa J. B. Grieder: Intellectuals and the State in Modern China. A Narrative History, New York/London 1981, 264. Liangs Kritik an der westlichen Zivilisation nahm nach 1919 deutlich an Intensität zu. Siehe Schwartz: „May Fourth and After“, 130. Liang vermisste das emotionale Element in der rationalen westlichen Zivilisation und sah den Konfuzianismus als Quelle eines ausgeglichenen Lebens. Siehe J. R. Levenson: Liang Ch’i-ch’ao and the Mind of Modern China, Cambridge, MA 1959, 206. Diese Zivilisationskritik bedeutete nicht, dass antikapitalistische und wissenschaftsfeindliche westliche Ideen unter chinesischen Konservativen ohne Einfluss blieben. So machte Chiang Kaishek den Vitalismus neben der konfuzianischen Ethik zur Basis seiner „Neues-Leben-Bewegung“. Siehe Meißner: China, 182, 237–238. 20 Hu Shi: „Two wings of the same bird: A Chinese attitude toward Eastern and Western civilization“, PA, Bd. 1, Nr. 1 (Mai 1928), 1–8, hier 1. 21 Hu Shi: „Civilizations, 41. Jerome Grieder betont, dass Hu Shis Glauben an die Zukunft der westlichen Zivilisation auch daher rührte, dass er diese v. a. mit den USA, weniger mit Europa in Verbindung brachte. Siehe J. B. Grieder: Hu Shih and the Chinese Renaissance. Liberalism in the Chinese Revolution, 1917–1937, Cambridge, MA 1970, 156–157.
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piritualität in westlichen Publikationen und während einer Vortragsreise, auf S der er 1926 britische Universitäten besuchte, großen Anklang fand.22 Zweitens war es ein Anliegen liberaler Intellektueller, zu betonen, dass in der chinesischen Renaissance weder die chinesische Tradition blind abgelehnt noch die westliche Kultur imitiert werden sollte. „The product of this rebirth looks suspiciously occidental“, räumte Hu Shi während eines Vortrages an der Universität von Chicago ein. „But, scratch its surface and you will find that the stuff of which it is made is essentially the Chinese bedrock [...] – the humanistic and rationalistic China resurrected by the touch of the scientific and democratic civilization of the new world.“23 Westliche Kultur stellte man sich aus dieser Perspektive nicht als Selbstzweck vor, sondern als Mittel zum Zweck der Verjüngung chinesischer Kultur – zum einen durch die kluge Auswahl und Adaption einzelner westlicher Kulturelemente an chinesische Bedürfnisse, zum anderen durch die Reinterpretation chinesischer Traditionen mittels westlicher Denkformen.24 Ikonoklastische Überzeugungen setzten zu keiner Zeit nationale Loyalität außer Kraft. Auch Hu Shi, in seiner Heimat als „Urvater der Verwestlichung“ verschrien, sah seine Rolle gerade vor ausländischem Publikum darin, eine erneuerte chinesische Kultur als zukunftsfähig zu verteidigen.25 In dem Maße, wie viele liberale Intellektuelle die Neubewertung des kulturellen Erbes und eine graduelle Modernisierung forderten, standen sie den Konservativen näher als den radikal-revolutionären Vertretern der Kulturbewegung. Viele junge Intellektuelle der 4.-Mai-Generation waren nicht bereit, den Kompromisskurs der liberalen Reformer mitzutragen.26 Mit zunehmender Politisierung der Bewegung wurde der Bruch unvermeidlich. Liberale Denker distanzierten sich vom politischen Dogmatismus und widmeten sich vermehrt kulturellen Reformprojekten. Ihnen zufolge musste die intellektuelle und moralische Erneuerung vor der politischen oder sozialen stattfinden, um den Erfolg der gesellschaftlichen Modernisierung zu garantieren. Gerade aber die Distanz zu den Problemen der einfachen Leute, die Unfähigkeit, in der Krise tragfähige 22 Hu Shis Vorlesungen in Cambridge, Liverpool und Manchester sind gesammelt in Hu Shi: The Promotion of Closer Cultural Relations between China and Great Britain, London 1927. 23 Hu: Chinese Renaissance, ix. Vgl. zum synthetischen Denken Hu Shis Schubert: „Chinas Traum“, 141–164, hier 148. 24 Vgl. H. C. Chi: „The Chinese Mind in the Light of Western Dynamism“, CSM, Bd. 23, Nr. 7 (Mai 1928), 37–41. Ähnlich auch Z. B. Toong: „China’s Cultural Problem. A Critical Study of the Western Influx“, CN, Bd. 1, Nr. 6 (Juli 1930), 86, 94. 25 Siehe Zhang: „Hu Shi über die chinesische Kultur“, 303–305. 26 Die 4.-Mai-Generation war einerseits der konfuzianischen Tradition weniger emotional verbunden und andererseits weniger pessimistisch hinsichtlich des politischen Handlungsspielraums. Siehe Schwarcz: Chinese Enlightenment, 6.
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Lösungskonzepte anzubieten, sowie die anhaltende Toleranz gegenüber den Interessen der Westmächte ließen den chinesischen Liberalismus an Fahrt verlieren.27 Viele der linksradikalen Jugendlichen näherten sich entweder der Guomindang oder den Kommunisten an, um ihre politischen Ziele unmittelbar durchsetzen zu können. Die innergesellschaftliche Perspektive auf Chinas Probleme ergänzten sie durch eine antiimperialistische Programmatik, die sie keinesfalls im Widerspruch zu den Leitidealen westlicher „science and democ racy“ sahen. Nicht nur das Verhältnis von Moderne und Tradition, sondern auch dasjenige zwischen kultureller Reform und nationaler Revolution stand also zur Debatte.28 Dass Sun Yatsens Guomindang die 4.-Mai-Bewegung zumindest in ihrer gemäßigten Form unterstützte und ihr Verjüngungs- und Mobilisierungspotential zu nutzen wusste,29 verdeutlicht, dass die Frage nach der Zukunft chinesischer Kultur nicht von der nationalistischen Agenda zu trennen war. Ein emanzipiertes China erforderte ein neues Denken; nationale Einheit und Unabhängigkeit erforderten aufgeklärten Patriotismus; wirtschaftliche Stärke erforderte wissenschaftliche Methodik.30 Mit dem Wiedererstarken des Konservatismus in der 1934 von Chiang Kaishek initiierten „Neues-Leben-Bewegung“, die sich zwar in der T radition der Neuen Kulturbewegung sah, jedoch für eine Neuordnung der Gesellschaft auf die konfuzianische Ethik setzte, konnten sich viele revolutionäre Intellektuelle
27 Siehe Jürgen Osterhammel: „Die erste chinesische Kulturrevolution. Intellektuelle in der Neuorientierung (1915–1924)“, in: ders. (Hg.): Asien in der Neuzeit 1500–1950. Sieben historische Stationen, Frankfurt 1994, 125–142, hier 139. Dem Bruch zwischen Liberalen und Revolutionären widmet sich im Detail Chow: May Fourth Movement, 195–223. 28 Der Begriff der „Kultur“ – wie derjenige der „Zivilisation“ – wurde oft gebraucht, um die Gesamtheit der kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ideen und Institutionen Chinas zu beschreiben; das kulturelle Erwachen meinte dann in einem allgemeinen Sinn auch die nationale Emanzipation. Der Historiker Li Zehou stellt die These auf, dass die kulturelle (aufklärerische) Dimension der Kulturbewegung von dem politischen Ziel der nationalen Rettung im Verlauf der 1920er Jahre gleichsam „erstickt“ wurde. Siehe Li Zehou: „Chinas Aufklärung – Weg und Ziel. Entwurf für eine Rede zur Siebzigjahrfeier des 4. Mai“, in: Karl-Heinz Pohl/Gudrun Wacker/Liu Huiru (Hg.): Chinesische Intellektuelle im 20. Jahrhundert: Zwischen Tradition und Moderne, Hamburg 1993, 29–36, hier 29–30. Liu Huiru hält dagegen, dass es nie wirklich eine Aufklärung gegeben habe und das Ziel der nationalen Rettung von Anfang an tonangebend gewesen sei. Siehe Liu Huiru: „Die 4. Mai-Bewegung aus heutiger Sicht“, in: Pohl/Wacker/Liu: Chinesische Intellektuelle, 37–55, hier 40. 29 Vgl. T’ang: Social Reconstruction, 155. Sun Yatsen zeigte sich jedoch kritisch gegenüber den von den Studenten initiierten Streiks. Siehe Chen: May Fourth, 1112. Zur Haltung der Guomindang gegenüber der Neuen Kulturbewegung auch Chow: May Fourth Movement, 195. 30 Zu diesen nationalistischen Zielen der Kulturbewegung siehe Furth: Ting En-chiang, 5.
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nicht länger mit der Guomindang identifizieren.31 Die Kommunisten, die unter Mao Zedong das Projekt der kulturellen Revolution schließlich zu einem fatalen Ende brachten, boten sich für viele desillusionierte Jugendliche als Alternative an. Obwohl die Neue Kulturbewegung ihr Ziel verfehlte, aus den oft wenig verstandenen westlichen Denktraditionen eine konsensfähige Basis für einen kulturellen Neuanfang zu schaffen,32 handelte es sich um eine Zeit freier Diskussion und Toleranz. Dies blieb auch den westlichen Beobachtern nicht verborgen.
5.1.3 „Transforming the mind of China“: Die Reformbewegung aus westlicher Sicht Wenige westliche Beobachter und Autoren beteiligten sich direkt an den intellektuellen Debatten vor und nach dem 4. Mai 1919. John Dewey und Bertrand Russell bildeten auch hier Ausnahmen. Nicht nur, weil ihre Chinareisen zu Beginn der 1920er Jahre unmittelbar in die Zeit intensivierten sozio-politischen und intellektuellen Aufruhrs fielen, sondern auch aufgrund ihres Expertenstatus; ihre wissenschaftlichen und philosophischen Ansätze lieferten begehrte Antworten auf die Frage, wie eine neue Kultur in China entstehen konnte. Mit anderen westlichen Beobachtern teilten Dewey und Russell eine Außenperspektive auf die Neue Kulturbewegung. Wenngleich aus westlicher Sicht die wirtschaftlichen und politischen Veränderungen in China eine größere internationale Tragweite hatten, maß man auch der „geistigen“ Neuorientierung eine große Bedeutung für die zukünftige Entwicklung des Landes bei. Die Studentenrevolten, die sich im Zuge der 4.-Mai-Bewegung vor allem über Beijing und Shanghai ausbreiteten, beunruhigten zwar einige ausländische Beobachter,33 jedoch trübten sie das Bild der kulturellen Aufbruchstimmung nicht nachhaltig. Man sah in der Kulturbewegung nichts weniger als einen „intellektuellen Schock“, der China mit neuem Leben erfüllen konnte.34 31 Siehe etwa Chow: May Fourth Movement, 345. Zur Rolle amerikanischer Missionare, die sich mit Chiangs Antikommunismus solidarisierten, siehe J. C. Thomson: While China Faced West. American Reformers in Nationalist China 1928–1937, Cambridge, MA 1969, 226–227. 32 Siehe etwa Liu: „Die 4. Mai-Bewegung aus heutiger Sicht“, 46–55. 33 Ein Beispiel ist etwa die in Shanghai herausgegebene amerikanische Zeitschrift China Weekly Review, die zwar stets eine liberale Haltung gegenüber dem chinesischen Nationalismus einnahm, sich aber kritisch zeigte und die Studenten aufforderte, zu ihren Studien zurückzukehren. Vgl. etwa „Students a Hope and a Danger“, CWR, Bd. 32, Nr. 14 (Juni 1925), 3. 34 Vgl. Monroe: Nation in Evolution, 5–6. Ähnlich gewichtig für die Zukunft des Landes sah Julean Arnold die kulturelle Entwicklung. Vgl. Julean Arnold: „Changes in the Economic Life of the Chinese People“, CSPSR, Bd. 6, Nr. 1 (Februar 1922), 26–69, hier 68.
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II Modernisierungsideen
Für John Dewey ergab sich die Notwendigkeit einer kulturellen Erneuerung aus der Situation des politischen Übergangs, in der Disziplin und Verhaltenscodes aufgelöst wurden. „[T]he problem of the transformation of the mind of China“35 stellte für ihn die größte Herausforderung im gesamten pazifischen Raum dar. Deweys Verhältnis zur 4.-Mai-Bewegung war eines der gegenseitigen Inspiration: Nicht nur trugen seine Vorlesungen zur Popularität szientistischer und demokratischer Methoden der nationalen Erneuerung bei, sondern er war auch selbst von der Aufbruchstimmung in China auf eine Weise fasziniert, die ihn dazu brachte, seinen Aufenthalt zu verlängern. Die intellektuellen Aspekte der Studentenrevolten deutete er als wichtiges Signal für neue gesellschaftliche Prioritäten: Je größer die Enttäuschung über die politische Revolution, desto stärker schien ihm das Bedürfnis nach einer kulturellen Revolution, die wiederum den gewünschten Erfolg im politischen Bereich bringen konnte.36 Amerikanische und britische Beobachter waren sich weitgehend einig, dass ein wichtiger Stimulus für diese Erneuerung von der „westlichen Zivilisation“ ausging, die sie zumeist mit der abendländischen demokratischen und wissenschaftlichen Denktradition, mit Renaissance und Aufklärung identifizierten, ohne diese Ideen und Konzepte näher zu spezifizieren.37 Mehr noch als im politischen und wirtschaftlichen Bereich wurde von einer „Verwestlichung“ abgeraten. Kritisch gegenüber den kulturellen Traditionen Chinas, war Dewey davon überzeugt, dass anders als im Falle Japans eine Imitation westlicher Lebensweisen nicht in Frage kam.38 Wenngleich er von der Existenz universaler Fortschrittsprinzipien ausging, bot sein Pragmatismus einen Weg der kulturellen Reform, der westliche Theorien nicht als allumfassendes Heilmittel, sondern als Hilfsmittel für spezifische Probleme begriff. Der Einfluss Deweys auf die Haltung der liberalen Kulturreformer, allen voran seines Schülers Hu Shi, der sich bereits
35 Dewey: „Mind of China“, 1103. Vgl. auch ders.: „China old and new“, 456. 36 Vgl. ders.: „The Sequel of the Student Revolt“, TNR, Bd. 21, Nr. 273 (Februar 1920), 380–382. Siehe zu John Dewey als Lehrer und als Lernender in China J. C. Wang: John Dewey in China. To Teach and to Learn, Albany 2007. 37 Monroe verglich die Kulturbewegung mit der europäischen Renaissance. Vgl. Monroe: Nation in Evolution, 279. Dewey sah die Parallele mit der europäischen Aufklärung. Vgl. Dewey: „China old and new“, 456. 38 Vgl. Dewey: „Mind of China“, 1105–1106. Zum Vergleich mit Japan siehe ebd., 1104. Vgl. auch ders.: Lectures in China, 1919–1920, hg. V. R. W. Clopton/Tsuin-chen Ou, Honolulu 1973, 215. Auch der amerikanische Indologe Stanley Rice hielt eine „organische“ Aneignung westlicher Werte für nötig. Vgl. Rice: Challenge of Asia, 34.
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während seiner Studienzeit an der Columbia University mit Deweys Lehren vertraut machten konnte, ist unverkennbar.39 Autoren mit so unterschiedlichen Interessen wie Julean Arnold und Bertrand Russell teilten zudem die Auffassung, dass chinesische Traditionen nicht notwendigerweise den westlichen unterlegen waren. Eine noch größere Gefahr als diejenige, überkommene Werte und Institutionen vom Westen zu übernehmen, lag Arnold zufolge darin, in einem unüberlegten Drang zur Veränderung auch Jahrhunderte überdauernde und bewährte Ideale und Einrichtungen des alten China zu beseitigen.40 Bertrand Russell war einer der vehementesten Verfechter chinesischer Kultur. Tief verwurzelt im spätviktorianischen und edwardischen Liberalismus, kultivierte Russell im Zuge seiner China-Reise die schwärmerische und idealisierte Idee von dem ostasiatischen Land als Hort der Freiheit und des Glücks: mangelnde staatliche Kontrolle und eine inhärente Zufriedenheit auch der armen Bevölkerung schienen ihm Zeichen einer „guten Gesellschaft“; gleichzeitig hatte er wenig Positives über die westliche kulturelle Landschaft zu sagen, von deren Avantgarde er trotz seiner engen Bekanntschaft mit führenden Intellektuellen Großbritanniens zunehmend abgerückt war.41 Für das Projekt der kulturellen Modernisierung Chinas trennte er strikt zwischen westlicher Wissenschaft, die China zur Lösung seiner Probleme brauche, und westlicher Lebensphilosophie, die es abzulehnen gelte: Das primäre Ziel des „renaissance spirit“ lag seines Erachtens darin, chinesische Ethik und Charaktereigenschaften zu bewahren, zu denen er auch Gewandtheit, Höflichkeit, Aufrichtigkeit und Friedfertigkeit zählte.42 Russell stand mit dieser Haltung den konservativen Vertretern der Neuen Kulturbewegung nahe und wurde von diesen häufig als Referenz herangezogen.43 Sowohl in der amerikanischen The Nation als auch im chinesisch-nationalistischen Chinese Recorder bezichtigte man Russell prompt der Idealisierung chinesischer und der Vereinfachung westlicher Kultur.44 Pearl Buck bestätigte hingegen indirekt Russells traditionalistische Vision eines zukünftigen Chinas. 39 Dewey inspirierte Hu Shi zu dessen kontroversem Artikel „More Study of Problems, Less Talk of Isms“, der im Juli 1919 in der Zeitschrift Weekly Critic veröffentlicht wurde und maßgeblich zum Bruch in der Neuen Kulturbewegung beitrug. Siehe Chow: May Fourth Movement, 218–220. Den Einfluss Deweys auf Hu Shi hat im Detail herausgearbeitet: Martina Eglauer: Wissenschaft als Chance. Das Wissenschaftsverständnis des chinesischen Philosophen Hu Shi (1891–1962) unter dem Einfluss von John Deweys (1859–1952) Pragmatismus, Stuttgart 2001. 40 Vgl. Arnold: „Changes in the Economic Life“, 68. 41 Siehe Ironside: Bertrand Russell, 154–158. 42 Zitate siehe Russell: Problem of China, 250–251. 43 Siehe Chow: May Fourth Movement, 235–238. 44 Vgl. „Bertrand Russell on China“, TN, Bd. 116, Nr. 3011 (März 1923), 341–342, und „Bertrand Russell: The Problem of China“, CR, Bd. 53, Nr. 12 (Dezember 1922), 779–780.
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Die „immutability of Chinese nature“,45 so Buck, werde wie in der Vergangenheit auch in Zukunft dafür Sorge tragen, dass fremde Einflüsse auf das kulturelle und politische Leben Chinas oberflächlich blieben. Obwohl Buck damit dem Narrativ vom zeitlosen China Vorschub leistete, trug sie mit ihren Schriften maßgeblich dazu bei, das Chinabild der Amerikaner zu „normalisieren“.46
5.1.4 Die Tradition der kulturellen Modernisierung und Nationalismus in Indien Verglichen mit China erreichte die Debatte um den Gang der kulturellen Modernisierung in Indien nicht dieselbe ikonoklastische Stoßkraft. Die Gründe hierfür sind in erster Linie historischer Natur. Der intensive Kontakt mit westlicher – in diesem Fall vor allem britischer – Kultur und daraus resultierende Problematiken reichen in Indien weiter zurück. Bereits im 18. Jahrhundert herrschte ein reger Ideenaustausch zwischen bengalischen Intellektuellen und westlichen Asienforschern wie dem britischen Indologen William Jones, der 1784 die Asiatic Society in Kalkutta gründete. Im Zuge dieses Kulturkontakts bildete sich ein „Indo-Western mind“47 heraus, das als Produkt und Antrieb eines intellektuellen Erneuerungsprozesses gelten kann, der sich von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis ins beginnende 20. Jahrhundert erstreckte: Im Verlauf dieser „Bengal Renaissance“ professionalisierte sich die bengalische Intelligenz, es wurden Schulen und Universitäten gegründet, die indigenen Sprachen systematisiert, neue literarische Formen eingeführt, Bücher und Zeitschriften gedruckt, wissenschaftliche Methoden verbreitet. Zu einem Zentrum westlicher Wissensvermittlung entwickelten sich Kalkutta und das 1817 gegründete Hindu College, das sich der Bildung indischer Jungen in westlicher Literatur und Naturwissenschaften verschrieben hatte und das von konservativen Mitgliedern der bengalischen Oberschicht ebenso gefördert wurde wie von liberalen Querdenkern wie Rammohan Roy.48 Mit seinem kritischen sozialen und religiösen Denken avancierte Rammohan Roy zum einflussreichsten indischen Intellektuellen seiner Zeit. Er gilt als
45 P. S. Buck: „China the Eternal“, CWR, Bd. 32, Nr. 6 (April 1925), 162–164, hier 164. 46 Siehe K. J. Leong: The China Mystique. Pearl S. Buck, Anna May Wong, Mayling Soong, and the Transformation of American Orientalism, Los Angeles/London 2005, 56. 47 Subrata Dasgupta: Awakening. The Story of the Bengal Renaissance, Noida/London 2010, 3. Mit der kritischen Auseinandersetzung bengalischer Intellektueller des 19. Jahrhunderts mit westlichem Gedankengut setzt sich auch Tapan Raychaudhuri auseinander. Siehe R aychaudhuri: Europe Reconsidered. Siehe auch das ältere Werk von David Kopf: British Orientalism and the Bengal Renaissance. The Dynamism of Indian Modernization 1773–1835, Kalkutta 1969, 275. 48 Siehe Dasgupta: Awakening, 146–150.
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egründer der hinduistischen Organisation Brahmo Samaj, die sich seit 1828 mit der B Reinterpretation und Modernisierung des Hinduismus auseinandersetzte. Ähnlich wie in der Neuen Kulturbewegung Chinas bestimmte das aufklärerische Vernunftprinzip die intellektuelle Ausrichtung dieser sozio-religiösen Reformbewegung, soziales Pflichtgefühl und Moral (Dharma) bildeten ihre ethische Grundlage.49 Roy und andere bengalische Intellektuelle strebten wie die westlichen Orientalisten des 18. Jahrhunderts nach einer Erneuerung des indischen kulturellen Erbes. Die Erforschung einer universalen Moderne und ihrer Widersprüchlichkeiten bildeten das intellektuelle Grundgerüst ihrer Bemühungen um eine Revitalisierung des „alten Indien“ mit modernen – auch westlichen – Mitteln. Damit befanden sich die bengalischen Modernisierer auf Konfrontationskurs mit britischen Utilitariern wie Lord William Bentinck, Thomas Macaulay und James Mill, die seit den 1830er Jahren die britische Kultur- und Bildungsarbeit in Indien kontrollierten und Modernität in erster Linie nach den Kriterien christlicher Moral definierten.50 Setzten sich indische und westliche Intellektuelle in der Zeit nach 1919 mit der Bedeutung westlicher Kultureinflüsse für Indien auseinander, so taten sie es vor dem Hintergrund dieser langen Geschichte der Interaktion und Konfrontation. Indische Intellektuelle waren einerseits sehr vertraut mit westlicher Kultur, andererseits von nationalistischer Kulturkritik durchdrungen; westliche Modelle und Ideen waren in dieser Situation entweder so fest in das eigene Wertesystem integriert, dass sie nicht mehr hinterfragt wurden – wie im Fall demokratischer Ideen –, oder aber marginalisiert als Medium des britischen Kolonialismus in Indien, der sich nicht zuletzt im Gewand von Kultur und Bildung gezeigt hatte.51 Hierdurch entstand ein spezifischer kultureller Identitätskonflikt, der in der Person Gandhis besonders deutlich wurde. Dieser hatte seine Ausbildung zum Anwalt in London genossen, sich jedoch von der westlichen Zivilisation abgewandt, um sich der Bewahrung indischer Produktions-, Lebens- und Denkweisen zu verschreiben; er entwickelte ein genuin indisches politisches Denken, das auf
49 Zu den Anfängen der Reformbewegung siehe K. W. Jones: Socio-religious Reform Movements in British India, Cambridge 1989, 30–39. Erst unter der Leitung Debendranath Tagores erhielt Roys Organisation Brahmo Sabha den Namen Brahmo Samaj. Siehe ebd., 34. David Kopf spricht von „this-worldly social Hindu ethic parallel to the Protestant or Puritan ethic in the West“, die die soziale Mission der Bewegung charakterisierte. Siehe David Kopf: The Brahmo Samaj and the Shaping of the Modern Indian Mind, Princeton 1979, 314–315. Die intellektuellen Einflüsse Roys auf das viktorianische Denken werden aufgearbeitet von Lynn Zastoupil: Rammohun Roy and the Making of Victorian Britain, New York 2010. 50 Siehe van der Veer: Imperial Encounters, 198, 205, 275–277, 284; Raychaudhuri: Europe Reconsidered, xiii; Kopf: British Orientalism, 237–246, 288. 51 Siehe Raychaudhuri: Europe Reconsidered, 331.
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der Tradition aufbaute, jedoch westliche Ideen selbstverständlich inkorporierte.52 In der Person Gandhis verband sich die Frage nach der Zukunft der indischen Nation sehr eindrücklich mit der Frage nach kultureller Orientierung. Im Zuge des Unabhängigkeitskampfes plädierten einige indische Wortführer für eine Anpassung der indischen Kultur an nationalistische Ziele. Ein Mentalitätswandel schien notwendig, um das Gefühl der Abhängigkeit zu überwinden.53 Der junge Parlamentarier und Diplomat Surendra Kumar Datta, neben Kanakarayan Tiruselvam Paul der prominenteste Vertreter der indischen Christen, forderte eine durch den Nationalismus geläuterte und geleitete Kultur für Indien. „The ancient ideal was that knowledge was duty“, schrieb Datta 1921 in der Monatszeitschrift The Young Men of India, dem Publikationsorgan des indischen YMCA. „This ancient conception only nationalism can rehabilitate. We can never go back […] to ancient learning for a complete philosophy of life in this age. […] It must be a new culture, the truth and discipline of the old with the truth and purpose of the new.“54 Datta stellte demnach die neue Kultur, deren Wesen er jedoch nicht erläuterte, in den Dienst der Nation. Etwas genauer legte Visvesvaraya dar, was er unter einer mentalen Modernisierung als integralem Bestandteil der indischen Nationenbildung verstand. Dem Ingenieur zufolge musste der indische Geist („the Indian mind“) mit den Prinzipien des Fortschrittes vertraut werden, zu welchen er den Impuls für „enquiry and enterprise“ ebenso zählte wie „earnest thinking and effort“.55 Das aufklärerische Ideal eines neuen Denkens war auch für ihn nicht Selbstzweck, sondern diente der Herausbildung des modernen Bürgers. 52 A. J. Parel: „From Political Thought in India to Indian Political Thought“, in: Takashi Shogimen/C. J. Nederman (Hg.): Western Political Thought in Dialogue with Asia, Plymouth 2009, 187–207, hier 205. 53 Vgl. Lajpat Rai: India’s Will to Freedom, 98. T. L. Vaswani propagierte eine psychologische Revolution: Die Menschen müssten die Unterdrückung fühlen und sich auflehnen. Vgl. Vaswani: India in Chains, xiii. 54 S. K. Datta: „Problem of Education“, YMI, Bd. 32, Nr. 1 (Januar 1921), 8–18, hier 16. Für einen kurzen Abriss des Werdegangs der beiden Persönlichkeiten siehe die Einträge in G. H. Anderson (Hg.): Biographical Dictionary of Christian Missions, New York 1998, 169. Sowie zur Bedeutung des YMCA für das Christentum in Indien Chandra Mallampalli: „South Asia, 1911–2003“, in: Hugh McLeod (Hg.): The Cambridge History of Christianity, Vol. 9: World Christianities c.1914– c2000, Cambridge 2006, 422–435, hier 426–427. Das Verhältnis des YMCA zur Unabhängigkeitsbewegung wird erläutert in M. D. David: The YMCA and the Making of Modern India (a Centenary History), New Delhi 1992, Kapitel 7. 55 Visvesvaraya: Reconstructing India, v–vi. Ähnlich auch T. V. Seshagiri Aiyar: „Indian Culture“, IR, Bd. 20, Nr. 4 (April 1919), 233–235, hier 235: Zwar sei die indische Kultur moralisch überlegen, jedoch brauche das Land eine „great infusion of the spirit of adventure and aggression which have characterized other nations“, um eine „praktische Intelligenz“ herauszubilden. Die Notwendigkeit von wissenschaftlichem Denken und kritischer Vernunft gegen eine intellektuelle
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Der Übergang der indischen Nation in die Moderne bedurfte aus dieser Perspektive auch eines modernen Denkhorizonts. Für Datta, Visvesvaraya oder auch Lajpat Rai genügte die indische Kultur diesen Anforderungen nur bedingt. Ähnlich wie im chinesischen Kontext ging es ihnen nicht primär darum, Traditionen zu diskreditieren oder westliche Werte unreflektiert zu übernehmen, sondern um die Möglichkeit einer zukunftsorientierten Kultur. „[W]e are living in a new world“, schrieb Rai, „a world quite different from the one in which our ancestors lived, in many respects much more advanced than the latter, in some respects possibly not so advanced.“56 Es gehe nun darum, einen Mittelweg zwischen dem Alten und dem Neuen zu finden, um Fortschritt zu garantieren. Unter den Bedingungen des modernen Lebens verloren Rai zufolge kulturelle Unterschiede allemal an Bedeutung.57 Die kulturellen Errungenschaften des Westens wurden also nicht als den indischen grundsätzlich überlegene und selbstverständliche Orientierungspunkte einer kulturellen Modernisierung angesehen. Jedoch schien kultureller Wandel im Sinne eines modernen Denkens und Wissens auch ein Diktat des Fortschritts, dem sich Indien nicht entziehen konnte, wenn es sich zu einer unabhängigen, den westlichen Mächten ebenbürtigen Nation entwickeln wollte. Diese Priorisierung des nationalen Fortschritts gegenüber dem kulturellen Erbe teilten nicht alle Beobachter.
5.1.5 Die Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Wandel im kulturellen Leben Indiens The salvation of India depends upon the revival of her Cultural Swaraj, which would necessitate our halting on the path of Western civilization, if not retracing our steps, to some extent at least. But the majority of my Neo-Indian brethren would ask – is that desirable? Those among them who are politically disposed would aver, that if we went back to the ways of our ancestors, what would the Westerners think of us? […] My answer is, that it is better
tagnation Indiens betonte auch der Präsident des Indian Science Congress Prafulla Chandra S Ray in seiner Antrittsrede. Vgl. P. C. Ray: „Science and Civilization“, IR, Bd. 21, Nr. 2 (Februar 1920), 89–90. 56 Lajpat Rai: The Problem of National Education in India, Delhi 1966 [1920], 25. Vgl. auch ebd., 27. 57 Vgl. ders.: „The Problem of National Education in India“, MR, Bd. 25, Nr. 1 (Januar 1919), 1–8, hier 6. Gegen kulturelle Isolation und für eine Neubewertung des Kulturerbes äußerte sich auch Taraknath Das: „Sir Frederick Whyteʼs Mission in America“, MR, Bd. 40, Nr. 5 (November 1926), 508–513, hier 510.
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to be healthy and happy, and be branded as “barbarians” and “unprogressive”, than be diseased and miserable and eulogized as “civilized” and “progressive” […].58
Dieses Plädoyer für die kulturelle Unabhängigkeit Indiens stammt von dem indischen Geologen Pramathanath Bose. Bose entstammte einer wohlhabenden bengalischen Brahmanenfamilie und hatte eine wissenschaftliche Ausbildung in London genossen. Seine Karriere an der britisch-indischen Forschungsinstitution Indian Geological Survey war an rassistischen Vorurteilen seiner Vorgesetzten gescheitert – eine Erfahrung, die ihn wie zahlreiche andere indische Wissenschaftler seiner Generation prägte. Einst ein Befürworter und Unterstützer moderner wissenschaftlicher Forschung in Indien, begann sich seine Haltung angesichts des Ersten Weltkrieges und des sozialen Wandels in Bengalen zu verändern. Er warnte vor einer physischen und moralischen Degeneration der indischen Gesellschaft – wie der restlichen Welt – und propagierte die Wiederbelebung kultureller Traditionen.59 In direktem Kontrast zum Fortschrittsglauben der Modernisierer brachte er in seinem Werk Swaraj – Cultural and Political von 1929 ein zyklisches Modell kultureller Entwicklung vor. Nach dem Niedergang der kulturellen Unabhängigkeit unter britischer Kolonialherrschaft sah Bose in der nahen Zukunft die Möglichkeit, diese wiederherzustellen. Hierfür schlug er die Gründung einer Society for the Promotion of Cultural Swaraj vor, welche traditionelle indische Werte wie Güte, Einfachheit und Selbstlosigkeit fördern und die indische Lebensart sowie die Vedanta als deren Basis bewahren sollte.60 Indiens kulturelle Selbstständigkeit war für ihn von weitaus größerer Relevanz als der Kampf um politische Unabhängigkeit und letztlich eine existentielle Frage. Denn in der Kontinuität ihrer Kultur und Ethik – nicht in nationalstaatlicher oder wirtschaftlicher Entwicklung – sah er die Überlebenskraft antiker Zivilisationen wie Indien und China. Aus diesem Grund lehnte er auch die Vermischung indischer und westlicher Kulturelemente entschieden ab. In Anlehnung an die Rassentheorien des 19. Jahrhunderts und auf den Evolutionstheoretiker Herbert Spencer verweisend legte Bose dar, dass die Kombination verschiedener, an bestimmte Lebensbedingungen angepasster Arten nicht lebensfähig war. Ebenso müsse eine Kombination von Kulturen zu deren Niedergang führen.61 In kultureller Emanzipation und Isolation statt
58 Pramathanath Bose: Swaraj – Cultural and Political, Kalkutta 1929, 209. 59 Die Naturwissenschaften als Basis der modernen westlichen Kultur verursachten ihm zufolge zu viele Übel, um sie als restlos positiv zu sehen. Der westliche Weg habe zu mehr Effizienz geführt, diese werde jedoch nicht zum Wohle der Menschen eingesetzt. Vgl. ebd., 276, 288. Zu Boses Werdegang siehe 139, 154–155, 190. 60 Vgl. ebd., 275, 281, 286–287. 61 Vgl. ebd., 210–211, 228.
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ulturellem Austausch, in kultureller Kontinuität statt kulturellem Wandel lag aus k dieser Perspektive die Zukunft Indiens; dass Bose auf europäische Evolutionstheorien zurückgriff, legt die inkonsistente Seite seines Denkens offen. Man musste jedoch weder Boses rassentheoretische Überzeugungen noch seine ablehnende Haltung gegenüber westlicher Kultur oder seine rigorose Trennung zwischen kulturellem und politischem Leben befürworten, um die indische Kulturtradition prinzipiell hochzuschätzen. Gerade für die Herausforderungen des modernen Lebens – sei es das Bedürfnis nach politischer Selbstbestimmung oder der Materialismus einer industrialisierten Welt – sahen einige indische Autoren im Hinduismus eine wichtige spirituell-religiöse Leitkraft.62 Für Tarak nath Das, der weite Reisen durch Nordamerika, Europa und Asien unternahm, war das moderne Leben ohne Spiritualität unerfüllt. Konnte der Hinduismus unter den Bedingungen der Moderne bestehen und den Mangel an Spiritualität ausgleichen? Taraknath Das bejahte dies bei einer Rede in New York ausdrücklich. Weil der hinduistische Glaube die „sacredness of life“ und Harmonie höher schätze als Besitz und Bereicherung und weil er Selbstlosigkeit und Nächstenliebe fördere, könne er den sozialen, politischen und spirituellen Herausforderungen der modernen Welt begegnen.63 War Das demnach überzeugt von der Bedeutung der Spiritualität für die Zukunft Indiens, so macht das den Einfluss Sri Aurobindo Ghoses deutlich, der die Sicht von der indischen Nation als „göttliche Mutter“ popularisierte.64 Mit seinem spirituellen Nationalismus befand sich der einflussreiche Philosoph und religiöse Guru zwischen jenen, die eine kulturelle Modernisierung nach westlichem Vorbild befürworteten, und jenen, die kulturelle Unabhängigkeit und Kontinuität vorzogen. Viele seiner wichtigsten Schriften entstanden in der ehemaligen französischen Enklave Pondicherry, wo er seit 1910 ein zurückgezogenes Leben führte, sich seiner Yoga-Praxis widmete und schließlich ein Aschram errichtete. In seinem Werk The Renaissance in India, das erstmals 1920 erschien, forderte er eine neue alte Kultur für Indien, die spirituell und gleichzeitig modern war.65 In 62 Der Hinduismus als Kraft für politische Unabhängigkeit wurde etwa von Bhagavan Das betont. Vgl. Bhagavan Das: The Meaning of Swaraj or Self-government, Benares 1921, 22, 46. Darüber hinaus fanden sich auch in der spiritualistischen Zeitschrift Prabuddha Bharata zahlreiche Beiträge zur „Hindu Renaissance“, die auch in anderen Zeitschriften Anklang fanden. Vgl. etwa „The Hindu Renaissance“, ISR, Bd. 33, Nr. 42 (Juni 1923), 684–685. 63 Das’ Rede wurde im Chinese Students’ Monthly wiedergegeben. Vgl. Taraknath Das: „Challenge of Present Day Conditions and Hinduism“, CSM, Bd. 19, Nr. 7 (Mai 1924), 10–15. 64 Mukherjee: Taraknath Das, xix–xxxi, xxvi–xxvii. Siehe auch Singh: Indian Political Thinkers, 114. 65 Aurobindo Ghose: The Renaissance in India, Chandernagore 1927. Siehe zur Entwicklung von Sri Aurobindos Aschram Peter Heehs: The Lives of Sri Aurobindo, New York 2008, 356–362.
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ihrem Kern näher an der europäischen Bewegung als Hu Shis Renaissance für China, aber in ihrer Methodik der des Chinesen ähnlich, meinte Sri Aurobindos Renaissance die Erneuerung der spirituellen Tradition durch Auseinandersetzung mit westlichen Einflüssen. Ebenso wie Bose und andere Traditionalisten hatte er ein zyklisches Geschichtsverständnis. Die Renaissance Indiens stand dabei für eine kulturelle Wiederbelebung seiner alten Kultur, wodurch die Rückkehr zu spiritueller Größe ermöglicht würde. Der Autor nutzte das Bild der Gezeiten, um den Gang der indischen Geschichte darzulegen. Demnach befand sich Indien in einer Zeit des Übergangs von der Ebbe zur Flut, in der die alte Kultur schlief. Die spirituelle Renaissance, nicht zuletzt angetrieben vom europäischen Einfluss auf das indische Leben, brachte Sri Aurobindo zufolge nun die Rückkehr der Flut; denselben Gesetzen gehorchend wie die letzte Flut, würde diese dennoch neue Formen herausbilden, die sich nicht im Widerspruch zu den alten Wahrheiten befanden, sondern diese komplettierten und von möglichen Fehlern befreiten.66 Die neuen kulturellen Formen konnten seiner Meinung nach ihren spirituellen Kern bewahren, ohne sich der Moderne mit ihren progressiven Idealen, ihrer Vernunft, ihren Wissenschaften und ihren materiellen Seiten zu verschließen.67 Tatsächlich sah er die spirituelle Renaissance erst abgeschlossen, wenn moderne westliche Ideen auf eine Weise absorbiert und transformiert worden waren, welche die indische Kultur in die Lage versetzte, von eben dieser Moderne Besitz zu ergreifen, anstatt von ihr dominiert zu werden.68 Spiritualität und Moderne, kulturelle Kontinuität und kultureller Wandel schlossen sich aus dieser Perspektive nicht aus, sondern dienten gemeinsam dem Ziel einer starken indischen Nation. Ebenso wie Rai, Datta und Bose war auch Sri Aurobindo in erster Linie ein überzeugter Nationalist; politische Freiheit stellte für ihn das sine qua non auch der spirituellen Entwicklung Indiens dar.69 Das Projekt der Nationenbildung überbrückte die Diskrepanzen zwischen Traditionalisten und Modernisierern.
66 Vgl. Ghose: Renaissance in India, 7, 24. 67 Vgl. ebd., 69–70, 72–74. 68 Vgl. ebd., 34. 69 Siehe zu Ghoses Nationalismus etwa Singh: Indian Political Thinkers, 116–117. Die Revitalisierung traditioneller Werte diente ebenso wie in China dem nationalen Ethos. Siehe dazu Hay: Asian Ideas of East and West, 326, 330–331. Auch in der spirituell-religiös ausgerichteten Zeitschrift Prabhudda Bharata wird die „Hindu Renaissance“ mit der Nationenbildung in Beziehung gesetzt: „Truly speaking, this revival is preparing the way for a great national union which has ever been the dream of the greatest saints and patriots of this holy land.“ „Hindu Renaissance“, 684–685.
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5.1.6 Der „Apostel der Gewaltlosigkeit“ in Amerika: Zukunft durch moralische Erneuerung Zeigten sich in den USA nur wenige Autoren öffentlich an der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung Indiens interessiert, so zog Indiens Kultur, vor allem seine Religiosität, die Aufmerksamkeit vieler Amerikaner auf sich. Dies galt nicht ausschließlich, aber in besonderem Maße für kirchliche und missionarische Kreise. Der unitaristische Priester und Pazifist John Haynes Holmes war ein passionierter Vermittler indischer Kultur. Er unterhielt eine enge Beziehung zu Jabez Sunderland, Lajpat Rai und Taraknath Das, der zu den wichtigsten Mitgliedern seiner Gemeinde in New York zählte.70 Obwohl Holmes sich wie Sunderland entschieden für die politische Unabhängigkeit Indiens aussprach, konzentrierte sich sein Interesse an Indien auf die Figur Gandhis, dessen Pazifismus und Antimodernismus seiner eigenen Haltung entsprach und in dem er keinen geringeren als einen zweiten Jesus sah. In seiner berühmten Predigt The Greatest Man in the World Today aus dem Jahr 1921 stellte er Gandhi über die politischen Führer der westlichen Welt und trug erheblich zum amerikanischen Bild des „Apostels der Gewaltlosigkeit“ bei.71 Mit Gandhi – seiner gelebten Religiosität und seinem minimalistischen Erscheinungsbild – bekam Indiens Kampf gegen kulturelle Entfremdung ein Gesicht. Gandhis Postulat, Indien könne sich auch ohne eine kulturelle Modernisierung zum modernen Nationalstaat entwickeln, veranlasste Beobachter der Szenerie zu Reflektionen über die kulturelle Richtungsentscheidung, vor der das Land stand. Ein Beispiel ist der amerikanische Journalist Joseph W. T. Mason. Mason entwickelte in der Zwischenkriegszeit ein starkes Interesse an asiatischer Kultur, während er unter anderem für das außenpolitische Ressort der New Yorker Nachrichtenagentur United Press berichtete. Nachdem er von japanischen Diplomaten in den Shintoismus eingeführt worden war, lag sein Hauptaugenmerk auf dem ostasiatischen Land, das er zu Beginn der 1930er Jahre bereiste. In seiner Monographie Creative Asia von 1928 widmete er sich jedoch auch der kulturellen Entwicklung Indiens und Chinas. Beschrieb er darin die japanische Kultur als eine utilitaristische und die chinesische Kultur als eine ästhetische, so war die indische Kultur für ihn durch ihre Spiritualität geprägt. In der einseitigen Ausrichtung der drei Kulturen sah er die Wurzel ihrer Probleme, in der V erbindung
70 Siehe Lavan: Unitarians and India, 174–176. 71 Siehe ebd., 184–188. Siehe auch Palmer: The United States and India, 17. Ein Vergleich Gandhis mit Jesus findet sich etwa in J. H. Holmes: „What Gandhi might do for America“, The Community Pulpit, Serie 1930–1931, Nr. 19.
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von Spiritualität, Ästhetizismus und Utilitarismus dagegen die höchste Erfüllung des menschlichen Lebens, die er als „kreative Freiheit“ bezeichnete.72 Im Hinblick auf Indien zeigte er einerseits großen Respekt für dessen spirituelles Erbe, das seiner Meinung nach in vielerlei Hinsicht die Bedeutung des westlichen philosophischen Erbes überstieg; jedoch, so mahnte er, könne sich Indien in der modernen Welt nicht entwickeln, solange es sich der Herausforderung des Utilitarismus nicht stellte: Of the three specializations which life seeks to develop, by far the most difficult to initiate and to continue is the utilitarian. […] There is not an endless continuance of aesthetic and spiritual cultures. Each seems to rise almost spontaneously and to reach its maximum of attainments within definitely limited periods of time. […]. Utilitarianism, however, is an endless growth. It requires constant application and continuous development of new technique. The old ever gives way to new improvements. Modernization in one generation is antiquated in the next. […] A nation may live spiritually on the teaching of the past. […] But, no nation can maintain any position in the world if it rolls back and relies on what its forefathers have created in utilitarian ways of living.73
Die utilitaristische Kultur als „machine culture“ abzulehnen, bedeutete für Mason nichts anderes, als sich der notwendigen Anstrengung zu entziehen und damit lebensverachtende Zustände weiterzutragen: „One sees in India everywhere three men and two oxen drawing a bucket of water from a well. There are five lives crushed by matter. Crushed because India has not learned how to make matter obey the human will.“74 Wie Hu Shi betrachtete auch Mason das Maschinenzeitalter gerade deshalb als das spirituell fortschrittlichste, weil es die Menschen von einem sklavenhaften Dasein befreite. Eine Dichotomie zwischen Materialismus und Spiritualismus negierten beide. Diese Betrachtungsweise der kulturellen Entwicklung Indiens stellte der amerikanische Religionswissenschaftler Kenneth J. Saunders in einem interessanten Vergleich Hu Shis mit Gandhi und dem japanischen Sozialreformer und christlichen Pazifisten Toyohiko Kagawa in Frage. In seinem Werk Whither Asia (1933) erklärte er die drei Persönlichkeiten zu „Predigern einer neuen Moral“, die ihre jeweiligen Länder durch die spirituelle Renaissance ihrer Länder leiteten.75 72 Vgl. J. W. T. Mason: The Creative East, New York 1928, 7–18. Masons erste Monographie über asiatische Kultur erschien 1926 unter dem Titel Creative Freedom in London. Siehe auch „Guide to the J. W. T. Mason Papers“, Online Finding Aid, C. V. Starr East Asian Library, Columbia University [http://www.columbia.edu/cu/lweb/eresources/archives/eastasian/mason/ldpd.6601952.001b. html, abgerufen am 17.10.14]. 73 Mason: „India, China and the West“, 83–84. 74 Ebd. 75 Vgl. Kenneth Saunders: Whither Asia? A Study of Three Leaders, New York 1933, 91–92.
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Besonders in Indien sei dieser Prozess noch in vollem Gange. Hier würden Lebensweisen nur langsam den Bedürfnissen des modernen Lebens angepasst, alte Tabus gebrochen, soziale Reformen angetrieben. Seinem Urteil zufolge hatte jedoch Hu Shi, der nur an die Demokratie als „Religion des Westens“ glaube, die Kraft des Glaubens für die Renaissance nicht erkannt: „What in fact is the power which will socialize an acquisitive society? […] The religions which Hu Shih dismisses as mediaeval are attempts to crucify man’s baser self, and to sublimate these lower motives into useful and social forms of activity.“76 In religiöser Nächstenliebe sah Saunders ein Mittel der individuellen Besserung zu sozialen Zwecken. Anders als Hu Shi, dessen Denken er stark vereinfachte, gelang es ihm zufolge nur Gandhi, diese Religiosität zu bewahren.77 Auch britische Autoren, die sich mit Indiens kultureller Zukunft beschäftigten, taten dies aus einem wohlwollenden Interesse an den indischen Kulturtraditionen heraus.78 Die aus britischer Sicht besonders brisante Frage der politischen Unabhängigkeit musste nicht zwangsläufig daran gekoppelt sein.79 Viele Briten sahen Gandhi nicht in erster Linie als Politiker, sondern als Verkörperung einer spirituellen Revolution. Wie im Fall Holmes’ war dabei die moralische Kraft entscheidend, die von Gandhis Methode der Gewaltlosigkeit ausging. Für den britischen Quäker Reginald Reynolds, einem engen Vertrauten des Mahatma, symbolisierte dieser sehr viel mehr als nur den Kampf um politische und wirtschaftliche Freiheit: Gandhi, so legte der Pazifist in einem Pamphlet der Friends of India Society in London dar, stehe für Moralität in einem Zeitalter des Materialismus und für Idealismus in einem Zeitalter der Realpolitik.80 Andere Weggefährten Gandhis wie Annie Besant und Charles Andrews sowie weniger bekannte Vertreter der britischen Indologie wie John Woodroffe betonten ebenso wie die Amerikaner Holmes und Saunders die zentrale Rolle der religiösen
76 Ebd., 99. Saunders sieht Hu Shis Modernisierungsvorstellungen als „apologia of the West“. Vgl. ebd., 91–92. 77 Vgl. ebd., 218–221. Weil Kagawa anders als Gandhi Christ war, beurteilte er diesen jedoch als „more potent leader“. Vgl. ebd., 220. 78 So etwa das Werk des britischen Historikers Francis S. Marvin India and the West, das dieser seinem Freund Kenneth Saunders widmete: F. S. Marvin: India and the West. A Study of cooperation, New York/Toronto/Madras/Kalkutta/Bombay 1927, 9–10. Ein Beispiel für eine sehr kritische Abhandlung über die indische Kultur ist William Archer: India and the Future, London 1917. 79 Die nationalistische Bewegung mit der zentralen Figur Gandhis konnte vielmehr als Fortführung der hinduistischen Reformbewegung seit Rammohun Roy gedeutet werden. Vgl. H. C. E. Zacharias: Renascent India. From Rammohan Roy to Mohandas Gandhi, London 1933. 80 Vgl. Reynolds: India, 16–18.
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und spirituellen Tradition für die Zukunft der indischen Nation. Dass die Haltung dieser Autoren vor dem Hintergrund der anhaltenden Zivilisationsskepsis in Europa zu sehen ist, wird besonders in Woodroffes Werk Is India civilized? deutlich, das erstmals 1918 erschien und 1922 bereits die dritte Auflage erreichte. Mit Verweis auf die Erkenntnisse Oswald Spenglers stellte der Indologe den Universalitätsanspruch westlicher Vorstellungen von Fortschritt in Frage. In der indischen Tradition, so argumentierte Woodroffe, sei wahrer menschlicher Fortschritt erreichbar, „through the gradual perfection of its vehicles of Mind and Body“.81 Soziale und politische Reformen allein, so bekräftigte Andrews, könnten auch keinen Fortschritt im Sinne einer nationalen Regeneration garantieren: „The wheel comes round circle and swings backward. It constantly sweeps away any temporary success in a great reaction“.82 Um die zyklische Bewegung zu durchbrechen und Fortschritt zu erlangen, müsse Indien seiner Religiosität bewahren. In der Idee des Dharma lag ihm zufolge die Quelle des modernen Zeitgeistes.83 Ebenso wie für Sri Aurobindo waren auch für Andrews Tradition und Moderne keinesfalls inkompatibel. Aus britischer und amerikanischer Perspektive wurden westliche Kulturelemente für die „spirituelle Revolution“ Indiens tendenziell weniger gewichtig eingeschätzt als im Hinblick auf China. Diese Tatsache ist durch die dominante Rolle des Hinduismus in Indien sowie für das westliche Indienbild erklärbar. Indische Intellektuelle, die sich wie Lajpat Rai und Visvesvaraya den modernen Wissenschaften verpflichtet fühlten, standen den religiösen Traditionen ihres Landes oft kritischer gegenüber als einige westliche Autoren. Im Vergleich dazu konzentrierte sich die Debatte über die kulturelle Zukunft Chinas weniger auf die Möglichkeit religiös-spiritueller Sinnstiftung im Modernisierungsprozess als um nationale Stärke durch neues kritisches Denken.
81 John Woodroffe: Is India civilized? Essays on Indian culture, Madras 1922, 22. Vgl. auch ebd., xxxix. Woodroffe verstand sein Buch als Reaktion auf die Kritik William Archers an der indischen Kultur. 82 C. F. Andrews: To the Students, Madras 1921, 13. Ähnlich äußerte sich auch Ramsay MacDonald. Indien brauchte ihm zufolge eine „Purification of Hinduism“. Vgl. MacDonald: Government of India, 24. 83 Vgl. Andrews: To the Students, 18, und ders., „Modern India“, MR, Bd. 40, Nr. 1 (Juli 1926), 31–33, hier 33. Zur Bedeutung der Spiritualität und Religiosität für Indien auch Besant: Birth of New India, 4.
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5.2 Allheilmittel Bildung 5.2.1 Moderne Bildung für Indien: „The national necessity“ Bereits mit 21 Jahren verließ Sudhindra Bose sein Heimatland Indien, um in den Vereinigten Staaten eine wissenschaftliche Ausbildung aufzunehmen, die er 1913 mit einem Doktor in Politikwissenschaften an der Universität von Iowa abschloss.84 Auch als Dozent der Politikwissenschaften und später der Orientalistik an derselben Universität blieb er an der nationalen Entwicklung Indiens und speziell der Rolle der Bildung dabei interessiert. In einem Artikel für die Modern Review aus dem Jahr 1920 verglich er das britisch-indische mit dem amerikanischen Bildungssystem und kam zu einem ernüchternden Ergebnis. Er fand die Frauenbildung vernachlässigt und die höhere Bildung, die zwar Richter, Gelehrte und Regierungsbeamte, aber keine Ingenieure und Finanzexperten produziere, fehlgeleitet; Indien brauchte ihm zufolge praktische Bildung, die an den Bedürfnissen des nationalen Lebens orientiert war. Auf eine Studie des Sozialisten Henry Hyndman verweisend, kritisierte er zudem die niedrigen Ausgaben der britischindischen Regierung im Bildungsbereich. Die Regierung kam seiner Meinung nach weder ihrer Pflicht als Förderer der öffentlichen Institutionen nach, noch trug sie der zentralen Bedeutung der Bildung für die Zukunft Indiens Rechnung. „After all is said and done“, bekräftigte Bose, „education must be recognized as the rock bottom of the Indian creed. Education is the great necessity, the national necessity, perhaps the only necessity worth of serious consideration at this moment.“85 Mit seinem Artikel beleuchtete Bose wichtige Aspekte der Bildungsproblematik. Welche Art von Bildung brachte die Nation voran? Konsens herrschte dabei in zweierlei Hinsicht: Erstens beurteilte man Bildung als Fundament des indischen Modernisierungs- und Emanzipationsprozesses. Sie galt als Voraussetzung für Reformen im wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Bereich. „It is universally agreed today“, schrieb Jabez Sunderland für die Modern Review, „that the prime condition of advance, I may say the prime creator of advance, among nations in the modern world, is education; and that
84 Siehe zum Werdegang Sudhindra Boses: „Papers of Sudhindra Bose, 1913–1940“, Online Finding Aid, Special Collections and University Archives, University of Iowa Libraries [http:// collguides.lib.uiowa.edu/?RG99.0147, abgerufen am 25.6.2014]. 85 Sudhindra Bose: „The New National Creed in India – Education“, MR, Bd. 27, Nr. 6 (Juni 1920), 646–654, hier 651–654. Bose schlug Kurse in Politikwissenschaft, wie er sie in Iowa lehrte, als Grundlage einer effektiven Regierungsarbeit auch in Indien vor. Vgl. Sudhindra Bose: „The Teaching of Political Science in U.S.A.“, IR, Bd. 25, Nr. 8 (August 1924), 469–472, hier 472.
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the prime cause of the stagnation and decline of nations, is want of education.“86 Diese Assoziation von Bildung und Fortschritt hatte auch Lajpat Rai verinnerlicht. Er war wie Bose ein Anhänger amerikanischer Bildungsideale.87 Sein Programm für „National Education“ stellte Bildung als zentrales Zukunftsproblem in den Dienst der Nation, als Bildung des Staatsbürgers.88 Er lobte ausdrücklich das Bildungsprogramm Annie Besants, die bereits in den 1890er Jahren das Central Hindu College in Benares gegründet hatte – eine Mischung aus englischer Privatschule und hinduistischem Kloster – und den engen Zusammenhang zwischen Bildung und Nationenbildung bekräftigte.89 Zweitens wurde in der Mehrzahl der bildungsreformerischen Ansätze das britisch-indische Bildungssystem mit seinem starken Fokus auf klassischer Bildung für Mittelstand und Eliten als reformbedürftig empfunden.90 Die Kritik an der als imperialistisch und ungerecht angesehenen Bildung avancierte zu einem Kernargument des Widerstandes gegen die Kolonialherrschaft und lieferte Argumente für neue Bildungsideale.91 Indien brauchte demnach keine abstrakte Bildung, kein Sanskrit und antikes Wissen, sondern eine funktionale Bildung, wie sie in westlichen Ländern selbstverständlich schien. Zudem beruhte den Kritikern zufolge der Erfolg von Reformen nicht primär auf der Elitenbildung, sondern auf der Bildung der Massen.92 S. K. Datta brachte die Ideale für eine neue Bildung in einer sozioökonomischen Grundformel zusammen: „The main effort
86 J. T. Sunderland: „India and Japan“, MR, Bd. 40, Nr. 1 (Juli 1926), 16–21, hier 18. 87 Siehe auch Kumar: Political Agenda of Education, 155–158. 88 Rai: National Education, 21. Auch der Indian Social Reformer bekräftigte, dass Bildung durch Patriotismus inspiriert und auf die Zukunft Indiens im Kreis der Nationen ausgerichtet sein musste. Vgl. „National Education II“, ISR, Bd. 31, Nr. 6 (Oktober 1920), 97–98. Vgl. auch Datta: „The Problem of Education“, 13. Er sah Bildung als Instrument für ein vereintes, selbstbestimmtes Indien. Den Einfluss der englischen Bildung auf den indischen Nationalismus beurteilte er dabei positiv. 89 Besant: Birth of New India, 194. Siehe auch Taylor: Annie Besant, 278–280. 90 Besonders deutlich ist die Kritik am alten System bei N. S. Iyengar: „The New Spirit in India“, ISR, Bd. 32, Nr. 22 (Januar 1922), 361–363. Auch der britische Kolonialpolitiker Arthur Mayhew stimmte zu, dass die höhere Bildung in Indien versagt hatte. Vgl. Arthur Mayhew: „Education in India“, TWT, Bd. 13, Nr. 12 (Dezember 1930), 497–499, hier 499. Die literarische Tradition der britischen Bildung und den Zusammenhang zwischen Wissen und kolonialer Herrschaftspraxis in Indien untersucht Gauri Visanathan: Masks of Conquest. Literary Study and British Rule in India, London 1989. 91 Bereits in seinem frühen Werk Hind Swaraj hatte Gandhi das britisch-indische Bildungssystem kritisiert. Siehe Brown: Gandhi, 106. Siehe auch Singh: Indian Political Thinkers, 184. 92 Zwei britische Autorinnen, die sich dementsprechend äußerten, waren Vera Anstey und Annie Besant. Vgl. Anstey: Economic Development, 480; Besant: Birth of New India, 8–10.
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of a national system of education is to ensure that everyone learns how to earn his livelihood.“93 Der neue Anspruch auf Nützlichkeit und Allgemeinheit begann bei der Primärbildung. Aus Vergleichen mit westlichen Bildungssystemen leiteten einige Autoren die Notwendigkeit her, eine Bildungspflicht einzuführen, um den Analphabetismus und damit eines der größten Entwicklungshindernisse zu bekämpfen.94 Im Zuge dessen kam auch die traditionelle Geschlechtertrennung unter Beschuss. „Every child is a citizen of the future, and not to give every child a chance to grow in mind, body and character is to betray the nation’s future“,95 mahnte T. L. Vaswani, der seine Bildungsideale nicht nur in Aufsätzen und Reden unter das Volk brachte, sondern in Bildungsinstitutionen wie der St. Mira Grundschule in Pune unmittelbar praktizierte.96 Wurde die Primärbildung gleichsam als Zukunftsinvestition in selbstbewusste Bürger interpretiert, so setzte sich dieser funktionalistische Blickwinkel bei der Sekundär- und Berufsbildung fort. Ein reformiertes Bildungssystem musste aus Sicht vieler Reformer die Ausbildung in den Bereichen des industriellen und sozialen Lebens, also besonders in anwendungsorientierten Fächern wie Medizin und dem Ingenieurwesen fördern und zugleich das Bildungsgefälle
93 Vgl. Datta: „Problem of Education“, 14. Rajani Kanta Das betonte insbesondere die Notwendigkeit der sozialen Funktionalität von Bildung: „Social progress depends upon the solution of its specific problems with reference to its inner organization and environmental condition.“ R. K. Das: „Political Reorganization and Industrial Efficiency“, MR, Bd. 48, Nr. 284 (August 1930), 146–151, hier 150. 94 R. K. Das sah die Regierung deshalb in der Pflicht, jedem Bürger das Recht auf eine fundamentale Bildung zu gewähren Vgl. Das: „Political Reorganization“, 150. Auch Kamala Bose sah im Analphabetentum die größte Gefahr für Indien. Vgl. Kamala Bose: „A Plea for educational reform in India“, MR, Bd. 43, Nr. 2 (Februar 1928), 147–152, hier 148. Eine zentralisierte Primärbildung sah der Aga Khan als wichtigsten Schritt, um Indiens Rückständigkeit gegenüber anderen Nationen zu beseitigen. Vgl. Aga Khan: India in Transition, 215–216, 221. 95 T. L. Vaswani: The Secret of Asia. Essays on the spirit of Asian culture, Madras 1900, 61. Dass für die frühkindliche Bildung auch alternative westliche Bildungskonzepte wie etwa dasjenige Maria Montessoris diskutiert wurden, zeigt ein Beitrag des Briten W. W. Pearson, eines Weggefährten Rabindranath Tagores. Nur wenn eine anti-autoritäre Frühbildung die Eigeninitiative und die Vitalität der Kinder fördere, schrieb Pearson, konnten diese und damit auch die Nation befreit werden. Vgl. W. W. Pearson: „Swaraj through education“, MR, Bd. 34, Nr. 3 (September 1923), 275–280. Zur Rezeption des Montessori-Modells in Indien siehe auch Kumar: Political Agenda of Education, 113. Auch Lajpat Rai wendet sich gegen autoritäre Frühbildung, verwies dabei jedoch auf das japanische System: „The Japanese maintain an attitude of respect towards their children. They treat the children as their equals and always address them as such.“ Rai: National Education, 18. 96 Vaswanis Bildungsarbeit wird beschrieben in M. M. Lulla: The Modern Saint of India. Sadhu T. L. Vaswani (his philosophy and educational values), Vadodara 2001, 4–5, 44–47.
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zwischen Stadt und Land reduzieren.97 Ein ausführliches Programm speziell für ländliche Berufsausbildung legte J. W. Petavel vor, der sich an der Universität Kalkutta mit dem Armutsproblem auseinandersetzte. Als „Revolution in der Bildung“ beurteilte er die Möglichkeit eines integrativen Ausbildungssystems, das Schule und Arbeit in lokalen Industrien verband und sich somit selbst finanzierte: „Owing to the industrial progress of the last decades, the manual part of the training can, under proper conditions, be made to pay for the whole, so that we can have the entire programme for the poorest as well as for the richest.“98 Aus Petavels Sicht konnte Indien – wie in der Schweiz und Frankreich geschehen – mit dem Prinzip des „earn and learn“ den fundamentalen Problemen der Armut und Unterbeschäftigung begegnen. Eine Orientierung an westlichen Bildungsinhalten und -strukturen hielten viele Bildungsreformer für angemessen. Die Erfahrungen indischer Auslandsstudenten beurteilte man als wichtige Quelle für die Modernisierung des Bildungssystems. Ohne den traditionellen Wissenskorpus zu verwerfen, hielt man modernes Wissen für unabdingbar, um die internationale Konkurrenzfähigkeit Indiens zu garantieren. Für Lajpat Rai, Jadunath Sarkar und andere schien eine Zukunft ohne moderne Bildung ebenso unmöglich wie kulturelle Isolation.99 Das Ziel einer wirtschaftlich starken, politisch unabhängigen Nation überlagerte dann das Gefühl kultureller Bedrohung durch westliche Einflüsse. Neben dem Diktat des Fortschritts der Nation und der Forderung nach Gerechtigkeit und
97 Datta, der sich für das Rural Reconstruction Programme des YMCA einsetzte, verwies in diesem Zusammenhang auch auf einen Bericht der Conference of the Missionary Societies of Great Britain and Ireland, der Vorschläge für berufliche Bildungsprogramme in den Dörfern enthielt. Bildung sollte demnach nicht nur in Schulen, Colleges und Universitäten stattfinden, sondern dort, wo sie am meisten gebraucht wurde. Datta: „Problem of Education“, 14. Siehe auch David: YMCA, 280. Vgl. auch Das: „Political Reorganization“, 151. Das Leitprinzip der Erwachsenenbildung sollte die Anpassung des Einzelnen an seine politische und wirtschaftliche Umgebung und die Ausschöpfung seiner Möglichkeiten sein. Vgl. „Adult Education“, MR, Bd. 29, Nr. 6 (Juni 1921), 788–789. 98 Die praktische Tätigkeit junger Inder „towards their own maintenance“ könne diesen Vitalität, Moral und Selbstständigkeit vermitteln. Vgl. J. W. Petavel: „The Coming Revolution in Education“, MR, Bd. 27, Nr. 2 (Februar 1920), 173–177, hier 174–177, Zitat: 175. Vgl. auch ders.: „Selfsupporting Education“, CR, Bd. 9 (Oktober–Dezember 1923), 466–469, und ders.: „Co-operation and the problem of vocational education“, CR, Bd. 1 (Oktober–Dezember 1921), 267–276. Auch Gandhis Bildungsideal des wirtschaftlich und sozial aktiven Bürgers basierte auf der Verbindung von Produktion und Lehre. Vgl. Kumar: Political Agenda of Education, 112–113. 99 Vgl. Rai: National Education, 12–14; Jadunath Sarkar: „An Educational Programme for Bengal“, MR, Bd. 32, Nr. 1 (Juli 1922), 70–75, hier 70. Vgl. auch ders.: „University Problems of to-day“, MR, Bd. 29, Nr. 1 (Januar 1921), 28–34, hier 33. Ähnlich auch Vaswani: Secret of Asia, 5, sowie Das: „Political Reorganization“, 149.
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hancengleichheit durch Massenbildung war aber auch die Frage der indischen C Identität vom Bildungsdiskurs nicht zu trennen.100
5.2.2 „Nationale Bildung“ und indische Identität Der britische Indologe Sir John Woodroffe hatte eine ganz spezifische Vorstellung davon, was eine „nationale“ Bildung in Indien bedeutete, und vor allem, wie sie realisiert werden konnte. Der Titel seines Werkes The Seed of Race. An Essay on Indian Education von 1921 war Programm: Eine wahrhaft nationale Bildung musste den Kern der indischen Rasse bewahren, also Woodroffe zufolge die Inder lehren, „to realise their own Indian selves“101. Dabei ging es dem lange Zeit in Indien lebenden Tantriker nicht darum, westliche Wissenschaften und Sprachen aus dem indischen Curriculum zu verbannen; wie Rai hatte er eine universalistische Vorstellung von Wissen, die kulturellen Separatismus verbot: „Knowledge belongs to the world and not to any one people, and the more the Indian people know of the rest of the world and its thoughts, the better for them“.102 Jedoch war er überzeugt, dass kulturell sensible Lehrinhalte vor allem der Geisteswissenschaften nicht ohne subjektive Prägung des Lehrenden vermittelt werden konnten. Woodroffe zufolge musste deshalb „the right type of Indian“103 mit entsprechender Verankerung in indischer Lebensart und Kultur die Rolle des Lehrenden übernehmen. Nur auf der Grundlage einer derart durch indische Augen reflektierten Bildung, die westliches Wissen nicht imitierte, sondern an den „indischen Organismus“ anpasste, könne die indische Identität („the Indian soul“) bewahrt und gleichzeitig ein Platz in der modernen Welt eingenommen werden.104 Wie häufig im Modernisierungsdiskurs beantwortete auch Woodroffe die Frage nach der richtigen Orientierung zwischen Tradition und Moderne mit der Idee einer
100 Siehe Kumar: Political Agenda of Education, 16–18. Kumar identifiziert diese drei Punkte, Gerechtigkeit, Modernisierung (Industrialisierung) und Identität, als zentrale Antriebsfaktoren der Unabhängigkeitsbewegung und damit auch als Kristallationspunkte des Bildungsdiskurses. 101 Woodroffe meinte damit vor allem, nach den Prinzipien des Dharma zu handeln. Vgl. John Woodroffe: The Seed of Race. An Essay on Indian Education, Madras 1921, 53. 102 Vgl. ebd., 32–33. 103 Ebd., 30. Vgl. ebd, 27. 104 Vgl. ebd., 48. In einer Besprechung von Woodroffes Werk für die Asiatic Review stimmte Stanley Rice dieser These zu. Vgl. Stanley Rice: Besprechung von John Woodroffe: The Seed of Race, AR, Bd. 16, Nr. 46 (April 1920), 532–533. Ähnlich äußerte sich auch Subbarao G. Mandre, der 1936 in München zum Thema der indischen Frauenbildung promovierte. Vgl. S. G. Mandre: „Educational Ideals of the East and the West“, ISR, Bd. 38, Nr. 5 (Oktober 1927), 102–104.
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„organischen“ Verbindung von beidem. Das Bedürfnis, Bildung stärker an die indische Identität zu binden, teilte er mit vielen anderen Autoren.105 Der Anspruch auf „nationale“ Bildung konnte auch als Schutz der eigenen Kultur durch souveräne Aneignung oder Ablehnung westlichen Wissens gedacht werden. Bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatten sich indische Intellektuelle darum bemüht, traditionelle Bildungsinhalte mit einer kolonialen Bildungspolitik zu vereinbaren, die seit William Bentinck eine Verwestlichung auf der Basis der englischen Sprache vorsah.106 Letztere wurde dafür kritisiert, die indische Bevölkerung kulturell zu entfremden. Einen Ausweg aus dieser Entfremdung sah man in der Förderung der einheimischen Sprachen. Nur wenn universales Wissen durch die Sprachen des Volkes vermittelt würde, so die Sicht der Bildungsreformer, könne es der Partikularität Indiens gerecht werden.107 Diese Debatte gewann in den 1920er Jahren erneut an Brisanz, als Gandhi im Zuge seiner Bewegung der Nicht-Kooperation die Studenten aufforderte, den Universitäten und Schulen fernzubleiben.108 Vaswani gehörte zu jenen Sozialreformern, die sich in dieser politisch aufgeladenen Stimmung für eine „Indianisierung“ der Bildung durch den Gebrauch der einheimischen Sprachen stark machten; diese sah er als einzig geeignetes Medium an, um westliches Wissen konstruktiv zu nutzen, ohne in eine imitative Entwicklung zu verfallen.109 Darüber hinaus hielt er es für bedeutsam, traditionellen Bildungsidealen – dabei besonders Dharma (Ehrfurcht vor sozialen Gesetzen), Kama (Selbsterfüllung) und Moksha (Befreiung) – treu zu bleiben; diese ergänzte er durch ein viertes Prinzip der Kameradschaft, das dem Bedürfnis sozialer Reform Rechnung trug.110 Ausgehend von studentischen Wohngemeinschaften (Asramas) in den Dörfern, sollten junge Menschen auf freiwilliger Basis ihr Wissen an die Bevölkerung weitergeben und damit Einfachheit und Menschlichkeit üben.111 Vaswani wünschte
105 Eine weitere westliche Stimme fand sich auch hier mit Annie Besant, die etwa vorschlug, den Unterricht auch in Zukunft nach indischer Tradition im Freien zu halten. Vgl. Besant: India, Bond or Free?, 126–127. 106 Siehe zur Rolle der indigenen Bildungseliten für die Entwicklung des indischen Bildungswesens Lynn Zastoupil: „Englische Erziehung und indische Modernität“, GG, Bd. 28, Nr. 1 (2002), 5–32. 107 Siehe Goswami: Producing India, 148–150. Vgl. zum kulturellen Nationalismus besonders der Swadeshi-Bewegung Kumar: Political Agenda of Education, 116–117. 108 Siehe Kumar: Political Agenda of Education, 121. Damit stieß er jedoch nicht nur auf Zustimmung. Vgl. „A Talk with our Students“, ISR, Bd. 31, Nr. 23 (Februar 1921), 386–388. 109 Vaswani: Secret of Asia, 57. 110 Vgl. ders.: „Philosophy of Indian Education“, IR, Bd. 29, Nr. 12 (Dezember 1928), 833–835. 111 Vgl. ders.: „The Spirit Constructive“, IR, Bd. 27, Nr. 12 (Dezember 1926), 799–800, hier 800.
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sich demnach eine Bildung, die nicht der Akkumulation von Wissen und Macht in einem internationalen Referenzrahmen diente, sondern primär ethischen Ansprüchen genügte.112 Vaswanis Bildungsideale waren ebenso wie Woodroffes von einer grundlegenden Offenheit gegenüber westlichen Kultureinflüssen geprägt,113 die in den Bildungskonzepten anderer konservativer Autoren fehlte.114 Noch ausgeprägter war hier eine Tendenz, die immaterielle gegenüber der utilitaristischen Zielsetzung zu priorisieren. Bildung musste Indiens kulturelle Einzigartigkeit bewahren, das hieß vor allem ihre Religiosität.115 „The true aim of education is to give the world not profits, but prophets“,116 wurde das geistig-religiöse Bildungsideal in der südindischen Zeitschrift To-morrow umrissen, die von den britischen Theosophen George S. Arundale und James H. Cousins herausgegeben wurde. Wie Arundale und Cousins engagierte sich die gebürtige Irin Norah Richards in der indischen theosophischen Bewegung. Bildungsprogramme wie dasjenige Lajpat Rais kritisierte sie gerade wegen ihres sozio-politischen Funktionalismus. Rai ignoriere die Tatsache, dass hohe Bildung, Literatur und Kunst den eigentlichen – spirituellen – Gehalt nationaler Bildung ausmachten: „Patriotic education provides growing conditions for the body, but national education provides these same conditions for the soul“.117 Auch K. T. Paul, der vor seiner langen Karriere beim YMCA als Lehrer tätig gewesen war, verweigerte sich utilitaristischen Bildungskonzepten. Auf einer Konferenz christlicher Lehrer in Madras brachte er die Meinung vor, Bildung könne menschliche Fähigkeiten nicht direkt vermitteln, da diese gottgegeben seien, sondern nur indirekt zu ihrer positiven Entfaltung beitragen.118 Die Idee von der Zukunft Indiens als spirituelle „Hindu“-Nation wurde demnach in den Bildungsdebatten von indischer wie westlicher Seite verstärkt.
112 Vgl. ders.: Secret of Asia, 62. 113 Ebenso wie Lajpat Rai forderte Vaswani eine kosmopolitische nationale Bildung. Vgl. ders.: „Education and Nation-Building“, IR, Bd. 24, Nr. 4 (April 1923), 256. 114 Vgl. S. V. Ramamurty: „Educational Reconstruction“, YMI, Bd. 38, Nr. 4 (Februar 1926), 256– 260, und A. P. Ghose: „Our national education“, IR, Bd. 24, Nr. 5 (Mai 1923), 297–299. Der Konservatismus dieser Position zeigt sich auch darin, dass Ghose die Entscheidung über die Bildung der Frauen deren Ehemännern überlassen wollte. Vgl. ebd., 299. 115 Siehe Kumar: Political Agenda of Education, 160. 116 „Tomorrow’s point of view“, To-morrow, Bd. 1, Nr. 9 (November 1921), 375–378, hier 378. Die enge Assoziation von Bildung und Religion wurde auch deutlich bei D. Sankaranarayan: „Indian Education“, YMI, Bd. 1, Nr. 3 (Oktober 1926), 134. 117 Norah Richards: „Indian ‚National‘ Education“, MR, Bd. 30, Nr. 6 (Dezember 1921), 653–655, hier 655. 118 K. T. Paul: „Adequate Conception of Education for Modern India“, YMI, Bd. 33, Nr. 5 (Mai 1922), 269–273, hier 273.
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5.2.3 Aufbruchstimmung im chinesischen Bildungswesen In seinem kurzen Essay China: The Land of the Limelight von 1924 zeigte sich H. G. Wells beeindruckt von einer Rede Cai Yuanpeis vor der China Society, einer Einrichtung der Londoner School of Oriental Studies.119 Cai Yuanpei, eminenter Bildungsreformer und seit 1917 Direktor der Beijing-Universität, hatte von den Fortschritten des chinesischen Bildungssystems berichtet. „It was one of the most reassuring things I have witnessed for some time“,120 schrieb Wells. Die Chinesen, so gehe aus Cais Bericht hervor, entwickelten eine Vertrautheit mit, aber auch eine kritische Haltung gegenüber westlichem Denken. In einer wachsenden Zahl von Schulen werde der enorme Durst der Chinesen nach Wissen gestillt, sodass das Ziel allgemeiner Bildung innerhalb einer Generation erreichbar sei. Wells wertete diese Fortschritte als positives Zeichen für die Verwendung der britischen Boxerentschädigungen: So konnte britisches Geld Cai zufolge etwa in ein neues, nach britischen Vorbildern gestaltetes Institut für Naturwissenschaften fließen.121 Die Amerikaner hatten sich mit missionarischen Bildungsinitiativen wie Yalein-China und dem Boxer Indemnity Scholarship Program, das ausgewählten Gruppen chinesischer Stipendiaten zu einem Studium in den USA verhalf, bereits im chinesischen Bildungssystem etabliert.122 Wie H. G. Wells warben auch andere britische Autoren dafür, es den Amerikanern gleichzutun und in den Aufbau eines modernen chinesischen Bildungssystems zu investieren.123 Der ausländische Einfluss auf das chinesische Bildungssystem ging wesentlich weniger weit zurück als in Indien. Erst im ausgehenden 19. Jahrhundert, mit den Reformbemühungen der späten Qing-Dynastie, kam Bewegung ins traditionelle chinesische Bildungssystem, das auf die Reproduktion klassischer
119 Vgl. H. G. Wells: „China: The Land of the Limelight“, in: ders.: A Year of Prophesying, 170–174. Die London School of Oriental Studies ist heute die London School of Oriental and African Studies (SOAS). 120 Ebd., 173. 121 Vgl. Cai Yuanpei: „The Development of Chinese Education“, AR, Bd. 20, Nr. 63 (Juli 1924), 499–509, hier 507. 122 Diese Initiative hatte zur Folge, dass chinesische Studenten in den 1920er Jahren mehrheitlich die USA der europäischen Alternative vorzogen. Siehe Trecott: Jingji Xue, 61–63. Die Zahl der chinesischen Studenten in den USA wuchs kontinuierlich, während die Zahl der Studenten in Japan, die allein 1906 noch über 8000 betrug, abnahm. Siehe Weili Ye: Seeking Modernity in China’s Name. Chinese Students in the United States, 1900–1927, Stanford 2001, 9. 123 Vgl. etwa Soothill: „Western Races“, 204–205. Sowie Samuel Lavington Hart: „Education in China“, AR, Bd. 29, Nr. 62 (April 1924), 236–244, hier 242–243. Lavington schlug als Alternative zu britischen Schulen in China auch die Gastarbeit britischer Lehrer und Professoren an chinesischen Einrichtungen vor.
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Bildungsinhalte und die Ausbildung loyaler Regierungsbeamter ausgerichtet gewesen war. Nationale Selbststärkung, so das Credo der Staatsreformer, bedurfte eines modernen Schulwesens. Man orientierte sich verstärkt an westlichen Bildungsmodellen und -inhalten, förderte Auslandsstudien und die Ausweitung des Bildungssystems.124 Wie keine andere Institution symbolisierte die 1898 gegründete Beijing-Universität den neuen Reformwillen im Bildungswesen. Cai Yuanpei, der die Bildungsreformen mit seinen Schriften theoretisch sowie in verschiedenen Regierungspositionen auch praktisch entscheidend voranbrachte, reorganisierte die als korrupt und reformresistent geltende Universität: Wissenschaftliche Forschung hatte nun Priorität gegenüber Bürokratie; neue Lehrkräfte wurden nach dem Leistungsprinzip eingestellt; politische Gedankenfreiheit und Neutralität galten als grundlegende Maximen; gleiche Bildungschancen sollten hier allen Teilen der Bevölkerung offenstehen.125 Unter Cai avancierte die Universität zur Ideenschmiede und Schaltzentrale der Neuen Kulturbewegung. Sudhindra Bose zeigte sich von der Aufbruchstimmung im chinesischen Bildungswesen ebenso beeindruckt wie Wells: China is seeking her salvation in education. Buddhist temples, Taoist temples, and Confucian temples are being turned into schools and colleges. What a prodigious thirst the Young China has for knowledge! What a feverish anxiety it displays in mastering the rational and experimental science of the West!126
Die Begeisterung der jungen Generation Chinas für neues Wissen sah man gemeinhin als Schlüssel zu kultureller, politischer, sozialer und wirtschaftlicher Erneuerung und zur nationalen Integration. „Indeed, in China, more than in any other country, education underlies the solution of all her problems“, schrieb der Bildungswissenschaftler P. W. Kuo, der nach seiner Ausbildung am Teachers
124 Siehe Alexander Woodside/Benjamin Elman: „Afterword: The Expansion of Education in Ch’ing China“, in: dies. (Hg.): Education and State in Late Imperial China, 1600–1900, Berkeley 1994, und Suzanne Pepper: Radicalism and Education Reform in 20th-century China. The Search for an Ideal Development Model, Cambridge 1996, besonders 55–59. Der Spielraum für Bildungsreformen war besonders zwischen 1912 und 1927 relativ groß. Siehe Beate Schulte: „Zur Rettung des Landes“. Bildung und Beruf im China der Republikzeit, Frankfurt/New York 2008, 16–17. Den langen Reformprozess im Bildungswesen, der nicht erst Ende des 19. Jahrhunderts begann, arbeitet Elman ausführlich auf. Siehe B. A. Elman: Civil Examinations and Meritocracy in Late Imperial China, Cambridge, MA/London 2013. 125 Zu Cai Yuanpeis Reformen an der Beijing-Universität Peili Wang: Wilhelm von Humboldt und Cai Yuanpei. Eine vergleichende Analyse zweier klassischer Bildungskonzepte in der deutschen Aufklärung und in der ersten chinesischen Republik, Münster/New York 1996, 175–189. 126 Sudhindra Bose: „Young China“, MR, Bd. 29, Nr. 6 (Juni 1921), 787. 127 Kuo/Soyeshima: Oriental Interpretations, 129.
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College in New York zu Beginn der 1920er Jahre verschiedene Führungsämter in der schulischen und universitären Landschaft Chinas bekleidete.127 Die Reform des Bildungswesens wurde zur patriotischen Pflicht erhoben. Besonders im Zuge der Neuen Kulturbewegung erfuhr Bildung eine starke Aufwertung. Der Reformer Chai-hsuan Chuang (Zhuang Zhaixuan), der seinen Abschluss am Teachers College der Columbia University gemacht hatte, berichtete von einem stetig wachsenden wissenschaftlichen und öffentlichen Interesse an Bildung und Bildungspolitik in China. Viele Zeitschriften und Tageszeitungen widmeten sich nun dem Thema.128 Chuang selbst verstand seine Studie Tendencies towards a Democratic System of Education (1922) als Beitrag zu einem transnationalen Bildungsdiskurs: Sie zielte darauf, Lesern im In- und Ausland die Fortschritte im chinesischen Bildungssystem sowie weitere Reformwege aufzuzeigen. Die Bildungsideale, die Chuang vorbrachte, entsprachen jenen, die auch im indischen Bildungsdiskurs dominierten: Bildung sollte erstens praktisch sein und zweitens die Massen erreichen. Unter praktischer Bildung verstand Chuang wie viele seiner Zeitgenossen die Vorbereitung der jungen Chinesen auf eine „intelligent citizenship“ durch soziale Aktivitäten innerhalb und außerhalb der Schule; die Landbevölkerung sollte durch dörfliche Bildungszentren erreicht werden, die auch als soziale Austauschforen dienen konnten.129 Nur auf der Basis demokratisierter Bildung hatte China aus dieser Sicht eine Chance auf politische, wirtschaftliche und soziale Demokratie.130 „How to educate China’s illiterate Millions for Democracy in a Decade?“,131 lautete der Titel eines Aufsatzes, den der seinerzeit renommierteste chinesische Verfechter der Massenbildung, Y. C. James Yen (Yan Yangchu), im Jahr 1923 verfasste. Yen hatte in Yale studiert, war zum Christentum konvertiert und für das chinesische YMCA tätig. Wie viele Mitglieder der chinesischen Führungselite galt er als „‚liberal‘ in an American sense“.132 Für die Massenbildungsbewegung, die er in Shanghai ins Leben rief, reduzierte er das chinesische Vokabular radikal, Lehrbücher veröf128 Chai-hsuan Chuang: Democratic System of Education in China, 36. 129 Diese Maßnahmen schienen ihm der einzige Weg, um ein soziales und darauf aufbauend ein nationales Bewusstsein zu generieren. Vgl. ebd, 168. 130 „[F]or to secure genuine democracy“, so sah es etwa Kuo, der das Vorwort zu Chuangs Studie schrieb, „we must have citizens who are socially responsible with a devotion to public ends and an interest in public affairs“: Kuo/Soyeshima: Oriental Interpretations, 131. 131 Vgl. Y. C. James Yen: „How to educate China’s illiterate Millions for Democracy in a Decade?“, BCE, Bd. 2., Nr. 5, Shanghai 1923. Die Bulletins dieser Ausgabe widmeten sich den verschiedenen Arten von Bildung wie der Frauen- oder der Primärbildung. 132 Hayford: To the People, x. Siehe zu Yens Werdegang auch Stacey Bieler: „Yan Yanchu, 1893– 1990“, Biographical Dictionary of Chinese Christianity, Onlineausgabe [http://www.bdcconline. net/en/stories/y/yan-yangchu.php, abgerufen am 20.10.14].
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fentlichte er zu Niedrigstpreisen. Es folgte ein langjähriges Engagement für die Entwicklung auf dem Land. Um auch hier ein Bewusstsein für die Bedeutung von Bildung zu generieren, so Yen, müsse sie den Bedürfnissen der Landbevölkerung angepasst sein: also zur Produktivität der Landwirtschaft beitragen. Das ambitionierte Ziel seiner Massenbildungskampagne lag in der Erziehung der Menschen zu Selbstständigkeit und Bürgersinn, letztlich zu Weltbürgern. Im Umkreis des IPR stieß Yens Initiative auf große Anerkennung und wurde gar als „one of the most significant movements in all the history of education“133 wahrgenommen. Bildungstheoretische Ansätze hatten sich demnach merklich gewandelt von den traditionellen Bildungsidealen, die auf theoretische Lehrinhalte ausgerichtet waren, hin zu einer Bildungsphilosophie, welche soziale Reform und den modernen Bürger in den Vordergrund rückte.134 Der Einfluss amerikanischer Bildungswissenschaftler auf die chinesischen Reformer war dabei deutlich spürbar. Neben John Dewey ist besonders Paul Monroe zu nennen, der Deweys Interesse an China teilte, jedoch lange in dessen Schatten stand. Monroe unterrichtete chinesische Auslandsstudenten am Teachers College der Columbia University, leitete dort eine Forschungsgruppe zum chinesischen Bildungswesen und unternahm zwischen 1913 und 1941 vierzehn Forschungs- und Vorlesungsreisen nach China – mehr als jeder andere amerikanische Bildungswissenschaftler.135 In seinem Vorwort zu Monroes Werk China. A Nation in Evolution (1928) attestierte Alfred Sze dem Amerikaner vor diesem Hintergrund nicht nur ein umfassendes Wissen über China, sondern auch ein tiefes Verständnis chinesischer Bedürfnisse und Ziele. „It is certain“, so Alfred Sze, „that his influence in and contribution toward the development of modern education in China will, when it is summed up, be
133 Herausgeber über Y. C. James Yen: „Chinese Mass Education Movement Progresses Strong ly“, IPRNB (Oktober 1926), 1, 8–12, hier 1. Vgl. Y. C. James Yen: „Mass education in China“, CSM, Bd. 24, Nr. 4 (Februar 1929), 171–177, hier 175. 134 Zu diesem modernen Bildungsideal vgl. auch P. C. King: „Modern Education in China“, CWR, Bd. 17, Nr. 4 (Februar 1922), 302–303, hier 302. Und T’ang: New Social Order, 156. 135 Siehe zu Paul Monroes bildungsreformerischem Einfluss auf China Jongyu Zhou/Jingrong Chen: „Paul Monroe and Education of Modern China“, EdJ, Bd. 35, Nr. 1 (Sommer 2007), 1–38. Vom Pragmatismus Deweys war etwa Cai Yuanpeis Bildungsphilosophie deutlich geprägt, welche die Herausbildung moralisch, geistig und körperlich gesunder Individuen in den Mittelpunkt stellte, diese jedoch auch zu pflicht- und rechtsbewussten Bürgern erziehen wollte. Wang weist jedoch darauf hin, dass die pragmatische Dimension der Bildungsideale Cais v. a. seiner politischen Position geschuldet waren. Siehe Wang: Wilhelm von Humboldt und Cai Yuanpei, 118, 126–127. Der Glaube an die „redemptive qualities of education“ kann auch als konfuzianisches Element interpretiert werden. Siehe Eugene Lubot: Liberalism in an Illiberal age. New Culture Liberals in Republican China 1919–1937, Westport/London 1982, 7. 136 A. S. Sze: „Foreword“, in: Monroe: Nation in Evolution, ix–xiii, hier x.
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found to be immense“.136 In die Bemühungen um eine Modernisierung des chinesischen Schulwesens brachte sich Monroe aktiv ein, regte etwa die Einführung der dreistufigen Schulbildung nach amerikanischem Vorbild an.137 Wie im Falle Deweys war Monroes wissenschaftlicher Pragmatismus richtungweisend für die neuen chinesischen Bildungsideale: Wissenschaftlichkeit galt es mit Nützlichkeit und Massentauglichkeit zu verbinden.138 In universitären Vorträgen sprach Monroe besonders über die Möglichkeiten der Massenbildung, von der seiner Meinung nach Fortschritt primär abhing.139 Er legte dar, wie er sich die Demokratisierung von Wissen vorstellte: Eine stärkere berufliche Ausrichtung der höheren Bildung sollte Studenten befähigen, Wissen an die Landbevölkerung weiterzugeben und deren Probleme effektiv anzugehen. Ebenso wie einigen Intellektuellen im indischen Kontext ging es ihm darum, das Gefühl junger Menschen für soziale Verantwortung und für die Chancen zu schulen, die in der Bildung der Landbevölkerung für sie selbst und für China lagen.140 Wie Monroe, Chuang und Kuo bewerteten die Mehrheit der Beobachter die praktische und soziale Bildung der Massen als entscheidende Voraussetzung für Demokratie und Fortschritt in China. Nicht zufällig lag der Fokus der Neuen Kulturbewegung auf Massenbildungskampagnen und einer Vereinfachung der Schriftsprache.141 Die Notwendigkeit für Massenbildung wurde nicht nur damit begründet, die politischen, sozialen und technischen Fähigkeiten der Bevölkerung für den Modernisierungsprozess sicherzustellen;142 wie der amerikanische Missionar, Bildungswissenschaftler und Redakteur John Ferguson betonte, diente sie auch ihrem materiellen, gesundheitlichen, mentalen und moralischen Wohl. Ferguson zufolge, der die größte Zeit seines Lebens in China verbrachte und hier einflussreiche staatliche und gesellschaftliche Positionen innehatte, war dies der
137 Dieses sah nach sechsjähriger Primärschule drei Jahre Sekundärschule sowie drei Jahre College vor. Kuo schrieb Monroe eine wichtige Funktion für diesen Beschluss der Provincial Education Association zu. Vgl. P. W. Kuo: „Introduction“, in: Chuang: Democratic system of education, ix–x. 138 Vgl. Kuo/Soyeshima: Oriental Interpretations, 133–134. 139 Vgl. Paul Monroe: „Communication and Education in China“, CWR, Bd. 19, Nr. 8 (Januar 1922), 321–323, hier 321. 140 Ders.: „The necessity for a professional emphasis, particularly in Higher Education“, ER, Bd. 21, Nr. 2 (April 1929), 119–127, hier 127. Siehe zu Monroes Ideal demokratischer Bildung auch Zhou/Chen: „Paul Monroe“, 14–15. 141 Auch Frauenbildung und eine allgemeine Bildungspflicht wurden gefordert. Vgl. zur Frauenbildung etwa Charles Edmunds: „Modern Education in China“ [I], JIR, Bd. 10, Nr. 1 (Juli 1919), 62– 86, hier 86. Zu den Bedingungen, die für eine Bildungspflicht erfüllt werden mussten, vgl. etwa L. S. Loh: „Compulsory Education in China“, CSM, Bd. 17, Nr. 4 (Februar 1922), 313–324, hier 323–324. 142 Vgl. beispielsweise Peffer: China, 218, 285.
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einzige Weg, „[to] save the country from sooner or later falling into the hands of some doctrinaire such as Lenin or Gandhi.“143 Ebenso wie an andere universalisierte Konzepte wie „Nation“ und „Demokratie“ waren an dasjenige der „Bildung“ demnach hohe Erwartungen geknüpft: Sie musste weit verbreitet und modern, also wissenschaftlich sein, dabei jedoch nicht theoretisch, sondern praktisch. Sie allein konnte die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Fähigkeiten der Bevölkerung entfesseln und auf diese Weise den Rückstand Chinas gegenüber den westlichen Nationen beseitigen.144 Nicht zuletzt sollte sie auch kosmopolitisch sein und einen starken moralischen Charakter herausbilden.145 Eine 1931 von der chinesischen Regierung beauftragte Untersuchungskommission des Völkerbundes kam in ihrem Abschlussbericht zu dem Ergebnis, dass die bisherigen Anstrengungen im chinesischen Bildungswesen noch nicht ausreichten und die neuen Bildungsideale nur bedingt erfüllt worden waren. Die europäisch besetzte Kommission unter der Leitung Richard Tawneys bemängelte nicht zuletzt die Abhängigkeit von amerikanischen Bildungsinstitutionen, was ihr den Vorwurf des Antiamerikanismus einbrachte.146 Jedoch traf die Kritik einen empfindlichen Nerv. So stellten sich einige Beobachter die Frage, ob westliche – vorwiegend amerikanische und missionarische – Einrichtungen den hohen Ansprüchen an ein modernes Bildungssystem in China gerecht wurden.
5.2.4 Die Zukunft der missionarischen Bildung in China Das Vorhaben westlicher Länder, moderne Bildungssysteme nach Asien zu exportieren, konnte philanthropisch legitimiert werden, blieb jedoch mit einem kulturimperialistischen Beigeschmack behaftet. Dies zeigte sich nicht nur in Indien, wo sich die nationalistische Bewegung an der britischen Bildungspolitik rieb, sondern auch in China. Antiimperialistische Ressentiments äußerten sich nicht zuletzt in wachsender Kritik an missionarischen Bildungseinrichtungen.147 143 Vgl. J. C. Ferguson: „Modern Education in China“, CR, Bd. 53, Nr. 10 (Oktober 1922), 629–635; auch ders.: „Ideals for New China“, TCD, Bd. 10, Nr. 144 (Januar 1928), 164–165. 144 Vgl. die Abschiedsrede Bertrand Russells, zitiert in „China’s Road to Freedom“, CR, Bd. 1, Nr. 2 (August 1921), 59, und H. O. Shastri: „H.G. Wells on the Far East“, CWR, Bd. 25, Nr. 8 (Juli 1932), 245–246. 145 So etwa der Slogan der YMCAs in China. Vgl. Yui: „Nationalist China“, 16. Die moralische Funktion der Bildung wurde auch von Y. Y. Tsu, Professor der Soziologie an der St. John’s Universität in Shanghai, betont. Vgl. Y. Y. Tsu: „Present Tendencies in Chinese Education“, CSM, Bd. 16, Nr. 9 (Juli 1921), 561–564. 146 Siehe Pepper: Radicalism and Education Reform, Kapitel 1. 147 Siehe Grieder: Intellectuals and the State, 214–215.
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estliche Pädagogen aus missionarischen Kreisen befanden sich vor diesem W Hintergrund unter einem besonders starken Rechtfertigungsdruck. Der amerikanische Pädagoge Charles Keyser Edmunds beharrte darauf, dass missionarische Bildungsinstitute für die Modernisierung des chinesischen Bildungssystems eine zentrale Rolle spielten. Edmunds brachte humanistische Ideale und den „Johns Hopkins Spirit“ einer Forschungsuniversität mit nach Südchina, wo er von 1903 bis 1924 am missionarischen Canton Christian College lehrte. Besonders aufgrund des chronischen Mangels staatlicher Fördergelder in Zeiten des politischen Umbruchs betrachtete er die Bildungsarbeit der Missionare als „unprecedented opportunity to render a real service to China“.148 Dieser Dienst bestehe vor allem darin, zur Erfüllung der modernen Bildungsideale beizutragen, also praktische und allgemeine Bildung zu fördern. So produzierten missionarische Einrichtungen ihm zufolge eine große – wenn auch noch nicht ausreichende – Zahl von fähigen Lehrern und leisteten auch im Bereich der Mädchen- und Frauenbildung wichtige Pionierarbeit. Darüber hinaus seien Einrichtungen wie das Canton Christian College unabdingbar, um jene Fachkräfte im Ingenieurwesen, der Landwirtschaft und der Medizin auszubilden, welche die nationale Rekonstruktion Chinas, den wirtschaftlichen Fortschritt und die internationale Öffnung des Landes voranbrächten.149 Auf die Kritik an der missionarischen Bildungsarbeit, die selbst aus den Reihen der expatriates zu hören war,150 reagierte er jedoch einsichtig: sie sei zu wenig anpassungsfähig und neige zu pädagogischem Dogmatismus. Der Aufbau der modernen Bildung in China, so lautete Edmunds’ Devise, müsse trotz des ehrenhaften Einsatzes der Ausländer deshalb primär Aufgabe der Chinesen bleiben.151 Die Problematik der Denationalisierung des chinesischen Bildungswesens war angesichts des starken Einflusses westlicher Bildungsinstitutionen allgegenwärtig. Ein Vorkämpfer für ein dezidiert chinesisches Bildungswesen war der
148 C. K. Edmunds: Modern Education in China, Washington 1919, 49. Siehe zu Edmunds Arbeit in China Dong Wang: Managing God’s Higher Learning. U.S.-China Cultural encounter and Canton Christian College (Lingnan University), 1888–1952, Lanham/Plymouth 2007, Kapitel 5. Henry Hodgkin sah eine wichtige Rolle der christlichen Bildungsinstitutionen bei der Herausbildung von politischem Bewusstsein und Patriotismus. Vgl. Hodgkin: China, 97. 149 Vgl. C. K. Edmunds: „Modern Education in China“ [I], 76, 85, und ders.: „Modern Education in China II“, 174, 196. Zur Notwendigkeit einer praktischen Ausbildung vgl. auch ders.: „The Problem of Education in China“, CWR, Bd. 33, Nr. 13 (August 1929), 269–281, hier 270. 150 Vgl. besonders Julean Arnold: „Commercial Problems“, 148, ders.: „Chinese Students’ Opportunities“, FER, Bd. 1, Nr. 6 (März 1920), 13–14, und ders.: „The Missionaries Opportunity“, TCR, Bd. 56, Nr. 10 (Oktober 1925), 636–642, hier 642. 151 Dies auch deshalb, weil die christlichen Einrichtungen nur einen kleinen Teil der Bevölkerung erreichen konnten. Vgl. Edmunds: „Problem of Education“, 173, ders.: „Modern Education“ [I], 62–63, und ders.: „Modern Education II“, 187–188.
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amerikanische Mediziner und Pädagoge Edward H. Hume. Hume engagierte sich den Großteil seines Lebens für die missionarisch-philanthropische Yale-in-China Association, die sich bereits seit ihren Anfängen um 1900 dem Ideal einer christlichen, aber nicht christianisierenden Ausbildung in China widmete.152 Bereits 1914 gründete er das Hunan-Yale Medical College in Changsha, als dessen Direktor und medizinischer Leiter er diente, bis er 1927 in die USA zurückkehrte. Hume war davon überzeugt, dass die Missionen nur dann erfolgreich arbeiten konnten, wenn sie mit den Chinesen kooperierten und deren Kultur respektierten; stets hinterfragte er den Nutzen der missionarischen Tätigkeit angesichts zunehmender politischer Spannungen. Als sich Mitte der 1920er Jahre die antiimperialistischen Ressentiments in der chinesischen Bevölkerung verschärften, plädierte Hume dafür, die missionarischen Schulen unter chinesische Führung zu stellen.153 Als er diesbezüglich mit Yale-in-China keine Einigung erzielen konnte, trat Hume zurück.154 Humes Haltung gegenüber der amerikanischen Bildungspolitik in China war stark von seinen Erfahrungen vor Ort geprägt. Dies traf auch auf seinen Landsmann Roger S. Greene zu. Greene hatte sich aufgrund moralischer Vorbehalte gegenüber der amerikanischen Außenpolitik gegen eine diplomatische Karriere in Asien entschieden. 1921 übernahm er die Leitung des China Medical Board der Rockefeller Foundation, das die amerikanische Förderung medizinischer Bildung und Versorgung in China koordinierte. Wie Hume aus einer Missionarsfamilie stammend, setzte er sich in den 1920er Jahren für mehr Toleranz gegenüber Chinas Souveränitätsbestrebungen ein und forderte eine umsichtigere Verwendung der Boxerentschädigungen im Bildungswesen.155 Alle internationalen Gelder sollten ihm zufolge in einen gemeinsamen, unter chinesischer Kontrolle stehenden Fördertopf fließen, um eine einseitige Beeinflussung des chinesischen Bildungssystems zu vermeiden. Auf diese Weise, so argumentierte Greene, werde ein spezifisch chinesisches Schulsystem gefördert, „adapted to the new requirements of the people, but also designed to conserve all that is best of the ancient Chinese civilization“.156
152 Siehe Jonathan Spence: To Change China. Western Advisors in China 1620–1960, New York 1980, 160–163. Siehe zur Arbeit Edward Humes in China ausführlich ebd., Kapitel 6. 153 Vgl. Edward Hume: „Christian Schools in China“, TN, Bd. 124, Nr. 3221 (März 1927), 341–342. 154 Siehe Spence: To Change China, 180–182. 155 Ebenso wie Arnold kritisierte er das amerikanische Stipendienprogramm. Die Stipendien sollten stärker zur beruflichen Weiterbildung genutzt werden. Vgl. R. S. Greene: „Education in China and the Boxer Indemnity“, CSPSR, Bd. 7. Nr. 4 (Oktober 1923), 199–207, hier 204–207. Siehe auch Cohen: The Chinese Connection, 7–11. 156 Greene: „Education in China“, 201.
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Hume und Greene waren keine ausgewiesenen Kritiker der westlichen Zivilisation und westlicher Bildungsinhalte. Ihre Vorschläge für den Aufbau eines modernen Bildungssystems in China folgten einem antiimperialistischen Ideal: es galt, sich den Bedingungen, die man in China vorfand, anzupassen. Einen etwas anderen Standpunkt vertrat Bertrand Russell, der die Bildungsproblematik aus zivilisationsphilosophischer Perspektive beurteilte. Für ihn war die Renationalisierung des chinesischen Bildungssystems nicht nur eine politische oder praktische Frage, sondern in erster Linie ein Diktat der kulturellen Kontinuität. Dabei war Russell keinesfalls ein Kritiker westlichen Wissens per se. Vielmehr war er davon überzeugt, dass die Chinesen in der Lage waren, aus diesem Wissen einen größeren Mehrwert zu generieren, als dies im Westen der Fall war: „I think they are the only people in the world“, so idealisierte Russell die chinesische Haltung gegenüber Bildung, „who quite genuinely believe that wisdom is more precious than rubies“157. Weder das missionarische Bildungssystem noch ein Auslandsstudium wiesen seiner Meinung nach in die richtige Richtung. Nur wenn sich die Chinesen im eigenen Land unter eigener Anleitung bildeten, wurde seiner Meinung nach der „renaissance spirit“ freigesetzt, der eine höhere Zivilisation als die westliche generieren könne. Die Gleichheit von Männern und Frauen, so bekräftige Russell sein Urteil, werde in chinesischen Bildungseinrichtungen bereits besser gefördert als im englischen Cambridge.158 Wenngleich die meisten westlichen Autoren ein Bekenntnis zu modernen Bildungsmethoden und -inhalten mit den chinesischen Autoren teilten, wiesen sie immer wieder auch darauf hin, den Spielraum für traditionelle Bildungsideale zu erhalten. „The ideals of thoroughness, of actual attainment, and the rewarding of attainment with actual authority“,159 welche das alte Prüfungssystem geprägt hatten, befand man ebenso für bewahrungswürdig wie die Bildung der Moral und des Charakters, die man diesem System zusprach. Eine konservative Haltung in Fragen dieser „soft skills“ war umso leichter, als sie weder das Curriculum noch die Struktur des modernen Bildungssystems relativierten. Ein Blick auf die chinesischen und westlichen Vorstellungen von Bildung als Vehikel des nationalen Fortschritts zeigt, dass das Thema nur wenige ideologische Bruchlinien aufwarf. Die Prämisse, das chinesische Bildungssystem nach
157 Vgl. Russell: Problem of China, 225. 158 Vgl. ebd., 223–225, 249–250. 159 Monroe: Nation in Evolution, 297, und Edmunds: „Modern Education in China“ [I], 63. Ähnlich äußerte sich Henry Hodgkin: Das neue Bildungssystem in China müsse eine modifizierte Form des alten sein, das mit der eigenen Geschichte im Einklang sei. Vgl. Hodgkin: China, 97. Auch Peffer betonte, dass die moderne Bildung in China auf dem „Chinese spirit“ basieren müsse. Vgl. Peffer: China, 289.
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westlichen Vorbildern zu modernisieren, blieb seit dem Ende des 19. Jahrhunderts unter chinesischen Reformern weitgehend unhinterfragt; westliche – dabei vor allem amerikanische – Autoren, die sich dem Thema widmeten, gehörten oft missionarischen oder philanthropischen Kreisen an und waren von der Alternativlosigkeit moderner Bildung für China überzeugt. China brauchte aus ihrer Perspektive eine sozial intelligente, politisch aufgeklärte und wirtschaftlich effiziente Bevölkerung, um einen starken Nationalstaat herauszubilden – t raditionelle chinesische Bildungsideale spielten dabei eine komplementäre, aber untergeordnete Rolle. Der Anspruch Chinas auf größere Autonomie im Bildungswesen stellte sich dementsprechend weniger als kulturelle denn als politische Frage dar. Dem traditionellen chinesischen entsprach in den Debatten das britisch- indische Bildungssystem: Auch dieses hatte den Kommentatoren zufolge die beiden Hauptanforderungen, die an moderne Bildung gestellt wurden – praktisch und allgemein zu sein –, nicht mehr erfüllt. Um in einem internationalen Referenzrahmen konkurrenzfähig zu bleiben, brauchte Indien wie China moderne Bildung. Anders als in China wog jedoch der Anspruch auf „spirituelle Bildung“ als Basis der indischen Nation schwerer. Bildung – wie Kultur im A llgemeinen – konnte aus der Perspektive einiger indischer und westlicher Reformer die Attribute des Modernen und Spirituellen in Indien kompromisslos vereinen und darauf die Stärke der Nation begründen. Wurde Bildung im chinesischen Kontext vorwiegend utilitaristisch interpretiert, so erhielt sie im indischen Kontext eine identitätsstiftende Funktion.
5.3 Neue Ziele, neue Rollen: Gesellschaftliche Erneuerung 5.3.1 „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“: Die gesellschaftliche Homogenisierung Indiens Der indische Freiheitskampf, zumindest wie ihn Gandhi und seine Anhänger verstanden, war weit mehr als ein Ringen um politische Selbstbestimmung. „It is idle to talk of Swaraj so long as we do not protect the weak and helpless“, mahnte Gandhi, „or so long as it is possible for a single swarajist to injure the feelings of any individual“.160 Das Ziel war eine grundlegende Erneuerung der Gesellschaft:
160 M. K. Gandhi: „Speech at Suppressed Classes Conference, Ahmedabad“ (13. April 1921), in: Collected Works of Mahatma Gandhi, Bd. 19, Ahmedabad 1966, 569–575, hier 572. Siehe zu Gandhis Agenda der sozialen Reform Brown: Gandhi, 213. Auch Vaswani sah soziale Reformmaßnahmen als Teil des Kampfes für Swaraj. Vgl. Vaswani: India in Chains, 76.
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Soziale Demarkationslinien zwischen Geschlechtern, Religionen und Kasten sollten überwunden und das Stigma der „Unberührbarkeit“ beseitigt werden. Britische und amerikanische Autoren – Sympathisanten wie Kritiker – nahmen Gandhi beim Wort. Das Vorgehen gegen soziale Ungerechtigkeit und Unterdrückung, besonders der Frauen, markierte auch für sie einen unabdingbaren Schritt für die Realisierung politischer Freiheit.161 Aus der Perspektive Edward Thompsons erwies das umstrittene Werk Mother India (1927) der amerikanischen Journalistin Catherine Mayo Indien zumindest in dem Maße einen großen Dienst, wie es die sozialen Missstände im Land offenlegte: Diese hätten einst auch in Amerika und Europa existiert und müssten nun selbstkritisch angegangen werden.162 An Selbstkritik hinsichtlich der traditionellen sozialen Strukturen ihres Landes hatte es den indischen Intellektuellen und Modernisierern nie gemangelt. Mit der Intensivierung der britischen Herrschaft, vor allem dem wachsenden Einfluss der Utilitarier und Evangelikaner, etablierten sich neue Normen. Rammohan Roy und andere Mitglieder der sozialen Reformbewegung hatten sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts gegen soziale Bräuche wie die Witwenverbrennung stark gemacht und der gefühlten Rückständigkeit indischer Gesellschaftsstrukturen Rationalität und Liberalismus entgegengehalten.163 Dabei handelte es sich um ein Phänomen der gebildeten Oberschicht, die darum bemüht war, die Gesellschaft gleichsam von oben durch das Denken und Handeln Einzelner zu reformieren. Zwar weitete sich die Bewegung im Zuge des wachsenden Nationalismus auf die nationale Ebene aus, jedoch blieb die Kluft zwischen den Idealen der Sozialreformer und der Realität der in ihrer Tradition verankerten Bevölkerung groß. Unter dem Einfluss des „Hindu Revivalism“ um 1900, als kulturelle Nativisten wie Sri Aurobindo die Transformation der Gesellschaft durch religiöse Erneuerung forderten, wandelten sich schließlich die Prämissen, wenn nicht die Programme der sozialen Reformbewegung. Reformen sollten nun den Bedürfnissen von Bevölkerung und Nation Rechnung tragen statt abstrakten, im westlichen Kontext entstandenen Normen.164
161 Vgl. Annie Besant: „United India“, UI, Bd. 1, Nr. 16 (Januar 1920), 250–255, hier 250. Wie Gandhi lehnte Besant das Kastensystem nicht grundsätzlich ab, sondern nur seine Rigidität. Hunt: Rising temper, 23–24, und J. H. Smith: „A National Aim“, IR, Bd. 22, Nr. 8 (August 1921), 481–483, hier 482. 162 Vgl. Thompson: Reconstructing India, 322–330. 163 Siehe hierzu B. Debroy: „Social Reform and Social Reform Movements in Bengal in the 19th Century“, in: V. D. Divekar (Hg.): Social Reform Movement in India. A Historical Perspective, London 1991, 1–34. 164 Siehe ebd., 22–29. Zum Wandel der sozialen Reformideale auch C. H. Heimsath: Indian Nationalism and Hindu Social Reform, Princeton 1964, 5–7, 309–338.
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Dass westliche Normen aber auch im sozialen Modernisierungsdiskurs der Nachkriegszeit Gültigkeit behielten, zeigt das Beispiel K. M. Panikkars, der eine soziale Revolution nach französischem Vorbild forderte. Panikkar machte sich nach seinem Geschichtsstudium in England als Herausgeber der Hindustan Times und in diplomatischer Funktion für eine Reihe indischer Prinzen einen Namen. Er pflegte den persönlichen Umgang mit zahlreichen einflussreichen Persönlichkeiten wie Tagore, Gandhi und Nehru sowie Kontakte zur ausländischen Presse.165 Obwohl er selbst also der gesellschaftlichen Führungsschicht angehörte, stellte er sich die indische Gesellschaft als Einheit vor. „Society, after all, is the collective organization of individuals in a geographical unit for the purpose of common life.“166 Das Kastensystem etablierte ihm zufolge künstliche Trennlinien in einer idealerweise homogenen Gesellschaft. Würden die sozialen Strukturen mit Hilfe der „noble principles of Descartes“ rational an die sich stetig verändernden Bedürfnisse der Gesellschaft angepasst, also soziale Energien zielgerecht genutzt, könne dieser „barbarische“ Zustand überwunden werden.167 Für Panikkar schien der Schritt zu einer rationalen Gesellschaft, den er als „Verjüngung“ bezeichnete, nur durch eine revolutionäre Abwendung von alten Strukturen möglich. Andere hielten eine soziale Revolution für unmöglich, stimmten jedoch grundsätzlich zu, dass Reformen für die nationale Regeneration notwendig waren.168 Besonders der Indian Social Reformer fühlte sich diesem Ziel verpflichtet und griff dabei ebenso auf Ideale der französischen Revolution zurück. „[L]iberty, equality and brotherhood“ mussten in Indien propagiert werden, um künstliche soziale Grenzen zu überwinden und in einer demokratischen Grundordnung alle sozialen Gruppen in die Lage zu versetzen, einen Beitrag zum Fortschritt der Nation zu leisten.169
165 1948 ernannte Nehru ihn zum indischen Botschafter in China. Siehe zu Panikkars Werdegang K. M. Panikkar: An Autobiography, Madras 1977, v. a. Kapitel 4–10. 166 K. M. Panikkar: „The Past and the Present. A Plea for a Rational Social Theory“, HR, Bd. 48, Nr. 282 (Oktober 1924), 54–57, Zitat 56. 167 Vgl. ders.: „Past is Past. A Plea for a Social Revolution“, To-morrow (Ahmedabad), Bd. 1, Nr. 1 (März 1923), 17–33, hier 32. 168 Vgl. S. R. Hemmad: „Progress without Revolution“, ISR, Bd. 35, Nr. 4 (September 1924), 54– 55, sowie „The Next National Social Conference“, ISR, Bd. 34, Nr. 13 (Dezember 1923), 227. 169 Vgl. „The Creed of Social Reform“, ISR, Bd. 34, Nr. 22 (Januar 1924), 339–340, sowie „Thirty Years of the Social Reformer“, ISR, Bd. 31, Nr. 1 (September 1920), 3–4. Siehe zum Vorbild westlicher Ideale auch V. D. Divekar: „Introduction“, in: ders. (Hg.): Social Reform Movements in India, viii–xiii, hier xi. Vgl. zur Notwendigkeit einer Homogenisierung der Gesellschaft auch P. K. Samaddar: „Politics and Social Reform“, IR, Bd. 24, Nr. 10 (Oktober 1923), 632, und Chitale: „Cosmopolitanism“, 325. Chitale nannte die Schweiz, Kanada und die USA als Länder, in denen trotz großer ethnischer und religiöser Vielfalt eine gesellschaftliche Homogenisierung erfolgreich verlaufen war. Neben dem Kastensystem galt der physische und mentale Zustand der Massen als
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Wer die Gesellschaft von althergebrachten sozialen Strukturen befreien und eine gerechte und homogene Gesellschaft ermöglichen wollte, kam nicht umhin, die Position der Frau neu zu bestimmen – zumal diese im viktorianischen Wertekanon mit dem Fortschrittsgrad eines Landes assoziiert war; wer Indien stärken wollte, musste demnach bei den Frauen ansetzen.170 Auch nach dem Ersten Weltkrieg blieb die soziale Reformbewegung der Frage verpflichtet, wie die Position der Frauen verbessert werden konnte, und erhielt dabei wichtige Impulse aus westlichen Ländern. Margaret Cousins, die mit ihrem Ehemann James Cousins nach Indien gekommen war, kanalisierte ihr politisches Engagement für die Rechte der Frauen in den Aufbau einer Frauenbewegung in Indien. Zusammen mit Annie Besant und Dorothy Jinarajadasa gehörte sie zu den Initiatorinnen der All India Women’s Conference, die sich seit 1927 für die gesellschaftliche Emanzipation der Frauen – vor allem durch Bildung – einsetzte.171 Ihr Werk The Awakening of Asian Womanhood von 1922 wurde im Indian Social Reformer wohlwollend besprochen, jedoch kritisierten die Herausgeber, Cousins betone die Unterschiede zwischen westlichen und indischen bzw. asiatischen Frauen übermäßig.172 Gerade aus der Gleichheit der Frauen in beiden Erdteilen könne ihr Anspruch auf freie Entfaltungsmöglichkeit abgeleitet werden. Befand sich die traditionelle Rolle der Frau als dem Mann untergeordnete Ehefrau und religiöse Erzieherin im Westen bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in einem Wandlungsprozess, so gab es keinen Grund, warum indische Frauen veraltete Familienideale akzeptieren sollten. „In the great task of the uplift of the country“173 war aus Sicht der Modernisierer die
s oziales Übel. Die Reformer identifizierten v. a. mangelnde Hygiene, Krankheiten und Trunksucht als Faktoren, welche die effektive Funktion des Einzelnen als Teil der indischen G esellschaft verhinderten. In Ländern wie Großbritannien und den USA setzte man durch Sozialgesetzgebung und Seelsorge Standards, die es in Indien zu erreichen galt. Vgl. etwa Visvesvaraya: Reconstructing India, 236–237, sowie Gupta: Foundations, 4. 170 Siehe Geraldine Forbes: Women in Modern India, Cambridge 1996, 13, 30. 171 Resolutionen, Petitionen und Aufklärungsarbeit gehörten zu den Mitteln der Frauenbewegung. Siehe zur Geschichte der Frauenbewegung in Indien Aparna Basu/Bharati Ray: Women’s Struggle. A History of the All India Women’s Conference 1927–2002, New Delhi 2002, sowie Kumud Pore: „Women and Social Reform Movements in India“, in: Divekar (Hg.): Social Reform Movements in India, 104–111. Die Britin A. R. Caton trug 1930 in einem Sammelband Beiträge zu den bereits erreichten und noch zu erreichenden Fortschritten im Hinblick auf die Emanzipation der indischen Frauen zusammen. Vgl. A. R. Caton (Hg.): The Key of Progress. A Survey of the Status and Conditions of Women in India, London 1930. 172 „The Awakening of Asian Womanhood“, ISR, Bd. 33, Nr. 11 (November 1922), 167–168. 173 Gupta: Foundations, 275. Vgl. Lajpat Rai: „Social Reconstruction“, MR, Bd. 27, Nr. 2 (Februar 1920), 154–161.
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gleichberechtigte Beteiligung der Frauen als Antrieb und Garant einer bürgerlichen Gemeinschaft notwendig. Frauen eine zentrale Rolle im Modernisierungsprozess zuzuschreiben, rief die Kritik der Konservativen hervor, die in den Frauen ein Bollwerk gegen westliche Einflüsse sahen. Die Emanzipation und Selbsterfüllung der indischen Frauen konnte aus der Sicht einer Kommentatorin in der Modern Review jedoch nicht mit ihrer Verwestlichung gleichgesetzt werden; ihr Freiheitsdrang sei vielmehr universal und ein Ausdruck „progressiver Selbsterfüllung“.174 Weibliche Emanzipation bedeutete demnach weder, dass sich die Frauen von indischer Kultur abwandten, noch, dass sie westliche Lebensweisen übernahmen. Indische Frauen, so bekräftigte die Autorin diesen Punkt, müssten keineswegs dem Materialismus und Müßiggang verfallen, der das Leben der Frauen im Westen präge; vielmehr könnten sie ihre Bildung dazu nutzen, um die indische Kultur nach außen zu vertreten.175 Auch wenn sich Indien der Kraft universaler Freiheitswerte nicht entziehen zu können schien, so konnte die emanzipierte indische Frau durchaus die moderne Lebensweise ablehnen. Trotz des Vorbildcharakters westlicher Frauenbilder und bürgerlicher Ideale wurde die kulturelle Partikularität der indischen Frauen durch ihre Integration in das nationale Aufbauprojekt nicht in Frage gestellt, sondern letztlich verstärkt. Zwar erweiterte sich der Bewegungsspielraum der Frauen in den öffentlichen Bereich hinein, das Haus blieb jedoch ihr Lebenszentrum. Konservative Geschlechterrollen bestätigend, sollte dieser „nationalistische Feminismus“ die Frau in erster Linie in die Lage versetzen, ihre Pflicht gegenüber Familie, Gesellschaft und Nation auszuüben.176 Es ist auch diesem Umstand geschuldet, dass für viele Beobachter eine andere soziale Gruppe, zu der freilich auch Frauen gehörten, zum bedeutendsten Medium gesellschaftlicher Erneuerung avancierte. Die Jugend, so äußerte sich Sir Stanley Reed, Herausgeber der einflussreichen Times of India, sei die progressive, optimistische Kraft jeder Gesellschaft.177 Mehr als jede andere soziale Gruppe symbolisierten Jugendliche die Verjüngung der Gesellschaft. Ihr Selbstbild war entsprechend ambitioniert. Der Zeitschrift Young Messenger of India zufolge hatte
174 Vgl. Anindita Chakrabarti: „The New Woman’s Movement in India“, MR, Bd. 43, Nr. 6 (Juni 1928), 696–698, hier 697. 175 Ebd., 698. 176 Zum Konservatismus der indischen Frauenbewegung siehe Forbes: Women in Modern India, 15, 65, 80, 90–91, sowie Basu/Ray: Women’s Struggle, 26–27. Zwar kämpften die Frauen auch für mehr politische Rechte, jedoch wurden Persönlichkeitsrechte den nationalistischen Zielen untergeordnet. 177 Stanley Reed zitiert in To-morrow, Bd. 1, Nr. 2 (April 1921), 63.
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das „Junge Indien“ einen „sacred trust to perform“:178 Es galt die Massen von sozialen Zwängen und Aberglauben zu befreien, Bildung und religiöse Toleranz zu verbreiten. Aber auch die ältere Generation wie Visvesvaraya, Vaswani, Gupta oder Sarkar setzte große Hoffnungen auf das Reformpotential besonders der gebildeten Jugend, der Studenten.179 Nationale Hoffnungsträger, so legten derweil die Nachrichten aus Ostasien nahe, waren nicht nur die indischen, sondern auch die chinesischen Studenten.180
5.3.2 Garanten des nationalen Aufstiegs: Studenten und Frauen in China Wie in Indien trugen auch chinesische Studenten mit eigenen Zeitschriften zum Modernisierungsdiskurs bei. Was für Indien The Young Men of India und The Young Messenger of India, waren für China The Chinese Students’ Monthly und The Chinese Christian Student. Noch stärker ausgeprägt als in Indien war hier das Selbstbewusstsein der Studenten, besonders derjenigen mit Auslandserfahrung, als Vorkämpfer ihres Landes im Ausland, als zukünftige Führungskräfte in allen Bereichen des nationalen Lebens, als Integrationskraft der chinesischen Nation, als Idealisten mit einer Zukunftsvision; kurz: als Motor der Modernisierung.181 Wenngleich vor allem die „foreign returned students“ oft kritisiert, gar als nationale Verräter gebrandmarkt wurden,182 sahen chinesische und westliche Autoren die Rolle des „Jungen China“ im Allgemeinen positiv. Mit einiger Zufriedenheit stellte man fest, dass die jungen Intellektuellen die bisherige Privilegierung ihrer sozialen Klasse aufhoben, um sich als Vertreter der gesamten Gesellschaft zu definieren. Indem sie sich für die Sache der Bauern, Arbeiter und Frauen stark machten, trugen sie aus dieser Sicht zur K onsolidierung der
178 „Ideals of Young India“, YMI, Bd. 1, Nr. 1 (August 1926), 3–4. 179 Visvesvaraya und Vaswani betonten besonders die konstruktive Rolle der Jugend bei der Verbesserung der sozialen Struktur durch Sozialarbeit. Vgl. Visvesvaraya: Reconstructing India, 254, und T. L. Vaswani: „Order of Young India“, IR, Bd. 27, Nr. 7 (Juli 1926), 446–447. Gupta hob die Rolle der Jugend für den Aufbau einer bürgerlichen Gesellschaft hervor und Sarkar ihr wissenschaftlich fundiertes Problemlösungspotential. Vgl. Gupta: Foundations, 255; B. K. Sarkar: „Young Bengal and Scientific Research“, IW, Bd. 1, Nr. 6 (Juni 1932), 270–279, hier 276. 180 „Chinese Puzzle“, YMI, Bd. 38, Nr. 2 (Februar 1926), 127–129. 181 Vgl. K. H. Sung: „China’s Call to her Returning Students“, CSM, Bd. 18, Nr. 1 (November 1922), 44–46, und T. L. Shen: „The Youth Movement in China“, TWT, Bd. 9, Nr. 1 (Januar 1926), 13–15. Zum neuen Pflichtgefühl der Studenten siehe Schwarcz: Chinese Enlightenment, 9–10. 182 Ausführlich zur widersprüchlichen Rolle der Studenten Stacey Bieler: ‚Patriots‘ or ‚Traitorsʻ? A History of American-educated Chinese students, Armonk/London 2004, v. a. Kapitel 9.
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Demokratie bei.183 Auch das nationale Verantwortungsgefühl, den Widerstand gegen westliche Bevormundung und den selbstbewussten Umgang mit ausländischen Einflüssen hieß man gut.184 Es waren, so bekräftigen etwa Bertrand Russell und Edward Hume, nicht zuletzt die Studenten, die mit der 4.-Mai-Bewegung wichtige Impulse für den Erfolg der nationalen Revolution setzten, und „foreign returned students“ wie Hu Shi und Wellington Koo, die als intellektuelle und politische Führer das moderne China prägten.185 Das Verhältnis der Studenten zur politischen Führung blieb jedoch schwierig und von einer Mischung aus Manipulation und Unterdrückung geprägt, die im Verlauf der 1930er Jahre die politische Initiative der Studenten immer weiter einschränkte.186 Der kulturelle Ikonoklasmus der Studenten und ihrer Führer richtete sich auch gegen die traditionellen Familienstrukturen in China. Im Modernisierungsprozess schien die moderne Kleinfamilie, wie sie in westlichen Ländern und auch in der Sowjetunion bereits etabliert war, notwendig für sozialen Fortschritt und den Aufbau einer modernen Gesellschaft.187 Zwei scheinbar gegensätzliche Argumente stachen dabei heraus: Zum einen sollte der Individualismus gegenüber autoritären Familien- und Gesellschaftsstrukturen gefördert werden,188 zum anderen das mobilisierte Individuum jedoch in der größeren Gesellschaft aufgehen. Ging es einigen Autoren wie etwa Julean Arnold bei der Propagierung eines
183 Vgl. P. W. Kuo: „A Chinese statement of the Chinese case. How public opinion – the final arbiter in China – views national issues now at stake“, Asia, Bd. 25, Nr. 12 (Dezember 1925), 1035– 1038, 1119–1123, hier 1038. Und E. H. Hume: „Young China“, FA, Bd. 5, Nr. 3 (April 1927), 446–458, hier 448–451. Zur sozialen Rolle der Studenten auch Hunt: Rising temper, 89–90. 184 Andererseits wurde vor politischer Verstrickung und mangelnder politischer Toleranz der Studenten gewarnt. Vgl. etwa den Beitrag des amerikanischen Soziologen C. A. Ellwood: „A task for Chinese Students in America“, CCS, Bd. 1, Nr. 6 (April 1925), 2. Auf chinesischer Seite etwa Pan Shu-lun: „America and Chinese Education“, CSM, Bd. 17, Nr. 7 (Mai 1922), 589–593, hier 593. 185 Vgl. Hume: „Young China“, 451–454, 457, sowie Russell: Problem of China, 77. Die zentrale Rolle der Studenten für den Aufbau des modernen China ist heute wissenschaftlich bestätigt. Siehe Bieler: ‚Patriotsʻ or ‚Traitorsʻ?, xi. 186 Siehe Wen-hsin Yeh: The Alienated Academy. Culture and Politics in Republican China, 1929– 1937, Cambridge, MA/London 1990, 230. Aus der Perspektive der Guomindang war der Aktionismus der Studenten nicht in jedem Fall begrüßenswert. Vgl. hierzu auch Tai Chi-Tao/L.T. Chen: „A Message to China’s Youth“, PA, Bd. 1, Nr. 3 (Juli 1928), 4–9. 187 Der Determinismus der Entwicklung wurde besonders in einem Beitrag für die American Association of Political and Social Science betont. Vgl. Kiang Kang-hu: „The Chinese Family System“, AAAPSS, Bd. 152 (November 1930), 39–46. Vgl. auch T’ang: New Social Order, 155. 188 Den engen Familienzusammenschluss in der Vergangenheit sah man als Hindernis für die Herausbildung individueller Initiative. Vgl. S. Kai: „The necessity of reforming the Chinese family system“, CSM, Bd. 19, Nr. 5 (März 1924), 59, und M. T. Tchou: „Undercutting the Old Foundations“, TWT, Bd. 6, Nr. 11 (November 1923), 334–336.
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bürgerlichen Bewusstseins vorrangig darum, ökonomische Dynamiken freizusetzen,189 so argumentierte der chinesische Schriftsteller Lin Yutang moralisch. „[T]he family-minded Chinese must be changed into social-minded Chinese“, schrieb er in seinem berühmten Werk My Country and My People (1935), „and the pet ideas, age-old, of face, favor and privilege and official success and robbing the nation to glorify the family must be overthrown.“190 Der Aufbau einer modernen Gesellschaft – und letztlich der Nation– bedurfte demnach engagierter, moralisch intelligenter Bürger, die ihren Willen öffentlich kundtun und Verantwortung für sich, die Gemeinschaft und die Nation übernehmen konnten.191 Ebenso wie in Indien wurde neben der Rolle der Studenten auch diejenige der Frauen in diesem Prozess besonders anerkannt. Die Debatte wies ähnliche Muster auf. Auch in China hatten die frühen Reformer wie Liang Qichao und Kang Youwei die nationale Schwäche mit der sozialen Unterdrückung der Frauen in Verbindung gebracht und sich vor diesem Hintergrund für die Abschaffung traditioneller sozialer Bräuche wie des Füßebindens eingesetzt.192 Als um 1900 konfuzianische Familienideale an Bedeutung verloren, vergrößerte sich der Handlungsspielraum der Frauen. Erstmals konstituierten sie eine eigenständige soziale Gruppe, nahmen wie in Indien als Ärztinnen, Arbeiterinnen oder Lehrerinnen am nationalen Leben teil, forderten Bürgerrechte und Bildung ein und artikulierten ihre neuen Ansprüche und Aufgaben zunehmend selbst. „The young men of China are facing a great responsibility for the China of tomorrow“, schrieb 1923 eine Beiträgerin im Chinese Studentsʼ Monthly, „but men alone can
189 Julean Arnold: „Western Characteristics needed in China“, CWR, Bd. 8, Nr. 8 (April 1919), 279–284, hier 284. Vgl. auch ders.: „Commercial Problems“, 149. Siehe zu den Familienidealen der Studenten S. L. Glosser: Chinese Visions of Family and State, 1915–1953, Berkeley 2003, 1–4. Glosser betont v. a. die Kontinuität des Familienreformdiskurses seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert mit einem Schwerpunkt auf dem engen Zusammenhang von Familien- und Staatskonzepten. Vgl. ebd., 10. 190 Lin: My Country and My People, 363. 191 Der chinesische Soziologe Nelson Shen sah einen Übergang vom „Chinese Familism“ zum Individualismus, der dann durch die Herausbildung eines „social mind“ – definiert mit dem amerikanischen Soziologen Franklin Giddings als „the common feeling, the general desire, the moral sense, the public opinion, and the general will of the community“ – für die Nation nutzbar gemacht werden konnte. Individualismus und Nationalismus seien deshalb in China parallele Entwicklungen. Vgl. N. N. Shen: „The Changing Chinese Social Mind“, CSPSR, Bd. 8, Nr. 2 (Februar 1924), 125–166, vor allem 141–158. Die „good citizenship“-Kampagne, die David Yui Anfang der 1920er Jahre innerhalb der Strukturen der protestantischen Kirche initiierte, wurde als gutes Zeichen für die neue Bürgerlichkeit gedeutet. Vgl. H. C. E. Liu: „China’s fight for good citizenship“, CCS, Bd. 22, Nr. 3 (Dezember 1926), 3. 192 Siehe Glosser: Visions of Family and State, 6–7.
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not build up homes, the schools, and the government without the co-operation of the women“.193 Dieser Rhetorik zum Trotz blieb die Rolle der chinesischen Frauen konservativ definiert. Ihren Beitrag zur nationalen Regeneration sollten sie primär als Erzieherinnen einer zukünftigen Generation patriotischer Bürger leisten. Für die chinesischen ebenso wie für die indischen Frauen ging es also weniger um die Durchsetzung persönlicher Freiheit in einer patriarchalischen Gesellschaft als um die Möglichkeit gesellschaftlicher Pflichterfüllung: Innerhalb und außerhalb der Familie wurde ihre Rolle nationalistisch funktionalisiert und eingegrenzt.194 Die chinesischen Ärztinnen Ida Kahn (Kang Cheng) und Mary Stone (Shi Meiyu), die als zwei der ersten Chinesinnen in den USA ausgebildet worden waren und sich nach ihrer Rückkehr für soziale Reformen und medizinischen Fortschritt einsetzten, versinnbildlichten die „moderne chinesische Frau“: gebildet, emanzipiert, engagiert, dabei dem Wohl und der kulturellen Identität Chinas verpflichtet.195 Westliche Bildung müsse auf dem Fundament traditioneller Werte wie der Mutterliebe und Treue aufbauen, um zu gewährleisten, dass Selbsterfüllung stets mit Selbstaufopferung einhergehe, las man in einem Sammelband, den Sophia Chen Zen, eine weitere Vorkämpferin der modernen Bildung und des Feminismus in China, für das IPR editierte.196 Wenngleich der Kampf der chinesischen und 193 Wei-Lan Chang: „Chinese Women Leaders in Education“, CSM, Bd. 18, Nr. 8 (Juni 1923), 36– 40, hier 40. Ähnlich C. R. Chow: „The Oriental Woman in the Eye of the Law“, CSM, Bd. 19, Nr. 2 (Dezember 1923), 55–58, hier 55. Die Verbindung zwischen Frauen-, Bildungs- und Bürgerrechtsbewegung in China betont Louise Edwards: Gender, Politics, and Democracy. Women’s Suffrage in China, Stanford 2007, 24–25. 194 Vgl. etwa B. M. Hu: „What can girls contribute toward the Reconstruction of a new China“, CCS, Bd. 2, Nr. 4–5 (Januar/Februar 1927), 4–6, hier 5. Siehe zur Ambivalenz der weiblichen Rolle im republikanischen China besonders Joan Judge: „Citizens or Mothers of Citizens? Gender and the Meaning of Modern Chinese Citizenship“, in: Merle Goldman/E. J. Perry (Hg.): Changing Meanings of Citizenship in Modern China, Cambridge, MA/London 2002, 23–43, sowie einige Beiträge in Mechthild Leutner/Nicola Spakowski (Hg.): Women in China. The Republican Period in Historical Perspective, Münster 2005. 195 Siehe C. A. Shemo: The Chinese Medical Ministries of Kang Cheng and Shi Meiyu, 1872–1937. On a cross-cultural frontier of gender, race, and nation, Bethlehem 2011. Indem sie den chinesischen Frauen Möglichkeitsräume aufzeigten, trugen westliche Gesellschaften zur Generierung des neuen weiblichen Selbstverständnisses bei. Vgl. etwa den Leitartikel in der Sonderausgabe zur Emanzipation der Frauen des Chinese Christian Student, Bd. 2, Nr. 4–5 (Januar/Februar 1927), 24–26, hier 24. 196 Vgl. P. S. Tseng: „The Chinese Woman past and present“, in: Chen Zen: Symposium on Chinese Culture, 281–292. Zur kulturellen Integrationsfunktion der Frauen siehe auch Judge: „Mothers of Citizens“, 37–39. Chen Zens Biographie ist Gegenstand einiger Untersuchungen. Siehe etwa Tieniu Cheng: „Writing Women’s Experiences in the Early Twentieth Century China: A Study of Chen Hengzhe’s Autobiography“, IJBHT, Bd. 2, Nr. 3 (November 2011), 255–265, sowie Kathrina Gulliver: „Sophia Chen Zen and Westernized Chinese Feminism“, JCO, Bd. 4, Nr. 2 (November 2008), 258–274.
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indischen Frauen um gleiche gesellschaftliche Rechte und Pflichten ein neues Kapitel in der Geschichte ihrer Länder zu eröffnen schien, blieb das Ideal der modernen Frau mit der Tradition eng verwoben.
5.3.3 Für eine moralische Gesellschaft: Die Rolle von Christentum und Kirche in China Das Selbstverständnis der Studenten und Frauen als bedeutende Agenten der sozialen und nationalen Regeneration war besonders stark ausgeprägt, wenn es mit einem christlichen Sendungsbewusstsein einherging. Viele chinesische Studenten im In- und Ausland waren im YMCA organisiert. Als Teil der christlichen Gemeinschaft sahen sie sich oftmals in einer größeren Verantwortung gegenüber ihrem Land als „ordinary citizens“.197 Auch Ida Kahn sah sich als Vertreterin der sozialen Gruppe der christlichen chinesischen Frauen, die ihr zufolge aufgrund einer aus dem Glauben bezogenen inhärenten moralischen Stärke eine gesellschaftliche Vorbildfunktion für den Aufbau des Landes einnahmen: „Theirs will be the hand to raise a high standard, theirs to demand a cleaner record, a sterner probity in all strata of society“,198 postulierte die Ärztin im Chinese Recorder.199 Wie bereits deutlich wurde, verstanden sich die verschiedenen Kongregationen der christlichen Kirche in China mit ihren pädagogischen und medizinischen
197 Vgl. Shen: „Youth Movement“, 15. 198 Als Mutter oblag der christlichen Frau die Aufgabe, die Bürger von morgen christlich zu erziehen. Vgl. Ida Kahn: „The Place of Christian Women in the Development of China“, TCR, Bd. 50, Nr. 10 (Oktober 1919), 659–662, hier 659–660. Zum Selbstverständnis der christlichen Frauen als soziale Reformer siehe auch Kwok Pui-Lan: „Chinese Women and Protestant Christianity at the turn of the twentieth century“, in: D. H. Bays (Hg.): Christianity in China. From the Eighteenth Century to the Present, Stanford 1996, 194–208. 199 Die Zeitschrift, ein Forum für die protestantische Gemeinschaft in China, existierte bereits seit 1867 unter der Leitung verschiedener protestantischer Missionsvertreter wie L. N. Wheeler (American Methodist Episcopal Mission), G. F. Fitch (American Presbyterian Mission), W. N. Bitton (London Missionary Society) und von 1913 bis 1937 Frank Rawlinson (American Southern Baptist Mission). Siehe K. L. Lodwick (Hg.): The Chinese Recorder Index. A Guide to Christian Missions in Asia, 1867–1941, Bd. 1, Wilmington 1986, xi. Der größte Teil der chinesischen Christen trat der katholischen Kirche bei – sie zählte im Jahr 1930 fast 2 ½ Millionen Konvertiten, im Vergleich dazu kamen die größten protestantischen Kongregationen zusammen auf rund 430 000 Konvertiten. Siehe R. E. Carbonneau: „The Catholic Church in China 1900–1949“, in: R. G. Tiedemann (Hg.): Handbook of Christianity in China, Volume Two: 1800 to the Present, Leiden/Boston 2010, 516–525, hier 519, sowie R. G. Tiedemann: „Protestant Missionaries“, in: ders.: Handbook of Christianity, 532–552, hier 544. Dennoch ist im Folgenden primär von der protestantischen Kirche die Rede. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die große Mehrzahl der Autoren Protestanten waren.
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Einrichtungen als Hort sozialer Reform. Der „Social Gospel“ – zentral im Selbstverständnis des amerikanischen und chinesischen YMCA – verpflichtete nicht nur zur Verbreitung des Evangeliums, sondern auch zum Dienst an der Gesellschaft.200 Wie Harold Balme, britischer Missionar und Leiter der medizinischen Fakultät an der Shantung Christian University, deutlich machte, bargen die sozialen Folgen des Industriezeitalters eine Chance für das Christentum in China.201 Ansatzpunkte boten sich ihm reichlich an, etwa bei der sozialen Arbeit in den Dörfern oder bei der Ausbildung von Führungskräften.202 Für den Quäker Henry Hodgkin gehörten führende Persönlichkeiten der chinesischen Gesellschaft nicht zufällig dem christlichen Glauben an. Der Brite, der von 1922 bis 1929 für den National Christian Council tätig war, das zentrale Entscheidungsgremium der Protestanten in China, sah in der christlichen Charakterbildung die direkteste Form der Mitwirkung an der nationalen Regeneration Chinas.203 In dem Maße, wie die Schwäche Chinas teilweise auf das Versagen der konfuzianischen Ethik zurückgeführt wurde, sprachen westliche und chinesische Christen ihrer Religion eine neue moralische Leitfunktion zu.204 Das Christentum allein war aus dieser Sicht in der Lage, dem Individuum für die Lösung nationaler Probleme Halt und innere Stärke zu verleihen, in der Umbruchssituation der nationalen Revolution das Gute vom Schlechten zu trennen und das gegenseitige Vertrauen zu stiften, das für eine homogene Gesellschaft notwendig war.205 Für K. S. Latourette, der in 200 Der „Social Gospel“ in China wird behandelt bei Jun Xing: Baptized in the Fire of Revolution. The American Social Gospel and the YMCA in China: 1919–1939, Bethlehem/London 1996. 201 Vgl. Harold Balme: The Awakening of China in Relation to the Modern Missionary Programme, London 1921, 13; Basil Mathews: World Tides in the Far East, New York 1934, 164; T. T. Lew: „China’s Renaissance – the Christian Opportunity“, TCR, Bd. 52, Nr. 5 (Mai 1921), 301–322, hier 314. 202 Vgl. Balme: Awakening of China, 16, sowie Tai Pung Heng: „The Christian Church and Rural Reconstruction“, TCR, Bd. 52, Nr. 10 (Oktober 1921), 696–703, hier 696–697. Die Rolle der Kirche für soziale Reform b etonten auch Paul Hutchinson und Sherwood Eddy. Vgl. Hutchinson: China’s Real Revolution, 130; Sherwood Eddy: Everybody’s World, New York 1920, 154. 203 Vgl. H. T. Hodgkin: „Christian Movement in China“, CWR, Bd. 47, Nr. 3 (Dezember 1928), 106–107. Siehe zu Hodgkins Werdegang R. R. Covell: „Henry Hodgkin, 1877–1933“, in: Biographical Dictionary of Chinese Christianity, Onlineausgabe [http://www.bdcconline.net/en/stories/h/ hodgkin-henry-theodore.php, abgerufen am 26.6.14]. Ähnlich äußerte sich auch Hodgkins Kollege Nelson Bitton: The Regeneration of New China, London 1914, 22. 204 Sherwood Eddy führte den „breakdown“ Chinas auf seine moralische Schwäche zurück. Vgl. Sherwood Eddy: „China’s critical situation“, YMI, Bd. 30, Nr. 3 (März 1919), 134–136, hier 136. Ähnlich J. E. Bear: „Christianity and the Material Advance of China“, TCR, Bd. 51, Nr. 12 (Dezember 1920), 826–837, hier 835. 205 Vgl. C. Y. Cheng: „The Chinese Christian Church and National Movements“, TCR, Bd. 50, Nr. 7 (Juli 1919), 456–460, hier 460; Bitton, Regeneration of New China, 27; P. F. Price: „The Present Intellectual Awakening and its Bearing upon the Christian Church“, TCR, Bd. 52, Nr. 6 (Juni 1921), 411–421, hier 419.
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II Modernisierungsideen
Yale die Geschichte der Mission lehrte, leistete das Christentum einen unbezahlbaren Beitrag für die Zukunft Chinas.206 Der christliche Glaube wurde demnach als revolutionäre Kraft interpretiert, die China gab, was der Konfuzianismus nicht mehr zu geben imstande war; gleichzeitig, so wurde stets betont, konnte das Christentum auf dem traditionellen Wertesystem Chinas aufbauen und auf diese Weise eine noch größere moralische Kraft entfalten.207 Dieser Anspruch wirkte sich direkt auf die Zukunftserwartungen aus. „Let us not hope for China’s greatness and prosperity“, schrieb C. Y. Cheng (Cheng Jingyi), einer der führenden chinesischen Protestanten dieser Zeit und ein Mitglied der London Missionary Society, „but for her purity, honesty and justice, which should form the foundation of the nation“.208 Das Projekt des nationalen Aufstiegs Chinas gewann aus dieser Sicht durch die christliche Verankerung an moralischer Tiefe und Legitimation. Die Rechnung ging jedoch auch andersherum auf: Die christliche Missionierung Chinas wurde legitimiert durch die Bedeutung, die man ihr im Regenerationsprozess zusprach. Den „spiritual quest“ der Chinesen zu erfüllen und damit die Daseinsberechtigung des Christentums in China unter Beweis zu stellen, interpretierte der amerikanische Missionar Lucius Chapin Porter als größte Herausforderung der Kirche.209 Weil sie den Kontakt mit der chinesischen Gesellschaft suchten, wurden die Missionare jedoch stärker als Diplomaten und Händler als Repräsentanten der Imperialmächte wahrgenommen. Nachdem der Unmut gegenüber dem Christentum bereits im Boxer-Aufstand um 1900 kulminiert war, formierte sich auch in den 1920er Jahren eine antichristliche Bewegung.210 Vor dem Hintergrund der Neuen Kulturbewegung, die Rationalität zur neuen Religion erhob, stand das Christentum auf dem Prüfstand. „A Christianity that is decaying in the Occident, a Christianity that is morally ineffective, philosphically unsound, and historically untrue“, postulierte Lowe Chuan-hua in The Nation, „will never find a permanent home on China soil“.211 Die Anziehungskraft, die das Christentum auf einige C hinesen ausübte,212 resultierte seiner Meinung nach aus dessen falscher Assoziation mit 206 Vgl. Latourette: Development of China, 313. Siehe auch Neils: „Introduction“, 4. 207 Vgl. Latourette: Development of China, und Bitton: Regeneration of New China, 26–27. 208 Cheng: „Chinese Christian Church“, 459–460. Vgl. Tchou: „Old Foundations“, 335. 209 Vgl. L. C. Porter: China’s Challenge to Christianity, New York 1924, 178. Ähnlich auch Bitton: Regeneration of New China, 241–245. 210 Siehe J. G. Lutz: Chinese Politics and Christian Missions. The Anti-Christian Movements of 1920–1928, Notre Dame 1988. Vgl. hierzu Koo: „The Present Situation in China“, 584. 211 Lowe Chuan-hwa: „The Christian Peril in China“, TN, Bd. 116, Nr. 3005 (Februar 1923), 144– 145. Ähnlich kritisch zeigte sich auch T’ang Leang-li in ders.: China in Revolt, 153. 212 Die indigene protestantische Kirche wuchs zwischen 1900 und 1927 stark. Siehe D. H. Bays: A New History of Christianity in China, Malden/Oxford 2012, Kapitel 5.
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der Macht westlicher Länder, die eigentlich auf Militarismus und Industrialismus basierte. Von einem starken Bedürfnis nach nationaler und kultureller Emanzipation gespeist, fiel Lowes Kritik am Christentum kompromisslos aus. Jedoch waren sich viele westliche und chinesische Christen darüber im Klaren, dass das Christentum seinen Platz in China durch Anpassungsfähigkeit unter Beweis stellen musste. C. Y. Cheng, der während des Boxer-Krieges beinahe sein Leben verloren hätte, und Timothy Tingfang Lew (Liu Tingfang), dessen Familie bereits vor mehreren Generationen zum Christentum konvertiert war, widmeten sich der Aufgabe, die Kirche durch Reformen zukunftsfähig zu machen. Lew, der an der YenchingUniversität in Beijing Theologie lehrte, plädierte für weniger Dogmatismus und Autoritarismus, dafür mehr Wissenschaftlichkeit und Internationalität.213 Die indigene christliche Bewegung in China hatte sich bereits seit der Jahrhundertwende herausgebildet.214 1922 als Dachverband der protestantischen Kirche in China gegründet, verfolgte der National Christian Council das Ziel, die Zusammenarbeit der einheimischen und missionarischen Kräfte zu fördern.215 Die Arbeit dieser Organisation sah Frank Rawlinson in einem komplementären Verhältnis zur westlichen Kirche.216 Für Rawlinson, der nicht nur mit Chinas politischer Führung, sondern auch mit dessen spirituellen Traditionen sympathisierte, wurde die Haltung der freien Kooperation umso bedeutender, je schwie-
213 Vgl. Lew: „China’s Renaissance“, 318–322; D. Z. T Yui: „The needs of the Christian Movement in China“, in: Student Christian Movement (Hg.): China to-day through Chinese Eyes, London 1926, 140–151, hier 143–147; Shü Pao Ch’ien: „The Christian Renaissance“, TCR, Bd. 51, Nr. 7 (Juli 1920), 459–467; H. T. Hodgkin: „My Hopes for the Chinese Church“, TCR, Bd. 59, Nr. 12 (Dezember 1928), 745–753. Zum Werdegang Chengs und Lews siehe Peter Tze Ming Ng: Chinese Christianity: An Interplay between Global and Local Perspectives, Leiden 2012, Kapitel 6, sowie „Timothy Tingfang Lew Papers“, Online Finding Aid, The Burke Library Archives, Union Theological Seminary, Columbia University [http://library.columbia.edu/content/dam/libraryweb/locations/burke/fa/ mrl/ldpd_6882703.pdf, abgerufen am 20.10.14]. 214 Siehe hierzu D. H. Bays: „The Growth of Independent Christianity in China, 1900–1937“, in: ders.: Christianity in China, 307–316, hier 307–308. 215 Zur Anpassung der christlichen Theologie an die veränderten Umstände in China und v. a. die Betonung der Einheit der Kirche siehe B. M. Searle: „The Theology of American Missionaries in China, 1900–1950“, in: J. K. Fairbank (Hg.): The Missionary Enterprise in China and America, Cambridge 1974, 135–158. Der National Christian Council traf jedoch auf den Widerstand konservativerer Gruppen wie etwa der China Inland Mission, die ihre Kooperation verweigerten. Siehe D. H. Bays: „New Protestant Theological Issues, 1900–1949“, in: Tiedemann: Handbook of Christianity, 669–680, hier 670. 216 Vgl. Frank Rawlinson: „Chinese Christians facing a new brighter future“, CWR, Bd. 42, Nr. 11 (November 1927), 266–267. Vgl. auch D. Z. T. Yui: „Some Problems confronting Christianity in China“, CCS, Bd. 2, Nr. 4–5 (Januar/Februar 1927), 17–18; Lian Xi: The Conversion of Missionaries. Liberalism in American Protestant Missions in China, 1907–1932, University Park 1997, 77–93.
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II Modernisierungsideen
riger sich die Situation für Missionare im Kontext der nationalen Revolution gestaltete. In China tätige Missionare wie Rawlinson, Porter, Hodgkin, Latourette, Hutchinson oder Balme waren sich mit ihren chinesischen Glaubensbrüdern einig, dass die christlichen Kirchen in China zukünftig unter chinesischer Führung stehen mussten.217 Dennoch blieb der ausländische Einfluss bis in die 1940er Jahre hinein stark und chinesische Christen sahen sich dem Vorwurf der Denationalisierung ausgesetzt.218 Die Vision eines christlichen China entfernte sich zunehmend von den politischen Realitäten. Die Aufmerksamkeit, die dem Christentum und den christlichen Kirchen in der Debatte über die zukünftige Entwicklung Chinas zukam, ist bemerkenswert. Westliche Missionare und ihre chinesischen Partner artikulierten sich selbstbewusst in der Weltöffentlichkeit; zahlreiche Monographien und ganze Zeitschriften widmeten sich der Frage, wie sich das Christentum auf die soziale und nationale Regeneration des Landes auswirkte und wie ein christliches China gestaltet werden konnte. Auch in Indien waren nach dem Ersten Weltkrieg missionarische Organisationen wie das YMCA aktiv und einige führende Nationalisten wie K. T. Paul gehörten dem christlichen Glauben an. Wenngleich das Christentum als Modernisierungskraft im indischen Kontext nicht denselben Stellenwert entwickelte, stellten sich im Kontext der Nationalbewegung ähnliche Fragen für die Zukunft der christlichen Kirche.
5.3.4 Die Rolle des Christentums im sozialen und nationalen Regenerationsprozess Indiens Anders als in China, wo Mitglieder der nationalen Führungselite wie Sun Yatsen schon früh zum Christentum konvertiert waren, entfaltete die christliche Mission in Indien dort ihre größte Wirkkraft, wo die soziale Mobilität am geringsten war.219 217 Vgl. Hodgkin: China, 157; K. S. Latourette: „Christianity in China“, AAAPSS, Bd. 152 (November 1930), 63–71, hier 71; Hutchinson: China’s Real Revolution, 154; Balme: Awakening of China, 16–20; Porter: China’s Challenge, 205, 215. Vgl. auch T. C. Chao: „Can Christianity be the Basis of Social Reconstruction?“, TCR, Bd. 53, Nr. 5 (Mai 1922), 312–317, hier 317. Siehe hierzu auch D. H. Bays: „The Growth of Independent Christianity in China, 1900–1937“, in: ders.: Christianity in China, 307–316, hier 307–308. 218 Siehe S. Stone Garrett: „Why They Stayed: American Church Politics and Chinese Nationalism in the Twenties“, in: Fairbank: The Missionary Enterprise, 283–310. Zur schwierigen Position der chinesischen Christen siehe Philip West: „Christianity and Nationalism: The Career of Wu Lei-ch’uan at Yenching University“, in: Fairbank: The Missionary Enterprise, 226–246. 219 Sahay weist darauf hin, dass sich die christliche Bewegung in Indien oft mehr als sozioökonomische denn als religiöse darstellte. Siehe K. N. Sahay: Christianity and Cultural Change in India,
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Westliche Missionare wie der Brite William Paton,220 der von 1922 bis 1926 den ersten Vorsitz des National Christian Council of India innehatte, ahnten, dass die große Zahl der Konvertierungen in den untersten Schichten der indischen Gesellschaft, den „Unberührbaren“ und Kastenlosen, weniger religiöser Überzeugung als existentiellen Nöten geschuldet war. Dieser Umstand tat dem christlichen Sendungsbewusstsein jedoch keinen Abbruch, sondern ließ sich im Gegenteil leicht mit dem Selbstverständnis der Kirchen als Triebkraft sozialer Reform vereinbaren.221 Auf indischer Seite rief die soziale Rolle der christlichen Mission ambivalente Reaktionen hervor. Einerseits konnte die Funktion der Missionare als Vermittler der Prinzipien „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ für eine homogene indische Gesellschaft gutgeheißen werden.222 Andererseits, so bekräftigte der Herausgeber des Indian Social Reformer Kamakshi Natarajan im Rahmen der Bombay Missionary Conference im Juli 1932, mussten sich die Missionare von Dogmen trennen, die aus der eigenen Kulturtradition heraus entstanden waren. Die Praxis der Konversion, die nicht Bestandteil des hinduistischen Glaubens war, gab besonders Anlass zur Kritik. Aus Sicht Natarajans, der religiöse Toleranz praktizierte, indem er die Heirat seines Sohnes mit einer Muslima unterstützte, waren viele Inder von der christlichen Lehre beeinflusst, ohne formal dem C hristentum anzugehören.223 Der Alleingültigkeitsanspruch des Christentums, dem das Toleranzgebot des Hinduismus entgegengehalten wurde, stellte die christliche Mission vor eine Herausforderung, die so in China nicht gegeben war.224
New Delhi 1986, 41. Zur engen Affinität des Christentums mit den Urreligionen der niederen Kasten Indiens siehe R. E. Frykenberg: Christianity in India. From Beginnings to the Present, Oxford 2008, 9–15 sowie Kapitel 8, 14. Frykenberg weist aber auch darauf hin, dass sich v. a. Missionare der anglikanischen und schottischen Kirche mit ihren Bildungseinrichtungen an die Eliten der urbanen Zentren richteten. Siehe ebd., 456. 220 Siehe E. M. Jackson, „Paton, William“, in: G. H. Anderson (Hg.): Biographical Dictionary of Christian Missions, New York 1998, 519. 221 Vgl. Paton: Christianity, 86–87, 92–93. Vgl. auch D. G. M. Leith: „Christ and Social Recon struction“ [1], YMI, Bd. 30, Nr. 3 (März 1919), 129–133. 222 Vgl. S. C. Mukerjee: „The Place of the Missionary in Reformed India“, YMI, Bd. 31, Nr. 11 (November 1920), 648–655, hier 649–655. 223 Vgl. K. Natarajan: „The Future of Christian Missions“, ISR, Bd. 33, Nr. 46 (Juli 1923), 743–745. In den 1930er Jahren entwickelte sich die Frage der Konversion zum Politikum. Gandhi und der INC betrachteten sie als „unpatriotische“ Antwort auf die Probleme der Massen. Siehe Forrester: Caste and Christianity, 82. 224 Frykenberg weist darauf hin, dass indische Christen über eine hybride Identität verfügten, die ebenso in familiärer Herkunft und Kaste verankert war. Siehe Frykenberg: Christianity in India, 458–459.
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II Modernisierungsideen
Mit Kritik an der missionarischen Praxis sahen sich auch jene konfrontiert, die an einer stärkeren Anpassung des christlichen Glaubens an die indische Kultur interessiert waren, wie es besonders Eli Stanley Jones vertrat. Jones betrat mit seiner missionarischen Arbeit in Indien und mit seinem weltweit außerordentlich erfolgreichen Werk The Christ of the Indian Road (1925) Neuland.225 Wie Natarajan distanzierte er sich darin von der Identifikation des Christentums – gar seiner alttestamentarischen Quellen – mit der westlichen Zivilisation und den daraus gespeisten Überlegenheitsgefühlen.226 Er sah seine Aufgabe darin, Indien mit der reinen christlichen Lehre vertraut zu machen und sie dem Land und seinen Menschen schließlich anzuvertrauen, sodass sie ihre eigenen Formen herausbilden konnte.227 Er setzte dieses Ideal zum einen darin um, dass er seine Predigten und Ansprachen nicht in Kirchen, sondern in öffentlichen Gebäuden hielt; zum anderen gründete er nach dem Vorbild Gandhis und Tagores „christliche Aschrams“, in denen sich indische und westliche Christen ihrem Glauben widmen sollten.228 Wenngleich Jones eine enge Verbindung zu Gandhi pflegte, war sein Interesse an einem emanzipierten indischen Christentum in erster Linie spiritueller Natur, unabhängig von politischen Rahmenbedingungen. Die Frage der Indigenisierung des Christentums war jedoch von der politischen Entwicklung kaum zu trennen. Obwohl sich keine mit der chinesischen vergleichbare anti-christliche Bewegung formierte, verlangten indische Christen unter der Führung K. T. Pauls und S. K. Dattas „responsible government in the Indian Church“.229 Wenngleich sich die indisch-christliche Bewegung aus den politischen Kämpfen weitgehend heraushielt, waren führende indische Protestanten im Nationalkongress aktiv und identifizierten sich mit der nationalistischen Programmatik: Es galt, eine mit den Kolonisierern assoziierte Religion zu indigenisieren, um mit der politischen auch die kulturelle Dominanz des Westens abzuschütteln und das spirituelle Regenerationspotential des Christentums für die Nationenbildung nutzbar zu machen.230 225 Jones wird von seinem Biograph als „one of the most widely known and universally admired Christian missionaries and Evangelists of the twentieth century“ bezeichnet. Siehe S. A. Graham: Extraordinary Man, Extraordinary Mission: The Life and Work of E. Stanley Jones, N ashville 2005, 11. 226 Vgl. E. S. Jones: The Christ of the Indian Road, New York/Cincinnati 1926, 3–8, 12–14. Vgl. auch die Besprechung von Jones’ Werk in der Indian Review: M. S. Modak: „Christ and India“, IR, Bd. 30, Nr. 4 (April 1929), 274–275, hier 274. 227 Vgl. Jones: The Christ of the Indian Road, 213. 228 Siehe Graham: E. Stanley Jones, 12–13, 345–355. 229 Mukerjee: „Place of the Missionary“, 653–654 [Hervorhebung i. O.]. Siehe auch Forrester: Caste and Christianity, 173, 180. 230 Siehe zur Beziehung der indisch-christlichen Bewegung zum Nationalismus George Oommen: „Protestant Christianity in India“, in: D. P. Chattopadhyaya (Hg.): History of Science, Philosophy
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Wie Frank Rawlinson in China sah William Paton in der indischen Führung des National Christian Council, der auch in Indien alle protestantischen Gemeinschaften vereinte, ein positives Zeichen für die Zukunft eines christlichen Indiens.231
5.4 Fazit In asiatischen und westlichen Vorstellungen einer kulturellen Modernisierung Chinas und Indiens waren die Grenzen zwischen Moderne und Tradition durchlässig. In der Forderung nach intellektueller, spiritueller und gesellschaftlicher Erneuerung überwog das Bedürfnis, moderne und traditionelle, westliche und asiatische Kulturelemente zu vereinen. Dies schloss unterschiedliche Standpunkte nicht aus. Diese ergaben sich bei einer Bevorzugung des nationalen Selbststärkungsprojekts gegenüber kultureller Kontinuität. Die Position eines Unabhängigkeitskämpfers wie Lajpat Rai, der den nationalen Fortschritt seines Landes in einem globalen Referenzrahmen maß und dafür auch bereit war, Indien kulturell zu öffnen, war zwangsläufig eine andere als die eines Spiritualisten wie John Woodroffe, der die kulturelle Partikularität Indiens priorisierte. Jedoch zeigt die Debatte um „National Education“ eindrücklich, dass politische und kulturelle Emanzipation in letzter Konsequenz kaum zu trennen waren. Praktische und allgemeine, dabei an die sozialen Bedingungen und kulturellen Traditionen angepasste Bildung konnte zugleich als Garant einer moralischen Erneuerung und als Voraussetzung für die internationale Emanzipation gelten. Und selbst junge chinesische und indische Studenten, die oft stark von ausländischen Bildungsinhalten geprägt waren, strebten nach einem assimilativen, nicht imitativen Umgang mit den Errungenschaften der westlichen Moderne. Hatten einige Autoren größeres Vertrauen zu westlicher Denkart, westlicher Bildung und gesellschaftlichen Strukturen als andere, so galt für Reformen in diesen Bereichen das Diktat der Praktikabilität hinsichtlich der gegebenen sozialen und historischen Umstände, der Originalität im Sinne der kulturellen Ausrichtung und vor allem der Funktionalität im Sinne des Nationalismus. and Culture in Indian Civilization, Vol. VII, Part 6: Indian Christianity, hg. v. A. V. Afonso, Neu Delhi 2009, 73–86, hier 83–85; George Thomas: Christian Indians and Indian Nationalism, 1885–1950. An Interpretation in Historical and Theological Perspectives, Frankfurt 1979, besonders 247–248. 231 Vgl. Paton: Christianity, 90–91. Vgl. zur Indigenisierung der indischen Kirche aus westlicher Sicht auch P. N. Young/Agnes Ferrers: India in Conflict, London 1920, vor allem Appendix II, 144–148. Ähnlich auch W. H. Hutton: Besprechung von Young/Ferrers: India in Conflict, AR, Bd. 16, Nr. 48 (Oktober 1929), 714–715, und Harold Austin: „Christian Education in Southern India“, The East and the West, Bd. 17, Nr. 67 (Juli 1919), 258–264, hier 260.
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II Modernisierungsideen
Die Idee der „modernen Frau“ ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie diese Paradigmen der kulturellen Modernisierung umgesetzt werden konnten: Westliches Wissen – etwa moderne medizinische Erkenntnisse – konnten im eigenen Land mit einem hohen Gewinn für die gesamte Gesellschaft eingesetzt werden; die Identität als Frau und Mutter war dabei kein Hindernis mehr für Wissens aneignung, berufliche Tätigkeit und gesellschaftliches Engagement, sondern im Gegenteil ein besonderer Antriebsfaktor. Gleichzeitig musste die „moderne Frau“ nicht radikal mit traditionellen Gesellschaftsidealen brechen und konnte von bestimmten westlichen Lebensweisen bewusst Abstand nehmen. Der christliche Glaube verlieh vielen Frauen zudem ein besonderes Selbstbewusstsein hinsichtlich ihrer Rolle, die Zukunft der Nation positiv zu gestalten. In China wie in Indien galt das Christentum für Gläubige als Fortschrittskraft: In ihm schien die Quelle westlicher Stärke und damit auch der nationalen Regeneration Chinas und Indiens zu liegen. Das Christentum konnte nicht nur Medium moralischer und spiritueller Orientierung, sondern auch Agent sozialer Reform sein. Gleichzeitig stand das Christentum für kulturelle Fremdeinflüsse. Die Forderung nach einer stärkeren Emanzipation der indigenen Kirchen von Seiten der indischen und chinesischen Christen war die logische Folge und wurde von Seiten britischer und amerikanischer Missionare unterstützt. Wer – in Wort oder Tat – dazu beitragen wollte, die chinesische oder indische Gesellschaft zu modernisieren, der kam nicht umhin, ihrer kulturellen Identität Rechnung zu tragen. Für die missionarische Tätigkeit eines Rawlinson und Hume hatte dieser Anspruch ungleich größere Konsequenzen als für einen Philosophen wie Bertrand Russell, der mit seiner einseitigen Idealisierung chinesischer Kultur vielleicht das kulturelle Selbstbewusstsein der Chinesen heben, aber nicht wesentlich zu einer ideellen und praktischen Annäherung westlicher und indigener Kultur beitragen konnte, einer Voraussetzung – so der weitgehende Konsens – nicht zuletzt für den Aufstieg auf internationalem Parkett.
III Weltordnungskonzepte
Es sind vor allem Zeiten des weltpolitischen Umbruchs, so der Historiker David Armitage, in welchen das internationale Denken neue Impulse erhält.1 Dies traf in besonderem Maße auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zu. Das gesteigerte Interesse von Politik und Öffentlichkeit an den internationalen Beziehungen mündete in der Zwischenkriegszeit in ihrer Institutionalisierung als wissenschaftliche Disziplin. Als eine primär transatlantische Erscheinung war ihr Interesse am atlantischen Raum zwangsläufig groß.2 Dennoch kann die intensivierte Auseinandersetzung mit Asien als wichtiger Bestandteil und Antriebsfaktor der jungen Disziplin angesehen werden, zu der von Anfang an auch asiatische Wissenschaftler beitrugen. Studien wie The Foreign Relations of China (1922) des Politikwissenschaftlers Mingchien Joshua Bau oder Foreign policy in the Far East (1936) des Revolutionärs Taraknath Das wurden in internationalen Forscherkreisen intensiv diskutiert.3 „Can anyone doubt that […] world problems in the future will be determined by what happens in the Orient?“, schrieb Herbert Francis Wright, amerikanischer Experte für internationales Recht, in seinem Vorwort zu Das’ Werk. „As Doctor Das points out, there are two ways of looking at the problem – conflict and cooperation.“4 Wrights Kommentar verweist auf die Tatsache, dass der weltpolitische Bedeutungszuwachs Asiens abhängig vom institutionellen, politischen, sozialen und ideologischen Ort des Autors unterschiedlich interpretiert werden konnte: entweder positiv als Chance für mehr Gleichheit und Kooperation in den westöstlichen Beziehungen oder aber in einem negativen Sinn als Quelle neuer beziehungsweise Verstärker alter imperialistischer Konfliktlinien. In ihren Untersuchungen über die Ursachen des Ersten Weltkrieges kamen viele Autoren zu dem Schluss, dass die internationale Anarchie, die das imperialistische Staatensystem geprägt hatte, für die Eskalation des Konfliktes verantwortlich war. Neue akademische und außerakademische Forschungseinrichtungen in der Disziplin der Internationalen Beziehungen entstanden in den 1920er Jahren mit dem normativen Auftrag, diese Anarchie durch Maßnahmen der internationalen Zusammenarbeit zu ordnen.5 Der Völkerbund wurde als erster Schritt in diese Richtung
1 Armitage: Foundations, 12. 2 Siehe etwa Schulzinger: Council on Foreign Relations, 12. 3 In einer Besprechung des Werkes in International Affairs heißt es über die chinesischen Wissenschaftler: „The writers are usually well equipped to deal with the documents, and there is generally a restraint and moderation in their reviews of the policies of the Powers, friendly and unfriendly, which attract attention.“ Vgl. „The Foreign Relations of China by M. J. Bau“, JBIIA, Bd. 2, Nr. 2 (März 1923), 77–79. 4 Wright: „Foreword“, x. 5 Siehe z. B. Schmidt: Discourse of Anarchy, 236. Siehe hierzu auch Donnelly: „Realism“, 178.
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III Weltordnungskonzepte
interpretiert und symbolisierte den Versuch einer langfristigen Friedens- und Fortschrittsstrategie der Experten.6 Ähnlich umstritten wie die Prämissen der Modernisierungstheorie der 1960er und 1970er Jahre ist das Narrativ der „Großen Debatte“ zwischen Idealismus und Realismus in der Disziplingeschichte der Internationalen Beziehungen. Dieses Narrativ begründete der britische Historiker E. H. Carr bereits 1940 mit seinem einflussreichen und provokanten Werk The Twenty Years’ Crisis; es besagt, dass das internationale Denken in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg von einem zur Utopie neigenden Idealismus hinsichtlich der Möglichkeiten einer neuen Friedensordnung geprägt war, der mit der konfliktträchtigen Realität wenig gemein hatte und deshalb schon mit Beginn der 1930er Jahre vom Realismus als leitendes Theorem der Internationalen Beziehungen abgelöst wurde.7 Revisionistische Forschungsansätze in Ideengeschichte und historischer Politikwissenschaft dementieren seit den 1990er Jahren die Existenz einer solchen Debatte. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Idealismus-Realismus-Dichotomie aufzulösen und dagegen die Vielfalt, Komplexität und Ambivalenz des internationalen Denkens zu betonen.8 Einige Werke fächern dabei alternative Spannungsfelder auf, etwa zwischen den Denktraditionen nach Macchiavelli, Grotius und Kant,9 zwischen Liberalismus, Realismus und Sozialismus,10 zwischen aufklärerischem und antiaufklärerischem Denken,11 zwischen Internationalismus und Imperialismus12
6 Der normative Anspruch war David Long zufolge im Selbstverständnis der Disziplin angelegt. Siehe David Long: „Conclusion: Inter-war idealism, liberal Internationalism, and Contemporary International Theory“, in: ders./Wilson (Hg.): Thinkers of the Twenty Years’ Crisis, 302–328, hier 306. Zur Bedeutung des Fortschrittsparadigmas für die „Idealisten“ der Zwischenkriegszeit siehe auch Wilson: „Introduction“, sowie R. O. Keohane: „International Liberalism Reconsid ered“, in: John Dunn (Hg.): The Economic Limits to Modern Politics, Cambridge/New York 1990, 165–194, hier 175. Andreas Osiander bezeichnet dagegen nicht den Fortschritt, sondern die Prozesshaftigkeit, also den – ideologisch neutralen – Wandel der Internationalen Beziehungen als Kernelement des internationalen Denkens in der Zwischenkriegszeit. Siehe Osiander: „Idealism revisited“. 7 Vgl. E. H. Carr: The Twenty-Years’ Crisis, 1919–1939. An introduction to the Study of International Relations, London 1939. 8 Besonders aussagekräftig sind die Sammelbände David Long/Peter Wilson (Hg.): Thinkers of the Twenty Years’ Crisis. Inter-war idealism reassessed, Oxford 2003, sowie Long/Schmidt: Imperialism and Internationalism. Siehe auch Schmidt: International Relations. 9 Siehe Martin Wight: International Theory. The Three Traditions, hg. v. Gabriele Wight and Brian Porter, Leicester/London 1991. 10 M. W. Doyle: Ways of War and Peace. Realism, Liberalism and Socialism, New York/London 1997. 11 Knutsen: International Relations Theory, 205–206. 12 Siehe Long/Schmidt: Imperialism and Internationalism.
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oder zwischen Universalismus und Partikularismus.13 Ziel der revisionistischen Literatur ist es jedoch nicht, das alte Dichotom durch neue zu ersetzen und die Frage nach dem Ursprung der Disziplin und der bestimmenden internationalen Theorie der Zwischenkriegszeit endgültig zu lösen; jedes der Analysemodelle ist anhand des Textbestandes zu rechtfertigen und kann für die historische Einordnung nützlich sein. Primär geht es diesen Ansätzen um eine Neubewertung der frühen Autoren der Internationalen Beziehungen durch eine historische Kontextualisierung ihrer Texte. Dabei zeichnen sich zwei Merkmale besonders deutlich ab: Zum einen ließen auch jene Autoren, welche eine demokratische internationale Ordnung forderten, die Realitäten imperialer und nationaler Partikularinteressen keinesfalls außer Acht. Die normative Ausrichtung ihres Denkens schloss etwa eine Kritik am Völkerbund nicht aus.14 Als Kernprinzip des Mächtegleichgewichts blieb die Idee nationalstaatlicher Souveränität nach dem Krieg weiterhin gültig und musste mit dem neuen pluralistischen Anspruch vereinbart werden. Der Idealismus der Internationalisten war in erster Linie eine Frage des Zeithorizontes ihrer Analysen: Konnte sich eine friedliche Weltordnung oder gar eine Weltgemeinschaft in ihren Augen nur langfristig realisieren lassen, so galt es in der unmittelbaren Gegenwart, zwischenstaatliche Konflikte zu lösen, machtpolitische Dynamiken zu erkennen und Gleichgewichte zu bewahren. Ihre Debatten sind damit als implizite oder explizite Auseinandersetzung mit den Grundannahmen des Realismus zu verstehen.15 Imperiales und imperialistisches Denken erfuhr dabei sowohl in Großbritannien als auch in den USA Kontinuität, etwa in Form eines „imperialen Liberalismus“ wie im Fall Alfred Zimmerns.16 13 Hartmut Behr untersucht Partikularismus und Universalismus als Ontologien des Internationalen Denkens seit der Aufklärung: Hartmut Behr: A History of International Political Theory. Ontologies of the International, Basingstoke/New York 2010, 1–2. Zu Partikularismus und Universalismus in der heutigen Weltpolitik siehe R. B. J. Walker: „East Wind, West Wind: Civilizations, Hegemonies, and World Orders“: in: ders. (Hg.): Culture, Ideology, and World Order, Boulder/ London 1984, 2–22. 14 Eine solche Skepsis war David Armstrong zufolge in Großbritannien stärker ausgeprägt als in den USA. Siehe David Armstrong: „International Organization“, in: Smith: International Relations, 171–184. Die sehr unterschiedlichen Haltungen amerikanischer Internationalisten gegenüber dem Völkerbund untersucht W. F. Kuehl: Keeping the Covenant. American Internationalists and the League of Nations, 1920–1939, Kent, OH 1997. 15 Siehe Osiander: „Idealism revisited“, 39. „Far from being ,idealist‘“, so beschreibt Lucian Ashworth den „Realismus“ liberaler Denker der Zwischenkriegszeit, „liberal internationalism at the beginning of the twentieth century was deeply concerned with understanding the world in all its current imperfections“. Siehe L. M. Ashworth: Creating International Studies. Angell, Mitrany and the Liberal Tradition, Aldershot 1999, 4. 16 Siehe Jeanne Morefield: „,A Liberal in a Muddleʻ: Alfred Zimmern on Nationality, Internationality, and Commonwealth“, in: Long/Schmidt: Imperialism and Internationalism, 93–116.
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egrifflichkeiten der politischen und kulturellen Ein- und Ausgrenzung wie B „Imperium“, „Rasse“, „Zivilisation“ und „Nation“ waren ebenso prägend wie die universalisierten Ideen der „Freiheit“ und „Gleichheit“.17 Zum anderen zeigt sich in der revisionistischen Literatur, dass auch realistische Ansätze nicht dem Liberalismus konträr gegenübergestellt und einseitig mit einem Fokus auf die Geo- und Machtpolitik staatlicher Akteure assoziiert werden dürfen.18 Viele Autoren, die wie E. H. Carr der realistischen Tradition zugeordnet werden, vertraten eine liberale Weltanschauung und anerkannten die Reformbedürftigkeit der internationalen Ordnung oder die Notwendigkeit internationaler Organisation.19 Der politische Theoretiker und Historiker Duncan Bell unterscheidet vor diesem Hintergrund drei Formen des Realismus in der Zwischenkriegszeit: einen konservativen Realismus, der den Status quo der Großmachtpolitik bewahren will; einen liberalen Realismus, der Ordnung für das Überleben liberaler – also entlang demokratischer Prinzipien organisierter – Staaten voraussetzt; und Realismus als Disposition, also als Skepsis gegenüber dem Einfluss von Rationalität und Moral in einer von Macht geprägten Welt.20 Dementsprechend kann auch von der „idealistischen Disposition“ zahlreicher Autoren der Zwischenkriegszeit gesprochen werden, definiert als Suche nach möglichen und praktikablen Wegen zur Realisierung von Rationalität und Moral in einer von Macht geprägten Welt. Oft waren die Analysen der „Idealisten“ nur an kurzen Ausblicken auf die Chancen einer zukünftigen Friedensordnung zu erkennen. Über die Probleme dieser Friedensordnung in einem komplexen internationalen System machten auch sie sich keinerlei Illusionen. Wie im Falle Arnold Toynbees waren
17 Siehe hierzu besonders die Ausführungen von Robert Vitalis: „Birth of a Discipline“, in: Long/Schmidt: Imperialism and Internationalism, 159–182. Edward Keene problematisiert die unterschiedlichen Definitionen menschlicher Gemeinschaft im internationalen Denken. Siehe Edward Keene: International Political Thought. A Historical Introduction, Cambridge/New York 2005, 7–12. 18 So kann dem Realismus auch eine „Ethik der Verantwortung“ zugeschrieben werden. Siehe M. C. Williams: The Realist Tradition and the Limits of International Relations, Cambridge/New York 2005, 11. Die moralistische Dimension im realistischen Denken betont Nicolas Guilhot: „Introduction. One discipline, many histories“, in: ders. (Hg.): The Invention of International Relations Theory. Realism, the Rockefeller Foundation, and the 1954 Conference on Theory, New York 2011, 1–32. 19 Tim Dunne spricht vom „utopischen Realismus“ E. H. Carrs, der politische und wirtschaftliche Reform als Voraussetzung einer internationalen Nachkriegsordnung sah. Siehe Tim Dunne: Inventing International Society. A History of the English School, Basingstoke/New York 1998, xii. 20 Duncan Bell: „Under an empty sky – Realism and political theory“, in: ders. (Hg.): Political thought and International Relations. Variations on a theme, Oxford 2009, 1–25.
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sie nicht selten primär an der Herstellung von Ordnung interessiert, „an order of free and co-operating states if possible, but any order if necessary“.21 Weil also die Grenzlinie zwischen Realismus und Idealismus im internationalen Denken der Zwischenkriegszeit sehr schwach ausgeprägt war, ist der analytische Wert der beiden Begriffe gering und bewegt sich auf der Ebene des Suggestiven.22 Es ist jedoch wichtig zu sehen, dass die Diskrepanz zwischen konservativem Realismus einerseits und kosmopolitischem Idealismus andererseits immens sein konnte. Dies zeigt sich gerade bei jenen Autoren, die sich mit der Zukunft der west-östlichen Beziehungen auseinandersetzen. Asien polarisierte. Die Prognosen über die zukünftige Position asiatischer in Relation zu westlichen Ländern bewegten sich zwischen geopolitischen Analysen einer „Gelben Gefahr“ für den Westen – das Schlagwort hatte auch nach dem Ersten Weltkrieg Konjunktur – und Visionen einer transkulturellen Weltgesellschaft. Im Spannungsfeld zwischen kulturalistischen (Kapitel 7) und geopolitischen (Kapitel 8) Interpretationsansätzen – und dabei oft auf deren Argumente zurückgreifend – stand der Versuch liberaler Internationalisten, die Beziehungen westlicher Länder mit Indien und China auf eine stabile und freundschaftliche Basis zu stellen und auf diese Weise auch der wachsenden Bedeutung Asiens in der sich wandelnden weltpolitischen und -wirtschaftlichen Arena Rechnung zu tragen (Kapitel 6).23 Ein ganzer Kontinent forderte politische, wirtschaftliche und kulturelle Weltgeltung, stellte im Westen fest verankerte Werte und Ordnungsvorstellungen in Frage. Folglich war der Grat zwischen Konflikt und Kooperation in internationalistischen Zukunftsprognosen stets ein besonders schmaler.
21 Christopher Brewin: „Arnold Toynbee, Chatham House, and Research in a global context“, in: Long/Wilson (Hg.): Thinkers of the Twenty Yearsʼ Crisis, 277–301, hier 285. Brewin weist auf Gemeinsamkeiten im Denken des „Liberalen“ Arnold Toynbee und des „Realisten“ E. H. Carr hin. Siehe auch Long: „Conclusion“, 306. 22 Siehe Wilson: „Introduction“, 6–7. 23 Der Definition des internationalen Denkens bei Martin Wight, der die Grundelemente der Debatte unterschied zwischen internationaler Anarchie (Machiavellianer), internationalem Umgang (Grotianer) und einer Gemeinschaft der Menschheit (Kantianer), kommt diese Dreiteilung sehr nahe. Auch Wight ging nicht davon aus, dass die drei Kategorien klar voneinander abtrennbar waren. Siehe für eine Beurteilung seiner Kategorisierung etwa Hedley Bull: „Martin Wight and the theory of international relations“, in: Wight: International Theory, ix–xxiii, hier xiii, xviii.
6 Asien in der Weltpolitik: Auf der Suche nach einer neuen internationalen Ordnung Für Beobachter der internationalen Beziehungen begann nach dem Ersten Weltkrieg die pazifische Ära. Das weltpolitische Zentrum, das aus westlicher Sicht in Antike und Mittelalter das Mittelmeer und in der frühen Neuzeit der Atlantik gewesen war, schien sich im beginnenden 20. Jahrhundert zum Pazifik zu verschieben. „It is unnecessary to recapitulate the importance of the Pacific Basin in world politics“, konstatierte Pearl Buck im Jahr 1933, „[i]t is a commonplace“.1 Der pazifische Raum war ein west-östlicher, der sich aus der Großmacht USA sowie aus den großen Nationen des asiatischen Kontinents, Japan, China und mit gewissen Abstrichen Indien, zusammensetzte.2 Genauso wie Indien und China innenpolitisch zum Zwecke ihrer Modernisierung „erwacht“ waren, so regte sich ganz Asien in weltpolitischer Hinsicht. The Awakening of Asia war der Titel, mit dem Henry Hyndman 1919 sein Buch zur Lage der Weltpolitik überschrieb. Die Tatsache, dass China und Japan bei der Versailler Friedenskonferenz ihre Rechte einforderten, war für ihn ein untrügliches Zeichen für sich verändernde Beziehungen zwischen Asien und der westlichen Welt.3 Und auch die internationale Abrüstungskonferenz von 1921, die Delegierte aus beiden Erdteilen zusammenbrachte, um die Flottenvorkommen der drei großen Seemächte Japan, Großbritannien und USA im Pazifik zu regeln, war in diesem Zusammenhang ein wichtiges Ereignis. Für Nathaniel Peffer hatte mit der Konferenz gar ein neues Kapitel in der Geschichte begonnen, indem sie die Rolle Ostasiens in der Weltpolitik formell verankerte. „What we shall have now is the interplay of all the continents“, schrieb Peffer in der amerikanischen Zeitschrift The Century. „For good or for worse we have bridged all the oceans and made a future history a unity.“4 1 Buck: „China and the West“, 119. Vgl. zur Verschiebung des machtpolitischen Zentrums auch N. D. Harris: Europe and the East, Boston/New York/Chicago/San Francisco 1926, 577. Vgl. zur Definition des pazifischen Raums Gowen: Asia, 11. 2 Bisweilen wurde auch Australien explizit hinzugezählt. 3 Hyndman: Awakening, vii. 4 Nathaniel Peffer: „The Aftermath in the Far East“, The Century, Bd. 104/82, Nr. 1 (Mai 1922), 83–96, hier 84. Ähnlich auch W. W. Willoughby: „China. Our Chief Far East Problem“, AAAPSS, Bd. 101 (Mai 1922), 237–240, hier 240. Es handelte sich bei der Konferenz gleichsam um eine Ausweitung der Versailler Friedenskonferenz auf Ostasien. Siehe A. L. Miller/Richard Wich: Becom ing Asia. Change and Continuity in Asian International Relations since World War II, Stanford 2011, 9. Auch Iriye spricht von einer stärkeren Einbindung Ostasiens in die Weltpolitik nach dem Ersten Weltkrieg. Siehe Akira Iriye: After Imperialism. The search for a new order in the Far East, 1921–1931, Cambridge 1990, ix–x. Er relativiert damit sein Argument in der Erstausgabe des Werkes, dass Ostasien weitgehend aus der Weltpolitik isoliert wurde. DOI 10.1515/9783110464382-006
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Als Auslandskorrespondent stufte Peffer schon allein aufgrund seiner räumlichen Nähe zu den Ereignissen in Asien die weltpolitische Signifikanz dieser Region höher ein, als dies in seiner Heimat der Fall war. Jedoch teilten auch andere westliche Autoren die Meinung, dass asiatischen Ländern für die Gestaltung der internationalen Beziehungen künftig eine zentrale Rolle zukam – nicht nur passiv, als Ort neuer Konflikte und imperialistischer Strategiezüge, sondern auch aktiv, als selbstbewusste Akteure mit eigenen nationalen Interessen und Ideen von internationaler Ordnung.5 Diese Autoren reagierten auf die antiimperialistischen Widerstandsbewegungen in Asien und auf prognostische Erklärungen von Vertretern dieser Bewegungen. Aus deren Perspektive standen China und Indien an der Schwelle zur internationalen Emanzipation. „It is evident that recent political events, evolving with unparalleled rapidity, are bound to alter the estab lished order of international relations“, schrieb der Journalist Lowe C huan-Hua im Frühjahr 1923. „The Oriental peoples are awakening and are demonstrating their firm determination to gain their proper places in the world as independent and progressive nations.“6 Die Verlagerung der Weltpolitik nach Asien und Amerika, prognostizierte Jawaharlal Nehru, werde den „brief day of European domination“7 zu einem Ende bringen. Für westliche und asiatische Beobachter verschob sich das weltpolitische Interesse nicht nur deshalb nach Asien, weil Europa vom Krieg geschwächt worden war, sondern auch, weil asiatische Länder das von Europa geprägte imperialistische System anfochten. Die neue internationale Ordnung sollte die Vorstellung kultureller und rassenbiologischer Überlegenheit des Westens und die darauf gründende weltpolitische Hierarchie beseitigen und eine wirklich „globale Ordnung“ sein, die nicht-europäische Nationen als ebenbürtige Partner mit einschloss.8 Internationalistische, nicht imperialistische Prinzipien sollten diese Ordnung prägen. Der liberale Internationalismus war kein Kind der Zwischenkriegszeit, erfuhr aber in dieser Zeit einen neuen Höhepunkt. In seinen Kernprämissen Freiheit, Fortschritt und Rationalität geht er auf die Philosophie der Aufklärung zurück,
5 Entsprechend äußerten sich u. a. G. H. Blakeslee: „Introduction“, in: Park: Retreat of the West, vii; Kent: Twentieth Century, 13; Russell: Problem of China, 9; Norton: China and the Powers, ix. 6 Lowe Chuan-hua: „Christian Peril“, 46. Sowohl Konfuzius als auch Abraham Lincoln zitierend, bekräftigte Lowe seine moralische Überzeugung, dass der Westen nicht über den Orient dominieren dürfe. Siehe ders.: „The Future of East and West“, CSM, Bd. 20, Nr. 5 (März 1925), 47–48, hier 47. 7 Jawaharlal Nehru: „Presidential Address, 1929“, 15. 8 Siehe hierzu R. J. Vincent: „Racial Equality“, in: Hedley Bull/Adam Watson (Hg.): The Expansion of International Society, Oxford 1984, 239–254.
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doch er wird auch mit den wirtschaftlichen Expansionstendenzen des 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht, die sich in grenzüberschreitenden institutionellen Aktivitäten vor allem europäischen Ursprungs ebenso niederschlugen wie im Prozess der informellen und polyzentrischen Globalisierung politischer, wirtschaftlicher und kultureller Praktiken.9 Als Phänomen der Mittelschicht und der Wissenschaften stand der liberale Internationalismus seit seiner Entstehung der Idee einer transnationalen Verbindung aller Arbeiter in der sozialistischen Internationale gegenüber.10 Zur Zeit Woodrow Wilsons bestand der liberale Internationalismus bereits aus verschiedenen philosophischen und praxisbezogenen Bausteinen, die zu fassen leichter wird, wenn man mit dem Historiker Martin Griffith zwischen einem „republikanischen“, einem „kommerziellen“ und einem „regulativen“ Liberalismus unterscheidet. Demnach sahen Internationalisten erstens eine kausale Verbindung von Demokratie und Frieden: Rational agierende Republiken tendierten also eher zu einer friedlichen Lösung ihrer Konflikte als andere Staatengebilde. Der demokratische Liberalismus eines James Mill und Giuseppe Mazzini ging zudem davon aus, dass auch die nationale Selbstbestimmung den internationalen Frieden förderte. Zweitens stellte der Internationalismus einen Zusammenhang zwischen Handel und Frieden her: In freien Handelsbeziehungen sahen Ökonomen wie Jeremy Bentham oder Richard Cobden das wichtigste Mittel zur Generierung von Abhängigkeiten zwischen Völkern und Nationen und damit von Anreizen für Kooperation. Drittens verlangten diese Abhängigkeiten institutionelle Regulierung der internationalen Beziehungen; im Gegensatz zum Zustand der Anarchie zeichnete sich das Staatensystem dann idealerweise durch reziproke Entscheidungsfindung aus.11 In der Zwischenkriegszeit und speziell in der Debatte über die zukünftige Position Chinas und Indiens in der Weltpolitik spielten alle drei Spielarten des liberalen Internationalismus eine Rolle. Einige Widersprüche taten sich dabei
9 Siehe M. H. Geyer/Johannes Paulmann: „Introduction. The Mechanics of Internationalism“, in: dies. (Hg.): The Mechanics of Internationalism, Oxford/New York 2001, 24, sowie Ashworth: Creating International Studies, 4. 10 Siehe Sluga: Internationalism, 3–5, sowie Herren: Internationale Organisationen, 43. Regierungen bemühten sich um aktive Teilhabe an den frühen Internationalisierungsprozessen. Siehe dies.: „Governmental Internationalism and the Beginning of a New World Order in the Late Nineteenth Century“, in: Geyer/Paulmann: Mechanics of Internationalism, 121–144. 11 Martin Griffiths: Rethinking International Relations Theory, London 2011, 4–5, 26–30. Siehe hierzu auch M. W. Zacher/R. A. Matthew: „Liberal International Theory: Common Threads, Divergent Strands“, in: C. W. Kegley (Hg.): Controversies in International Relations Theory. Real ism and the neoliberal challenge, New York 1995, 107–150, hier 114.
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auf: Erstens mussten die scheinbar entgegengesetzten Ziele nationaler Selbstbestimmung und internationaler Integration miteinander vereinbart werden. Die kritische Staatstheorie des Pluralismus stellte das nationale Souveränitätsprinzip in Frage. Das Ausmaß von Interdependenz im internationalen System schien so groß geworden, dass unilaterales staatliches Handeln zwangsläufig zu Konflikten führen musste. Für viele asiatische Autoren war die Souveränität ihrer Länder aber Voraussetzung für einen Zustand internationaler Gleichheit. Und auch die meisten westlichen Autoren stellten nationalstaatliche Identitäts- und Ordnungsprinzipien nicht grundlegend in Frage; sie sahen darin keinen Widerspruch zu einer pluralistischen Staatenordnung.12 Zweitens, und eng damit verbunden, war die internationale Gesellschaft noch immer eine westlich geprägte.13 Internationalistische Weltordnungskonzeptionen oszillierten zwischen Anpassung an und Widerstand gegen die Universalisierung westlicher Ordnungsvorstellungen; nicht selten reproduzierten sie imperialistische Ideen und Hierarchien. Diese Grundambivalenz war in der Nachkriegsordnung angelegt, die von demokratischen Ideen einer „neuen Diplomatie“14 ebenso geprägt war wie von alten Machtansprüchen. Woodrow Wilson verstand das Prinzip der politischen Selbstbestimmung nicht als revolutionär, sondern reformistisch; es sollte keineswegs einer Dekolonisation Asiens und Afrikas Vorschub leisten, sondern einer „government by consent“ vor allem der europäischen Völker.15 Die Siegermächte des Ersten Weltkrieges hielten an ihren imperialen und kolonialen Einflussgebieten fest, die erst unter dem Mandatssystem
12 Internationalismus wurde aus dieser Perspektive oft als „inter-state organization“ definiert. Siehe Akami: Internationalizing the Pacific, 28. Zu den nationalistischen Elementen im Internationalismus der Nachkriegszeit siehe ausführlich Sluga: Internationalism, 45–65; David Steigerwald: Wilsonian Idealism in America, Ithaca/London 1994, 48–49; Mark Mazower: Governing the World. The History of an Idea, London 2012, xiv–xv. 13 Wie Madeleine Herren hervorhebt, hatte die große Mehrheit der internationalen Organisationen vor 1945 ihren Sitz in Europa. Siehe Herren: Internationale Organisationen, 13. Den christlichen Kern der Völkerbund-Idee betont Sluga: Internationalism, 65. 14 Propaganda wurde zu einem wichtigen Bestandteil der „neuen Diplomatie“: Siehe Herren: Internationale Organisationen, 56. Siehe auch Keith Hamilton/Richard Langhorne: The Practice of Diplomacy. Its Evolution, Theory and Administration, London/New York 1995, v. a. 93–182. 15 Wilson verstand den Völkerbund seiner progressivistischen Innenpolitik entsprechend auch als Mittel der sozialen Kontrolle. Siehe Alan Cassels: Ideology and International Relations in the Modern World, London/New York 1996, 152. Dougherty und Pfaltzgraff betonen die Diskrepanz zwischen dem Anspruch auf eine friedliche internationale Ordnung in der angloamerikanischen Öffentlichkeit und dem mangelnden Willen, eine konkrete Friedenspolitik voranzubringen. Siehe J. R. Dougherty/R. L. Pfaltzgraff: Contending Theories of International Relations. A Comprehensive Survey, New York 2001, 14.
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des Völkerbundes ihre größte Ausdehnung erlangten.16 Ein anhaltender Rassismus schlug sich nicht nur in den amerikanischen Einwanderungsbeschränkungen gegen Asiaten nieder, sondern auch darin, dass ein Antrag Japans auf Rassengleichheit im Völkerbund abgelehnt wurde.17 Der Finanzimperialismus, der um die Jahrhundertwende seinen Höhepunkt gehabt hatte, florierte weiter und kam nun im Gewand eines wirtschaftlichen Liberalismus daher, den Wilson zur Grundlage seiner globalwirtschaftlichen Integrationsvorstellungen nach amerikanischem Vorbild machte.18 Die Spannung zwischen internationalistischen Zielen und imperialistischen Kontinuitäten in der Weltpolitik prägte die Aufstiegsliteratur der Zwischenkriegszeit.
6.1 Kernfrage Gleichheit: Indien und China als souveräne Mächte 6.1.1 China im Kreis der großen Mächte: Recht und Gerechtigkeit Der Diplomat Sao-ke Alfred Sze hatte als erster Chinese an der amerikanischen Eliteuniversität Cornell studiert und war dem Land seither eng verbunden. Seine lange diplomatische Laufbahn hatte 1893 mit einer Position als studentischer Dolmetscher in der amerikanischen Gesandtschaft in Beijing begonnen und 1935 mit der Position des ersten chinesischen Botschafters in den USA ihren Höhepunkt erfahren. Von 1914 bis 1937 führte er die chinesische Gesandtschaft abwechselnd
16 Siehe den kurzen Überblick über das Mandatssystem bei Martyn Housden: The League of Nations and the Organisation of Peace, Harlow 2012, 86–88. Die völkerrechtliche Idee des Mandatssystems als internationales Schutzinstrument kolonisierter Völker mit dem Ziel ihrer Souveränität wird herausgearbeitet von Antony Anghie: „Colonialism and the Birth of International Institutions. Sovereignty, Economy, and the Mandate System of the League of Nations“, Journal of International Law and Politics, Bd. 34, Nr. 3 (April 2002), 513–634. 17 Am 1. Juli 1924 trat ein neues US-Einwanderungsgesetz in Kraft, das auch die Immigration japanischer Staatsangehöriger unterband. Zur Vorgeschichte der Gesetzgebung Izumi Hirobe: Japanese Pride, American Prejudice. Modifying the Exclusion Clause of the 1924 Immigration Act, Stanford 2001, 1–18. Den japanischen Antrag auf Rassengleichheit im Völkerbund hat im Detail aufgearbeitet: Naoko Shimazu: Japan, race and equality. The racial equality proposal of 1919, London 1998. 18 Siehe L. E. Ambrosius: „Democracy, Peace, and World Order“, in: J. M. Cooper (Hg.): Reconsid ering Woodrow Wilson. Progressivism, Internationalism, War, and Peace, Washington/Baltimore 2008, 225–249, hier 241. Siehe auch Roberta Allbert Dayer: Bankers and Diplomats in China 1917– 1925. The Anglo-American Relationship, London/Totowa 1981.
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in Großbritannien und den USA an, nahm an den Versailler Friedensverhandlungen und der Abrüstungskonferenz von Washington ebenso teil wie an zahlreichen internationalen Konferenzen im Rahmen des Völkerbundes. Sze war vertraut mit der „alten“ und zugleich ein Kind der „neuen“ Diplomatie. Wie viele asiatische Intellektuelle hoffte er auf eine Nachkriegsordnung, die den internationalen Status seines Heimatlandes verbesserte. Das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung wurde in Asien oft als Abkehr von einer Imperialpolitik gedeutet, die den Zugang zur „internationalen Gesellschaft“ an einen „Zivilisationsstandard“ gekoppelt hatte – also an ein Bündel von impliziten oder expliziten Annahmen über die Kapazitäten eines Gemeinwesens, im Bereich der Bürgerrechte, Bürokratie, Diplomatie und Verteidigung europäische Normen und die Regeln des – westlichen – internationalen Rechts zu wahren. Unterschiede in „Rasse“ und „Kultur“ sollten nun keine Auswirkungen mehr haben auf das „Naturrecht“ der internationalen Gleichheit.19 Die „ungleichen Verträge“, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts den informellen Imperialismus in China legitimierten, waren Symbole des Zivilisationsstandards, regelten sie doch die Beziehungen zwischen Mitgliedern der internationalen Gesellschaft und dem außenstehenden chinesischen Reich. Für ihre Revision setzte Alfred Sze jedoch nicht auf einen radikalen, gewaltsamen Weg, sondern gerade auf die Prinzipien des internationalen Rechts: The international jurisprudence of the world is built upon the promise that the independent members of the Family of Nations are entitled to certain rights which are inherently theirs by reason of their several sovereignties; and these “Rights of Nations” are themselves based upon the proposition that these Nations are political personalities which have a character similar to that accorded by ethics to human individuals.20
Recht und Ethik bauten Sze zufolge, der sich auf Kant berief, aufeinander auf. „Internationale Ethik“ bedeutete aus seiner Sicht, dass jeder Staat seine nationale Politik nach dem Wohl der gesamten Menschheit ausrichten sollte; gleichzeitig dürfe das Streben nach dem nationalen Wohl nicht von außen behindert
19 Siehe Aydin: Politics of Anti-Westernism, 128. Rassistische Grundannahmen prägten jedoch auch die Wilson’sche Nachkriegsordnung. Siehe Manela: „Imagining Woodrow Wilson“, 1344. Zu den Inhalten des „Standards“ siehe Gong: Standard of ,Civilizationʻ, viii, sowie Bowden: Empire of Civilization, 16. Zur Etablierung europäischer Standards in der internationalen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts Jörg Fischer: „Internationalizing Civilization by Dissolving International Society: The Status of Non-European Territories in Ninteenth-Century International Law“, in: Geyer/Paulmann: Mechanics of Internationalism, 235–257. 20 Sze: „International Aspects“, 56–57. Siehe hierzu auch Gong: Standard of ,Civilization‘, 146–163.
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werden.21 Der Zusammenhang zwischen nationaler Souveränität und internationaler Gleichheit lag für Sze auf der Hand: Nur ein nach innen souveräner Staat konnte eine Position der Gleichheit beanspruchen, und nur eine Position der Gleichheit konnte die externe Souveränität Chinas garantieren, also zu eigenständigem internationalem Handeln ermächtigen. Neue Verträge mussten also zwischen China und den Westmächten als gleichberechtigte Partner ausgehandelt werden; nur dann seien sie nicht nur rechtens, sondern auch gerecht – und nur so könne China wieder die internationale Position einnehmen, die dieser bedeutenden Zivilisation gebühre.22 Die historische Perspektive verlieh der Forderung nach Souveränität Nachdruck. Die Demütigung durch die „ungleichen Verträge“ wog vor dem Hintergrund der historischen Bedeutung des Kaiserreiches in den Augen Szes und seiner Zeitgenossen noch schwerer. Akzeptiere China eine Einschränkung seiner Souveränität, unterstrich auch der Amerikaner Charles Hodges diesen Identitätskonflikt, „we might as well doubt China’s right to claim a place in international society“.23 Eine bedeutende Zivilisation verpflichtete aus dieser Sicht geradezu zum Kampf um nationale Souveränität. Die Vorstellung eines Zivilisationsstandards wurde mit diesem historischen Argument jedoch keinesfalls verworfen, sondern vielmehr bestätigt. Mit der Forderung nach internationaler Gleichheit sollte also Chinas Weltgeltung wiederhergestellt werden. Auch der Politikwissenschaftler Mingchien Joshua Bau, der wie Sze seine akademische Laufbahn in den USA begonnen hatte, widmete sich in seinem Werk The Foreign Relations of China (1922) der Möglichkeit einer außenpolitischen Rehabilitierung Chinas. Darin schlug er ein vierstufiges Vorgehen vor: Erstens müsse in einer „Policy of Preservation“ Chinas Verteidigungsapparat gestärkt sowie eine starke Nationalregierung eingesetzt werden, „[f]or sovereignty presupposes competency“.24 Ebenso wie Sze berief er sich auf das internationale Recht, um zweitens in einer „Policy of Recovery“ die Wiederherstellung der Souveränität Chinas nach innen und außen zu fordern. Er betonte, dass die alten Verträge allein aufgrund ihrer Ungleichheit laut internationalem Recht ungültig waren.25 Drittens müsse diese „Policy of Recovery“ durch
21 Vgl. Sze: „International Aspects“, 58–59. Ähnlich Yui: „Nationalist China“, 18. 22 Vgl. A. S. Sze: „What China asks of the nations of the world“, MR, Bd. 41, Nr. 5 (Mai 1927), 552–554. Siehe hierzu Schmidt: The Political Discourse of Anarchy, 171–172. 23 Charles Hodges: „China’s Servitude“, TN, Bd. 121, Nr. 2135 (August 1925), 176–178, hier 176. Ähnlich J. S. Lee: „China in Relation to the World“, FER, Bd. 3, Nr. 1 (Oktober 1920), 18–20, hier 18. 24 M. J. Bau: The Foreign Relations of China. A History and a Survey, New York/Chicago/London/ Edinburgh 1922, 494. 25 Vgl. ebd., 502. Ausführlich zur Abschaffung der Verträge äußerte Bau sich in einem späteren Werk: Bau: China and World Peace, 13, 122, 125.
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eine „Policy of the Golden Rule“ ergänzt werden, um „any further degeneration of international morality“26 zu verhindern – dies jedoch nicht nur von Seiten der Westmächte, sondern auch von China selbst, das sich damit der Freundschaft aller Nationen versichern müsse. Damit implizierte Bau bereits Chinas Gleichberechtigung in der internationalen Politik. Im Rahmen seines vierten Prinzips, der „Policy of World Welfare“, führte er schließlich die weltpolitische Rolle, die er sich für China vorstellte, genauer aus: It is not sufficient for China to preserve herself, or to recover her impaired rights, or to follow the Golden Rule; she should also become one of the leaders of the world and devote herself to the service and welfare of humanity. […] The Chinese, as a race, are destined to fulfill the mission of promoting world peace. Reasonable, peace-loving, regarding “all men within the four seas as brothers”, they are peculiarly fitted for the unique destiny of promoting world peace. And to fulfill this mission and destiny, she must strive to maintain the reign of justice and righteousness. […] And to do so, the most effective way is to maintain the sanctity of the principles of international law.27
China sollte Recht und Moral in den internationalen Beziehungen also nicht nur befolgen, sondern gleichsam als deren Garant und damit als Hüter des Weltfriedens fungieren. Die westlichen Regeln des internationalen Kontakts wurden auf diese Weise nationalistisch uminterpretiert und in eine traditionelle Lesart gestellt, in der ein moralisch gewendetes Selbstverständnis des „alten China“ mitschwang. So selbstbewusste Pläne für die internationale Rolle Chinas wurden in einer Rezension für das britische IIA skeptisch beurteilt. Hier kam man zu dem Schluss, die Einbindung Chinas in die Konferenz von Washington und den Völkerbund habe bei Bau falsche Hoffnungen geweckt. Sein Entwurf einer chinesischen Außenpolitik „reads like a counsel of perfection and must appear to the friends of China to be in present circumstances almost utopian“.28 Mit den „gegenwärtigen Umständen“ war vor allem der Mangel an politischer Einheit und Rechtssicherheit gemeint, der wie bereits dargelegt als Argument für die Beibehaltung ausländischer Extraterritorialität herangezogen wurde.29 Ein Land, das nach innen keine einheitliche Stimme habe, so las man in der von der Amerikanerin Carroll
26 Bau: Foreign Relations of China, 512. 27 Ebd., 516. 28 „The Foreign Relations of China by M. J. Bau“, JBIIA, Bd. 2, Nr. 2 (März 1923), 77–79, hier 78. 29 Ebd. Vgl. H. K. Norton: „The Attitude of the United States toward China“, AAAPSS, Bd. 132 (Juli 1927), 97–101. China habe die „legitimen Rechte“ der westlichen Länder zu respektieren, genauso wie man die Rechte Chinas respektiere. Vgl. auch H. W. Taft: „Internal Reform in China“, AAAPSS, Bd. 132 (Juli 1927), 60–66, hier 65.
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Prescott Lunt in Shanghai herausgegebenen Zeitschrift China Digest, könne auch keine mit einer Nation wie den USA vergleichbare Stimme nach außen fordern; China habe genau diejenige internationale Position inne, die seinem politischen Modernisierungsgrad entspreche.30 Die revolutionäre Stimmung der 1920er Jahre verstärkte kulturelle Überheblichkeit und politische Kompromisslosigkeit. Dass das Konzept des Zivilisationsstandards von chinesischer Seite oft nicht hinterfragt wurde, zeigen die Legitimationsstrategien aus der Geschichte heraus ebenso wie die Versuche, das Argument der Rechtsunsicherheit zu widerlegen und die „Kapazität“ Chinas zu eigenmächtigem Handeln aufzuzeigen.31 Der Wunsch nach einer gleichberechtigten Position in der internationalen Gesellschaft überwog nicht selten das Wissen um den diskriminierenden Charakter dieser Gesellschaft. Viele britische und amerikanische Autoren plädierten dagegen dafür, den chinesischen Souveränitätsforderungen im Rahmen des internationalen Rechts vorbehaltlos nachzukommen. Auf die britische Rechtstradition verweisend, erinnerte der britische Außenbeziehungsexperte Archibald Rose in einem internen Papier des IIA daran, dass China im Namen des Rule of Law an die westliche Welt appelliert habe; man müsse nun beweisen, dass dieses Recht auch in den internationalen Beziehungen gelte.32 Nicht China, sondern der Westen war aus dieser Perspektive im Zugzwang – auch weil Russland seine Privilegien bereits aufgegeben hatte und China ostentativ als gleichberechtigten Verhandlungspartner behandelte. Die Souveränität Chinas anzuerkennen und außenpolitische Strategien entsprechend anzupassen, schien deshalb nicht nur von Rechts wegen n otwendig, sondern auch aus politischen Gründen, um das Vertrauen in die Westmächte wiederherzustellen.33 Es musste eine neue Psychologie kultiviert werden, welche die kulturellen Überlegenheitsgefühle des Imperialismus überwand.34 Angesichts
30 Vgl etwa „China’s proper place in the family of nations“, CD, Bd. 21, Nr. 258 (November 1930), 213–214, sowie G. W. Keeton: „New Era in China“, CD, Bd. 12, Nr. 149 (September 1928), 88–89. 31 Vgl. M. J. Bau: „Extraterritoriality and its relinquishment“, in: J. B. Condliffe (Hg.): Problems of the Pacific. Proceedings of the Second Conference of the Institute of Pacific Relations, Honolulu, July 15 to 29 1927, Chicago 1928, 247–256, hier 252, 256. Vgl. auch F. W. Lee: „China and the Foreign Powers. Thoughts on the abolition of extraterritoriality“, TWT, Bd. 9, Nr. 1 (Januar 1926), 6–8. 32 Vgl. Archibald Rose: „The Crisis in the Far East“ (8. Februar 1932), RIIA Meeting Papers, Chatham House, London: RIIA 8/183, 7, 11. Rose sah Großbritannien dabei in einer Führungsrolle. Vgl. ders.: „China Revisited“, JRIIA, Bd. 7, Nr. 1 (Januar 1928), 1–11, hier 7. Ähnlich auch Gilbert Reid: „China and the Peace Settlement“, TN, Bd. 108, Nr. 2817 (Juni 1919), 1023–1025. 33 Vgl. Ward: „What the Chinese want“, 10–11. 34 So äußerten sich u. a. J. W. Hall: „The case for China. Why the West must either conquer China or abandon special privileges and trust her“, Asia, Bd. 24, Nr. 11 (November 1924), 849–853, 924– 925; Clark: „Forward or Backward China?“, 18; Latourette: „Shantung Question“, 708; G. E. Anderson: „Occidental snobs in Oriental politics“, CD, Bd. 10, Nr. 124 (April 1928), 127–128.
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des zögerlichen Verhaltens der Westmächte, sich vom alten Vertragssystem zu verabschieden, sah man China in einer Position „moralischer Überlegenheit“.35 Dies umso mehr, als das Land im Ersten Weltkrieg an der Seite für die Freiheit der westlichen Welt mitgefochten hatte. Für John Dewey bedeutete Chinas Kriegseinsatz auch einen Kampf um Anerkennung in der internationalen Staatengemeinschaft. „As the result of the victorious outcome of the war“, versprach er kurz nach Kriegsende, „all inequalities to which you have been subject will be completely swept away“.36 Das internationale Recht bereitete also den Boden, auf dem primär moralisch und politisch argumentiert wurde. Die westliche internationale Rechtstradition befand sich auf Druck der internationalen Ereignisse und der nationalistischen Agitationen nach dem Ersten Weltkrieg ebenso im Wandel wie die Struktur der internationalen Gesellschaft.37 Für entschiedene Gegner des Zivilisationsstandards stellte die Rechtstradition immer weniger eine Grundlage für die Revision der „ungleichen Verträge“ dar, die formell auf dieser Tradition aufbauten; wenn Anhänger und Kritiker des Vertragssystems sich gleichermaßen auf das internationale Recht beriefen, konnte es nicht konfliktlösend wirken. Gleichzeitig entsprach der Bezug auf internationale Gerechtigkeit und die „Goldene Regel“ einer emotional geführten Debatte. Als Teil der konfuzianischen wie der christlichen und aufklärerischen Ethik galten sie unabhängig von Zeit und Raum und schienen damit eine verlässlichere Basis für internationale Gleichheit bieten zu können als das Recht.38 Vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse verloren rechtliche wie ethische Argumente jedoch gleichermaßen an Bedeutung. „The day is fast approach ing when, united in patriotic endeavor, the people of the Republic of China will ask Justice of no nation but will demand Justice from all nations“, mahnte der Amerikaner Richard Hatton in der China Review. „And the demand will be met, Diplomacy to the contrary notwithstanding, for the nations, in that day will not dare to refuse Justice where Justice is due.“39 Das revolutionäre China schuf 35 Vgl. F. E. Hinckley: „Who gains by present treaty restraints in China“, FER, Bd. 2, Nr. 10 (Juli 1920), 161–164, sowie Wang Chung-hui: „China from Without“, CSM, Bd. 17, Nr. 3 (Januar 1922), 180–182. 36 Dewey: Lectures in China, 306; ebenso Dennett: Democratic Movement, 252. 37 Siehe Schmidt: Discourse of Anarchy, 178–186. 38 In dem Maße, wie sich mit dem Briand-Kellogg-Pakt ein internationaler Moralcodex durchzusetzen schien, war damit die Zeit auf der Seite Chinas, auch wenn die Verhandlungen in Versailles und Washington bisher noch keine Gerechtigkeit gebracht hatten. Vgl. hierzu Bruce Bliven: „Young China and the Old Powers“, TNR, Bd. 29, Nr. 369 (Dezember 1921), 126–127. Ähnlich auch See: Chinese Question, 37. 39 „Manifesto of the Chinese Students’ Alliance: A Challenge to Imperialism“, CSM, Bd. 21, Nr. 1 (November 1925), 71–72, hier 71. Vgl. P. T. Lau: „The aims of the Chinese Nationalists“, AAAPSS, Bd. 132 (Juli 1927), 72–79, hier 77, 79.
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atsachen, auf die mit einer Revision der westlichen Chinapolitik reagiert werden T musste. Da eine militärische Intervention praktisch wie ideologisch zunehmend ausgeschlossen war, stellte sich die Wiederherstellung chinesischer Souveränität immer weniger als rechtliche oder ethische Frage, sondern als realpolitische Notwendigkeit dar.40 Wie viele liberale Beobachter der Szenerie in China sprach sich der amerikanische Historiker George N. Steiger, der an der St. John’s University in Shanghai lehrte, dafür aus, die Tatsachen anzuerkennen und auf freundliche Beziehungen mit einem gleichberechtigten China zu hoffen.41 Jedoch generierten nationale Souveränität und internationale Gleichheit nicht unbedingt mehr Interessenharmonie. Das Prinzip der nationalen Souveränität war nicht immer kompatibel mit dem Ziel internationaler Konfliktbewältigung, wie sich auch in der Debatte über die internationale Position Indiens zeigte.
6.1.2 Das britische Empire und die nationale Selbstbestimmung Indiens Der indische Intellektuelle S. K. Datta stand im Rahmen des internationalen YMCA mit dem chinesischen Christen David Yui in Kontakt. In einem Brief äußerte er sich zur Rezeption des Prinzips der nationalen Souveränität in China und Indien: Is not the whole conception of national sovereignty a very new one both to China and to India with regard to form as well as content? Perhaps sovereignty really meant to us and possibly to you, the whole of Society with its traditions and culture. […] It had no reference, I think to questions of territory and other physical forms, which are external to it. You and we are constantly tripping over conceptions which are more form than content, and this is due to an unadjusted education.42
Dattas Worte machen zweierlei deutlich: Zum einen, dass die Debatte um die chinesische Souveränität auch in Indien aufmerksam verfolgt wurde; besonders Taraknath Das und Benoy Kumar Sarkar äußerten sich ausführlich zu der enormen politischen Kraft, welche die Frage in China entfaltete, und zu den
40 Vgl. etwa „The Old Imperialism is crumbling“, TWT, Bd. 13, Nr. 12 (Dezember 1930), 484; „The spirit of New China. Interpretations by Chinese Writers“, TWT, Bd. 9, Nr. 1 (Januar 1926), 2; „Can the powers keep their ,rightsʻ in China“, TNR, Bd. 49, Nr. 628 (Dezember 1926), 100–102; „Far Eastern Realities“, TNR, Bd. 43, Nr. 552 (Juli 1925), 142–144; H. Schloten: „A different view of Chinese Nationalism“, CD, Bd. 5, Nr. 64 (Januar 1927), 280. 41 G. N. Steiger: „What Policy in China?“, AAAPSS, Bd. 72, Nr. 211 (November 1925), 15–17. 42 Brief von S. K. Datta an David Yui (5. März 1930), S. K. Datta Private Papers, IOR, British Library, London: MSS Eur F 178/17.
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internationalen Konsequenzen, die damit einhergingen.43 Zum anderen zeigen sie, dass das Prinzip der nationalen Souveränität, wie es auf den internationalen Konferenzen verhandelt wurde, der westlichen Rechtstradition entstammte und von asiatischen Intellektuellen unter Umständen mit anderen Inhalten gefüllt wurde: Ebenso wenig wie in Indien gab es in China staatstheoretische Ansätze, die das Nebeneinander von gleichen, souveränen Staaten regelten; im Zentrum der konfuzianischen Staatstheorie stand im Gegenteil die Eliminierung von Krieg durch die Dominanz eines einzelnen Herrschers.44 Souveränität, so mutmaßte Datta in seinem Brief, sei in China und Indien weniger territorial als kulturell konnotiert, als Freiheit von Fremdeinmischung. Mehr als auf China, dessen diplomatische Vertreter sich die Sprache des internationalen Rechts aneigneten, um Chinas halbkolonialen Zustand zu beenden, traf Dattas Annahme auf Indien zu. Der Rückbezug auf das internationale Recht spielte für die Repositionierung Indiens im internationalen System keine zentrale Rolle, da die britisch-indischen Beziehungen von imperialem Recht geregelt wurden. Die indische Forderung nach Unabhängigkeit richtete sich nicht primär an die internationale Gesellschaft, sondern an Großbritannien. Schwerer als rechtliche wogen da moralische Argumente und das politische Prinzip der Selbstbestimmung. Obwohl das Prinzip in seiner Wilson’schen Auslegung die kolonisierten Völker formal nicht einschloss, wurde es in Indien – ebenso wie in China – als Argument für eine rasche Dekolonisation gedeutet. Die Vorstellung der politischen Emanzipation und Souveränität aller Völker avancierte zum festen Glaubenssatz der Nationalbewegung – Benoy Kumar Sarkar sprach gar von der „messianischen Güte“ des Selbstbestimmungsprinzips.45 Man glaubte daran, dass dieses nicht auf die westliche Welt beschränkt, sondern vielmehr zeit- und grenzüberschreitend, also von universaler Gültigkeit war. „The idea which has found a fresh expression through President Wilson is as old as the world“, bekräftigte ein Leitartikel in Young India bereits 1918, auf dem Höhepunkt des „Wilsonian Moment“. „It is impossible that the noble truths […] could be limited in their application. Henceforth his words are going to be the war cry for all small and
43 Den Schritt Russlands, seine Privilegien in China aufzugeben, deutete Sarkar als Symbol einer neuen wegweisenden internationalen Moral. Vgl. B. K. Sarkar: „The International Fetters of Young China“, JIR, Bd. 11, Nr. 3 (Januar 1921), 347–368, hier 355–356, sowie Taraknath Das: „Chinas Kampf um seine Befreiung“, ZfG, Heft 8 (August 1927), 692–705. 44 Siehe C. A. Ford: The Mind of Empire. China’s History and Modern Foreign Relations, Lexington 2010, 3–5. 45 Sarkar: „International Fetters of Young China“, 335. Das Prinzip der Selbstbestimmung wurde freilich auch als „Recht“ aller Völker interpretiert. Siehe Das: „Chinas Kampf“, 692.
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subject and oppressed nationalities in the world.“46 Erst das einschneidende Erlebnis des Ersten Weltkrieges hatte dem Artikel zufolge das Prinzip in das Gedächtnis der Menschen zurückgerufen, sodass sich die Länder Asiens in ihrem Streben nach Demokratie und Freiheit darauf berufen konnten. Obwohl Indien formell von den Versailler Friedensverhandlungen ausgeschlossen war, reiste eine indische Delegation an, um die Nachkriegsdynamik für Indien zu nutzen; umsonst erwartete man, Wilson werde das Prinzip der Selbstbestimmung und den Einfluss der USA auf Großbritannien im Sinne Indiens geltend machen.47 Auch für westliche Gegner des Raj war die politische Konsequenz, die aus dem Krieg gezogen werden musste, eindeutig. Großbritannien konnte Indien die Freiheit und Gleichheit nicht versagen, für die im Krieg gekämpft worden war, ohne als „nation of hypocrites“ zu gelten, wie es der britische Labour-Politiker und Parlamentarier Vickerman Henzell Rutherford formulierte: „If only England would approach India in the spirit of Locarno, the Indian problem would be solved without any more bitterness and bloodshed.“48 Der Imperialismus befand sich in Großbritannien „in the moral defensive“49 und antiimperialistisches Gedankengut prägte die Indienpolitik der linksorientierten Parteien, auch wenn die Forderung nach einer vollständigen Entkolonialisierung selten blieb. In einer Diskussionsrunde der Londoner East India Association war man sich darüber im Klaren, dass Großbritannien auf die globale Demokratisierungswelle nach dem Krieg reagieren und seine Indienpolitik anpassen musste. Als unvermeidbares Resultat der veränderten britisch-indischen Beziehungen war aus dieser Sicht die Entwicklung der politischen Selbstbestimmung Indiens mit dem Ziel eines gleichberechtigten Dominion innerhalb des Empire gutzuheißen.50 Wie der Journalist Stanley Reed deutlich machte, der während des Krieges für die Öffentlichkeitsarbeit der britisch-indischen Regierung verantwortlich war, entsprach man
46 „India and the World War“, YI, Bd. 1, Nr. 2 (Februar 1918), 1–4, hier 2–3. 47 Siehe Manela: Imagining Woodrow Wilson, 1347–1348. Rai äußerte sich bereits 1920, nach seiner Rückkehr aus den USA, sehr kritisch über die Diskrepanz zwischen der internationalistischen Rhetorik und den tatsächlichen Beschlüssen von Versailles. Vgl. Rai: India’s Will to Freedom, 89. 48 Vgl. V. H. Rutherford: Modern India. Its Problems and their Solution, London 1927, 265. Siehe zu Rutherfords Werdegang: „Rutherford, Vickerman Henzell“, in: Who Was Who, A & C Black, Onlineausgabe, Oxford University Press 2014 [http://www.ukwhoswho.com/view/article/oupww/ whowaswho/U216571, abgerufen am 1.10.14]. 49 Ch’en: China and the West, 107–108, sowie Owen: The British Left and India, 5–8. 50 Vgl. Thorburn: „India: A Democracy?“. Vgl. auch Lord Meston: „India in transition“, UE, Bd. 12, Nr. 10 (Oktober 1921), 685–689.
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damit nicht nur Indiens „passionate craving for equal status in the eyes of the world“, sondern auch den „principles of our Imperial growth“.51 Gemäßigte Mitglieder der indischen Nationalbewegung wie Lajpat Rai hatten zwar langfristig die Vision eines international unabhängig agierenden Indiens, definierten seine internationale Rolle jedoch ebenso wie die britischen Liberal Imperialists primär in Bezug auf Großbritannien. Obwohl sich Rai bereits während einer Englandreise im Jahr 1914 von den imperialen Loyalitätsbezeugungen vieler dort ansässiger Inder abgestoßen gefühlt hatte – eine Erfahrung, die ihn in seiner Abneigung gegen jegliche Form der Fremdbeherrschtheit bestärkte52 –, vollzog er gedanklich keinen klaren Bruch mit dem britischen Empire, sondern hatte das Ziel politischer Gleichheit vor Augen. „We are determined at no distant date to be entirely free in our country“, betonte Rai in seiner Antrittsrede zum Nationalkongress im Jahr 1920, „in the same sense as South Africans are free in South Africa, Canadians in Canada, Australians in Australia and the British at home“.53 Die Prinzipien der Souveränität und Gleichheit wurden von britischer wie indischer Seite von der internationalen Gesellschaft als Ganzer auf das Empire heruntergebrochen. Die Vorstellungen eines souveränen Indien war nicht allein an innenpolitische, sondern darüber hinaus an weitreichende weltpolitische Ziele geknüpft. Ebenso wie in China avancierte ein souveränes Indien zum Garanten eines von imperialistischen Ambitionen gefährdeten Weltfriedens: nicht nur, weil ein unfreies Indien aufgrund seines potentiellen Reichtums Objekt imperialistischer Konkurrenzkämpfe bleiben,54 sondern auch, weil es vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen mit despotischer Herrschaft den Frieden in der Welt aktiv vorantreiben werde: „A free India“, so Nehru, „would inevitably play a growing part in international affairs, and that part is likely to be on the side of world peace and against imperialism and its offshoots“.55 Nehru beschränkte seinen Anspruch auf nationale Souveränität nicht auf den imperialen Rahmen. Der Status eines Dominion kam für ihn schon allein deshalb nicht in Frage, da ein freies Indien aus seiner Sicht die innere Kohärenz des Empire zerstörte. Nicht nur aufgrund
51 Reed: „Political Situation in India“, 355. Siehe zum Werdegang Reeds Evan Charlton: „Reed, Sir (Herbert) Stanley (1872–1969)“, in: H. C. G. Matthew/Brian Harrison (Hg.): Oxford Dictionary of National Biography, Bd. 46, Oxford 2004, 310–311. 52 Siehe Gould: India Lobby, 233. 53 Rai: „Congress Presidential Address“, 34, sowie Rai: India’s Will to Freedom, 86–89. 54 Ein Argument, das auch vom chinesischen Diplomaten Wellington Koo für China vorgebracht wurde. Vgl. Koo: „China, Great Britain and the United States“, 547. 55 Jawaharlal Nehru: „India and the World“, in: ders.: India and the World. Essays, London 1937, 200–210, hier 203–204. Ähnlich Rai: India’s Will to Freedom, 5–6.
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der Systemunterschiede, sondern auch aufgrund des sich verschiebenden Mächtegleichgewichts sei der Bruch schließlich unvermeidbar: „[A] free India in the British group of nations would inevitably tend to become the centre of gravity of that group; Delhi might challenge London as the nerve-centre of the Empire. That position would become intolerable for England as well as the white dominions.“56 Die Integration eines indischen Dominions in das Empire stand aus Nehrus Perspektive also keinesfalls für eine neue Ära der friedlichen Konfliktlösung in den internationalen Beziehungen. Vielmehr waren in diesem Szenario neue Konflikte die Folge, also genau das, was durch die Prinzipien Souveränität und Gleichheit in der internationalen Gesellschaft vermieden werden sollte. Zusammenfassend wird deutlich, dass im chinesischen wie indischen Kontext die politische Souveränität nicht nur als Bedingung für nationale Regeneration, also im Sinne einer Verfügungsgewalt über die inneren Angelegenheiten gedeutet wurde, sondern auch als Bedingung für internationale Gleichheit. Diese Visionen speisten sich aus dem internationalen Recht ebenso wie aus der politischen Nachkriegsdynamik und einer neuen Moral in den internationalen Beziehungen, die man besonders in Präsident Wilsons Prinzip der nationalen Selbstbestimmung verkörpert sah. Mit der Kriegsmüdigkeit stieg der Druck auf internationale Ordnungskonzeptionen, die auf imperialistischer Machtpolitik und westlichen Zivilisationsstandards beruhten. Das Souveränitätsprinzip – theoretisches Kernelement dieser Ordnung – behielt jedoch weiterhin Gültigkeit und generierte eine Grundspannung zwischen Nationalinteressen einerseits und dem Wunsch nach einer gerechteren internationalen Ordnung andererseits – nicht zuletzt in Asien, wo der Antiimperialismus im Gewand des Nationalismus daherkam. Das nationalistisch gedeutete Prinzip der nationalen Selbstbestimmung stand im indischen und chinesischen Freiheitskampf für das Ende imperialistischer Unterdrückung. Jedoch bedeutete es mehr als die Übertragung universaler Freiheitsideale auf die internationale Ebene; es war auch eine Ermächtigungsformel und konnte, musste aber nicht den internationalen Frieden fördern. Im anarchischen System souveräner Staaten war sich primär jeder selbst der Nächste. Viele Beobachter der internationalen Beziehungen waren deshalb davon überzeugt, dass die Einbindung Chinas und Indiens in die internationale Ordnung nur dann konfliktfrei vonstattengehen und der Frieden langfristig gesichert werden könnte, wenn gleichzeitig ein Paradigmenwechsel in der Weltpolitik stattfände: von Gleichheit und Gerechtigkeit auf der Basis nationaler Souveränität zu Gleichheit und Gerechtigkeit auf der Basis internationaler Kooperation. „In the seven years since the World War, the spirit of the new freedom has reached
56 Nehru: „India and the World“, 204.
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the less easily accessible peoples of the East“, stellte ein Leitartikel im New Yorker Magazin Asia fest. „Why cannot the message of a new era of mutual respect and cooperation reach the whole earth with equal speed?“57
6.2 Die Anarchie überwinden: Internationale Kooperation und Organisation Der amerikanische Modernisierungstheoretiker Edward Morse beschreibt in seinem Werk Modernization and the Transformation of International Relations von 1976, wie wirtschaftliche Modernisierungsprozesse die Abhängigkeiten zwischen Staaten verstärken. Diejenigen Gesetze der internationalen Beziehungen, die ihren Ursprung im anarchischen System unabhängiger Staaten haben, verlieren Morse zufolge ihre Gültigkeit.58 Denn die wachsende Interdependenz, gedacht als „gegenseitige[r] Zusammenhang zwischen Veränderungen und [...] breite[r] Strom gegenseitiger Transaktion“,59 verlangt die Koordinierung, Regulierung und Institutionalisierung internationaler Prozesse. So definiert, liegt in der Idee der Interdependenz die Schnittstelle zwischen der klassischen Modernisierungstheorie und dem Internationalismus. Wie der Begriff der Modernisierung hatte auch derjenige der Interdependenz bereits in der Zwischenkriegszeit Konjunktur und wurde wie jener bestimmend für das Nachdenken über die Zukunft Asiens. Bei den Internationalisten der Zwischenkriegszeit – den liberalen wie den sozialistischen – handelte es sich um eine Generation von Denkern, die die Prozesse der globalen Integration und insbesondere der wachsenden wirtschaftlichen Abhängigkeiten als Kernbestandteil der Moderne, gar als „iron-clad rules of human order“60 verstanden – ein Wahrnehmungsparadigma, das sich freilich mit der Weltwirtschaftskrise verstärkte. „Today no country in the world can be prosperous unless the world is prosperous. 57 Leitartikel, Asia, Bd. 25, Nr. 8 (August 1925), 637. 58 E. L. Morse: Modernization and the Transformation of International Relations, New York 1976, xv–xvii. 59 K. W. Deutsch: „Macht und Kommunikation in der internationalen Gesellschaft“, in: Wolfgang Zapf (Hg.): Theorien des sozialen Wandels, Köln/Berlin 1970, 471–483, hier 471. Dass aus wachsender Interdependenz die internationale Integration nicht notwendigerweise folgen muss, legten unter anderem Keohane und Nye in ihrem Werk Power and Interdependence dar. Siehe R. O. Keohane/J. S. Nye: Power and Interdependence. World politics in transition, Boston 1977. Siehe den Überblick bei D. J. Puchala: Theory and history in international relations, London 2003, 207–209. 60 Steigerwald: Wilsonian Idealism, 13.
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It is physically impossible“, folgerte der britische Makroökonom George Paish im Jahr 1934. „We have all become members of a world and if the world is in dis tress, we are in distress.“61 Während der wirtschaftliche Globalisierungsprozess weit fortgeschritten war, befand sich die Internationalisierung des politischen und kulturellen Lebens erst in den Anfängen. Die Globalisierung wirtschaftlicher Prozesse erhöhte die Komplexität der internationalen Beziehungen und eröffnete neue Konfliktfelder, etwa durch die transnationale Mobilität von Arbeitern. Nicht weniger, sondern mehr Zölle und Migrationsschranken waren das Resultat. „One hears that the world has become a neighborhood“, konstatierte vor diesem Hintergrund der chinesische Leiter des New Yorker China Institute Chih Meng (Meng Zhi). „The question is, will it become a brotherhood?“62 Wie Edward Morse in den 1970er Jahren kamen zahlreiche Analysten und Akteure auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg zu dem Schluss, dass ein internationales Recht, welches auf den Grundpfeiler absoluter nationaler Souveränität aufbaute, weder den Herausforderungen der wachsenden wirtschaftlichen Verflechtung noch dem ethischen Ziel des internationalen Friedens gerecht werden konnte. Der Vorstoß gegen das Prinzip der nationalen Souveränität wurde theoretisch von der pluralistischen Kritik an der klassischen Staatstheorie unterfüttert, die mit dem britischen Politikwissenschaftler Harold Laski verbunden wird. Der Pluralismus stellte nicht nur die Oberhoheit des Staates nach innen in Frage, sondern auch seine externe Souveränität: So wie der Staat die Interessen der individuellen Bürger nicht den nationalen Interessen unterordnen konnte, so auch nicht die Interessen anderer Staaten im internationalen System.63 Das veränderte Staatsbild korrelierte mit Entwürfen für eine neue internationale Ordnung. Um den Frieden in einer interdependenten Welt zu sichern, mussten aus der Sicht westlicher und asiatischer
61 George Paish: „Is Nationalism Opposed to Internationalism?“, AAAPSS, Bd. 174 (Juli 1934), 15–21. 62 Chih Meng: „American Contributions to the New International Order“, AAAPSS, Nr. 168 (Juli 1933), 132–138, hier 133. Siehe zu seinem Werdegang M. Y. Hsu: Chinese and American Collabora tions through Educational Exchange during the Era of Exclusion, 1872–1955“, PHR, Bd. 83, Nr. 2 (Mai 2014), 314–332, sowie „Paul Chih Meng, 90, Headed China Institute“, The New York Times, Archiv der Onlineausgabe (7. Februar 1990) [http://www.nytimes.com/1990/02/07/obituaries/ paul-chih-meng-90-headed-china-institute.html, abgerufen am 20.10.14]. Arnold Toynbee zufolge hatte die Diskrepanz zwischen wirtschaftlichen Abhängigkeiten und politischer und kultureller Isolation bereits den Ersten Weltkrieg mitverursacht. Vgl. Toynbee: „World Sovereignty“, 755. 63 Siehe Schmidt: Discourse of Anarchy, 171–172. Diesem Bild eines „minimalen Staates“ entsprach auch die konfuzianische Staatslehre, wie der chinesische Diplomat Chang Hsin-hai erklärte. Vgl. Chang Hsin-hai: „Chinese political thought and the West“, TN, Bd. 114, Nr. 2965 (Mai 1922), 526–527.
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Internationalisten unilaterale Interessenspolitik und nationale Isolation durch internationale Kooperation ersetzt werden. „The Problem of the age is not how far we can live apart from each other, but how much we can live together“, schrieb der britische Parlamentarier und Kolonialbeamte William Ormsby-Gore in der Londoner Asiatic Review. „Combination and co-operation are infinitely preferable to tribalism.“64 Um Kooperation zu ermöglichen, waren nicht nur Vertrauen und Respekt notwendig, sondern eine feste politisch-rechtliche Grundlage. Neue internationale Regime und Institutionen mussten geschaffen werden, die über ausreichend Autorität verfügten, um Konflikte zwischen Staaten zu regeln und nicht deren relativer Stärke zu überlassen. Nur durch ein gewisses Maß an „international government, expressive of a common policy and a common morality“,65 davon war Herbert Gowen überzeugt, konnte internationale Demokratie realisiert werden. Der gebürtige Brite hatte mit seiner Berufung zum Professor für „Oriental Subjects“ im Jahr 1909 den Bereich der „International Studies“ an der University of Washington in Seattle mitbegründet. Ihm wie vielen liberalen Internationalisten dieser Zeit war daran gelegen, seine Idee des Internationalen mit dem Nationalismus zu vereinbaren: There is, of course, an internationalism which has no room for the national, or for the patriotism which nationalism promotes. For that kind of internationalism we do not pray, any more than we pray for the nationalism which has no place for the individual. But just as the individual, with his trained intelligence and his voluntary service, becomes the very stud out of which a genuine nationalism is created, so out of an unselfish nationalism must it be possible to build the true internationalism, whose destiny it is to save civilization itself.66
Diese Identifikation des Internationalismus mit einem „selbstlosen“ Nationalismus entsprach der Position seines Landsmanns Alfred Zimmern, einem der führenden Köpfe in der Disziplin der Internationalen Beziehungen. Für Zimmern schlossen sich die Prinzipien der nationalen Souveränität und der internationa64 William Ormsby-Gore: „Europe and Asia in the Twentieth Century“, AR, Bd. 17, Nr. 49 (Januar 1921), 16–22, hier 20. Vgl. auch Lajpat Rai: „The Indian Problem“, MR, Bd. 126, Nr. 12 (Dezember 1919), 605–609, hier 608; Sarkar zitiert in Hans Kohn: „The Europeanization of the Orient“, PSQ, Bd. 52, Nr. 2 (Juni 1937), 259–270, hier 265; B. K. Sarkar: The Politics of Boundaries and Tendencies in International Relations, Kalkutta 1926, viii–ix. 65 Gowen: Asia, 284. Vgl. etwa Bertrand Russell: „How can Internationalism be brought about“, TC, Bd. 104/82, Nr. 2 (Juni 1922), 195–201, hier 195–196, sowie Harris: Europe and the East, 12. 66 Gowen: Asia, 284. Gowens Wortwahl ist exemplarisch für das Selbstbild vieler liberaler Internationalisten als „missionaries of civilization“: Geyer/Paulmann: „Introduction“, 9. Dem Werdegang Gowens widmet sich F. J. Hecker: „International Studies at the University of Washington – The First Ninety Years“, The Henry M. Jackson School of International Studies, University of Washington, Onlineauftritt [https://jsis.washington.edu/about/history/, abgerufen am 10.8.16].
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len Organisation nicht gegenseitig aus. Zwar müsse das Eigeninteresse jeder einzelnen Nation für die Realisierung einer authentischen Gemeinschaft überwunden werden, jedoch könne dies nicht durch die Auflösung des Nationalstaats in einem „Super-Staat“ erfolgen, sondern nur durch die Harmonisierung der Nationalinteressen in einer freiwilligen Staatengemeinschaft; von Ideen eines Weltstaates grenzte sich ein solcher „nationalistischer Internationalismus“ ab.67 Dennoch schien es unumgänglich, dass eine übernationale Instanz die Souveränität einzelner Länder bis zu einem bestimmten Grad beschnitt. So war der Völkerbund, an dessen Realisierung Alfred Zimmern mitgewirkt hatte, der Versuch, einen „permanent limiting factor“68 in die Entscheidungen von Nationalstaaten einzuführen, oder wie es der britische Gelehrte Gilbert Murray formulierte: ein „bond of duty towards fellow nations“.69 Die Unabhängigkeit einzelner Staaten sollte eingeschränkt werden, um die Freiheit aller Staaten zu erhöhen. Frieden, so ein Kernelement im internationalen Denken Murrays, konnte niemals das Ergebnis einer „natürlichen Harmonie“ zwischen Staaten sein, sondern nur eines ständigen Bemühens („strife“) und der Bereitschaft, nationale Interessen teilweise zu opfern; von den antinationalen Implikationen eines Weltbürgerdenkens war Murrays Vorstellung von internationaler Ordnung jedoch weit entfernt.70 Wie keine andere internationale Institution der Zwischenkriegszeit diente der Völkerbund als Projektionsfläche für liberale Internationalisten in Asien und der westlichen Welt. Besonders im Hinblick auf die west-östlichen Beziehungen diente der Völkerbund als Gradmesser einer neuen internationalen Moral. Demnach konnte die internationale Institution als Vermittler zwischen Ost und West fungieren, indem sie Rassenunterschiede negierte und asiatischen Ländern unabhängig von ihrer materiellen Macht ein politisches Mitspracherecht gab.71 Wären die Länder Europas bereit, den Völkerbund zu einem Partner in ihren politischen Angelegenheiten zu machen, so sicherlich auch die Länder Asiens,
67 Siehe Morefield: „Alfred Zimmern“, 93–115. Die Beziehung von Nationalismus und Internationalismus legte Zimmern in seinem Werk Nationality and Government von 1915 dar. Siehe hierzu auch Georgios Varouxakis: „,Greatʻ versus ,smallʻ nations: Size and national greatness in Victorian political thought“, in: Bell: Victorian Visions, 136–158, hier 153–154. 68 Alfred Zimmern: The League of Nations and the Rule of Law, 1918–1935, London 1936, 296. Ähnlich Norman White: „Asia’s stake in the League of Nations“, AR, Bd. 24, Nr. 79 (Juli 1928), 353–360, hier 353: Der Völkerbund habe das Ziel „of bringing nationalism under international discipline“. 69 Gilbert Murray: „India and the League of Nations“, YMI, Bd. 32, Nr. 4 (April 1921), 194–200. 70 Siehe hierzu Peter Wilson: „Retrieving Cosmos: Gilbert Murray’s Thought on International Relations“, in: Christopher Stray (Hg.): Gilbert Murray Reassessed. Hellenism, Theatre, and International Politics, Oxford 2007, 239–260, hier 243, 259, sowie Sluga: Internationalism, 62. 71 Vgl. etwa Hutton Webster: History of the Far East, Boston/New York/Chicago 1923, 163.
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schrieb Frederick Whyte. Weil Patriotismus hier weniger eng an einen nationalen Souverän geknüpft sei als in Europa, könne sich ein „sense of international citizenship“ ungemein schnell verbreiten – „with a greater alacrity than any European nation has yet shown“.72 In besonderem Maße traf dies Whyte zufolge auf Indien zu.
6.2.1 Indiens Rolle in einer kooperativen internationalen Ordnung Der Völkerbund wurde in Indien als Ort der Überwindung von Gegensätzen zwischen Nationen und Kulturen angesehen. Man glaubte daran, dass die Organisation einen „internationalen Geist“ hervorbringen und damit die Ursache von Kriegen beseitigen könne.73 „We want to be a living member of the League of Nations“, beschrieb Lajpat Rai Indiens Gestaltungswillen im Völkerbund, „and not a sleeping partner“.74 Indien müsse die Welt davon überzeugen, dass es aktiv am Aufbau einer kooperativen Weltordnung mitarbeiten könne. Mögliche Aufgaben im Völkerbund und seinen Unterorganisationen waren vielfältig. Indiens Beitrag zur Bekämpfung des Opiumhandels wurde ebenso betont wie derjenige für den sozialen Wandel: Als große „Arbeiternation“ sei Indiens Rolle in der internationalen Arbeiterbewegung von großem Wert, bekräftigte P. P. Pillai, der 1924 als erster Inder ins Sekretariat des Völkerbundes eintrat und ab 1928 das International Labour Office in Delhi leitete.75 Aus der Sicht mancher westlicher Beobachter war schon die bloße Präsenz Indiens im Völkerbund für die Neuausrichtung der internationalen Beziehungen von Bedeutung: gleichsam als Mahnung, gegen die Unterdrückung und Diskriminierung schwächerer Völker vorzugehen. Zudem schienen die indischen Delegierten im Vergleich zu den
72 Whyte: Asia, 148. 73 Deutlich bei P. Masani: „League of Nations and India“, IW, Bd. 1, Nr. 4 (April 1932), 75–76; Fazli Husain: „My visit to the League of Nations“, HR, Bd. 51, Nr. 297 (Juli 1928), 323–331, hier 325; Rabindranath Mazumder: „The League of Nations and its future“, IW, Bd. 1, Nr. 9 (Juli 1932), 206–209, hier 206–207. 74 Rai: India’s Will to Freedom, 87–88. Siehe auch Kanhayalal Gauba: „India and the League of Nations“, AR, Bd. 16, Nr. 46 (April 1920), 423–439, hier 428. 75 Vgl. P. P. Pillai: „India’s interest in the international labour office“, AR, Bd. 25, Nr. 83 (Juli 1929), 397–404. Zu Pillais Rolle im Völkerbund siehe J. Krishnamurty: „Indian Officials in the ILO, 1919–c 1947“, E&PW, Bd. 46, Nr. 10 (März 2011), 53–61. hier 55–56. Vgl. zur indischen Rolle im Völkerbund auch Fazil Husain: „League of Nations“, 329, sowie N. N. Gangulee: „India and the League of Nations“, AR, Bd. 22, Nr. 69 (Januar 1926), 15–20, hier 19. Gangulee zufolge konnte Indien die „Spiritualität“ des Völkerbundes stärken und damit seinen Einfluss auf die öffentliche Meinung.
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Repräsentanten der Westmächte „fresh and unprejudiced minds“76 in die Arbeit der Institution einzubringen. Umgekehrt konnte aus der Sicht der Internationalisten Indiens Mitgliedschaft im Völkerbund dem Land in zweifacher Weise einen großen Dienst erweisen: Erstens sah man hier unabhängig vom tatsächlichen Handlungsspielraum, den der Völkerbund den indischen Repräsentanten nur begrenzt eröffnete, einen alternativen politischen Weg zur Propagierung nationaler Interessen. Obwohl, wie Nehru in einem Artikel für The New Era betonte, diese Aufgabe auch Diplomaten und inoffizielle Repräsentanten wahrnahmen,77 konnte der Völkerbund nicht nur Indien eine internationale Stimme geben, sondern mit konkreten Maßnahmen den Modernisierungsprozess des Landes unterstützen. „If India was to become one of the great nations of the world“, wurde der angesehene britische Politiker und Politikwissenschaftler Philip Noel-Baker in der Hindustan Review zitiert, „it would probably be largely through the instrumentality of the League“.78 Zweitens war Indiens Integration in den Völkerbund dem internationalen Prestige des Landes zuträglich, was sich wiederum positiv auf die Verhandlungsposition gegenüber Großbritannien auswirken konnte.79 Vor allem die Frage der politischen Selbstbestimmung erhielt mit der Mitgliedschaft Indiens in der internationalen Organisation eine neue Dimension. Wie der indische Politiker und Staatsbeamte C. P. Ramaswami Iyer hervorhob, der von 1926 bis 1928 die indischen Interessen im Völkerbund vertrat, war Indien durch seine Zustimmung zur Verfassung des Völkerbundes international in derselben Position wie die anderen Dominions. Und auch Gilbert Murray, der sich wie Alfred Zimmern bereits während des Krieges für den Völkerbund eingesetzt hatte, war der Meinung, dass Indiens Rolle darin einer Anerkennung als „self-governing society“ gleichkam.80 Indien avancierte in der Vorstellung vieler Internationalisten auf dem Parkett des
76 H. W. Harris: „India and the League of Nations“, UI, Bd. 3, Nr. 10 (Dezember 1920), 115. Vgl. C. F. Andrews: „India and Geneva“, IR, Bd. 30, Nr. 5 (Mai 1929), 305–309, sowie Valentine Chirol: „India in the League of Nations. What she gains“, AR, Bd. 18, Nr. 55 (Juli 1922), 413–429. 77 Vgl. Jawaharlal Nehru: „India and the need for international contacts“, TNE, Bd. 1, Nr. 1 (Oktober 1928), 20–27, hier 24–25. Ähnlich auch: „Inter-parliamentary Union and India“, MR, Bd. 38, Nr. 2 (Februar 1925), 230. 78 Noel-Baker, zitiert in C. Vijiaraghavachari: „The League of Nations and India“, HR, Bd. 52, Nr. 303 (September 1929), 217–223, hier 218. 79 Die Mitgliedschaft Indiens im Völkerbund komplizierte die Frage seiner Stellung im Empire. Sie trug zur Internationalisierung der imperialen Frage bei, die auch den öffentlichen Druck auf britische Entscheidungsträger erhöhte. Siehe Sinha: Specters of Mother India, 28–33. 80 Murray: „League of Nations“, 197. Vgl. C. P. Ramaswami Iyer: „India and Internationalism“, IR, Bd. 29, Nr. 1 (Januar 1928), 1–2.
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Völkerbundes von einer abhängigen Kolonie zu einem gleichberechtigten internationalen Partner. Das britisch-indische Verhältnis musste im Licht des neuen internationalistischen Standards in den internationalen Beziehungen neu geordnet werden. „No international authority that had any pretence to morality could guarantee Great Britain in the perpetual possession of her Indian Empire“,81 konstatierte der Gandhi-Vertraute Reginald Reynolds. Eine radikale Abkehr vom Empire implizierte dies nicht zwangsläufig. Wie neuere Forschungen zeigen, war das Empire ein zentrales Anliegen auch für liberale Denker der Internationalen Beziehungen wie Alfred Zimmern, Lionel Curtis oder Leonard Woolf. Ihr konservativer Liberalismus bezog sich auf aufklärerische Werte wie Freiheit, Rationalität, Fortschritt und Demokratie, wertete aber die Organisationseinheiten Staat und Empire nicht ab; ihre Entwürfe für eine internationalistische Ordnung waren entsprechend oft als Lösungsvorschläge für die Probleme gedacht, die mit dem Imperialismus einhergingen.82 Auch sah man die Prinzipien des Internationalismus gerade im Empire beziehungsweise in der föderalen Idee des British Commonwealth of Nations verkörpert. Die Pläne für ein föderalistisches britisches Weltreich gehen auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurück und nahmen in der Zwischenkriegszeit politische Gestalt an. Sie wurden intellektuell besonders von Lionel Curtis vorbereitet, der seine Zeitschrift The Round Table diesem Thema widmete. Curtis war davon überzeugt, dass Großbritannien die Beziehungen zu den Ländern des Commonwealth stärken musste, um seine historische Bedeutung zu bewahren. Für ihn wie für Alfred Zimmern hatte das Commonwealth – gedacht als freiwillige Gemeinschaft freier Nationen – Vorbildcharakter für eine neue Weltordnung. Nicht zentralistische Staatsmacht, sondern genuines Gemeinschaftsgefühl sollte es zusammenhalten und auf diese Weise rivalisierende Nationalinteressen ausgleichen.83 Das 81 Reginald Reynolds: „India as an international problem“, MR, Bd. 47, Nr. 281 (Mai 1930), 577–583. 82 David Long/B. C. Schmidt: „Introduction“, in: dies.: Imperialism and Internationalism, 1–20, hier 12–14. Zum Staatsdenken der „New Liberals“ auch Akami: Internationalizing the Pacific, 9. Zum „sozialistisch-imperialistischen“ Denken führender linksliberaler Denker in Großbritannien wie Ramsay MacDonald und Henry Hyndman siehe auch Claeys: Imperial Sceptics, 125–159. 83 Siehe Morefield: „Alfred Zimmern“, 106, sowie W. H. MacNeill: Arnold J. Toynbee. A Life, New York/Oxford 1989, 122. Siehe zu Lionel Curtis’ langjährigem Einsatz für die Idee eines internationalen Commonwealth, besonders durch die Institution der Round Table Society, Deborah Lavin: From Empire to International Commonwealth. A Biography of Lionel Curtis, Oxford 1995, vor allem Kapitel 6 und 8. Ähnlich Chirol: India old and new, 307; Thompson: Reconstructing India, 356; J. C. Wedgewood: The Future of the Indo-British Commonwealth, London/Madras/Los Angeles 1921, v–vi.
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Empire schien aus dieser Sicht mehr als jede andere Kraft dazu prädestiniert, Nationen und Zivilisationen in Ost und West zu vereinen. Der britische Historiker Reginald Coupland erklärte es gar zum Gegenprojekt des Völkerbundes – als verlässlicherer Pfeiler internationaler Demokratie.84 Liberale Denker stellten sich die Internationalisierung der politischen Ordnung als zivilisatorischen Reformprozess vor. Dem Historiker Francis S. Marvin zufolge, der im Rahmen seiner Arbeit für die League of Nations Union Mitte der 1920er Jahre eine Vorlesungsreise durch Indien unternahm, gab der Völkerbund aufstrebenden Nationen wie Indien und China nicht nur ein politisches Gewicht, sondern setzte sie auch einem internationalen Bildungsprozess durch das Vorbild „reifer“ Nationen aus.85 Die Probleme, denen asiatische Länder beim Übergang zur modernen Zivilisation begegneten, so beschrieb auch Leonard Woolf in seinem Werk Imperialism and Civilization von 1928 diesen Bildungsauftrag, konnten durch die vielfältigen Möglichkeiten der Kooperation im Völkerbund gelöst werden.86 Ein solcher Paternalismus lag vielen internationalistischen Ordnungsentwürfen der Zwischenkriegszeit zugrunde und manifestierte sich nicht zuletzt im Mandatssystem. Obwohl die Satzung des Völkerbundes den Imperialismus in Asien und Afrika als gescheitert erklärte, setzten sich politische Bevormundung und internationale Hierarchien weiter fort. Wie das Prinzip der Selbstbestimmung galten die Regeln gleichberechtigter Kooperation in Wilsons Nachkriegsordnung nur für „zivilisierte“ Nationen und Völker.87 Viele indische Intellektuelle stellten vor diesem Hintergrund wenn nicht die integrative Idee, so doch die integrative Leistung der Nachkriegsordnung und speziell des Völkerbundes in Frage. Im besten Fall wurde er angesichts konkurrieren-
84 Chirol und Coupland waren mit dieser Haltung keinesfalls allein. Siehe Gollwitzer: Weltpolitisches Denken, 407, 409. Auch der britische Politikwissenschaftler Norman Angell lehnte die indische Unabhängigkeitsforderung auf der Basis internationalistischer Prinzipien ab. Siehe Louis Bisceglia: Norman Angell and Liberal Internationalism in Britain, 1931–1935, New York/ London 1982, 212–213. 85 Vgl. F. S. Marvin: „Introduction: An Educational Problem“, in: ders. (Hg.): Western Races and the World, London 1922, 7–26, hier 24. Vgl. auch ders.: „Race Problems in Industry and Culture“, in: ders. (Hg.): The New World Order, Oxford/London 1921, 132–148, hier 136–137. Siehe auch C. H. Disch: „F. S. Marvin, 1863–1943“, Isis, Bd. 36, Nr. 1 (Oktober 1945), 7–9. 86 Vgl. Leonard Woolf: Imperialism and Civilization, New York 1928, 162–163. Zum Paternalismus Woolfs: Peter Wilson: „Fabian Paternalism and Radical Dissent: Leonard Woolf’s Theory of Economic Imperialism“, in: Long/Schmidt: Imperialism and Internationalism, 117–140. Siehe auch David Long: „Paternalism and the Internationalization of Imperialism: J. A. Hobson on the International Government of the ,Lower Racesʻ“, in: ders./Schmidt: Imperialism and Internation alism, 71–91. 87 Siehe zum Paternalismus in Wilsons Internationalismus Ambrosius: Wilsonianism, 28.
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der Nationalinteressen als ineffektiv kritisiert, im schlechtesten Fall als Medium eines camouflierten Imperialismus der siegreichen Westmächte bezeichnet.88 Die Meinungen darüber, wie Kooperation tatsächlich realisiert werden konnte, teilten sich am Prinzip der nationalen Souveränität. Die Friedenspolitik der Westmächte, gab ein Beiträger in der indischen Monatszeitschrift The New Era zu bedenken, setze die Bereitschaft der großen Mächte voraus, bereits erreichte Privilegien wieder abzugeben; das Mandatssystem demonstriere jedoch, dass diese Bereitschaft nicht bestehe: Whenever they talk of maintaining peace they conveniently forget the fact that there are hundreds of millions of men living in bondage and the maintenance of the present order means the perpetuation of their slavery. It may be that by world peace they mean peace and perfect understanding amongst the European nations and such outsiders as have been able to extort admiration from them and have fallen in with their schemes of self- aggrandisement and spoliation. But the dependent nations all over the world cannot accept such a decision.89
Mandatsgebiete müssten also beseitigt, die abhängigen Völker befreit werden. Eine wahrhaft neue Ordnung bedinge die nationale Souveränität aller Staaten und Völker, auch der Mandatsgebiete. Eine internationale Organisation wie der Völkerbund diente aus dieser Perspektive nicht der Kooperation zwischen Gleichberechtigten, sondern barg vielmehr die Gefahr der Zentralisierung politischer Autorität bei den starken Nationen, also der Zementierung von Machthierarchien.90 Trotz aller Kritik stellte die nationale Souveränität für zahlreiche indische Autoren auch nach dem Ersten Weltkrieg noch immer den besten Garant sowohl für die nationale Selbstbestimmung Indiens als auch die Möglichkeit
88 Vgl. etwa S. Sivaswamy Aiyer: „A League to enforce peace“, TNE, Bd. 1, Nr. 11 (August 1929), 911–920; „India and the League of Nations“, MR, Bd. 41, Nr. 2 (Februar 1927), 256–258; Leitartikel, To-morrow, Bd. 1, Nr. 8 (Oktober 1921), 297–298. Auch Taraknath Das machte deutlich, dass er nicht an den Völkerbund in seiner derzeitigen Form glaubte; jedoch plädierte er dafür, das Forum für internationale Verhandlungen zu nutzen. Vgl. Taraknath Das: „India and the League of Nations“, MR, Bd. 35, Nr. 2 (Februar 1924), 163–167. Zur indischen Kritik am Völkerbund siehe allgemein Bayly: Recovering Liberties, 288–289. 89 Haricharan Mukerji: „The Problem of World peace“, TNE, Bd. 1, Nr. 9 (Juni 1929), 763–767, hier 764. 90 Ebd., 765–766. Ähnlich Gibbons: The New Map of Asia 1900–1919, New York 1919, 550. Gibbons forderte eine „genuine society of nations“, die anders als der Völkerbund nicht nur eine Kombination siegreicher Mächte sein sollte, sondern dem Bedürfnis nach einer neuen internationalen und kolonialen Moral wirklich Rechnung trug und die Wünsche und Bedürfnisse schwächerer Nationen ernst nahm.
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einer kooperativen Beziehung zu anderen Nationen dar; gleichzeitig sah man jedoch in der Integration Indiens in internationale Strukturen einen Weg, den eigenen Nationalismus vom Ethnozentrismus westlicher Prägung abzugrenzen und sich auf internationaler Ebene nicht nur politisch, sondern auch moralisch zu emanzipieren.
6.2.2 „The first great test“: Der Völkerbund als politischer Vermittler in China Im Rahmen der Versailler Friedenskonferenz trafen der junge chinesische Diplomat V. K. Wellington Koo sowie die beiden Staatsdenker Liang Qichao und Zhang Junmai mit dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson zusammen. In ihrem Gespräch drückten die chinesischen Intellektuellen ihre Hoffnung aus, der Präsident möge mit dem Völkerbund einen Neuanfang in den internationalen Beziehungen begründen. Auch China, so äußerte sich Wilson gegenüber seinen Besuchern, habe einen Anteil an der Formierung des Bundes, der – einmal etabliert – eine mildernde Wirkung auf internationale Aggressionen haben könne.91 Noch in demselben Jahr veröffentlichte Wellingon Koo, der an der Ausarbeitung der Satzung beteiligt war und den pro-westlichen Kurs seiner Regierung maßgeblich prägte, ein Pamphlet mit dem Titel China and the League of Nations. Darin erklärte er emphatisch Chinas Solidarität mit den Zielen des Völkerbunds: The faith of the Chinese people in democracy is strong and sincere. They believe that just as a democratic form of government is a bulwark of the people’s rights, so will a democratic League of Nations be the best guarantee of the rights of all nations, great and small, weak and strong.92
Wenngleich die Entscheidung der alliierten Westmächte bezüglich der ehemals deutsch verwalteten Gebiete in Shandong nicht revidiert werden konnte, vertrauten chinesische Diplomaten um Wellington Koo darauf, dass der Völkerbund für die Interessen der schwachen Staaten und damit auch Chinas eintreten würde.93 Dies konnte wie im Falle Indiens auf verschiedenen Wegen geschehen: etwa indem er als neutrale Instanz zwischen den verfeindeten politischen Lagern in
91 „Memorandum of the Audience with President Wilson: Mr. Liang Chi Chao, Mr. Koo and Mr. Carson Chang present, March 24 1919“: Wellington Koo Papers, Columbia University, RBML: Box 1, Nr. 3. 92 Wellington Koo: „China and the League of Nations“, in: ders./Wang C. T.: China and the League of Nations, London 1919, 1–6, hier 6. Siehe hierzu auch Bieler:,Patriotsʻ or ,Traitorsʻ?, 166 93 Wang C. T.: „China’s Aspirations“, in: Wellington Koo/Wang C. T. (Hg.): China and the League of Nations, London 1919, 7–16, hier 8.
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China vermittelte und damit den nationalen Integrationsprozess voranbrachte.94 Oder indem er auf die in China wirtschaftlich und politisch involvierten Imperialmächte einwirkte. Die nationalen Entwicklungsprogramme der Guomindang bauten auf einer Ausweitung internationaler Kooperation auf. Als „keystone in the arch of the League of Nations“95 bezeichnete Sun Yatsen seine Pläne für eine internationale Organisation ausländischer Investoren, welche die Modernisierung Chinas mit dem mittelfristigen Ziel koordinieren sollte, seine Stellung auf internationaler Ebene zu verbessern.96 So konnte der Völkerbund auch nach Ansicht des Briten Frederick Whyte dazu beitragen, die unilaterale Interessenpolitik der Imperialmächte durch eine Politik des gemeinsamen Handelns zu ersetzen. Sei die chinesische Bevölkerung von den guten Absichten der Organisation erst einmal überzeugt, dann könne der Völkerbund als Verwalter der ausländischen Interessen und Konzessionen eingesetzt werden. „[O]nly thus can Chinese sovereignty and the interests of the world at large be finally reconciled.“97 Diese doppelte Aufgabe, als Entwicklungshelfer und Konfliktschlichter in China zu fungieren, betrachtete Whyte als größte Herausforderung für den Völkerbund. Als sich mit der mandschurischen Krise von 1931 die Beziehungen zwischen China und Japan verschärften, gewann die Frage nach dem möglichen und tatsächlichen Handlungsspielraum des Völkerbundes in China zusätzliche Brisanz. Im Nachwort zu seinem Werk The Capital Question of China von 1932 stellte Lionel Curtis die Ansichten Patrick Youngs zur Bedeutung des Völkerbundes für die politische Sicherheit in Ostasien vor. Young, der ehemals für die Kailan Mining Administration in der nordöstlichen Küstenstadt Tianjin tätig gewesen war, sah einen engen Zusammenhang zwischen der politischen Krise in Ostasien und einem raschen Ende der Weltwirtschaftskrise. Nur eine supranationale Instanz wie der Völkerbund sei dazu in der Lage, Verhandlungen zwischen Tokio und Nanjing zu initiieren und auf diese Weise politische Sicherheiten für Investitionen in die
94 Vgl. Soothill: China and the West, 193. 95 Sun: International Development, 9. 96 Siehe zum Zusammenhang zwischen Modernisierung und Außenpolitik in China W. C. Kirby: „Intercultural Connections and Chinese Development: External and Internal Spheres of Modern China’s Foreign relations“, in: Frederick Wakeman Jr./Wang Xi (Hg.): China’s Quest for Modernization, Berkeley 1997, 208–233. 97 A. F. Whyte: „Political China Today“, CWR, Bd. 44, Nr. 2 (März 1928), 38–45, hier 45. Vgl. auch Archibald Rose: „British Foreign Policy in Asia and its relation to India“ (10. März 1925), RIIA Meeting Papers, Chatham House, London: RIIA 8/25: Eine Kommission des Völkerbundes könne eingesetzt werden, um die innere Entwicklung Chinas zu kontrollieren. Die Entwicklungshilfe des Völkerbundes in China zielte auf eine gesellschaftliche Modernisierung im weitesten Sinne, v. a. auf Verwaltung, Infrastruktur, Gesundheitswesen und Agrarwirtschaft. Siehe Kuß: Der Völkerbund und China, 9.
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Region zu schaffen. Wenngleich der Erfolg längst nicht garantiert sei, gebe es für den Einsatz des Völkerbundes in China praktisch wie moralisch keine Alternative. „Can the nations address themselves to any more worthy endeavour?“98 Lionel Curtis stimmte Youngs Vorschlägen nicht uneingeschränkt zu. Zwar war auch er der Meinung, dass der Völkerbund die Chinapolitik der Großmächte koordinieren sollte; jedoch warnte er davor, den Völkerbund als Ersatzregierung zu betrachten, „and not, what it really is, as a joined committee of governments“.99 Eine solche Tendenz, die Möglichkeiten und Kompetenzen des Völkerbundes zu überschätzen, waren Curtis zufolge dessen Nutzen und Einfluss sogar abträglich. Letztlich reiche die Fähigkeit der Großmächte, auf dem Weg des Völkerbundes Aufbauhilfe in China zu leisten, nur so weit wie die Autorität und das Einschätzungsvermögen ihrer Diplomaten in China.100 Wie Frederick Whyte forderte Curtis eine selbstlosere Chinapolitik der Imperialmächte, ohne sich von der Idee einer zivilisatorischen Pflicht gegenüber China zu verabschieden. Seine paternalistische Grundhaltung – Curtis selbst sprach von einem „demokratischen Imperialismus“ – hielt ihn schließlich auch davon ab, im chinesisch-japanischen Konflikt deutlich Stellung zu beziehen. Obwohl er den japanischen Militarismus verurteilte, sah er den Einfluss, den neben Großbritannien und den USA auch Japan auf die Entwicklung Chinas nehmen konnte, äußerst positiv.101 Vor dem Hintergrund der Bemühungen um kollektive Sicherheit durch den Völkerbund forderten chinesische Diplomaten und Intellektuelle jedoch eine klare Positionierung der internationalen Staatengemeinschaft im sino-japanischen Konflikt. Nur wenige Tage nach einer Explosion an der südmandschurischen Eisenbahnlinie, die von japanischen Truppen genutzt wurde, um Teile der Mandschurei zu besetzen und auf diese Weise das japanische „informal Empire“ in dieser Region zu konsolidieren,102 brachte China die Angelegenheit vor den
98 Patrick Young: „Notes on the Chinese Situation“, in: Curtis: Capital Question, 309–312. Ähnlich der amerikanische Ökonom Jeremiah W. Jenks: „Remaking our Far Eastern Policy“, Asia, Bd. 19, Nr. 9 (September 1919), 886–888. Siehe auch Gollwitzer: Weltpolitisches Denken, 452. 99 Curtis: Capital Question, 303. 100 Vgl. ebd., 304. Curtis hatte mit dieser Haltung auch im Sinn, die britischen Interessen in China gegenüber den USA zu wahren, die in ihrem außenpolitischen Handeln nicht vom Völkerbund eingeschränkt waren. 101 Vgl. ebd., 298–300. Auch Herbert Gibbons gehörte zu den Japan-freundlicheren Stimmen. Siehe J. D. Doenecke: When the Wicked Rise. American Opinion-Makers and the Manchurian Crisis of 1931–1933, Lewisburg 1984, 29; Akami: Internationalizing the Pacific, 29; Gollwitzer: Weltpolitisches Denken, 417. 102 Die schwierige Position des Völkerbundes und seiner Mitgliedsländer im Konflikt b eschreibt Housden: League of Nations, 99–100. Japan hatte seit dem sino-japanischen Krieg von 1895 seinen wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss in der chinesischen Küstenregion kontinuierlich
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Völkerbund. Mangels einer Kriegserklärung Japans ließ dieser jedoch keine offiziellen Erklärungen folgen. In einer Rede vor der American Academy of Political and Social Sciences betonte Chih Meng zwei Jahre später die Pflichten des Völkerbundes in China. Er erinnerte seine Zuhörer daran, dass das Prinzip der friedlichen Konfliktlösung von Japan verletzt worden war. Dennoch vertraute er darauf, dass sich in der internationalen Gemeinschaft eine neue Haltung gegenüber Kriegen und ein neues Verantwortungsgefühl herausbilde.103 Egal wo auf der Welt eine Kriegsdrohung ausgesprochen werde, müsse diese als Problem der ganzen Welt behandelt werden, zitierte er den amerikanischen Außenminister Henry L. Stimson. Wenn die Errungenschaften des Völkerbundes, der Abrüstungskonferenz von Washington und des Kellogg-Briand-Pakts zugunsten der gesamten Weltgemeinschaft wirksam bleiben sollten, so lautete sein Resümee, dürfe die Situation in Ostasien nicht sich selbst überlassen werden. In der mandschurischen Frage stehe nicht Chinas Zukunft allein auf dem Spiel, sondern diejenige der internationalen Friedensordnung. Dass man es also bei der sino-japanischen Kontroverse mit dem „first great test“104 der Nachkriegsordnung zu tun hatte, fand auf westlicher Seite Bestätigung, etwa von W. W. Willoughby. Der Politikwissenschaftler von der renommierten Johns Hopkins University fungierte nicht nur als Berater der chinesischen Delegation in Versailles, sondern schrieb auch das Vorwort zu Mengs Hauptwerk China speaks. On the conflict between China and Japan von 1932. Darin bekräftigte er ausdrücklich den Vertragsbruch Japans; wenngleich der Völkerbund das Vorgehen Japans nicht offiziell verurteilt habe, hätten sich viele Vertreter der Mitgliedsländer entsprechend ausgesprochen.105 Als der Völkerbund 1933 auf der Basis einer Untersuchungskommission die Besetzung der Mandschurei für rechtswidrig erklärte, kündigte Japan seinen Rückzug aus der Organisation an.106
usgeweitet. Mit dem wachsenden chinesischen Widerstand gegen das Vertragssystem wuchs a der Anreiz für eine direktere politische Kontrolle über die wirtschaftlichen Interessen in China. Siehe Peter Duus: „Introduction. Japan’s Informal Empire in China, 1895–1937“, in: ders./R. H. Myers/M. R. Peattie (Hg.): The Japanese Informal Empire in China, 1895–1937, Princeton 1989, ix–xxix, hier xxix–xxix. 103 Vgl. Meng: „American Contributions“, 134, 137–138. Die schwierige Position des Völkerbundes und seiner Mitgliedsländer im Konflikt beschreibt Housden: League of Nations, 99–100. 104 W. W. Yen: „Introduction“, in: China speaks. On the conflict between China and Japan, London 1932, v–ix, hier viii. Ähnlich Wellington Koo: „A Chinese View of the Far Eastern Question“ (8. November 1932), RIIA Meeting Papers, Chatham House, London: RIIA 8/234. 105 W. W. Willoughby: „Introduction“, in: Chih Meng: China speaks. On the Conflict between China and Japan, London 1932, x–xiv. 106 Auf die Gewalt in der Region hatte dies keinen Einfluss. Siehe Housden: League of Nations, 101.
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Die Mittel des Völkerbundes waren offensichtlich begrenzt, sein Ziel der Abrüstung war unter diesen Umständen schwer durchzusetzen. Auch Chih Meng kam zu dem Schluss, dass die Friedensmaschinerie des Völkerbundes für Krisensituationen nicht hinreichend ausgestattet war. Gleichzeitig appellierte er an die USA, ihre Rolle als international führende Friedensmacht wahrzunehmen. Er stimmte mit Raymond L. Buell, Direktor der amerikanischen Foreign Policy Association, überein, dass Gerechtigkeit gegenüber China gegebenenfalls mit traditionellen Machtmitteln zu verteidigen war.107 Das moralische Unrechtsempfinden war hier stärker als das Vertrauen in völkerrechtliche Mechanismen. Als sich der Konflikt 1937 zum Zweiten Chinesisch-japanischen Krieg ausweitete, erklärte Henry L. Stimson, der die Gebietsannexionen der Japaner in der Mandschurei 1932 mit der Hoover-Stimson-Doktrin für unrechtmäßig erklärt hatte, die USA mit China solidarisch. Das Ideal des Friedens, so Stimson, dürfe nicht über das der Rechtschaffenheit gestellt werden.108 Dennoch verfolgten die USA einen Kurs der Nichteinmischung im sino-japanischen Konflikt, der erst 1941 durch eine offizielle Allianz zwischen den USA und China ersetzt wurde.109 Diese Schwächen des Völkerbundes führten selten zu einer prinzipiellen Ablehnung kooperativer Organisationsstrukturen, nährten jedoch die Sichtweise von Kritikern, die chinesische Interessen nicht ausreichend vertreten sahen. Besonders der Umstand, dass seit 1926 der Kriegsverlierer Deutschland, jedoch nicht China einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat innehatte, stieß auf Unverständnis: It has been put forward that only “Great Powers” are accessible to the permanent seats and that a State can become a “Great Power” through its cultural and economic importance, irrespective of the fact whether the State is strong in a military sense or not. If these conditions hold good, there is nothing to prevent China from becoming a permanent member of the League Council.110
107 Vgl. Meng: China speaks, 166–168, und ders.: „American Contributions“, 138. 108 Vgl. H. L. Stimson: „The Far Eastern Crisis“, TCM, Bd. 1, Nr. 2 (Herbst 1937), 39–43. 109 China wurde jedoch bereits in den 1930er Jahren von den USA mit Flugzeugen beliefert und erwarb gegen Ende des Jahrzehnts vermehrt amerikanische Munition und Kriegsmaschinerie mit Hilfe amerikanischer Kredite. Ab dem Frühjahr 1941 regelte der Lend-Lease Act die militärische Unterstützung der Amerikaner für China, die jedoch unter logistischen und kommunikativen Schwierigkeiten litt. Siehe Zhang Baijia: „China’s Quest for Foreign Military Aid“, in: Mark Pattie/E. J. Drea/Hans v. d. Ven (Hg.): The Battle for China. Essays on the Military History of the Sino-Japanese War of 1937–1945, Stanford 2011, 283–307, hier 294–298. 110 T. O. Bau: „China and the League of Nations. Her claim to a permanent seat“, CN, Bd. 1, Nr. 1 (Juni 1930), 50, 55, 56, hier 50. Ähnlich Tan Shao-hwa: „China and the Council of the League of Nations“, CWR, Bd. 46, Nr. 3 (September 1928), 81–85. Deutschland hatte von 1926 bis zu dem von der NSDAP vollzogenen Austritt aus dem Völkerbund 1933 einen ständigen Sitz inne. Siehe Housden: League of Nations, 12–13.
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Eine Integration in internationale Strukturen diente aus dieser Perspektive vor allem dem Zweck, den chinesischen Einfluss international geltend zu machen und auf diese Weise Chinas internationale Position in Relation zu den etablierten Mächten zu verbessern. Dem Missionar Henry Hodgkin zufolge hatte der Völkerbund diesen Dienst längst geleistet. Obwohl China aufgrund interner Probleme eine vollwertige Stimme auf internationaler Ebene noch versagt bleibe, hätten sich die chinesischen Vertreter im Völkerbund eine besondere Stellung erarbeitet. „In fact, I think it is not too much to say“, schrieb Hodgkin 1923, „that we have had a foretaste of the kind of influence which China will increasingly exert as she comes into the family of nations“.111 Man musste dem Briten zufolge dem Land nur die Gelegenheit geben, und es konnte neben Großbritannien und den USA zu einer Leitnation im Kampf gegen den Imperialismus aufsteigen. „China will come as a chief partner in turning into a reality her own dream of more than two thousand years ago: ,Under Heaven there is but one Family‘.“112 Solange China ein wesenhafter Pazifismus attestiert wurde, galt es demnach auf internationaler Ebene als Friedensgarant. In seinem Aufsatz China – Land of Limelight führte H. G. Wells diesen Gedanken aus. Chinas Rolle für die Weiterentwicklung der internationalen Ordnung sah er ebenso wie Hodgkin als bedeutend an. Mit keiner anderen großen Nation könne man so einfach gemeinsame politische und soziale Ziele zu entwickeln wie mit den Chinesen. „It is possible“, so Wells, „because China is to an extraordinary extent renascent and blank and ready to consider and accept points of view and constructive conceptions“.113 War China Hodgkin zufolge aufgrund seines kulturellen Erbes prädestiniert, eine zentrale Rolle in der neuen Weltordnung einzunehmen, so ging Wells demnach von der Prägung eines zukunftsoffenen Chinas durch den westlichen Internationalismus aus. In wissenschaftlichen und politischen Kreisen, die sich in der Zwischenkriegszeit mit der zukünftigen internationalen Position Chinas und Indiens auseinandersetzten, herrschte, so kann zusammengefasst werden, ein Grundvertrauen in die friedensstiftende Funktion einer neuen internationalen Ordnung. Das Prinzip der Gleichheit und Freiheit aller Nationen war dabei von den Partikularinteressen der schwachen Nationen kaum zu trennen. Sollte es tatsächlich gelingen, die alten imperialistischen Hierarchien durch internationale Kooperation und Organisation zu ersetzen, dann schienen erstmals die formellen Rahmenbedingungen für gleichberechtigte politische Beziehungen zwischen
111 Hodgkin: China, 148. 112 Ebd., 250. 113 H. G. Wells: „China: The land of the limelight“, 170–174.
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ilitärisch schwachen und starken Ländern gegeben. Der Völkerbund diente als m Projektionsfläche für nationale Selbststärkungs- und Aufstiegsvisionen. Als die internationale Organisation 1919 gegründet wurde, waren die Erwartungen an ihn riesig, obwohl der Nicht-Eintritt der USA seiner Bedeutung bereits Abbruch getan hatte. Man widmete sich der Frage, was die internationale Organisation für China und Indien zu leisten imstande war: als neutrale Instanz, die konkurrierende Nationalinteressen ausgleichen, und als der Boden, auf dem die internationale Anerkennung beider Länder wachsen konnte. Es ist bemerkenswert, dass auch westliche Autoren China und Indien eine besondere internationale Funktion zusprachen. Zukunftsoffen, scheinbar unbelastet durch enge Nationalismen und dagegen gestützt von einer Tradition sozialer Solidarität, schienen sich internationalistische Prinzipien hier besonders leicht verbreiten zu können. Der Nationalismus stellte dann nur ein Mittel zum Zweck des Internationalismus dar. Sowohl hinsichtlich Indiens Position im Empire als auch des sino-japanischen Konfliktes war der Handlungsspielraum des Völkerbundes jedoch beschränkt. Solange viele Briten dem Prinzip der internationalen Kooperation mit dem Commonwealth bereits genug gedient sahen, war ein unabhängig agierendes Indien nicht Hauptziel der internationalistischen Agenda. Vor diesem Hintergrund warnten Nationalisten wie Jawaharlal Nehru und Taraknath Das davor, im Freiheitskampf allein auf die Strukturen des Völkerbundes zu setzen. Und auch chinesische Diplomaten wurden mit der Tatsache konfrontiert, dass die kooperative Funktion des Völkerbundes nur so weit reichte wie die Bereitschaft der großen Mächte, ihre Nationalinteressen freiwillig zu beschränken. Die völkerrechtlichen Errungenschaften der Zwischenkriegszeit dienten dem Land wenig, als Japan in den 1930er Jahren seinen Einflussbereich in der Mandschurei mit militärischen Mitteln festigte. Offensichtliche und subtile Formen des Imperialismus bestanden weiterhin. Im Bereich der internationalen Wirtschaftskooperation zeigte sich besonders deutlich, dass unter dem Deckmantel des liberalen Internationalismus universale Prinzipien zugunsten partikularer Interessen instrumentalisiert werden konnten.
6.3 Von Konkurrenz zu Kooperation? Internationaler Handel und Chancengleichheit Bereits im viktorianischen Zeitalter war der freie Handel zentraler Bestandteil des Internationalismus. Die britischen Premierminister William Gladstone und Lord Palmerston legitimierten die enorme Ausweitung des Empire in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts primär mit dem Freihandelsprinzip und
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zivilisationsphilosophischen Argumenten. Der freie Handel diente demnach nicht nur dem Wohlstand der Industrienation Großbritannien, sondern aller am Handel Beteiligten. Als Medium „westlicher zivilisatorischer Standards“ brachte der freie Handel aus dieser Sicht den menschlichen Fortschritt voran; dass neue Handelsgebiete notfalls mit militärischen Mitteln erschlossen werden mussten, wurde zum Gebot der Geschichte, zur Pflichterfüllung der Zivilisierten.114 Nach dem Ersten Weltkrieg traten die USA die Nachfolge Großbritanniens als tonangebende Macht an. Die Amerikaner wandten sich vom europäischen, auf territorialer Expansion beruhenden Imperialismus ab, das Freihandelsprinzip jedoch blieb und wurde gleichsam amerikanisiert. Für anhaltenden Frieden schienen internationale Kooperation und Integration nicht nur auf politischer, sondern gerade auf wirtschaftlicher Ebene vonnöten.115 Woodrow Wilson stellte sich eine globale Nachkriegsordnung vor, die den wirtschaftlichen Austausch noch mehr begünstigte, als dies bisher der Fall gewesen war. Internationale Demokratie und globaler Kapitalismus gingen Hand in Hand: In einer abgerüsteten und multilateralen Welt sollte nicht das Recht des Stärkeren, sondern das Gesetz des Marktes herrschen.116 Marktgesetze waren es auch, welche die Idee des pazifischen Jahrhunderts prägten. Um seine Hauptkomponenten China, Indien und Japan sah man in Asien einen Wirtschaftsraum entstehen, dessen Anteil am Welthandel stetig zunahm.117 Asien befinde sich an der Schwelle einer großartigen Entwicklung, erklärte Francis H. Sisson, Vizepräsident der New Yorker Guaranty Trust Company. Von 1914 bis 1920 habe sich der Wert des internationalen Handels allein Ostasiens verdoppelt, der amerikanische Anteil daran versechsfacht. Diese Zahlen ließen dem Banker zufolge leicht darauf schließen, dass die Zukunft des amerikanischen Handels nicht jenseits des Atlantik, sondern des Pazifik liege.118 Dass der Rohstoff- und Warenaustausch zwischen den Anrainerstaaten des Pazifik stetig 114 Siehe zum viktorianischen Imperialismus den Sammelband Duncan Bell (Hg.): Victorian Visions of Global Order, New York 2007. 115 Das Selbstverständnis des Völkerbundes als wirtschaftspolitisches Instrument wird erläutert von Patricia Clavin: Securing the World Economy. The Reinvention of the League of Nations, 1920–1946, Oxford 2013. 116 Siehe Ambrosius: „Democracy, Peace, and World Order“, 240–241. 117 W. J. Hinton: „A Statement on the effects of the industrial development of the Orient on European industries“, in: J. B. Condliffe (Hg.): Problems of the Pacific. Proceedings of the Second Conference of the Institute of Pacific Relations, Honolulu, Hawaii, July 15 to 29 1927, Chicago 1928, 365–391, hier 389. 118 F. H. Sisson: „The Far East and American trade“, AR, Bd. 17, Nr. 50 (April 1921), 315–320, hier 320. Vgl. auch H. F. Grady: „Trade potentialities of Pacific Area. Drift to Pacific inevitable as march of progress“, CD, Bd. 13, Nr. 157 (November 1928), 8–9.
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zunehmen würde, sah man in der Geschäftswelt ebenso wie in Expertenkreisen als gegeben an. Die Bedingungen, Formen und Folgen der wirtschaftlichen Internationalisierung zu analysieren, war nicht zuletzt eine der Hauptaufgaben des IPR. Dabei ging es vor allem darum, die aus der wachsenden wirtschaftlichen Integration resultierenden Konfliktherde zu beseitigen bzw. durch Informationsund Meinungsaustausch die Voraussetzungen für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu schaffen.119 Mit der Politik der offenen Tür hatte der ehemalige amerikanische Außenminister John Hay ein politisches Regelwerk für den internationalen Handel in Asien implementiert. Sie basierte auf der normativen Annahme, dass sich wirtschaftliche Fairness und Achtung der Rechte schwächerer Nationen letztlich förderlich auf die Interessen aller Nationen auswirken würden. Für die internationale Ordnung, die Woodrow Wilson anstrebte, nahm die Doktrin eine Schlüsselfunktion ein. Während das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung die politische Gleichheit der „zivilisierten“ Nationen garantieren sollte, wahrte das der „offenen Tür“ die wirtschaftliche Chancengleichheit durch den Abbau von Monopolen, Handelsschranken und -privilegien. „[I]f Machtpolitik was the watchword of the century that is gone“, schrieb Frederick Whyte, „equality of opportunity must be the watchword of our century“; in dem Maße, wie Völker unterschiedliche „heights of achievements“ erreichten, so Whytes Definition der Chancengleichheit, müsse ein jedes die Möglichkeit erhalten, „to show what is in them“.120 Die liberale Außenhandelstheorie, die zu dieser Zeit schon über einhundert Jahre Bestand hatte, baute nicht auf dem Solidaritäts-, sondern auf dem Leistungsgedanken auf. Wer wie Whyte und Wilson von einem unübertroffenen Entwicklungsstand westlicher Länder ausging, der musste substantielle
119 Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise traten die pan-pazifischen Wirtschaftsbeziehungen in den 1930er Jahren noch stärker in den Fokus des IPR. Siehe Bruno Lasker/L. W. Holland (Hg.): Problems of the Pacific 1933. Economic Conflict and Control. Proceedings of the Fifth Conference of the IPR, Banff, Canada, 14–26 August 1933, Chicago 1934. Vor allem mit der Weltwirtschaftskrise rückten wirtschaftliche Fragen auf die Agenda der internationalen Politik. Schlüsselbegriffe waren nun Standardisierung, Effizienz und Planung. Siehe Herren: Internationale Organisationen, 68–70. Der Völkerbund setzte sich in den 1930er Jahren mit den sozialen Folgen der Weltwirtschaftskrise sowie mit der internationalen Verteilung von Wohlstand und den Beziehungen zwischen armen und reichen Ländern auseinander. Siehe Clavin: Securing the World Economy, 8. 120 Whyte: Asia, 151. Vgl. auch die Ausführungen in T. F. Millard: Our Eastern Question, New York 1916, 364, 672. Millard verstand die Doktrin als wirtschaftspolitische Unterfütterung der pazifischen Ära, indem sie die Unabhängigkeit des pazifischen Raumes von Europa markierte. Vgl. ders.: „China and the Powers. International Orientation Regarding Chinese Domestic and Foreign Affairs“, Asia, Bd. 26, Nr. 9 (September 1927), 709–713, 762–765.
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Konkurrenz asiatischer Länder jedoch nicht fürchten.121 Für die aufstrebende Wirtschaftsmacht USA ermöglichte der Abbau imperialistischer Handelsschranken die Expansion in überseeische Märkte, die zuvor den europäischen Mächten vorbehalten waren. Der weitaus größte dieser Märkte – nach einhelliger Meinung von Wissenschaftlern, Politikern und Geschäftsleuten – war der chinesische.
6.3.1 Amerikas „offene Tür“ in China Die immensen wirtschaftlichen Möglichkeiten, die Asien und speziell China als Handels- und Investitionsraum eröffneten, durften nach Meinung vieler liberaler Kommentatoren nicht der Abgrenzung von politischen Einflusssphären durch einzelne Nationen zum Opfer fallen. Nicht Dominanz und Ausbeutung, sondern gegenseitiger Nutzen und faire Konkurrenz sollten die Rolle der Ausländer bei der wirtschaftlichen Erschließung Chinas auszeichnen. „Trade makes trade“,122 lautete die Maxime Julien Arnolds, der sich als Handelsattaché für die Ausweitung und Liberalisierung der sino-amerikanischen Handelsbeziehungen einsetzte und neben Paul Reinsch und Stanley Hornbeck zu den einflussreichsten Propagandisten einer liberalen Handelspolitik mit China zählte.123 Aufgrund der schwierigen politischen Lage kam den Experten zufolge der Freihandel in China freilich nicht ganz ohne Regulierung aus. Zum Schutz chinesischer und ausländischer Interessen sollte eine internationale Kontrollinstanz eingerichtet werden, die man keinesfalls im Widerspruch zu liberalen Handelsdogmen sah, sondern als deren Garant.124 Ein Schritt zur gemeinsamen – kontrollierten – Öffnung des
121 Siehe hierzu auch Steigerwald: Wilsonian Idealism, 41. 122 Arnold: „Commercial Problems“, 159. Eine kooperative Basis für die ausländischen Wirtschaftsbeziehungen Chinas propagierten auch H. S. Quigley: „China’s relations to the great powers“, CWR, Bd. 38, Nr. 4 (September 1926), 100–105, sowie Gowen: Asia, 375–376. 123 N. H. Pugach: Paul S. Reinsch. Open Door Diplomat in Action, New York 1979, 79. Reinschs wissenschaftliches Interesse an Imperialismus und „Oriental affairs“, gepaart mit seinem politischen Interesse an einer Ausweitung amerikanischen Einflusses, machten ihn zum „perfect instrument to implement America’s Open Door policy“: ebd., x. Stanley Hornbecks Sicht auf China und die Ostasienpolitik wurde von Reinsch stark geprägt, bei dem er studierte und dessen Lehrauftrag an der University of Wisconsin er 1914 übernahm. Als Reinsch 1919 zurücktrat, begann Hornbecks Karriere als politischer Berater in fernöstlichen Fragen. Von 1928 bis 1937 führte er die fernöstliche Abteilung im amerikanischen Außenministerium an. Siehe Hu: Stanley K. Hornbeck, 1, 17–31. 124 Einem Leitartikel der wirtschaftliche Interessen vertretenden amerikanischen Zeitschrift Asia zufolge ging es auch darum, die überforderte chinesische Regierung zu entlasten. Vgl. „A Constructive Plan for China“, Asia, Bd. 19, Nr. 3 (März 1919), 221–222.
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chinesischen Marktes stellte insbesondere das Zweite Internationale Bankenkonsortium dar. 1920 von den USA, Großbritannien, Frankreich und Japan initiiert, sollte es die Vergabe von Krediten an China koordinieren und dafür Sorge tragen, dass Investitionen anders als in der Vergangenheit zum Nutzen Chinas eingesetzt wurden.125 Wie der Leiter der amerikanischen Bankengruppe, Thomas W. Lamont, in einem Artikel darlegte, ging es dem Konsortium darum, durch wirtschaftliche Kooperation in und mit China dessen Entwicklung voranzubringen und gleichzeitig die Beziehungen aller beteiligten Länder zu stärken.126 Nach anfänglicher Skepsis unterstützte auch Präsident Wilson das Konsortium, nicht zuletzt, um die japanische Expansion überwachen zu können. Wirtschaftliche Kooperation war vom strategischen Ziel, die zukünftigen amerikanischen Interessen in Ostasien zu schützen, nicht zu trennen.127 Um den amerikanischen Wohlstand auch in der Zukunft zu sichern, schien die Öffnung neuer Märkte zwingend. Wie zahlreiche Zeitschriftenbeiträge belegen, blieb der Glaube an einen schier unersättlichen chinesischen Markt auch nach dem Ersten Weltkrieg ungebrochen.128 Chinesische Autoren taten das Ihre, um diesen Eindruck zu verstärken. Im Nachkriegskampf um wirtschaftlichen Einfluss, lautete die Nachricht des Wirtschaftswissenschaftlers Chong-su See, sei China „a great stake to be lost or won, and who can afford to lose China?“129 So avancierte China
125 Vgl. etwa Silas Bent: „The China consortium and the Open Door“, TN, Bd. 110, Nr. 2855 (März 1920), 379–381, hier 381. Zum Konsortium als Teil der britischen Außenhandelsstrategie siehe P. J. Cain/A. G. Hopkins: British Imperialism – 2. Crisis and Reconstruction, 1914–1990, London/ New York 1993, 239–246. Zur amerikanischen Position siehe C. P. Parrini: Heir to Empire. United States Economic Diplomacy 1916–1923, Pittsburgh 1969, 175. 126 Vgl. T. W. Lamont: „Four-Power Loan Consortium“, FER, Bd. 3, Nr. 1 (Oktober 1920), 58. Die Rolle Thomas Lamonts im Bankenkonsortium untersucht Cohen: The Chinese Connection, besonders 41–70. Thomas W. Lamont wird auch porträtiert in Edward Lamont: The Ambassador from Wall Street. The Story of Thomas W. Lamont, J. P. Morgan’s chief executive, Lanham 1994. 127 Dies umso mehr, als das Konsortium zwar keine direkten Erfolge vorzuweisen hatte – es vergab keine Kredite an die chinesische Regierung –, aber dennoch bis in die 1940er Jahre hinein aufrechterhalten wurde, um den amerikanischen Einfluss in der Region zu bewahren. Siehe W. I. Cohen: „America’s new order for East Asia: The four power financial consortium and China, 1919–1946“, in: K. W. So/W. I. Cohen (Hg.): Essays in the history of China and Chinese-American relations, East Lansing 1982, 41–74, hier 52, 68. 128 J. A. Thomas: „Business principles in world politics. The Problem of China, an Opportunity for Applying International Common Sense“, Asia, Bd. 15, Nr. 2 (Februar 1925), 99–103, 165–166. Eperjesi zeigt, dass der Marktdiskurs den geographischen Raum „Asien“ gleichsam ordnete. Siehe Eperjesi: Imperialist Imaginary, 90. 129 G. Z. Wood: Besprechung von See: The Foreign Trade of China, CSM, Bd. 15, Nr. 1 (November 1919), 63–66. Vgl. See: Foreign Trade. Das Werk wurde von der Columbia University unter Mitarbeit der China Society of America herausgegeben.
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zur amerikanischen frontier des 20. Jahrhunderts.130 Die USA hatten die Chance, durch freundschaftliche Finanzkooperation das Kaufverhalten der Chinesen langfristig zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Die Rechnung schien einfach. Durch Entwicklungskredite und Investitionen in die chinesische Wirtschaft sollte die Kaufkraft der Chinesen gestärkt und damit die Nachfrage nach amerikanischen Waren angekurbelt werden. Dass in einem Land mit einem so niedrigen wirtschaftlichen Entwicklungsstand wie China der Handel also nicht nur dem Handel folgte, räumte auch Julean Arnold ein. „In no other country is it so true as in China, that trade follows the loan or investment“.131 Ein solches Vorgehen war nach Ansicht der amerikanischen Geschäftswelt ein Gebot der „commonsense rules of business“132 und über den Vorwurf imperialistischer Ausbeutung erhaben. Die Interessen der USA und Chinas, so wurde seit der Implementierung der Open-Door-Politik betont, seien miteinander und mit globalem Fortschritt identisch. Die moralische Abgrenzung der USA von den anderen Großmächten und der Glaube an den positiven amerikanischen Einfluss in China sind im Kontext des „American exceptionalism“ zu sehen, einem Identitätskonzept, das die amerikanische Nation auf der Basis ihres Ursprungs, ihres Nationalbewusstseins, ihrer historischen Entwicklung und Institutionen von anderen Nationen qualitativ unterscheidet.133 Das darauf basierende Sendungsbewusstsein befreite auch Präsident Wilson von allen Bedenken hinsichtlich der amerikanischen
130 Zum Bild der wirtschaftlichen frontier in China Gollwitzer: Weltpolitisches Denken, 369, sowie Jerry Israel: Progressivism and the Open Door. America and China, 1905–1921, Pittsburgh 1971, 193. 131 Arnold: „Salient facts“, 9. Vgl. auch S. G. Porter: „China’s door swings open to welcome our trade“, CD, Bd. 15, Nr. 183 (Juni 1929), 8–11. Sei die Infrastruktur erst einmal modernisiert und ausgebaut, war auch Cyril Tribe überzeugt, der im amerikanischen Kriegsministerium ehemals für den Export zuständig gewesen war, könnten die zehntausend amerikanischen Automobile in China ohne weiteres auf 10 000 000 aufgestockt werden. Vgl. C. H. Tribe: „China-foundation of far Eastern trade“, CR, Bd. 1, Nr. 5 (November 1921), 300–303, sowie ders.: „Selling to the Chinese Millions. China – a survey of her history and characteristics“, CR, Bd. 2, Nr. 1 (Januar 1922), 33–35. Die Sonderausgabe der China Review vom November 1922 trug den Titel „China’s 400 Million“. 132 Thomas: „Business principles“, 99. Um den Zugang zum chinesischen Markt zu erleichtern, wurde zudem vorgeschlagen, Chinesen in amerikanischen Unternehmen zu beschäftigen und die chinesische Sprache zu lernen. Vgl. F. C. H. Lee: „Why Americans Should Learn the Chinese Language“, CR, Bd. 3, Nr. 1 (Juli 1922), 17–20, und ders.: „Foreign trade“, 109. 133 Zum amerikanischen Exzeptionalismus siehe S. M. Lipset: American Exceptionalism. A Double-Edged Sword, New York/London 1996, 19: Lipset identifiziert hier fünf Kernbegriffe, die den amerikanischen Exzeptionalismus ausmachen: „liberty, egalitarianism, individualism, pop ulism, and laissez-faire“. Auch die Tatsache, dass die USA nicht dem Völkerbund beitraten und in der Nachkriegsordnung eine Sonderrolle beanspruchten, ist im Kontext des Exzeptionalismus zu sehen. Siehe Mazower: Governing the World, xvi–xvii.
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informellen Expansion in China; diese war nur ein Schritt in Richtung einer progressiven Weltordnung.134 Von großer Bedeutung für die Interpretation der sino-amerikanischen Handelsbeziehungen war zudem die Vorstellung einer „Special Relationship“ der beiden Nationen. Ausgehend vom amerikanischen Selbstverständnis als moralisch einwandfreie Handelsnation, sahen liberale Internationalisten die USA als Freund und Beschützer Chinas.135 „[A]lmost every modern authority on the Eastern question has reached a conclusion“, konstatierte etwa Thomas Millard, that of all Western nations the United States, because of geographical juxtaposition and modern economic propositions, has the greatest practical interest in the future course of China, and also that no satisfactory future for China can be assured without the direct and active participation – some say, leadership – of America.136
Millard, der sich in der China Weekly Review und in zahlreichen Monographien mit der Chinapolitik der Großmächte auseinandersetzte, forderte vor diesem Hintergrund ein aktiveres Eintreten der amerikanischen Regierung für die chinesische Integrität. Der europäische und japanische Imperialismus stand nicht nur aus seiner Sicht der Realisierung eines pan-pazifischen, sino-amerikanischen „Wohlstandsraumes“ im Weg, in dem sich die chinesische und amerikanische Wirtschaft ergänzten – Erstere als Rohstofflieferant und Absatzmarkt, Letztere als Kapitalgeber und Exporteur von Maschinen und anderen Industriewaren.137 Diesen Punkt betonte auch Pan Shu-lun (Pan Xulun). Pan hatte seine wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung mit einer Promotion an der Columbia University abgeschlossen. In seinem Werk The Trade of the United States with China von 1924 ging er daran, den zukünftigen Trend des sino-amerikanischen Handels aus seiner Entwicklung in der Vergangenheit zu extrapolieren und Maßnahmen zu seiner Ausweitung vorzuschlagen. Für Pan, der schließlich in Shanghai ein Forschungszentrum für modernes Rechnungswesen gründete und sich vehement gegen traditionelle chinesische Geschäftsmethoden aussprach, war die sinoamerikanische Wirtschaftskooperation einerseits unerlässlich für die zukünftige Entwicklung Chinas – er sprach hierbei von der „worthy responsibility“138 134 Siehe Cohen: „America’s new order“, 41–43, sowie Rosenberg: American Dream, 809. 135 Eine Vorstellung, die mit der Realität der sino-amerikanischen Beziehungen nur wenig gemeinsam hatte. Siehe Varg: Making of a Myth. 136 Millard: „China’s case“. Ähnlich H. A. Gibbons: „World Politics versus Disarmament“, TC, Bd. 103/81, Nr. 1 (November 1921), 144–151, hier 148–149. 137 Eperjesi spricht von „Asian American coprosperity“. Siehe Eperjesi: Imperialist Imaginary, 89. 138 Pan, Trade of the United States, 356. Siehe auch Trescott: Jingji Xue, 74. Sowie R. P. Gardella: „Squaring accounts: commercial bookkeeping methods and capital rationalism in late Qing and Republican China“, JAS, Bd. 51, Nr. 2 (Mai 1992), 317–333, hier 339.
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des amerikanischen Freundes, aktiv an der Modernisierung Chinas mitzuwirken. Andererseits verfügten ihm zufolge weder das hochverschuldete Europa noch der gesättigte südamerikanische Markt, sondern allein China über die notwendigen Wachstumsmöglichkeiten, um den amerikanischen Export zu sichern. „Here lies the identity of commercial interests between these two countries“, bekräftigte er, „and here also lies their interdependence.“139 Für Pan stand jedoch fest, dass die beiden Länder mehr verband als wirtschaftliche Notwendigkeit. Sie bildeten ihm zufolge eine Schicksalsgemeinschaft für die Entwicklung des Pazifiks zum „world’s greatest commercial highway“: Die beiden Länder seien prädestiniert, auf der Basis ihrer Kooperation die immensen Handelsmöglichkeiten über den Pazifik zu realisieren und die Entwicklung des gesamten ostasiatischen Raumes voranzutreiben. Das besondere Kennzeichen des pan-pazifischen Handels sei die Reinheit seiner Motive. Indem Pan auf diese Weise den Handel zwischen den beiden Nationen moralisch legitimierte, erweiterte er gleichsam den amerikanischen zu einem sino-amerikanischen Sonderweg.140 Die Bindung, die man zwischen den beiden Nationen sah, ging also über das Wirtschaftliche hinaus. Der pan-pazifische Wohlstandsraum war auch eine Partnerschaft der beiden „Großen Demokratien“ Asiens und des Westens; als Quelle des republikanischen Experimentes in China oblag demnach den Amerikanern die Pflicht, das Land beim Aufbau seiner Demokratie zu unterstützen, als „allied representatives of a common idealism“.141 Wie deutlich wurde, war die Aussicht auf eine globale Demokratisierung im Wilson’schen Internationalismus eng an eine liberale Wirtschaftsordnung gekoppelt. Die Argumentation liberaler chinesischer Ökonomen für die sino-amerikanische Wirtschaftskooperation entsprach weitgehend diesem Kurs der Amerikaner.142 Dass die Politik der offenen Tür in China auch den nationalen Interessen der USA diente, schien aus ihrer Sicht hinnehmbar, solange die gegenseitige Wohlstandsmehrung gewährleistet war und das chinesische Recht auf Souveränität nicht in Frage gestellt wurde – also die
139 Pan Shu-lun: „Trade between China and the United States“, CSM, Bd. 19, Nr. 3 (Februar 1924), 23–32, hier 30. Vgl. auch ebd., 27–28, sowie ders.: „Trade between America and China – past, present and future“ [2], CWR, Bd. 28, Nr. 4 (März 1924), 116–120. 140 Ders.: „Trade between America and China – past, present and future“ [1], CWR, Bd. 28, Nr. 3 (März 1924), 78–80. Ähnlich auch Arnold: „Salient facts“, 11, sowie William Hung: „Get Acquainted“, CSM, Bd. 18, Nr. 5 (März 1923), 33–42. 141 Vgl. High: China’s Place in the Sun, 212. Ähnlich Hutchinson: China’s Real Revolution, 157. 142 Dies war auch die offizielle Linie der diplomatischen Vertreter Chinas. Vgl. etwa A. S. Sze: „Address at the Luncheon of the American Economic Mission to Far East, India House, New York, July 19 1935“: Institute of Pacific Relations Records, Columbia University, RBML, Box 199.
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beiden Grundprämissen für die sino-ausländische Wirtschaftskooperation, die Sun Yatsen seinem nationalen Entwicklungsprogramm zugrunde gelegt hatte.143
6.3.2 Die Internationalisierung der indischen Wirtschaft Die Einbindung in das imperiale Wirtschaftssystem Großbritanniens galt im indischen Unabhängigkeitskampf als Hindernis für Indiens nationale und internationale Emanzipation. Mit der politischen Unabhängigkeit war auch die Hoffnung verbunden, Indiens Position im weltwirtschaftlichen Gefüge neu definieren zu können. Das Land sollte nicht mehr verbilligte Rohstoffe für die britische Industrie liefern, die wiederum den indischen Markt sättigte.144 Indien wurde jedoch – nicht zuletzt aufgrund seiner Mitgliedschaft in Einrichtungen wie der Internationalen Handelskammer – längst als wichtiger weltwirtschaftlicher Akteur wahrgenommen. Die Frage, welche Bedeutung dem Land für die etablierten Wirtschaftsmächte künftig zukam, gewann an Brisanz. Wie konnte sich die indische Wirtschaft auf dem Weltmarkt positionieren, wer hatte mit größerer Konkurrenz zu rechnen und mit wem würde das Land seinen Handel ausweiten? Dass mit mehr wirtschaftlicher Konkurrenz aus Indien zu rechnen war, stand für viele Autoren außer Frage.145 Eine Möglichkeit, die Konkurrenz abzumildern, sah B. K. Sarkar in einer engeren Partnerschaft Indiens mit den USA. Das amerikanische Handelsvolumen in Indien fiel aufgrund der starken europäischen Konkurrenz im Vergleich zu China gering aus.146 Dennoch verwies Sarkar auf die wachsenden Handelszahlen zwischen den beiden Ländern, um daraus die künftige Bedeutung ihrer Geschäftbeziehung abzuleiten. „India has been becoming more intimate with the U.S.A.“, schrieb er 1932, „and the inter-dependence of the Indian and American peoples is one of the outstanding features of contemporary world-economy“.147 Ebenso wie die Idee der sino-amerikanischen „special rela tionship“ war Sarkars Vorstellung einer indo-amerikanischen Partnerschaft nicht auf den wirtschaftlichen Bereich beschränkt. Die Wirtschaftskooperation bildete
143 Ähnlich bei Z. L. Chang: „China and her foreign trade“, CSM, Bd. 18, Nr. 6 (April 1923), 5–9. 144 Vgl. Wadia: „Protection“, 196. 145 Vgl. Sarkar: „Weltwirtschaftliche Bedeutung“, 53, sowie ders.: Creative India. From Mohenjo Daro to the age of Ramakrsna-Vivekananda, Lahore 1937, 447–448. 146 In der Zeit nach der Weltwirtschaftskrise stieg das amerikanische Interesse an indischen Konsumgütern, auch weil japanische Waren zunehmend abgelehnt wurden. Siehe B. K. Kejriwak: Indo-U.S. Trade Relations, 1900–1947, Kalkutta 1981, 124–128. 147 B. K. Sarkar: „America’s business contacts with people of India“, IW, Nr. 2 (Februar 1932), 34–36, hier 35.
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ihm zufolge nur eine neue Stufe in der historisch gewachsenen Orientierung der beiden Länder zueinander hin. Ebenso wie sich die Inder der außenpolitischen Bedeutung der USA für ihr Land immer mehr bewusst würden, nahmen die Amerikaner die Rolle Indiens „in their scheme of democracy, idealism and societal energism“148 verstärkt wahr. Ebenso wie chinesische Intellektuelle berief sich Sarkar für die Propagierung engerer Handelsbeziehungen bewusst auf das amerikanische Selbstverständnis als Stifter einer universalen Zivilisation. Die wirtschaftliche Kooperation Indiens mit Amerika betrachtete Sarkar dezidiert als Mittel des konstruktiven Internationalismus. Damit konkurrierte sein Entwurf der Rolle Indiens in der Weltwirtschaft direkt mit der Idee des britischen Commonwealth, also einer noch engeren Einbindung Indiens in das imperiale Wirtschaftssystem.149 Zwar wies man aus britischer Perspektive auch gerne auf die Besonderheit der britisch-chinesischen Beziehung hin – so hob Archibald Rose vom Londoner IIA die Rolle der Überseechinesen hervor, die auf dem Gebiet des britischen Empire lebten und wirtschafteten und die Freundschaft zwischen ihrem Heimatland und Großbritannien begünstigten;150 jedoch blieb Indien für Großbritannien, was China für Amerika war: das räumliche Zentrum wirtschaftlicher Wachstumsmöglichkeiten – wenn auch nicht im Sinne einer neuen frontier, sondern einer privilegiengestützten historischen Bindung. Die Internationalisierungstendenzen der indischen Wirtschaft entgingen den britischen Beobachtern nicht. Der Economist meldete zu Beginn des Jahres 1929, dass sich der Anteil der USA und Japans am Außenhandel Indiens vergrößert habe. Um zu garantieren, dass Großbritannien weiterhin vom wachsenden indischen Markt profitierte, seien immense Anstrengungen vor Ort nötig.151 Ebenso wie im Fall der sino-amerikanischen Beziehungen sah man einen direkten Zusammenhang zwischen der wachsenden Kaufkraft der Inder und den britischen Exporten. Trotz des nationalistischen Widerstands erschien der indische Markt als Garant wirtschaftlichen Wachstums in Zeiten des weltwirtschaftlichen Umbruchs. „In what country, except China, do we find anything approaching these possibilities?“, fragte 1931 ein Beiträger in der Asiatic Review. „And China – for who knows how long? – is
148 Ebd., 36. Eine besondere Beziehung zwischen den USA und Indien sah auch Taraknath Das. Vgl. Das: „Indian View“. 149 Vgl. die Ausführungen des britischen Historikers und ehemaligen Kolonialbeamten John Coatman: „We of the British Empire are on the eve of a great forward move in inter-Imperial economic co-operation, and towards a general solidarity of aim and sentiment and purpose.“ John Coatman: Years of Destiny. India 1926–32, London 1932, 378. Coatman sah diese Wirtschaftskooperation durch den indischen Freiheitskampf gefährdet. 150 Archibald Rose: „The Mind of China“, JBIIA, Bd. 4, Nr. 2 (März 1925), 82–93, hier 89. 151 „Prospects of British Trade in India“, TE, Nr. 4454 (Januar 1929), 15.
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out of the running. Let us then begin by appreciating that in any process towards the recovery of British prosperity, her economic relations with India must be a factor of capital importance.“152 Die britische Regierung wurde – ähnlich wie im Falle Chinas die amerikanische – aufgefordert, sich stärker finanziell in die Entwicklung der indischen Industrien einzubringen, um die britische Position gegenüber anderen Wirtschaftsmächten zu sichern. Im Kontext beider Länder war der Bedarf an wirtschaftlicher Kooperation also mit nationalistischen Programmatiken versöhnbar. Wenngleich sich die Autoren von Entwicklungsprogrammen um Autarkie bemühten, schien die internationale Finanzkooperation angesichts mangelnden Kapitals meist unabdingbar. Sun Yatsens International Development of China ist ein Beispiel für den schwierigen Spagat zwischen dem drängenden Wunsch nach politischer und wirtschaftlicher Souveränität einerseits und der unvermeidbaren Abhängigkeit von ausländischem Kapital andererseits. Nicht zufällig definierte Sun die Rolle des Auslandes für die Modernisierung Chinas mit Hilfe von Wilsons Prinzip des Internationalismus. Das Ideal der internationalen Kooperation selbstbestimmter und gleichberechtigter Nationen schien den Spagat möglich zu machen: Die nationalen Interessen konnten mit dem Wohl der internationalen Staatengemeinschaft vereinbart werden, wenn sie nicht mit Hilfe unilateraler Machtpolitik durchgesetzt wurden, sondern auf multilateralen Entscheidungen beruhten. Dem nationalen Interesse Indiens und Chinas kam dabei entgegen, dass die wirtschaftliche Abhängigkeit global integrierter Wirtschaftsnationen eine gegenseitige war. Den Handel mit asiatischen Ländern auszuweiten, stellte auch aus britischer und amerikanischer Sicht ein Gebot nationaler Sicherheit dar. Obwohl sich die Befürworter der OpenDoor-Politik vom europäischen Kolonialismus abgrenzten, lag darin der Versuch, den amerikanischen Einflussbereich zu vergrößern.153 Sie unterschied sich in letzter Konsequenz wenig von der Chinapolitik der Briten, die auch primär am freien Handel interessiert waren, deren Interessen in China jedoch umfangreicher, enger an das Privilegiensystem gebunden und dadurch auch verletzlicher waren als die amerikanischen.154 152 J. de la Valette: „Great Britain and Industrialization in India“, AR, Nr. 1 (Januar 1931), 188– 195, hier 188. Vgl. H. G. Williams: „India’s Trade with Britain“, IR, Bd. 29, Nr. 11 (November 1928), 737–738, hier 738. 153 Auch das Institute of Pacific Relations kann als Manifestation des neuen amerikanischen Regionalismus in Asien angesehen werden. Siehe Akami: Internationalizing the Pacific, 11–12. 154 Die britischen Wirtschaftsinteressen in China während der Nanjing-Dekade hat Jürgen Osterhammel im Detail aufgearbeitet. Siehe Jürgen Osterhammel: Britischer Imperialismus im Fernen Osten. Strukturen der Durchdringung und einheimischer Widerstand auf dem chinesischen Markt 1932–1937, Bochum 1982, 25. Der Maritime Customs Service, ein Eckpfeiler imperialistischer Kontrolle über China, stand unter britischer Leitung. Für eine Einordnung der Institution
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6.4 Fazit Interdependenz war ein Schlüsselbegriff der Nachkriegsordnung. Der Krieg hatte gezeigt, dass das anarchische internationale System den komplexen wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen nicht mehr gewachsen war. Wenn alle Nationen und Völker aufeinander angewiesen waren, dann schien das Recht des Stärkeren weder funktional im Sinne der internationalen Sicherheit noch progressiv im Sinne der internationalen Integration zu sein. Der liberale Internationalismus der Zwischenkriegszeit zielte auf eine internationale Ordnung, die Konflikte durch Kooperation überwinden oder wenigstens abmildern konnte, um Kriege in der Zukunft zu vermeiden. Wie gezeigt wurde, konstituierten das Prinzip der politischen Selbstbestimmung, die internationale Organisation und der internationale Handel drei Pfeiler einer Friedensstrategie, die von Spannungsfeldern durchzogen war: Konnten nationale Partikularinteressen mit dem Wohl der internationalen Gemeinschaft in Einklang gebracht werden? Handelte es sich tatsächlich um einen Neuanfang oder nur um eine rhetorische Aufwertung alter Strukturen? Viele Beobachter der internationalen Beziehungen nahmen die Zeit nach dem Krieg als Beginn einer wahrlich globalen Ordnung wahr, in der Asien eine weitaus größere Bedeutung einnehmen würde als in der Vergangenheit. Für China und Indien, die beide unter der Beschneidung ihrer Souveränität durch Imperialmächte litten, ermöglichte der internationale auch einen nationalen Neuanfang. Wilsons Prinzip der Selbstbestimmung versprach die Integration militärisch und wirtschaftlich schwacher Nationen in eine internationale Gesellschaft, die nicht länger an westlich definierte „zivilisatorische Standards“ gekoppelt war. Die Debatten über das Vertragssystem in China und über Indiens Position im britischen Commonwealth zeigen die enorme Bedeutung, die asiatische wie westliche Autoren darin sahen, die internationale Position der beiden Länder aufzuwerten. Wenngleich sich besonders chinesische Intellektuelle auch auf das internationale Recht beriefen, sah man in der Widerherstellung von Souveränität und Gleichheit in erster Linie ein universal gültiges Gebot der Moral. Das ethische Bewusstsein folgte realpolitischen Notwendigkeiten. Neue Standards in den west-östlichen Beziehungen schienen umso wichtiger, als die nationalistischen i n den Rahmen des britischen informellen Imperialismus in China siehe Donna Brunero: Britain’s Imperial Cornerstone in China. The Chinese Maritime Customs Service, 1854–1949, London/New York 2006, 11–21. Siehe auch Fung: Imperial Retreat, 6, sowie die ältere Studie von Louis: British Strategy, 140. Cain und Hopkins betonen den imperialistischen Charakter der ausländischen Konkurrenz in China, die nicht nach Gleichgewicht, sondern nach Dominanz strebte. Siehe Cain/Hopkins: British Imperialism, 262.
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Bewegungen in China und Indien eine Dynamik entwickelten, in deren Zuge die nationale Souveränität vorrangig als Ermächtigungsformel interpretiert wurde. Indem man Indien und China zu internationalen Partnern erklärte, sollte verlorenes Vertrauen zu den Westmächten wiederhergestellt werden. Nicht jeder sah in einer Stärkung der politischen Souveränitätsrechte militärisch schwächerer Nationen den richtigen oder einzigen Weg, um eine stabile internationale Ordnung zu generieren. So war laut Anhängern der pluralistischen Theorie dem internationalen Frieden dann am besten gedient, wenn alle Nationalstaaten einen Teil ihrer Souveränität opferten, um sich international zu organisieren. Der Völkerbund symbolisierte eine neue Weltpolitik, in der auch Indien und China eine gleichberechtigte Stimme haben sollten. Er lieferte einen verbindlichen Rahmen, um den „Aufstieg“ dieser Länder in den Kreis der großen Nationen in Angriff zu nehmen. Die Zweifel am System des Völkerbundes, an dessen Notwendigkeit, Handlungsfähigkeit und der demokratischen Struktur seiner Entscheidungen, schlugen sich jedoch auch in den Analysen über die zukünftige internationale Rolle Indiens und Chinas nieder. Sahen die Einen im Völkerbund die alten hierarchischen Strukturen reproduziert, befanden die Anderen seine Integrationsleistung als nicht stark genug, um eine wahrhaft globale Gemeinschaft zu realisieren. Für die große Mehrheit der Autoren bargen die internationalen Strukturen aber die Möglichkeit eines Neuanfangs in den west-östlichen Beziehungen; mancher sah Indien und China besonders qualifiziert, im Streben nach Kooperation und Frieden eine Führungsrolle einzunehmen. Den Forderungen nach mehr politischer Kooperation zwischen westlichen und asiatischen Staaten lagen stets auch wirtschaftliche Überlegungen zugrunde. Die Bemühungen um internationale Handels- und Wirtschaftszusammenarbeit folgten der post-sozialdarwinistischen Logik, das Gesetz des militärisch Stärkeren durch das Prinzip der Chancengleichheit zu ersetzen.155 Wirtschaftlicher Imperialismus und Isolationismus sollten freiem Handel weichen – dem dritten und tonangebenden Element des liberalen Internationalismus der Zwischenkriegszeit. Im Bereich der internationalen Handelskooperation schienen n ationale Interessen und das Wohl der internationalen Staatengemeinschaft identisch – zumindest dann, wenn gleiche Bedingungen für alle herrschten. Anders als das Prinzip der politischen Gleichheit schien das der wirtschaftlichen Chancengleichheit auf einem freien Weltmarkt zudem mit dem „zivilisatorischen“ Führungsanspruch der Westmächte vereinbar. China war in der Wahrnehmung vieler amerikanischer Wirtschafts- und Finanzexperten der „amerikanische Westen“ des 20. Jahrhunderts. Ihres internationalistischen Grundgedankens zum Trotz
155 Vgl. hierzu besonders Sun: International Development, 231.
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andelte es sich bei der „offenen Tür“ in China um amerikanische Interessenpolih tik und eine neue Form des Kulturimperialismus.156 Aus chinesischer Perspektive versprach eine enge, pan-pazifische Wirtschaftskooperation mit den USA nicht nur wichtige finanzielle Unterstützung und Unabhängigkeit von den europäischen Kolonialmächten, sondern auch internationale Anerkennung an der Seite der neuen Supermacht des 20. Jahrhunderts. Benoy Kumar Sarkar wünschte sich eine solche „besondere Beziehung“ mit den USA auch für Indien, das jedoch noch weitgehend außerhalb des amerikanischen Einflussgebietes lag. Der indische Markt blieb primär aus britischer Perspektive relevant. Britische stimmten mit indischen Wirtschaftsexperten darin überein, dass Indiens Bedeutung im weltwirtschaftlichen Gefüge und besonders für Großbritannien in der Zukunft zunehmen würde. Umso wichtiger schien es, Indien weiterhin an das Empire zu binden. Das Commonwealth war für Experten der Internationalen Beziehungen wie Alfred Zimmern und Lionel Curtis Vorreiter der Internationalisierung und Mittel der weltweiten Demokratisierung; hinsichtlich seines normativen und moralischen Anspruches entsprach es dem amerikanischen informellen Imperialismus der „offenen Tür“ in China.
156 Die Open-Door-Ideologie war gleichzeitig liberal und expansionistisch. Siehe Rosenberg: American Dream, 114–115.
7 Kulturelle Weltordnungen: Hinduismus, Christentum und die Suche nach Einheit Im Rahmen der Nachkriegsordnung wurde 1922 in Genf das International Committee on Intellectual Cooperation (ICIC) ins Leben gerufen. Das Gremium sollte die internationale Zusammenarbeit auf kulturellem Gebiet voranbringen und unter den Völkern der Welt eine Geisteshaltung generieren, die dem Zeitalter internationaler Kooperation angemessen schien: von einem „international mind“ sprach eines seiner führenden Mitglieder, der britische Altphilologe Gilbert Murray.1 Das Gremium stand Angehörigen aller Nationalitäten – auch Nicht-Mitgliedern des Völkerbundes – offen und umfasste neben Größen des europäischen intellektuellen Lebens wie Henri Bergson, Albert Einstein, Marie Curie und Thomas Mann auch den indischen Philosophen Sarvepalli Radhakrishnan, seit 1925 den chinesischen Philosophen Hu Shi und mit dem amerikanischen Historiker James Shotwell einen der stärksten Fürsprecher des Völkerbundes in den USA.2 „Intellektuelle Kooperation“ war eines der Hauptanliegen der Internationalisten. Sie beruhte auf der Überzeugung, dass politische und wirtschaftliche Kooperation nicht ausreichten, um den Blick über den Tellerrand der eigenen Kultur hinaus zu weiten. Der Eurozentrismus, der die internationalen Beziehungen bis zum Ersten Weltkrieg geprägt hatte, sollte durch eine neue Kosmopolität ersetzt werden.3 Die Idee der intellektuellen und kulturellen Kooperation führte damit über den politischen Auftrag des Völkerbundes weit hinaus. Nicht der Nation, sondern der Menschheit galt das Hauptinteresse der kulturellen 1 Gilbert Murray zitiert in Daniel Laqua: „Transnational intellectual cooperation, the League of Nations, and the problem of order“, JGH, Bd. 6, Nr. 2 (Juli 2011), 223–247, hier 223. 2 Zu den Gründungsidealen des Gremiums auch Jo-Anne Pemperton: „The Changing Shape of Intellectual Cooperation: From the League of Nations to UNESCO“, AJPH, 58, 1 (März 2012), 34–50, hier 36–40. 1926 nahm zudem das International Institute of Intellectual Cooperation in Paris seine Arbeit auf, das nach dem Zweiten Weltkrieg von der UNESCO weitergeführt wurde. Auch die USA waren in den Einrichtungen für intellektuelle Kooperation aktiv. Daniel Laqua hebt eines der Kernprobleme der „intellektuellen Kooperation“ hervor: Sie beruhte auf den hierarchischen Strukturen, die sie zu überwinden suchte. Siehe Laqua: „Transnational intellectual cooperation“, 224, 228–229. 3 Zur Definition einer „kosmopolitischen Disposition“ siehe Richard Beardsworth: Cosmopolitanism and International Relations Theory, Cambridge/Malden 2011, 20. Zur Vieldeutigkeit des Begriffs der Kosmopolität, der Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen kulturellen Gruppen ebenso betont wie die Notwendigkeit, kulturelle Unterschiede anzuerkennen, und sich als individuelle ethische Orientierung ebenso wie als eine Bedingung des kollektiven Lebens interpretieren lässt, siehe Craig Calhoun: „Cosmopolitanism and nationalism“, Nations and Nationalism, Bd. 14, Nr. 3 (2008), 427–448, hier 429. DOI 10.1515/9783110464382-007
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Internationalisten. Die internationale Koordination politischer und wirtschaftlicher Nationalinteressen verstanden sie nicht selten als Zwischenstufe hin zu einem Zustand, bei dem nationalstaatliche Grenzen nicht nur überschritten, sondern aufgelöst wurden: einer Gemeinschaft der gesamten Menschheit.4 Konzeptionen einer Weltgemeinschaft, einer Weltkultur, oder eines Weltstaates, wie sie in Europa etwa von H. G. Wells, zur gleichen Zeit in Asien von Rabindranath Tagore entworfen wurden, erregten die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Diesen Konzeptionen lagen zwei Prämissen zugrunde: Erstens schien Einheit nur auf der Basis einer für alle Menschen gleichermaßen gültigen geistigen Ordnung möglich; Ordnungsentwürfe der Zwischenkriegszeit schlossen in dieser Hinsicht an den Universalismus der europäischen Aufklärung an.5 Dieser Universalismus war zweitens von synthetischer Natur, wenn er darauf bedacht war, kulturelle Elemente aus beiden Erdteilen zu vereinen. Voraussetzung für die Idee der gegenseitigen kulturellen Bereicherung von Ost und West war eine Neubewertung des Konzeptes der „Zivilisation“. Dieses wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts und verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg von seiner bisherigen Bindung an die westliche Kulturtradition – insbesondere das Christentum und die Aufklärung – gelöst.6 Die „westliche Zivilisation“, nun oft mit Materialismus und Militarismus assoziiert, hatte ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit weitgehend eingebüßt. Das Bedürfnis nach einem alternativen Zivilisationsbegriff war bereits 1893 auf dem Weltkongress der Religionen in Chicago deutlich geworden, wo die Delegierten um die Definition einer „Weltreligion“ rangen, deren Kern man in Hinduismus und Buddhismus sah. Schließlich waren es auch die geschichtsphilosophischen Werke Oswald Spenglers und Arnold Toynbees, die zur Verbreitung eines multiplen und spirituellen Zivilisationsbegriffes beitrugen, der in ein zyklisches, die Endlichkeit von Zivilisationen betonendes Geschichtsbild eingebettet war. Die westliche Zivilisation war demnach nicht mehr Endpunkt, sondern lediglich Teil der menschlichen Geschichte; die Möglichkeit ihres Bedeutungsverlusts musste anerkannt werden. Der erste Blick ging dabei nach Asien. Viele westliche und asiatische Intellektuelle waren von der Existenz einer spirituellen „asiatischen Zivilisation“ überzeugt. „Asia is one“, lautete der erste Satz in Okakura Kakuzos einflussreichem Werk Ideals of the East, das bereits 1903 in New York und London erschienen war. Wie die in Irland geborene und nach Indien emigrierte Buddhistin Margaret 4 Akira Iriye betrachtet diese kulturelle Variante als stärkste Strömung des Internationalismus der Zwischenkriegszeit. Siehe Iriye: Cultural Internationalism, 65–66. 5 Siehe Behr: International Political Theory, 3. 6 Siehe Prasenjit Duara: „The Discourse of Civilization and Pan-Asianism“, JWH, Bd. 12, Nr. 1 (Frühjahr 2001), 99–130, hier 99–108.
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Noble (Sister Nivedita) in ihrer Einleitung zu dem dünnen Band betonte, verstand der japanische Denker Asien nicht als zufällige Ansammlung geographischer Fragmente, sondern als „united living organism“,7 basierend auf gemeinsamen spirituellen Idealen. Das auf diese Weise weniger geographisch als kulturell umrissene „Asien“ – oft noch vager als „Osten“ oder „Orient“ bezeichnet – galt als Gegenstück zur euro-amerikanischen Welt. Die binäre Klassifizierung eines spirituellen Asiens und eines materiellen Westens fußte auf der europäischen Orientalistik und wurde von Teilen der asiatischen Intelligenz in einem Prozess der „self-orientalization“8 aufgenommen. Wie Okakura in Japan zeigten sich chinesische und indische Intellektuelle empfänglich für „Asianismen“,9 die die zivilisatorische Hierarchie auf den Kopf stellten: Die asiatische Zivilisation galt als der westlichen moralisch überlegen und als einzige Quelle für deren geistige Regeneration. Die Idee einer asiatischen Zivilisation fand auch in der westlichen Welt Verbreitung. Eine wichtige Rolle nahmen dabei erstens einflussreiche Philosophen wie Romain Rolland in Frankreich, John Dewey in den USA oder Bertrand Russell in Großbritannien ein, die an der kulturellen Konstruktion Asiens im Austausch mit asiatischen Intellektuellen direkt beteiligt waren.10 Zweitens sind christliche Missionare in Indien und China zu nennen, die an einer spirituellen Synthese der asiatischen Religionen mit dem Christentum interessiert waren und die eine zukünftige Weltgemeinschaft mit dem „Reich Gottes“ identifizierten. Drittens 7 Sister Nivedita: „Introduction“, in: Kakuzo Okakura: The Ideals of the East: With Special Reference to the Art of Japan, New York 1920, ix–xxi, hier xix. Siehe hierzu auch Rustom Bharucha: Another Asia. Rabindranath Tagore and Okakura Tenshin, New Delhi 2006, 11, sowie Duara: „Discourse of Civilization“, 109–110. 8 Arif Dirlik: „Chinese History and the Question of Orientalism“, History and Theory, Bd. 35, Nr. 4 (Dezember 1996), 96–118, hier 104. Wie Dirlik betont, ist die Inkorporation orientalistischer Zuschreibungen in das asiatische Selbstbild schwer vom Einfluss westlicher Ideen zu trennen. Auch die räumliche Repräsentation „Asien“ wurde von der europäischen Orientalistik geprägt. Siehe Duara: „Discourse of Civilization“, 109. Tapan Raychaudhuri weist jedoch darauf hin, dass indische Intellektuelle ihre Vorstellungen von der „asiatischen Zivilisation“ nicht nur aus der europäischen Orientalistik bezogen. Siehe Raychaudhuri: Europe Reconsidered, xi. 9 Der Begriff des Asianismus wird mit Marc Frey und Nicola Spakowski als „diskursive Konstrukte von Asien und damit in Verbindung stehende politische, kulturelle und soziale Praktiken“ verwendet. Der Begriff der „Asianismen“ führt demnach auch über denjenigen der „Panasianismen“ hinaus, „indem er die Pluralität, Vielfalt und Widersprüchlichkeit historisch nachweisbarer intra- und transregionaler Definitionen und Interaktionen hervorhebt, die sich auf Asien beziehen“: Marc Frey/Nicola Spakowski: „Einleitung: Asianismen seit dem 19. Jahrhundert. ‚Asienʻ als Gegenstand nationaler und transnationaler Diskurse und Praktiken“, Comparativ, Bd. 18, Nr. 6 (2008), 7–15, hier 8. 10 Siehe Duara: „Discourse of Civilization“, 115.
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fanden sich unter den Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft in Europa und den USA viele Anhänger des asiatischen Spiritualismus. Die Gründer der Theosophischen Gesellschaft, Helena Blavatsky und Henry Olcott, hatten sich bereits 1878 entschlossen, nach Indien umzusiedeln. In Indien waren Blavatsky und Olcott vor allem zwei Denkströmungen ausgesetzt: Der orientalistischen Forschung einerseits und der hinduistischen Reformbewegung seit Rammohan Roy andererseits. Roy hatte bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Vermittler zwischen westlicher und indischer Kultur agiert, unter anderem indem er die Schriften der Vedanta, eine der bedeutendsten Philosophien des Hinduismus, ins Englische übersetzte. Der sozio-religiösen Reformbewegung, die er begründete, ging es auch darum, das Band zwischen Menschen aller Religionen zu stärken. Als Annie Besant im Jahr 1907 die Leitung der Theosophischen Gesellschaft Indiens in Madras übernahm, stand diese in der Tradition dieses religiösen Universalismus, der sich explizit gegen die christlichen Überlegenheitsgefühle der Kolonialherrscher wandte.11 Dennoch kreisten Konzeptionen einer spirituellen asiatischen Zivilisation, die in den 1920er und 1930er Jahren entstanden und verbreitet wurden, oft um die indische religiöse Tradition. Viele der einflussreichsten indischen Denker dieser Zeit, Sri Aurobindo Ghose, Rabindranath Tagore, Mohandas Gandhi und Sarvepalli Radhakrishnan betrachteten Indien als Quelle der Spiritualität Asiens und damit der Welt. Obwohl regional zentrierte Asianismen dieser Art auch in und über China vorgebracht wurden, war Indien in den Debatten dominant. Es ist ein Merkmal des kulturellen Asianismus, dass seine universalistischen Elemente dem Nationalismus und seiner Betonung von Souveränität und Machtgleichgewicht zwar prinzipiell widersprach, jedoch oft eine enge Symbiose mit ihm einging. Die asiatische Zivilisation transzendierte in der Theorie nationale Identitäten, in der Praxis diente sie ihnen oft genug.12
11 Van der Veer betont den Zusammenhang von Theosophie und radikalem Antikolonialismus. Siehe van der Veer: Imperial Encounters, 58–64. Siehe zur Spaltung der Theosophischen Bewegung Joscelyn Godwin: The Theosophical Enlightenment, New York 1994, vor allem Kapitel 15. Die politische Rolle der Theosophischen Bewegung in Indien betont auch Mark Bevir: „Theosophy as a political movement“, in: Antony Copley (Hg.): Gurus and their followers. New Religious Reform Movements in Colonial India, Oxford/New York 2000, 159–179. 12 Siehe zum Verhältnis von universaler (extraterritorialer) und nationaler Identität Sugata Bose: A Hundred Horizons. The Indian ocean in the age of global empire, Cambridge, MA/London 2006, 31, sowie Duara: „Discourse of Civilization“, 106–107.
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7.1 Das Genf der Idealisten: Kulturelle Kooperation 7.1.1 Wege der kulturellen Kooperation Im Rahmen einer Europareise traf der Philosoph und Dichter Rabindranath Tagore in Oxford mit dem Politikwissenschaftler Alfred Zimmern zusammen. Das Gespräch fand im August 1930 statt, gut zehn Jahre nachdem der Völkerbund seine Tätigkeit aufgenommen hatte. An den Bedingungen west-östlicher Harmonie interessiert, konfrontierte Tagore seinen Gesprächspartner mit der Frage, ob der Völkerbund über seine politischen Funktionen hinaus auch den „spirit of goodwill among human races“13 fördere. Psychologische Faktoren seien schließlich für harmonische internationale Beziehungen von ebenso großer Bedeutung wie politische Mechanismen. Zimmern antwortete Tagore, indem er auf den kulturellen Auftrag des Völkerbunds verwies. Viele seiner Sektionen seien dem Austausch von Wissen im Bereich der Gesundheit, der Arbeit und anderen kulturellen und gesellschaftlichen Fragen mit internationaler Reichweite gewidmet. „One of the chief achievements of the League“, bekräftigte Zimmern, „has been to broaden our conception of politics, […] to enlarge our conception of international relations to cover practically every sphere of organized public life“.14 Zudem kämen im Völkerbund täglich Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammen und institutionalisierten auf diese Weise die interkulturelle Verständigung. Die beiden Intellektuellen waren sich schließlich einig, dass der Völkerbund nicht an rigide Agenden und diplomatische Konventionen gebunden sein dürfe, sondern eine Plattform für unparteiische Individuen aus aller Welt darstellen müsse, „to come together to create an atmosphere“.15 Auch außerhalb des Völkerbundes, bekräftigte Tagore, könnten sich in Genf „idealists“ über die Zukunft einer kooperativen Weltordnung austauschen; Universaldenker wie H. G. Wells böten sich als Berater des Völkerbundes an.16 Tagore und Zimmern sahen den Völkerbund demnach als Ort, an dem mit Hilfe von Kultur (im Singular) die Beziehungen zwischen Nationen und Kulturen (im Plural) gestärkt werden konnten.
13 Rabindranath Tagore: „The Working of the League of Nations. Being an interview between the Poet and Professor Zimmern“, MR, Bd. 54, Nr. 6 (Dezember 1933), 609–612, hier 609–610. 14 Ebd., 610. 15 Ebd., 612. 16 Tagore selbst, ebenso wie der französische Philosoph, Pazifist und Spiritualist Romain Rolland, wurde an anderer Stelle zu einer solchen „fraternity of international personalities“ gezählt. Vgl. R. G. Pradhan: „The East and the West: A study“, HR, Bd. 52, Nr. 299 (January 1929), 38–42, hier 41.
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Zahlreiche westliche und asiatische Autoren der unterschiedlichsten politischen Orientierung sprachen dem kulturellen Leben einen hohen Stellenwert für die Realisierung einer Friedensordnung zu. Da er das gegenseitige Verständnis förderte, schien der kulturelle Austausch – insbesondere zwischen intellektuellen Eliten – das beste prophylaktische Mittel gegen Eigennutz und Engstirnigkeit auf internationalem Parkett zu sein; wie auf keinem anderen Gebiet des menschlichen Lebens sah man hier die Maxime der gegenseitigen Bereicherung erfüllt.17 Auch war ein Bekenntnis zum kulturellen Austausch in gewisser Weise eine Flucht nach vorn: In dem Maße, wie die Konfrontation verschiedener Kulturen zur Realität einer zusammenwachsenden Welt gehörten, konnte nicht Isolation, sondern nur Verständigung auf gemeinsame Ideale eine Antwort sein.18 Der Völkerbund erfüllte die Funktion der kulturellen Integration nur bedingt. Wie bereits gezeigt wurde, zweifelten viele chinesische und indische Intellektuelle an den Fähigkeiten der internationalen Organisation, die Hierarchien zwischen den Völkern und Nationen zu überwinden. Aus dieser Sicht mangelte es trotz der Bemühungen um mehr internationale Gerechtigkeit immer noch an gemeinsamen Idealen und moralischen Richtlinien.19 Selbst das ICIC war von der Kritik nicht gänzlich ausgenommen. Einerseits nutzten Internationalisten wie Sarvepalli Radhakrishnan und Kalidas Nag die Kanäle der intellektuellen Zusammenarbeit durch den Völkerbund, um ihre internationalen Netzwerke zu erweitern und nationale Interessen zu propagieren; jedoch widersprach andererseits die Tatsache, dass Asien wie in den politischen auch in den kulturellen Einrichtungen des Völkerbundes unterrepräsentiert blieb, dem Selbstbild indischer Intellektueller, die nicht selten in Rammohan Roy oder dem antiken Herrscher Ashoka Vorreiter der internationalen intellektuellen Kooperation zu sehen meinten.20 Vom Vorwurf des Eurozentrismus und nationalstaatlicher Interessenpolitik weniger belastet waren dagegen gesellschaftliche Vereinigungen, die sich dem kulturellen Austausch verschrieben hatten. Die 1926 auf Initiative John 17 Vgl. etwa J. H. Cousins: „Oriental Culture and World Renaissance“, TNO, Bd. 3, Nr. 2 (Juli 1926), 1–15, hier 4. 18 Vgl. Tagores Plädoyer für einen „universal ethical standard“: Rabindranath Tagore: „The New Age“, TWT, Bd. 8, Nr. 11 (November 1925), 340–343. 19 Vgl. Pradhan: „The East and the West“, 40, oder Gangulee: „India and the League of Nations“, 15–20. 20 Siehe Herren: Internationale Organisationen, 81. Vgl. Kalidas Nag: „India and Intellectual cooperation“, IW, Bd. 1, Nr. 7 (Juli 1932), 212–216. Auch den ersten Pazifisten, Buddha, verortet Nag in Indien: Vgl. ders.: „The League of Nations and the world crisis“, IW, Bd. 2, Nr. 3 (März 1933), 248. Ähnlich „Tagore on Internationalism“, IW, Bd. 3, Nr. 5 (Mai 1934), 144–145, sowie Tagore: „Working of the League of Nations“, 610.
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Deweys und Paul Monroes gegründete China Society in New York beispielsweise widmete sich einer großen Bandbreite an kulturellen Fragen, die sich im Kontext der sino-amerikanischen Beziehungen auftaten, lud chinesische Gastredner und sah es als ihre Aufgabe an, die einheimische Bevölkerung über China zu informieren.21 Auch die christlichen Kirchen verstanden sich als Ort der Begegnung zwischen den Kulturen. Ihre Vertreter plädierten dafür, die internationalen Beziehungen auf christlichen Prinzipien aufzubauen, um das Bedürfnis nach einer universalen Ethik zu befriedigen; es brauchte aus dieser Perspektive mehr „statesmen of great heart“22 für die Aufgabe der internationalen Friedensstiftung. Wie keine andere Institution, bekräftigte der amerikanische Missionar Sidney L. Gulick, sei die Kirche in der Lage, Ost und West zu versöhnen. Ein Vierteljahrhundert hatte Gulick ab 1888 in Japan verbracht und die japanische Sprache und Kultur studiert. In seinem Kampf gegen Rassismus und Antijapanismus initiierte er Mitte der 1920er Jahre die Sendung von „Friendship Dolls“ amerikanischer an japanische Kinder. Die weltweit agierende Kirche und die Vielzahl an christlichen internationalen Organisationen galten ihm wie vielen anderen Christen als Inbegriff und Wegbereiter des Internationalismus.23 Die World Alliance of the Young Men’s Christian Associations, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts aus ihren verschiedenen nationalen Teilgruppen hervorgegangen war und ihren Sitz in Genf hatte, verfolgte das Ziel, christliche junge Männer aus allen Weltteilen zusammenzubringen.24 Auf der Führungsebene der Organisation bildeten sich Verbindungen heraus, wie etwa diejenige zwischen S. K. Datta, Generalsekretär des indischen YMCA in Kalkutta, und seinen chinesischen Kollegen in Shanghai. In seiner Korrespondenz zeigte Datta großes Interesse an der christlichen Bewegung in China,
21 Siehe Bieler: ,Patriotsʻ or ,Traitorsʻ?, 236. Vgl. auch Bertold Laufers Beschreibung der New Orient Society of America in Chicago: Berthold Laufer: „Foreword“, in: A. U. Pope/Berthold Laufer/ Quincy Wright/W. E. Clark (Hg.): The New Orient. Vol. 2: The Far East, Chicago 1930, ix–x. 22 T. H. Lee: „Obligations of Christian Students toward the welfare of the Far East“, CR, Bd. 53, Nr. 4 (April 1922), 225–229, hier 228–229. 23 Vgl. Gulick: Winning of the Far East, v, 113. Siehe auch D. A. Metraux: „1st Introduction: The Significance of Sidney Gulick’s 1905 The White Peril in the Far East for the Modern Scholar“, in: Sydney Gulick: The White Peril in the Far East. An Interpretation of the Significance of the RussoJapanese War, hg. v. D. A. Metraux, Lincoln 2003, 1–6. Gulick sprach von der Versöhnung der „Rassen“. „Rasse“ und „Zivilisation“ wurden oft synonym verwendet. Zur rassischen Interpretation des Zivilisationskonzeptes im europäischen Kontext siehe Mazlish: Civilization, Kapitel 3. 24 Die Ziele der World Alliance werden historisch aufgearbeitet in Kjetil Fretheim: „Whose Kingdom? Which Context? Ecumenical and Contextual Theology in the World Alliance of YMCAs“, IRM, Bd. 97, Nr. 384–385 (Januar–April 2008), 116–128, hier 109–121.
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wo man die Unterstützung des indischen Intellektuellen schätzte; man lud Datta zur nationalen Konferenz des chinesischen YMCA 1929 in Hangzhou ein.25 Es waren auch die Universitäten, die aus der Sicht der Internationalisten ein besonders großes Potential für die internationale Kooperation bargen. Bildung war lange vor dem Ersten Weltkrieg zu einem wichtigen Instrument der Friedensbildung erklärt und in die Programme der Friedensbewegungen aufgenommen worden; sie galt zugleich als Voraussetzung und Garant einer weltoffenen Geisteshaltung.26 Wenngleich der Internationalisierung von Bildung klare Grenzen gesetzt waren – auch der Völkerbund anerkannte die Bedeutung nationaler Bildungstraditionen –, wurde ein direkter Zusammenhang zwischen „international citizenship“ und „good education“ hergestellt.27 Dies betraf die Inhalte ebenso wie die Rahmenbedingungen ihrer Vermittlung. Eine intensive Form der Bildungskooperation stellten in diesem Sinne akademische Austauschprogramme dar. Nach Ansicht P. W. Kuos erweiterten sie das Wissen der Studenten und Lehrkräfte über andere Kulturkreise, schufen Freundschaften und vertieften die Erfahrung fremder Kulturen auf persönlicher Ebene. Als Mitglied der China Foundation for the Promotion of Education and Culture setzte sich Kuo für die Gründung des China Institute in America ein, das chinesische Studenten während ihres Aufenthaltes in den USA unterstützen und als Forum des kulturellen Austauschs dienen sollte. Paul Monroe und das International Institute am Teachers College der Columbia University, an dem er selbst promoviert worden war, hatten seiner Ansicht nach einen besonderen Beitrag dazu geleistet, den akademischen Austausch mit asiatischen Ländern voranzubringen und das Selbstverständnis der Wissenschaftler als Vermittler ihrer Kultur zu stärken.28 Wie Paul Monroe in
25 Vgl. Brief von H. H. Kung an S. K. Datta (19. September 1929): S. K. Datta Private Papers, India Office Records, British Library, London: MSS Eur F 178/17. Bei Datta setzte jedoch eine gewisse Ernüchterung hinsichtlich der Arbeit ein, welche das chinesische YMCA in der politischen Umbruchphase, in der sich China befand, zu leisten imstande war. Vgl. „Notes of an account given by Dr. Datta on the tour in India, China and Japan, March 3rd 1930“: S. K. Datta Private Papers, IOR, British Library, London: MSS Eur F 178/18; Brief von S. K. Datta an W. W. Getham (3. Dezember 1929): S. K. Datta Private Papers, IOR, British Library, London: MSS Eur F 178/14; Brief von S. K. Datta an J. R. Mott (20. Juni 1930): S. K. Datta Private Papers, IOR, British Library, London: MSS Eur F 178/17. 26 Siehe hierzu die Ausführungen von Laqua: „Transnational intellectual cooperation“, 237–241. 27 Gilbert Murray zitiert in Robert Sylvester: „Mapping Education: A historical Survey 1893– 1944“, JRIE, Bd. 1, Nr. 1 (September 2002), 90–125, hier 107. Sylvester weist hier jedoch auch darauf hin, dass der Völkerbund wenig praktische Grundlagen für ein internationales Bildungsprogramm legte. 28 P. W. Kuo: „Educational Agencies and Cosmopolitanism. How can the Universities best promote International Understanding and Friendliness?“, CR, Bd. 5, Nr. 2 (August 1923), 36–37, 56–58, hier 36.
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einem Bericht aus dem Jahr 1928 darlegte, kam die Hälfte aller ausländischen Studenten des Instituts, das 1923 mit Finanzmitteln der Rockefeller Foundation gegründet worden war, aus Asien, ein Viertel aus China.29 Stiftungsgelder, missionarische Initiativen und der Boxer Indemnity Fund sorgten dafür, dass sich amerikanische Bildungseinrichtungen zu Zentren der sino-amerikanischen Kulturkooperation entwickelten. In einem Bericht über den Status der „fernöstlichen Studien“ an seiner Universität skizzierte Kenneth Latourette stolz eine Geschichte der Bildungskooperation zwischen Yale und China, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichte.30 Über den akademischen Austausch hinaus verwiesen kulturelle Internationalisten auf die vielfältigen Kanäle der internationalen Beratung über wissenschaftliche und pädagogische Inhalte, wie sie 1923 auf der Weltbildungskonferenz von San Francisco stattfand. Wie Hemendra K. Rakshit, Absolvent der University of Wisconsin, darlegte, nahm die indische Delegation mit der Hoffnung an der Konferenz teil, Bildung zu einer universalen Zivilisierungskraft zu machen, die an Bedeutung auch diejenige der Politik überstieg: „Now let the teachers be the kings and queens of the world, and the world will be the better for it.“31 Rakshit war Teil einer intellektuellen Elite, die sich als kosmopolit verstand.32 Die Universitäten waren ein guter Ort, um eine kosmopolitische Identität zu pflegen, denn die Wissenschaften stellten aus der Sicht der Zeitgenossen die bedeutendste Form eines säkularen Universalismus dar: „One of the functions of a university is to search for truth and truth is truth everywhere and at all times, and is not
29 Vgl. ebd., 37. Vgl. Paul Monroe: „,The Cross-Fertilization of Cultureʻ. The Function of International Education“, IPRNB (Februar 1928), 1–6, hier 6. Eine Initative für „internationale Bildung“ ging zudem vom Institute of International Education aus, das 1919 von Nicholas Butler, Stephen Duggan und Elihu Root in New York gegründet und von der Carnegie Endowment for International Peace finanziert wurde. Auch hier war Paul Monroe für die ostasiatische Sektion zuständig. Vgl. Institute of International Education (Hg.): First Annual Report of the Director, New York 1920. 30 Vgl. K. S. Latourette: „Preliminary report on Far Eastern Studies at Yale. Present status and recommendations for future development, November 1, 1937“: Kenneth Scott Latourette Papers, Yale University Divinity School Library: Group 3, Series IA, IIA, Box 166. 31 H. K. Rakshit: „India and the World“, CSM, Bd. 19, Nr. 7 (Mai 1924), 16–21, hier 21. Rakshit unterstützte B. K. Sarkar bei der Veröffentlichung seines Werkes The Folk-Element in Hindu Culture von 1917. 32 Rakshit war als Student Mitglied der Hindustan Association sowie eines lokalen Zweigs der Cosmopolitan Clubs of America. Zu seinem Werdegang vgl. den biographischen Auszug aus der Oktoberausgabe 1915 der Zeitschrift Hindustanee Student, die er ab Frühjahr 1931 unter dem Titel India. A Quarterly herausgab: „Portrait Photographs of A. M. Gurjar and H. K. Rakshit“, South Asian American Digital Archive [http://www.saadigitalarchive.org/item/20121222–1177, abgerufen am 22.1.14].
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limited by racial or national boundaries“,33 beschrieb P. W. Kuo den universitären „Geist der Kosmopolität“. Forscher aus allen Weltteilen trugen gleichermaßen zum Fortschritt der Wissenschaften bei, die vom internationalen Ideenaustausch und der komparativen Methode nur profitieren konnten. Anders als im Bereich der Politik war in der Welt des Wissens das Ideal der Gleichheit leichter zu realisieren. Wissenschaftler aus asiatischen Ländern waren in der westlichen Welt hoch angesehen und vice versa. Von Wahrheitsliebe schien es nur ein kleiner Schritt zu mehr interkultureller Toleranz und Anerkennung.34 Für die Internationalisierung von Bildungsinhalten nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern gerade auch den Geisteswissenschaften sprachen sich aus diesem Grund auch Irving Babbitt und Arthur Christy, Literaturprofessoren an der Harvard University beziehungsweise der Columbia University, aus. Für die beiden Wissenschaftler hatte die westliche Forschung bisher nur die Oberfläche der chinesischen Kultur berührt. Für Christy, der unter anderem chinesische Dichtung ins Englische übersetzte, konnte das komparative Studium der chinesischen Literatur scheinbare zivilisatorische Gegensätze in eine neue Perspektive rücken.35 Sprach Babbitt von einer weltweiten humanistischen Bewegung, die neo-konfuzianische Elemente aufnehmen könne, so Christy in Anlehnung an die frühneuzeitliche „Republic of Letters“ von der Generierung einer „republic of the mind and spirit which is truly without racial frontiers“.36 Wenngleich, wie ein Beitrag Harley MacNairs erinnert, die Notwendigkeit einer stärkeren wissenschaftlichen Ausrichtung etwa auf China auch aus dessen wachsender weltpolitischer Bedeutung abgeleitet werden konnte37 – für die Mehrheit der Kommentatoren galt die Internationalisierung von Bildung als Weg zu einer kosmopolitischen Weltgesellschaft.
33 Kuo: „Educational Agencies and Cosmopolitanism“, 57. Auch politisch konservativere Autoren hatten großes Vertrauen in die harmonisierende Wirkung der Wissenschaften in den internationalen Beziehungen. Vgl. Spender: Changing East, 23–24. 34 Vgl. etwa Chen Zen: „Summary“, 315–316, sowie ders.: „Science“, 151. 35 A. E. Christy: „On Amerasia and Its Program“, Amerasia, Bd. 1, Nr. 6 (August 1937), 276–279, hier 277. Christy setzte sich auch mit dem Einfluss Asiens auf den amerikanischen Transzendentalismus auseinander. Siehe Arthur Versluis: American Transcendentalism and Asian Religions, New York/Oxford 1993, 10–11. 36 Christy: „On Amerasia“. Vgl. auch Irving Babbitt: „Humanistic Education in China and the West“, CSM, Bd. 17, Nr. 2 (Dezember 1922), 85–91, hier 91. Babbitts Humanismus entwickelte sich im Laufe seines Lebens zu einer „finely wrought reconciliation of East and West“: G. A. Panichas: The Critical Legacy of Irving Babbitt. An Appreciation, Wilmington 1999, 12. 37 Vgl. H. F. MacNair: „Why Americans should study Asiatic Culture“, CWR, Bd. 37, Nr. 6 (Juli 1926), 130–131. Siehe auch M. T. Price: „Harley Farnsworth MacNair (July 22, 1891–June 22, 1947)“, TFEQ, Bd. 8, Nr. 1 (November 1948), 45–63, hier 45.
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7.1.2 Einheit in der Vielfalt: Die Idee der spirituellen Weltgemeinschaft Today, as in any other of his days, [man’s] greatest need is moral reconstruction – a return to Christ or a recourse to our Confucianism. The task is not one of governments, but of peoples; it is not a political undertaking, but a spiritual enterprise. Its realization demands the total cessation of the subordination of moral courage and initiative to our fancied political and economic expediencies. We must, therefore, assure the people of every land of our desire not to exploit but to serve, and that we are citizen of the world first and Englishmen, Japanese or Chinese afterwards. [...] Let us also bear in mind that permanent peace cannot be secured without paying the price, for the question which confronts mankind today is not how much we can get, but how much we can give. It is not the problem as to how far one nation or race can dominate the world, but how willing each is to strive for justice, equality and universal brotherhood. Our vital concern, allow me to repeat, is not where we stand but in what direction we are moving.38
Der eindringliche Appell des chinesischen Intellektuellen Lowe Chuan-hua bündelte die Enttäuschung über die politischen Integrationsbemühungen, die vielen Formen des kulturellen Internationalismus zugrunde lag. Für Lowe, der unter anderem für das chinesische YMCA und die International Famine Relief Commission tätig war, schien nachhaltiger Frieden nicht durch die pragmatische Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen nationalen Partikularinteressen, sondern nur durch mehr Mut zu Idealismus, mehr persönliches Engagement und die Identifikation des Einzelnen mit der Gesamtheit aller Menschen erreichbar. Dass die Welt der souveränen Staaten bald der Vergangenheit angehören würde, davon zeigte sich auch Sarvepalli Radhakrishnan überzeugt, einer der renommiertesten Denker seiner Zeit. Radhakrishnan, der nach einer langen akademischen Karriere in Indien und England 1952 zum ersten Vizepräsidenten und 1962 zum Präsidenten der Republik Indien gewählt werden sollte, anerkannte die politische Unabhängigkeit zwar als Recht einer jeden Nation;39 wie Lowe sah er die Lösung internationaler Konflikte jedoch darin, „provinzielles“ Denken zugunsten eines „Welt-Bewusstseins“ zu überwinden.40 Radhakrishnan und Lowe ging es mit ihrer Forderung nach mehr Kosmopolität darum, dem Frieden Vorschub zu leisten. Einer der einflussreichsten Vertreter dieser Vision in der westlichen Welt, der auch in Asien zu einiger Bekannt-
38 Lowe Chuan-hua: „The Future of East and West“, CSM, Bd. 20, Nr. 5 (März 1925), 47–48, hier 48. 39 Vgl. Radhakrishnan: Eastern Religions, 55. Ähnlich ders.: „Orient and World Peace“, IW, Bd. 2, Nr. 9 (September 1933), 225. Siehe auch Fred Dallmayr: Beyond Orientalism. Essays on Cross-Cultural Encounter, Albany 1996, Kapitel 3. 40 Radhakrishnan: Eastern Religions, vii–viii.
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heit gelangte, war H. G. Wells. In seinem Werk The Way to World Peace von 1930 unterteilte er den Pazifismus in zwei Schulen: eine Internationale und eine Kosmopolitische Schule. Die Internationale Schule, erklärte Wells, basiere auf dem Glauben, dass Staaten „innate and incurable divisions of our species“ darstellten, weshalb sie ihre Bemühungen um den Weltfrieden auf Verträgen zwischen diesen Einheiten aufbaue; die Kosmopolitische Schule dagegen betrachte den Weltfrieden nicht „as an arrangement between states but as a greater human solidarity overriding states“.41 Obwohl Letztere den Menschen größere mentale Anstrengung abverlange, befinde sie sich im Einklang mit der kontinuierlichen Entwicklung des menschlichen Lebens zur Einheit. Wells leitete sein Ideal der Weltgemeinschaft aus den politischen Realitäten ab. Wer dem Krieg und damit auch der Möglichkeit abschwöre, die Einheit mittels Hegemonie eines einzelnen Staates herbeizuführen, dem blieb ihm zufolge keine andere Wahl, als diese durch „amalgamations, unions, coalescences and world controls“ herbeizuführen: „Suppose we swallow our patriotism“, lautete sein Vorschlag, „accept the horrid idea of sharing our government with foreigners and head for the World State“.42 Der Weltstaat war für Wells gleichbedeutend mit „Cosmopolis“ – einem Zustand der weltweit geteilten Kontrolle aller menschlichen Angelegenheiten. In einem Gespräch mit Rabindranath Tagore, mit dem er 1930 in Genf zusammentraf, philosophierte er über die Entwicklung der modernen Zivilisation zur Uniformität. „Calcutta, Bombay, Hongkong, and other cities are more or less alike“, beschrieb Tagore diese Tendenz, „wearing big masks which represent no country in particular“.43 Wells antwortete: „Yet don’t you think this very fact is an indication that we are reaching out for a new world-wide human order which refuses to be localized?“44 Konnte das Individuum nach Ansicht der beiden Intellektuellen nur in einer universalen Zivilisation zu seiner ganzen Erfüllung gelangen, so durfte es dieser Universalität auch nicht geopfert werden. Kulturelle Vielfalt und zivilisatorische Einheit widersprachen sich aus dieser Perspektive nicht. „Our individual physiognomy need not be the same“, so Tagore. „Let the mind be universal.“45 Die Realisierung der menschlichen Einheit im Geist war ein oft wiederholtes Thema dieser Zeit. In New York gab John H. Randall Jr., Professor für Philosophie an der Columbia University, die Zeitschrift World Unity heraus. Der Titel 41 H. G. Wells: Way to World Peace, London 1930, 11–12. 42 Ebd. Vgl. auch ebd., 19. 43 „Three Conversations: Tagore talks with Einstein, with Rolland and with Wells“, Asia, Bd. 31, Nr. 3 (März 1931), 139–143, 196–197, hier 143. 44 Ebd. 45 Ebd.
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war Programm. Man strebte danach, diejenigen Veränderungen im gegenwärtigen Denken – speziell in Philosophie, Wissenschaft, Religion, Ethik und den Künsten – festzuhalten und zu interpretieren, „which mark the trend toward worldwide understanding and a humanized civilization able to release the finer aspirations of mankind“.46 In einem mehrteiligen Artikel erklärte Randall, was unter dem Ideal der Welteinheit zu verstehen war, indem er die desintegrativen den integrativen Weltkräften gegenüberstellte. Neben Nationalismus und Imperialismus hatten seiner Meinung nach auch das Klassenbewusstsein und religiöses Sektierertum dazu beigetragen, die Kluft zwischen den Menschen in Form von Abschottung, Intoleranz und Vorurteilen zu vergrößern.47 Wie kein anderes Ereignis habe der Erste Weltkrieg diese Kräfte entblößt und gleichzeitig den Weg frei gemacht für ihre Umkehrung im 20. Jahrhundert: dem „new age“ der weltweiten Kooperation und Bruderschaft.48 Als einende Weltkräfte identifizierte Randall, der in jungen Jahren von der Lehre John Deweys stark beeinflusst worden war, neben der Kriegsmüdigkeit die wachsende wirtschaftliche Interdependenz, das Zusammenwachsen des kulturellen Lebens aller Völker sowie Wissenschaften und Technologie.49 Das Organisationsprinzip, das seiner Idee einer geeinten Welt zugrunde lag und das sich auch im Gespräch zwischen Wells und Tagore herauskristallisierte, war das der Einheit in der Vielfalt: [A] unity that exists, not in spite of differences but even because of them, a unity that goes deeper than all differences, that respects them all and includes them all, a unity that creates a new synthesis of the best and truest in the lives of all peoples, that does not destroy the distinctive contributions which different races and nations have made to the common life of the world, but, rather, seeks to preserve these differences and blend them into one living Whole.50
46 Absichtserklärung in WU, Bd. 1, Nr. 4 (Januar 1928). 47 Vgl. J. H. Randall: „The Ideal of World Unity. I – Forces making for disunity“, WU, Bd. 1, Nr. 1 (Oktober 1927), 3–12, hier 7–12. Zum Werdegang Randalls siehe den Nachruf seiner Kollegen: P. O. Kristeller/Ernest Nagel/Fritz Stern/James Gutmann/R. H. Popkin: „John Herman Randall, Jr.: In Memoriam“, JHI, Bd. 42, Nr. 3 (Juli–September 1981), 489–501. 48 Vgl. Randall: „The Ideal of World Unity I“, 5. Der Begriff des „New Age“ bezeichnet eine ganze Reihe von spirituellen Bewegungen und Denkrichtungen, die vom 19. Jahrhundert bis in die neueste Zeit reichen. Siehe Paul Heelas: The New Age Movement: The Celebration of the Self and the Sacralization of Modernity, Oxford/Cambridge, MA 1996. 49 J. H. Randall: „The Ideal of World Unity. II – Forces Making for Unity“, WU, Bd. 1, Nr. 2 (November 1927), 75–82. 50 Randall: „The Ideal of World Unity I“, 6. Ähnlich auch D. G. Mukerji: „A Spiritual Basis for World Unity. A Hindu point of view“, WU, Bd. 1, Nr. 3 (Dezember 1927), 158–164.
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Randall erklärte, dass die spirituelle Einheit nicht durch einen extrinsischen Mechanismus, sondern nur durch eine Bewusstseinserweiterung zu erreichen war, die wiederum auf wachsendem Wissen über das Eigene und Fremde basierte.51 Gleichzeitig musste sie im Einklang mit den Weltreligionen vonstattengehen. In seinem Werk India, America and World Brotherhood (1924) legte Jabez Sunderland seine Vision einer universalen Bruderschaft aller Menschen dar. Die wichtigste Bedingung für deren Realisierung war seiner Ansicht nach die religiöse Toleranz: „The world needs religions that appreciate one another’s excellences, that are quick to find grounds of unity; that are eager to co-operate.“52 Hass werde dann unmöglich, Konflikte würden schwinden und die Bruderschaft – das „Kingdom of Heaven“ – werde schließlich Wirklichkeit. Sunderlands integrative Vision unterschied sich prinzipiell von derjenigen vieler christlicher Internationalisten wie etwa des britischen Autors Basil Mathews, der im Christentum die Basis für die spirituelle Weltgemeinschaft sah. In seinen Werken stellte Mathews Fragen der internationalen Beziehungen in den Kontext der christlichen Weltgemeinschaft. Auch er propagierte die freie Zirkulation von Ideen zwischen den Kulturen. In einem Vortrag im Londoner IIA machte er jedoch deutlich, dass er christliche Institutionen und den christlichen Gerechtigkeitssinn als wirksamste Quellen eines Gemeinschaftsgefühls zwischen den Menschen ansah. Zwar könne die Kirche keine Blaupausen für eine gerechte Weltordnung liefern, jedoch wirke ihre moralische Kraft durch die Menschen.53 Die Weltgemeinschaft, die es zu verwirklichen galt, war das Resultat der inneren Erkenntnis, dass alle Menschen ihrem Wesen nach gleich waren.54 Zugleich wurde diese spirituelle Einheit der Menschheit nicht als das Resultat einer kulturellen Homogenisierung gedacht, sondern im Gegenteil einer Synthese aus verschiedenen kulturellen Elementen in einer „Welt-Kultur“.
51 Universitäten und andere Einrichtungen der Wissensbildung und -verbreitung ebneten aus dieser Sicht nicht allein der internationalen Verständigung den Weg, sondern auch der spirituellen Weltgemeinschaft. Vgl. F. S. Marvin: „The Century of Hope“, WU, Bd. 1, Nr. 2 (November 1927), 74. 52 J. T. Sunderland: India, America and World Brotherhood, Madras 1924, 292. 53 Vgl. Mathews: World Tides, 24. Verfüge der Völkerbund über Informationen und Mittel, um die Weltgemeinschaft zu realisieren, so mangle es ihm doch an der Vision und dem Willen der christlichen Kirche. Vgl. ders.: „The Spiritual and Social Basis of World Community“ (16. Januar 1939), Royal Institute of International Affairs Meeting Papers, Chatham House, London: RIIA 8/574. Sowie ders.: Shaping the Future. A Study in World Revolution, London 1936. 54 Vgl. etwa Sudhindra Bose: „When East meets West“, MR, Bd. 36, Nr. 1 (Juli 1924), 87, und W. R. Shepherd: Leitartikel, WU, Bd. 1, Nr. 1 (Oktober 1927), 2.
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7.1.3 Zwei Teile eines Ganzen: „East and West seeks perfect life“ Im geographischen Raum wurde diese Weltkultur insbesondere als Kombination aus „Ost“ und „West“ oder „Orient“ und „Okzident“ gedacht. Kulturelle Internationalisten machten sich gezielt daran, tradierte Vorstellungen zivilisatorischer Verschiedenheit und Hierarchie zu entkräften. Für Intellektuelle wie etwa Sudh indra Bose, die ihr Leben zwischen dem östlichen und westlichen Kulturkreis aufteilten und kulturelle Einflüsse aus beiden Welten in sich aufnahmen, war die Vorstellung eines unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen materiellem Westen und spirituellem Osten schon allein aus persönlicher Erfahrung untragbar. Der in Bengalen geborene Wissenschaftler lehrte viele Jahre an der Universität von Iowa Politologie, mit einem Fokus auf den politischen Beziehungen und Strukturen Asiens, und bezeichnete sich selbst als Wahlamerikaner. Um die Probleme in den internationalen Beziehungen zu lösen, erklärte Bose in einer Rede im Kunstinstitut von Chicago im September 1919, müsse das Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass die Länder Asiens und Euro-Amerikas Partner darstellten. Obwohl er dabei weniger eine spirituelle Gemeinschaft als eine politische „federation of states“ im Sinn hatte, anerkannte er die Bedeutung kultureller Deutungsmuster für die Politik. Es müsse verstanden werden, betonte er mit Nachdruck, dass es keinen fundamentalen Unterschied gebe zwischen den Menschen in Ost und West, dass alle mit den gleichen Fähigkeiten und den gleichen Fehlern ausgestattet seien. Bose folgte mit dieser Meinung Rabindranath Tagore, den er bewunderte.55 Die ablehnende Haltung vieler Internationalisten gegenüber Formen der Essentialisierung, Dichotomisierung und Hierarchisierung von Kulturen bedeutete nicht, kulturelle Unterschiede als solche zu negieren. Dass diese Unterschiede im kulturellen Leben – in seinem weitesten Sinn – der Nationen und Völker Euro-Amerikas und Asiens existierten, war offensichtlich und mussten also Chance begriffen werden. Für die Visionäre einer Weltgemeinschaft war ein globaler Transformationsprozess am Werk, der nicht nur die geographischen, sondern auch die spirituellen Grenzen zwischen Ost und West durchlässig und damit den Weg für völlig neue kulturelle Manifestationen frei machte.56 Auf der 55 Sudhindra Bose: „The World’s Debt to India“, MR, Bd. 27, Nr. 5 (Mai 1920), 513–519, hier 518– 519. Vgl. ders.: „When East meets West“. Bose bezeichnete Tagore als „greatest living voice of India“. Vgl. ebd. Wie viele andere Intellektuelle dieser Zeit brachte auch Tagore das Argument von der Spiritualität der modernen Wissenschaften an, die auch den Menschen in westlichen Ländern ein größtes Maß an Hingabe und Selbstaufopferung abverlange. Vgl. Rabindranath Tagore: „East and West seeks perfect life“, CD, Bd. 21, Nr. 262 (Dezember 1931), 31. 56 Vgl. Basil Mathews: „Prologue: There is Confusion“, in: ders. (Hg.): East and West. Conflict or co-operation?, Freeport 1936, 15–32, hier 26. Vgl. auch Swami Adwaitananda: „Asia’s Future“, MR, Bd. 38, Nr. 2 (August 1925), 179–180.
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Grundlage dieses Deutungsmusters sah etwa der singhalesische Autor Curruppumullage Jinarajadasa, der in Europa studiert und sich dem indischen Zweig der theosophischen Bewegung angeschlossen hatte, die west-östliche Einheit in einem neuen „Ideal der Weltbürgerschaft“ verwirklicht. In seinem Werk The Meeting of the East and the West (1921)57 legte er dar, dass weder die europäische Rechtstradition noch das im asiatischen Kulturkreis besonders verankerte soziale Pflichtbewusstsein die Rolle des Menschen in der Welt vollständig erfasse. Nur die kombinierte Kraft aller religiösen Traditionen aus Ost und West könne dem Individuum dazu verhelfen, diese Konzeptionen von Pflicht und Recht zu transzendieren und die Welt als direktes Ergebnis seines Tuns zu begreifen.58 Die Idee, dass die zukünftige Weltgemeinschaft auf einer gegenseitigen Bereicherung der Kulturen in Ost und West beruhte, war in beiden Erdteilen weit verbreitet. William Shepherd widmete der Geschichte der kulturellen Interaktion zwischen Europa und Asien einen mehrteiligen Artikel für World Unity. Er kam dabei zu dem Schluss, dass die Verflechtung beider Welten über die Jahrhunderte so große Ausmaße angenommen hatte, dass zwangsläufig beide zum Fortschritt der Menschheit – also dem Prozess ihrer Vereinheitlichung – beitragen mussten.59 Das Wissen um ihre historische Verflechtung öffnete Shepherd zufolge die Augen für die Gleichwertigkeit der Kulturen in Ost und West. Wie Bose, Sunderland, Jinarajadasa und andere kulturelle Internationalisten war er davon überzeugt, dass für den kulturellen Austausch, auf dem die Weltgemeinschaft vor allem basierte, in erster Linie zivilisatorische Überlegenheitsgefühle überwunden werden mussten. William Shepherd lehrte Geschichte an der New Yorker Columbia University, Jabez Sunderland war hier für die Indian Home Rule League aktiv. Wie Genf stellte New York ein Zentrum für Visionäre einer west-östlichen Weltzivilisation dar. Neben World Unity erschien hier auch das zweimonatliche Magazin The New Orient als Organ der Orient Society. Gegründet 1922, verstand sich die Organisation explizit als Vermittlerin zwischen Euro-Amerika und Asien. „In a world torn by dissensions and sundered by divisions“, bekräftigte der indische Journalist und Orientwissenschaftler Syud Hossain, der das Magazin seit Mai 1924 herausgab,
57 Der Titel seines Werkes bezog sich auf die vielzitierte erste Strophe des Gedichtes Ballad of East and West (1889) des britischen Schriftstellers Rudyard Kipling: „Oh, East is East and West is West and never the twain shall meet“. 58 Curruppumullage Jinarajadasa: The Meeting of the East and the West, Madras 1921, v. a. 9–11. 59 W. R. Shepherd: „The Interaction of Europe and Asia. VI – Two strong men stand face to face“, WU, Bd. 2, Nr. 2 (Mai 1928), 103–119, hier 119.
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this magazine has sought to serve the ideal of true internationalism by bringing the East and West together in intellectual and spiritual comradeship. […] When Tagore from the East and Romain Rolland from the West unite to acclaim a publication there must be something radically right about it!60
Man war stolz auf die illustre Runde der Intellektuellen, die zu seinen Beiträgern zählten: Neben Tagore und Rolland fanden sich in The New Orient unter anderem Artikel von Charles Andrews, John Dewey, Mohandas Gandhi, Annie Besant, John Holmes, Paul Monroe, H. G. Wells, T. L. Vaswani, Aurobindo Ghose, Bertrand Russell, Paul Richard und Rudolf Steiner. Alle diese Autoren hatten sich der Vision verschrieben, östliche und westliche Kultur in einen neuen Zusammenhang zu bringen. Verschiedene Synthesekonzepte wurden vorgebracht, in Form einer Verbindung von westlichem „Willen“ und östlichem „Denken“,61 von westlicher „Selbstbehauptung“ und östlicher „Selbstverleugnung“,62 von „weiblichem Osten“ und „männlichem Westen“: The East needs a man to help her to bear the burden of managing human affairs: the West needs a woman to give him a home and spiritual companionship. The East needs the bugle call to action. The West needs a temple bell to rest. It is only through such a marriage with the East, that the West can taste the real sweetness of security and peace. It is only through such a marriage with the West, that the East can face her struggle. It is only through such a marriage that each can find a happier life and a better road toward true and lasting civilization.63
Auf der Suche nach Wegen zu einer geeinten Menschheit, so wird hier deutlich, wurden nicht selten jene kulturellen Stereotypen und Essentialisierungen verstärkt, die es im Sinne einer gesamtmenschheitlichen Perspektive zu überwinden galt. Die Diskussion über die Notwendigkeit und die Bedingungen einer stärker am kulturellen Leben orientierten Weltordnung stellte die idealistischste Strömung des Internationalismus der Zwischenkriegszeit dar – idealistisch im Sinn einer norm- und wertorientierten Weltsicht. Was aus der Sicht einiger Analysten
60 Syed Hossain: Leitartikel, TNO, Bd. 2, Nr. 3 (Mai/Juni 1924), 95–96, hier 95. Der Titel der Zeitschrift wurde ab Band 2 von Orient in The New Orient geändert. 61 Vgl. Rudolf Steiner: „The mystic Orient“, TNO, Bd. 1, Nr. 3 (August/September 1923), 36–39. 62 M. T. Yamamoto: „Orient and Occident“, TNO, Bd. 1, Nr. 2 (April/Mai 1923), 31. 63 C. H. Chu: „When the Twain shall meet“, TNO, Bd. 2, Nr. 2 (Oktober–Dezember 1924), 7–16, hier 16. Ost und West waren dem Autor zufolge nicht nach geographischen, rassenbiologischen, religiösen oder politischen Kriterien zu definieren, sondern als eine Geisteshaltung. Vgl. ebd., 8.
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der internationalen Beziehungen bereits als unrealistisch galt, nämlich die Nationen im Völkerbund zu organisieren und hierfür zumindest teilweise das Souveränitätsprinzip außer Kraft zu setzen, ging den kulturellen Internationalisten nicht weit genug. Den mangelnden Erfolg des Völkerbundes führten sie nicht etwa auf machtpolitische Faktoren zurück, sondern schlicht darauf, dass Konflikte zwischen Völkern und Nationen nicht allein durch politische und wirtschaftliche Kooperation zu lösen waren. Das Verständnis des Einzelnen für andere Kulturen schien vielmehr die Grundlage für harmonische internationale Beziehungen zu sein. Nicht Strukturen, sondern den Menschen stellten sie ins Zentrum ihrer Weltordnungsvorstellungen. In Einrichtungen wie den christlichen Kirchen und Universitäten sah man Orte, an denen Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen zusammentrafen, ihr Wissen teilten, Freundschaften pflegten, Vorurteile überwanden. Es waren einerseits Orte, an denen die Weltgeltung Indiens und Chinas verhandelt wurde: Mehr als auf politischer Ebene eröffneten sich hier zahlreiche Einflussmöglichkeiten für indische und chinesische Intellektuelle, hier wurden sie als gleichwertige Mitglieder der internationalen Gesellschaft anerkannt. Zum anderen kamen an diesen Orten Menschen zusammen, um gemeinsame Werte und Identitäten zu definieren. War die globale Interdependenz Ausgangspunkt für viele Entwürfe politischer und wirtschaftlicher Kooperation, so fand sich im Ideal einer kosmopolitischen Mentalität die zentrale Maxime der kulturellen Internationalisten. In der Vorstellung H. G. Wells’, Tagores und vieler anderer westlicher und asiatischer Intellektueller diente die interkulturelle Verständigung nicht nur dem Ziel, die internationalen Beziehungen zu harmonisieren, sondern nationale und kulturelle Grenzen letztlich zu überwinden. Die spirituelle Weltgemeinschaft zu realisieren bedeutete, das Bewusstsein des Einzelnen für die wesenhafte Einheit der Menschheit zu schärfen und ihre verschiedenen kulturellen Manifestationen in einen synthetischen Zusammenhang zu bringen. Für die Propagandisten einer „Weltkultur“ oder „Weltzivilisation“ markierten Ost und West geographisch wie kulturell zwei Teile eines Ganzen: Ihre unterschiedlichen kulturellen Zuschreibungen – insbesondere die der Spiritualität und Materialität – wurden stets mitgedacht. Die Vorstellung einer synthetischen Weltgemeinschaft bedingte gleichsam die Annahme von These und Antithese. Jedoch, so zeigt eine genaue Analyse verschiedener Konzepte einer spirituellen Weltordnung, waren These und Antithese selten gleich gewichtet: Weniger von Europa, das sich im Ersten Weltkrieg beinahe selbst zerstört hätte, als von Asien und seiner angenommenen spirituellen Stärke schienen die entscheidenden Impulse für die zukünftige Weltzivilisation auszugehen. Die Autoren für World Unity und The New Orient waren mehrheitlich der Meinung, dass sich östliche und westliche Welt durch kulturellen Austausch zwar gegenseitig bereicherten, dass es jedoch vor allem an der westlichen Welt war, von Asien zu lernen. Nicht
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zufällig waren einige der berühmtesten Autoren der Zeitschriften Vertreter einer Weltsicht, die Asien ins Zentrum einer neuen kulturellen Weltordnung stellte.
7.2 „Asien als Erzieher“: Kulturelle Asianismen Die Vorstellung einer „asiatischen Zivilisation“ gewann in dem Maße an Wirkkraft, wie die „westliche Zivilisation“ im Zuge des Ersten Weltkriegs mit einer Fundamentalkritik konfrontiert wurde.64 Oswald Spengler – „the chief prophet of pessimism“65, wie er in der New Yorker Zeitschrift The Forum genannt wurde – trug maßgeblich dazu bei, eine transnationale Debatte über die Bedeutung und den Ort von „Zivilisation“ zu entfachen.66 Zahlreiche asiatische – und auch einige westliche – Denker kamen zu dem Schluss, dass sich die zukünftige Rolle Indiens und Chinas in der Welt nicht an westlichen Ordnungsvorstellungen orientieren musste. Der prominenteste und international am deutlichsten wahrgenommene indische Kritiker des Westens war in der Zwischenkriegszeit zweifelsohne Mohandas Gandhi. Gandhi stellte nicht nur den kulturellen Führungsanspruch der westlichen Welt in Frage, sondern den Status ihrer Zivilisiertheit per se. „It is a civilisation only in name“, schrieb Gandhi bereits 1909 in Hind Swaraj. „Under it the nations of Europe are becoming degraded and ruined day by day.“67 Seine Zivilisationskritik verband Gandhi mit der politischen Forderung nach Unabhängigkeit für Indien. Letztere war aus seiner Sicht die Voraussetzung dafür, dass sich Indien wie auch das restliche Asien vom Materialismus des Westens abwenden konnte. Wenngleich er die kulturelle Kooperation befürwortete, priorisierte er in
64 „Die Formulierung „Asien als Erzieher“ stammt von dem deutschen Schriftsteller Paul Cohen-Portheim, dessen gleichnamiges Werk 1920 in Leipzig erschien. Unter dem Titel The Message of Asia wurde die englische Übersetzung 1934 in New York veröffentlicht. 65 „Is the West decaying? A Debate“, The Forum, Bd. 81, Nr. 6 (Juni 1929), 354–363, hier 354. Der indische Journalist V. B. Metta legte hier eine ausführliche Kritik der westlichen Zivilisation dar, während die Gegendarstellung von Seiten des britischen Journalisten G. K. Chesterton erfolgte. 66 „What is civilization?“ lautete die symptomatische Ausgangsfrage in einem Artikel des Spiritualisten Swami Pramananda. Vgl. „Civilization and Spiritualization“, MR, Bd. 37, Nr. 5 (Mai 1925), 576. 67 Gandhi: Hind Swaraj, 33. Gandhi verstand Hind Swaraj als Kritik an der „modernen Zivilisation“. Vgl. ders.: „Hind Swaraj or the Indian Home Rule. Reply to Critics“, in: ders.: Indian Home Rule, Madras 1924, 5–8, hier 6. Vgl. auch ders.: „Travesty of Civilization“ (Young India, 21. Juli 1921), in: Collected Works of Mahatma Gandhi, Bd. 20, Ahmedabad 1966, 413. In diesem Sinne äußerte sich auch Surendranath Tagore: „Thoughts on the present situation“, VBQ, Bd. 2, Nr. 2 (Juli 1924), 183–195.
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der Tradition Mazzinis nationale gegenüber internationalen Zielen.68 Nicht er, sondern Rabindranath Tagore, der sich von Gandhis politischem Aktionismus abwandte, avancierte zum Aushängeschild der „asiatischen Zivilisation“. Wenngleich es ihm nicht primär darum ging, die asiatische Identität im Kampf gegen den Imperialismus nutzbar zu machen, schlug sich jedoch auch in den Einheitskonzepten Tagores und anderer Internationalisten dieser Zeit die nationale Identität deutlich nieder.
7.2.1 Indien, Asien und die Welt: Die Mission Rabindranath Tagores Rabindranath Tagore erlangte Weltruhm, als ihm 1913 für seinen Gedichtband Gitanjali der Literaturnobelpreis verliehen wurde. In seiner Heimat Bengalen jedoch blieb er bis zu seinem Tod eine polarisierende Figur des öffentlichen Lebens: einerseits als große Stimme Indiens verehrt, andererseits als unpatriotisch geschmäht.69 In der unterschiedlichen Rezeption durch seine Zeitgenossen spiegelte sich nicht nur die ambivalente Persönlichkeit Tagores wider, sondern auch die Vielschichtigkeit des bengalischen intellektuellen Erbes. Als Ort des ersten Kontaktes mit den späteren britischen Kolonialherren war Bengalen Einfallstor für westliche Einflüsse und Wiege des indischen Nationalismus; zugleich war seine Hauptstadt Kalkutta Teil eines wirtschaftlichen und intellektuellen Netzwerkes von kolonialen Hafenstädten, das den Ideenaustausch über den Indischen Ozean begünstigte.70 Tagore wuchs im Geist der Bengalischen Renaissance auf – jener intellektuellen Reformbewegung, welche die nationale Identität Indiens auf einer Erneuerung seines kulturellen Erbes aufzubauen suchte und dabei insbesondere auf westliches Ideengut zurückgriff.71 Als Universalist glaubte Tagore an die Möglichkeit, ausgesuchte Kulturelemente aus Ost und West verbinden zu können, als Patriot an die Pflicht, das kulturelle Erbe Indiens insbesondere angesichts eines sich rasch ausbreitenden westlichen Nationalismus zu
68 Vgl. etwa Gandhi: Hind Swaraj, 36–38, sowie ders.: „Terrible Civilization of the West“ (Indian Opinion, 2. April 1910), in: Collected Works of Mahatma Gandhi, Bd. 10, Ahmedabad 1963, 202. Siehe auch Carolien Stolte/Harald Fischer-Tiné: „Imagining Asia in India: Nationalism and Internationalism (ca. 1905–1940)“, CSSH, Bd. 54, Nr. 1 (2012), 65–92, hier 80, sowie De Donno: „Gandhian Mazzini“, 395. 69 Siehe Dutta/Robinson: Rabindranath Tagore, 1. 70 Siehe Frost: „Tagore Circle“, 252. So beschrieben auch in Pankaj Mishra: Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens, Frankfurt 2013, 275. 71 Subrata Dasgupta sieht in Tagore die größte Figur der Bengalischen Renaissance. Siehe Dasgupta: Awakening, 431–450.
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bewahren; wie sich zeigen sollte, gelang es ihm mit beiden Standpunkten nicht, die politische Stimmung einzufangen.72 Als sozialer Reformer fand Tagore zumindest für sich selbst einen Weg, universalistische und partikularistische Überzeugungen in Einklang zu bringen. Bereits 1901 hatte er in Santiniketan, dem Landsitz der Tagore-Familie in Westbengalen, eine Schule für Jungen gegründet, mit der er sich vom britischen Bildungssystem emanzipierte. Überzeugt von der Notwendigkeit für mehr kulturellen Internationalismus, widmete er sich seit etwa 1916 und bis zu seinem Tod 1941 der Aufgabe, die Schule zur „internationalen Universität“ auszuweiten.73 Der mehrdeutige Name, den Tagore für die neue Einrichtung wählte, Visva Bharati, symbolisierte die Vielschichtigkeit des Unterfangens: Übersetzt aus dem Sanskrit, stand er nicht nur für „universales Lernen und Kultur“, sondern transportierte zudem die Bedeutungen „ganz Indien“ sowie „Indien und die Welt“.74 In Visva Bharati sollte Tagore zufolge der Grundstein für eine geläuterte Menschheit fernab des Chauvinismus und der Selbstsucht gelegt werden.75 Tagore ging in Santiniketan zwei Wege: Hier sollte zum einen das Wissen über andere Kulturen zusammengetragen, zum anderen ein Zentrum für das Studium der indischen Kultur geschaffen werden. Unter diesen Gesichtspunkten entstanden in der Gründungsphase drei Institute: Die Institute für freie Künste und Musik sowie das Institut für Indologie, das einen Schwerpunkt unter anderem auf das Studium der buddhistischen Literatur und des Sanskrit legte.76 Bevor Indien den Schritt des vergleichenden Studiums anderer Kulturen und der kulturellen Kooperation gehen konnte, so lautete Tagores bildungstheoretische Maxime, musste es die eigenen kulturellen Ressourcen mobilisieren und die verschiedenen Einflüsse aus allen Teilen Indiens synthetisieren. Aus diesem gesammelten Wissen resultiere dann die Pflicht, den Rest der Welt an diesen Kulturschätzen teilhaben zu lassen: „Our wealth is truly proved by our ability to give, and Visva-bharati is to prove this on behalf of India.“77 Diesem kulturellen Sendungsbewusstsein lag die Überzeugung von der Erlösungsbedürftigkeit der Menschheit zugrunde. Wahres Glück und innerer Frieden konnten insbesondere
72 Siehe Dutta/Robinson: Rabindranath Tagore, 1–2. 73 Vgl. ebd., 133–140. Zu den Rahmenbedingungen der Gründung Visva Bharatis vgl. ebd., 219–236. 74 Diese dreifache Interpretation betont Stephen Hay in seinem Standardwerk über den Asianismus Tagores. Siehe Hay: Asian Ideas of East and West, 127–128. 75 Vgl. „Visva-Bharati“, VBQ, Bd. 1, Nr. 1 (April 1923), 1–4, hier 2. 76 Siehe Dutta/Robinson: Rabindranath Tagore, 222–223. 77 „Visva-Bharati“, 3. Vgl. Rabindranath Tagore: The Centre of Indian Culture, Madras 1921, 36, 46–48.
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die „Kinder des Westens“ – wie Tagore es formulierte – nur dann erfahren, wenn sie den „Geist des Brahma“ kultivierten. If ever that time comes, – if the western world does not meet its catastrophic end under the trampling trade of contending commerce and politics, of monstrous greed and hatred, – then the world will owe its gratitude to the Brahmins for the faith in the infinite of the human spirit […].78
Die Spiritualität als Quelle der Erlösung lag demnach in Indien über die Jahrhunderte bewahrt. Das Land avancierte zum Erzieher des in seiner spirituellen Bildung auf der niederen Entwicklungsstufe eines Kindes verharrenden Westens. Tagore zufolge hatte Indiens spiritueller Reichtum seinen Höhepunkt im Zeitalter Gautama Buddhas erlebt, als sich der Buddhismus und mit ihm die Wurzeln der indischen Kultur über ganz Asien auszubreiten begannen.79 Indien und die übrigen Länder des asiatischen Kontinents verschmolzen in der Vorstellung des Dichters zu einem untrennbaren Ganzen. Asien befand sich im Prozess der Spiritualisierung und Vereinheitlichung, den es in der Zukunft für die gesamte Menschheit zu realisieren galt, gleichsam in einem fortgeschrittenen Stadium. Mit dem japanischen Vordenker des Panasianismus, Okakura Kakuzo, dem Autor der einflussreichen Abhandlung Ideals of the East, war Tagore freundschaftlich verbunden, seit jener 1901 längere Zeit in Indien verbracht und das Konzept der asiatischen Zivilisation mit indischen Intellektuellen diskutiert hatte.80 Die Idee von der wesenhaften Einheit Asiens, die Okakura berühmt gemacht hatte, zieht sich durch das gesamte kulturphilosophische Werk Tagores und inspirierte seine zahlreichen Reisen durch Asien, Europa und Amerika, wo er als Botschafter Asiens auftrat.81 In einer Diskussionsrunde in Teheran erklärte der Poet, Europa habe seine historische Bedeutung und Stärke aus der Fähigkeit bezogen, eine kontinentale Kultur zu generieren, zu der alle seine Völker gleichermaßen „their best gifts“ beisteuerten.82 Während in der jüngsten Vergangenheit kulturelle Isolation das Verhältnis zwischen den Völkern Asiens geprägt und auch den N iedergang
78 „A Vision of India’s history“, VBQ, Bd. 1, Nr. 1 (April 1923), 5–31, hier 30. 79 Vgl. Rabindranath Tagore: Creative Unity, London 1922, 137. 80 Auch westliche Spiritualisten wie Margaret Noble (Sister Nivedita), welche die Einleitung zu Okakuras Werk beisteuerte, nahmen hier Einfluss auf sein Denken. Siehe Frost: „Tagore Circle“, 255–256. Dem Verhältnis zwischen Tagore und Okakura widmet sich ausführlich Bharucha: An other Asia. 81 Einen sehr guten Überblick über den Asianismus Tagores geben Stolte/Fischer-Tiné: „Imag ining Asia“, 65–92. Tagore selbst war von Swami Vivekananda beeinflusst, der die Idee eines geeinten spirituellen Asiens bereits Ende des 19. Jahrhunderts verbreitet hatte. Siehe ebd., 69. 82 Vgl. Rabindranath Tagore: „Unity of Asia: A symposium“, IW, Bd. 1, Nr. 7 (Juli 1932), 145–152.
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Indiens in Aberglaube und Sektierertum mitverursacht habe, müssten nun das buddhistische Zeitalter des indischen Großmuts wiederbelebt und die alten kulturellen Verbindungen in Asien gestärkt werden.83 Als zentralen Baustein der Einheit Asiens identifizierte Tagore die Freundschaft und Kooperation zwischen Indien, Japan und China. In seiner selbstauf erlegten Mission, in den beiden ostasiatischen Ländern die Idee der spirituellen Einheit Asiens zu verbreiten, unternahm er zwischen 1916 und 1929 drei Vortragsreisen nach Japan sowie 1924 eine Reise nach China. Der Umstand, dass ihm 1913 der Nobelpreis für Literatur verliehen worden war, öffnete Tagore zwar viele Türen – er wurde sowohl in Japan als auch in China als Ehrengast empfangen –, garantierte aber nicht den Erfolg seines Unterfangens. In Japan mahnte er sein Publikum, den imperialistischen Kurs aufzugeben, um die nationale Identität des Landes vielmehr im spirituellen Asien zu suchen. Obwohl Tagore mit seiner Kritik der Moderne auch unter japanischen Intellektuellen einen empfindlichen Nerv berührte, wurde schnell deutlich, dass sich nur eine Minderheit der intellektuellen Elite des aufstrebenden Landes mit seinem abstrakten Universalismus und seiner kompromisslosen Nationalismuskritik identifizierte. Warum sollte sich Japan einem Asien zugehörig fühlen, das sich als spirituelles Gegenstück EuroAmerikas verstand, wenn es doch gerade bewiesen hatte, dass sich der Nationalismus und andere „materialistische“ Kultureinflüsse erfolgreich mit der eigenen Kulturtradition verbinden ließen?84 Nicht besser erging es Tagore in China. Hier traf er unter anderem mit dem Philosophen Gu Hongming zusammen, mit dem er zwar die Abneigung gegen den Materialismus teilte, jedoch nicht die Idee einer asiatischen Zivilisation. Nur die uralte chinesische Zivilisation und nicht etwa die indische, von der sie sich grundsätzlich unterscheide, konnte nach Ansicht des Konfuzianisten Gu die Menschen lehren, ihr Herz nicht an Reichtum, Macht und materielles Wohlergehen zu hängen, um auf diese Weise die Welt vor zerstörerischen Konflikten zu retten.85 Nur eine Minderheit unter den chinesischen Denkern, die sich der Weltöffentlichkeit zuwandten, teilte Gus rigiden Traditionalismus. Jedoch schloss die Hinwendung zu „science and democracy“ nicht aus, dass China auf der Basis seiner erneuerten Kultur, insbesondere ethischer Tugenden, zu einer 83 Vgl. ders.: „Asian cultural reapproachment“, MR, Bd. 54, Nr. 6 (Dezember 1933), 661. 84 Siehe zu Tagores Aufenthalt in Japan und den Reaktionen der japanischen Intellektuellen Hay: Asian Ideas of East and West, 82–123. In Kapitel 6 beschreibt Hay ausführlich die Rezeption Tagores in China. Zu Tagores Aufenthalten in China und Japan siehe auch Dutta/Robinson: Rabindranath Tagore, 246–252. 85 Siehe Hay: Asian Ideas of East and West, 205–206. Vgl. Gu Hongming: The Story of a Chinese Oxford Movement, Shanghai 1912.
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„Weltzivilisation“ entscheidend beitragen konnte. Der Umstand, dass die chinesische Kultur auf moralischen und nicht auf materiellen Kräften beruhe, so argumentierte etwa Lowe Chuan-hua, habe in der Vergangenheit dazu beigetragen, dass China niemals einen Kollaps seiner sozialen Strukturen erlebt habe. Den Anspruch Chinas, in Zukunft das Fundament der Weltzivilisation zu bilden, leitete er jedoch nicht nur aus seiner konfuzianischen Tradition, sondern auch aus seiner kulturellen Adaptabilität ab: I have said that the Chinese can quickly and easily adapt themselves to new conditions. They do not stubbornly reject new ideas, but slowly and carefully select, modify, and incorporate them into the edifice of their own civilization. Therefore their power of consolidation will ultimately provide the adhesive force for the civilization of mankind. True, the same idea was in the minds of the Romans, and in the hearts of Alexander and Napoleon. But, unfortunately, the bond for a world-state conceived by these men was militarism, whereas the backbone of the universal community, as suggested by Chinese philosophers, is a Magna Charta of Universal Brotherhood. For, long before any historian had imagined this noble idea, Confucius said, „Within The Four Seas, All Men Are Brothers“.86
Dieser sino-zentrische Universalismus stand Tagores Nachricht von Indien als Quelle einer asiatischen Zivilisation ebenso entgegen wie der Modernismus eines Hu Shi, der die Vorstellung einer asiatischen – gar chinesischen – Priesterrolle strikt ablehnte. Als moderner Chinese musste man Hu Shi zufolge zu dem Schluss kommen, dass die Zukunft der menschlichen Zivilisation in hohen sozialen Idealen lag. „If the East is to make any contribution to the new civilisation of the future world“, so betonte er 1926 in einer Rede an der Universität von Liverpool, „it is not to come in the form of a return to Eastern spirituality, but in helping the West to realize those spiritualities“.87 Hu Shi sah Chinas Mission demnach nicht in der Diffusion der kulturellen Traditionen Asiens, sondern in dem Beitrag, den es zu einer aus seiner Sicht explizit modernen Weltzivilisation leisten konnte. Da die Anhänger der Neuen Kulturbewegung mehrheitlich ikonoklastisch orientiert waren, musste Tagore mit seinem Plädoyer für die Stärkung einer antiken Zivilisation auf Unverständnis stoßen. Zudem traf er wie in Japan auf ein zutiefst politisiertes Publikum, das seine idealisierten Vorstellungen der geeinten Menschheit nicht mit dem Kampf um nationale Souveränität vereinbaren konnte. So befürwortete man zwar die kulturelle Kooperation zwischen China und Indien, die mit dem Besuch Tagores neue Impuls erhielt; jedoch, so u rteilten die
86 Lowe Chuan-hua: „The Characteristics of Chinese Civilization“, CSM, Bd. 18, Nr. 1 (November 1922), 29–33, hier 32–33. Ähnlich Bau: Foreign Policy of China, 519. Sowie Ung-Fu Shen: The Basis of Chinese Civilization, Shanghai 1926. 87 Hu: Promotion, 11.
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erausgeber des Chinese Students’ Monthly bereits vor Tagores Besuch, musste H der Einfluss des antinationalistischen Dichters auf China notwendigerweise beschränkt bleiben: Where Mr. Gandhi differs from Tagore is that the latter has no faith in nationalism. [...] He places ideals of humanity over country, which, in the nature of things, is the logical order. But the world is too real to admit the possibility of realization of such a panacea. Inasmuch as the idolatry of Nation is still a prevailing creed, the idolatry of humanity must necessarily occupy a secondary place.88
Aus der Sicht der jungen Revolutionäre durfte China auf keinen Fall das Schicksal des „verlorenen Landes“ Indien erleiden, das sich aus dem Griff der britischen Imperialherrschaft nicht befreien konnte und deren Intellektuelle ihr Heil in einer außerweltlichen Ideologie suchten, die, wie es schien, die Hilflosigkeit nicht nur verursacht hatte, sondern zusätzlich verstärkte. Obwohl seine Mission nicht vorrangig darin bestand, den indischen Einfluss auf Ostasien zu vergrößern, sondern den kulturellen Austausch anzuregen, wurde der Einfluss Tagores vor allem von der jüngeren Generation als Bedrohung empfunden.89 Tagores öffentliche Vorlesungen gerieten insbesondere vor studentischem Publikum zum Desaster; offensichtliches Desinteresse und direkte Anfeindungen bewegten ihn dazu, seine Reise frühzeitig abzubrechen und die Mission für gescheitert zu erklären. Jedoch stieß Tagore nicht überall in China auf Ablehnung. Einige Neotraditionalisten, insbesondere Anhänger des chinesischen Buddhismus, fanden in ihm einen Gleichgesinnten, obwohl sich ihre Vorstellungen von der Bedeutung und Rolle ihrer Kultur in der Welt wie im Fall Gu Hongmings und Lowe Chuan-huas selten mit denen des indischen Dichters deckten.90 Die beiden Gelehrten und Staatsreformer Liang Qichao und Zhang Junmai, die Tagores Reise durch China organisiert hatten, teilten dessen Skepsis gegenüber der westlichen Zivilisation ebenso wie dessen Sendungsbewusstsein. Liang, der sich in seiner Jugend noch für eine Modernisierung seines Landes nach westlichem Vorbild stark gemacht hatte, wandte sich in seinen letzten Lebensjahren dem chinesischen Konfuzianismus und Buddhismus zu. Darin sah er nicht nur die Lösung für die gegenwärtigen Probleme seines Landes, sondern auch für die Mängel der westlichen 88 „Tagore and Gandhi“, CSM, Bd. 17, Nr. 4 (Februar 1922), 281–282, hier 281. Vgl. hierzu auch den Leitartikel, CSM, Bd. 29, Nr. 7 (Mai 1924), 2–3. 89 Siehe S. K. Das: „The Controversial Guest“, in: Madhavi Thampi: India and China in the Colonial World, New Delhi 2005, 85–125, hier 123. Siehe auch Mishra: Aus den Ruinen des Empires, 269–270. Anders als Tagores spirituelle Nachricht fand Gandhis Boykott ausländischer Waren Anklang unter 4.-Mai-Intellektuellen wie Zou Taofen. Siehe Mitter: Bitter Revolution, 130–131. 90 Siehe Dutta/Robinson: Rabindranath Tagore, 250–252.
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Z ivilisation.91 In einer Ansprache anlässlich der baldigen Ankunft Tagores in Beijing beschwor er die traditionelle Freundschaft zwischen China und Indien, die er als Zwillingsbrüder im geographischen wie intellektuellen Sinne verstand: „Before most of the civilised races became active“, so beschrieb Liang die intellektuelle Rolle der beiden Länder in der Welt, „we two brothers had already begun to study the great problems which concern the whole of mankind.“92 Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern seien stets konstruktiv und bereichernd gewesen. Zwar habe China in der Vergangenheit insbesondere auf den Gebieten der Literatur und der Kunst mehr von Indien lernen können als andersherum, zur Entwicklung des Buddhismus jedoch habe China ebenso beigetragen wie Indien, „so that we may take just pride in saying that Buddhism has become as distinctly Chinese as it is Indian“.93 Wie Tagore war Liang überzeugt, dass die beiden Länder durch die Wiederbelebung ihrer kulturellen Kooperation eine große Pflicht gegenüber der Menschheit erfüllten.94 Es ist jedoch auffällig, dass die Formel der „asiatischen Zivilisation“ in Liangs Darlegungen fehlt; die beiden Länder einte in seiner Vorstellung zwar der Buddhismus als globale Regenerationskraft, jedoch blieben die beiden Kulturen dabei distinkt.95 Tagores entmutigende Erfahrungen in Japan und China hielten ihn nicht davon ab, weiter an der Vision eines geeinten Asiens zu arbeiten. Als im Verlauf der 1920er und 1930er Jahre die Großmachtsambitionen Japans immer mehr zu Tage traten, konzentrierte er sich auf die Förderung der kulturellen Kooperation mit China; 1937 rief er zu diesem Zweck in Visva Bharati ein Institut für das Studium chinesischer Kultur ins Leben.96 Jedoch waren seine Erwartungen zu hoch gesteckt, wenn er meinte, Chinas Intellektuelle für eine Idee begeistern zu können, die die Auflösung ihrer kulturellen Identitäten in einer asiatischen Zivilisation vorsah, als deren Dreh- und Angelpunkt er Indien betrachtete. Auf offenere Ohren stieß er im Westen.
91 Siehe Hay: Asian Ideas of East and West, 210. Sowie Mishra: Aus den Ruinen des Empires, 261. Zu Liangs Vertrauensverlust gegenüber den modernen Wissenschaften siehe Levenson: Liang Ch’i-ch’ao, 200–202. Zu Liangs Vorstellung von der Erlösungsbedürftigkeit westlicher Zivilisation durch chinesische Kultur siehe auch Gilbert Metzger: Liang Qichao, China und der Westen nach dem Ersten Weltkrieg, Berlin/Münster 2006, 146–150. 92 Liang Qichao: „Introduction“, in: Rabindranath Tagore: Talks in China. Reports of Lectures delivered in China in April and May, 1924, Kalkutta 1925, 1–21, hier 3. 93 Ebd., 17. 94 Ebd., 21. 95 Siehe Hay: Asian Ideas of East and West, 210–211. 96 Siehe Stolte/Fischer-Tiné: „Imagining Asia“, 79.
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7.2.2 Das spirituelle Asien als Projektionsfläche westlicher Intellektueller: Der „Kult des Orients“ Im New York Times Magazine erschien zu Beginn des Jahres 1928 ein Artikel des amerikanischen Journalisten Harold Callender über die neue Begeisterung, mit der sich die Intellektuellen Europas dem Studium des Orients widmeten. Er datierte das steigende Interesse an Asien auf das Erscheinen von Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes: If Western civilization was about to go under, the reasonable course was to take Spengler’s tip and try to hook up with some going concern. After all, the Orient did exhibit odd powers of resistance. […] Rabindranath Tagore toured Europe and found many sympathetic listen ers. Romain Rolland, who had done biographies of Michelangelo, Tolstoy and Beethoven, now wrote a life of Gandhi. […] Europeans and Americans made pilgrimages to Santiniketan, Tagore’s home in India, and to other revered places in the East.97
Bemerkenswert an dieser Situation fand Callender vor allem den Umstand, dass sich Intellektuelle mit so unterschiedlichem Erkenntnisinteresse wie Bertrand Russell und Herman Keyserling dem „new cult of the Orient“ hingaben: Russell, the mathematician and realist, and Keyserling, the mystic, agree in the conviction that Europe requires a new or very much changed civilization and that it can profit by studying the manner in which the problems of life are met in the Orient.98
Asien, so machen Callenders Ausführungen deutlich, war in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts zweifelsohne en vogue unter europäischen und amerikanischen Philosophen, Künstlern und Schriftstellern. Sie selbst machten es zum emotionalen und spirituellen Fluchtpunkt ihrer Heimat und eines scheinbar an seine Grenzen gestoßenen Fortschrittsglaubens. „We turn to the East, not because it may teach us to drive rivets into iron beams faster and better“, fasste der in Deutschland geborene und in den USA lehrende Indologe Kurt Leidecker die Sinnsuche in Worte, „but because it supplies us with an aspect of life that adds weight and significance to personality“.99
97 Harold Callender: „The West turns to the East for light“, PB, Bd. 33, Nr. 2 (Februar 1928), 88–94 [Wiederabdruck aus dem New York Times Magazine], hier 90–91. 98 Ebd., 91–92. 99 K. F. Leidecker: „India’s claim on the modern world“, India, Bd. 1, Nr. 1 (Frühjahr 1931), 17–21, hier 21. Siehe hierzu auch die Ausführungen von Mishra: Aus den Ruinen des Empires, 260. Das starke Asienmotiv in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende wird aufgearbeitet von C. C. Günther: Aufbruch nach Asien. Kulturelle Fremde in der deutschen Literatur um 1900, München 1988.
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Das Vokabular für die spirituelle Sinnsuche war längst vorhanden. Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert hatten sich europäische Missionare, Philosophen und Forschungsreisende mit dem „nicht-europäischen Anderen“ auseinandergesetzt, wobei eine strenge Klassifizierung und Gegenüberstellung von „Orient“ und „Okzident“ erst im 19. Jahrhundert und unter dem Vorzeichen rassistischer Zivilisationstheorie Einzug in die europäischen Asienwissenschaften hielt.100 In der Hochzeit der europäischen Überseeexpansion entstand der Gemeinplatz von Asien als geschichtslos und unzivilisiert, der nun unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges eine neue Wendung fand: Gerade weil Asien nicht dem westlichen Fortschrittsglauben verfiel und dessen Göttern – Wohlstand und Maschinen – nicht frönte, schien es der westlichen Zivilisation überlegen. Im krassen Gegensatz zu seinen Erfahrungen in China und Japan fand Tagore in Europa und den USA zahlreiche Sinnesgenossen, Bewunderer und Gönner, die ihn in seinem Weltbild und in seiner Mission bestärkten, indem sie die Idee der Erlösungsbedürftigkeit des Westens durch Asien erst recht in ihm wachsen ließen.101 Neben dem berühmten Indologen Sylvain Lévi standen die französischen Schriftsteller Romain Rolland und Paul Richard in direktem Austausch mit Tagore und anderen indischen Asianisten. Paul Richard hatte die Bekanntschaft Tagores bereits 1916 in Japan gemacht. Sein Werk To the Nations wurde von Aurobindo Ghose aus dem Französischen ins Englische übersetzt und von Tagore mit einer Einleitung versehen.102 Richard war der Meinung, dass in Asien eine neue, alle Rassen und Religionen umfassende und deshalb humanere Zivilisation entstand. „While the old civilization is crumbling down“, schrieb er 1923, „the new one has to spring up – that of Asia, higher, larger, more comprehensive, uniting the deep intuitions of the East, the Yogas of the Spirit, with the rational and scientific disciplines
100 Eine umfassende Studie zur europäischen Repräsentation Asiens im 18. Jahrhundert mit einem Ausblick auf das 19. Jahrhundert ist Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens, München 2010, hier 375–404. Eine umfassende Studie amerikanischer Repräsentationen Asiens ist David Weir: American Orient. Imagining the East from the Colonial Era through the Twentieth Century, Amherst/Boston 2011. Weir betont, dass die amerikanische Sicht auf Asien im ausgehenden 19. Jahrhundert einerseits von denselben Stereotypen und Vorurteilen geprägt war wie in Europa, andererseits von einem mystischen Idealbild zeugte. Parallel zum wachsenden Interesse am Buddhismus und anderen Religionen Asiens vollzog sich die Abschottung gegen asiatische Migranten. Siehe ebd., 3–6. 101 Hay legt dar, dass Tagores Erfahrungen in Europa und den USA entscheidend dazu beitrugen, dass er sich der Idee der indischen Verantwortung in der Welt verschrieb. Dasselbe galt auch für Liang Qichao. Siehe Hay: Asian Ideas of East and West, 124–145. In Deutschland entstand im Zuge von dessen Besuch gar ein allgemeiner „Tagore-Kult“, der sich nicht nur auf seine Ideen, sondern auch seine Kunst bezog. Siehe Manjapra: Entanglement, 99–101. 102 Paul Richard: To the Nations, Madras 1921.
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of the West, with its Yoga of Matter“.103 Nur diejenigen Europäer konnten seiner Meinung nach an der neuen Zivilisation teilhaben, die Asien als Teil ihrer Identität anerkannten, „for those who remember that being Europeans they are Asians first“.104 Richard stellte die bisherige kulturgeographische Perspektive auf den Kopf: Europa wurde zu einem kleinen Teil (und kulturellen Ableger) des großen Asiens degradiert. Es ist ein besonderes Merkmal des spirituellen Asianismus, dass er in der anglophonen Weltöffentlichkeit zum intellektuellen Repertoire nicht nur der Asienwissenschaftler, Künstler und Missionare, sondern auch derjenigen Autoren gehörte, die vorrangig an politischen oder sozioökonomischen Faktoren der internationalen Beziehungen interessiert waren. Ein Beispiel ist neben Bertrand Russell der amerikanische Diplomat und Politologe Paul Reinsch. Bereits 1911 hatte er sich in seinem einflussreichen Werk Intellectual and Political Currents in the Far East zur Zukunft der asiatischen Kultur geäußert. China, Indien und Japan unterzogen sich seiner Ansicht nach nur deshalb den tiefgreifenden Modernisierungsprozessen, um auf der Basis neuer Stärke ihr spirituelles Wesen bewahren und mit der Welt teilen zu können. Auf welche Art und Weise Asien die Befreiung des Westens vom Materialismus genau bewerkstelligen konnte, so räumte Reinsch ein, sei noch nicht absehbar. In jedem Fall müssten die „newly aroused energies“ Asiens auf spirituell bedeutsame Ziele gelenkt werden: „[T]he grandeur of the limitless vistas of development of which the human soul is capable.“105 Wie viele seiner Zeitgenossen übernahm Reinsch die Vorstellung vom spirituellen Asien relativ unkritisch, gehörte jedoch nicht zu der Gruppe von Enthusiasten, die sie primär verbreiteten. Diese Rolle kam neben den Asienwissenschaftlern den Weggefährten Tagores und Gandhis wie insbesondere Charles Andrews, Annie Besant und James Cousins zu. Wie bei indischen Asianisten zeigte sich in ihren Texten dieselbe Tendenz, die asiatische mit der indischen Zivilisation gleichzusetzen. So auch der britische Indologe John Woodroffe. Dieser begann nach seinem Jurastudium an englischen Colleges eine berufliche Laufbahn im Rechtssystem des britisch-indischen Staates. Neben seinen rechtswissenschaftlichen Studien – zusammen mit dem indischen Juristen Syed Ameer Ali hatte er bereits 1898 ein Standardwerk der indischen Rechtswissenschaft, The law of evidence applicable to British India, veröffentlicht – widmete sich Woodroffe mit Leidenschaft dem Sanskrit, dem Hinduismus sowie der Philosophie und Praxis des Tantra. In der 103 Ders.: „The coming Renaissance. A Message to my Brothers of all Nations“, TNO, Bd. 1, Nr. 3 (August-September 1912), 1–6, hier 3 [Hervorhebungen i. O.]. 104 Ebd. 105 P. S. Reinsch: Intellectual and Political Currents in the Far East, Boston/New York 1911, 60–61.
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indischen Öffentlichkeit und in westlichen Ländern, wo Woodroffe als Konvertit zum Hinduismus zu einiger Bekanntheit gelangte, waren seine Schriften populär.106 Unter der Fragestellung Is India Civilized? legte er 1922 eine Analyse des kulturellen Konfliktes zwischen Ost und West vor. Der Titel war jedoch irreführend, denn wie er selbst einräumte, war die eigentliche Frage nicht die, ob Indien zivilisiert war, sondern ob Indien oder Europa die „Weltkultur“ anführen sollte.107 Woodroffe gab auf diese Frage keine abschließende Antwort und gleich zu Beginn seiner Untersuchung wehrte er sich wie viele seiner Zeitgenossen gegen eine zu starre Dichotomisierung von spirituellem Asien und materialistischem Westen. Bereits Spengler hatte seiner Meinung nach erkannt, dass es im Westen eine Reihe von Menschen gebe, die „asiatischer als viele Asiaten seien“ und durch das Studium der asiatischen Kultur psychologische Veränderungen erlebten. Woodroffe sah seine Aufgabe darin, die „falsities and hyprocrisies whether English or Indian“108 über das Wesen der Zivilisationen aufzudecken und einen spirituellen – indischen – Fortschrittsbegriff zu propagieren.109 In einem dreistufigen Modell des spirituellen Fortschritts legte Woodroffe dar, wie die indische Philosophie seiner Ansicht nach menschliche Beziehungen auf allen Ebenen harmonisieren konnte: Der Erste Weltkrieg markierte für ihn den Höhepunkt einer Epoche des Konfliktes, die sich bereits ihrem Ende zuneigte; um die Menschen jedoch gänzlich von innerer Härte zu befreien, könne Indien einen entscheidenden Beitrag leisten: „Mankind should, according to the Vedânta, learn to live without harm to any man or nation, and then he will, as India has done, do reverence to all animate being.“ Auf diese Weise geläutert, werde die Menschheit 106 Siehe Kathleen Taylor: Sir John Woodroffe. Tantra and Bengal. „An Indian Soul in a European Body?“, Richmond 2001, 2. 107 Woodroffe: Is India civilized?, 40–41. Woodroffe verstand sein Buch als Antwort auf das Werk India and the Future des konservativ-kritischen Autors William Archer, das 1917 in L ondon erschienen war. Der britische Religionswissenschaftler und Indologe Kenneth Saunders, der zeitweise an der London School of Economics lehrte und vor allem auf die Geschichte des Buddhismus spezialisiert war, setzte sich anders als Woodroffe mit den Gemeinsamkeiten der drei großen asiatischen Kulturen Indien, China und Japan auseinander. Vgl. Kenneth Saunders: The Pageant of Asia, London 1934; ders.: „The Heritage of Asia“, PA, Bd. 4, Nr. 10 (Oktober 1931), 880–904; ders.: Whither Asia? A Study of Three Leaders, New York 1933. 108 Woodroffe: Is India civilized?, 38. Woodroffe wird von Taylor daher als Kritiker des Orientalismus im Sinne Edward Saids gesehen: „The prestigious image of European orientalism was harnessed to a modern India agenda: the propagation of a updated and ,purifiedʻ Hindu Tantrism, and a reversal of Western valuations of it.“ Siehe Taylor: Sir John Woodroffe, 1, 236. 109 Woodroffe: Is India civilized?, 19–22. Ähnlich sprach sich der norwegische Indologe Sten Konow für einen neuen Humanismus aus, der seine Wurzeln in Indien haben könne. Sten Konow: „Old and New Humanism“, MR, Bd. 40, Nr. 3 (September 1926), 241–243. Zum Prinzip des Dharma auch F. G. Pearce: „The Ways of the East“, MR, Bd. 35, Nr. 1 (Januar 1924), 86–87.
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die erste Entwicklungsstufe der „Konkurrenz“ hinter sich lassen und die zweite Stufe der „Übereinstimmung“ erreichen, „a stage in which there is struggle both for individual or national life and for the life of other individuals and nations as well“. Die dritte Stufe der „Aufopferung“, die Woodroffe jedoch nur in der fernen Zukunft realisierbar sah, sollte schließlich einen Zustand herbeiführen, in dem sich jeder Mensch ganz dem Wohle Anderer widme.110 Die religiösen und philosophischen Konzepte Indiens bildeten in Woodroffes Weltbild den Kern der zukünftigen Weltzivilisation; als spirituelles Gemeingut gerade auch der „weißen Rasse“ wurden sie von Indien als geographischem Raum vollständig gelöst.111 Mit dem politischen Indien der Unabhängigkeitskämpfer hatte Woodroffes spirituelles Indien nur wenige Überschneidungspunkte.
7.2.3 Christus in Asien: Asianismus als christliche Heilsvorstellung Charles Freer Andrews war einer derjenigen Autoren, deren Loyalitäten für Indien zwischen der sozio-politischen Programmatik der Unabhängigkeitsbewegung und der kulturellen Programmatik der Asianisten oszillierten. Einerseits befürwortete Andrews, der vor seiner Zeit in Indien in der britischen Arbeiterbewegung aktiv gewesen war, Gandhis gewaltlosen Widerstand und teilte dessen sorgendes Interesse an den Armen.112 Andererseits war sein Bild von der zukünftigen Rolle Indiens in Asien und der Welt neben Gandhi auch von Tagore und von seinem christlichen Glauben geprägt. Dem Dichter war er bereits 1912 im Hause des Londoner Künstlers William Rothenstein begegnet.113 Ein Jahr später reiste er nach Santiniketan und blieb ein lebenslanger Begleiter und Unterstützer Tagores. Auch für Andrews lag Indiens zivilisatorische Stärke in seiner Religiosität begründet.114 Dabei gab es zahlreiche Anknüpfungspunkte zwischen der indischen Religiosität und dem
110 Alle Zitate Woodroffe: Is India civilized?, 118–120. 111 Ebd., 354–355. 112 Siehe zu Charles Andrews’ Leben die kurze Darstellung bei Martin Kämpchen: Rabindranath Tagore, Hamburg 1992, 99–100, sowie Bhabathosh Datta: „Charles Freer Andrews“, in: Sandeep Sinha (Hg.): Preach and Heal. A History of the Missionaries in India, Kalkutta 2008, 131–146. Andrews’ Verhältnis zu Gandhi wird beschrieben in: D. M. Gracie (Hg.): Gandhi and Charlie: the story of a friendships: as told through the letters and writings of Mohandas K. Gandhi and Rev’d Charles Freer Andrews, Cambridge, MA 1989. 113 Rothenstein stellte Tagore der künstlerisch-intellektuellen Elite Londons vor und er war es auch, der zusammen mit dem indischen Dichter William Yeats für die Veröffentlichung des Gedichtbandes Gitanjali verantwortlich war. Siehe hierzu Dutta/Robinson: Rabindranath Tagore, 163–170. 114 Vgl. Andrews: India and the Pacific, 18.
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Christentum. Tagore selbst hatte immer wieder den orientalischen Ursprung des Christentums betont und in seinem Werk Gitanjali sahen viele Leser die Menschlichkeit des Christentums in seiner reinsten Form.115 Obwohl Andrews die Attribute der Friedfertigkeit und Religiosität „in geringerem Maße“ auch China zusprach, war es Indien, das er zweifelsfrei als spirituelles Kraftzentrum Asiens identifizierte. Wie in der Vergangenheit der Buddhismus, konnte sich seiner Meinung nach auch das Christentum, das in Indien durch den Austausch von Ideen neu angeregt worden sei, bis nach China ausbreiten.116 Andrews verstand Indien demnach als Ort, von dem die globale Verbreitung ebenso wie die Regeneration des christlichen Glaubens ausging. „[I]t has become now with me a passionate hope“, schrieb er 1924, „that Europe may learn afresh, in a new and living way, the message of Christ from India“.117 Die christliche Nachricht von Nächstenliebe und der Einheit allen Lebens war für ihn die Nachricht Buddhas.118 Eine solche Neuverortung des Christentums in Indien fand sich auch in James Henry Cousinsʼ 1922 erschienenem Werk Cultural Unity of Asia. Der irische Dichter und Theosoph wanderte mit seiner Frau Margarete 1915 nach Indien aus, wo er zusammen mit Annie Besant in Madras die theosophisch-nationalistische Zeitschrift New India herausgab. Cousins war ein Kind der Irischen Renaissance der Jahrhundertwende, in deren Zuge auch die Literatur neue Impulse aus der irischgälischen Tradition sowie aus dem Nationalismus aufnahm. In seiner neuen Heimat fand er Anknüpfungspunkte einerseits für seinen literarischen und sozialen Reformismus, andererseits für seinen spirituellen Universalismus. Er stand in einem schöpferischen Austauschverhältnis besonders zu Tagore, den er in Santiniketan besuchte und dessen Werk Creative Unity er wohlwollend besprach.119 Sein eigenes Werk Cultural Unity of Asia ist symbolhaft für die enge Verflechtung zwischen westlichen und asiatischen Spiritualisten dieser Zeit; es bezog sich direkt auf Okakuras Ideals of the Orient und lieferte seinerseits wichtige Anregungen für T. L. Vaswanis Secret of Asia. Er gab darin seiner Überzeugung Ausdruck, dass die asiatische Zivilisation auf der Erkenntnis der spirituellen Einheit der Menschen untereinander und mit Gott beruhte.120 Um sein Argument zu bekräftigen, interpretierte er – eher assoziativ als systematisch – die Geschichte der Weltreligionen als eine Geschichte der Verflechtung. So wie der „Aryan genius“ auf dem Weg
115 Siehe Dutta/Robinson: Rabindranath Tagore, 169. 116 Vgl. Andrews: India and the Pacific, 206. 117 Ders.: „Christ and India“, MR, Bd. 35, Nr. 3 (März 1924), 292–294, hier 293. 118 Vgl. ders.: „Can Europe recover?“, IR, Bd. 23, Nr. 10 (Oktober 1922), 635–638. 119 D. K. Chatterjee: James Henry Cousins. A Study of his Works in the Light of the Theosophical Movement in India and the West, Delhi 1994, 13–16, hier 35. 120 J. H. Cousins: The Cultural Unity of Asia, Madras 1922, 132–133.
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der zoroastrischen Religion in den Hinduismus eingegangen sei, führte Cousins aus, so der „Geist Asiens“ durch seine hebräischen Ursprünge in das Christentum. Im Gewand des Christentums habe sich dieser Geist bis nach Amerika verbreitet und die „white man’s burden“ auf sich genommen: die Sorge um das Partikulare. Indem das Christentum nun nach Asien zurückkehrte, erlangte es Cousins zufolge seine höchste Erfüllung in der asiatischen „,love of the Ultimate and Universalʻ, which is the deepest truth of Christianity and of Asia“.121 Wie für Andrews waren für ihn alle Weltreligionen eins in ihrem asiatischen Ursprung. Er verband das Christentum nur oberflächlich mit den westlichen Kulturtraditionen und kehrte die geographische Richtung der Missionierung um. Andrews und Cousins waren mehr an den asiatischen – und spezifisch hinduistischen – Wurzeln des Christentums interessiert als an der Ausbreitung des Christentums in Indien.122 Mitglieder der christlichen Kirchen in Asien brachten jedoch nicht selten eine Form des „christlichen Asianismus“ hervor, der nicht die asiatische Spiritualität, sondern das im Westen gewachsene Christentum in den Mittelpunkt stellte. Auch aus dieser Perspektive sah man Asien als Ort der Regeneration des Christentums, jedoch nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck der Missionierung. „[I]t is only Christianity at its best – a Christianity that has freed itself from invalid accretions, conflicting dogmas and a mind that wards against science“, schrieb der amerikanische Missionar Daniel J. Fleming, „that can compete with the best in reformed and purified ethnic faiths.“123 Obwohl sich Fleming, der am New Yorker Union Theological Seminary lehrte, vom Dogmatismus abwandte, unterschied sich sein Gedanke der Konkurrenz zwischen den Religionen stark von der Haltung Woodroffes, Cousins’ oder Andrews’. Das Zentrum eines asiatischen Christentums sahen Missionare nicht nur im hinduistischen Indien, sondern auch in China. Warum, so fragte ein Beiträger in der missionarischen Zeitschrift Chinese Recorder, sollten nicht Kalkutta und Beijing neben Ephesus, Rom, Konstantinopel, Wittenberg oder Oxford als christliche Zentren in die Geschichte eingehen? Das chinesische Christentum, so schien sicher, konnte das religiöse Leben der Welt bereichern, gerade weil es nicht mit 121 Ebd., 10–11. Vgl. auch ebd., 7–8. 122 Andrews hatte vor dem Ersten Weltkrieg als Missionar gedient, hatte sich mit der Mission jedoch nie identifizieren können. Siehe Daniel O’Connor: Gospel, Raj and Swaraj. The Missionary Years of C. F. Andrews 1904–1914, Frankfurt 1981, 278. 123 D. J. Fleming: „Open-minded Christianity. A dynamic Religion of the West in Contact with the non-Christian Faiths“, Asia, Bd. 24, Nr. 6 (Juni 1924), 472–475, 490–491, hier 491. Siehe auch „Daniel Johnson Fleming Papers“, Online Finding Aid, The Burke Library Archives, Union Theological Seminary, Columbia University [http://library.columbia.edu/content/dam/libraryweb/ locations/burke/fa/mrl/ldpd_4492557.pdf, abgerufen am 17.10.14]. Vgl. auch Jones: Christ of the Indian Road, 15.
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dem westlichen Christentum deckungsgleich war. „Christ needs China as much as China needs Christ“,124 ließ der Recorder verlauten; man sei auf die Beiträge aus anderen Kulturen, auf das Denken Buddhas, Konfuzius’ und Laozis angewiesen, um das Christentum zu erneuern und zur wahren Interpretation des Evangeliums zu gelangen. So schienen etwa die Konfessionen, die das westliche Christentum spalteten, durch chinesische Einflüsse überwindbar. „[A] race which has habit ually put together Taoism, Buddhism, and Confucianism will have no difficulty at all in uniting Romanism and Protestantism“,125 schrieben der anglikanische Bischof Lord William Gascoyne-Cecil und seine Frau Lady Florence, dessen Interesse für China auf dem Londoner Pan-Anglikanischen Kongress von 1908 erwacht war. Den Beitrag der chinesischen Kultur zum Christentum stellte auch der amerikanische Missionar Lucius Chapin Porter heraus. Porter entstammte einer Missionarsfamilie in Tianjin und lehrte Philosophie an der Yenching-Universität in Beijing.126 In seinem Werk China’s Challenge to Christianity, das 1924 in New York erschien, legte er dar, dass chinesische Traditionen und Charakteristika wie Naturalismus, Eifer und Fröhlichkeit neue Aspekte des christlichen Glaubens zum Vorschein bringen könnten; den Konfuzianismus interpretierte er in diesem Sinn als Vorbereitung für eine spezielle Interpretation des Gottestums. Er betrachtete nicht nur ein neues Verständnis von Gott, sondern eine neue Weltkultur als Ziel der Christianisierung Chinas: eine Synthese aus Ost und West im Christentum.127 Die angenommene spirituelle Stärke Chinas wurde hier vom christlichen Missionseifer vereinnahmt. Diejenigen Stimmen, welche in der chinesischen Kultur per se eine spirituelle Weltkraft sahen, waren in der anglophonen Weltöffentlichkeit seltener als im Falle Indiens. Der Philosoph John Dewey sprach von der spirituellen Führungsrolle Chinas in Ostasien128 und der amerikanische Sinologe Lewis Hodous betonte, dass von den Buddhisten Chinas und Japans wichtige Impulse für eine neue Bruderschaft der Menschheit ausgingen.129 Von einer Missionierung des Westens war hier jedoch nicht die Rede. Zu den einflussreichsten Werken aus 124 E. R. M. L. Brecken: „China’s Place in the Church Universal“, CR, Bd. 54, Nr. 7 (Juli 1923), 391–396, hier 395–596. Vgl. auch J. D. MacRae: „Christianity the answer to China’s need for reli gion“, CR, Bd. 55, Nr. 2 (Februar 1924), 77–87, hier 78. 125 Gascoyne-Cecil/Cecil: Changing China, 243. Vgl. auch „Wanted, a creative mood“, CR, Bd. 57, Nr. 9 (September 1926), 611–118, hier 618. Sowie William Gascoyne-Cecil: „Introduction“, in: Bitton: Regeneration of New China, iii–iv. Siehe auch Trevor Beeson: The Bishops, London 2003, 13. 126 Siehe D. M. Stowe: „Lucius Chapin Porter“, Biographical Dictionary of Chinese Christianity, Onlineausgabe [http://www.bdcconline.net/en/stories/p/porter-lucius-chapin.php, abgerufen am 17.10.14]. 127 Vgl. Porter: China’s Challenge, 221–222. 128 Vgl. Dewey: Lectures in China, 306. 129 Vgl. Lewis Hodous: „The Buddhist Outlook in China“, CSM, Bd. 21, Nr. 6 (April 1926), 9–11.
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der Feder eines europäischen Autors gehörte in diesem Kontext Die Seele Chinas des deutschen Sinologen und Theologen Richard Wilhelm, das 1928 erstmals in englischer Übersetzung erschien. Wilhelm zeichnete darin das Bild einer kindhaft-unschuldigen „chinesischen Weisheit“, von der die Erlösung des modernen Europas ausgehen könne. Anders als das „unkörperliche“ intellektuelle Leben Indiens beziehe diese Weisheit ihre Stärke gerade aus ihrer Lebensnähe; Wilhelm hatte dabei besonders die „ewigen“ konfuzianischen Regeln gesellschaftlicher Harmonie und die taoistische Einheit von Mensch und Natur im Sinn, die ihm zufolge innere Ruhe und Selbstgewissheit spendeten.130 Wilhelms traditionalistischer Blick auf China weckte zwar auch im angloamerikanischen Raum die Aufmerksamkeit der Rezensenten, löste jedoch kein mit den Werken der indo-zentrischen Spiritualisten vergleichbares Echo aus.131 Auch, weil sich viele chinesische Intellektuelle unter dem Eindruck der Neuen Kulturbewegung von Buddhismus und Konfuzianismus abwandten oder Letzteren gleichsam säkularisierten,132 erfüllten diese nicht dieselbe Funktion wie der indische Hinduismus und Buddhismus: Zeugnis von der Bedeutung der Religiosität für die Zukunft des Landes abzulegen. Das „spirituelle Asien“ war für viele seiner Befürworter in Europa und Amerika gleichbedeutend mit Indien.133 Der Enthusiasmus der Spiritualisten darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Nachricht von der kulturellen Führungs- und Priesterrolle Indiens in Asien und der Welt auch im Westen auf offene Kritik stieß. Obwohl Tagores Zivilisationskritik dem Zeitgeist entsprach und deshalb einen willkommenen Beitrag zu einer lebhaften Debatte leistete, zeigten sich wie in China und Japan einige führende Intellektuelle wenig empfänglich für seine Nachricht. Nicht
130 Vgl. Richard Wilhelm: The Soul of China, New York 1928, 353–364. 131 Vgl. die Buchbesprechungen „Richard Wilhelm: The Soul of China“, WU, Bd. 3, Nr. 2 (November 1928), 78, sowie „The Soul of China. By Richard Wilhelm“, TN, Bd. 128, Nr. 3320 (20. Februar 1929), 234. Müller-Saini weist jedoch darauf hin, dass etwa Gu Hongming v. a. in Deutschland zu einiger Bekanntheit kam. Siehe Gotelind Müller-Saini: „Gu Hongming (1857– 1928) und Chinas Verteidigung gegen das Abendland“, in: Orientierungen, Bd. 2006, Nr. 1, 1–23. 132 Ein Beispiel ist Liang Shuming, der einerseits den Konfuzianismus als Brücke zwischen westlichem Materialismus und der Transzendenz des Buddhismus verstand, sich andererseits in den 1920er und 1930er Jahren nicht explizit zur Rolle des Buddhismus für China äußerte. Siehe Thierry Meynard: The Religious Philosophy of Liang Shuming. The Hidden Buddhist, Leiden 2011, 202, sowie das Vorwort von Guy Alitto in ebd., vii–x, hier viii. Allgemeiner Michael Lackner: „Philosophie, Theologie oder Kulturwissenschaft? Legitimationen des modernen Neokonfuzianismus“, in: Amelung/Koch/Kurtz/Lee/Saaler (Hg.): Selbstbehauptungsdiskurse in Asien, 275–290, hier 279. 133 Werke einschlägiger chinesischer Autoren lagen oft auch nicht auf Englisch vor. Siehe hierzu auch Hay: East and West, 129.
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jedem gefiel der Eindruck des missionierenden Gurus und Heiligen, den er auf seinen Reisen oft erzeugte und der durch seine erhabene äußere Erscheinung noch verstärkt wurde – am wenigsten Tagore selbst, der sich stets in einem Identitätskonflikt zwischen Dichter und Priester befand und den die karnevaleske Begeisterung, die ihm gelegentlich aus der Bevölkerung der bereisten Länder entgegenschlug, irritiere.134 Und selbst in seiner Rolle als kultureller Botschafter Asiens blieb er stets zwiegespalten zwischen seiner Vision einer synthetischen Weltgemeinschaft einerseits, für die er Ost und West in einen fruchtbaren Austausch bringen wollte, und dem Bild einer kulturellen Dichotomie zwischen Ost und West andererseits, zu deren Sinnbild er letztlich wurde. Der überzeugte Internationalist konnte auch nicht glücklich sein über eine nationalistische Aneignung der Idee des spirituellen Asiens.
7.2.4 „Greater India“: Vom spirituellen Universalismus zum hinduistischen Nationalismus Es ist nicht verwunderlich, dass sich anders als in Ostasien in allen Teilen Indiens zahlreiche Anhänger einer Indien-zentrierten Form des kulturellen Asianismus fanden. In den führenden englischsprachigen Zeitschriften Indiens wie etwa der thematisch sehr vielseitig aufgestellten Modern Review las man ebenso von der Zivilisierungsmission Indiens – und eines mit Indien identifizierten Asiens – wie in den traditionalistisch ausgerichteten Zeitschriften Visva-Bharati Quarterly und Prabuddha Bharata. Es war da die Rede vom „compassionate East“, der die „hus tling hucksters“ im Westen von Missgunst, Habgier und allen anderen denkbaren Lastern befreien könne.135 Man sprach davon, dass sich Indiens Ideal des Dharma als Quelle des menschlichen Fortschritts wie ein Lauffeuer im restlichen Asien ausbreiten und Indiens historischer Rolle als „mistress of Eastern Asia“ neue Gültigkeit verleihen werde;136 dass alleine Indien über die notwendige Religiosität
134 Siehe Kämpchen: Rabindranath Tagore, 78–79. Auch in Deutschland war Tagores Rezeption gemischt. Gehörte Hermann Keyserling zu seinen größten Befürwortern, distanzierten sich etwa Rainer Maria Rilke und Thomas Mann von ihm. Siehe ebd., 86–90. 135 Vgl. V. B. Metta: „The Future of the East and the West“, PB, Bd. 20, Nr. 5 (Mai 1919), 321–322; Ajitkumar Chakravarti: „The Eastern Idea of the Infinite“, VBQ, Bd. 2, Nr. 2 (Juli 1924), 200–205, hier 205; Bose: Swaraj, 275–276; G. V. Ramachandram: „The New Civilization“, IR, Bd. 24, Nr. 3 (März 1923), 180–181. 136 Vgl. S. G. Guha: „Nationalism of Nippon: As Hindustan sees it“, HR, Bd. 34, Nr. 268 (Januar 1922), 64–70, sowie S. V. Ramamurty: „The Function of India“, YMI, Bd. 38, Nr. 1 (Januar 1926), 3–9, hier 5.
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verfüge, um neben den nationalen Schranken auch alles Weltliche zu überwinden und das Ideal einer spirituellen Weltgemeinschaft zu realisieren;137 und dass Indien deshalb nach seiner kulturellen Diffusion innerhalb Asiens einem „spiritual conquest of the world“138 entgegensehe. Zu den wichtigsten Vertretern dieser essentialistischen Weltsicht gehörten neben Tagore und T. L. Vaswani auch Aurobindo Ghose. Wie Tagore entstammte Sri Aurobindo einer wohlhabenden und einflussreichen brahmanischen Familie und wuchs in demselben intellektuellen Milieu Bengalens auf. Sehr viel radikaler als Tagore wandte sich Aurobindo jedoch von seiner privilegierten Herkunft ab und schloss sich schon früh dem radikalen politischen Widerstand an. Nachdem er 1908 für seine nationalistische Agitation zu einem Jahr Einzelhaft verurteilt worden war, widmete er sich dem Studium des Sanskrit und des Hinduismus.139 Seine spiritualistischen Ausführungen unterschieden sich vor diesem Hintergrund in zweierlei Hinsicht von denjenigen Tagores: Zum einen lag seinen Überlegungen nicht primär das Ideal der spirituellen Weltgemeinschaft zugrunde, sie dienten vielmehr dem Ziel der Wiedererstarkung Indiens zum Wohle der Menschheit. In seinem Werk The Renaissance in India, von dem bereits die Rede war, legte er dar, wie Indien durch den Prozess der Modernisierung seiner kulturellen Traditionen nicht nur der nationalen Regeneration Vorschub, sondern gleichzeitig einen Dienst an der Menschheit leisten konnte.140 Die politische Unabhängigkeit versetzte Indien aus seiner Sicht in die Lage, diese Priesterfunktion zu erfüllen.141 Zum anderen ging in seiner Vorstellung die spirituelle Heilkraft Indiens nicht von einer recht vage als synthetisch verstandenen „asiatischen Spiritualität“, sondern explizit vom Hinduismus aus. Der Hinduismus, so hatte er bereits 1909 in seiner berühmten Uttarpara Speech erklärt, unterschied sich fundamental von anderen Religionen, weil er weniger eine Frage des Glaubens und der Berufung sei als vielmehr gelebt werden müsse. Indien war für den Mystiker das Medium des Hinduismus in der Welt: „When it is said, that India shall be great, it is the Sanatana Dharma that shall be great. When it is said that India shall expand and extend herself, it is the Sanatana Dharma that shall expand and extend itself over the world.“142
137 Vgl. „The Synthetic vision“, PB, Bd. 33, Nr. 6 (Juni 1928), 243–252, hier 248–249, 252. Ähnlich „The Ideals of Visvabharati“, VBQ, Bd. 1, Nr. 2 (Juli 1923), 311–318, hier 316–317. 138 „Cultural Unity of India“, MR, Bd. 41, Nr. 5 (Mai 1927), 603. 139 Siehe Heehs: Sri Aurobindo, Kapitel 5–7. 140 Ghose: Renaissance in India, 87. 141 Während er den Nationalismus als Mittel zum Zweck der „World-Union“ ansah, glaubte er nicht an die Auflösung nationaler Grenzen. Siehe Singh: Indian Political Thinkers, 117, 122–123. 142 Aurobindo Ghose: The Uttarpara Speech, Chandernagore 1922, 24 [Hervorhebungen i. O.].
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Mit dieser Mischung aus politischem Nationalismus und universalisiertem Hinduismus stand Aurobindo jenen Denkern nahe, die wie Gandhi zwar die Überlegenheit der asiatischen gegenüber der westlichen Kultur hervorhoben, jedoch das Projekt der nationalen Selbststärkung Indiens gegenüber dem der spirituellen Integration Asiens priorisierten. Diese nationalistische Aneignung des kulturellen Asianismus ist nirgendwo besser versinnbildlicht als in der eingängigen Formel „Greater India“, welche das historische Einflussgebiet der indischen Kultur in Asien bezeichnete. Während der Begriff nicht neu war – Tagore hatte ihn bereits 1909 verwandt –, trug vor allem die 1926 in Kalkutta gegründete Greater India Society dazu bei, der Idee vom antiken Indien als „kultureller Kolonisierer“ Asiens, speziell Ost- und Südostasiens, zu neuer Popularität zu verhelfen.143 Zu den bekanntesten und einflussreichsten Mitgliedern der Organisation gehörten die Historiker Jadunath Sarkar und Kalidas Nag. Letzterer hatte Tagore auf einigen seiner Reisen begleitet und seine Ausbildung in Frankreich bei Sylvain Lévi erhalten. Lévi, der zu den ersten westlichen Besuchern in Santiniketan zählte, vertrat im Gegensatz zum Evolutionsparadigma englischer Orientalisten ein diffusionistisches Geschichtsbild, wonach langfristige kulturelle Transferprozesse die Entwicklungsphasen einer Nation erklärten.144 Kalidas Nag und andere Mitglieder der Greater India Society zeigten sich überaus empfänglich für Lévis Lehre vom antiken Indien als Diffusionsquelle der asiatischen Kultur in Asien, die das Bild eines „wohlwollenden Imperialisten“ transportierte. Dieses Identitätskonzept, das den gewaltsamen Eroberungsmethoden der europäischen Kolonialmächte gegenübergestellt wurde, ließ sich nicht nur im politischen Unabhängigkeitskampf instrumentalisieren: Es implizierte, dass die indische Zivilisation in seiner Expansionskraft der westlichen nicht nur ebenbürtig, sondern moralisch überlegen war.145 Auch wirkte es sich direkt auf das Projekt der internationalen Emanzipation Indiens aus: Wie in der Vergangenheit musste Indien in der Zukunft seine kulturelle Kraft geltend machen und auf diese Weise seinen Einfluss und sein Ansehen in Asien und der Welt vergrößern. Kalidas
143 Siehe ausführlich zum Konzept des „Greater India“, seinen Vertretern und seinem Ursprung Susan Bayly: „Imagining ,Greater Indiaʻ: French and Indian Visions of Colonialism in the Indic Mode“, Modern Asian Studies, Bd. 38, Nr. 4 (2004), 703–744. Tagore zeigte sich wohlwollend gegenüber der Organisation und galt seinen Mitgliedern als spiritueller Führer. Siehe ebd., 710. Vor allem das Konzept eines „Aryanism, as ancient north Indian world-centeredness“ zog sich durch Tagores Werk. Siehe Manjapara: Entanglement, 199. Vgl. auch Rabindranath Tagore: Greater India, Madras 1921. 144 Gut zusammengefasst bei Stolte/Fischer-Tiné: „Imagining Asia“, 83. Siehe auch Bayly: „Imagining ,Greater Indiaʻ“. 145 Bayly: „Imagining ,Greater Indiaʻ“, 708, 721–722.
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Nag nutzte die von ihm herausgegebene Zeitschrift India and the World als kulturelles Propagandaorgan, jedoch gehörte er zu den liberaleren Vertretern der Idee eines „Großindiens“.146 Am anderen Ende des politischen Spektrums stand die hindu-nationalistische Partei Hindu Mahasabha um V. D. Savarkar, die den indischen Anspruch auf eine Führungsrolle innerhalb Asiens dadurch geltend zu machen suchte, dass sie die Identität von Buddhismus und Hinduismus postulierte. Insbesondere weil sie den Islam aus der asiatischen Kultur gleichsam herausschrieb, entwickelte diese Aneignung des Buddhismus durch den Hindunationalismus eine enorme politische Brisanz; das in seinem Ursprung wissenschaftliche Konzept eines „Greater India“ entwickelte sich im Verlauf der 1930er und 1940er Jahre zu einem rhetorischen Instrument der politischen Rechten.147 Politisches Konfliktpotential barg zudem die Migrationsproblematik, die mit der Vorstellung eines über seine Landesgrenzen hinaus kulturell expandierenden Indiens in direktem Zusammenhang stand.148 Der Politologe und Experte für internationales Recht Lanka Sundaram beschrieb in einem mehrteiligen Artikel für die Asiatic Review die Probleme, die sich durch die indische Arbeitsmigration ergaben. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts hatten sich indische Arbeiter – von Regierungsprogrammen gefördert oder erzwungen – vermehrt in den französischen Kolonien Südostasiens und in anderen Teilen der Welt niedergelassen, was unweigerlich zu Spannungen mit der indigenen Bevölkerung einerseits sowie den weißen Kolonisten andererseits führte.149 Die Idee eines „Großindiens“, welche die Länder Südostasiens inkorporierte, lud den vornehmlich wirtschaftlichen Konflikt zusätzlich ideologisch auf. Für die Wiederbelebung des historischen „Großindien“ in der Gegenwart kam der indischen Bevölkerung in Übersee als Träger und Vermittler der indischen Kultur eine zentrale Funktion zu. Den Anhängern eines indo-zentrischen Asianismus lag deshalb viel daran, in der
146 „Declaration“, IW, Bd. 1, Nr. 1 (Januar 1932). Vgl. auch Kalidas Nag: „Cultural Unity of Asia“, MR, Bd. 41, Nr. 1 (Januar 1927), 93–94. Wie Kris Manjapra hervorhebt, war jedoch auch Kalidas Nag dem Prinzip der Herrschaft durch Eroberung nicht abgeneigt. Siehe Manjapra: Entanglement, 198. 147 Siehe Stolte/Fischer-Tiné: „Imagining Asia“, 85–87. Tagore unterstützte die Pläne der Hindu Mahasabha, in Indien eine panasiatische Konferenz abzuhalten und kulturelle Delegationen in die Nachbarstaaten zu entsenden. Vgl. Rabindranath Tagore: „Asian Cultural Reapproachment“, MR, Bd. 54, Nr. 6/324 (Dezember 1933), 661. 148 Siehe Bayly: „Imagining ,Greater Indiaʻ“, 724, 728. 149 Vgl. Lanka Sundaram: „The International Aspects of Indian Emigration“, AR, Bd. 26, Nr. 88 (Oktober 1930), 741–748, sowie ders.: „The International Aspects of Indian Emigration – IV“, AR, Bd. 27, Nr. 3 (Juli 1931), 588–598.
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indischen Diaspora das Gefühl der Zugehörigkeit zum Heimatland und die Identifikation mit der indischen Zivilisationsmission zu stärken.150 Auch Taraknath Das äußerte sich zur Rolle der indischen Diaspora für ein zukünftiges „Großindien“, das er zugleich räumlich entgrenzte. Wie Aurobindo Ghose war der Unabhängigkeitskämpfer vom bengalischen Radikalismus der Jahrhundertwende geprägt. Sein politischer Aktivismus zwang ihn zu einem Leben im Exil. In Kalifornien, das er via Japan erreichte, saß er aufgrund seiner Rolle in der revolutionären Untergrundpartei Ghadr und seiner Verwicklung in den „Hindu-German Conspiracy Case“ am Ende des Ersten Weltkrieges eine Gefängnisstrafe ab.151 In der Modern Review äußerte er sich zur Bedeutung der kulturellen Propaganda in den internationalen Beziehungen. In den letzten Jahrhunderten habe Indien wenig für seine kulturelle Expansion getan, monierte er, und erst in neuester Zeit habe die Greater India Society das Bewusstsein für die historische Größe Indiens geschärft. Auch er begriff die Inder in Übersee als „cultural assets“, die in Zukunft stärker aus ihrer Isolation hervorkommen mussten. Er hatte dabei jedoch weniger den einfachen Arbeiter als die intellektuelle Elite im Sinn. Indische Wissenschaftler und Studenten mussten seiner Meinung nach durch ihre Präsenz und Lehrtätigkeit an allen bedeutenden ausländischen Universitäten als „national agents for cultural expansion“ agieren.152 Er löste demnach die Idee von „Greater India“ vom ost- und südostasiatischen Raum, um vielmehr einen globalen kulturellen Einflussbereich Indiens auszurufen. Die Emigration indischer Akademiker nach Übersee erfüllte aus seiner Sicht den politischen Zweck, durch die Verbesserung des indischen Ansehens in der Welt auch seinen Anspruch auf internationale Gleichheit zu stärken. „India’s claims to world recognition are thereby getting more and more justified“,153 bekräftigte mit 150 Siehe Bayly: „Imagining ‚Greater India‘“, 729. In Burma, Ceylon und Malaysia kam es infolgedessen zu anti-indischen Ausschreitungen. Siehe Stolte/Fischer-Tiné: „Imagining Asia“, 87. Im chinesischen Zusammenhang spricht Prasenjit Duara von der „Domestizierung der Transnationalität“. Prasenjit Duara: „Transnationalism and the Predicament of Sovereignty, 1900–1945“, AHR, Bd. 102, Nr. 4 (Oktober 1997), 1030–1052, hier 1049. Die immense Wirkkraft des historischen Narrativs eines „Greater India“ demonstriert auch die Tatsache, dass sich selbst überzeugte Internationalisten wie Jawaharlal Nehru nicht gänzlich davon freimachen konnten. Siehe T. A. Keenleyside: „Nationalist Indian Attitudes Towards Asia: A Troublesome Legacy for Post-Independence Indian Foreign Policy“, PA, Bd. 55, Nr. 2 (Sommer 1982), 210–230, hier 213–215. Keenleyside zieht hierfür Nehrus Werk Discovery of India von 1946 heran. 151 Zu Taraknath Das’ Rolle in der revolutionären indischen Unabhängigkeitsbewegung in den USA vor und während des Ersten Weltkrieges siehe Gould: India Lobby, besonders 182–199, 207– 208, 211–220. 152 Vgl. Taraknath Das: „Value of Cultural Propaganda in International Relations“, MR, Bd. 47, Nr. 3 (März 1930), 287–291, hier 290. 153 Sarkar: Creative India, 417. Vgl. Das: „Cultural Propaganda“, 291.
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Verweis auf den Beitrag indischer Wissenschaftler und Künstler zur Weltkultur auch Benoy Kumar Sarkar, dessen Weltsicht in vielerlei Hinsicht mit derjenigen Taraknath Das’ übereinstimmte. Diese Ausführungen machen deutlich, dass der Übergang von einem universalistischen Asianismus, der die kulturelle Einheit und Stärke Asiens gegenüber einem degenerativen materialistischen Westen hervorhob, zu einem nationalistischen Asianismus, der aus Indiens spiritueller Stärke das Recht auf politische Unabhängigkeit oder einen kulturellen Expansionsauftrag ableitete, fließend war. Die Zivilisationsdebatte wurde nie vollständig außerhalb des politischen Kontextes geführt. Selbst Tagore, der sich von Gandhis gemäßigter politischer Gangart ebenso abwandte wie von radikaler nationalistischer Gewalt, war nicht gänzlich unpolitisch und sah die spirituelle Einheit Asiens auch als Weg in ein postimperiales Zeitalter. Das „spirituelle Asien“ als Formel der Selbstermächtigung gegenüber dem Westen konnte auf die unterschiedlichsten kulturellen und geopolitischen Programmatiken angewandt werden.
7.3 Fazit Der kulturelle Internationalismus der Zwischenkriegszeit reflektierte das Bedürfnis westlicher und asiatischer Intellektueller nach einer grundlegenden Revision tradierter Weltbilder und einem Neuanfang in den west-östlichen Beziehungen. Wie konnten die internationalen Beziehungen neu gestaltet werden, solange keine universale Ethik existierte, aber Misstrauen und kulturelle Vorurteile anhielten? Anhaltende mentale Klüfte zwischen Völkern und Nationen schienen durch anhaltende politische und wirtschaftliche Spannungen bestätigt. Neue Anstrengungen auf dem Gebiet der kulturellen und intellektuellen Kooperation galten vielen in dieser Situation als einziger Weg zu internationaler Harmonie. Gesellschaftliche Einrichtungen wie die christlichen Kirchen und besonders die Universitäten erfüllten aus Sicht der Internationalisten eine wichtige Funktion als Vermittler zwischen den Kulturen und Vorreiter einer kosmopolitischen Geisteshaltung. Wer den Aufstieg Indiens und Chinas in der Welt postulierte, der tat dies häufig mit Blick auf deren Rolle in einem weltweiten System des kulturellen Austauschs und der kulturellen Kooperation: Als Professoren an amerikanischen und europäischen Eliteuniversitäten oder als Mitglieder internationaler Kultureinrichtungen wie dem ICIC oder dem YMCA waren chinesische und indische Intellektuelle in der Lage, die Weltgeltung ihrer kulturellen Traditionen zu propagieren und zivilisatorische Hierarchien durch ihr Beispiel in Frage zu stellen. Wenngleich ein großer Teil der kulturellen Kooperation in Kanälen stattfand,
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die westlichen Wert- und Ordnungssystemen folgten, bereitete schon allein die Aufwertung des kulturellen Lebens für die internationalen Beziehungen und die explizite Abwertung von Diplomatie und Machtpolitik den Boden für die internationale Emanzipation Indiens und Chinas: Standen Letztere für die „alten“, konfliktträchtigen und vom Westen dominierten Machtbeziehungen zwischen Nationalstaaten, so Erstere für eine „neue“ Gemeinschaft friedensorientierter, gleichwertiger und durchlässiger Kulturen. In der Idee der kosmopolitischen Weltgemeinschaft trafen sich die Idealisten der Nachkriegszeit. Wenn auf dem Weg der politischen Kommunikation und Kooperation kein nachhaltiger Frieden zwischen den Nationen möglich war, wie der zweifelhafte Erfolg des Völkerbundes nahelegte, dann vor allem deshalb, weil der Staatsbürger sich nicht mit den Interessen der gesamten Menschheit identifizierte. Lowe Chuan-hua, Sarvepalli Ramakrishna, Rabindranath Tagore, H. G. Wells, Jabez Sunderland, John Randall und andere propagierten deshalb die Überwindung der mentalen Grenzen, die den nationalen Identitäten vorgelagert schienen. Nur die Erkenntnis von der Einheit aller Menschen – ihrer wesenhaften Gleichheit und Gleichwertigkeit – brachte ihnen zufolge die nötige Bewusstseinserweiterung für die Realisierung einer Weltgemeinschaft. Während einige christliche Autoren wie Mathew Basil diese spirituelle Weltgemeinschaft im Christentum verwirklicht sehen wollten, sprach die Mehrheit der kulturellen Internationalisten von einer west-östlichen Synthese, die ihr zugrunde liegen müsse. Die Begegnung von „Ost und West“ avancierte zum mantraartig wiederholten Kern einer Weltsicht, die gerade in der gegenseitigen Ergänzung und Korrektur vielfältiger Kulturen die Möglichkeit einer höheren Zivilisation gegeben sah. Daran, dass es vor allem an den Nationen des Westens war, ihr kulturelles Überlegenheitsgefühl zu überwinden und damit den Weg für den Syntheseprozess frei zu machen, ließen die Autoren kaum einen Zweifel. Denn während einerseits die moderne westliche Kultur bereits tiefe Spuren im politischen, wirtschaftlichen, sozialen und intellektuellen Leben Asiens hinterlassen hatte, schien andererseits der Bedarf des Westens an den spirituellen Idealen Asiens höher denn je. Während das alte Europa in Trümmern lag und die westliche Zivilisation einer Fundamentalkritik ausgesetzt war, schien ganz Asien mit neuem politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Selbstbewusstsein zu blühen. Zeitschriften wie The New Orient und World Unity sahen es vor diesem Hintergrund als ihre Aufgabe an, das Bewusstsein der Menschen im Westen für die Bedeutung asiatischer Kulturen zu erweitern. War es das eigentliche Ziel der kulturellen Internationalisten, traditionelle Hierarchien zu beseitigen, so wurden jedoch in vielen Fällen nur alte Hierarchien auf den Kopf gestellt. Die Stilisierung Asiens zum spirituellen Gegenstück und Priester der westlichen Welt kam mit einem zyklischen Geschichtsverständnis
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daher. Asien, so schien es, kam jetzt wieder dieselbe Bedeutung zuteil, die es zu Zeiten Buddhas gehabt hatte: als spirituelles Weltzentrum. Für die kulturellen Asianisten wies die „asiatische Zivilisation“ in vielerlei Hinsicht den Weg in eine bessere Zukunft: Sie schien mit ihrer Einfachheit und Abkehr von materieller Befriedigung das Geheimnis eines erfüllten Lebens zu bergen; mit ihrem Fokus auf die spirituelle Entwicklung des Menschen das Bedürfnis nach einem höheren Sinn im menschlichen Dasein zu befriedigen; mit ihrem friedlichen Charakter internationale und interkulturelle Harmonie zu fördern; mit ihrem synthetischen Potential die universale Weltgemeinschaft zu ermöglichen; als Wiege aller Weltreligionen die Einheit mit Gott – einem christlichen oder universalen – zu vollziehen. Obwohl die Idee der asiatischen Zivilisation auf die Einheit aller Kulturen Asiens in ihrer Spiritualität abzielte, beanspruchten viele Asienwissenschaftler und Spiritualisten für Indien darin eine besondere Rolle. In einem engen persönlichen und literarischen Austauschprozess zwischen indischen und westlichen Intellektuellen entstand ein Bild von Indien als zweifache Quelle zum einen der spirituellen Stärke Asiens in der Vergangenheit, zum anderen der spirituellen Regeneration der westlichen Welt in der Zukunft. Niemand symbolisierte diese kulturelle Sinnzuschreibung so sehr wie Rabindranath Tagore. Seine Anhänger im Westen suchten in ihm geradezu die Spiritualität und Erhabenheit, die ihnen in der Heimat fehlte. Dagegen verkannte Tagore die nationalistische Disposition der meisten Intellektuellen nicht nur in Ostasien, sondern auch in seiner Heimat. Mit seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem politischen Nationalismus blieb er hier ein Außenseiter im öffentlichen Leben Indiens – dies obwohl sein Indien-zentrierter Spiritualismus auch die nationalistische Rhetorik speiste. Einflussreiche indische Intellektuelle wie Gandhi, Sri Aurobindo und Kalidas Nag zogen anders als Tagore keine klare Grenze zwischen politischem und spirituellem Leben. Mit der Greater India Society begann eine hindu-nationalistische Aneignung der Idee asiatischer Spiritualität im Konzept eines räumlich expandierenden „Großindiens“. Wer von asiatischer Spiritualität sprach, der meinte dann nicht selten vor allem den Hinduismus, und wer von Indiens „spiritueller Eroberung“ Asiens und der Welt sprach, der rief nicht zufällig das Bild der europäischen Kolonisierer herauf. Auch kulturelle Weltordnungsvorstellungen wie diejenige der Priesterrolle Asiens blieben in der Zwischenkriegszeit nicht frei von geopolitischen Zuschreibungen. Wenn er nicht gleich von nationalistischer Programmatik eingenommen wurde, so blieb der kulturelle Asianismus seines universalistischen Anspruches zum Trotz eine Form des Regionalismus und der Selbstbehauptung gegenüber dem Westen.
8 Angst vor Asien? China und Indien in geopolitischen Machtkonstellationen „Again the Yellow Peril“ war ein Artikel des amerikanischen Politikwissenschaftlers Raymond Leslie Buell betitelt, der 1923 in der Zeitschrift Foreign Affairs erschien. Buell, der zu dieser Zeit an der Harvard University lehrte, untersuchte darin die anti-japanische Bewegung entlang der amerikanischen Pazifikküste.1 Eigentlich ein Afrikaexperte, kam Buell mit dieser Thematik in Berührung, als er in Kalifornien Sommerkurse in Internationalen Beziehungen unterrichtete. „There is nothing to be said in favor of the immigration of Japanese laborers into the United States“, schrieb der junge Wissenschaftler. „If unrestricted, it would wipe out American standards of living, eventually reduce us to the economic level of the Oriental, and implant an alien and half-breed race on our soil which might make the negro problem look white.“2 Seiner Meinung nach war nur dann ein Ende der anti-japanischen Agitation abzusehen, wenn die japanische Immigration rechtlich reguliert wurde – dies jedoch nicht wie im Fall des Chinese Exclusion Act durch unilaterale Gesetzgebung, sondern durch einen reziproken Vertrag, der Amerikanern dieselben Einreisebedingungen für Japan auferlegte wie Japanern für die USA. „It would establish the principle that the segregation of races of different color is necessary, as far as labouring masses are concerned“, resümierte Buell, „not because of racial inferiority but because of racial difference“.3 Buells Haltung ist symptomatisch für frühe Vertreter der Disziplin der IR, die sich intensiv mit Fragen der Rasse und der Beziehungen zwischen Rassen auseinandersetzten. Er war sich einerseits der diplomatischen Implikationen einer restriktiven Immigrationspolitik bewusst und gewillt, den Regeln einer kooperativen internationalen Ordnung zu entsprechen; andererseits war seine Untersuchung von einem Gefühl der Bedrohung durch Rassenkonflikte motiviert, das vor und nach dem Ersten Weltkrieg viele Arbeiten in den Internationalen Beziehungen prägte. Das Schlagwort der „Gelben Gefahr“, das die Ängste vor einem Verlust westlicher Hegemonie bündelte, erfuhr seinen Höhepunkt bereits um die Jahrhundertwende. Besonders der Sieg Japans im Russisch-japanischen Krieg von 1904/1905 stellte die bisher für selbstverständlich erachtete militärische
1 R. L. Buell: „Again the Yellow Peril“, FA, Bd. 2, Nr. 2 (Dezember 1923), 295–309. 2 Buell: „Yellow Peril“, 307. Siehe auch Vitalis: „Birth of a Discipline“, 174–175, sowie „Raymond Leslie Buell Papers“, Online Finding Aid, Manuscript Division, LOC [http://lcweb2.loc.gov/service/mss/eadxmlmss/eadpdfmss/2011/ms011006.pdf, abgerufen am 22.10.14]. 3 Buell: „Yellow Peril“, 309. DOI 10.1515/9783110464382-008
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berlegenheit westlicher Länder in Frage und konkretisierte das BedrohungsgeÜ fühl durch die „Massen im Osten“. Die Publizistik von Zivilisationstheoretikern wie den beiden Amerikanern Madison Grant (The Passing of the Great Race, 1916) und Lothrop Stoddard (Revolt against Civilization, 1922) trug dazu bei, die Vorstellung eines unmittelbar bevorstehenden „Rassenkampfes“ über den Ersten Weltkrieg hinauszutragen.4 Die Frage, ob man im Westen Angst vor den aufstrebenden Nationen Asiens oder gar einer „gelben Rasse“ haben musste, wurde von liberalen Internationalisten deutlich verneint. Man grenzte sich vom Rassismus vieler zivilisationstheoretischer Untergangsprophetien ab, um vielmehr die Möglichkeiten hervorzuheben, die sich durch den west-östlichen Kulturaustausch eröffneten. Nichtsdestotrotz waren mit der Verlagerung des weltpolitischen Zentrums vom Atlantik an den Pazifik potentielle Konflikte verbunden. Besonders im Verlauf der 1930er Jahre drängten sich neue internationale Konfliktherde ins Bewusstsein und auf die Agenden der Analysten. Eine Diskussionsrunde der sechsten IPR-Konferenz, die 1936 im kalifornischen Yosemite-Nationalpark tagte, thematisierte das Versagen kollektiver Verhandlungen angesichts machtpolitischer Dynamiken. Obwohl es das Hauptziel der Konferenz blieb, kollektive Sicherheit mit friedlichen Mitteln herbeizuführen, waren sich die Anrainerstaaten des Pazifik nicht einmal über die zukünftigen Formen globaler Wirtschaftskooperation einig. Man diskutierte dagegen die Möglichkeit einer regionalen anstatt weltweiten Sicherheitsorganisation, die anders als der Völkerbund mit effektiven Zwangsmitteln ausgestattet sein sollte.5 Dieser Trend weg von globalen und hin zu regionalen Mechanismen, von einer universalen zu einer partikularen Ontologie der Internationalen Beziehungen, ist ein wichtiges Merkmal geopolitischen Denkens.6 Das pazifische Zeitalter brachte also nicht nur neue Wege der internationalen Integration und Kooperation, sondern auch neue geopolitische Machtkonstellationen. Wer vom „Erwachen“ asiatischer Länder sprach, der stellte oft explizit oder implizit die Machtfrage: „Once the East has mustered the techniques which enabled the West to rise so swiftly to dominance“, brachte Grover Clark in seinem
4 Siehe Vitalis: „Birth of a Discipline“, 167–168. Zur Rezeption und Verbreitung des Schlagwortes von der „Gelben Gefahr“ in Großbritannien und den USA Heinz Gollwitzer: Die Gelbe Gefahr. Geschichte eines Schlagworts, Göttingen 1962, sowie Mehnert: Deutschland, Amerika und die Gelbe Gefahr. 5 Vgl. „The changing balance of political forces in the Pacific and the possibilities of peaceful adjustment“, in: W. L. Holland/K. L. Mitchell (Hg.): Problems of the Pacific. Aims and Results of Social and Economic Policies in Pacific Countries. Proceedings of the Sixth Conference of the IPR, Yosemite National Park, California, 15–29 August 1936, Chicago 1937, 181–210, hier 184–208. 6 Behr: International Political Theory, 2, 161–162.
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Werk The Great Wall Crumbles von 1935 die neue Offenheit der Machtverhältnisse auf den Punkt, „what reason is there to think that the West will be able to maintain that dominance?“.7 Clark, der in China und in den USA lebte und arbeitete, wollte den Ausgang eines möglichen Kräftemessens nicht vorhersagen. Jedoch gab er zu bedenken, dass „der Osten“ in der Vergangenheit meist als Sieger hervorgegangen sei, wenn er „dem Westen“ militärisch auf Augenhöhe begegnet war.8 Clarks Annahme eines Nullsummenspiels zwischen den alten westlichen und den aufstrebenden asiatischen Mächten ist ein weiteres Charakteristikum des geopolitischen Denkens, das um 1900 in engem Zusammenhang mit der Rassenthematik Auftrieb erhielt. Zur Zeit des Hochimperialismus schlug – in den Worten Heinz Gollwitzers – „für die Geographen die große Stunde“.9 Die politische Geographie – der Begriff der Geopolitik wurde erst während des Ersten Weltkrieges vom schwedischen Staatsdenker Rudolph Kjellén geprägt – stellte einen Zusammenhang her zwischen der politischen Machtverteilung zwischen Staaten und dem physischen Erscheinungsbild der Welt: Staatliche Macht sah man gebunden an den geographischen Raum, den sie begrenzte und kontrollierte.10 Neben dem Klima und anderen naturbedingten Gegebenheiten wie etwa Wasserwegen avancierte vor allem die Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen zu einem zentralen Machtfaktor. Dem britischen Geographen Halford J. Mackinder zufolge war es in erster Linie die ungleiche Verteilung der natürlichen Ressourcen, in der die Haupt ursache zukünftiger internationaler Konflikte zu finden war; aus ihr entstand demnach eine existentielle Konkurrenzsituation, die imperialistische Übergriffe in ressourcenreiche Gebiete zu einer Frage nationaler Sicherheit machte.11 Die Verbreitung geopolitischen Gedankenguts fällt nicht zufällig mit der endgültigen territorialen Erschließung der Welt durch Staaten und Imperien zusammen. „The scramble for empty space was at an end; the struggle for relative efficiency, strategic position, and military power among the competing imperial systems entered a new phase.“12 Anders als der amerikanische Marineoffizier und S eestratege 7 Clark: The Great Wall Crumbles, 14–15. 8 Vgl. ebd. Ähnlich äußerten sich auch L. A. Mills: „The Passing of Asiatic Passivity“, AAAPSS, Bd. 157 (September 1934), 93–100, sowie F. H. Simonds: „Unrest in Asia and what it means“, CWR, Bd. 43, Nr. 7 (Januar 1928), 172–177. 9 Gollwitzer: Weltpolitisches Denken, 58. 10 Siehe Geoffrey Parker: Western Geopolitical Thought in the Twentieth Century, London/Sydney 1985, 1, sowie Gollwitzer: Weltpolitisches Denken, 58. 11 Kearns sieht in diesem Zusammenhang zwischen Imperialismus und Geopolitik einen wichtigen Grund für den großen Einfluss Halford Mackinders. Siehe Gerry Kearns: Geopolitics and Empire. The Legacy of Halford Mackinder, Oxford 2009, 10. 12 Gearóid Ó Tuathail: Critical Geopolitics. The Politics of Writing Global Space, Minneapolis 1996, 25.
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Alfred T. Mahan, der mit seinen Ansichten zur Zukunft der Seemacht von sich reden machte, kam Mackinder zu dem Schluss, dass die asiatischen Landmächte gegenüber den traditionellen Seemächten über einen geostrategischen Vorteil verfügten.13 In seinem Aufsatz The Geographical Pivot of History von 1904, den er nach dem Krieg zu einer Monographie weiterentwickelte und um demographische Argumente erweiterte, erklärte er die afrikanische und eurasische Landmasse aufgrund ihres Ressourcenreichtums zum Schlüssel der künftigen globalen Machtverteilung.14 Die Disziplin der Geopolitik war zukunftsorientiert in dem Sinne, dass sie die in geographischen Bedingungen enthaltene „Entwicklungsdynamik“15 untersuchte, um daraus politische Handlungsanweisungen abzuleiten. Verglichen mit Deutschland, wo geopolitische Ideen und ihre sozialdarwinistische Untermauerung folgenschwer auf den Nationalsozialismus einwirkten, blieb ihr politischer Einfluss in den USA und Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg begrenzt.16 Der Pessimismus, der die Vorhersagen internationaler Konkurrenz durchzog, entsprach nicht dem Bedürfnis der Siegermächte nach einem Neuanfang in den internationalen Beziehungen. Dennoch übte die Vorstellung der geographischen Bedingtheit von Politik eine große Anziehungskraft auf Analysten außenpolitischer Zusammenhänge aus; zahlreiche Bezüge zu natürlichen Ressourcen, zu Handelsrouten und Landwirtschaft lassen darauf schließen, dass geographischen Faktoren für die Gestaltung der internationalen Ordnung eine große Bedeutung beigemessen wurde.17
13 Mackinder verstand sich als Gegenspieler Mahans. Siehe Gollwitzer: Weltpolitisches Denken, 62. 14 Halford Mackinder: „The geographical pivot of history“, TGJ, Bd. 23, Nr. 4 (April 1904), 421– 437. Vgl. auch Mahans Werk The Problem of Asia and Its Effect upon International Politics, das 1900 in Boston erschien. Darin beschäftigt er sich mit Asiens relativer Stärke gegenüber Europa. 15 Rainer Sprengel: Kritik der Geopolitik. Ein deutscher Diskurs 1914–1944, Berlin 1996, 172. Wolfgang Mommsen zufolge ist es gerade die subjektive Erwartung von Entwicklungsmöglichkeiten, die imperialistische Politik antreibt. Siehe W. J. Mommsen: Imperialismustheorien. Ein Überblick über die neueren Imperialismusinterpretationen, Göttingen 1987, 87. 16 Siehe Stefan Fröhlich: Amerikanische Geopolitik. Von den Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, Landsberg am Lech 1998, 79–80: Abgesehen von Franklin D. Roosevelt war der Einfluss geopolitischer Ideen auf Politiker der Wilson-Ära eher gering. Dies änderte sich in den 1940er Jahren, als der Einfluss der deutschen Geopolitik auf amerikanische Autoren wie Walter Lippman, Isaiah Bowman und John Spykman zunahm. Siehe Ó Tuathail: Critical Geopolitics, 50. Siehe zur deutschen Geopolitik v. a. unter Karl Haushofer Frank Ebeling: Geopolitik. Karl Haushofer und seine Raumwissenschaft 1919–1945, Berlin 1994. 17 In diesem Sinne wird der Begriff des Geopolitischen auch heute politisch neutral gebraucht. Siehe hierzu Parker: Western Geopolitical Thought, 2.
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Auf Studien zur weltpolitischen Relevanz Indiens, Chinas oder ganz Asiens schlug sich das geopolitische Erkenntnisinteresse in zweifacher Weise nieder: Zum einen, wenn die künftigen Großmachtkonstellationen in Asien untersucht wurden. Nicht selten attestierte man Indien und/oder China ein Großmachtspotential, auf das von Seiten der westlichen Länder mit einem politischen Kurswechsel, mit der Bildung neuer oder der Stärkung alter Allianzen zu reagieren war – entweder um das Mächtegleichgewicht zwischen westlichen und asiatischen Ländern zu wahren oder um die neue Macht asiatischer Länder für die eigenen geostrategischen Ziele zu nutzen. Zum anderen, wenn auf ein geeintes Asien der Beginn einer neuen Weltordnung projiziert wurde, die nicht mehr nach den machtpolitischen Regeln der westlichen Welt funktionierte. Vor allem asiatische Intellektuelle suchten im Panasianismus einen Weg, der Bevormundung asiatischer Länder endgültig ein Ende zu setzen. Dieser Regionalismus zielte auf die Realisierung einer geopolitischen Einheit, die – politisch und wirtschaftlich autark – ein System kollektiver Sicherheit bedeutete.18 Er konnte, musste jedoch nicht zwangsläufig mit anti-liberalen, rassistischen und imperialistischen Werten und Zielsetzungen einhergehen. Vielmehr ist zwischen einem konservativen Internationalismus und einer progressiven Geopolitik, die sich nicht in einer einfachen „Philosophie der Rivalität“19 erschöpfte, schwer zu unterscheiden.
8.1 Neue und alte Großmächte in Asien: Die geostrategische Bedeutung Chinas und Indiens 8.1.1 „Might is Right“: Neue Ära – alte Machtpolitik Der britische Journalist J. O. P. Bland galt unter seinen Zeitgenossen als typischer Vertreter der ausländischen „Diehards“ in China – jener Riege konservativer Siedler und expatriates, welche die Rolle der Westmächte als Ordnungshüter in China für unverzichtbar hielten. Auf einer Sitzung des IIR kritisierte Bland die Naivität und den Idealismus der Mitglieder, wenn es darum ging, die gegenwärtige Situation und Zukunftsaussichten Chinas zu beurteilen. Gerade weil dem Land eine zentrale Funktion für die britischen Interessen in Ostasien zukomme,
18 Siehe etwa Sachsenmaier/Conrad: „Introduction“, 11. 19 Siehe zur Unterscheidung zwischen einer konservativen und einer progressiven Geopolitik Gerry Kearns: Geopolitics and Empire, vii–viii. Kearns verbindet die progressive Geopolitik vorrangig mit sozialistischen und anarchistischen Ansätzen.
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müssten die Briten besser über die politischen Realitäten informiert werden. In einem Artikel für die Zeitschrift Asia rechnete er mit dem Wilson’schen Internationalismus ab: The world hears a great deal about regenerative ideas at Versailles, where the great Repub lic was represented by one who certainly invested them with something approaching to definite form and direction in the „Fourteen Points“, in the doctrine of self-determination and in the League of Nations; but when it came to practical politics, even Mr. Wilson was constrained to deny the fundamentally American doctrine of racial equality. […] Since the day when John Hay proclaimed the doctrine of the „Open door“ in China, has not the whole history of the country afforded continual proof of the sad truth that idealism in politics can avail but little when it comes into conflict with stern realities, such as the law of supply and demand or racial instincts of self-preservation?20
Bland verwies auf die Weigerung des amerikanischen Präsidenten, die Gleichheit der Rassen als Prämisse der Nachkriegsordnung offiziell anzuerkennen, um auf die geringe Wirkung von Idealen in der politischen Entscheidungswelt aufmerksam zu machen. Der Kampf der Rassen um knappe Ressourcen vereitelte aus Blands Sicht alle Bemühungen um internationale Kooperation. Seine Argumentation entsprach derjenigen Mackinders, der sich in seinem Werk Democratic Ideals and Reality von 1919 ebenfalls vom Idealismus der Völkerrechtler distanzierte. Wenn geographische Faktoren die Beziehungen zwischen Staaten und Völkern determinierten, dann konnte aus dieser Sicht die Idee der internationalen Demokratie, die auf der Annahme rationaler und freier Entscheidungen einzelner Nationalstaaten basierte, nur eine relativ unbedeutende Begleiterscheinung der Geschichte sein.21 Ideale, so sah es der amerikanische Journalist und Diplomat Nicholas Roosevelt, waren in der Politik nur dann von Bedeutung, wenn sie machtpolitisch erzwungen werden konnten: „If our idealism is to be made practical“, schrieb er in seinem Werk The Restless Pacific von 1928, „it must be supported by a consistent policy in which right will rest on fact rather than theory and, if challenged, will be supported by might“.22 Roosevelt – ein Mitglied des Familienclans, aus dem auch die Präsidenten Theodore und Franklin Delano Roosevelt hervorgingen – bezog sich nicht auf konsensfähige Ideale einer internationalen Politik, sondern auf die Prinzipien einer unilateralen amerikanischen Außenpolitik und lieferte die Rechtfertigungsgrundlage von Gewaltanwendung gleich mit. In seinem Werk von 1928 hatte Roosevelt insbesondere die amerika20 Bland: „Saving China“, 502. 21 Siehe H. J. Mackinder: Democratic Ideals and Reality. A Study in the Politics of Reconstruction, London 1919. 22 Nicholas Roosevelt: The Restless Pacific, New York/London 1928, 205.
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nische Haltung gegenüber den Philippinen im Sinn, die er als Rückgrat der amerikanischen Position im Pazifik ansah. Für den Republikaner war das pazifische Jahrhundert auch das Jahrhundert Amerikas. Spätestens seit dem Bau des Panamakanals habe sich „insular America“23 – von seinen geographischen Voraussetzungen gezwungen – zur pazifischen Macht entwickelt und Großbritannien als führende Seemacht abgelöst. Als er 1930 zum Vizepräsidenten der Philippinen ernannt wurde, war der Widerstand der einheimischen Bevölkerung groß. Eine realistische Perspektive auf die internationalen Beziehungen war für viele Autoren weniger eine Frage von Idealen als von genauer Gegenwartsanalyse. Noch immer prägten rassenbiologische Überzeugungen den Kurs führender Politiker, noch immer entschied militärische Präsenz über die weltpolitische Geltungskraft eines Landes und noch immer führten Nationen Kriege, um ihre Interessen zu verteidigen und auszuweiten. Aus der Sicht Nathaniel Peffers hatten die USA mit dem Ausbau ihrer Seeflotte den Regeln der Machtpolitik Rechnung getragen.24 Solange die wirtschaftliche und politische Kontrolle der Großmächte über asiatische Länder anhielt, blieb für ihn die Rede vom internationalen Frieden fruchtlos. Obwohl er einen Rückzug der Amerikaner aus Asien befürwortete, war er sich der wirtschaftlichen Notwendigkeiten bewusst, die den amerikanischen Imperialismus in Asien antrieben.25 Der Imperialismus der Großmächte erschien den Beobachtern als nationale Überlebensstrategie und stand als solche über ethischen Erwägungen. „It matters little whether such Imperialism is right or wrong in principle“, räumte Peffers Kollegin Marguerite Baker Harrison ein, „it will exist as long as it is necessary to ensure the normal growth of peoples“.26 Die Annahme imperialistischer Kontinuitäten prägte viele Prognosen über die zukünftige Rolle Asiens in der Welt. Auch für viel asiatische Autoren stand fest, dass sich ihre Länder weiterhin in einem anarchischen internationalen System behaupten mussten. Der indische Schriftsteller Chandra Chakraberty legte 23 Ebd., 9. Vgl. auch ders.: „The Pacific era begins“, CWR, Bd. 48, Nr. 1 (März 1929), 26–29, 40, hier 28. Siehe zum Werdegang Roosevelts den Nachruf in der New York Times: Wolfgang Saxon: „Nicholas Roosevelt is dead; writer and diplomat was 88“, The New York Times, Onlineausgabe, 17. Februar 1982 [http://www.nytimes.com/1982/02/17/obituaries/nicholas-roosevelt-is-dead- writer-and-diplomat-was-88.html, abgerufen am 30.7.14]. 24 Vgl. Nathaniel Peffer: „America’s Choice in the Far East“, AAAPSS, Bd. 186 (Juli 1936), 89–93, hier 91–93. 25 Vgl. ebd.: The White Man’s Dilemma. Climax of the Age of Imperialism, New York 1927. Vgl. auch die Besprechung seines Werkes in „Our Burden“, TN, Bd. 126, Nr. 3288 (Juni 1928), 647–648. 26 Harrison: Asia Reborn, 377. Auch Russell bekräftigte, dass jedes internationale Handeln den nationalen Interessen folgte und dass deshalb von der Washington Conference wenig zu erwarten sei. Vgl. Bertrand Russell: „Towards an understanding of China“, MR, Bd. 32, Nr. 5 (November 1922), 633–635.
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seinem Werk National Problems von 1923 die Annahme zugrunde, dass Eigeninteresse und nicht Gerechtigkeit in den internationalen Beziehungen waltete: „Nations [...] are friends as long as their interests harmonize, and they become enemies when they clash. The struggle for existence is as acute among men as among the lower organisms.“27 Chakraberty zufolge, der sich auch mit seiner Racial History of India (1919) einen Namen gemacht hatte, war die Vermehrung von Wohlstand und Macht eines Staates ein natürlicher Impuls; es sei deshalb nicht damit zu rechnen, dass Großbritannien Indien freiwillig aufgebe und sich die internationale Position Indiens in absehbarer Zeit verbessere.28 Chakraberty hatte wie andere indische und chinesische Intellektuelle kein Vertrauen in den Völkerbund, den er als „Liga der Sieger“ bezeichnete. Asien habe die Lektion gelernt, dass in den internationalen Beziehungen „the imponderable might“29 das einzige Argument hinter humanitärer Rhetorik sei. Chakraberty war jedoch kein Militarist; im Gegenteil wünschte er sich einen wahren „Bund der Völker“, der moralischen Gesetzen folgte, und warnte vor dem Tag, an dem ein militärischer Konflikt zwischen den unterdrückten Ländern Asiens und den Imperialmächten nicht mehr zu verhindern war. Für seine Strategie des Widerstandes nahm er das jüdische Volk zum Vorbild, dem es seiner Meinung nach gelang, durch strategische Kooperation die Machtpolitik der großen Nationen zu seinen Gunsten zu lenken.30 T’ang Leang-li nahm eine offensivere Haltung ein. Vor dem Hintergrund des japanischen Imperialismus forderte T’ang, der neben seiner journalistischen Tätigkeit die Guomindang-Regierung in außenpolitischen Fragen beriet, eine „revolutionäre Diplomatie“ für China: Der außenpolitische Kurs des Landes dürfe nicht mehr den westlich geprägten Diplomaten mit „slave-mentality“ überlassen werden, die sich auf „long-deceased American statesmen and out-of-date English textbooks on international law and diplomatic etiquette“31 beriefen; um sich von der Kontrolle ausländischer Mächte zu befreien, müsse China eine eigene Philosophie der internationalen Beziehungen entwickeln, die auf einem klareren Verständnis der politischen Realitäten beruhe und auch militärische Niederlagen in Kauf nehme. War das alte machtpolitische System nicht durch Verhandlung zu beseitigen, dann war aus dieser Perspektive die Emanzipation in eben diesem System vonnöten.
27 Chakraberty: National Problems, 4. 28 Vgl. ebd., 8. Vgl. ders.: The Racial History of India, Kalkutta 1919. 29 Ders.: National Problems, 152. 30 Vgl. ebd., 8, 155. Chakraberty sah Indien gar nicht in der Lage, militärisch gegen die Übermacht Großbritanniens vorzugehen, also mit den gleichen Regeln zu spielen wie der Westen. 31 T’ang: New Social Order, 234, 239–242.
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„Might is right“ wurde so zu einer häufig genutzten Formel, wenn auch – nach Aussage vieler Autoren – nicht aus Überzeugung, sondern als Folge enttäuschter Erwartungen.32 Wer eine realistische Perspektive auf die zukünftigen west-östlichen Beziehungen einnahm, dem stellte sich sodann die Frage, ob China und Indien im Spiel der Machtpolitik eine neue Position zukam.
8.1.2 Die Mandschurei und Chinas Rolle für die Strategien der Imperialmächte Seitdem Japan mit dem Sieg gegen China 1895 seinen Einflussbereich auf Korea ausgeweitet hatte, war das Hauptziel seiner Expansionspolitik die angrenzende chinesische Region Mandschurei. Als das japanische Militär 1931 das Gebiet besetzte, war das fragile sino-japanische Verhältnis zerrüttet. Mit der Ausrufung des Marionettenstaates Mandschukuo demonstrierte Japan seinen Willen, die Kontrolle über die rohstoffreiche Region dauerhaft zu festigen und notfalls mit Gewalt zu verteidigen.33 Es war der Beginn eines Souveränitätskonfliktes, der 1937 im Zweiten Chinesisch-japanischen Krieg mündete und im Streit um territoriale Ansprüche im Pazifik bis heute anhält. In den USA hatte die japanische Annexion der Mandschurei nicht viel mehr als eine Politik der Zurückhaltung und des Abwartens bewirkt. Obwohl Japan mit seinem Vorgehen gegen einige internationale Verträge verstieß, wollte die Regierung einen Krieg gegen die aufstrebende Seemacht, mit der man sich mit dem Vertrag von Washington auf ein Mächtegleichgewicht im Pazifik geeinigt hatte, nicht riskieren. In der amerikanischen Öffentlichkeit setzte sich dagegen die Meinung durch, dass das japanische Vorgehen in China nicht toleriert werden konnte. Es war eine emotional geführte Debatte über den isolationistischen Kurs der USA, der es jedoch chronisch an verlässlichen Informationen über die Lage in Ostasien mangelte.34 In den ersten Zeilen seines Werkes Must We Fight in Asia? aus dem Jahr 1935 legte Nathaniel Peffer dessen Programmatik dar: „This is not a book about the Far East. It is a book about war in the Far East, war involving both East and West.“35 Der sino-japanische Konflikt dominierte in Peffers Wahrnehmung die Zukunft Asiens und der west-östlichen Beziehungen. Er war für 32 Vgl. beispielsweise „What shall be our policy toward Japan?“, CSM, Bd. 15, Nr. 3 (Januar 1920), 5–9, hier 6–7. Vgl. Lowe: „Christian Peril“, 145. 33 Zur Mandschurei-Krise und der geopolitischen Strategie Japans siehe Paine: Wars for Asia, 13–25. 34 Zur Wahrnehmung des sino-japanischen Konflikts unter amerikanischen „opinion makers“ siehe Doenecke: When the Wicked Rise, 114–119. 35 Nathaniel Peffer: Must We Fight in Asia?, New York/London 1935, 1.
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ihn der Endpunkt eines historischen Kampfes um die Dominanz über China: Die aufstrebende, dynamische und aggressive Macht einer Epoche habe stets danach gestrebt, das riesige Land zu kontrollieren. Sollte es Japan gelingen, so könne es zur Weltmacht aufsteigen und konkurrierende Mächte vom chinesischen Markt ausschließen; ein Krieg westlicher Mächte gegen Japan in und um China sei dann zu erwarten. Peffers Prognose war nicht neu, sondern dreißig Jahre zuvor von Alfred Mahan vorgebracht worden, der die Mandschurei als „Belgien Ostasiens“ betrachtet hatte.36 Wie bei Mahan kam China auch in Peffers Kriegsszenario die Rolle eines passiven Agenten zu, „to be acted upon, rather than acting“.37 Zumindest mittelfristig, so war er überzeugt, bestimmten fremde Mächte das Schicksal Chinas. Einem Eingreifen der USA stand er jedoch skeptisch gegenüber: Sei die Mandschurei einmal befreit, müsse man dauerhaft präsent bleiben, um Chinas Unabhängigkeit zu garantieren; die Folgen, die mit dem Status der imperialen Schutzmacht einhergingen, seien jedoch unabsehbar.38 Andere amerikanische Autoren zögerten nicht, die Rolle der USA im Kampf um Asien klar zu definieren. Dass dem asiatischen Kontinent und besonders China eine zentrale geostrategische Bedeutung für die Wirtschaftsnation USA zukam, war weitgehend unbestritten; dies zeigte sich in der Debatte über die Sicherung des Freihandels in China. Es gab jedoch Unsicherheitsfaktoren. Neben den japanischen Großmachtsambitionen war auch mit der Expansion Russlands, der Möglichkeit einer russisch-japanisch-chinesischen Allianz und mit der anhaltenden Präsenz Großbritanniens zu rechnen; aus dieser Perspektive war nicht die Isolation Amerikas, sondern seine Einmischung gefragt. Zu denjenigen Autoren, die ein entschlossenes Vorgehen der USA im sino-japanischen Konflikt forderten, gehörte William S. Howe. In der linksradikalen amerikanischen Zeitschrift China Today, die sich als „Champion of China’s Unity, Democracy and National Liberation“ verkaufte, warnte der Journalist vor dem Ende des freien Handels in China, könne Japans Vordringen nicht gestoppt werden.39 Howe hatte sich bereits 1926 zur geopolitischen Bedeutung Chinas nicht nur für die USA, sondern die gesamte
36 So wird Alfred Mahan zitiert in Roosevelt: Restless Pacific, 5. 37 Peffer: Must we Fight, 183. Vgl. auch ders.: „America’s Choice“, 90–91. 38 Vgl. Peffer: Must we Fight, 182, sowie ders.: „Whose ,New Orderʻ in the Far East?“, Amerasia, Bd. 3, Nr. 2 (April 1939), 74–77. 39 Vgl. W. S. Howe: „America’s economic stake in the Far East“, CT, Bd. 5, Nr. 7 (April 1939), 5–6. Ähnlich Boyd Carpenter: „The United States as a Power on the Pacific Coast“, AAAPSS, Bd. 132 (Juli 1927), 89–96. Ein wichtiges Argument für eine aktive Politik der Amerikaner in Ostasien war auch die Verteidigung der Demokratie gegen den Autoritarismus, besonders vor dem Hintergrund des nahenden Zweiten Weltkrieges. Vgl. etwa E. T. Williams: „The Conflict Between Autocracy and Democracy“, AJIL, Bd. 32, Nr. 4 (Oktober 1938), 663–679.
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westliche Welt geäußert. Sein Werk Prospects of World Unity verband geopolitische und zivilisationstheoretische Argumente, um zwei mögliche Lösungswege machtpolitischer Konflikte zu zeichnen: einen kooperativen („Unity by consent“) und einen imperialistischen („Unity by domination“).40 Hierfür unterteilte er die Menschheit in geographische Einheiten, wobei die angloamerikanische Gruppe („Group I“), die mongolische Gruppe Ostasiens („Group II“) sowie die russische Gruppe („Group III“) im Zentrum standen. Er bemaß die „natürliche“ Stärke der einzelnen Einheiten anhand ihres Zugangs zu Rohstoffen sowie der Homogenität, Anpassungsfähigkeit, Vitalität und Intelligenz ihrer Bevölkerung. Dabei kam er zu dem Schluss, dass die angloamerikanische Gruppe die stärkste war, solange Indien zu ihr gezählt werden konnte. Sollte es Japan gelingen, China unter seine Kontrolle zu bringen, könne die mongolische Gruppe ihre Macht jedoch immens ausweiten. Selbst die Herrschaft der Gruppe über Russland wäre dann nicht mehr auszuschließen, könnte jedoch erst dann global ausgeweitet werden, wenn die angloamerikanische Gruppe gleichzeitig – durch den Verlust Indiens – ihre Dominanz einbüße. China, Japan und Indien zusammen seien dann „indefinitely more powerful“ als die weiße Rasse, und ihre Expansion auf dem gesamten eurasischen Kontinent, Afrika und Ozeanien sei dann nicht mehr aufzuhalten.41 Howe betrachtete China aufgrund seiner natürlichen und demographischen Ressourcen als wichtigsten Einzelfaktor für die zukünftige globale Machtstruktur. Wer China dominierte, egal ob die russische oder angloamerikanische Gruppe, dominierte in Howes Vorstellung die Welt. Aus diesen Überlegungen zog er den Schluss, dass die angloamerikanische Gruppe den Einfluss ihrer Zivilisation auf China geltend machen musste, um ihre Existenz zu sichern: „It will be easier to protect themselves by preventing Japan or Russia from attaining a controlling influence“, bekräftigte Howe, „than to protect themselves after China has definitely succumbed to the authority of either“.42 Der transatlantische Zusammenhalt war in Howes Szenario eine notwendige Voraussetzung. Während Großbritannien in erster Linie die Verantwortung für Indien zukomme, werde Amerika auf der Basis des Freihandels und seiner internationalen Kulturinstitutionen für die Stärkung westlicher Ideale in China zuständig sein. Beiden Nationen obliege die Pflicht, Rassenvorurteile zu überwinden, um die kolonialen Gebiete besser zu integrieren und den Glauben an die westliche Zivilisation zu stärken. Howes zweites Szenario der „Unity by Consent“ basierte auf der Vorstellung westlicher Vormundschaft über koloniale Gebiete. Im Gegensatz zum Völkerbund müsse
40 Vgl. W. S. Howe: Prospects of World Unity, Boston 1926. 41 Vgl. ebd., 189, 193. 42 Ebd., 200.
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eine „supreme and beneficient central authority“ angestrebt werden – eine Regierung der Menschheit statt eines Tribunals der Nationen –, in der eine kleine Aristokratie westlicher Völker die vorübergehende Führungsgewalt ausüben müsse. Howe selbst bezeichnete diesen Plan jedoch als utopisch und in der nahen Zukunft nicht umsetzbar; erst einmal sollten sich Amerika und Großbritannien auf ihre „altruistischen Aufgaben“ konzentrieren, dabei Konsens und Dominanz verbinden.43 Howes Text zeigt besonders deutlich, wie leicht sich internationalistische mit geopolitischen und ethnozentrische mit universalistischen Argumenten verbinden, und wie sich pseudo-wissenschaftliche Ausführungen dieser Art auf eine einfache politische Handlungsanweisung reduzieren ließen: die informelle und formelle Kontrolle der westlichen Welt über Indien und besonders China zu stärken. Es ist auffällig, dass bei Howe die geopolitische Einheit des Pazifik keine vordergründige Rolle spielte; sein letztlich sehr abstrakter Ansatz drehte sich vielmehr um China als neues „Heartland“ des eurasischen Kontinents, an dem sich das Schicksal der westlichen Zivilisation entschied. In seinen machtpolitischen Szenarien war die militärische Allianz der Seemächte Großbritannien und USA ebenso implizit mitgedacht wie deren Konkurrenz mit der Seemacht Japan.
8.1.3 Indien als „pivot of the Orient“ Auch für Großbritannien, die dominante Seemacht des 19. Jahrhunderts, war die machtpolitische Konstellation der pazifischen Länder zukunftsweisend. Nicht nur aufgrund seiner beträchtlichen Marinepräsenz, sondern auch seiner ozeanischen Kolonien stellte es neben den USA und Japan die dritte große pazifische Macht der Zwischenkriegszeit dar. Der Washingtoner Abrüstungskonferenz zum Trotz sah man Großbritannien inmitten eines anhaltenden Kampfes um „The Mastery of the Pacific“.44 Oft wurde der britische Marinestützpunkt in Singapur – zu Beginn der 1920er Jahre geplant, aber erst 1939 fertiggestellt – als entscheidender Schritt für die Verteidigung britischer Interessen im asiatisch-pazifischen Raum genannt. Singapur diente dem ehemaligen Premierminister David Lloyd George zufolge in erster Linie dazu, die britische Herrschaft in Indien militärisch abzusichern. Wie er 1925 bei einem Vortrag im IIA über die britische Asienpolitik
43 Vgl. ebd., 236–239, 253–256. 44 Vgl. M. V. R.: „The Mastery of the Pacific“, HR, Bd. 46, Nr. 379 (Januar 1924), 185–188. Die relative Stärke der britischen, amerikanischen und japanischen Marine im Pazifik wurde während der Washington Conference von 1921 auf 5:5:3 festgelegt. Siehe Fung: Imperial Retreat, 16–19.
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betonte, lag die geostrategische Bedeutung Indiens für Großbritannien auf der Hand: To an audience like this it is superfluous to discuss her geographical and strategic value – it stands confessed in any atlas for all who can read a map aright. The influence exerted by that great Peninsula radiates eastward, westward, and southward; upon the Far East, upon Australasia, and upon Africa […], and with the development both in economic and war sciences its significance has increased rather than diminished.45
Großbritanniens außenpolitischer Kurs musste Lloyd George zufolge entsprechend aktiv gestaltet werden. Er räumte jedoch ein, dass der geplante Marinestützpunkt von Seiten Japans als Provokation aufgefasst werden konnte; dies nicht nur, weil er den Willen Großbritanniens demonstriere, neben Indien auch seine Besitzungen im Pazifik langfristig zu verteidigen, sondern auch, weil die Orientierung zum Pazifik hin die Beziehungen zu den USA festige, einem weiteren Konkurrenten Japans.46 Spätestens nachdem Großbritannien die 1921 auslaufende Allianz mit Japan nicht verlängert hatte, waren die Beziehungen zwischen den beiden Imperialmächten merklich abgekühlt.47 Wurde das japanische Reich bis zum Ende des Ersten Weltkrieges als starker Partner – und nicht zuletzt als Verbündeter im Kampf gegen den Kommunismus – geschätzt, sah man in ihm zunehmend eine Bedrohung für das britische Imperialreich in Asien, die sich im sino-japanischen Konflikt konkretisierte.48 Es wurde offensichtlich, dass sich die außenpolitischen Ziele der beiden Länder im asiatisch-pazifischen Raum diametral entgegenstanden. Die „Singapur-Strategie“ diente vor diesem Hintergrund dem Ziel, die japanische Expansion in Asien zu stoppen.49
45 D. Lloyd George: „British Foreign Policy in Asia and its relation to India“, JBIIA, Bd. 4, Nr. 3 (Mai 1925), 109–117, hier 114. 46 Ebd., 112–113. 47 Wichtige Faktoren für die Abwendung des Foreign Office von der Allianz waren zum einen der Druck der USA und zum anderen die japanische Chinapolitik. Siehe P. P. O’Brian: „Britain and the end of the Anglo-Japanese Alliance“, in: ders. (Hg.): The Anglo-Japanese Alliance, 1902– 1922, London/New York 2004, 267–284, hier 269–271, 282. 48 Wie die USA verfolgte auch Großbritannien sehr lange eine Politik der Nichteinmischung in den sino-japanischen Konflikt. Siehe Doenecke: When the Wicked Rise, 9–10. Zur ambivalenten Haltung der Briten gegenüber Japan vgl. auch P. J. Jaffe: „The Far East at the Crossroads“, Amerasia, Bd. 1, Nr. 8 (Oktober 1937), 349–354, hier 351–352, sowie William Nunn: „Realities of the Far East“, AR, Bd. 30, Nr. 4 (Oktober 1934), 689–704, hier 700. 49 Siehe Christopher Bell: The Royal Navy, Seapower and Strategy between the Wars, London 2000, 60. Bell widmet sich auf den Seiten 59 bis 98 den Mythen und Fakten um die britische „Singapur-Strategie“. Zur Entwicklung der britisch-japanischen Beziehungen auch Philip Towle: From Ally to Enemy. Anglo-Japanese Military Relations, 1900–1945, Folkestone 2006.
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Auch Taraknath Das analysierte die machtpolitische Konstellation in Asien sowie Indiens Position darin. Bereits in seinem Werk India’s Position in World Politics von 1922 verwies er auf die besondere Rolle Indiens im britisch-japanischen Verhältnis. Wie Lloyd George begann er seine Untersuchung damit, die geostrategische Bedeutung Indiens für Großbritannien darzulegen. Autoritäten wie Homer Lea, Albert Demangeon, Herbert Adams Gibbons und Lord Curzon hatten seiner Meinung nach die existentielle Abhängigkeit des Empire vom südasiatischen Kontinent zur Genüge bezeugt.50 Als größter britischer Markt, der auch japanische Produzenten anziehe, sei nicht China, sondern Indien entscheidender Faktor in der wirtschaftlichen Rivalität zwischen Großbritannien und Japan: „Japan after having completed the economic conquest of China“, prognostizierte er, „may begin and complete the economic conquest of India“.51 Es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis Japan zu dem Schluss komme, dass ein freies Indien seinen wirtschaftlichen Interessen besser diene als ein von Großbritannien dominiertes. Dass Taraknath Das also die britisch-japanische Rivalität politisch instrumentalisierte, wurde noch deutlicher, als sich gegen Ende der 1930er Jahre die internationale Situation zuspitzte. In einem Artikel, den er 1939 für die amerikanische Zeitschrift Amerasia über die Rolle Indiens in der weltpolitischen Krise verfasste, betonte er, dass Großbritannien in einem möglichen Krieg gegen Japan nicht auf die Unterstützung Indiens zählen konnte, solange es seiner Forderung nach Unabhängigkeit nicht nachkam: If Great Britain continues to pursue a policy of keeping India under subjection, then it would be only natural that Indian nationalists seek cooperation of Britain’s enemies, as revolutionary and republican American colonies sought the aid of reactionary monarchies of Europe […].52
Indische Nationalisten sahen in Indien das Zünglein an der Waage nicht nur für Großbritanniens Zukunft im Pazifik, sondern für das Kräfteverhältnis zwischen Ost und West. Lajpat Rai sah in Indien nichts weniger als „the pivot of the Orient“:53 das politische und wirtschaftliche Zentrum Asiens, und darüber hinaus – weil es rassenbiologisch zu Europa, jedoch kulturell zu Ostasien gehöre – entscheidend
50 Vgl. Das: India’s Position, 12. Ähnlich ders.: The Anglo-Japanese Alliance and America, Washington 1921, 11. 51 Das: India’s Position, 60–61, 63. 52 Ders.: „India and the Present World Crisis“, Amerasia, Bd. 3, Nr. 8 (Oktober 1939), 375–382, hier 382. Auch der Herausgeber der Zeitschrift merkte an, dass Indien als Nachbar Chinas im Krieg gegen Japan eine strategisch wichtige Position einnehme und deshalb beide Weltgegenden nicht getrennt voneinander betrachtet werden konnten. Vgl. ebd. 53 Vgl. Rai: India’s Will to Freedom, 4.
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in Kriegs- und Friedensszenarien zugleich.54 Auch Rai diente dieses geopolitische Argument, um eine schnelle Verbesserung des internationalen Status Indiens zu fordern. In seiner, aber noch mehr in Taraknath Das’ Argumentation avancierte Indien von einem Objekt imperialistischer Großmachtpolitik zu einem eigenmächtigen Akteur, der seine geographische Lage zu nutzen wusste.
8.1.4 Indien und China als neue Großmächte in Asien Der indische Anspruch auf Großmachtsstatus wurde selten militärisch begründet,55 noch seltener räumlich-expansiv gedacht. Aga Khan III., der im Dienst der britisch-indischen Regierung die diplomatischen Beziehungen zu muslimischen Ländern pflegte, projektierte jedoch die räumliche Machterweiterung Indiens in einer „South Asia Federation“. In seinem bereits 1918 veröffentlichten Werk India in Transition stellte er die These auf, dass allein die Imperialpolitik Großbritanniens in Zentralasien die wirtschaftliche und politische Expansion Indiens nach West- und Zentralasien verhindert habe. „Can anyone deny that, if the Mogul Empire had not been dissolved, or if it had been succeeded by a powerful and united Hindu Empire over the whole of India, the lands of the Persian Gulf littoral would long ago have been brought under Indian dominance?“56 In der Zukunft war dem Aga Khan zufolge die Ausweitung des indischen Einflusses auf diese Gebiete nicht aufzuhalten; zu stark sei die durch Migration und Handel exportierte „indische Zivilisation“. Besonders in den schwer erreichbaren Gebieten Afghanistans und Tibets sah er für Indien einen entscheidenden geographischen Vorteil gegenüber der europäischen Konkurrenz, der sich dadurch verstärke, dass diese relativ armen Länder auf billige Waren aus Indien angewiesen seien.57 Die Vorstellung einer südasiatischen Föderation schloss an die Pläne des Aga Khan für die föderale Restrukturierung Indiens an und basierte auf der Idee einer hinduistisch-muslimischen Kooperation über die Landesgrenzen hinaus.58 Obwohl er
54 Vgl. ders.: Political Future of India, 207. 55 Das militärische Potential wurde von Unabhängigkeitskämpfern gerne als subtile Drohung gebraucht; jedoch ging man nicht von einer proaktiven Rolle Indiens aus, sondern von einem möglichen Verteidigungskrieg, vgl. etwa J. T. Sunderland: „Could India, free, protect itself?“, MR, Bd. 43, Nr. 5 (Juni 1928), 646–648, hier 647–648. Ähnlich Lajpat Rai: Unhappy India, Kalkutta 1928, 482. 56 Aga Khan: India in Transition, 10–11. 57 Vgl. ebd., 13. 58 Vgl. ebd., 169–171. Siehe auch Birendra Prasad: Indian Nationalism and Asia (1900–1947), Delhi 1979, 74, 110.
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davon ausging, dass die an Indien angrenzenden Staaten – und in einem zweiten Schritt auch Persien – freiwillig, nur von gegenseitigem Nutzen getrieben, der Föderation beitreten würden, folgten seine föderalen Vorstellungen einer imperialen Logik. Als emphatischer Anhänger des Empire – er sah Indiens Platz künftig als zweiten wichtigen Pfeiler neben Großbritannien – imaginierte er eine innere Struktur für seine Föderation, die diesem nicht unähnlich war. So rankte sein „Indian Empire“ um Indien, das als Schutzmacht der schwächeren Förderationsmitglieder fungierte und gleichzeitig die expansive Politik zur eigenen Sicherheit vorantrieb: Ein Empire im Empire.59 In der Zukunft sah der Aga Khan sein indisches Großreich mit dem expansiven Japan – weniger mit dem seiner Meinung nach militärisch ohnmächtigen, weil politisch führungslosen China – konfrontiert. Der chinesische Politikwissenschaftler Mingchien Joshua Bau zeichnete – in einer Mischung aus geopolitischen und internationalistischen Argumenten – für China jedoch eine ganz ähnliche Rolle als regionale Führungsmacht in Asien wie der Aga Khan für Indien. Sein Konzept der „Policy of World Welfare“ bildete den vierten und letzten Schritt eines außenpolitischen Programms, das die internationale Emanzipation Chinas innerhalb eines kooperativen internationalen Systems vorsah. „It is not sufficient for China to preserve herself, or to recover her impaired rights, or to follow the Golden Rule“, erklärte Bau. „[S]he should also become one of the leaders of the world and devote herself to the service and welfare of humanity.“60 Diese Aufgabe könne China in erster Linie dadurch erfüllen, dass es den Frieden in Ostasien sichere: also die territoriale Integrität jener Nachbarstaaten schütze, die gegenwärtig unabhängig waren oder diesen Status in absehbarer Zukunft erreichen würden. „Call this what you will, – the ,Asiaticʻ Monroe Doctrine, or the doctrine of the Middle Kingdom, – it is the duty of China to care for the integrity and security of these smaller neighbors.“61 Ebenso wie der Aga Khan verwies auch Bau auf die sicherheitspolitische Notwendigkeit einer aktiven politischen Rolle seines Heimatlandes in Asien. Die Annexion Koreas durch Japan, so schrieb er noch vor der Mandschurei-Krise, habe China dem japanischen Expansionismus direkt ausgesetzt, sodass insbesondere die koreanische Unabhängigkeit für die Sicherheit Chinas von existentieller Bedeutung sei. China, und nicht etwa Japan, das diese Rolle für sich beanspruchte, war für Bau sowohl politischer Stabilitätsanker als auch kulturelle
59 Vgl. die Ausführungen des Aga Khan zur „Außenpolitik“ der Südasiatischen Föderation und zu deren Stellung im Empire: Aga Khan: India in Transition, 134–137, 301–302. 60 Bau: Foreign Policy of China, 516. 61 Ebd., 518.
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Führungsnation der gesamten ostasiatischen Region – eine große Verantwortung, wie ihm schien, die nicht in einem „spirit of world domination“ münden dürfe, sondern im Geiste eines Dienstes an der Menschheit getragen werden müsse: „[F]or the day will come when it is not the nation that dominates others that shall be great, but the nation that can render to mankind the greatest service.“62 Bau glaubte an eine internationale Ordnung, die nicht auf dem Recht des Stärkeren beruhte, sondern auf Gleichheit und Kooperation. Dennoch konnte er sich von der Idee einer chinesischen Großmacht innerhalb dieses Systems – eines neuen „Middle Kingdom“ – nicht verabschieden. Seine sicherheitsstrategischen Überlegungen weisen darauf hin, dass er den neuen Friedensmechanismen zumindest für die nahe Zukunft misstraute; nur als regionale Großmacht konnte China aus seiner Sicht die Macht Japans austarieren.
8.1.5 China als „first class power in twenty-five years?“ Im Gegensatz zu Indien, das in der anglophonen Weltöffentlichkeit nur selten als Großmacht im politisch-militärischen Sinn gehandelt wurde, rechneten viele britische und amerikanische Beobachter mit der machtpolitischen Erstarkung Chinas. Es galt als durchaus realistisches Zukunftsszenario, dass es China der imperialistischen Expansion Japans gleichtun könnte. Der britische Politologe Geoffrey F. Hudson, der als Pionier der „Far Eastern Studies“ in Großbritannien galt und in Oxford lehrte, analysierte die internationalen Beziehungen und geopolitischen Konstellationen in Asien. In einem seiner ersten Werke, The Far East in World Politics von 1937, beschäftigte er sich zwar vorrangig mit dem Aufstieg Japans in den Kreis der Großmächte, zu denen er neben Großbritannien und den USA auch Russland zählte; der Bedeutung, die er gleichzeitig China zuschrieb, wurden die Leser seines Buches doch bereits auf der ersten Seite gewahr, auf der ein Photo des jungen Generals Chiang Kaishek prangte. „There are five times as many Chinese as Japanese“, erinnerte Hudson; „the natural resources of China are immensely superior to those of Japan, and her great coalfields in Shensi, Shansi, and Hopei provinces make her much more suitable for large-scale industrialization“.63 Japan müsse vor diesem Hintergrund befürchten, dass ein geeintes und reorganisiertes China schrittweise seine Dominanz untergrub und es schließlich
62 Ebd., 519. 63 G. F. Hudson: The Far East in World Politics. A study in recent history, London 1939 [Erstausgabe 1937], 265–266. Zu Hudsons Werdegang siehe den Nachruf von Roderick MacFarquhar, TCQ, Bd. 58 (April–Juni 1974), 229–230.
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an Macht und Wohlstand übertraf. Den entscheidenden Einfluss – sei es in Form von Verhandlungen oder eines Krieges – auf die gegenwärtige sino-japanische Konkurrenzsituation sprach der Brite jedoch interessanterweise weder Japan noch China, sondern den USA zu, als Garant des freien Handels in Ostasien. Der amerikanische Journalist Philip Jaffe, der zeitweise die linksradikale Zeitschrift Amerasia herausgab und mit dem Stalinismus sympathisierte,64 kritisierte diese Schlussfolgerung Hudsons vehement. Seiner Ansicht nach entstand in China ein Machtzentrum, das weitgehend außerhalb des Zugriffs von Fremdmächten lag.65 Ein unabhängiges China könne auf der Basis seines Potentials wenn nicht zur Weltmacht, so doch zur neuen Führungskraft in Ostasien aufsteigen.66 Für dieses Szenario sprachen die militärischen Ambitionen Chiang Kaisheks, der die chinesische Armee mit Hilfe deutscher Militärberater modernisierte und professionalisierte.67 In zahlreichen Beiträgen setzte sich die Shanghaier China Weekly Review mit den militärpolitischen Maßnahmen des Generalissimus auseinander. Zeigte sich darin Chinas Potential zur Militärmacht? Immer noch nehme der Außenstehende China nicht als solche wahr, erklärte Harvey Harris vom Shanghai College im September 1928; „he carelessly forgets History’s tales of weak countries become strong“,68 fügte er mahnend hinzu. Einige führende Vertreter von Politik und Gesellschaft in China – unter ihnen Chiang Kaishek – hegten ihm zufolge den Glauben, dass China nur dann eine Position der Gleichheit unter den Nationen einnehmen konnte, wenn es einen erfolgreichen Krieg gegen eine anerkannte Weltmacht geführt hatte. Für Henry J. Reilly, einen ehemaligen General der amerikanischen Armee, waren die Fortschritte im Aufbau der Streitkräfte und der nationalistische Militarismus der chinesischen Führungsriege Grund genug, nicht an Chinas Willenskraft und Potential zu zweifeln,
64 Jaffe war in der McCarthy-Ära in den Amerasia-Fall um John S. Service verwickelt. Siehe Lynne Joiner: Honorable Survivor. Mao’s China, McCarthy’s America and the persecution of John S. Service, Annapolis 2009, 136–137. 65 P. J. Jaffe: „The Far East and Shanghai in World Politics“, Amerasia, Bd. 1, Nr. 3 (Mai 1937), 136–138, hier 137–138. 66 Vgl. etwa Millard: Our Eastern Question, 364, und T. B. Partington: Besprechung von N. Golovin: The Problem of the Pacific in the Twentieth Century, AR, Bd. 18, Nr. 56 (Oktober 1922), 689–691. 67 Vgl. „Teaching China to become a Military Nation“, CWR, Bd. 45, Nr. 5 (Juni 1928), 153–154. Zur deutsch-chinesischen Militärkooperation in den 1920er und 1930er Jahren siehe u. a. W. C. Kirby: Germany and Republican China, Stanford 1984, sowie die neuere Untersuchung von Bernd Eberstein: Preußen und China. Eine Geschichte schwieriger Beziehungen, Berlin 2007. 68 H. R. Harris: „Can China Become a Great Military Power?“, CWR, Bd. 46, Nr. 3 (September 1928), 88; „China would attain ,Equality and Justiceʻ through development of a modern navy“, CWR, Bd. 45, Nr. 13 (August 1928), 413–415.
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dieses Ziel auch zu r ealisieren. Reilly, der unter anderem als Korrespondent der Hearst-Presse tätig war, attestierte China den Status einer „first class power in twenty-five years“.69 Sollten die Chinesen eines Tages nicht mehr gegeneinander kämpfen, sondern ihre Kräfte bündeln, kommentierte die China Weekly Review Reillys Prognose, „then the world will have something else to worry about“.70 Spätestens der Zweite Chinesisch-japanische Krieg offenbarte schließlich die Schlagkraft von Chiang Kaisheks Truppen, die gegen die Angriffe der überlegenen japanischen Armee erbitterten Widerstand leisteten.71 Einige Beobachter prognostizierten, dass China völlig ungeachtet seines Rüstungspotentials den Konflikt mit feindlichen Imperialmächten auf lange Sicht für sich entscheiden musste. Entscheidende Gründe hierfür sah man in demographischen Faktoren. „The Chinese may lose wars“, schrieb Nathaniel Peffer, „but they ultimately win by an increasing birthrate, by an astonishing capacity for hard work, by mental agility and an astute commercial sense.“72 Diese Fähigkeiten versetzten die Chinesen aus der Sicht einiger Autoren in die Lage, über das eigene Territorium hinaus zu expandieren, also selbst zu Kolonisierern zu werden. So wies Arnold Toynbee auf die hohe Zahl von chinesischen Auswanderern in Südostasien hin; diese Gebiete, so argumentierte der Diplomat, befänden sich bereits fest in chinesischer Hand und seien dazu bestimmt, in neue chinesische Provinzen überzugehen. Früher oder später treffe die westlich wandernde chinesische Grenze auf das ebenso auf dem eurasischen Kontinent expandierende Indien. „And, after that has happened, I surmise, the frontier between China and India will tend, slowly but surely, to travel westward at India’s expense and in China’s favor.“73 Auch die alten Handelsrouten, die China mit Zentralasien verbanden, begünstigten Toynbees Ansicht nach seine Ausbreitung nach Westen.74 Aber nicht nur auf dem eurasischen Kontinent sah man China wachsen. In William Howes Darstellung möglicher Mächtekonstellationen in Asien firmierte China als Kolonisierer Afrikas und Amerikas: „The Chinese of the future may be great 69 Henry Reilly: „China a first class power in twenty-five years“, CWR, Bd. 38, Nr. 1 (September 1926), 6–11. 70 „China a first class power in twenty-five years“, CWR, Bd. 38, Nr. 1 (September 1926), 3. 71 Chiangs Truppen konnten die japanischen zwar nicht besiegen, aber – auch mit Hilfe russischer Waffen – einen schnellen Sieg der Japaner verhindern. Siehe Paine: Wars for Asia, 125–150. 72 Sokolsky: Tinder Box, 4. Sokolsky sprach sich im Hinblick auf den sino-japanischen Konflikt für eine Allianz der beiden Länder aus, um der westlichen Konkurrenz begegnen zu können. Vgl. ebd., 8. 73 A. J. Toynbee: „Turkey and China. Fellow travelers on the great road to Westernization“, Asia, Bd. 30, Nr. 6 (Juni 1930), 420–425, hier 421. 74 Vgl. etwa C. W. Bishop: „The Geographical Factor in the Development of Chinese Civilization“, GR, Bd. 12, Nr. 1 (Januar 1922), 19–41, hier 40–41.
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developers of regions like the Amazonas Valley and equatorial Africa, where the white man can not labor and the native will not.“75 Da China mit seiner geschäftstüchtigen Bevölkerung zudem das Potential habe, sich zum größten Produzenten weltweit hochzuarbeiten, sei der Einflussgewinn Chinas in der Welt speziell im wirtschaftlichen Bereich zu erwarten. Diese Aussicht befeuerte Zukunftsszenarien, die die west-östlichen Beziehungen von wirtschaftlicher Konkurrenz und dem Kampf um Ressourcen bestimmt sahen.
8.1.6 Der Kampf um wirtschaftliches Wachstum Im Jahr 2013 befanden sich neun der zehn weltgrößten Frachthäfen in Asien, sieben davon in China; der Hafen in Shanghai führte die Liste an, gefolgt von Singapur und Hongkong, das schon als britische Kronkolonie einen der wichtigsten Umschlagplätze des Welthandels darstellte.76 Was heute unverkennbare Realität ist: das Ende der westlichen Dominanz in Welthandel und Weltwirtschaft, war zwar in der Zwischenkriegszeit noch weitgehend Theorie,77 jedoch für manchen westlichen Beobachter der internationalen Beziehungen bereits ein realistisches Szenario und drängendes Problem. Die beiden wichtigsten außenpolitischen Think Tanks in Amerika und Großbritannien, der CFR in New York und das IIA in London, beschäftigten sich intensiv mit der Möglichkeit zunehmender wirtschaftlicher Konkurrenz aus Asien, ihren Entstehungsbedingungen und Konsequenzen. Wie der britische Ökonom Harold B. Butler, der von 1932 bis 1938 das Büro der Internationalen Arbeiterorganisation in Genf leitete, bei einem Vortrag im britischen Institut betonte, erschien die „Eastern Competition“ den Industriellen in westlichen Ländern bereits als bedrohliche Tatsache. Die wachsende Konkurrenz ließ auf fundamentale Veränderungen in der weltwirtschaftlichen Balance schließen. Zwar war Großbritanniens Anteil am Welthandel immer noch so groß wie derjenige aller asiatischen Länder zusammengenommen, doch diese Tatsache wollte Butler weniger als Bestätigung denn als Warnung verstanden wissen: When one thinks that 1,000 million people in Asia command about the same amount of international trade as the 45 million people in these islands, one begins to wonder whether
75 Howe: World Unity, 199–200. 76 Siehe „Top 50 World Container Ports“, World Shipping Council [http://www.worldshipping. org/about-the-industry/global-trade/top-50-world-container-ports, abgerufen am 14.11.2013]. 77 Vgl. etwa R. D. McKenzie: „The Concept of Dominance and World-Organization“, Bd. 33, Nr. 1 (Juli 1927), 28–42.
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that represents an economic distribution which can become permanent, or indeed which is likely to last very long. It means, of course, that a very low standard of living exists in a greater or lesser degree throughout the whole of the East […].78
Das niedrige Lohnniveau galt Butler, dessen Amtszeit von Weltwirtschaftskrise und Mandschurei-Krise überschattet war, wie vielen anderen Wirtschaftsanalysten als größter Wettbewerbsvorteil asiatischer Länder. Obwohl zu erwarten war, dass mit dem Bildungsstandard auch die Löhne wuchsen und Arbeit damit für asiatische Produzenten teurer wurde, ging Butler davon aus, dass ihr Anteil an der Weltwirtschaft auch in Zukunft ansteigen würde; dies war seiner Meinung nach nicht nur darauf zurückzuführen, dass asiatische Produzenten bestehende Märkte übernahmen, sondern dass sie neue Märkte schufen, „by selling things so cheaply that the native peoples can buy them, whereas before they could not buy those things at all“.79 Dies, so Butler, gelte insbesondere auch für Menschen in Afrika. Ein permanenter wirtschaftlicher Faktor sei damit in Asien entstanden, der nicht bekämpft werden könne, sondern Anpassung erzwinge.80 Eine mögliche Bedrohung für die auf wachsende Märkte angewiesenen Volkswirtschaften im Westen stellte der wirtschaftliche Aufschwung Asiens damit in zweierlei Hinsicht dar: Zum einen dann, wenn asiatische Länder selbst zu Produzenten würden, anstatt vorwiegend Rohmaterialien für die Industrien westlicher Länder zu liefern, die ihren Modernisierungsvorsprung damit langsam einbüßten.81 Zum anderen, wenn ein asiatischer oder afro-asiatischer Binnenmarkt entstünde, aus dem westliche Konkurrenten ausgeschlossen waren. In dem Maße, wie die Welt nach Mackinder zunehmend als „geschlossenes System“ empfunden wurde, in dem es keine neuen Territorien zu erschließen gab, konnten regionalistische oder protektionistische Maßnahmen asiatischer Länder die wirtschaftliche Sicherheit exportabhängiger Nation wie Großbritannien immens beeinträchtigen. „The expanding trade of the Pacific“, prognostizierten die britischen Autoren Percy T. Etherton und H. Hessel Tiltman, „will be satisfied not by Lancashire, or London, but by Kobé, Canton, Sydney, and San Francisco“.82 Weil deshalb Europa
78 Harold Butler: „The Labour Problem in the East“, IA, Bd. 18, Nr. 4 (Juli/August 1939), 510–527, hier 512. Zu Butlers Arbeit bei der ILO siehe „Harold Butler, Director-General of the International Labour Organization, 1932–1938“, International Labour Organization, Internetauftritt [http:// www.ilo.org/global/about-the-ilo/who-we-are/ilo-director-general/former-directors-general/ WCMS_192709/lang--en/index.htm, abgerufen am 22.10.14]. Ähnlich J. E. Orchard: „Oriental Competition in World Trade“, FA, Bd. 15, Nr. 4 (Juli 1937), 707–719. 79 Butler: „The Labour Problem“, 520, sowie ebd., 513, 519. 80 Vgl. ebd., 522. 81 Vgl. ebd., 523. 82 P. T. Etherton/H. H.Tiltman: The Pacific. A forecast, Boston 1928, 161.
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von dem zu erwartenden wirtschaftlichen Aufschwung insbesondere Chinas unter Umständen nicht profitierte, erklärten die Autoren wirtschaftliche Konkurrenz zur „wahren Gelben Gefahr“.83 Großbritannien könne die wirtschaftliche Isolation nur abwenden, wenn es einerseits freundschaftliche Beziehungen mit China pflege und andererseits die Kontrolle über seine kolonialen Besitzungen im Pazifik stärke; Vorschläge, die britische Hauptstadt von London nach Sydney zu verlegen, schienen den Autoren zwar voreilig, entsprachen aus ihrer Sicht aber durchaus der zukünftigen Bedeutung Australiens im pazifischen Handel.84 Die Vorstellung eines vollständig industrialisierten Asiens, das den westlichen Ländern Marktanteile streitig machen konnte, weckte im Westen Ängste vor einem Kampf um Wohlstand. „Can such widely differing living standards continue to exist side by side in a closely knit world economy“,85 fragte Butlers amerikanischer Kollege John E. Orchard, Professor für Wirtschaftsgeographie an der Columbia University. Eine naheliegende Alternative zur drohenden Senkung des westlichen Lebensstandards bestand in einem höheren Lebensstandard in Asien. Höhere Löhne und standardisierte Arbeitsbedingungen konnten aus der Sicht der Experten nicht nur die sozialen Folgen der Industrialisierung in asiatischen Ländern mäßigen, sondern auch deren Konkurrenz mildern. Arnold Toynbee propagierte in diesem Zusammenhang eine stärkere Kontrolle der Industrialisierung Indiens und Chinas durch die Internationale Arbeiterorganisation.86 Auch die „Asiatic Emigration“,87 also die massenweise Auswanderung asiatischer Arbeiter in „weiße“ Gebiete – das zweite mit der „Gelben Gefahr“ assoziierte Szenario – schien den Experten durch eine langsame, aber stete Industrialisierung kontrollierbar.88 Charles Batchelder vom CFR forderte vor diesem Hintergrund Finanzhilfen für die Modernisierung asiatischer Länder. Nach Ansicht Batchelders, der wie H. Foster Bain für einige Zeit die „Far Eastern study group“ des Think Tanks leitete, war der Bevölkerungsdruck in Indien und China einer der wichtigsten Gründe für das Aufbegehren gegen westliche Einflussnahme. Um den Druck zu
83 Vgl. ebd., 177, 182. 84 Vgl. ebd., 184, 187–188. Letztlich legitimierten die Autoren mit der Konkurrenzsituation das Empire. 85 Orchard: „Oriental Competition“, 719. 86 Vgl. A. J. Toynbee: The World after the Peace Conference. Being an Epilogue to the ,History of the peace conference of Parisʻ and a Prologue to the ,Survey of international Affairs, 1920–1923ʻ, Oxford 1925, 86–87, und Batchelder: „The Far Reaching Effects of Industrialization“, in: Institute of Pacific Relations, Honolulu Session, June 30–July 14 1925. History, Organization, Proceedings, Discussions and Addresses, Honolulu 1925, 119–124, hier 122–123. 87 Hyndman: Awakening, 180. Vgl. auch Soothill: „Western Races“, 189–190. 88 Vgl. etwa Julean Arnold: „The New China“, 294–295.
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lindern, so Batchelder, könnten die bisher nur leicht besiedelten Gebiete Asiens – etwa die Philippinen – sowie Afrikas und Australiens ohne weiteres eine große Zahl chinesischer und indischer Emigranten aufnehmen; die Frage sei nur, ob man dies zuließe: Will the white races, which now control all these areas, allow the Asiatics to populate some sections, while retaining others for their own occupancy? Further, will the white races be able to feed their expanding millions by agriculture in the temperate zones, or will they be forced to draw their supplies of starches, sugars and oils from the lands which are now covered by tropical forests?89
In der Frage der Migration war demnach aus Batchelders Sicht entscheidend, ob die Versorgung der „weißen“ Bevölkerung mit natürlichen Ressourcen auch in der Zukunft noch gewährleistet war; die Ausgabe der Annals of the American Association of Political and Social Science, in der sein Aufsatz erschien, widmete sich nicht zufällig dem Thema „Raw Materials and Foodstuffs in the Commercial Policies of Nations“. Schienen bei der Migration von Asiaten nach Westen in erster Linie Arbeitsplätze gefährdet, so drohte bei der asiatischen Kolonisierung anderer Teile der Welt, die später „Dritte Welt“ genannt werden sollten, der Verlust ressourcenreicher Gebiete. Die Migrationsproblematik stand damit auch mit dem dritten Angstszenario wirtschaftsgeographischer Natur in den westöstlichen Beziehungen in Zusammenhang: dem Kampf um Ressourcen. Während die Industrialisierung des Westens im 19. Jahrhundert durch die imperialistische Eroberung neuer überseeischer Gebiete vorangetrieben wurde, vermittelte die Aussicht auf die politische Emanzipation großer asiatischer Länder erstmals das Gefühl der Ressourcenknappheit. Wie viele seiner Zeitgenossen sah auch H. Foster Bain, von dessen vielbeachtetem Werk Ores and Industry in the Far East bereits die Rede war, eine wachsende Konkurrenz um mineralische Ressourcen voraus. Nach Ansicht Bains, der zeitweise dem U. S. Bureau of Mines vorgestanden hatte, entstand diese Konkurrenz spätestens dann, wenn die sich nun erstmals industrialisierenden Länder ihren Bedarf nicht selbst decken konnten und deshalb auf jenes weltweite Ressourcenarsenal zugriffen, das bisher ausschließlich den entwickelten Nationen zur Verfügung standen. Wie Japan sei auch China langfristig auf den Import wichtiger Rohstoffe angewiesen,
89 C. C. Batchelder: „Economic Pressure as a Cause of the Revolt of the Asiatic Peoples against Occidental Exploitation“, AAAPSS, Bd. 112 (März 1924), 258–268, hier 267–268. Siehe auch Schulzinger: Council on Foreign Relations, 24–25. Auch Andrews ging davon aus, dass sich die indische Bevölkerung auf der Suche nach neuen Populationsräumen weiter ausbreiten würde, etwa in Brasilien. Vgl. Andrews: India and the Pacific, 204–205.
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um wirtschaftliches Wachstum zu garantieren.90 Dass die Konkurrenz um Ressourcen zu Konflikten und Kriegen führen konnte, demonstrierte die Situation in der Mandschurei eindringlich. Diese Konkurrenz, so betonte der amerikanische Journalist Josef Washington Hall, werde zukünftig dadurch verstärkt, dass dessen verschwenderischer Umgang mit Ressourcen den Westen langfristig von Asien abhängig mache. Chinesische und indische Vertreter eines wirtschaftspolitischen Konservatismus wie Gandhi handelten seiner Meinung nach intuitiv vorausschauend und rational: „The day is very near when the West will be absolutely dependent on the raw materials which the ,slownessʻ of the East will have left unravished. Asia, in large part unwittingly, has saved her pie while we have been eating ours.“91 Obwohl ein Gegner von zivilisatorischen Untergangsszenarien, wurde bei Hall wie bei anderen Autoren ein Bewusstsein der mangelnden Nachhaltigkeit des westlichen Industrialismus deutlich. Die Diskussion über die Bedeutung Chinas und Indiens für die zukünftigen politischen und wirtschaftlichen Machtkonstellationen im asiatisch-pazifischen Raum – so kann zusammenfassend festgehalten werden – kreiste implizit oder explizit mehr um bereits etablierte denn um potentiell aufstrebende Großmächte. In den geopolitisch orientierten Studien, die sich mit den internationalen Beziehungen in Ostasien auseinandersetzten, spielten immer noch Großbritannien, Japan und die USA die Hauptrollen; war China von enormer geostrategischer Bedeutung für alle drei dieser Mächte, so Indien zumindest für Großbritannien, das als immer noch führende Seemacht bei der Neuverteilung von Einflusssphären auch am meisten zu verlieren hatte – nicht zuletzt Indien selbst. Die Vorstellungen einer regionalen Großmacht Indien oder China, wie sie etwa vom Aga Khan und von M. J. Bau vorgebracht wurden, fanden auf westlicher Seite eher wenig Resonanz. Zwar anerkannte man das Großmachtpotential der beiden Länder: Die Gefahr, die besonders von einem militarisierten China ausgehen konnte, wurde ebenso wenig unterschätzt wie das Potential des Landes, seine territorialen Grenzen durch Migration und Kolonisierung gleichsam schleichend zu erweitern. Dennoch betrachtete man China und Indien selten als proaktive machtpolitische Akteure. Dies mag neben der innenpolitischen Situation der
90 Bain: Ores and Industry, 205, 213. Zum frühen Werdegang Bains siehe W. W. Shilts: „H. Foster Bain, 1871–1948“, Illinois State Geological Survey, Prairie Research Institute, Onlineauftritt [http://isgs.illinois.edu/h-foster-bain, abgerufen am 10.8.16]. 91 Vgl. Upton Close [J. W. Hall]: „Europeanization and the Ancient Culture in Pacific Asia“, AAAPSS, Bd. 122 (November 1925), 174–180, hier 179. Ein Beiträger in der Asiatic Review sprach von einem nahenden „conflict between East and West, between the yellow races and the white, brought nearer every day by the inexorable logic of progressive industrialization“. Vgl. John de la Valette: „Industrialism and the Pacific“, AR, Bd. 20, Nr. 64 (Oktober 1924), 585–592, hier 582.
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beiden Länder auch damit zusammenhängen, dass trotz Mackinders These vom zentralasiatischen „Heartland“ der Fokus britischer und amerikanischer Autoren vorwiegend auf der maritimen Machtverteilung lag. Das mögliche Szenario eines chinesisch-russisch-indischen Kontinentalblocks, das durch Machtübernahme der Kommunisten in Russland neues Gewicht erhielt, war in den Zukunftsprognosen zwar präsent, wurde jedoch vom japanischen Expansionismus überschattet. Aus wirtschaftsgeographischer Perspektive wurde die Lage etwas anders beurteilt. China und Indien benötigten keine starke Seeflotte, um wirtschaftlichen Druck auf die großen Imperialmächte auszuüben. Ihre fortschreitende Industrialisierung, gepaart mit den Massen ihrer Arbeiter, die niedrige Löhne und Migration in Kauf nahmen, machten sie zu einem veritablen wirtschaftlichen Konkurrenten. Die Problematik der 1920er und 1930er Jahre unterschied sich dabei wenig von der Situation, wie sie sich den Beobachtern heutiger weltwirtschaftlicher Zusammenhänge zeigt: Die Industrialisierung Asiens schien letztlich nur auf Kosten der westlichen Welt möglich, da hier Märkte weitgehend gesättigt und Rohstoffe knapp waren. Die wirtschaftliche Expansion Chinas nach Afrika, wie sie sich im angehenden 21. Jahrhundert deutlich beobachten lässt, war bereits in der Zwischenkriegszeit eines der möglichen Szenarien, welche die Konkurrenz um Märkte und Ressourcen zwischen westlichen und asiatischen Ländern verschärften. Die Formel von der „Gelben Gefahr“ war diesbezüglich allgegenwärtig. An ihr arbeiteten sich auch wirtschaftsliberale Autoren wie Julean Arnold ab, die zu diesem Zweck Wege aufzeigten, wie drohende Konflikte zwischen Konkurrenten abgewendet werden konnten; auch Angst vor sinkendem Wohlstand motivierte überseeische Investitionen. Es waren jedoch gerade die wirtschaftlichen Motive der Westmächte, die aus der Sicht der asiatischen Nationalbewegungen an der Wurzel ihrer innen- und außenpolitischen Probleme lagen. Asien schien im Widerstand gegen den wirtschaftlichen und politischen Imperialismus der Westmächte geeint.
8.2 Geeintes Asien – starkes Asien: Politischer Panasianismus Neben Nationalismus, Internationalismus und Traditionalismus zählte der Regionalismus zu den Bewegungen der Zwischenkriegszeit, welche die alte Weltordnung in Frage stellten.92 Eine besondere Variante regionaler Raumkonstruktion
92 Sachsenmaier/Conrad: „Introduction“, 11.
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stellten die „Pan“-Bewegungen dar, die nicht nur innerhalb Europas, sondern auch in Amerika, Afrika und Asien zu finden waren und die als Form des Makronationalismus definiert werden können. Sie entstanden überall dort, wo die bestehenden Grenzen als zu eng empfunden wurden, um eine bestimmte historisch, geographisch, ethnisch, rassenbiologisch, religiös oder sprachlich definierte Gruppe zu umfassen. Pan-Bewegungen strebten danach, die Solidarität innerhalb dieser Gruppe zu stärken, und gingen dabei oft normativ und aggressiv vor: Ihre Befürworter reagieren nicht nur auf bestehende Zusammengehörigkeitsgefühle, sondern legen auch fest, „who ‚should belong‘ to the fatherland or motherland“.93 Der Panasianismus teilte mit den anderen außereuropäischen Varianten des Makronationalismus eine antikoloniale und antirassistische Stoßrichtung, blieb in seinen Inhalten jedoch ebenso vage wie vielfältig: Er postulierte die Existenz einer „asiatischen Identität“ auf der Basis kultureller, rassenbiologischer, geographischer und politisch-ideologischer Verbindungen zwischen asiatischen Völkern und war an die ganze Bandbreite politischer Orientierungen anpassbar.94 Panasiatische Ansätze konnten sich mit anderen Pan-Bewegungen, etwa dem Panislamismus, verbinden, wie im Konzept einer Südasiatischen Föderation des Aga Khan.95 Es stellte sich jedoch als kein leichtes Unterfangen heraus, die imaginäre kulturgeographische Einheit Asiens in eine reale geopolitische Einheit zu überführen. Wie T. L. Vaswani feststellte, lag ein gemeinsames politisches Bewusstsein der drei großen asiatischen Länder China, Japan und Indien noch in weiter Ferne. „Hindu-Muslim unity in India is not strong enough yet; Japan does not seem to have abandoned its imperialist ambitions; China has not yet emerged from the chaps of revolution.“96 Vaswani kam im Jahr 1923 zu dieser Einschätzung, drei Jahre bevor die erste Konferenz für asiatische Völker in Nagasaki einberufen wurde. Hier sollte der Grundstein gelegt werden für eine „Asiatische Föderation“, 93 Siehe L. L. Snyder: Macro-Nationalisms. A History of the Pan-Movements, Westport/London 1984, 4–5; Tilman Lüdke: „Pan-Ideologien“, Europäische Geschichte Online (EGO), hg. v. IEG Mainz 2012 [http://ieg-ego.eu/de/threads/transnationale-bewegungen-und-organisationen/panideologien/tilman-luedke-pan-ideologien, abgerufen am 10.8.16]. 94 Siehe Sven Saaler: Pan-Asianism in Meiji and Taishô Japan – A Preliminary Framework, Tokio 2002, 10, 14–15. 95 Die islamische Khilafat-Bewegung, mit der sich auch Gandhi solidarisierte, war eine der ersten politischen Ausdrucksformen panasiatischer Solidarität. Siehe Prasad: Indian Nationalism and Asia, 75. Einen Einblick in den islamischen Asianismus auch speziell des Aga Khan geben Stolte/Fischer-Tiné: „Imagining Asia in India“, 72–73. 96 T. L. Vaswani: „Asia’s intuitions“, TNO, Bd. 1, Nr. 4 (Oktober/November 1923), 37–40, hier 37. Vgl. „Pan-Asiatic League“, MR, Bd. 43, Nr. 1 (Januar 1928), 127–128.
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die auch führende Vertreter der indischen Nationalbewegung wie Gandhi und C. R. Das befürworteten. Dem Freiheitskampf eines jeden einzelnen asiatischen Landes schien durch enge Kooperation besser gedient als durch isolierte Aktionen.97 Die Teilnehmer der Konferenz wurden jedoch schnell gewahr, dass die Pläne für ein kontinentales politisches Bündnis aus verschiedenen Gründen ambitioniert waren: Es bestanden bisher nur wenige reguläre Kontakte auf politischer Ebene, auf die eine solche Föderation aufbauen konnte; auch die pan asiatische Bewegung entwickelte zu keinem Zeitpunkt organisierte Strukturen und konnte auf keine Massenbasis in der Bevölkerung zurückgreifen. Außerdem wurde das vage Gefühl des politischen Zusammenhalts gegenüber den westlichen Imperialisten von scheinbar unüberbrückbaren ideologischen und geopolitischen Differenzen unterminiert – etwa zwischen Indien und den südostasiatischen Ländern, wo die öffentliche Meinung zunehmend von anti-indischen Ressentiments geprägt war, und besonders auch zwischen Japan einerseits sowie China und Korea andererseits, die sich vom japanischen Expansionismus bedroht fühlten.98 Darüber, wie die panasiatische Einheit realisiert, ob und von wem sie zentral angeführt werden sollte, gingen die Meinungen diametral auseinander.99
8.2.1 Schwierige Freundschaften: Japan in Asien Insbesondere Japans Position in Asien war eine ambivalente. Dies betraf erstens die Frage der Identität Japans gegenüber Asien. Als erste asiatische Nation, welche eine europäische Nation militärisch besiegt, weitreichende politische und wirtschaftliche Modernisierungsprozesse durchlaufen und auf diese Weise formal den westlichen „Zivilisationsstandard“ erreicht hatte, hob sich Japan einerseits vom restlichen Asien ab; weil es andererseits mit anderen asiatischen Ländern nicht nur kulturelle und ethnische Gemeinsamkeiten, sondern auch die Rolle als Opfer des westlichen Imperialismus teilte, stellte sich für Japan zunächst die Frage, ob es sich zu Asien oder zur westlichen Welt zugehörig fühlen sollte. Während Japan im intellektuellen Diskurs längst zu einem wichtigen Pfeiler der spirituellen „asiatischen Zivilisation“ erklärt worden war, nahm der Einfluss der panasiatischen Idee auf politische Kreise in den 1920er Jahren kontinuierlich zu; jedoch hielt sie erst mit der Kolonialisierung der Mandschurei in den 1930er 97 Siehe Keenleyside: „Nationalist Indian Attitudes“, 216. 98 Siehe ebd., 220–223; Duara: „Discourse of Civilization“, 116; Snyder: Macro-Nationalisms, 205. 99 Siehe Eri Hotta: Pan-Asianism and Japan’s War 1931–1945, New York/Basingstoke 2007, 3. Sowie Snyder: Macro-Nationalisms, 204.
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Jahren offiziell Einzug in Japans außenpolitische Richtungsentscheidungen, um schließlich während des Zweiten Weltkrieges im Konzept einer „Großostasiatischen Wohlstandssphäre“ zu kulminieren.100 Immer deutlicher kristallisierte sich heraus, dass Japans politische Führung die Zukunft ihres Landes in Asien sah. Zweitens ergab sich aus dieser geopolitischen Richtungsentscheidung die Frage nach der Position Japans innerhalb Asiens. Sollte sich Japan in erster Linie mit den übrigen asiatischen Ländern gleich und solidarisch erklären oder als einzig militärisch aufgerüstetes Land die Rolle als Führer und Befreier Asiens für sich behaupten? War auf der Basis dieses Führungsanspruches die Expansion in andere Teile Asiens zu rechtfertigen? Japan verurteilte den westlichen Imperialismus, um sich gleichzeitig als neue asiatische Imperialmacht zu positionieren.101 Je deutlichere Formen der Gewalt die japanische Imperialpolitik insbesondere gegenüber China annahm, desto weniger attraktiv schien in den restlichen Ländern Asiens die Realisierung einer „Asiatischen Monroe-Doktrin“ unter japanischer Führung. Auf der Jahreskonferenz des IPR 1939 erklärten sich die indischen Delegierten mit China solidarisch, nachdem das Programm einer panasiatischen Föderation nach 1937 endgültig der japanischen Dominanzpolitik geopfert worden war.102 Aufgrund seiner internationalen Anerkennung als Großmacht blieb Japan jedoch noch bis in die 1920er Jahre hinein wichtiger Referenzpunkt und Inspiration sowohl für die panasiatische als auch für die nationalistische Bewegung in Indien. Nach Ansicht Charles Andrews’ war der japanische Sieg über Russland von 1905 für die breite Masse der Inder ebenso bedeutsam wie der indische Sepoyaufstand von 1857.103 Tatsächlich hatten sich die indisch-japanischen Beziehungen seit 1905 intensiviert, was sich in einer wachsenden Zahl indischer Studenten in Japan genauso niederschlug wie in der japanischen Unterstützung
100 Siehe Saaler: Pan-Asianism in Meiji and Taishô Japan, 25. 101 Siehe Duara: „Discourse of Civilization“, 110. Zur Bedeutung der panasiatischen Ideologie für den japanischen Imperialismus siehe Hotta: Pan-Asianism. 102 Vgl. „Third Parties in the Far Eastern Conflict“, in: Kate Mitchell/W. L. Holland (Hg.): Problems of the Pacific. Proceedings of the Study Meeting of the IPR, Virginia Beach, Virginia, November 18–December 2, 1939, New York 1940, 77–88, hier 86–87. 103 Siehe Prasad: Indian Nationalism, 40–45. Siehe zur Bedeutung des Russisch-japanischen Krieges für Indien auch Gita Dharampal-Frick: „Der Russisch-Japanische Krieg und die indische Nationalbewegung“, in: Sprotte/Seifert/Löwe: Der Russisch-Japanische Krieg, 259–275, sowie T. R. Sareen: „India and the war“, in: Rotem Kowner (Hg.): The Impact of the Russo-Japanese War, London/New York 2007, 239–250. Die Überzeugung, Indien und China könnten Asien zusammen politisch anführen, fand sich seltener. Vgl. etwa S. V. Ramamurty: „Modern Japan and its problems“, IR, Bd. 30, Nr. 1 (Januar 1929), 9–11.
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der Swadeshi-Bewegung.104 Sei Japan in der Pflicht, das Vertrauen Indiens und Chinas durch durch einen versöhnlicheren außenpolitischen Kurs wiederzugewinnen, erklärte ein Leitartikel in der wichtigsten indischen Zeitschrift dieser Zeit, der Modern Review, so müssten die Inder das Ihre tun, um anti-japanische Propaganda zu entkräften und die indisch-chinesisch-japanische Freundschaft und Kooperation zu propagieren.105 Für indische Beobachter der internationalen Beziehungen schien es nicht unmöglich, dass Japan mit Indien und China eine „real league of nations in the east“106 vergleichbar mit dem Völkerbund etablieren konnte. Es waren diese drei Länder, die aus der Sicht S. K. Dattas das „asiatische Asien“ konstituierten und vom „Europa zugewandten“ Teil Asiens zu unterscheiden waren. Datta, der aufgrund seiner Arbeit für das YMCA international gut vernetzt war, veröffentlichte seine Abhandlung Asiatic Asia im Anschluss an eine Ostasienreise 1932 in London. Indien, China und Japan bildeten ihm zufolge eine wirtschaftliche Einheit, die sich durch vergleichbare geographische und klimatische Bedingungen, ähnliche sozioökonomische Probleme und einen landwirtschaftlichen Schwerpunkt auszeichnete, sowie in der antiimperialistischen Stoßkraft ihrer Nationalismen auch eine politische Einheit: The general problem faced by these countries was how best to protect themselves against, or at least how best to control, the invasion of outside forces, and, in order to do this, how to acquire for themselves a solidarity, a unity and an inner inspiration which would give them the dynamic or moral power to overcome their own internal disruptions and deal adequately with the new situation which had been forced upon them.107
Das Ende des Imperialismus westlicher wie östlicher Prägung schien für den christlichen Internationalisten auf lange Sicht unabwendbar. Um ihre Rolle in der Welt zu sichern, mussten Indien und China in seiner Vorstellung enge internationale Beziehungen unterhalten, die letztlich in einen Weltstaat münden 104 Im britischen Außenministerium lagen zudem Hinweise auf eine inoffizielle Verbindung Japans zu indischen radikalen Revolutionären vor. Siehe Antony Best: „India, pan-Asianism and the Anglo-Japanese Alliance“, in: O’Brian: The Anglo-Japanese Alliance, 236–248, hier 238, sowie Harald Fischer-Tiné: „Indian Nationalism and the ,World Forcesʻ: Transnational and Diasporic Dimensions of the Indian Freedom Movement on the Eve of the First World War“, JGH, Bd. 2, Nr. 3 (2007), 325–344. 105 T. D.: „The Myth of Japanese Menace and India“, MR, Bd. 40, Nr. 2 (August 1926), 228–229, hier 229, und ders.: „The Second Session of the Pan-Asiatic League and the Future“, MR, Bd. 43, Nr. 1 (Januar 1928), 350–351. 106 Vgl. etwa B. D. Bannerjea: „India and China“, TN, Bd. 124, Nr. 3234 (Juni 1927), 704–705, hier 705. Vgl. auch V. B. Metta: „The Far East“, IR, Bd. 26, Nr. 12 (Dezember 1925), 855–858. 107 S. K. Datta: Asiatic Asia, London 1932, 93, 168.
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sollten. Gleichzeitig wies er darauf hin, dass die Dominanz Japans in „Asiatic Asia“ ein freies Indien zunächst in eine neue imperiale Abhängigkeit – er sprach von einer „Pax Japonica“ – führen könnte.108 Bei Datta, wie bei vielen Autoren der Zwischenkriegszeit, verband sich eine universalistische Langzeitvision mit dem Bewusstsein gegenwärtiger machtpolitischer Konstellationen. Noch weniger als Datta sah Taraknath Das im japanischen Expansionismus eine Bedrohung für Asien oder den Rest der Welt. Die britisch-indischen Behörden stets dicht auf den Fersen, führte ihn seine revolutionäre Agenda bis nach China und Japan. Bereits 1917 hatte er sich in seinem einflussreichen Werk Is Japan a Menace to Asia? mit Japan solidarisch erklärt.109 Er beharrte darauf, dass Japan keinesfalls eine hegemoniale Position in Asien anstrebe; die „Asiatische Monroe-Doktrin“ Japans ziele einzig darauf ab, die panasiatische Bewegung in ihrem Widerstand gegen die westliche Dominanz in Asien anzuleiten. „So far as I know“, bekräftigte er auch noch dreizehn Jahre später in der Modern Review, „Japanese statesmen fully realize that to bring about a condition by which America and Europe will be prevented from keeping Asia in subjection, Japan must have the co-operation of all Asia“.110 Erst der japanische Angriff auf Pearl Harbour 1941 erschütterte Taraknath Das’ Vertrauen in die ostasiatische Macht. Bis zuletzt hatte er sich gegen ein militärisches Vorgehen der Westmächte stark gemacht und die Anerkennung der japanischen Vormachtstellung in Ostasien gefordert.111
8.2.2 Der Ruf nach „asiatischer Unabhängigkeit“ in Indien Basierend auf der „fundamentalen Einheit ihrer Zivilisation“, erklärte Taraknath Das neben Japan auch China und Indien zum Kern der panasiatischen Bewegung. „Asian Independence“ stellte das Leitmotiv einer Reihe von Vorlesungen dar, die er 1935 als Gastdozent an der Catholic University in Washington hielt und die ein Jahr später unter dem Titel Foreign Policy in the Far East veröffentlicht wurden. Darin definierte er das Hauptziel der panasiatischen Bewegung als einen Zustand
108 Vgl. ebd., 170, 176–182. 109 Taraknath Das: Is Japan a Menace to Asia?, Shanghai 1917. Siehe zu Taraknath Das’ Aufenthalt in Ostasien auch Stolte/Fischer-Tiné: „Imagining Asia“, 90–91. 110 Taraknath Das: „Pan-Asianism, Asian Independence and World Peace“, MR, Bd. 54, Nr. 1 (Januar 1929), 44–52. Ein Beiträger in der Indian Review beschrieb die japanische Führungsrolle als „policy of organizing the Eastern States with herself as the standard-bearer“: S. N. Guha Ray: „The Sanghai Rebellion“, IR, Bd. 26, Nr. 7 (Juli 1925), 485–486. 111 Siehe Mukherjee: Taraknath Das, 202–203. Zu Das’ Aktivitäten in Ostasien siehe ebd., 91–114.
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der Gleichheit zwischen den Völkern des Westens und Asiens. Zusammen mit dem Imperialismus musste ihm zufolge auch die Vorstellung von der Minderwertigkeit der „Orientals“ beseitigt werden, um einen drohenden Konflikt zwischen den Erdteilen abzuwenden.112 Anders als im 19. Jahrhundert, als es von inneren Konflikten und mangelndem Freiheitswillen gespalten gewesen sei, sah er Asien nun von Tokio bis Kairo in dem Bewusstsein geeint, dass es nur geschlossen die Schwäche seiner einzelnen Teile überwinden und gegenüber dem Westen bestehen konnte.113 Weil Europa nicht nur militärisch, sondern auch numerisch überlegen sei – er verwies auf Francis Younghusbands Untersuchung European Expansion in Asia (1902), derzufolge die europäische Bevölkerung schneller wuchs als die asiatische –, müsse sich Asien kontinuierlich um politische Gleichheit durch eine „revolution in the field of intellectual achievements“114 bemühen. Den Schlüssel auch zu machtpolitischer Emanzipation sah er in den modernen Wissenschaften. Dieses Konzept der intellektuellen Emanzipation Asiens zu machtpolitischen Zwecken führte Benoy Kumar Sarkar weiter aus. Der Soziologe aus Kalkutta mit der Aura eines Universalgelehrten beherrschte neben Sanskrit und Hindu auch mehrere europäische Sprachen, prägte das öffentliche Leben in Kalkutta und verfügte über eine große, ihn geradezu vergötternde Anhängerschaft.115 Sarkar unternahm zwischen 1924 und 1926 ausgedehnte Studienreisen durch Europa, die USA und Asien. Sein panasiatisches Programm führte er in der Abhandlung The Futur ism of Young Asia aus, die erstmals 1920 in Berlin erschien – einem Zentrum der indischen Diaspora und des indischen Antikolonialismus in Europa.116 Die Idee einer „asiatischen Zivilisation“ lehnte er als orientalistisches Konstrukt entschieden ab. „Neither religion, nor race, nor language, nor all combined“, bekräftigte Sarkar, „are strong cementing principles in the making of alliances“.117 Obwohl 112 Siehe ebd. Vgl. Das: Foreign Policy, xiii, 1–16. Ähnlich ders.: „Sir Frederick Whytes Mission“, 510–512. 113 Vgl. ders.: „Pan-Asianism“, 45. 114 Ders.: Foreign Policy, 13. Vgl. ders.: „Letter to the editor“, CR, Bd. 6, Nr. 2 (Februar 1924), 60–62. 115 Siehe Bhattacharyya: Indian Sociology, 16–17: Sarkar wird hier beschrieben als „an expert in pedagogy, a historian, a political scientist, an economist, a demographer, a sociologist, a journalist“. 116 Vgl. Sarkar: Futurism, iv–vi. Das Werk stellte eine Sammlung von Aufsätzen dar, die teils auf Vorträgen beruhten, die Sarkar in den USA, Frankreich und Deutschland gehalten hatte, teils auf Beiträgen zu diversen Zeitschriften. Zur Bedeutung Berlins für den radikalen indischen Nationalismus und zu Sarkars Einfluss auf Karl Haushofer siehe Manjapra: Entanglement, 90–98, 203–204. 117 Sarkar: Futurism, 17. Seine Studie Chinese Religion through Hindu Eyes, erschienen 1916 in Shanghai, begann Sarkar mit den Worten: „Neither historically nor philosophically does Asiatic mentality differ from the Eur-American.“
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er in diesem Punkt von Taraknath Das abwich, vereinte die beiden Denker eine pragmatische Aneignung der panasiatischen Idee für den antiimperialistischen Widerstand. Die Einheit Asiens, von der Türkei und Ägypten bis Japan, sah er nicht in kulturellen Faktoren, sondern im Widerstand gegen „occidental idolas“: gegen Kolonialismus als politisches und „orientalisme“ als wissenschaftliches Leitprinzip der west-östlichen Beziehungen.118 War dieser Kampf, wie Sarkar ihn sich vorstellte, nicht gänzlich frei von einer militärischen Dimension, so doch primär intellektueller Natur. Ganz Asien sei in einer „Aufklärung of the modern Orient“ begriffen, aus der eine gemeinsame „critique of Occidental Reason“119 hervorgehen müsse. Als Befürworter einer umfassenden Modernisierung lag es ihm fern, die westliche Moderne fundamental zu kritisieren. Vielmehr ging es ihm darum, die intellektuelle Ebenbürtigkeit Asiens zu beanspruchen.120 Dasselbe Ausmaß an Wissensdurst und „Wanderlust“, das sein eigenes Leben geprägt hatte, wünschte er sich auch für die jungen Inder. In seinen Ausführungen über „Young India“ wird besonders deutlich, dass die Idee der „intellektuellen Emanzipation“ Asiens in einem noch komplexeren Verhältnis zur Kategorie der Macht stand, als dies bei Taraknath Das bereits der Fall war. In einer Mischung aus geopolitischen und kulturalistischen Argumenten zeichnete Sarkar ein Bild von „Greater India“, bestehend aus indischen Auswanderern, das nicht nur für die „Aufklärung“ Asiens eine zentrale Rolle spielte, sondern auch einen messbaren realpolitischen Machtfaktor auf der internationalen Bühne darstellte: [T]here exists to-day a „Greater India“ as a power among the powers of the world. And this fact must have to be recognized by every nation that is interested in the political and cultural reconstruction of mankind. For, in every project that is likely to come up before the world Young India is either a potential friend or a potential enemy. Statesmen who are busying themselves with the problem of new alliances or ententes will certainly not overlook this great factor in Realpolitik.121
Die Position indischer Händler, Politiker und besonders der Wissenschaftler im Ausland zeigte ihm zufolge, dass sie den „men and women of the leading races“ ebenbürtig und fähig seien, den „world-test“ zu bestehen: also der Konkurrenz rivalisierender Nationen auf Augenhöhe zu begegnen. Weil sich die politische 118 Vgl. ders., Futurism, iii–iv [Hervorhebungen i. O.]. 119 Ebd., 1 [Hervorhebung i. O.]. 120 Ebd., 18, 333. Siehe auch Bhattacharyya: Indian Sociology, 18–19. Wie Stolte und Fischer-Tiné betonen, verstand Sarkar seine eigenen soziologischen und positivistischen Studien als „postorientalistisch“. Siehe Stolte/Fischer-Tiné: „Imagining Asia“, 89. 121 Sarkar, Futurism, 306.
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Zukunft Indiens am Atlantik und am Pazifik, in den USA, in Russland und China entscheide, dürfe „Young India“ nicht die Augen vor internationalen Rivalitäten verschließen; vielmehr müsse es durch seine Präsenz in Übersee an den indischen Machtfaktor in der internationalen Politik erinnern.122 Sarkar betrachtete die Übersee-Inder demnach weniger als Botschafter der indischen Kultur denn als Vorarbeiter indischer Stärke und Unabhängigkeit. Sarkar maß Indiens geopolitische Bedeutung nicht an militärischen Einheiten oder natürlichen Ressourcen, sondern an seiner intellektuellen „soft power“. Dennoch wird ersichtlich, dass er die internationalen Strukturen als machtpolitische verstand, in denen sich Indien (ebenso wie China) auf seine Art behaupten musste. Das Bemühen um eine „asiatische Aufklärung“ war ihm auch eine Bühne für den antikolonialen Widerstand. Wie Taraknath Das und Lajpat Rai war Sarkar in Übersee in revolutionäre Aktivitäten verwickelt. Während einer Deutschlandreise diskutierte er mit Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg die Möglichkeiten des indischen Aufstandes gegen die britischen Kolonialherren. Er bewunderte die frühe Weimarer Republik für ihren „Freiheitskampf“ gegen alliierte Fremdbestimmung und lenkte die Aufmerksamkeit der indischen Öffentlichkeit auf Kontinentaleuropa.123
8.2.3 Politischer Panasianismus in China: „Asia for the Asiatics“ Galten Japan, Deutschland und Italien124 als Vorbilder Indiens auf dem Weg zu internationalem Ansehen, so fühlten sich doch viele indische Freiheitskämpfer besonders mit China verbunden. Wie Tagore waren sich auch Taraknath Das und
122 Ebd., 365. Siehe auch ders.: „The Foreign Policy of India“, MR, Bd. 30, Nr. 4 (April 1921), 502–507, hier 503. Sarkar forderte auch eine systematische Außenpolitik von „Young India“. Vgl. ders.: Futurism, 360–365. 123 Siehe Bhattacharyya: Indian Sociology, 18–19, 56, 61–64, 83–89. Die deutsch-indische Kooperation war seit 1925 von Taraknath Das verstärkt gefördert worden. An der Münchner Deutschen Akademie hielten einige führende indische Intellektuelle Vorträge. Siehe Mukherjee: Taraknath Das, 197–198. – Mit zunehmendem Alter rückte Sarkar von seiner Kritik an Großbritannien ab, um vielmehr die Bedeutung der Pax Britannica zu würdigen. Siehe Bhattacharyya: Indian Sociology, 65. 124 Obwohl kritisch gegenüber Autoritarismus, konnte sich Sarkar in der Zwischenkriegszeit auch für Mussolinis Italien begeistern. Er sah nicht nur Parallelen zur Swadeshi-Bewegung im Element der Selbstaufopferung, sondern Italien auch als Vorbild für die wirtschaftliche Entwicklung Indiens. Siehe Mario Praxer: „Creative India and the World: Bengali Internationalism and Italy in the Interwar Period“, in: Bose/Manjapra: Cosmopolitan Thought Zones, 236–259, hier 239–241.
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Sarkar der Rolle bewusst, die Indien für den britischen Imperialismus in China gespielt hatte und immer noch spielte und die Indien nun umso mehr eine solidarische Haltung gegenüber China abverlangte. Anders als die Pläne für eine „Asiatische Föderation“, die an fundamentalen politischen Differenzen litten, war der Ausdruck von Sympathie und gegenseitiger Unterstützung im Freiheitskampf ein spürbares, wenn auch wenig effektvolles Element panasiatischer Solidarität.125 Nicht zufällig zitierte deshalb Lowe Chuan-hua Taraknath Das, um die Bedeutung der traditionellen indisch-chinesischen Freundschaft für die politische Zukunft Asiens herauszustellen. Lowe war 1920 in die USA emigriert und 1923 an der University of Chicago in den Wirtschaftswissenschaften promoviert worden. Die berufliche Laufbahn, die darauf folgte, war beeindruckend: Sie reichte von Wissenschaft und Journalismus über verschiedene Ämter in nationalen und internationalen Organisationen bis hin zu politischer Beratung und Diplomatie; er verbrachte die Mitte seines Lebens vorwiegend in China, in diplomatischer Funktion jedoch auch in Burma, Indien, Argentinien und Kanada, bevor er 1952 in die USA zurückkehrte, wo er eine zweite Karriere als Bibliothekar begann.126 Galt Lowes Interesse in den 1920er und 1930er Jahren hauptsächlich sozioökonomischen Fragen, so war seine Perspektive stets grenzüberschreitend. Im Januar 1924 verfasste er einen Artikel mit dem programmatischen Titel „Asia for the Asiatics“ für die New Yorker Zeitschrift China Review, der internationale Aufmerksamkeit erregte. Seine Argumentation ähnelte in großen Teilen derjenigen Taraknath Das’. Auch er sah die asiatischen Nationen und insbesondere Japan, China und Indien in einem gemeinsamen Kampf um „asiatische Unabhängigkeit“ begriffen. Weil ihre Stärke nur im Kollektiv wirksam werde, seien sie in ihrem Schicksal vereint: China cannot stand alone. In her struggle for freedom and peace, she should accept cooperation from any quarter that is truly friendly. Japan has been China’s disciple in the past, and many Japanese statesmen are convinced that “Japan, without China and India, is, in the long run, without legs”. […] India is as closely related to China and Japan as a trunk is
125 Siehe Keenleyside: „Nationalist Indian Attitudes“, 217. In der indischen Öffentlichkeit und auch unter den führenden Vertretern der Nationalbewegung war der Widerstand gegen den Einsatz indischer Truppen für die britische Imperialpolitik in China stark. Siehe Prasad: Indian Nationalism, 100–103. 126 Am Ende seiner beruflichen Laufbahn war er als Archivar mit den Special Collections der kalifornischen Stanford University betraut. Siehe „Chuan-Hua Gershom Lowe, National Party, Chinese Diplomat Papers, 1923–1996“, MS 588, Online Finding Aid, Fondren Library, Woodson Research Center, Rice University [http://www.lib.utexas.edu/taro/ricewrc/00720/rice-00720. html, abgerufen am 1.8.14].
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to an elephant, for the fulfillment of her ambition depends not so much upon the growth of Gandhism as upon the formation of a strong Sino-Japanese Alliance.127
Die politische Interessengemeinschaft, auf welche die panasiatische Idee hier reduziert wurde, bedingte, dass Japan, China und Indien ihre nationalen Ziele der gemeinsamen Sache unterordneten. Aus Lowes Sicht galt es für Japan und China, nicht nur ihre Differenzen beizulegen und sich auf gemeinsame Ziele zu besinnen, auch mussten sie sich stärker für Indien einsetzen, das – einmal unabhängig – zu einer Quelle wirtschaftlicher und politischer Stärke ganz Asiens werden konnte. Der japanische Imperialismus war auch für Lowe kein Hindernis für die Realisierung der panasiatischen Kooperation. Japan – „the political oasis in the vast desert of Asiatic decline“ – habe anders als die anderen asiatischen Länder die militärischen Mittel, sich gegen westliche Aggressionen zur Wehr zu setzen; seine Expansion auf das chinesische Festland folge der Logik der Selbsterhaltung. „Whatever ,Prussianismʻ she has“, sei eine Konsequenz der Schwäche Chinas, der Bedrohung durch Russland und der Gier der Westmächte.128 Lowe verurteilte die „ethics of whitemanism“, welche die Verletzung chinesischer Integrität durch Japan, nicht aber das Vordringen Großbritanniens und Russlands nach Nord- und Westchina verurteilten. Er zitierte den Missionar Sidney Gulick dahingehend, dass vom Überlegenheitsgefühl und der tiefgreifenden Einflussnahme Euro-Amerikas in Asien eine „White Peril“ ausgehe, der nur mit „white expulsion“ zu begegnen sei. Angesichts der apologetischen Haltung Lowes gegenüber Japan überrascht es nicht, dass ihm militaristische Rhetorik nicht fremd war. Zwar erklärte er die Vorstellung eines asiatischen Angriffs auf den Westens für absurd, jedoch machte er gleichzeitig deutlich, dass die asiatischen Nationen künftig eine unüberwindbare Barriere des militärischen Widerstandes errichten würden: „Time was when Asia was likened unto a man who turns his left cheek while his right one is smacked. Not now. […] Asia, let us note, is not Africa. She will never consent to be snuffed out; nor can she regain her impaired sovereignty and lost prestige by sheer wailing.“129 In einer Stellungnahme zu Lowes Artikel legten die Herausgeber der China Review dar, dass dessen Haltung repräsentativ für eine wachsende Zahl von Asiaten sei und deshalb ernst genommen werden müsse.130 Während sich Lowes 127 Lowe Chuan-hua: „Asia for the Asiatics“, CR, Bd. 4, Nr. 1 (Januar 1924), 5–6, hier 5. 128 Vgl. ebd., 5–6. 129 Zitate ebd. Ähnlich ders.: „Why the foreign devil“, CSM, Bd. 20, Nr. 6 (April 1925), 41–44, hier 44. 130 In derselben Ausgabe wurde Lowes Militarismus jedoch kritisiert. Vgl. P. E. Anderson: „China Faces the Future“, CR, Bd. 4, Nr. 3 (März 1924), 68–69, hier 69. Diese Kritik fand sich auch
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internationale Wirkung in erster Linie auf die Radikalität seiner Aussagen zurückführen lässt, war der bedeutendste Vertreter eines politischen Panasianismus im China der frühen 1920er Jahre sicherlich Sun Yatsen. Sun hatte vor und nach dem Umsturz der Qing-Dynastie, an dem er als politischer Aktivist beteiligt war, einige Jahre im japanischen Exil verbracht. Sein Kampf gegen Imperialismus und Rassendiskriminierung und seine Hochschätzung der „asiatischen Zivilisation“ verband ihn mit dem ostasiatischen Land, jedoch bauten seine Hoffnungen auf eine engere sino-japanische Freundschaft und Zusammenarbeit auf ein wackliges Fundament. Im November 1924 hielt er seine berühmte Rede zur Zukunft Asiens im japanischen Kobe.131 Das besondere Merkmal seiner Darlegung eines „Greater Asia“ lag darin, dass er die Solidarität aller Länder Asiens, insbesondere Chinas und Japans forderte, ohne den historischen Zentralitätsanspruch Chinas aufzugeben. Der „westlichen Zivilisation“, als deren Kernprinzip er die Gewalt identifizierte, stellte er eine gütige und gerechte Zivilisation Asiens gegenüber. „This civilization“, so führte Sun aus, „makes people respect, not fear it. Such a civilization is, in the language of the Ancients, the rule of Right or the Kingly Way“.132 Das konfuzianische Prinzip des „Kingly Way“, der friedlichen Herrschaft (wangdao), das im Tributsystem des chinesischen Kaiserreichs verwirklicht war, konnte aus Suns sinozentrischer Perspektive in Zukunft wieder die Einheit und Ebenbürtigkeit Asiens gegenüber dem Westen garantieren. Ähnlich wie Liang Qichao war er davon überzeugt, dass China auch in seiner gegenwärtigen Schwäche sein Ansehen als „superior State“133 bei seinen Nachbarn nicht eingebüßt hatte. Obwohl in Suns Rede dasselbe kulturelle Selbstbewusstsein zu erkennen ist, das auch das neuere Narrativ eines „Greater China“134 speist, fehlte seinem Asianismus eine expansionistische Stoßrichtung. Er sah China keinesfalls als Führer Asiens (oder der Welt) vor, sondern als integralen Teil der panasiatischen Einheit. Sein Asianismus diente dem pragmatischen und nationalistischen Ziel einer Stärkung Chinas gegenüber den Imperialmächten, war jedoch gleichzeitig internationalistisch verankert. Wie Sarkar maß er dem japanischen Sieg über Russland eine
i n der Modern Review: Lowe Chuan-Hwa: ,Asia for the Asiaticsʻ – A Chinese View“, MR, Bd. 35, Nr. 4 (April 1924), 489–498, hier 498. 131 Suns Rede wird wiedergegeben und kommentiert von R. H. Brown: „Sun Yatsen: ,PanAsianismʻ, 1924“, in: Sven Saaler/C. W. A. Szpilman (Hg.): Pan-Asianism. A Documentary History, Volume 2: 1920–Present, Lanham/Plymouth 2011, 75–85. Brown nutzt eine 1941 in Shanghai veröffentlichte Version der Rede. 132 Brown: „Sun Yatsen: ,Pan-Asianismʻ“, 81. 133 Ebd., 82. 134 Wie Prasenjit Duara betont, gewinnt das Narrativ eines „Greater China“, bestehend aus Übersee-Chinesen, heute an Bedeutung. Siehe Duara: „Transnationalism“, 1050.
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formative Bedeutung für die mentale Emanzipation Asiens zu, und wie Tagore appellierte er an Japan, sich dem „Königsweg“ Asiens zuzuwenden: „Now the question remains“, schloss er seinen Vortrag, „whether Japan will be the hawk of the Western civilization of the rule of Might, or the tower of strength of the Orient. This is the choice that lies before the people of Japan“.135 Die Kooperation mit Japan war aus seiner Sicht mittelfristig alternativlos – nicht zuletzt aufgrund der militärischen Stärke des Landes, auf die die panasiatische Bewegung angewiesen war. Denn letztlich, so bekräftige Sun wie Lowe, führte der Weg zur friedlichen Herrschaft über gewaltsamen Widerstand: If we want to regain our rights we must resort to force. In the matter of armaments, Japan has already accomplished her aims, while Turkey has recently also completely armed herself. The other Asiatic races, such as the peoples of Persia, Afghanistan, and Arabia are all war-like peoples. China has a population of four hundred millions, and although she needs to modernize her armament and other equipment, and her people are a peace-loving people, yet when the destiny of their country is at stake the Chinese people will also fight with courage and determination. Should all Asiatic peoples thus unite together and present a united front against the Occidentals, they will win the final victory.136
Während chinesische und indische Intellektuelle die Idee einer „Gelben Gefahr“ als Produkt westlicher Paranoia einheitlich ablehnten, so kreierte doch dieses panasiatische Programm der „white expulsion“ ein Bedrohungsszenario für die Position der Westmächte in Asien. Der politische Asianismus, wenn er auch mehr eine ideologische als eine politische Bewegung war, stellte eine Herausforderung für die auch nach dem Krieg weiterhin westlich geprägte und dominierte internationale Ordnung dar. Sie forcierte eine Stellungnahme westlicher Autoren darüber, wie diese Herausforderung einzuschätzen und wie damit umzugehen war.
8.2.4 „The Challenge of Asia“ und die Zukunft des Westens Wie nicht nur Lowe Chuan-huas Aufsatz in der China Review zeigt, riefen asiatische Konzepte einer panasiatischen Einheit starke Reaktionen in der westlichen
135 Brown: „Sun Yatsen: ,Pan-Asianismʻ“, 85. Während Sun die Ideale und moralischen Ziele der panasiatischen Bewegung noch als „fully Asian“ ansah, wurde die „asiatische Zivilisation“ während der nationalistischen „New Life Movement“ zu Beginn der 1930er Jahre gänzlich mit der chinesischen assoziiert. Siehe Duara: „Discourse of Civilization“, 116–117. Siehe auch den Kommentar von Brown: „Sun Yat-sen: ,Pan-Asianismʻ“, 77. 136 Ebd., 83–84. Vgl. auch P. W. Kuos Bemerkungen zur sino-japanischen Freundschaft. Kuo/ Soyeshima: Oriental Interpretations, 161.
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Welt hervor. Britische und amerikanische Autoren liberaler wie konservativer Orientierung sahen eine Revolte Asiens entstehen und gingen daran, die Eigenschaften dieser Revolte und ihre Auswirkungen für die westliche Welt zu analysieren. Die ideologische Einheit Asiens im Widerstand gegen die politische und kulturelle Dominanz des Westens war unübersehbar; sie manifestierte sich in den nationalistischen Bewegungen, die sich – von der Türkei bis China über den gesamten eurasischen Kontinent hinweg – gegen den westlichen Imperialismus auflehnten; von einem asiatischen „intellectual bloc“ sprach diesbezüglich Thomas Millard.137 Aber war auch davon auszugehen, dass die ideologische Einheit letztlich in ein gemeinsames politisches Programm, also eine Art „United States of Asia“, münden würde? War dann mit einem neuen west-östlichen Kräfteverhältnis zu rechnen? „Are the Yellow races to dominate the world instead of the White?“ Diese Fragen, programmatisch für eine ganze Reihe von Abhandlungen zur Zukunft Asiens, stellte die Amerikanerin Marguerite Harrison ihrem Werk Asia Reborn von 1928 voran.138 Harrison, eine der wenigen Frauen in der männerdominierten Weltöffentlichkeit, wandte sich von der privilegierten Oberschicht Neuenglands ab, in die sie hineingeboren wurde. Nach dem Tod ihres mittellosen ersten Ehemanns verdiente sie den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn als Redakteurin für den Gesellschaftsteil der Baltimore Sun. Bekanntheit erlangte Harrison schließlich als Spionin für den amerikanischen Geheimdienst; eine Position, für die sie sich 1918 selbst beworben hatte und die sie neben Japan und China vor allem nach Russland führte, wo sie auch zweimal inhaftiert war. Diese Erfahrungen und besonders das Wissen um fehlende Informationen der breiten Bevölkerung über Asien prägten ihr Selbstverständnis als öffentliche Aufklärerin: „Instead of the vague uneasiness created in our minds by the highly sensational literature of exponents of the so-called ‚racialism‘ – too often merely race prejudice – there has come a genuine desire to know ‚What is really going on in Asia‘.“139 Die Geschichte Asiens sah Harrison, die in späteren Jahren auch die Society of Women Geographers in der amerikanischen Hauptstadt mitbegründen
137 T. F. Millard: Conflict of Policies in the Far East, New York/London 1924, 39. 138 Harrison: Asia Reborn, vii. 139 Ebd. Zu Harrisons Werdegang siehe „Harrison, Marguerite (1879–1967)“, in: Anne Commire/ Deborah Klezmer (Hg.): Dictionary of Women Worldwide: 25,000 Women Through the Ages, Bd. 1, Farmington Hills 2007, 832, sowie E. F. Olds: Women of the Four Winds, Boston 1985. Ihre Erlebnisse im Gefängnis verarbeitete Harrison in Marguerite Harrison: Marooned in Moscow: the story of an American woman imprisoned in Russia, New York 1921, sowie in dies.: Unfinished tales from a Russian prison, New York 1923. 1935 erschien ihre Autobiographie: dies.: There’s always tomorrow: the story of a checkered life, New York 1935.
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sollte, in erster Linie durch ihre geographischen, klimatischen und demographischen Bedingungen bestimmt.140 China und Indien stellten in Harrisons Vorstellung die kontinentalen Dreh- und Angelpunkte dar. Eine tragfähige Grundlage für die politische Einheit Asiens sah sie dagegen nicht. „Scattered over the Asiatic continent“, schrieb Harrison, „are small groups of idealists who believe in Asiatic unity“; die Differenzen und kulturellen Unterschiede zwischen den asiatischen Ländern waren ihrer Ansicht nach noch größer als in Europa, sodass sich politische Allianzen zwischen Nachbarn und „countries belonging to their own racial groups“ erst in den Anfängen befänden.141 Wie viele Autoren dieser Zeit arbeitete Harrison mit dem Begriff der Rasse, den sie grob mit dem der Zivilisation gleichstellte. Die Frage nach dem zukünftigen Verhältnis der Rassen zueinander fand sie überbewertet, weil von natürlichen Gesetzen bestimmt und unbeeinflussbar. Die europäische Zivilisation, erklärte sie, „is being assimilated and Asiatized by the peoples of the Orient – a fact which in itself holds the promise of something better than humanity has ever known“142. Harrisons Optimismus hinsichtlich der „Asianisierung“ der europäischen Rasse hatte Seltenheitswert. Andere Autoren zeichneten in ihren Abhandlungen zur Zukunft der west-östlichen Beziehungen das Bild eines Rassenkonfliktes. Valentine Chirol zufolge bargen die angespannten west-östlichen Beziehungen die Gefahr, dass sich alle politischen, sozialen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen „into one comprehensive color problem“143 verbinden könnten. In dem Maße, wie der „white man’s claim to racial superiority“ alle Völker Asiens in einem gemeinsamen Kampf vereine, sei die Menschheit von einem „deadly racial conflict“ bedroht.144 Dass die Errungenschaften der westlichen Zivilisation letztlich gegen diese verwendet werden könnten, bildete den Kern vieler Angstszenarien.145 Angesichts der globalen Verbreitung militärtechnischen und -strategischen Wissens war auch eine militärische Herausforderung durch Asien möglich geworden. Selbst wenn eine Militarisierung der „colored races“ der Selbstverteidigung und Beseitigung westlicher Einflussgebiete diene, warnte der New Yorker Politikwissenschaftler No-Yong Park, könne das Schicksal
140 Harrison: Asia Reborn, 8. 141 Zitate ebd., 376–378. 142 Ebd. 143 Valentine Chirol: „The Great Indian Experiment“, in: ders./Yusuke Tsurumi/J. A. Salter: The Reawakening of the Orient and Other Addresses, New Haven 1925, 30–63, hier 62. 144 Ders.: „The Reawakening of the Orient“, in: ders./Tsurumi/Salter: Reawakening of the Orient, 3–29, hier 6. Vgl. auch Rice: Challenge of Asia, 184–185, sowie ebd., 178–179. 145 Vgl. etwa Millard: Conflict of Policies, 40–41.
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des Westens bald in asiatischer Hand liegen; zumindest dann, wenn sich Europa weiterhin durch Kriege selbst schwäche.146 Die Revolte Asiens stellte aus dieser Sicht nicht nur die Expansion der Westmächte in Asien, sondern deren Zukunft als solche in Frage. Die Reaktion auf Angstszenarien dieser Art fiel unterschiedlich aus. Während einige die politische Stoßkraft eines geeinten Asiens anzweifelten – Frederick Whyte zufolge wurde diese Idee von asiatischen Propagandisten vorangetrieben und von „alarmistischen“ Autoren im Westen aufgenommen147 –, sahen andere in der Veränderung globaler Machtverhältnisse die Möglichkeit eines Neuanfangs.
8.2.5 Ein Ende des Kräftemessens? Die asiatische Revolte als Chance Vielen Autoren ging es in letzter Konsequenz nicht um ein Kräftemessen zwischen Asien und dem Westen, sondern darum, Wege zu finden, um eine Eskalation des Konfliktes abzuwenden.148 Man war sich bewusst, dass die panasiatische Solidarität ihre Wurzeln im Kampf um politische Unabhängigkeit und – damit verbunden – um die Anerkennung zivilisatorischer Gleichheit hatte. Vor dem Hintergrund der Bemühungen um eine internationale Neuordnung galt es, die Situation als Chance zu begreifen und den Imperialismus sowie die Ideologie der Zivilisierungsmission, die ihn stützte, zu überwinden.149 Das Heraufbeschwören von Ängsten wurde dann als hinderlich kritisiert.150 Der Orientwissenschaftler Herbert Gowen, meinte, zuerst müsse das Misstrauen beseitigt werden. Panikmachern riet er, die Situation in Asien anstatt von einer europäischen doch besser
146 Park: Retreat of the West, 313, 330–331. Henry Hyndman sprach vom möglichen Szenario eines sich rächenden Asien: „[W]e may have good cause to fear Asians again“. Hyndman: Awak ening, 266. 147 Vgl. Whyte: Asia, 143. Argumente waren u. a. mangelnde Führungskraft Japans, die unterschiedlichen Interpretationen des Panasianismus und der Nationalismus, der regionalen Bündnissen entgegenwirke. Vgl. O. D. Rasmussen: Reconquest of Asia, London 1934, 325–326; „The Asia Society and the Pan-Asian Movement“, CWR, Bd. 29, Nr. 11 (August 1924), 356–357, hier 357; Tiltman: The Uncensored Far East, 298. 148 Dies traf etwa für Valentine Chirol ebenso zu wie für No-Yong Park. Vgl. Chirol: India old and new, 308; Park: Retreat of the West, 332. Dem Journalist Herbert Gibbons zufolge war eine Haltung erforderlich, „neither too sanguine nor too hopeless“: Gibbons: „The Storm out of Asia“, 345. 149 Von einer „racial disarmament“ sprach Charles Freer Andrews. Vgl. C. F. Andrews: „India – Symbol of Eastern Aspirations“, TWT, Bd. 13, Nr. 3 (März 1930), 110–111, hier 111. Besonders deutlich wurde auch Henry Hyndman: Das Ende des westlichen Imperialismus in Asien durch die panasiatische Revolte betrachtete er als Segen. Vgl. Hyndman: Awakening, 271. 150 Das: „The Occident and the Orient“.
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von einer pazifischen Perspektive aus zu betrachten; dann zeige sich, dass die pazifischen Länder längst daran gingen, die „policy of mutual fear“ durch eine Politik der Kooperation und Verständigung zu ersetzen.151 Noch deutlicher in die Pflicht genommen wurden die westlichen Nationen vom amerikanischen Journalisten Josef Washington Hall. Wie Herbert Gowen lehrte er zeitweise an der University of Washington; zusammen veröffentlichten sie 1926 eine umfassende Geschichte Chinas.152 Hall, der auch unter dem Pseudonym Upton Close schrieb und der sein Image als Kenner Asiens in öffentlichen Vorträgen pflegte, war für seine kompromisslose und provokante Imperialismuskritik bekannt. In seinem Werk Revolt of Asia untersuchte er die Lage in Asien insbesondere auf die Konsequenzen hin, welche sich daraus für den außenpolitischen Kurs der USA ergaben. Ähnlich wie Harrison erklärte er, die Geschichte der Revolte erzählen zu wollen, wie er sie während seiner langen Reise durch Asien erlebt hatte, ohne das allgegenwärtige Thema der „Gelben Gefahr“ unnötig auszuführen.153 Auch Hall bestritt, dass man es mit einer panasiatischen Bewegung im politischen Sinn zu tun hatte: wie alle Nationen besäßen auch die Nationen Asiens eine große „capacity for egotism“.154 Wie viele andere Beobachter machte er dagegen eine asienweite „singleness of spirit“ aus, in deren Zentrum er das aufstrebende China sah; hier weise der antiimperialistische Widerstand eine große Wirkkraft nach außen auf: Where Japan had already proved herself and joined the great powers, China, undertaking her advance anew just when Asia began to seethe with the ferment of nationalism, offered a “lead” more easy to grasp to peoples more backward in the same long struggle. […] Her revolt is opportune; her reasonable mood, bound by no fanaticism against other peoples, makes her a pivot of sympathy and intellectual fellowship in Asia. […] With the rise of China a new era for all the Asian peoples, and the change of our reaction as a race to the greatest and oldest of continents, is determined.155
151 Vgl. Gowen: Asia, 350–351. Ähnlich auch ders.: „Asia’s challenge“, TWT, Bd. 9, Nr. 1, 27–28, hier 28. 152 Vgl. ders./Hall: Outline History. 153 Hall: Revolt of Asia 3. Halls Vortragsreisen sind dokumentiert in der Postersammlung der University of Iowa Digital Library: „Upton Close (Josef Washington Hall)“, Sammlung „Traveling Culture: Circuit Chautauqua in the Twentieth Century“, University of Iowa Libraries, Iowa Digital Library [http://digital.lib.uiowa.edu/cdm/search/collection/tc/searchterm/upton%20close/ order/person, abgerufen am 1.10.14]. 154 Während er eine wirtschaftliche Interessengemeinschaft zwischen China und Japan immerhin für möglich hielt, sah er keine tragfähige Grundlage für eine Allianz zwischen China und Indien – zu groß waren ihm zufolge deren kulturelle Differenzen. Vgl. Hall, Revolt of Asia, 200–207. 155 Ebd., 79–80, sowie 18.
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Bemerkenswert in Halls Ausführungen ist jedoch nicht nur die Rolle, die er China für die Revolte Asiens zuschrieb, sondern auch diejenige Russlands. Der Erste Weltkrieg hatte ihm zufolge das Mächtegleichgewicht zwischen „Rassen und Kontinenten“ nicht nur dadurch fundamental verändert, dass er die europäischen Mächte schwächte, sondern auch, indem er Russland nach Asien „zurücktrieb“. „The thought that a great ,whiteʻ nation should line up on the side of the Asiatic peoples to bring to its end the dominance of the white race in the world may shock us“, schrieb Hall.156 Überwinde man jedoch seine Vorurteile gegen die Regierung der Bolschewisten, so zeige sich, dass die Orientierung Russlands nach Asien vom historischen und geographischen Standpunkt aus logisch und unvermeidbar sei. Schneller als seine westlichen Rivalen habe Russland die Regeln des machtpolitischen Spiels in Asien geändert und den unterdrückten Ländern Unterstützung angeboten – Hall sprach von einem „enlightened imperialism“, der mit dem innenpolitischen Idealismus der Sowjets im Einklang sei: „Approve it or not – it is the most portentous piece of enlightened international philanthropy since France helped to make America a nation.“157 Hall selbst war kein Kommunist, jedoch davon überzeugt, dass auch sein Heimatland einen idealistischeren Imperialismus verfolgen und hierfür insbesondere seine rassistischen Vorurteile überwinden musste; dies schien notwendig, um eine amerikafeindliche Allianz zwischen Russland, China und Japan zu verhindern und die Zukunft der amerikanischen Freihandelsnation im pazifischen Zeitalter zu sichern.158 Seine geopolitische Abhandlung beendete Hall in universalistischer Manier: We have come to the end of the White man’s world dominance. If he resigns himself to this historic evolution he will save his world and the Asiatic’s world. If he resists he will likely bring about the destruction of both. We have come to the beginnings of the White and Coloured Man’s joint world, when each shall have control in his own house and a propor tionate say in the general convocation of humanity.159
156 Ebd., 128. Auf den Seiten 128–155 folgt eine ausführliche Darlegung der Rolle Russlands. 157 Ebd., 155. Hall war der Meinung, Russland baue seinen Einfluss in China und Japan auch auf kulturellem Wege aus. Vgl. Upton Close [J. W. Hall]: „Russia and Japan – Champions of a new East“, Asia, Nr. 8 (August 1923), 553–557, 601–604, hier 554–556. 158 Vgl. ebd., 284–305. Auch Großbritannien und Japan sah er bereits auf dem Weg zu einem „enlightened imperialism“. Vgl. ebd., 300. Ähnlich wurde auch in der China Review argumentiert, dass sich asiatische Länder aus Frustration mit den Westmächten Russland und dem Bolschewismus zuwenden könnten. Vgl. etwa Richard Hatton: „Alienating the Chinese Millions“, CR, Bd. 6, Nr. 2 (Februar 1924), 46–47, und „The Pulse of Asia“, CR, Bd. 4, Nr. 2 (Februar 1923), 56–57, 89. 159 Close: „Russia and Japan“, 325.
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Nicht nur in dieser letzten Schlussfolgerung ähnelten Halls Analysen denen Marguerite Harrisons. Harrison ging noch einen Schritt weiter und projektierte die Überwindung des Imperialismus in einer „World-Federation“.160 Zudem brachte es ihre Spionagetätigkeit in Russland mit sich, dass auch sie hier ihren Fokus hatte. Russland befand sich nach Ansicht einiger Zeitgenossen nicht nur geographisch, sondern auch historisch und intellektuell in einer Zwischenposition zwischen Europa und Asien und war schon allein aufgrund dieser Bedingungen von großer Relevanz für Projektionen zukünftiger Weltordnungen.161 Dass sich der sowjetische Einfluss in Asien vergrößern könnte, schien Harrison wahrscheinlich; den Grund dafür sah sie jedoch in der sozialrevolutionären Ideologie. Die sozialen Ideale des Leninismus betrachtete sie als Quelle der Revolte Asiens. Die Unabhängigkeit Indiens und Chinas sei bisher vor allem deshalb unerreicht geblieben, weil die Glaubenssysteme dieser Länder keine Anleitung zu kollektivem Handeln gäben. Vor diesem Hintergrund könne die leninistische Ethik – vermittelt durch den sozialistischen Internationalismus – in Asien mit der Kraft eines „political evangel“162 wirken. Wie Harrison hoben auch andere Autoren den sozialrevolutionären Charakter der „Revolte Asiens“ hervor. Dabei war weniger von einer „intellektuellen Bewegung“ für politische Gleichheit und Unabhängigkeit die Rede als von einer Revolution der „asiatischen Massen“ gegen soziale Tyrannei und Unterdrückung.163 Wie der amerikanische Journalist und Historiker William Chamberlin feststellte, konnte der Einfluss der russischen Revolution in einem ideologischen und der bolschewistischen Regierung in einem politischen Sinn auf Asien nicht überbewertet werden. Moskaus revolutionäre Theorien für die Lösung der sozioökonomischen Probleme Asiens stachen seiner Meinung nach die evolutionären Methoden des Westens aus. Bevor Chamberlin angesichts des deutschen und japanischen Nationalismus 1940 in den Schoß des amerikanischen Individualismus zurückkehrte, sympathisierte er mit den Kommunisten und wanderte sogar in die Sowjetunion aus. Aus seiner Sicht wie aus der Sicht anderer linker Autoren war es in erster Linie die russische Revolution, welche die Machtbalance
160 Vgl. Harrison: Asia Reborn, 377. Ähnlich auch Herbert Gibbons für die New York Times (28. Dezember 1924), zitiert in Das: „The Occident and the Orient“, 37. 161 Vgl. zu diesem Bild Russlands etwa Andrews: India and the Pacific, 211. 162 Harrison: Asia Reborn, 374. Vgl. zu Harrisons Bild des aufstrebenden Russlands auch ihr Werk Red Bear or Yellow Dragon, New York 1924. 163 Hunt: Rising temper, 22. Ähnlich auch C. F. Andrews: „Asia in Revolution“, MR, Bd. 52, Nr. 4 (Oktober 1932), 373–376. Brailsford sah die russischen und die chinesischen Massen in ihrem Kampf vereint. Vgl. H. N. Brailsford: „The Chinese Revolution as Moscow sees it“, ISR, Bd. 37, Nr. 47 (Juli 1927), 744–746, hier 746.
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III Weltordnungskonzepte
z wischen den westlichen Nationen und einem russisch-asiatischen Block entscheidend verändert hatte.164
8.2.6 Internationaler Sozialismus und die Befreiung der unterdrückten Völker Asiens In einem Brief an den amerikanischen Missionar W. Plumer Mills, der für die YMCA und das Presbyterian Mission Board in Nanjing tätig war, äußerte sich S. K. Datta zur Ausbreitung der sozialen Revolution in Asien: As I read the material which comes to me from China, Japan and India, as well as from Indo-China and Java, it is impossible to get away from the view that Russia has succeeded in doing something that is arresting the attention of the Asiatic peoples. Sun Yatsen was quite right when he placed such emphasis on the livelihood of millions of Asiatic peoples […].165
Russland stellte auch für Datta ein zentrales Element der asiatischen Einheit dar. Wie Hall betonte er den revolutionären Charakter der russischen Diplomatie, die anders als der Völkerbund die Gleichheit aller Rassen und Nationen anerkenne.166 Den bolschewistischen Einfluss in China und anderen asiatischen Ländern verstand er als zentrales Problem der Zukunft, da er ein Spannungsfeld zwischen zwei konkurrierenden Kräften öffnete – „the discontented East on the one hand and very contented West on the other“.167 Die Wirkung der bolschewistischen Revolution auf den Panasianismus bestand in erster Linie darin, dass sie ihn polarisierte. Lenin stellte den Internationalismus der Komintern als Alternative zu einem Asianismus dar, der zunehmend mit Japans Ultranationalismus assoziiert wurde.168 Der internationale Sozialismus – oder auch soziale Internationalismus – war keine regionale, sondern eine globale Ideologie, die in ihrer Ursprungsform auf der weltweiten Kooperation der Arbeiterklasse aufbaute; mit dem Verständnis des I mperialismus 164 Vgl. W. H. Chamberlin: „The Soviet Shadow in the East. How Moscow meets European Evolutionary method in Asia with Revolutionary Theory“, Asia, Bd. 26, Nr. 3 (März 1926), 236–241, 263–266, hier 265–266. Noch bis in die 1960er Jahre hinein publizierte Chamberlin zur Geschichte der Sowjetunion. Vgl. zu seinem Werdegang die Autobiographie: Confessions of an Individualist. 165 Brief von S. K. Datta an W. P. Mills (31. Mai 1930): S. K. Datta Private Papers, IOR, British Library, London: MSS Eur F 178/17. 166 Datta: Asiatic Asia, 166. 167 S. K. Datta: „Some Problems of the Pacific: Questions of the Pacific“, Diskussionsrunde des IPR: S. K. Datta Private Papers, IOR, British Library, London: MSS Eur F 178/35. 168 Siehe Aydin: Politics of Anti-Westernism, 147. Vgl. hierzu etwa Kinsic Kim: „The Asiatic Revolutionary Movement and Imperialism“, TCoR, Bd. 3, Nr. 3 (Juli 1922), 137–147.
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als „most advanced form of capitalism“169 bot er jedoch auch panasiatischen Konzepten linker Orientierung fruchtbaren Boden. „The goal of nationalist Asia“, schrieb etwa Benoy Sarkar, „is [...] identical with that of internationalist EurAmerica. The emancipation of mankind from all possible sources of exploitation, atrophy and degeneracy is the common objective of both“.170 In Sarkars Vorstellung verbündete sich „Young Asia“ mit den sozialistischen Elementen der westlichen Länder, um eine sozialere Weltordnung zu realisieren. Auch Sun Yatsen gehörte zu den asiatischen Intellektuellen, die den Zweck der panasiatischen Einheit, zu der er ausdrücklich auch Russland zählte, darin sahen, die unterdrückten Klassen und Völker in Asien vom kapitalistischen Imperialismus zu befreien.171 Nach seiner Machtübernahme kooperierte Sun mit der Komintern, um die Guomindang nach leninistischem Muster zu strukturieren. An den ersten großen Konferenzen, welche die Rolle der asiatischen Länder für den internationalen Sozialismus festschrieben, nahm er jedoch nicht teil. Der Congress of the Peoples of the East, den die Komintern 1920 in Baku zusammenrief,172 kam gewissermaßen zu früh: Sun Yatsen befand sich noch inmitten des innenpolitischen Machtkampfes gegen die Warlords. Als dann im Februar 1927 die erste Konferenz gegen koloniale Unterdrückung und Imperialismus in Brüssel tagte, war Sun bereits seinem Krebsleiden erlegen. Das wichtigste Ergebnis des Brüsseler Kongresses – eine Zusammenkunft von Antikolonialisten aus Europa, Asien, Afrika und Lateinamerika – bestand in dem Beschluss, die Liga gegen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit zu gründen.173 Das Hauptanliegen der Liga war laut Statut die „Vereinigung aller Personen und Organisationen, die ohne Rücksicht auf ihre besonderen Ziele den Kampf gegen den Imperialismus und die politische und soziale Befreiung aller Völker unterstützen“.174 Damit stellte die Liga eine Plattform dar, auf der sich nationalistische Bewegungen kolonialer und halbkolonialer Länder untereinander sowie mit den 169 Dutt: Modern India, 166. 170 Sarkar: Futurism, 32. 171 In der „russischen Zivilisation“ sah Sun dieselbe Hinwendung zur „Rule of Right“ wie in „our ancient civilization“: Brown: „Sun Yatsen: ,Pan-Asianismʻ“, 84. Vgl. auch „Sun Yatsen on PanAsia“, TN, Bd. 124, Nr. 3217 (März 1927), 245–247, hier 246–247. 172 Siehe zum Kongress in Baku John Riddell (Hg.): To See the Dawn. Baku, 1920 – First Congress of the Peoples of the East, New York 1993. 173 Diese ging aus der „Liga gegen Kolonialgreuel und Unterdrückung“ hervor, die im Februar 1926 in Berlin gegründet worden war. Siehe J. D. Hargreaves: „The Comintern and Anti-Colonial ism: New Research Opportunities“, African Affairs, Bd. 92, Nr. 367 (April 1993), 255–261, hier 255. 174 Hans Piazza: „Die Antiimperialistische Liga – die erste antikoloniale Weltorganisation“, in: ders. (Hg.): Die Liga gegen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit, 1927–1937, Leipzig 1987, 6–43, hier 7.
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III Weltordnungskonzepte
rbeiterbewegungen westlicher Ländern vernetzen konnten, um die Schlagkraft A ihres politischen Widerstandes besonders gegen die Völkerbundspolitik der Westmächte zu erhöhen.175 Sie war damit auch Teil der Einheitsfront-Strategie der Komintern, die antikoloniale Nationalbewegungen in die sozialistische Weltrevolution zu integrieren suchte.176 Die Liga blieb ohne nachweisbaren Einfluss auf die Politik der Kolonialmächte, war dagegen bedeutsam für das Selbstbewusstsein der antikolonialen Bewegung, auch über den Zweiten Weltkrieg hinaus.177 Ihr wichtigstes asiatisches Mitglied und der einzige Delegierte des INC, der am Gründungskongress teilnahm, war Jawaharlal Nehru.178 Nach Ansicht Dietmar Rothermunds erwachte in Brüssel Nehrus Asien-Bewusstsein und besonders sein Gefühl der Solidarität mit China.179 Die Kooperation der „progressiven“ Kräfte Indiens und Chinas wurde auf dem Kongress zum Schlüssel zur Freiheit Asiens vom Imperialismus erklärt.180 Nehru verband mit der Liga die Hoffnung nicht nur auf eine engere Zusammenarbeit der Nationalbewegungen, sondern auch auf den Austausch über gemeinsame Probleme; anders als der Völkerbund konnte der sozialistische Verbund aus seiner Sicht eine „Liga aller Völker“ werden. Indiens Freiheitskampf war für Nehru Teil des weltweiten Kampfes gegen Armut und soziale Unterdrückung – ein
175 In diesem Sinne wird die Liga von Jürgen Dinkel interpretiert. Siehe Dinkel: „Globalisierung des Widerstandes“, 210–211. 176 Erfolg oder Misserfolg der Weltrevolution entschied sich – zumindest in Lenins Regierungszeit – nach Ansicht vieler Genossen in Asien, weshalb die Komintern ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf diesen Erdteil richtete. Siehe etwa John Riddell: „Introduction“, in: ders. (Hg.): Lenin’s struggle for a Revolutionary International. Documents: 1907–1926. The Preparatory Years, New York 1984, ix–xix, hier xxii. Lenin betrachtet Sun Yatsens Ideen als sozialrevolutionär, weil sie der Befreiung der Massen vom Feudalismus dienten. Vgl. hierzu W. I. Lenin: „Democracy and the Populist Movement in China“, TCoR, Bd. 7, Nr. 2 (Juni 1926), 21–26, sowie Pak Din Shoon: „The Revolutionary East and the Next Tasks of the Communist International“, TCI, Nr. 11/12 (Juni/Juli 1920), 2315–2320. Unter Stalin änderte sich der Kurs dahingehend, dass die Sowjetunion ihre Unterstützung der nationalistischen Bewegungen in Asien einschränkte. Siehe Manjapra: „Communist Internationalism“, 171. Vgl. dazu auch Vincent Sheean: „Asia in Moscow“, CD, Bd. 10, Nr. 122 (März 1928), 88–92, hier 91–92. 177 Auch die Bandung-Konferenz von 1955 stand in der Tradition der Konferenz von Brüssel. Siehe Dinkel: „Globalisierung des Widerstandes“, 228, sowie Manjapra: „Communist Interna tionalism“, 168. 178 Siehe Hargraves: „The Comintern and Anti-Colonialism“, 256. 179 Siehe Dietmar Rothermund: Gandhi und Nehru. Zwei Gesichter Indiens, Stuttgart 2010, 69. 180 Siehe Horst Krüger: „Die Haltung der Liga gegen Imperialismus zur Frage von Krieg und Frieden in ihrer Bedeutung für die Herausbildung von Jawaharlal Nehrus außenpolitischen Auffassungen“, in: Piazza: Liga gegen Imperialismus, 90–98, hier 91. Siehe auch Prasad: Indian Nationalism, 106–107.
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eltproblem also, eng verflochten zum einen mit dem Schicksal Asiens und zum W anderen mit dem des Kapitalismus. Auf die Frage, wohin die Zukunft Indien führe, antwortete Nehru 1933: Surely to the great human goal of social and economic equality, to the ending of all exploitation of nation by nation and class by class, to national freedom within the framework of an international co-operative Socialist world federation. This is not such an empty idealist dream as some people imagine. It is within the range of the practical politics of to-day and the near future.181
Obwohl Nehru Indiens Zukunft mit der sozialistischen Weltrevolution verband, war sein Verhältnis zu Russland und der Komintern kein einfaches. Einerseits konnte er sich als gemäßigter Sozialist nicht mit dem Radikalismus der Bolschewisten identifizieren; andererseits eröffnete der Marxismus-Leninismus auch Indien und ganz Asien einen alternativen Entwicklungsweg; dass Indien für Großbritannien gegen Russland in den Krieg ziehen könnte, schloss Nehru aus.182 Ein Krieg gegen Russland kam aus sozialrevolutionärer Sicht einem Krieg gegen Asiens Freiheitsdrang gleich. Dies betonte auch die linksradikale amerikanische Journalistin Agnes Smedley, die sich vor dem Ersten Weltkrieg der widerständischen Gadhar-Bewegung angeschlossen hatte, einige Zeit mit dem indischen Kommunisten Virendranath Chattopadhyaya in Berlin lebte und schließlich für die Komintern tätig wurde.183 In den 1930er Jahren galt Smedleys politisches Engagement der chinesischen Revolution. Die Erfahrungen, die sie sammelte, als sie in engstem Kontakt zu militärischen Einheiten der Kommunisten stand, flossen in zahlreiche ihrer Werke ein.184 Smedley kritisierte die amerikanische Presse in Shanghai für ihre antisowjetische Haltung. Nicht Russland, sondern der Hunger trieb ihrer Meinung nach die chinesischen Bauern in den sozialen Aufstand, der von den Kommunisten nun besser organisiert werde, als es früher der Fall gewesen sei.185 Aus der Perspektive Smedleys und anderer linksradikaler Autoren kam China eine bedeutende Rolle für die Verbreitung des Sozialismus in Asien und schließlich für die sozialistische Weltrevolution zu. Chinesische Arbeiter sah
181 Nehru: „Whither India?“, 63. 182 Siehe zu Nehrus Einschätzung der Rolle Russlands Krüger: „Krieg und Frieden“, 94, 96–97. 183 1919 war Smedley maßgeblich an der Gründung der Organisation Friends of Freedom for India beteiligt. Siehe zu ihrer Rolle in der indischen Widerstandsbewegung Gould: India Lobby, 235–255. 184 Beispiele sind Agnes Smedley: China’s Destinies: Sketches of present-day China, New York 1933, und dies.: China’s Red Army Marches, New York 1934. 185 Vgl. dies.: „War and Revolution in China“, MR, Bd. 48, Nr. 285 (September 1930), 245–249.
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James H. Dolsen, Gründer der US-amerikanischen Kommunistischen Partei, in einer Führungsrolle für die panasiatische Arbeiterbewegung.186 In absehbarer Zeit, prognostizierte vor diesem Hintergrund auch Scott Nearing, werde Amerika einem großen Rivalen gegenüberstehen: einem eurasischen Block, der von den Ländern Zentral- und Südeuropas bis nach Japan reichen und ein neues wirtschaftliches Machtzentrum, aufbauend auf neuen sozialen Formen, etablieren werde. „The Soviet Union will continue to be the spiritual father of the new social order“, bekräftigte Nearing. „But the Chinese will be its business manager“.187 Gerade weil sich China ebenso wie Ägypten, die Türkei und Indien am Beginn ihrer Industrialisierung befinde, könne es jenes neue Level einer kooperativen Weltwirtschaft herbeiführen, auf dem wirtschaftlicher Konflikt auch auf internationaler Ebene ausgeschaltet werde. Der sozialrevolutionäre, vom russischen Bolschewismus geprägte Asianismus unterschied sich einerseits in seinem Kern fundamental von liberalen Visionen panasiatischer Solidarität: Nicht die Bildungselite, sondern die Massen sollten Asien in der Revolte gegen den Imperialismus anführen; nicht die Übernahme westlicher Kultur, sondern gerade die Abgrenzung davon sollte den Erfolg garantieren; nicht Japan, sondern Russland konnte dabei als Vorbild und Leitkraft dienen; nicht primär die west-östlichen Beziehungen, sondern diejenigen zwischen ausbeutenden und ausgebeuteten Klassen und Völkern dienten als Referenzrahmen für die in Aussicht genommenen Veränderungen im globalen machtpolitischen Gefüge. Andererseits teilten radikale und liberale Asianisten eine anti-isolationistische Grundausrichtung.188 Indische und chinesische Intellektuelle waren gleichermaßen davon überzeugt, dass ihre Länder eine aktive Rolle in der Weltpolitik wahrnehmen mussten und hierfür auf Kooperationen mit anderen Nationen angewiesen waren. Obwohl der Versuch einer politischen Organisation asiatischer Länder in der „Asiatischen Föderation“ nicht fruchtete, waren die internationalen Konferenzen und Sympathiebekundungen Ausdruck gegenseitiger Unterstützung. Die Solidarität zwischen China und Indien – basierend auf einer ähnlichen Rolle im weltpolitischen Gefüge und unbelastet von imperialistischen Ambitionen, die man Japan und in gewisser Hinsicht auch Russland nachsagen konnte – nahm bei den Bemühungen um regionale Integration eine ganz zentrale Rolle ein. Zwar kämpfte man mit Japan für die internationale Anerkennung der
186 Vgl. etwa Dolsen: Awakening of China, 15, und Nearing: Whither China?, 195–196. 187 Ebd., 203. 188 Siehe hierzu auch Aydin: Politics of Anti-Westernism, 8–9: Panasiatische und panislamistische Ideologien zielten keinesfalls auf eine Deglobalisierung.
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Gleichheit aller Rassen und mit Russland für das Ende der kapitalistischen Ausbeutung, jedoch in erster Linie für jene Freiheit von Fremdherrschaft, die Japan und Russland selbst ausübten. Der Antiimperialismus überlagerte Visionen asiatischer Einheit.189
8.3 Fazit Die wachsenden Strukturen politischer und wirtschaftlicher Verflechtung führten nach dem Ersten Weltkrieg zu einem breiten Konsens darüber, dass internationalen Konflikten in der Zukunft mit mehr Kooperation und Integration vorzubeugen war. Im Idealfall konnte durch multilaterale Verhandlungen und Beschlüsse kollektive Sicherheit gewonnen werden. Sicherheitspolitische Erwägungen waren es aber auch, welche viele Analysten dazu veranlassten, die internationalen Beziehungen aus geo- und machtpolitischer Perspektive zu beurteilen. Von Völkerrechtlern oft als anachronistisches Überbleibsel des imperialistischen Zeitalters verpönt, war die Ordnungskategorie der „Macht“ auch nach dem Krieg ebenso präsent wie nationale Interessenpolitik und Großmachtsambitionen. Weltpolitische Zusammenhänge waren aus geopolitischer Sicht weniger aus Konferenzprotokollen abzulesen denn von Weltkarten: Mehr als der menschliche Wille schienen dann geographische Bedingtheiten über die Verteilung von Macht zu bestimmen. Mit dem Ende der europäischen Hegemonie in der Weltpolitik war das machtpolitische Zentrum in der Wahrnehmung vieler Autoren in den asiatisch- pazifischen Raum verschoben worden, wo sich Großbritannien und die USA gegenüber den aufstrebenden asiatischen Ländern positionierten. Japan war bereits gelungen, was man Indien und insbesondere China zutraute: durch militärische und wirtschaftliche Modernisierung in den Kreis der großen Mächte aufzusteigen und seinerseits Einflusssphären abzustecken. Seit dem russischjapanischen Krieg schien die machtpolitische Verteilung zwischen westlichen und asiatischen Ländern so offen wie nie. Für die USA und Großbritannien galt trotz aller Anstrengungen für mehr internationale Kooperation das Diktat der Sicherheit: die machtpolitischen Verschiebungen mussten so zu ihren Gunsten genutzt und beeinflusst werden, dass wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand zu Hause langfristig garantiert waren. China und Indien stellten die größten Unsicherheitsfaktoren in den geostrategischen Überlegungen dar: Sollten sie sich politisch und wirtschaftlich emanzipieren – also selbst zu Produzenten werden 189 Siehe auch Prasad: Indian Nationalism, 229.
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III Weltordnungskonzepte
und Binnenmärkte errichten – oder gar territorial expandieren, ging Großbritannien und den USA unter Umständen ein wichtiger Zugang zu existentiellen Märkten und Rohstoffen verloren; sollten sie unter die Kontrolle der Konkurrenten Russland oder Japan fallen, ebenso. Beide Szenarien schienen Beobachtern möglich und wahrscheinlich. Großangelegte Analysen der Konstellationen und Allianzen alter und neuer Großmächte in Asien wie etwa diejenige William Howes beschrieben die globalen Machtverhältnisse vor diesem Hintergrund als Nullsummenspiel: der Raum- und damit Machtgewinn einer Nation oder Gruppe von Nationen musste für andere einen relativen Verlust bedeuten. Obwohl die USA letztlich auch mit Großbritannien konkurrierten, sah man die beiden Länder oft in einem Boot, wenn es darum ging, der Gefahr, die dem Lebensstandard im Westen durch wirtschaftliche Konkurrenz aus Asien drohte, zu begegnen. Viele indische und chinesische Autoren der Zwischenkriegszeit griffen das Thema der geopolitischen Konstellationen in Asien auf und imaginierten eine aktive Rolle ihrer Länder als eigenständige machtpolitische Akteure. Nicht selten machten sie sich die Angstszenarien, die von westlichen Autoren verbreitet wurden, politisch zu Nutze: etwa wenn Taraknath Das die engen wirtschaftspolitischen Bindungen zwischen Japan und Indien betonte. Das und andere führende Persönlichkeiten der indischen Unabhängigkeitsbewegung pflegten die Vorstellung, dass Indien nicht nur von geostrategischer Bedeutung für das Empire war, sondern sich auch selbst zur Großmacht mausern konnte. Die zumindest theoretische Möglichkeit einer militärischen Aufrüstung gegen Fremdherrscher wurde in ihren Forderungen nach Unabhängigkeit ebenso mitgedacht wie im Falle Chinas, wo der Militarismus Chiang Kaisheks diesem Szenario jedoch mehr Nachdruck verlieh. Visionen einer territorial expandierenden Großmacht China oder Indien, wie sie bei M. J. Bau und dem Aga Khan gleichermaßen zu finden waren, beruhten jedoch weniger auf militärischer Aggression als auf der Idee einer regionalen Schutzmacht. Die Bindung der Nachbarstaaten an das jeweilige Zentrum wurde als eine unabänderliche Folge der kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Stärke und Anziehungskraft der beiden Länder beschrieben. Indem sie Indien und China als neue Großmächte in einem gegenüber den Westmächten zusammenrückenden Asien sahen, verbanden sie die nationalistische mit der panasiatischen Perspektive auf die Zukunft ihrer Länder. Asien war der geographische und ideelle Ort des indischen und chinesischen Aufstiegs auf internationalem Parkett. Ob man sie nun fest auf der kulturellen Grundlage einer „asiatischen Zivilisation“ verankert sah oder nicht – die ideologische Einheit Asiens im Widerstand gegen die politische, wirtschaftliche und kulturelle Hegemonie des Westens war für die Beobachter eine Tatsache. Sie drängte sich den Akteuren und Kommentatoren vor Ort ebenso auf wie aus der Fernperspektive. Schienen einzelne asiatische Länder zumindest kurzfristig nicht in der
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Lage, die Dominanz westlicher Mächte in der Welt zu beeinträchtigen, so bot eine mögliche Allianz der großen asiatischen Länder ein anderes Bild. Ein großes Angstszenario im Westen: die „white expulsion“ aus Asien, schien möglich, wenn asiatische Länder ihre Kräfte in einer politischen Interessengemeinschaft, wie sie Taraknath Das oder Lowe Chuan-hua beschrieben, bündelten. Ob sich die asiatischen Länder militarisierten und gegen den gemeinsamen Feind verbündeten, so ein immer wiederkehrendes Thema, lag in der Hand der Westmächte. Viele Beobachter der internationalen Szenerie lehnten Vorstellungen eines west-östlichen Rassenkonfliktes jedoch als paranoid und unzeitgemäß ab. Wie Taraknath Das, Marguerite Harrison und Josef W. Hall kritisierten westliche und asiatische Autoren das Narrativ der „Gelben Gefahr“. Aus dieser Perspektive sah man von Asien keine existentielle Gefahr für die westliche Welt ausgehen. Man interpretierte den Panasianismus vielmehr als eine Bewegung für Freiheit und Wohlstand. Um internationale Konflikte zwischen westlichen und asiatischen Nationen zu vermeiden, sah man in erster Linie die westlichen Nationen in Zugzwang. Rassistische Vorurteile mussten überwunden, Souveränitätsforderungen unbedingt anerkannt werden. Mehr als die vage Möglichkeit einer panasiatischen politischen Föderation interessierte vor diesem Hintergrund die Rolle Russlands für die Einheit Asiens im antiimperialistischen Widerstand. Wie nicht nur S. K. Datta betonte, war Russland Bedeutendes gelungen: Es hatte den Ländern Asiens mit der Komintern und seinen Unterorganisationen eine alternative Plattform für internationale Kooperation und Integration bereitgestellt und mit der Verbindung aus antiimperialistischer und sozialrevolutionärer Ideologie auch Antworten auf jene Probleme angeboten, welche die Länder Asiens vereinte. Sun Yatsen und Jawaharlal Nehru, zwei der führenden sozialistischen und nationalistischen Denker Chinas und Indiens betonten stets, dass die politische Befreiung ihrer Länder mit der sozialen Befreiung ihrer Massen einhergehen musste. Ein sozialistisches Asien barg die Hoffnung auf eine alternative internationale Ordnung, die ihr Kraftzentrum nicht in der transatlantischen Welt, sondern auf dem eurasischen Kontinent hatte; Organisationen wie die League against Imperialism verstanden sich als Gegenprojekt zum Völkerbund. Der internationale Sozialismus verschärfte bestehende Feindwahrnehmungen. In den Darstellungen der britischen und amerikanischen Autoren flossen die sozialrevolutionären, rassenbiologischen und geopolitischen Element der Revolte Asiens oft ineinander. Der Bolschewismus schien den Mangel der panasiatischen Bewegung an wirksamen politischen Strukturen beseitigen zu können. Viele Anhänger und Kommentatoren der panasiatischen Idee und Bewegung stützten ihre Analysen der west-östlichen Beziehungen auf geopolitische Fakten. Das Verhalten internationaler Akteure war offensichtlich durch geo- und wirtschaftsstrategische Notwendigkeiten bedingt. Indien und China als die zwei
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III Weltordnungskonzepte
ufstrebenden Mächte Asiens, daneben Russland als neues Kraftzentrum, fora derten aus ihrer Sicht alte Machtstrukturen heraus. Jedoch zogen viele Autoren gerade aus der anhaltenden Realpolitik den Schluss, dass mehr Idealismus, mehr Offenheit und Willen notwendig waren, um langfristig den internationalen Frieden und eine politische Weltgemeinschaft zu verwirklichen. Sie stellten der Partikularität regionalistischer und imperialistischer Machtkonstellationen in Asien den Anspruch auf universal gültige Ordnungsprinzipien des west-östlichen Zusammenlebens entgegen.
IV Schlussbetrachtung
9 Modernisierung und internationale Ordnung: Zur Räumlichkeit der Moderne Das Nachdenken über die Zukunft Indiens und Chinas geschah in einem raumzeitlichen Koordinatensystem, in dem die zeitliche Achse den Eintritt in die Moderne markierte, während die räumliche Dimension die Entwicklung der geopolitischen Strukturen und die Positionierung der beiden Länder darin anzeigte. Zwischen einem vereinheitlichenden Universalismus einerseits und zeitlich wie räumlich trennenden Partikularitätsansprüchen andererseits oszillierend, standen historisches und internationales Denken in einem vielfältigen Wechselverhältnis zueinander. Der Zusammenhang zwischen Modernisierung und internationaler Ordnung begegnete den Zeitgenossen im „Zivilisationsstandard“ der internationalen Gesellschaft. „Zivilisation“ und „Modernität“ – oft als austauschbare Begriffe behandelt – bezeichneten einen temporalen Entwicklungsstand, der räumlich auf Westeuropa und Nordamerika festgelegt war und eine Hierarchie zwischen westlichen, modernen und nicht-westlichen, nicht-modernen Nationen und Völkern begründete. Während in geopolitischen Geschichtsbildern räumliche Determinanten für die Positionierung eines Staates in der internationalen Hierarchie entscheidend waren, blieb in der raum-zeitlichen Imagination der internationalen Gesellschaft die Ebene der Zeit dominant: Hier ließen sich seit der Aufklärung und der Immanuel Kant zugeschriebenen Trennung der äußeren (räumlichen) und inneren (zeitlichen) Anschauungsformen der menschlichen Entwicklung die Errungenschaften des „selbstbewusst gewordenen Subjektes“, seine Freiheit und gerade seine Emanzipation von den Zwängen des Raumes und der Natur, einordnen; räumliche Differenzen wurden in „Form einer zeitlichen Reihung gedacht“.1 Vor diesem Hintergrund eröffneten sich zwei Wege, um die westliche Dominanz in der internationalen Gesellschaft zu brechen: Entweder musste der Zivilisationsstandard durch „nachholende“ Modernisierung erfüllt oder aber durch neue Vorstellungen der räumlichen und zeitlichen Interaktion von Nationen und Zivilisationen ergänzt oder ersetzt werden.
1 Zitate: Paul Reuber/Günter Wolkersdorfer: „Geopolitische Weltbilder als diskursive Konstruktionen – Konzeptionelle Anmerkungen und Beispiele zur Verbindung von Macht, Politik und Raum“, in: Hans Gebhardt/Helmuth Kiesel (Hg.): Weltbilder, Berlin/Heidelberg 2004, 367–382, hier 372, 377. Siehe zum Geschichtsbild der Geopolitiker Behr: International Political Theory, 166–168. Siehe zur Übersetzung temporaler Kategorien in räumliche auch Gilman: Mandarins of the Future, 26–27. DOI 10.1515/9783110464382-009
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IV Schlussbetrachtung
9.1 Die Internationalität der Modernisierungsprozesse Die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Transformation Indiens und Chinas, welche die hier vorgestellten Autoren entweder bereits in vollem Gange sahen oder für die nahe Zukunft in Entwicklungsprogrammen planten, verstanden sie explizit als internationalen und interkulturellen Prozess.2 Bereits existierenden internationalen Strukturen und Vorbildern konnten und mussten sie dabei Rechnung tragen. Die Modernisierung der beiden Länder war weder räumlich noch zeitlich isoliert zu betrachtet, sondern nur in Relation zu denjenigen Nationen, welche diesen Prozess bereits durchschritten zu haben schienen, allen voran Großbritannien und die USA.3 Die Entwicklungsprogramme westlichen und asiatischen Ursprungs waren oft von einem linear-progressiven Geschichtsbild unterfüttert. Indien und China wurden auf der Stufenleiter einer universalen Menschheitsgeschichte im Ausgang des Mittelalters verortet. Der Unterschied zwischen westlichen und östlichen Kulturen, so sah es Hu Shi, sei der Grad des Erfolgs, mit dem sie sich von jenen mittelalterlichen Werten und Institutionen befreien konnten, welche die Menschen in allen Erdteilen gleichermaßen hemmten. Wissenschaft und Technologie habe im Westen das nötige Selbstbewusstsein erzeugt, um die natürliche Umgebung zu kontrollieren. Das Geschichtsbild Hu Shis war stark utilitaristisch geprägt: Die treibende Kraft der Geschichte lag für ihn im materiellen Fortschritt für ein Leben frei von natürlichen Zwängen.4 Die menschlichen Grundbedürfnisse Gesundheit, Bildung und Konsum galten auch in der Zwischenkriegszeit als „elementare[] Bausteine“5 der Entwicklung. Der „Westen“ wurde von den Zeitgenossen zum einen als Zivilisation mit bestimmten institutionellen und intellektuellen Grundlagen definiert, zum anderen als imperialistischer Akteur.6 Die politische und ideologische Konfrontation mit dem vielgestaltigen Westen wurde in den meisten Untersuchungen als historischer Moment interpretiert, der die räumliche und zeitliche Isolation 2 Den engen Zusammenhang zwischen Modernisierungskonzepten und den internationalen Beziehungen betont besonders William Kirby für den Fall Chinas. Siehe Kirby: „Intercultural Connections“. 3 Zur Relationalität des Modernisierungsbegriffs siehe Osterhammel: „Modernisierungstheorie“, 48. 4 Vgl. Hu Shu: „Civilizations of the East and the West“, 31–32. 5 Wolfgang Zapf: „Modernisierungstheorie und die nicht-westliche Welt“, in: Thomas Schwinn (Hg.): Die Vielfalt und Einheit der Moderne. Kultur- und strukturvergleichende Analysen, Wiesbaden 2006, 129–131, hier 131. 6 Der Gebrauch des Begriffs war im 20. Jahrhundert wenig konsistent. Siehe O’Hagen: Conceptualizing the West, 8–10.
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Indiens und Chinas aufgebrochen und deren Eintritt in das moderne Zeitalter forciert hatte. „In order to withstand the pressure of the Powers, these countries of the Orient had at once to attack the problems of their political and economic reconstruction“, schrieb der amerikanische Politikwissenschaftler Harold M. Vinacke und setzte seine History of the Far East in Modern Times (1927) dann auch mit den westlichen Expansionsbewegungen nach Asien ein. Die Selbststärkung Indiens und Chinas durch die Aneignung westlicher Ideologien, Institutionen und Technologien wurde als bewusstes gestalterisches Handeln dieser Länder in Reaktion auf eine spezifische externe Herausforderung verstanden: Die gefühlte innere Rückständigkeit und daraus resultierende Verletzlichkeit durch die Imperialmächte konnte und musste durch „nachholende“ Modernisierung beseitigt werden. Benoy Kumar Sarkar bezifferte den Entwicklungsvorsprung des Westens – er sprach vom „time-value of the sum-total of modernism“ – auf nicht mehr als dreißig Jahre.7 Die industrielle Revolution, auf die er den Beginn der euro-amerikanischen Moderne datierte, konnte Indien ihm zufolge beschleunigt – „at the Japanese rate of advance“ – durchlaufen, indem es sich Erfahrungen anderer Länder zu Nutze machte. Sarkar ging nach eigener Aussage bei seinen soziologischen Gleichungen zwischen Indien und Asien einerseits und Euro-Amerika andererseits von der Prämisse einer evolutionären Menschheitsgeschichte aus, die in allen Teilen der Welt uniform verlaufe. Die moderne Zivilisation bewegte sich in seiner Vorstellung von West nach Ost, weshalb für ihn neben den Gesellschaften der USA, Großbritanniens und Deutschlands auch die Länder Osteuropas und Russland als Vorbild fungierten – jene Länder also, die sich im evolutionären „Zwischenraum“ von West und Ost befanden.8 Wie Sarkar sahen viele Autoren der Zwischenkriegszeit die wirtschaftlichen, politischen und soziokulturellen Umwälzungen in Indien und China als neueste Entwicklung in einem universalen, deshalb unvermeidbaren und globalen Evolutionsprozess. In Anlehnung an die Evolutionstheorien des 18. Jahrhunderts gingen zahlreiche Untersuchungen davon aus, dass sich die Moderne mit ihrer aufklärerischen und insbesondere ihrer wirtschaftlichen Komponente, dem Industrialismus, diffusionistisch von ihrem Ursprung in Westeuropa und den USA über die ganze Welt ausbreitete.9 Dieser Konvergenzannahme zufolge lag es in der „Logik der Industrialisierung“ begründet, dass sich weltweit eine systemische Angleichung an die am weitesten entwickelten Industrienationen
7 Vgl. Sarkar: Futurism, 18. Ganz ähnlich äußerte sich auch Sophia Chen Zen: „Summary“, 306. 8 Vgl. ders.: Creative India, 442–443. 9 Peter Taylor spricht hier von der „whig-diffusionist story-and-map“ der Moderne. Siehe P. J. Taylor: Modernities. A Geohistorical interpretation, Cambridge 1999, 12.
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IV Schlussbetrachtung
vollziehen musste.10 Die Modernisierung generierte demnach nicht nur gleiche Ideen, Institutionen, Strukturen und Strukturprobleme, etwa in Form des Nationalismus und der sozialen Frage; darüber hinaus bildeten sich auch strukturelle Abhängigkeiten, etwa in Form internationaler Investitionen und Arbeitsteilung. Obwohl ein gesteigertes Bewusstsein von der eigenen Rückständigkeit und die Suche indigener Eliten nach Strategien und Vorbildern für die Rekonstruktion ihrer Länder oft dem eigentlichen strukturellen Wandel vorausgingen, müssen sie auch als Reaktion auf bereits existierende Probleme gesehen werden.11 Der Imperialismus forcierte und beschleunigte die fortschreitende Integration Indiens und Chinas in das Weltsystem. Der Historiker Jadunath Sarkar sprach vielen seiner Zeitgenossen aus der Seele, als er dazu aufrief, die Modernisierung als globale Kraft anzuerkennen: „Give up your dream of isolation, standardize and come into line with the moving world outside, or you will become extinct as a race through the operation of relentless economic competition in a world which has now become as one country.“12 Der sozialdarwinistische Ton, den der Historiker anschlug, war charakteristisch. Die Konfrontation Indiens und Chinas mit der westlichen Lebensweise wurde nicht nur von den Intellektuellen dieser Länder, sondern auch von einigen westlichen Beobachtern als existenzbedrohend empfunden. Die Zukunftsfähigkeit Indiens und Chinas als unabhängige nationale oder zivilisatorische Größen in einer globalisierten Welt hing davon ab, dass sie sich schnell an die historischen Gegebenheiten anpassten, also ihrerseits auf die Modernisierungsimpulse reagierten – dies umso mehr, als die evolutionäre Entwicklung, die in westlichen Ländern Jahrhunderte überspannte, in Asien auf wenige Jahrzehnte komprimiert schien und mit der ganzen Wucht der Gleichzeitigkeit multipler Revolutionen zu spüren war.13 Die Vorstellung eines unvermeidbaren, diffusionistischen Modernisierungsprozesses schloss eine aktive und kreative Gestaltung dieses Prozesses nicht aus, sie verlangte vielmehr danach. Wie auch Hu Shi betont hatte, war die Moderne in dieser Hinsicht ein Zeitalter des Handelns und des Meisterns von Herausforderungen.14 10 Hans-Ulrich Wehler: Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975, 16 [Hervorherbung i. O.]. Die Assoziation der Moderne mit ihren wirtschaftlichen Begleiterscheinungen wird bei Julean Arnold besonders deutlich. Vgl. etwa Arnold: „Commercial Problems“. 11 Osterhammel: „Modernisierungstheorie“, 52. Osterhammel bezieht sich hier auf das kritische modernisierungstheoretische Konzept von Reinhard Bendix. 12 Vgl. Sarkar: India through the ages, 140. 13 Vgl. Eddy: Challenge of the East, xiii; Monroe: Nation in Evolution, 4; Gulick: Winning of the Far East, 93. 14 Besonders deutlich bei Norton: China and the Powers, 242, 244. Die Verbindung des deterministischen mit dem voluntaristischen Element, die auch im „challenge-response-Modell“ Rozmans betont wird, war hier charakteristisch. Siehe Osterhammel: „Modernisierungstheorie“, 55.
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Im Falle Chinas leitete man das Handlungs- und Regenerationspotential gerne aus seiner Geschichte ab. Dabei war nicht entscheidend, ob man China in eine linear-progressive Menschheitsgeschichte einordnete, seine Geschichte mit dem Lebenszyklus des Menschen verglich, also von Aufstieg und Verfall determiniert sah, oder sie – in einer Verbindung linearer und zyklischer Verlaufsformen – spiralförmig fortschreiten ließ.15 Stets war von der möglichen Wiedergeburt und Revitalisierung Chinas in der Zukunft die Rede. Viele Beobachter der west-östlichen Beziehungen interpretierten die gegenwärtige Schwäche Chinas gegenüber den Imperialmächten im Lichte seiner großen Vergangenheit als Übergangsphase. Auf Perioden des Niedergangs sei in regelmäßigen Abständen Chinas „rise into magnificence“16 gefolgt, schrieb etwa Nathaniel Peffer. Anders als Autoren, die linearen und spiralförmigen Geschichtsvorstellungen anhingen, schloss er das Ende der chinesischen Zivilisation nicht aus. Die Frage, ob man es derzeit, auf einem Tiefpunkt der historischen Kurvenbahn, mit dem unwiederbringlichen Verlust der Vitalität Chinas zu tun habe, beantwortete er nicht abschließend; jedoch sah er eine außerordentliche Aufnahme- und Anpassungsfähigkeit der Chinesen, die es ihnen auch unter den gegebenen Umständen wieder erlaubte, sich zu regenerieren, ohne ihre „historic identity“ einzubüßen.17 Dass Peffer seine Entwicklungsprognose für China an die Identitätsfrage koppelte, verweist auf die Grenzen der Konvergenzannahme hinsichtlich der Modernisierungsprozesse, denen China und Indien gestaltend begegnen mussten. Viele Anhänger des linearen Evolutionsparadigmas lösten die Modernisierung von ihrem vermeintlich lokalisierbaren Ursprung im Westen, um sie als rein temporalen Prozess zu verstehen, der weder pfadabhängig war noch notwendigerweise zu gleichen Ergebnissen führen musste.18 Brachte die westliche Moderne Nationalismus, Demokratie und Industrialismus hervor, so lag es nach Ansicht vieler Autoren an den beiden Ländern, diese Variablen auf eine Weise zu interpretieren und zu gewichten, die nicht nur den jeweiligen kulturellen und intellektuellen 15 Vgl. Sze: „Future of Chinese Democracy“, 248; T’ang: New Social Order, 9–10. 16 Peffer: China, 10. 17 Vgl. ebd., 11–12. Ähnlich auch Eddy: Challenge of the East, xiii. 18 Eine Differenzierung zwischen Westernisierung und Modernisierung forderte etwa Sophia Chen Zen: „Summary“, 306. Ähnlich argumentierte unter anderem John Dewey in China, Japan and the U.S.A., 62. Zur Kritik der Konvergenzannahme in der Modernisierungstheorie siehe M. R. Lepsius: „Soziologische Theoreme über die Sozialstruktur der ‚Moderne‘ und die ‚Modernisierung‘, in: Reinhart Koselleck (Hg.): Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, 10–29, hier 20–21; Thomas Schwinn: „Die Vielfalt und Einheit der Moderne: Perspektiven und Probleme eines Forschungsprogramms“, in: ders. (Hg.): Die Vielfalt und Einheit der Moderne. Kultur- und strukturvergleichende Analysen, Wiesbaden 2006, 7–34, besonders 25–30, sowie die Ausführungen von Osterhammel: „Modernisierungstheorie“, 31–72.
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IV Schlussbetrachtung
Voraussetzungen, sondern auch der Kritik der Moderne Rechnung trug, wie sie besonders von der sozialen Theorie vorgebracht wurde. Aus der Sicht der kritischen Modernisierer schien es für China und Indien wichtiger, Entwicklungsrückstände ausgleichend aufzuholen, als sie imitierend nachzuholen. Weniger das materielle Ziel der Modernisierung – die Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse in einem unabhängigen Nationalstaat – als ihre institutionellen Formen standen dabei zur Debatte. Die Grenzen der Modernisierung wurden stets mitgedacht: So wenig Wohlstand per se als Kulminationspunkt menschlicher Selbsterfüllung gelten konnte, so wenig sollten sich die in Aussicht genommenen Nationalstaaten den Imperialismus der Großmächte zu eigen machen. Im Gegenteil betrachteten viele Autoren gerade Friedfertigkeit und Gemeinschaftssinn als feste Bestandteile der indischen und chinesischen Tradition und Moderne. Der Status als evolutionärer Nachzügler bot die Chance, wahrgenommene Strukturfehler des westlichen Weges in die Moderne zu vermeiden.19 Partikulare Entwicklungspfade schienen nicht nur notwendig, um die Modernisierung zu beschleunigen, sie galten vor diesem Hintergrund auch als fortschrittlicher. Selbst vehemente Befürworter der westlichen Zivilisation wie Hu Shi erklärten den Sozialismus für progressiver als das liberal-kapitalistische Wirtschaftssystem, da es materiellen Wohlstand für die breite Bevölkerung versprach.20 In der Erhöhung der Gesellschaft über das Individuum, so sah es unter anderem T’ang Leang-li, konnte China zudem historisch an das konfuzianische Erbe anknüpfen. Das „Celestial Empire“, auf die Probe gestellt und erneuert durch die Konfrontation mit dem Westen, wurde aus dieser Sicht mitsamt seines Großmachtstatus in die Moderne überführt.21 China und Indien waren zwar gezwungen, die Herausforderungen der modernen Zeit anzunehmen und ihre Anpassungsfähigkeit unter Beweis zu stellen; jedoch konnte ihr kultureller „nucleus and core“22 die Transformation nicht nur überdauern, sondern diese auf eine Weise prägen, die aus der aufholenden Entwicklung potentiell eine überholende machte. Die grenzübergreifende Dimension der Modernisierungsprozesse in Indien und China zeigte sich für die Zeitgenossen darüber hinaus auch in ihren unmittelbaren oder in die Zukunft projizierten Konsequenzen. Die Folge der sich global ausbreitenden Modernisierungsprozesse, so sahen es liberale Internationalisten, waren wachsende Strukturabhängigkeiten, die letztlich der internationalen
19 Vgl. Sun Yatsen: International Development, 237. 20 Hu Shi: „Civilizations of the East and the West“, 40. 21 Vgl. T’ang Leang-li: The Foundations of Modern China, London 1928, 258. 22 Eddy: Challenge of the East, 68.
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Organisation und Kooperation Vorschub leisteten.23 Diese Annahme beruhte auf der normativen Wendung einer drohenden wirtschaftlichen und politischen Konkurrenzsituation, in die der Westen mit modernisierten asiatischen Ländern eintreten musste. Sollten sich Indien und China nach seinem Vorbild entwickeln, dann wackelte die Vormachtstellung des Westens. „We have reached a stage in world affairs“, schrieb der britische Seeoffizier und Schriftsteller Stephen KingHall in seinem Werk Western Civilization and the Far East von 1924, „when, as a consequence of what the West has taught the East, the white men can no longer expect to enjoy a monopoly of world government“.24 Aus der Sicht asiatischer und westlicher Analysten war die Modernisierung der beiden Länder eine Garantie für deren Emanzipation auf internationalem Parkett. Vehemente Modernisierer wie etwa Julean Arnold setzten sich dennoch für eine aktive ausländische Unterstützung dieses Prozesses ein; ihr Zukunftsoptimismus speiste sich aus der Vorstellung reziproker Bereicherung. Die Annahme eines zivilisatorischen Vorsprungs der westlichen Länder dämpfte dabei Ängste vor einer Einbuße westlichen Einflusses. Die „bahnbrechenden“ Nationen des Westens, so argumentierte auch Sarkar, seien den Nachzüglern wie Indien stets einen Schritt voraus, was sein Heimatland jedoch nicht davon abhalten könne, den Status einer „erstklassigen“ Macht zu erreichen.25 Der Westen blieb aus dieser Sicht Ort der progressiven Kraft der Geschichte. Die geopolitische Konkurrenz, die den westlichen Ländern durch modernisierte asiatische Länder erwuchs, war jedoch nicht von der Hand zu weisen. Die aktive Integration Indiens und Chinas in die von den Westmächten dominierte liberal-kapitalistische Wirtschaftsordnung diente zum einen dem Zweck, eine mögliche Systemkonkurrenz abzuwenden, die von einer „Bolschewisierung“ der beiden Länder drohte. Zum anderen bestand auch die Möglichkeit einer systeminternen Konkurrenz um Märkte, Arbeitsplätze und natürliche Ressourcen. Bereits um die Jahrhundertwende transportierte die Rhetorik der „Gelben Gefahr“ die Vorstellung, dass der Westen mit der Verbreitung moderner Ideen und Technologien nach Asien sein eigenes Schicksal besiegelt hatte. Es war von der „Konter-Kolonisierung“ durch Asien die Rede.26 Obwohl die „Gelbe Gefahr“ von
23 Diese These stand später im Zentrum der modernisierungstheoretischen Ausführungen unter anderem von Edward Morse. Siehe Morse: Transformation of International Relations. Siehe hierzu auch Puchala: Theory and History, 207–210. 24 Stephen King-Hall: Western Civilisation and the Far East, New York 1924, 333. Vgl. auch die Ausführungen Bertrand Russells hinsichtlich Chinas in Russell: Problem of China, 10. 25 Dies betonte Sarkar in einem Aufsatz, der 1931 in der Reihe Auslandkundliche Vorträge der Technischen Hochschule Stuttgart erschien: Sarkar: „Weltwirtschaftliche Bedeutung“, 52. 26 Vgl. Gregory Bienstock: The Struggle for the Pacific, New York 1937, 20. Siehe auch Petersson/ Osterhammel: „Ostasiens Jahrhundertwende“, 282.
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IV Schlussbetrachtung
den Autoren der Zwischenkriegszeit zumeist als Mythos entlarvt wurde, konnten die gegenwärtigen Transformations- und Emanzipationsprozesse in China und Indien als Indizien für eine historische Richtungsänderung interpretiert werden: Nicht wie bisher – und seit Beginn der europäischen Expansion nach Asien – von West nach Ost, sondern in umgekehrter Richtung schien die moderne Geschichte nun zu verlaufen. Wie unter anderem der amerikanische Journalist Grover Clark anmerkte, war diese Entwicklung keinesfalls präzedenzlos. Erst in den letzten drei- bis vierhundert Jahren sei die westliche Zivilisation zur dominanten historischen Kraft geworden, jedoch habe auf die Gesamtgeschichte der Menschheit gesehen „the flow of basic inventions and ideas“ hauptsächlich von Ost nach West stattgefunden.27 Amerikanischen Autoren fiel es besonders leicht, das Ende der globalen Vormachtstellung des „alten Westens“, also der westeuropäischen Imperialmächte, auszurufen. Der entstehende pazifische Kommunikations- und Handelsraum läutete aus dieser Sicht eine neue Phase der Weltgeschichte ein.28 Die aufstrebenden Vereinigten Staaten von Amerika nahmen in diesem Geschichtsbild eine räumliche und epochale Scharnierfunktion ein. Sie hatten einerseits materiell von den transatlantischen Handelsbeziehungen profitiert und mit ihrem demokratisch-freiheitlichen Wertekanon die Idee der westlichen Zivilisation mitgeprägt; andererseits war zu erwarten, dass angesichts sich stetig intensivierenden Kontakts zu den asiatischen und ozeanischen Anrainerstaaten des Pazifik die amerikanische Großmachtstellung weiter ausgebaut werden konnte. „The future lies with America and Asia“,29 prognostizierte auch Jawaharlal Nehru. Die USA waren Teil der geschwächten westlichen, aber zugleich der erstarkenden „pazifischen Zivilisation“. Der Machtverlust gegenüber Asien drohte aus dieser geopolitischen Perspektive nur dem europäischen Teil des Westens, insbesondere Großbritannien. Wie bei Ulrich Beck und Gerard Delanty hinsichtlich einer Rejustierung west-östlicher Beziehungen in der neuesten Zeit, kann in diesem Zusammenhang von einer Fragmentierung und globalen Restrukturierung des „Westens“ gesprochen werden.30 27 Vgl. Clark: The Great Wall Crumbles, 2. 28 Besonders deutlich bei Bienstock: Struggle for the Pacific, 93–94. 29 Nehru: „Presidential Address 1929“, 15. Wie Grover Clark wandte er sich an dieser Stelle gegen eine eurozentrische Interpretation der Geschichte: „Owing to false and incomplete history many of us have been led to think that Europe has always dominated over the rest of the world, and Asia has always let the legions of the West thunder past and has plunged in thought again. We have forgotten that for millennia the legions of Asia overran Europe, and modern Europe itself largely consists of the descendants of these invaders from Asia.“ 30 Siehe Ulrich Beck/Gerard Delanty: „Europe from a cosmopolitan perspective“, in: Delanty: Europe and Asia, 11–23, hier 19.
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Demgegenüber wurde das Szenario eines Niedergangs der westlichen Zivilisation von britischen Analysten oft dementiert. Die Asienexperten Valentine Chirol und Frederick Whyte vertraten beide eine eher konservative Haltung in Fragen der west-östlichen Beziehungen, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Dass das „Wiedererwachen“ Asiens und seine Revolte gegen westliche Vorherrschaft von historischer Bedeutung waren, räumten beide Autoren ein. Während Chirol jedoch darauf drängte, die Bedrohung der „weißen Rasse“ nicht auf die leichte Schulter zu nehmen und der Revolte Asiens mit transatlantischer Geschlossenheit zu begegnen,31 sah Whyte keinen Grund, die Überlegenheit der „westlichen Zivilisation“ grundsätzlich in Frage zu stellen. Er war davon überzeugt, dass sich Europa derzeit in einer Regenerationsphase befand und seinen Vorbildcharakter für den Rest der Welt auch in Zukunft behaupten konnte, „for the genius of our race does not fail to respond to so plain a call“.32 Derselbe Test, dem sich die asiatischen Länder beim Eintritt in die Moderne zu stellen hatten – angesichts neuer Herausforderungen ihre Handlungsfähigkeit zu bewahren und mit kreativen Anpassungsprozessen zu reagieren –, stand also auch dem Westen bevor. Seinen Optimismus hinsichtlich der Möglichkeiten der westlichen Zivilisation, diesen Test zu bestehen und ihren Niedergang abzuwenden, teilte Whyte mit Arnold Toynbee. Mitte der 1930er Jahre erschienen die ersten Bände der monumentalen Study of History (1934–1961), die Toynbees Ruf als Universalhistoriker begründeten. Darin interpretierte er die historische Entwicklungsform von 21 „vollwertigen“ Zivilisationen weltweit als zyklische Abfolge von Genese, Wachstum, Niedergang und Zerfall. Von der eurozentrischen Perspektive früherer universalhistorischer Ansätze wandte er sich ab.33 Wie bei vielen europäischen Intellektuellen seiner Generation hatte der Erste Weltkrieg auch bei Toynbee den Eindruck einer tiefen Krise der westlichen Zivilisation hinterlassen. Die Glorifizierung des Nationalstaates identifizierte er als zerstörerische Kraft nicht nur der westlichen, sondern, durch ihre weltweite, lauffeuerartige Verbreitung, aller noch existierenden Zivilisationen.34 Trotz seiner historisch-empirischen Belege für den Aufstieg und Fall von Zivilisationen wehrte sich Toynbee jedoch gegen die Vorstellung, dieses Schicksal müsse jede Zivilisation und so auch die westliche der Gegenwart unausweichlich ereilen. Anders als Oswald Spengler glaubte er an die Freiheit und 31 Vgl. Chirol: „Reawakening of the Orient“, 6. 32 Whyte: Asia, 147. Ähnlich argumentierte auch Kent: Twentieth Century, 351–355. 33 Vgl. O’Hagen: Conceptualizing the West, 101, sowie auch Osterhammel: Geschichtswissenschaft, 174. 34 Siehe Marvin Perry: Arnold Toynbee and the Western Tradition, New York 1996, 1–11.
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die Verantwortung des Menschen, seine Geschichte selbst zu gestalten.35 Das Schicksal einer jeden Zivilisation hänge von ihrer Anpassungsfähigkeit an neue historische Gegebenheiten ab. Hoffnung auf ein Weiterbestehen der westlichen Zivilisation fand Toynbee vor allem in der Wiederbelebung christlicher Werte. Sie allein seien in der Lage, das elementare spirituelle Bedürfnis der Menschen zu befriedigen, das anderenfalls durch nationalistische, kommunistische und faschistische Ideologie ersetzt zu werden drohe.36 Die Entwicklung der Religionen deutete Toynbee nicht zyklisch, sondern progressiv voranschreitend und im Christentum gleichsam kulminierend.37 Diese religiöse Erlösungsvision war von globaler Reichweite. In der Verbreitung der westlichen Zivilisation in der Welt unterschied sich Toynbee zufolge die westliche von den übrigen Zivilisationen der Geschichte; sie war zu einem „Agenten der globalen Einheit“ geworden und hatte sein Schicksal zu dem der gesamten Menschheit gemacht. Dieses Schicksal erfüllte sich für Toynbee im universalen und religiösen Weltstaat.38 Obwohl Toynbees Überlegungen speziell zur Zukunft der westlichen Zivilisation erst seit 1947 erschienen und ihm aufgrund ihres orakelhaften Charakters von Seiten der Historikerzunft reichlich Kritik eintrugen,39 waren die Grundzüge dieses vorsichtigen Zukunftsoptimismus bereits in früheren Schriften deutlich spürbar. „However dare I project my mind into the future“, so schrieb Toynbee 1931, „I cannot foresee a time when the outer world will be able to dispense with European culture – with the thought and the art and the ideals which radiate out from Europe over the rest of the world“.40 Müsse Europas Zentralität in der internationalen Gesellschaft schon im Interesse der Menschheit gewährleistet werden, so sei ihre Dominanz jedoch ein Anachronismus. In seiner Rekonzeption der internationalen Gesellschaft im Weltstaat fügten sich gleichsam alle Aspekte von Toynbees Geschichtsphilosophie zusammen. Nur wenn die „lokalen“ Nationalstaaten in einer gemeinsamen Regierung politisch integriert waren, konnte der Fortbestand der westlichen Zivilisation und mit ihr der gesamten Menschheit gesichert werden; aber nur wenn sie sich dem religiösen Universalismus zuwandte, sah Toynbee sie in der Lage, den zerstörerischen Partikularismus zu
35 Siehe ebd., 81. 36 Siehe etwa O’Hagen: Conceptualizing the West, 89–90. 37 Siehe K. W. Thompson: Toynbee’s Philosophy of World History and Politics, Baton Rouge/London 1985, 211–212. 38 Siehe Perry: Arnold Toynbee, 84. 39 Siehe Osterhammel: Geschichtswissenschaft, 174–175. 40 Toynbee: „World Sovereignty“, 770. Toynbee zeigte sich gleichzeitig kritisch gegenüber der Verbreitung „provinzieller“ westlicher Ideen und Institutionen in der Welt, wie etwa dem Nationalismus. Siehe O’Hagen: Conceptualizing the West, 83, 103–104.
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überwinden, der sich seiner Ansicht nach in sozialer Ungerechtigkeit ebenso wie im Souveränitätsprinzip manifestierte.41
9.2 Das Fortschrittsnarrativ des Internationalismus „Progress is nothing but progress towards freedom“,42 schrieb Lala Lajpat Rai direkt nach dem Ersten Weltkrieg. War der Krieg von den Westmächten mit dem Anspruch geführt worden, die zivilisierte Welt zu befreien, so musste sich dieses Freiheitsideal nun in mehr nationale Selbstbestimmung für Indien ummünzen lassen. Nur ein freies Indien konnte aus Rais Sicht mit den anderen zivilisierten Nationen kooperieren, um den Frieden zu sichern. Wie die meisten Unabhängigkeitskämpfer war er Nationalist und Internationalist zugleich; er sah die Freiheit für Indien nur als erste, wenn auch unabdingbare Stufe in der progressiven Entwicklung der Weltordnung in Richtung der Freiheit aller Menschen. Man befand sich offensichtlich an einem Wendepunkt nicht nur der Geschichte Indiens, sondern der Menschheitsgeschichte.43 Anders als „realistische“ Theoretiker der internationalen Beziehungen, welche die Geschichte von einem endlosen Machtkampf und dem zyklischen Aufstieg und Fall großer Mächte determiniert sahen, glaubten Internationalisten an die Möglichkeit – wenn nicht Notwendigkeit – des Fortschritts in der Weltpolitik.44 Sie gingen davon aus, dass sich die internationale Ordnung durch menschliches Zutun zum Besseren wandeln konnte. „A truly civilized society“, so übertrug Grover Clark den zivilisatorischen Fortschrittsbegriff auf die Ebene der internationalen Beziehungen, „is one in which men live harmoniously together, not by subordination one to the other, nor by imposing the will or the beliefs of one on the other, but by practicing mutual justice, consideration and tolerance“.45 Die Geschichte sollte nicht wie in der Vergangenheit durch Konflikte und Kriege vorangetrieben, sondern durch Kooperation und Harmonie vorangebracht
41 Siehe Perry: Arnold Toynbee, 89, 97. 42 Rai: India’s Will to Freedom, 98. 43 Vgl. ebd., 8, 88–89. Ebenso Hyndman: Awakening, 273. 44 Der Internationalismus grenzte sich dabei einerseits von der Idee der Zivilisierungsmission ab, die den Imperialismus des 19. Jahrhunderts als fortschrittlich (im Sinne der Inklusion der nicht-westlichen Welt in den zivilisatorischen Fortschritt) auslegte, andererseits von der darwinistischen Annahme, dass zivilisatorischer Fortschritt vor allem durch die Aneignung von Eigenschaften stattfindet, die im Wettbewerb der Nationen und Völker von Nutzen sind. Siehe Knutsen: International Relations, 176–183. 45 Clark: The Great Wall Crumbles, 386.
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werden. Im Völkerbund sahen seine Befürworter den bisherigen Höhepunkt einer Menschheitsgeschichte, die auf die Eintracht aller Nationen und Völker zustrebte. Fürsprecher Indiens und Chinas auf dem internationalen Parkett verstanden die Aufnahme dieser Länder in den Völkerbund als implizite Anerkennung ihrer „Zivilisiertheit“ – freilich meist nach universalisierten westlichen Kriterien. Die effektive Zusammenarbeit in den neu geschaffenen internationalen Organisationen setzte voraus, dass sich die politischen Werte, Institutionen und Ziele der beteiligten Länder hinlänglich ähnelten.46 Die Annahme eines zivilisatorischen Entwicklungsvorsprungs der westlichen Nationen wurde dabei keinesfalls aufgegeben; in die Lesart des Völkerbundes als Bildungsinstitution, in der höher entwickelte Vormunde die Kompetenzen „unreiferer“ Nationen sowohl für deren innere Entwicklung als auch für die internationale Zusammenarbeit erweitern, floss das Modell des Entwicklungsvorsprungs direkt ein.47 Die Vorstellung, dass der internationale Fortschritt nun gleichsam von Genf aus gelenkt und institutionalisiert wurde, stellte nur einen von mehreren Ansätzen dar, den Beginn eines postimperialistischen Zeitalters zu erfassen. Darüber hinaus boten sich noch mindestens drei weitere geopolitisch-ideologische Interpretationsarten mit universalem Anspruch an, die nicht auf dem Gedanken der graduellen Integration Asiens in eine westlich geprägte Zivilisation und Ordnung beruhten, sondern auf der Selbstermächtigung Asiens gegenüber dem Westen: die raum-zeitlichen Vorstellungswelten des internationalen Sozialismus, des „pazifischen Zeitalters“ sowie der spirituellen Einheit der Menschheit. Sie teilten nicht nur eine starke antiimperialistische Stoßrichtung, sondern auch die Annahme, dass die „Revolte“ Asiens gegenüber dem Westen in Form zahlreicher nationalistischer Bewegungen den Beginn einer höheren, west-östlichen Zivilisation markierte. Eine sozialistische Interpretation der Weltgeschichte, wie sie sowohl in China als auch in Indien im Verlauf der 1920er und 1930er Jahre zunehmend populär wurde, stellte freilich unter amerikanischen und britischen Autoren die Ausnahme dar. 1930 legte der radikale amerikanische Kapitalismuskritiker Scott
46 Siehe zu den Angleichungstendenzen in der internationalen Gesellschaft und zu der These, dass diese von Modernisierungsprozessen verstärkt wurden, Hedley Bull: „The Emergence of a Universal international Society“, in: ders./Watson: International Society, 117–126, hier 122, sowie die frühere Schrift von Morse: Transformation of International Relations. Siehe auch Lepsius: „Soziologische Theoreme“, 23. 47 Diesen Bildungsauftrag betonte insbesondere Francis Marvin in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband Western Races and the World, 3–25. Vgl. auch Marvins paternalistische Ausführungen über das britisch-indische Verhältnis innerhalb der neuen internationalen Ordnung in India and the West.
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Nearing sein Werk The Twilight of Empire (1930) vor, in dem er die menschliche Geschichte in imperialen, von sozioökonomischen Kräften bestimmten Zyklen deutete. Über Jahrtausende, so Nearing, habe die menschliche Rasse mit einer Gesellschaftsform experimentiert, die wirtschaftspolitisch auf der Dominanz der kapitalbesitzenden Klasse, der Ausbeutung der Arbeiter und der wirtschaftlichen Erschließung neuer Territorien beruhte.48 Der Kapitalismus, den Nearing kulturgeographisch nicht explizit auf den Westen beschränkte, war demnach Träger des Imperialismus. In jedem imperialen Zyklus sei jedoch früher oder später der Punkt erreicht, an dem die Expansion gestoppt werde, das darauf basierende wirtschaftliche System zusammenbreche und wieder auf seine Kernelemente schrumpfe: nämlich die landwirtschaftlichen Dorfgemeinschaften und lokalen Handelszentren. Nearing, der den Großteil seines Lebens als selbstversorgender Landwirt verbrachte, um durch sein Beispiel ein gesellschaftliches Umdenken zu bewirken, sah den Vorteil der Dorfgemeinschaften darin, dass sie nicht auf Expansion angewiesen waren; wie in China und Indien zu beobachten, hätten sie deshalb die imperialen Zyklen unbeschadet überstanden. Die historische Abfolge von Aufstieg und Fall großer Imperien konnte Nearing zufolge nur durch die Realisierung eines höheren Niveaus weltwirtschaftlicher Organisation durchbrochen werden: in einer kooperativen Weltwirtschaft, die er sich als weltumspannende Sphäre der Selbstversorgung vorstellte, in der Profitstreben und Ausbeutung eliminiert und die Balance zwischen Produktion und Konsum wiederhergestellt sei.49 Die neue soziale Ordnung unterscheide sich ebenso grundlegend vom Kapitalismus, wie jener sich vom Barbarismus abhebe.50 Als entscheidende historische Kraft, um diesen progressiven Zustand herbeizuführen, identifizierte Scott Nearing die Arbeiterbewegung des eurasischen Blocks: Russlands und insbesondere Chinas. Aus dieser Sicht emanzipierte sich Asien von der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Unterdrückung durch den Westen und stellte damit jenen Raum dar, in dem das Ende des Imperialismus herbeigeführt wurde. Auch der Pazifik als geopolitischer und kultureller Übergangsraum zwischen dem sozialistischen Asien einerseits und dem kapitalistischen Amerika andererseits war für Nearings Konzeption des sozialen Wandels von zentraler Bedeutung.51 Wenn sich kapitalistische und sozialistische Gesellschaftsformen gegenseitig ausschlossen, war der sozioökonomische
48 Vgl. Scott Nearing: The Twilight of Empire. An Economic Interpretation of Imperialist Cycles, New York 1930, 165. 49 Vgl. ebd., 168. Siehe auch Whitfield: Scott Nearing, Kapitel 8–10. 50 Vgl. Nearing: Twilight of Empire, 175–176, 179–180. 51 Vgl. Nearing: Whither China?, 202–203.
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ystemkonflikt zwischen Ost und West ein Nullsummenspiel, das aus sozialistiS scher Sicht in einer „Weltgesellschaft der Kooperativen“ auflösbar war. Ideen eines pazifischen Zeitalters prägten „realistische“ und „idealistische“ Interpretationen der internationalen Beziehungen gleichermaßen: sie dienten geopolitischen Analysen der gegenwärtigen und mittelfristig zu erwartenden Machtverteilung zwischen Ost und West ebenso wie der kosmopolitischen Vision einer Weltgemeinschaft. Beide Varianten wurden bestimmend für die Arbeit des IPR.52 Der pazifische Raum, zu dem mitunter auch Indien gezählt wurde,53 erschien den Experten des Instituts als neues Weltwirtschaftszentrum, von dem die alten europäischen Mächte weitgehend ausgeschlossen waren; er ließ sich jedoch auch als internationaler und interkultureller Kooperationsraum denken, der nicht nur der gegenseitigen Bereicherung seiner Anrainerstaaten diente, sondern dem Fortschritt der gesamten Menschheit. Die USA nahmen hinsichtlich ihres internationalistischen Gestaltungspotentials eine politisch-ideologische Sonderstellung im Westen ein; oft wurde dem Land eine Führungsrolle im neuen Zeitalter zugeschrieben.54 Der Verlust europäischer Dominanz über Asien barg aus internationalistischer Sicht die Chance auf eine Weiterentwicklung der gesamtmenschheitlichen Zivilisation in der Anerkennung west-östlicher politischer Gleichheit und kultureller Gleichwertigkeit. Die „asiatische Renaissance“ der Nachkriegszeit konnte in diesem Sinn als Teil eines evolutionären Entwicklungsprozesses der Menschheitsgeschichte interpretiert werden, in der Zivilisationen zwar aufstiegen und fielen, dabei jedoch auf den Endzustand einer geeinten Weltzivilisation zustrebten. Aus der Konfrontation zwischen östlicher und westlicher Zivilisation könne und müsse der Schluss einer wechselseitigen Entwicklung gezogen werden.55 Wie Herbert Gowen darlegte, bestand angesichts der Bemühungen um mehr „world consciousness“ und pan-pazifische Zusammenarbeit die Hoffnung auf eine zivilisatorische Synthese in west-östlichen „lands of Peace“ entlang des Pazifik. Sowohl das Streben nach einer geeinten Welt als auch die Demokratie als Motor dieses historischen Fortschritts betrachtete Gowen jedoch unmissverständlich als amerikanisches Erbe. Wie bei vielen seiner Zeitgenossen leistete die Idee des
52 Zu „pessimistischen“ und „optimistischen“ Diskursen über das „pazifische Zeitalter“ vor und nach dem Ersten Weltkrieg siehe Korhonen: „Pacific Age“. 53 Vgl. etwa Gowen: Asia, 11. 54 Vor allem indische Intellektuelle betonten gerne die Parallele des eigenen Unabhängigkeitskampfes zu demjenigen der USA. Vgl. beispielsweise Das: „Present World Crisis“, 382. 55 Vgl. Hyndman: Awakening, 273. Ähnlich u. a. Harrison: Asia Reborn, 378, Clark: The Great Wall Crumbles, 6, 386, und besonders Radhakrishnan: Eastern Religions and Western Thought, 1–2.
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„pazifischen Zeitalters“ auch in Gowens Texten einer Pax Americana Vorschub: einer Welt „safe for democracy“.56 Metageographische Konzepte wie das des Pazifik blieben auch unter internationalistischen Vorzeichen kulturell spezifische Bedeutungszuschreibungen, die Machtbeziehungen transportierten.57 An der Frage, wie und in welcher Relation westliche und östliche Kulturelemente die geeinte Menschheitszivilisation des neuen Zeitalters prägten, schieden sich die Geister. Dass es der Kooperation, Sympathie und Überwindung kultureller Vorurteile bedurfte, war ebenso offensichtlich wie die Tatsache, dass die internationalen – aber letztlich westlichen – Organisationsstrukturen der Nachkriegszeit diesbezüglich nur ein erster Schritt sein konnten. Ein Wertewandel war notwendig. Welches waren die universalen Werte, die Ost und West im Sinne des gemeinsamen Fortschritts vereinen konnten? So sehr das Freiheitsideal in der Lage war, Menschen überall auf der Welt für den Kampf gegen den Imperialismus zu mobilisieren, so brachte es stets neue nationale und kulturelle Grenzziehungen und Partikularismen hervor; das galt für nationale Unabhängigkeitsbewegungen ebenso wie für Panbewegungen und den internationalen Sozialismus. Für Spiritualisten wie Charles Andrews führte die Vorstellung des politischen und sozialen Fortschritts ins Leere. Politische und soziale Revolutionen konnten ihm zufolge auch einen zivilisatorischen Rückschritt mit sich bringen. „Our modern conception of history seems to involve that we have only to extend political rights and to ameliorate social conditions, and the progress is assured. But the story of mankind, when fully studied, lends itself to no such facile interpretations.“58 Ein Blick in die Geschichte der Menschheit zeige vielmehr, dass die indische Zivilisation andere große Zivilisationen wie die ägyptische und die babylonische kommen und gehen sah. Wie viele seiner Zeitgenossen führte Andrews Indiens Fähigkeit, den Zyklus von Aufstieg und Fall abzuwenden, auf seine Religiosität zurück. Er sprach von einer Neuausrichtung – von „fresh prospects“ – der menschlichen Zivilisation, wenn zukünftig von Asien und insbesondere von Indien aus ihre Spiritualisierung ihren Ausgang nahm.59 Nur im Wirken
56 Vgl. Gowen: Asia, 284, 408. 57 Siehe hierzu Steigerwald: Wilsonian Idealism, 57–58. In diesem Zusammenhang sind auch die Überlegungen Dirliks zur metageographischen „Erfindung“ des Pazifik vor allem durch euroamerikanische Akteure sowie die Vorstellungswelt des „American Pacific“ relevant. Siehe u. a. den Sammelband von Arif Dirlik (Hg): What is in a rim? Critical perspectives on the Pacific Region Idea, Lanham/Boulder/New York/Oxford 1998, sowie Eperjesi: Imperialist Imaginary. 58 Andrews: To the Students, 13. Ähnliches stellte Ralph Flewelling über die chinesische Zivilisation fest. Vgl. R. T. Flewelling: Reflections on the basic ideas of East and West. A study in cultural contrasts, Beijing 1935. 59 Vgl. Andrews: India and the Pacific, 206.
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IV Schlussbetrachtung
religiöser Kräfte schienen aus dieser Sicht die Einheit und damit der gemeinsame Fortschritt aller Teile der Menschheit realisierbar. Lag in der Abkehr vom Materialismus also der Weg zu einer west-östlichen Moderne? Oder zielten spirituelle Einheitsvorstellungen letztlich auf eine Art „asiatischen Frieden“, basierend nicht wie etwa die Pax Americana auf den politischen Prinzipien der Freiheit und der (Chancen-)Gleichheit, sondern auf den religiösen Prinzipien des Hinduismus oder Buddhismus? Viele Beobachter der internationalen Beziehungen sahen gleichsam in einem Mittelweg, einem stärkeren Austausch zwischen westlicher und asiatischer Kultur auch den einzigen Weg zur Lösung internationaler Konflikte. Es war eine interkulturelle Annäherung notwendig – oder wie es der amerikanische Philosoph Ralph T. Flewelling in seinen Reflections on the Basic Ideas of East and West formulierte: ein „compromising tempo“60 zwischen menschlichen Gemeinschaften, die sich unterschiedlich schnell und auf unterschiedliche Art und Weise entwickelt hatten. Die Ausführungen Aurobindo Ghoses zum zukünftigen Verlauf der Geschichte sind diesbezüglich besonders aussagekräftig. Fortschritt stellte sich Sri Aurobindo nicht linear, sondern kreisförmig vor, um ein „ever advancing centre“.61 Er identifizierte in Europa und in Indien – stellvertretend für die westliche und die östliche Zivilisation – jeweils zwei historische Zyklen, in denen sich Phasen der Vitalität und der Stagnation abwechselten: In Europa reichten diese Zyklen von den primitiven Anfängen zur griechisch-römischen Welt und von der „Halbbarbarei“ des feudalen Christentums bis zur modernen Gesellschaft mit ihren intellektuellen und materiellen Ausprägungen; in Indien sah er einen doppelten Zyklus vom vedischen Zeitalter bis zu den Zeiten Buddhas und von dort bis zum „Einbruch“ Europas. In dieser Epoche begann seiner Vorstellung nach das moderne Zeitalter, das Ost und West vereinte und sich durch diese Einheit auszeichnete.62 Um den gemeinsamen Fortschritt der Menschheit zu gewährleisten, musste es seiner Ansicht nach gelingen, den Materialismus des Westens durch die Spiritualität Asiens gleichsam zu „veredeln“, in eine Form des „nobler pragmatism“.63 Sri Aurobindos Vorstellung einer west-östlichen Moderne
60 Flewelling: Reflections, 4. Flewelling, der an der University of Southern California lehrte und auch als Gastprofessor am California College in China tätig war, gehörte der philosophischen Schule des Personalismus an. Siehe Wallace Nethery: Dr. Flewelling and the Hoose Library. Life and letters of a man and an institution, Los Angeles 1976. Ähnlich beschrieb Rabindranath Tagore die Anstrengungen zur Überwindung kultureller Unterschiede zwischen Ost und West. Vgl. Tagore: Greater India, 86–89. 61 Aurobindo Ghose: Ideal and Progress, Kalkutta o. J. [wahrscheinlich 1920], 33. 62 Vgl. ebd., 42–47. 63 Ebd., 50.
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beruhte letztlich auf kultureller Stereotypisierung und der Überzeugung, die für den Fortschritt der Menschheit notwendige geistige Haltung sei in einer früheren Phase der Geschichte Asiens – in seiner Interpretation: Indiens – bereits vorhanden gewesen und müsse nur wiederentdeckt werden. Jedoch war es ihm nicht darum zu tun, die indische Kultur zur Weltkultur auszurufen; vielmehr sah er in einer geistigen Entwicklung der Menschen, die über Wissenschaft und Ästhetik hinaus in ein Verständnis ihres gemeinsamen göttlichen Ursprungs hineinreichte, die Basis für eine Einheit, die über eine bloße Assoziation von Interessen hinausging.64 Ob der Vorstellung einer sich progressiv zur Einheit entwickelnden Menschheit soziale, politische oder religiöse Prinzipien und Zielsetzungen zugrunde lagen – immer waren die Internationalisten der Zwischenkriegszeit darum bemüht, der kulturellen Konfrontation zwischen Ost und West, welche die moderne Zeit prägte, und den politischen und wirtschaftlichen Konflikten, die sie mit sich brachte, eine historische Bedeutung beizumessen. Die Annahme einiger Traditionalisten, die Zukunft Indiens, Chinas und ganz Asiens könne sich unabhängig von westlichen Einflüssen gestalten, schien ebenso anachronistisch wie diejenige, westliche Länder könnten in einer Art zivilisationsmissionarischem Siegeszug kulturelle Unterschiede beseitigen. Es galt, die Prämissen des raum-zeitlichen Koordinatensystems in einen neuen Zusammenhang zu bringen: Modernisierungsprozesse, die vormals nach westlichem Modell universalisiert wurden, mussten partikularisiert werden, um kulturellen Unterschieden Rechnung zu tragen; für die internationalen Beziehungen, die vormals partikularen Interessen folgten, mussten universale Grundlagen etabliert werden, um der Idealvorstellung einer geeinten Menschheit gerecht zu werden. Obwohl die große Mehrzahl der Autoren von der Möglichkeit des zivilisatorischen Fortschritts ausging, waren ihre Themen, ihr Erkenntnisinteresse und ihre methodische Herangehensweise zu verschieden, um einen kohärenten Fortschrittsbegriff hervorzubringen. Jedoch bestand dahingehend ein Grundkonsens, dass die konfliktreichen Wandlungsprozesse der Gegenwart, die sich am Beispiel Chinas und Indiens kondensiert aufzeigen ließen, in eine west-östliche Zukunft münden mussten. Fortschritt bedeutete vor diesem Hintergrund die Einsicht in die historische Notwendigkeit dieser Gemeinsamkeit; es war – um noch einmal den Philosophen Flewelling zu zitieren – in der modernen Zeit unmöglich geworden, „for one half of the world to rise without the lifting power of the other half“.65 Die verschiedenen menschlichen Gemeinschaften mussten bei der Suche nach
64 Vgl. ebd., 67–68. 65 Flewelling: Reflections, 75–76.
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IV Schlussbetrachtung
universalen Normen und Strukturen nicht unbedingt in einer religiösen Einheit aufgehen; aber sie konnten sich auch nicht – wie im Geschichtsbild Oswald Spenglers und mit gewissen Einschränkungen auch Arnold Toynbees66 – unabhängig voneinander entwickeln.67 Die Frage, ob die Annäherung gelingen würde, blieb dabei meist offen, und die Möglichkeit eines Niedergangs der gesamten menschlichen Zivilisation wurde – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges – stets mitgedacht. Wenngleich die imperialistischen Kontinuitäten zu eklatant waren, als dass der Internationalismus der Zwischenkriegszeit auf das ihm inhärente Fortschrittsnarrativ reduziert werden könnte,68 wurden sozialdarwinistische Grundsätze als Basis internationaler und vor allem interkultureller Beziehungen relativiert. Der Test der Anpassungsfähigkeit einer Kultur bestand aus internationalistischer Sicht darin, der Konfrontation zwischen Kulturen nicht mit Dominanz oder Isolation zu begegnen, sondern die Chancen zu nutzen, die sich durch die Verwobenheit multipler Modernen ergaben.
66 Einerseits legte Toynbee seiner Study of History die Idee einer zyklischen Entwicklung abgeschlossener Zivilisationen zugrunde. Sein Biograph und Schüler William MacNeill distanzierte sich speziell von dieser Idee und betonte dagegen die Bedeutung interkultureller Beziehungen, die er selbst in seinem Werk The Rise of the West: A History of the Human Community von 1963 unterschätzt habe. Vgl. W. H. MacNeill, „Foreword“, in: Marvin Perry: Arnold Toynbee and the Western Tradition, New York 1996, vii–ix, hier viii, sowie Osterhammel: Geschichtswissenschaft, 176. Andererseits sah Toynbee die Geschichte der Zivilisationen durch ihre Reaktion nicht nur auf interne, sondern auch auf externe Herausforderungen, also durch interzivilisatorische Interaktionen, bestimmt. Siehe O’Hagen: Conceptualizing the West, 102–103. Auch die Entstehung höherer Religionen, v. a. des Christentums, betrachtete er als zivilisationsübergreifenden Prozess. Siehe Thompson: Toynbee’s Philosophy, 210. 67 Siehe hierzu auch die These Yurdusevs, wonach internationale Systeme aufgrund schwach ausgeprägter interzivilisatorischer Grenzen in der Geschichte stets „multi-zivilisatorisch“ waren. Das moderne internationale System sieht er vom Austausch der westlichen, islamischen, hinduistischen, chinesischen und indischen Zivilisation geprägt. Siehe A. N. Yurdusev: International Relations and the Philosophy of History. A Civilizational Approach, Basingstoke/New York 2003, 148. Die Erkenntnis, dass „säuberlich arrondierte[] Kulturbereiche“ nicht existierten, war an sich nicht neu, sondern fand bereits Ende des 19. Jahrhunderts in die globale Raumlehre des deutschen Geographen Georg Ratzel Eingang. Siehe Jürgen Osterhammel: „Raumerfassung und Universalgeschichte im 20. Jahrhundert“, in: Gangolf Hübinger/Jürgen Osterhammel/Erich Pelzer (Hg.): Universalgeschichte und Nationalgeschichten, Freiburg 1994, 51–72, hier 65. 68 So resümiert Sluga: Internationalism, 152.
10 Asien, der Westen und das Paradigma der „geteilten Zukunft“: Zusammenfassung und Fazit Indeed it may be said that the three great world problems to-day are: the fate of capitalism, which means the fate of Europe and America, the future of India, and the future of China, and all these are interrelated.1
Jawaharlal Nehru, von dem diese Worte stammen, sollte 1947 erster Ministerpräsident Indiens werden und bis zu seinem Tod 1965 die Geschicke seines Heimatlandes leiten. Wenngleich um einen Ausgleich mit allen großen Mächten bemüht, wandte sich Indien unter seiner Führung explizit Asien zu. Der Bandung- Konferenz von 1955, aus der im Kalten Krieg die Blockfreie Bewegung asiatischer und afrikanischer Staaten hervorging, waren andere panasiatische Konferenzen vorausgegangen, an deren Zustandekommen er maßgeblich beteiligt war. Nehru vertiefte besonders die indischen Beziehungen zu China. Er war davon überzeugt, dass die beiden Länder „als Brüder“ eine gemeinsame Mission gegen Kolonialismus und Rassendiskriminierung zu erfüllen hatten.2 Freilich zerschlug sich diese panasiatische Vision bereits 1962 im indisch-chinesischen Grenzkrieg. Nehrus Vorstellungen davon, wie die Zukunft seines Landes zu gestalten war, hatten bereits während der 1920er und 1930er Jahre Form angenommen, deutlich geprägt sowohl von seinen linksliberalen Glaubenssätzen als auch der unmittelbaren Erfahrung des britischen Kolonialismus und des indischen Unabhängigkeitskampfes. Wie zahlreiche asiatische und westliche Intellektuelle sprach auch er den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen im Indien wie auch im China dieser Zeit und insbesondere ihrem Streben nach nationaler Unabhängigkeit eine enorme Bedeutung für den zukünftigen Gang der Weltgeschichte zu: als „Weltprobleme“ schienen sie symptomatisch für weitreichende und tiefgehende Anpassungsprozesse im Verhältnis zwischen Asien und der westlichen Welt zu sein. Diese Anpassungsprozesse wurden zum einen innergesellschaftlich verortet. Sie waren als Auseinandersetzung Chinas und Indiens mit den Bedingungen westlicher Herrschaftsgewalt und den ihr zugrunde liegenden Ideen, Normen und Institutionen wahrnehmbar und erfahrbar. Viele Beobachter sahen in dieser Auseinandersetzung eine historische Kraft am Werk, die spätestens 1 Nehru: „Whither India?“, 57. 2 Siehe Manorama Kohli: „Nehru’s World View and China Policy“, China Report, Bd. 21, Nr. 6 (November 1985), 497–502. DOI 10.1515/9783110464382-010
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seit dem Beginn der europäischen Überseeexpansion und seitdem beschleunigt durch neue Kommunikations- und Transportmöglichkeiten nicht nur die räumlichen Grenzen zwischen den Erdteilen, sondern auch deren kulturelle Grenzen überwand. Wenngleich noch niemand von „Globalisierung“ sprach, wurde das „moderne Zeitalter“ mit einer zunehmend vernetzten und immer komplexer werdenden Welt in Zusammenhang gebracht, in der sich Asien ebenso wenig von Einflüssen der „westlichen Zivilisation“ abschotten konnte wie umgekehrt. Die Modernisierung Indiens und Chinas bedeutete die Einbindung beider Länder in dieses Weltgeflecht und verschärfte das Bedürfnis nach der Wahrung ihrer kulturellen Identität. Die Notwendigkeit gegenseitiger Anpassung zwischen Ost und West sah man zum anderen auf der großen weltpolitischen Bühne. Brachte der Erste Weltkrieg de facto wenig Veränderung im Verhältnis zwischen den Großmächten und kolonialen oder semi-kolonialen Ländern, so erwarteten doch viele Zeitgenossen eine machtpolitische Neujustierung auf internationaler Ebene. Es war gerade der Prozess der Modernisierung, der diesbezüglich neue Spielräume zu eröffnen schien, indem er China und Indien in die Lage versetzte, ihre inneren Kräfte gleichsam zu bündeln, um sie außenpolitisch nutzbar zu machen und das etablierte internationale Ordnungssystem in Frage zu stellen. Aus dem „right to grow“, wie es Marguerite Harrison in Anlehnung an Alfred Mahan nannte, also aus dem Recht zur Entfaltung der landeseigenen Entwicklungsmöglichkeiten und Geltungsansprüche, resultierten neue weltpolitische Konfliktszenarien. Das „moderne Zeitalter“ stellte Nationen und Völker vor die Wahl zwischen offenem Konflikt oder aber einer engeren Kooperation. In der Zwischenkriegszeit avancierten China und Indien zur Projektionsfläche einer von Asien und der westlichen Welt auf vielfältige Weise geteilten Zukunft: geprägt freilich von anhaltenden Grenzziehungen und Partikularismen, aber mehr noch von Interdependenzen und Gemeinsamkeiten. Das „Schicksal“ Chinas und Indiens – um die Formulierung Nehrus aufzugreifen – schien untrennbar verwoben mit demjenigen Europas und Amerikas. Gleichzeitig schienen diese Schicksale in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg offener denn je. Das Gefühl der Zukunftsoffenheit wurde in China und Indien von den Nationalbewegungen kultiviert: Nur wenn das Verhältnis zwischen kolonisierten und kolonisierenden Völkern nicht in Stein gemeißelt war, wenn also die Hoffnung auf eine bessere Zukunft bestand, ließen sich Massen mobilisieren. Die asiatischen Nationalbewegungen trugen wiederum wesentlich dazu bei, dass die Zukunftsoffenheit im Verhältnis zwischen Ost und West auch in den USA und Großbritannien spürbar war, wenngleich diese nach eigenem Verständnis mit dem Ende des Krieges gerade einen wichtigen Sieg für die „Sicherung“ ihrer Zukunft – ihrer Werte, Normen und Institutionen – errungen hatten. Journalisten, Missionare,
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Fernreisende, Geschäftsleute und Diplomaten sowie in zunehmendem Umfang auch Wissenschaftler und Experten im Umkreis der neuen außenpolitischen Forschungsinstitute bekräftigten die wachsende Relevanz Indiens und Chinas. Dass sich einflussreiche Intellektuelle wie Lionel Curtis und Bertrand Russell in Großbritannien oder die Amerikaner James Shotwell und John Dewey explizit dafür aussprachen, Asien im Allgemeinen und seinen beiden größten Ländern im Besonderen verstärkte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, ist bemerkenswert genug in einer Zeit, in der sich Europa in nächster Nähe als kolossales Trümmerfeld mit unzählbaren ungelösten Probleme darbot. Die Antwort auf die Frage, warum man in dieser Situation die Entwicklungen in asiatischen Ländern intensiv beobachten und analysieren musste, lag für Autoren wie Lionel Curtis auf der Hand: Schien dieses Wissen einerseits unverzichtbar, um „Weltprobleme“ zu lösen und möglichen neuen regionalen und globalen Konflikte vorzubeugen, so war andererseits das immer noch weit verbreitete Unwissen über die Dynamiken im bevölkerungsreichsten Teil der Welt leichtfertig und kurzsichtig. Der Krieg hatte den Blick vieler Intellektueller nicht auf Europa verengt, sondern im Gegenteil auf Asien geweitet, indem er die Tragweite globaler Verflechtung offenbarte. Die Fokussierung auf Asien war freilich nicht vollkommen neu. Fernreisende und Orientalisten hatten das Wissen um die „Andersartigkeit“ asiatischer Kultur parallel zur Ausweitung der Kolonialreiche zu einem festen Bestandteil des europäischen Selbstverständnisses gemacht. Wurden west-östliche Gleichgewichtsvorstellungen im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend vom Ordnungsprinzip zivilisatorischer Hierarchie mit einem „progressiven“ Westen und einem „statischen“ Asien abgelöst, so brachte spätestens der Russisch-japanische Krieg von 1904/05 Asien als historischen Faktor ins Bewusstsein westlicher Öffentlichkeiten zurück. So wie um die Jahrhundertwende das Schlagwort der „Gelben Gefahr“ auf historische Topoi eines machtvollen – gar übermächtigen – Asien rekurrierte, prägte der Blick in die Vergangenheit auch nach dem Ersten Weltkrieg Ideen zukünftiger Weltgeltung Chinas und Indiens.3 Das historische Narrativ vom Aufstieg und Fall der Zivilisationen bildete einen wichtigen kognitiven Rahmen für die Interpretation des gegen politische und kulturelle Unterdrückung revoltierenden Asien als Zeichen eines beginnenden neuen Zeitalters: Eben jenem, in dem Anpassungsprozesse zwischen Ost und West deren Verhältnis zueinander grundlegend verändern würden.
3 Zum Zusammenhang von Geschichtswissenschaft und Weltordnungskonzeptionen: M atthias Middell: „World Orders in World Histories before and after World War I“, in: Sachsenmaier/ Conrad: Competing Visions of World Order, 97–117, hier 97.
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IV Schlussbetrachtung
10.1 Weltwahrnehmung zwischen Universalismus und Relativismus Autoren, die sich in der Zwischenkriegszeit Asien zuwandten, setzten sich in hohem Maße mit den Formen und Folgen, den Chancen und Grenzen der kulturellen Globalisierung auseinander. Sie waren in diesem Sinne ebenso Vordenker der Modernisierungstheorie wie der revisionistischen Debatte über die Vielfalt der Moderne. Die Pluralität der Kulturen und ihrer verschiedenen Daseinsformen war für sie ebenso eine Tatsache wie die beobachtbaren Tendenzen weltweiter kultureller Angleichung. Ihr globales Bewusstsein war lokal sensibilisiert.4 Dies gilt nicht nur für die intellektuellen Eliten der asiatischen Länder selbst, die sich mit ihren Zukunftsentwürfen von kolonialen und semi-kolonialen Denk- und Machtstrukturen gleichsam „freischrieben“, indem sie die Universalität westlicher Entwicklungs- und Ordnungskonzepte einmal ablehnten, einmal bekräftigten. Darüber hinaus entsprachen auch britische und amerikanische Autoren in ihren Prognosen in unterschiedlichem Maße indischen und chinesischen Entwicklungsbedürfnissen und Geltungsansprüchen, ohne die Bedeutung und globale Wirkkraft bestimmter Aspekte des westlichen Wertekanons grundsätzlich in Frage zu stellen. In der Annahme, dass sich Indien und China nicht in gleicher Weise wie Europa und Asien entwickeln mussten, gleichzeitig jedoch nicht unabhängig von ihnen entwickeln konnten, fand sich der kleinste gemeinsame Nenner des prognostischen Schreibens. Für Entwürfe zukünftiger Weltordnung bedeutete die Prämisse der geteilten Zukunft zugleich, dass die internationalen und interkulturellen Beziehungen zwischen Indien, China und westlichen Ländern entweder im Sinne einer Suche nach gemeinsamen Ordnungsprinzipien oder als Anlass zur Wahrung partikularer, also gewissermaßen trennender, Identitäts- und Raumansprüche interpretiert werden konnten.5 Anhand der drei Topoi Nationalstaatsgründung, Industrialisierung sowie Renaissance/Aufklärung kann das Oszillieren der Zukunftsentwürfe zwischen universaler und partikularer Weltwahrnehmung zusammenfassend
4 Diesen Anspruch stellt Dominic Sachsenmaier für den globalen Ansatz in der heutigen Historiographie. Siehe Sachsenmaier: Global Perspectives on Global History, 6. Stephanie Lawson spricht von einer „pluralistischen Kosmopolität“, die zwischen „dogmatischem Universalismus“ und „radikalem Relativismus“ nach einem Mittelweg sucht. Siehe Stephanie Lawson: „Culture, Identity and Representation of Region“, in: dies. (Hg.): Europe and the Asia-Pacific. Culture, Identity and Representation of Region, London/New York 2003, 1–16, hier 9. 5 Hier wird die duale Bedeutung von „geteilt“ bei Conrad und Randeria aufgegriffen. Siehe Kapitel 1.
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aufgezeigt werden. Als „moderne Revolutionen“ dienten sie als Gradmesser der kulturellen und weltpolitischen Anpassungsprozesse zwischen Ost und West. Der chinesische und indische Nationalismus der Zwischenkriegszeit steht am Beginn dieser Anpassungsprozesse und damit am Beginn des prognostischen Schreibens über Indien und China. Er korrelierte mit dem Bedürfnis chinesischer und indischer intellektueller Eliten, die Entwicklungsmöglichkeiten ihrer Länder auszuloten und deren Rolle auf internationaler Ebene neu auszulegen. Er stellte zugleich das Ausrufezeichen dar, das Beobachter aus Großbritannien und den USA dazu anhielt, dieselben Überlegungen – wenngleich aus anderer Perspektive – anzustellen. Der Nationalismus erschöpfte sich dabei nicht in seiner theoretischen Komponente, als Nachdenken über das Wesen einer chinesischen und indischen Nation, sondern war in seinen praktischen Implikationen, dem politischen Widerstand, deutlich spürbar. Die Zukunft der beiden Länder im Weltkontext zu imaginieren, bedeutete in einem fundamentalen Sinn, die Formen und Folgen ihrer Nationalismen zu interpretieren. Es ist dem gemeinsamen antiimperialistischen Kern ihrer Nationalismen geschuldet, dass sich die Debatten über China und Indien trotz ihrer unterschiedlichen Ausgangslagen als kolonisiertes beziehungsweise semi-kolonisiertes Land stark ähnelten. Das „Erwachen der Nation“ wurde in beiden Fällen als Indiz und Antrieb einer politischen Modernisierung gedeutet, die Indien und China mit eben jenen Eigenschaften der nationalen Einheit, Unabhängigkeit und nationalstaatlichen Stärke ausstatten würde, die bisher die weltpolitische Dominanz der Imperialmächte garantierte. Die Rede von der „Rettung der Nation“ transportierte entsprechend das duale Ziel, das Land nicht nur von Fremdeinmischung zu befreien, sondern ihm auch Geltung und Handlungshoheit in der internationalen Gesellschaft zu verschaffen. Ideen davon, wie ein freier und starker Nationalstaat in Indien und China realisiert werden konnte, waren abhängig von den sehr verschiedenen innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen, die sich den Nationalbewegungen boten. Das Nebeneinander verschiedener Religionen in Indien – dabei vor allem der beiden großen Religionen Hinduismus und Islam – bewegte zahlreiche Autoren dazu, das Wesen der indischen Nation als „Einheit in der Vielfalt“ zu begreifen. Diese Definition fand besonders im Umkreis des Nationalkongresses Anklang, der sich als Sprachrohr aller Inder verstand, und ließ viel Interpretationsspielraum: sie war mit Gandhis religiöser Idee einer in ihrer Gläubigkeit vereinten Nation ebenso kompatibel wie mit Nehrus säkularem Staatsbürgernationalismus. Diesem Bemühen um einen Ausgleich zwischen den Bevölkerungsgruppen entsprechend herrschte in der politischen Reformdebatte ein weitgehender Konsens über die Notwendigkeit eines demokratischen und föderalen Staatssystems für Indien. Radhakamal Mukerjees Democracies of the East ist ein einschlägiges Beispiel für
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die kreative Auslegung des repräsentativen politischen Organisationsprinzips im indischen Kontext. Wie viele seiner Zeitgenossen lehnte er die repräsentative Demokratie, wie sie die Kolonialherren nach dem Vorbild Großbritanniens aufzubauen suchten, ab; anders als einige seiner Zeitgenossen wandte er sich jedoch nicht alternativ dem amerikanischen politischen System zu, sondern suchte nach Möglichkeiten, den Charakter der Repräsentation speziell durch die Berücksichtigung kommunaler Zugehörigkeitsgefühle zu reformieren. Eine demokratische Entwicklung Indiens wurde weder von indischer noch von westlicher Seite in Frage gestellt. Von verantwortungsvollen Führungskräften angeleitet, sollte zukünftig vom indischen „Volk“, dem man großes demokratisches Potential attestierte, die politische Autorität ausgehen. Demokratie musste nicht zwangsläufig als westliches Ordnungsprinzip angenommen oder abgelehnt werden, sondern nahm in den Debatten einen universalen Charakter an: als ein Ideal, das grundlegenden menschlichen Bedürfnissen entspringt. Ebenso fraglos war jedoch die Notwendigkeit, sich von europäischen politischen Prinzipien und Praktiken loszusagen, die sich nicht nur angesichts des Weltkrieges, sondern auch in Form des britischen kolonialen Herrschaftssystems disqualifiziert hatten. Es galt, eine „neue Nation“, eine „neue Demokratie“ und einen „neuen Staat“ zu verwirklichen. In direkter Abgrenzung zum „aggressiven“ Nationalismus der Imperialmächte – und symbolträchtig manifestiert in Gandhis politischer Strategie der Gewaltlosigkeit – erklärte man Friedfertigkeit zum Leitprinzip des indischen Nationalismus. Wie im indischen Kontext flossen auch im Falle Chinas der reformerische und antiimperialistische Charakter des Nationalismus ineinander. In der relativ liberalen Atmosphäre der 1920er Jahre dominierte ein „rationaler“, staatsbürgerlicher Nationalismus, der sich für die Entwicklung Chinas unabdingbar zu machen schien, indem er nicht nur der Integration und Solidarität der Gesellschaft nach innen, sondern auch ihrer Widerstandskraft gegen äußere Feinde diente. Wie im indischen Kontext sprachen Mitglieder der chinesischen Führungselite wie Alfred Sze, aber auch ausländische Beobachter wie Bertrand Russell von einem defensiven und friedfertigen chinesischen Patriotismus. Wer wie einige Auslandskorrespondenten die antiausländische Agitation im Zuge der nationalen Revolution vor Ort direkt miterlebte, der kam nicht umhin, dieses idealisierte Bild des chinesischen Nationalismus zu hinterfragen. Dennoch gab die Gründung der Guomindang-Regierung 1927/28 Anlass zu Optimismus: Dem Ziel einer guten Regierungsführung in einem Nationalstaat, der die Interessen Chinas wiederum nach außen vertreten konnte, schien das Land so nah wie nie seit dem Sturz der Qing-Dynastie. Amerikanische Kommentatoren wie John Dewey stellten sich den chinesischen Nationalstaat als föderales Gebilde nach dem Vorbild der USA vor, das
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zudem auf die Tradition autonomer Provinzen während der Kaiserzeit rekurrieren konnte. Eine föderale Struktur wurde jedoch dem Primat staatlicher Machtkonzentration nicht gerecht, das die politischen Modernisierungsprogramme chinesischer Autoren dominierte. Erst im starken Zentralstaat kam die chinesische Nation aus deren Sicht zu ihrer endgültigen Realisierung. Wie im indischen Kontext war der chinesische Staat mit hohen Erwartungen belegt. Die Staatsführung sollte die nationalen Entwicklungskräfte bündeln und als Vormund zum Wohle des Volkes einsetzen. Im Staatsverständnis Sun Yatsens – und beispielsweise auch des indischen Revolutionärs Taraknath Das – ging die Freiheit des Einzelnen im Kollektiv des Staates auf. Wenngleich das Regime Chiang Kaisheks im Verlauf der 1930er Jahre autoritäre Züge annahm, war der Anspruch auf Demokratisierung Grundbestandteil aller politischen Modernisierungsprogramme für China. Wie im Falle Indiens waren sich chinesische und westliche Beobachter einig, dass es sich dabei um eine Demokratie handeln musste, die flexibel mit westlichen Vorbildern umging und diese weiterentwickelte: Die chinesische Republik konnte nach außen stark sein wie die USA, nach innen jedoch weniger legalistisch und dafür basisdemokratischer sein, konfuzianische Staatsbürgertugenden fortsetzen und – basierend auf dem traditionellen sozialen Verantwortungsgefühl und Gemeinsinn der chinesischen Gesellschaft – gar eine „humanere“ Form der Demokratie herausbilden. Chinesischen wie westlichen politischen Denkern war es vor allem darum zu tun, der Demokratie in China eine spezifisch chinesische Note zu geben. Man stellte sich eine im doppelten Wortsinn emanzipative Entwicklung für China und Indien vor: entlang eigener Ideen und Bedürfnisse sowie frei von externen Eingriffen und Einschränkungen. Auch der Nationalismus nahm in diesem Sinn eine doppelte Bedeutung an: als Kraft selbstbewusster Rekonstruktion nach innen sowie Unabhängigkeit nach außen. Bildete der Kampf gegen die Kolonialherrschaft der Briten sowie gegen die „ungleichen Verträge“ in China den realpolitischen Rahmen der Entwicklungsprogramme, so gab die erstmals mit dem Ersten Weltkrieg virulent gewordene Krise des Imperialismus den ideellen. Das Verhältnis Chinas und Indiens zu Großbritannien und den USA wurde jedoch selten als eines zwischen unversöhnlichen Fronten vereinfacht. Im chinesischen wie indischen Kontext sah man die nationale Selbstbestimmung als Voraussetzung dafür, dass die Länder ihre inneren Probleme lösen und einen gleichberechtigten Platz in der internationalen Gesellschaft einnehmen konnten; gleichzeitig waren sich in- und ausländische Beobachter einig, dass dieser Prozess nicht ohne die Kooperation westlicher Länder vonstattengehen konnte. Die nationale Selbstbestimmung Chinas und Indiens musste als ein Vorteil der ganzen internationalen Gesellschaft gestaltet werden.
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Nationalismus und Internationalismus stellten in entwicklungstheoretischen und weltpolitischen Untersuchungen keine entgegengesetzten, sondern sich ergänzende Prinzipien dar. Gerade aus asiatischer Sicht: Die Suche nach einer Nachkriegsordnung, die nicht mehr auf den alten imperialistischen Hierarchien, sondern auf internationaler Kooperation und Organisation, politischer Transparenz und Multilateralität basierte, schien den Boden für die Gleichberechtigung ehemals kolonisierter Länder in der internationalen Gesellschaft zu ebnen. Das normative Streben nach einer dem anarchischen System überlegenen Friedensordnung barg für die politischen Underdogs China und Indien also die Möglichkeit der außenpolitischen Emanzipation. Dies umso mehr, als man China und Indien auf der Basis ihrer Kulturtradition und ihrer relativ kurzen Bekanntschaft mit europäischen Nationalismen einen „internationalen Geist“ und die Fähigkeit attestierte, das Prinzip der „Goldenen Regel“ in den internationalen Beziehungen zu festigen und zu Leitnationen im Kampf gegen den Imperialismus aufzusteigen. Gehörte der internationalen Kooperation die Zukunft, dann schienen die beiden Länder fähig und willens, den Prozess ihrer Nationalstaatsgründung in kooperative Mechanismen einzubinden und in internationalen Organisationen wie dem Völkerbund die Weltpolitik mitzugestalten. Auch aus westlicher Sicht kam es selten zu einem unversöhnlichen Bruch zwischen dem Universalitätsanspruch einer kooperativen Weltordnung und nationalen und imperialen Interessen. Weder in den USA noch in Großbritannien lösten sich die Interpretatoren des Weltgeschehens einfach von imperialistischen Denkmustern. War die nationale Selbstbestimmung Indiens und Chinas für Internationalisten in der Theorie eine relativ eindeutig zu beantwortende Frage der internationalen Gerechtigkeit, so war sie in der Praxis ein schwerer Schritt des sich Verabschiedens von der Idee westlicher Vormundschaft sowie von konkreten Privilegien und Sicherheiten in Übersee. Die ambivalente Haltung einiger Amerikaner gegenüber der Aufhebung ausländischer Extraterritorialität in China ist dafür ebenso ein Beispiel wie das Bemühen der britischen Liberal Imperialists um die Integration eines selbstbestimmten Indien in das British Commonwealth of Nations. Mit der Idee des British Commonwealth of Nations versöhnten britische Internationalisten wie Lionel Curtis und Alfred Zimmern den Anspruch auf einen Neuanfang in den internationalen Beziehungen mit ihrem Glauben an die politische und moralische Legitimität des Empire. Christopher Bayly charakterisiert den indischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts als „liberalism of fear“: ein Liberalismus, der sich der vielen Hindernisse auf dem Weg zu einer freiheitlichen Gesellschaft bewusst war.6 Dieses Konzept ist
6 Bayly: Recovering Liberties, 5–6.
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in doppelter Hinsicht nützlich, um die wörtlich zu verstehende Vorsicht liberaler Denker der Zwischenkriegszeit gegenüber politischen Modernisierungs- und Emanzipationsprozessen und -entwürfen in China und Indien zu beschreiben: Es wird darin zum einen die Sorge darüber offenbar, wie sich die internationalen Beziehungen weiter entwickeln würden, sollten Indien und China wieder „Herren im eigenen Hause“ sein. Freiheit in Raten zu gewähren, machte die Folgen für die Struktur der internationalen Gesellschaft überschaubarer. Gleichzeitig schien immer offensichtlicher, dass die internationale Friedensordnung keine Aussicht auf Erfolg haben konnte, sollte den beiden Ländern die nationale Souveränität verwehrt bleiben: Zu groß schien das Konfliktpotential, das von beiden Ländern als Objekte imperialistischer Politik ausging. Der internationale Frieden und die Wahrung der Interessen aller Mitglieder der internationalen Gesellschaft, so das Resümee der Internationalisten, war an die Voraussetzung geknüpft, dass sich Indien und China friedlich und fest eingebunden in kooperative Strukturen entwickelten. Internationalistische und geopolitische Argumentationslinien überschnitten sich in der Asienpublizistik der Zwischenkriegszeit. Trotz des Fortschrittsglaubens der Völkerrechtler war ein „realistischer“ Blick auf die machtpolitischen Implikationen einer internationalen Emanzipation Chinas und Indiens unabdingbar. Die zentrale geopolitische Doktrin dieser Zeit besagte, dass sich das weltpolitische Zentrum vom Atlantik an den Pazifik verschoben hatte, und erhob China und Indien in den Rang von „pivots“ für die geopolitische Ausrichtung Großbritanniens und der USA gegenüber den Großmächten Japan und Sowjetunion; spätestens die Mandschurei-Krise von 1931 hielt den Beobachtern das Konfliktpotential vor Augen, das allein in einer Destabilisierung Chinas lag, und bewog auch liberale Kommentatoren dazu, sich für die Stärkung westlicher informeller Kontrolle über China auszusprechen. Die weltpolitische Dominanz der Imperialmächte schien insbesondere vom Großmachtspotential Chinas anfechtbar. Nicht nur militarisierte sich das Land unter der Führung Chiang Kaisheks, auch sprach man seiner Bevölkerung die Fähigkeit zu, Teile Asiens, Afrikas und Amerikas zu kolonisieren. Die größte Herausforderung für das weltpolitische Machtgefüge sah man jedoch gegeben, sollte China seine Kräfte mit anderen asiatischen Ländern in einer regionalen Allianz bündeln. „Asia for the Asiatics“ lautete die zentrale Maxime der panasiatischen Bewegung. Diese organisierte sich – insbesondere aufgrund der umstrittenen Rolle Japans in einer „Asiatischen Förderation“ – nach dem Ersten Weltkrieg zwar nur mit mäßigem Erfolg; die im Panasianismus vermittelte Auflehnung gegen die politische und kulturelle Weltdominanz westlicher Imperialmächte erzeugte jedoch eine große intellektuelle Resonanz in der Asienpublizistik. Asiatische wie westliche Beobachter sahen darin ein Zeichen dafür, dass die Neuordnung der
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Welt nach dem Krieg nicht zwangsläufig nach den Vorstellungen Genfer Völkerrechtler und in keinem Fall ohne Berücksichtigung regionaler Kräfte geschehen konnte. Asianisten wie Taraknath Das, Benoy Sarkar, Lowe Chuan-hua oder Sun Yatsen setzten für die Realisierung „asiatischer Unabhängigkeit“ auf eine Stärkung innerasiatischer Solidarität. Im Sinne der nationalistischen Agenda beider Länder bargen die historischen Narrative eines „Greater India“ und eines „Kingly Way“ chinesischer Herrschaftsausübung die Möglichkeit einer Zentralisierung Indiens beziehungsweise Chinas in Asien. Während einige Autoren dem wachsenden Selbstbewusstsein asiatischer Länder mit konservativen Offensivstrategien des „Westens“ begegneten, dominierte in der Asienpublizistik eine ebenso pragmatische wie moralisch unterfütterte Abwendung von Imperialismus und Kolonialismus. Internationalisten integrierten die „Revolte“ Asiens als historischen Moment in ihr progressives Geschichtsbild. Der Prozess der Dekolonisierung erforderte aus dieser Sicht nicht nur die Übertragung politischer Souveränität, sondern auch die Überwindung kultureller Vorurteile und Überlegenheitsgefühle. Asien, so schien es, agierte diesbezüglich nicht als Bittsteller westlicher Großmütigkeit, sondern aus der starken Position eines in Ansätzen bereits spürbaren, jedoch erst in der Zukunft zu voller Entfaltung kommenden weltpolitischen Gewichtes heraus. Die Forderung nach der Integration Chinas und Indiens in eine kooperative Weltordnung ist vor diesem Hintergrund auch als Flucht nach vorn in einer Welt zu verstehen, in der das „Recht des Stärkeren“ nicht nur in moralischer Hinsicht als anachronistisch erklärt werden musste, sondern auch, weil der „Stärkere“ mittel- und langfristig immer schwerer zu verorten war. Entfalteten politische Reformideen für Indien und China eine antiimperialistische Stoßkraft, so standen wirtschaftliche Entwicklungsprogramme unter dem Zeichen der Kapitalismuskritik. Einerseits versprach das liberal-kapitalistische Prinzip frei waltender Marktkräfte eine Wohlstandssteigerung der gesamten Gesellschaft, sollten die beiden Länder den Weg der westlichen Industrienationen gehen und eine umfassende wirtschaftliche Modernisierung einleiten. Realisiere es sein industrielles Entwicklungspotential auf der Basis technologischer, struktureller und auch mentaler Veränderungen – so lautete die gängige Prognose –, würde vor allem China in den Kreis der großen Industrienationen aufsteigen. Auch indische Ökonomen wiesen darauf hin, dass in China die Industrialisierung mit mehr Vision vorangetrieben wurde als in Indien, dessen wirtschaftliche Entwicklung vom imperialen Rahmen vorgegeben schien und zudem starken traditionalistischen Kräften ausgesetzt war. Andererseits waren die Systemfehler des Kapitalismus offensichtlich. In den Augen der Kritiker hatten westliche Freiheitsideale ebenso wenig die Zerstörung von Solidarität und Gerechtigkeit durch maßlosen Individualismus verhindern
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können wie die politische Unterdrückung kolonisierter Völker durch maßlosen Nationalismus. Nicht zuletzt weil er eine klare Verbindung herstellte zwischen dem wirtschaftlichen und politischen Entwicklungsparadigma, gewann der Sozialismus in der Asienpublizistik an Bedeutung. Unter dem Eindruck der bolschewistischen Machtübernahme in Russland 1917 brachten linksradikale Autoren und Aktivisten wie M. N. Roy oder Scott Nearing Entwürfe eines revolutionären sozialen Wandels in Indien und China in die Debatte ein, in denen sich die Nationalbewegungen asiatischer Länder in einem gemeinsamen Kampf gegen den kapitalistischen Imperialismus solidarisierten. Der internationale Sozialismus in Form der Arbeiterbewegung oder auch der Liga gegen den Imperialismus bot sich als Alternative einerseits zu einer panasiatischen Unabhängigkeitsbewegung an, die an den imperialen Ambitionen Japans zu scheitern drohte, andererseits zu den internationalen Organisationsstrukturen des Völkerbundes, der von linksradikaler Seite als imperialistisches Instrument in neuem Gewand kritisiert wurde. Wenngleich außerhalb des sowjetischen Einflussbereichs nur wenige Beobachter der internationalen Szenerie davon ausgingen, dass sich der Kommunismus in Asien ausbreiten würde, hob man die bedeutende Rolle hervor, die der Sowjetunion für die ideologische Integration des gesamten Kontinents und für die Generierung eines alternativen machtpolitischen Kraftzentrums zukam. Während der Aktionsradius indischer und chinesischer Kommunisten in den 1920er und 1930er Jahren auf den politischen Untergrund und das ausländische Exil beschränkt blieb, avancierte der Sozialismus in einer gemäßigt-reformerischen Auslegung zur Kernmaxime des wirtschaftlichen Entwicklungsdenkens über China und Indien. Es galt, die Intensität des westlichen Industrialismus zu vermeiden und gleichzeitig das größte wirtschaftliche Problem der beiden Länder anzugehen: die Armut seiner ländlichen Bevölkerung. In- und ausländische Wissenschaftler und Experten ebenso wie soziale Reformer „vor Ort“ anerkannten die Notwendigkeit, die wirtschaftliche Entwicklung Indiens und Chinas an ihren sozioökonomischen Gegebenheiten auszurichten und dem sozialen Ausgleich oberste Priorität einzuräumen. Dieser Ansatz folgte weniger der marxistischen Theorie als einem reformerischen Pragmatismus und moralisch-philosophischen Glauben an eine gerechte Gesellschaft; ihm lag nicht die Idee des Klassenkampfes, sondern diejenige bürgerlicher Solidarität und Kooperation zugrunde. Wie im Fall der politischen Demokratisierungskonzepte schien die Möglichkeit einer moralisch höherwertigen, weil „humaneren“ Wirtschaftsordnung gegeben, die die Zufriedenheit der Menschen – anstatt bloßer Wohlstandsanhäufung – zum Gradmesser wirtschaftlichen Fortschritts erklärte. Dazu gehörte auch, die Landwirtschaft als Einkommensquelle und das Dorf als traditionelle Solidar- und Verteilungsgemeinschaft aufzuwerten. Beide Strategien lagen den Konzep ten wirtschaftlicher Entwicklung „von unten“ zugrunde, die in dieser Zeit im
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c hinesischen und indischen Kontext zahlreich waren und die von Gandhis Antimodernismus einerseits bis zu Programmen umfassender landwirtschaftlicher Technologisierung und Verwissenschaftlichung andererseits reichten. Solchen Entwicklungskonzepten auf der Basis dörflicher Kooperativen lag die Vision nationaler Größe reichlich fern. Zwar brachten die führenden Mitglieder der Nationalbewegungen Indiens und Chinas die politische Emanzipation ihrer Länder stets mit der sozioökonomischen „Hebung“ ihrer Massen in Zusammenhang, jedoch war es ein weiter Weg von verbesserten landwirtschaftlichen Methoden zum internationalen Aufstieg. Wirtschaftliches Wachstum musste kalkulierbar sein. In beiden Ländern fand die Idee Anklang, dass staatliche Wirtschaftsplanung als Scharnier zwischen dem „Volkswohl“ und staatspolitischen Prioritäten fungieren konnte. Auch liberale Denker wie Hu Shi und Bertrand Russell versöhnten sich unter der Bedingung mit dem Staatssozialismus, dass mit der Bündelung der Wirtschaftskräfte auch dem gesamtgesellschaftlichen Wohl gedient sei. Unter der führenden und regulierenden Hand des Staates schien zudem die Voraussetzung dafür erfüllt, dass ausländisches Kapital in den Aufbau der einheimischen Industrien kanalisiert werden konnte, ohne die Kontrolle über die wirtschaftliche Entwicklung an ausländische Mächte abzugeben. Unter dem Zeichen des Nationalismus und im Einklang mit sozialistischen Ideen trugen Entwicklungsprogramme stets dem Primat größerer wirtschaftlicher Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit Rechnung. Die Ideen Friedrich Lists für eine nationale Ökonomie entfalteten vor allem in Indien eine starke Wirkung, wo die enge Einbindung in das Wirtschaftssystem des britischen Empire als Hemmnis für nachhaltiges und bis in die untersten Gesellschaftsschichten dringendes Wachstum interpretiert wurde. Forderungen nach einem im Sinne Indiens planenden Staat, nach fiskalischer Autonomie und Schutzzöllen für die jungen indischen Industrien fochten das Prinzip des freien Handels an. Sie warfen damit die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Isolation von globalen Marktkräften im Allgemeinen und von ausländischen Wirtschaftsinteressen im Besonderen auf. Während eine protektionistische Wirtschaftspolitik nach dem Börsencrash von 1929 zum weltweiten Standard wurde, musste diese im Indien und China der 1920er Jahre jenseits der nationalistischen Rhetorik umsichtig gegenüber den Vorteilen wirtschaftlicher Internationalisierung abgewogen werden; nicht zuletzt deshalb, weil der große Kapitalbedarf für die Industrialisierung nicht gänzlich aus einheimischen Quellen gedeckt werden konnte. Ein einschlägiges Beispiel hierfür war Sun Yatsens internationales Entwicklungsprogramm für China. Dieses wurde einerseits wegweisend für den chinesischen „Entwicklungsstaat“ der NanjingDekade, erregte andererseits aber auch Aufmerksamkeit bei Anhängern des Freihandelsprinzips, indem es ausländische Investitionen in staatlich kontrollierte Planungsprogramme als System gegenseitiger Wohlstandsmehrung propagierte.
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Linksorientierte Beobachter der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas wie Henry Hyndman und T’ang Leang-li warnten davor, auf dem Wege der Kapitalisierung die Tore für ausländische Einflussnahme auf nationale Angelegenheiten zu öffnen. Aus der Sicht der Handelsexperten wie Julean Arnold und Pan Shu-lun musste jedoch die wirtschaftliche Übergangssituation in China unbedingt genutzt werden, um die Kooperation mit westlichen Ländern zu vertiefen. Ihr Drängen auf mehr wirtschaftlichen Internationalismus befand sich im Einklang mit den Prämissen der Nachkriegsordnung, die nach den Vorstellungen Woodrow Wilsons einer globalen „offenen Tür“ Vorschub leisten sollte. Die normative Grundprämisse des liberalen Außenhandelsprinzips, nämlich dass sich fairer Wettbewerb und Chancengleichheit positiv auf die Bilanz aller in internationale Wirtschaftsstrukturen integrierten Nationen und damit auch harmonisierend auf deren politische Beziehungen auswirken würde, prägte in den 1920er Jahre den Blick der Analysten auf das weltwirtschaftliche Gefüge sowie Chinas und Indiens Rolle darin. Nicht nur in politischer, sondern gerade auch in wirtschaftlicher Hinsicht verschob sich für die Beobachter das globale Kraftzentrum vom Atlantik zum Pazifik. Das Prinzip der wirtschaftlichen Chancengleichheit komplimentierte dann dasjenige der politischen Gleichheit als Grundlage für stabile Beziehungen zwischen den Anrainerstaaten des Pazifik. Vor diesem Hintergrund setzten sich auch die Experten des IPR, das als Symbol der internationalen Neuausrichtung fungierte, mit wirtschaftsgeographischen Fragen auseinander. Mit großer Bestimmtheit schlossen sie sich der Ansicht von Geschäftsleuten an, dass der zukünftige asiatische Wirtschaftsraum in seiner Bedeutung den transatlantischen bei Weitem übersteigen und richtungweisend nicht zuletzt für die beiden großen Westmächte Großbritannien und USA werden würde. Die Verlagerung des weltwirtschaftlichen Interesses nach Asien barg Chancen und Risiken: Sie versprach die Öffnung ungesättigter Märkte ebenso, wie sie die führenden Wirtschaftsmächte mit wachsender „Eastern Competition“ konfrontierte. China und Indien wurden im Aufstiegsdiskurs der 1920er und 1930er Jahre längst nicht mehr auf den Wirtschaftsfaktor eines Absatzmarktes und Rohstofflieferanten reduziert. Ferdinand von Richthofens Schätzung der Rohstoffvorkommen Chinas war eine der Quellen, aus denen sich die Vorstellung speiste, vollständig industrialisierte asiatische Länder könnten den etablierten Wirtschaftsmächten Marktanteile streitig machen. Es war für viele Wirtschaftsanalysten nur noch eine Frage der Zeit, bis China ebenso wie Indien und andere asiatische Länder auch im Bereich der Produktion und des Exports von Industriewaren konkurrenzfähig waren. Das große Angebot der asiatischen Länder an billiger Arbeitskraft stützte dieses Szenario und nährte zugleich Ängste vor wachsender Arbeitslosigkeit und einer Senkung des Lohnniveaus im Westen. Die Weltwirtschaftskrise verstärkte
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die Wahrnehmung nicht nur der wirtschaftlichen Abhängigkeiten, sondern auch der Weltwirtschaft als Nullsummenspiel um schwindende Rohstoffe und Märkte. Angesichts des asiatischen Nationalismus und Panasianismus musste aus dieser Sicht auch die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass westliche Länder zukünftig nicht nur auf die Ressourcen und die Kaufkraft einzelner asiatischer Länder verzichten mussten, sondern auch die Entstehung eines exklusiven Handels- und Wirtschaftsraums in Asien möglicherweise nicht verhindern konnten. Der liberale Internationalismus machte aus der Not wachsender Abhängigkeiten und Konkurrenz auf dem Weltmarkt eine Tugend. Im chinesischen wie im indischen Kontext folgte die Forderung nach einer Ausweitung internationaler Wirtschafts- und Handelskooperation vor allem wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten. Unter der Prämisse des Internationalismus konnten „Freundschaftsbeziehungen“ ins Auge gefasst werden, die letztlich vor allem nach innen liberal waren. So schien es aus britischer Sicht naheliegend, die wirtschaftlichen Wachstumsmöglichkeiten Indiens im Sinne des Commonwealth-Gedankens als imperiales Gut zu interpretieren und den gegenseitigen Nutzen der britisch-indischen Wirtschaftsallianz gegenüber den Ansprüchen der „externen“ Konkurrenz zu bekräftigen. Dass jedoch das Argument des starken und autarken imperialen Wirtschaftsraums nicht mehr weit reichte, zeigte sich nicht nur an den anhaltenden Forderungen indischer Nationalisten nach Autonomie, sondern darüber hinaus auch an Entwürfen einer indo-amerikanischen Handelspartnerschaft, wie sie etwa von Benoy Kumar Sarkar vorgebracht wurden. Aus amerikanischer Sicht war es jedoch nicht primär Indien, sondern China, das sich in das nationalgeschichtliche Narrativ der frontier integrieren ließ. Nur durch die räumliche Erweiterung des amerikanischen Einflusses in westlicher Richtung, durch die Etablierung amerikanischer Marken, Maschinen und Methoden in China sowie schließlich durch die Realisierung eines sino-amerikanischen „Wohlstandsraumes“ schien die Zukunft der USA als eine der führenden Wirtschaftsnationen gesichert. Die Vorstellung dieses Wohlstandsraumes war einerseits ideell unterfüttert vom amerikanischen Sendungsbewusstsein: China sollte als demokratische „Partnerrepublik“ in den amerikanischen „Sonderweg“ des reinen, von territorialen Eroberungen unbefleckten Handels integriert werden. Andererseits lag ihr die Erwartung wirtschaftlicher Gewinne zugrunde, die für die Sicherung amerikanischer Interessen notwendig schienen. Das Ziel, wirtschaftliche Chancengleichheit als Organisationsprinzip der internationalen Ordnung zu etablieren, resultierte nicht nur aus weltpolitischem Idealismus, sondern auch aus geopolitischer Strategie. Antiimperialistische und antikapitalistische Entwicklungsprogramme zeugten von einer Kulturkritik an der „westlichen Zivilisation“, die noch expliziter dann
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zum Tragen kam, wenn Veränderungen im Innenleben des Menschen zur Debatte standen: seiner Denkweisen, seines Wissens, seiner Glaubenssätze, seiner Ideale und seines Selbstverständnisses. Die Frage, wie sich die chinesische oder indische Kultur (oder „Zivilisation“) in Auseinandersetzung mit der westlichen entwickeln würde, führte unweigerlich zu diesem geistigen „Kern“ ihrer Kultur. Die Definitionen von Kultur als Denk-, Lebens- und Gesellschaftsform flossen dabei ineinander. Wie sollte sich das Individuum – und in Erweiterung die Gesellschaft – im Spannungsfeld zwischen kultureller Erneuerung und Kontinuität positionieren und entwickeln? Für Aufstiegsprognosen über China und Indien nahm die Vorstellung geistiger Erneuerung eine zentrale Bedeutung an. Die Begriffe der „Aufklärung“ und der „Renaissance“ kamen dabei häufig zur Anwendung und können helfen, Nuancen kultureller Reformvorstellungen und Identitätszuschreibungen aufzuzeigen. Im chinesischen Kontext repräsentierten Hu Shis Ausführungen über die chinesische Renaissance die Forderung der Kulturreformer nach einem Abschied vom „Mittelalter“ als einem Zustand geistiger Stagnation. Tradierte Werte und Institutionen mussten nicht nur aus der Sicht radikal ikonoklastischer, sondern auch traditionsbewussterer Intellektueller im Licht des „aufklärerischen Geistes“ der westlichen Wissenschaften einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Das Ziel der intellektuellen Emanzipation lag jedoch nicht in der Wiederbelebung der chinesischen Antike, sondern vielmehr in der Erschaffung einer völlig neuartigen, modernen Kultur: dem Fundament einer selbstbewussten chinesischen Nation. Die Vorstellung einer indischen Renaissance stand in der Tradition der „Bengal Renaissance“ und der sozialen Reformbewegung der Brahmo Samaj, die sich der Revitalisierung eines historischen „Goldenen Zeitalters“ mit den Mitteln der Vernunft verschrieben hatte. Auch nach dem Ersten Weltkrieg forderten indische Intellektuelle ein neues Denken und eine neue Kultur. Dass dabei dem indischen spirituellen Erbe eine zentrale Bedeutung für die Zukunft des Landes zugesprochen wurde, war besonders in Sri Aurobindos Ideal einer indischen Renaissance erkennbar. Die indische Spiritualität sollte durch die Auseinandersetzung mit westlichen Ideen und Denkweisen reformiert und zu neuer Blüte gebracht werden. Sehr viel häufiger als im chinesischen Kontext dienten aufklärerische Motive wie das der geistigen Erneuerung letztlich einer Wiederbelebung alter Kultur. Die Idee der Spiritualität als Kern indischer kultureller Identität und Leitkraft des modernen Lebens prägte gesellschaftliche Modernisierungsentwürfe und vor allem Konzepte von Bildung. Unter dem Zeichen der Aufklärung avancierten Bildungsprogramme für Indien und China zur Grundvoraussetzung für Veränderungen in allen anderen Lebensbereichen und damit zum Fundament der Nationenbildung. Unter den
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Mitgliedern der nationalen Bewegungen ebenso wie unter Bildungsreformern herrschte kaum ein Zweifel, dass die beiden Länder nur dann das Potential ihrer Bevölkerung im Sinne des nationalen Fortschritts nutzbar machen konnten, wenn der Bildungsstandard erhöht wurde. Die Massenbildungskampagnen im Zuge der 4.-Mai-Bewegung in China legten davon eindringlich Zeugnis ab. Aus der Sicht der Bildungsreformer wie Cai Yuanpei, Paul Monroe oder J. W. Petavel erfüllten weder das traditionelle chinesische noch das britisch-indische Bildungssystem die hohen Anforderungen, die an moderne Bildung gestellt wurden: Diese sollte nicht elitär und exklusiv, sondern allgemein sein und das Prinzip der Chancengleichheit gesellschaftlich verankern; sie sollte nicht theoretisch-abstrakt und Selbstzweck, sondern praktisch und an den Bedürfnissen des täglichen (Über-) Lebens vor allem der Landbevölkerung orientiert sein; nicht allein der Entwicklung des Individuums sollte sie dienen, sondern der Herausbildung eines aufgeklärten und selbstständigen Bürgers, der gegenüber seiner sozialen Umgebung ebenso wie gegenüber der größeren Identifikationsgemeinschaft der Nation Verantwortung übernehmen konnte. Die Idee des modernen Bürgers in einer modernen Gesellschaft begleitete diejenige der modernen Bildung. Das soziale Leben Indiens und Chinas sollte rationalisiert und gleichzeitig „humanisiert“ werden. Dazu gehörte auch, traditionelle Strukturen sozialer Segregation auf der Basis von Einkommen, Geschlecht, Religion oder Kaste mit dem Ziel einer homogenen Nation zu nivellieren. Neue gesellschaftliche Rollen als soziale Reformer, Vermittler von Bildung, Wegbereiter der nationalen Gemeinschaft und Repräsentanten eines „verjüngten“ Chinas oder Indiens wurden insbesondere für die studentische Jugend und für die Frauen erdacht. Der moderne Student war weltoffen, visionär und volksnah; die moderne Frau war gebildet, gesellschaftlich engagiert und erzog ihre Kinder zu mündigen Bürgern. Gerade weil sie sich westlichen Bildungs- und Gesellschaftsidealen zuwandten, fanden sich die neuen Hoffnungsträger der Nation nicht selten mit dem Vorwurf konfrontiert, unpatriotisch und kulturell entwurzelt zu sein. Wie im politischen und wirtschaftlichen Bereich rieben sich die Reformer bei ihren Bemühungen um moderne Bildungs- und Gesellschaftsstrukturen an der Frage auf, welches Maß an westlichem Einfluss angesichts des dualen Zieles, nationale Selbstbestimmtheit zu erlangen und dabei die kulturelle Identität zu wahren, hinreichend und akzeptabel war. In China erfasste die Debatte unter anderem die missionarischen Bildungsinstitutionen. Im Einklang mit dem Selbstverständnis der christlichen Kirche in China (ebenso wie in Indien) sahen diese in ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag zum „nationalen Erwachen“ und zur moralischen Erneuerung der Gesellschaft. Die nationalistische Atmosphäre der 1920er Jahre setzte die christliche Mission unter einen starken Rechtfertigungsdruck und bewegte reformerische Missionare und Pädagogen wie Frank
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awlinson und Edward Hume dazu, die Schulen und Kirchen zu explizit chiR nesischen Einrichtungen umzugestalten: also die Kontrolle an einheimische Führungskräfte abzugeben, Inhalte, Strukturen und Methoden stärker an landesspezifischen Bedürfnissen auszurichten und ausgesuchte Traditionen zu bewahren. Dieser Anpassungsprozess nahm auch in Indien deutliche Formen an. Hier hatte das Christentum aus der Sicht vieler Missionare und ihrer einheimischen Partner wie E. Stanley Jones und Kamakashi Nataranjan nur dann Aussicht auf einen festen Platz in der indischen Gesellschaft, wenn es sich grundlegend erneuerte und sich von westlichen „Dogmatismen“ wie dem Beharren auf der Konversion verabschiedete. Der im Hinduismus fest verankerten spirituellen Kultur Indiens musste Rechnung getragen werden, und zwar nicht nur in Glaubensfragen, sondern in den Augen der Traditionalisten wie T. L. Vaswani, John Woodroffe oder James Cousins gerade auch im Bereich der Wissensvermittlung. Um eine „nationale Bildung“ für Indien zu realisieren, schien eine besondere Förderung der einheimischen Sprachen ebenso vonnöten wie die Bewahrung religiös geprägter Bildungsideale wie dasjenige des Dharma, die nicht primär utilitaristischen und materiellen Zielen dienten, sondern vor allem moralischen Ansprüchen genügten und die indische Identität stärkten. Intellektuelle und gesellschaftliche „Aufklärung“ wurde nicht mehr – wie noch unter dem imperialistischen Glaubenssatz westlicher Zivilisierungsmission – als Prozess der Verwestlichung gedacht, sondern als Ergebnis des kulturellen Austauschs. Auch wer die kulturelle Partikularität Indiens und Chinas bekräftigte oder eine „Renaissance“ antiker Kultur forderte, tat dies zumeist im Bewusstsein weltweiter kultureller Wechselströmungen und nicht ohne die Notwendigkeit des kulturellen Wandels oder die Erneuerungswirkung fremder Einflüsse anzuerkennen. Die Neujustierung der internationalen Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg verstärkte dieses Wahrnehmungsparadigma. Das Streben der Nationalregierungen und Völkerrechtler nach einem tragfähigen Frieden durch internationale Kooperation und Organisation konnte aus der Sicht vieler asiatischer und westlicher Intellektueller nur dann erfolgreich sein, wenn sich gleichzeitig eine Internationalisierung des Denkens vollzog und kulturell legitimierter Chauvinismus durch Weltoffenheit ersetzt wurde. Das aus den Strukturen des Völkerbundes hervorgegangene IIC in Paris, ebenso wie das internationale YMCA und vor allen Dingen die Universitäten, wurden vor diesem Hintergrund als Orte der interkulturellen Begegnung und Verständigung und damit als Garanten eines Neuanfangs in den Beziehungen zwischen Völkern und Nationen interpretiert. In diesen Institutionen wurde nicht nur die Gleichwertigkeit verschiedener Kulturen hochgehalten, sondern auch die Möglichkeit ihrer gegenseitigen Durchdringung erprobt. Ihre Mitglieder lebten und wirkten einerseits als Botschafter ihrer Herkunftsländer, andererseits als kulturelle „In-betweens“. Das Bewusstsein
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und direkte Erleben durchlässiger politischer und kultureller Grenzen konnte für Internationalisten wie H. G. Wells oder Rabindranath Tagore in letzter Konsequenz dazu beitragen, dass sich der Einzelne nicht mehr ausschließlich mit einer Nation oder einer Kultur identifizierte, sondern vielmehr mit den Interessen der Weltgemeinschaft; in dieser Zukunftsvision gehörten Interessenkonflikte und daraus resultierende Kriege der Vergangenheit an. Die Idee einer wesenhaften Einheit der Menschheit stellte die idealistischste Antwort auf den Anarchismus nationalstaatlicher Interessenpolitik dar. Einen festen Platz in der Asienpublizistik der Zwischenkriegszeit gewann die Idee durch ihre Festschreibung, die progressive Weltgemeinschaft – oder „Weltkultur“ – sei durch eine synthetische Verbindung von „spirituellem Osten“ und „materiellem Westen“ zu verwirklichen. Aufgrund dieser binären Klassifizierung eines euro-amerikanischen und eines asiatischen Kulturkreises konnte die Idee einer west-östlichen Kultursynthese jedoch paradoxerweise dazu beitragen, Konzepte kultureller Hierarchie zu bekräftigen. So ist die immense Popularität des Konzeptes einer spirituellen „asiatischen Zivilisation“ nicht ohne die Zivilisationskritik am Westen zu verstehen. „Asien“ diente als Zufluchtsort derjenigen britischen und amerikanischen Intellektuellen, die im Kapitalismus, Imperialismus und Militarismus westlicher Länder eine „Veräußerung“ des Menschen und den Anfang vom Ende ihrer Zivilisation zu erkennen meinten. Die Repräsentationen westlicher Intellektueller trugen maßgeblich dazu bei, dass „Asien“ zu einer Projektionsfläche historischer Sinnzuschreibung und kultureller Selbstvergewisserung auch indischer und chinesischer Intellektueller avancierte. Wenn die Welt Asien brauchte, um den Fortschritt der Menschheit durch deren spirituelle Läuterung – also durch die Vermittlung von Einfachheit, Zufriedenheit und Innerlichkeit – zu gewährleisten, dann konnten Indien und China die Weltgeltung zurückerlangen, die sie zu Zeiten Buddhas gehabt hatten. Mehr als im politischen und wirtschaftlichen Leben schienen die historischen Kräfteverhältnisse in einer kulturellen Weltordnung umgekehrt zu sein. Der bedeutsamste Botschafter Asiens und zugleich Symbol für die Widersprüchlichkeiten der asiatischen Identität war Rabindranath Tagore. Tagore war davon überzeugt, dass die Länder Asiens ihre gemeinsame spirituelle Identität stärken und den kulturellen Austausch mit der westlichen Welt suchen mussten, dass jedoch Indien als historisch gewachsenes spirituelles Kraftzentrum Asiens eine besondere Rolle in diesem Prozess zu erfüllen hatte. Sein indo-zentrisches Weltbild war einerseits mit dem spirituellen Universalismus westlicher Autoren vereinbar, die in der indischen Religiosität die entscheidende Quelle für die Regeneration des Christentums und den Kern einer „Weltreligion“ sahen; andererseits war es nur ein kleiner Schritt zu einer hindu-nationalistischen Aneignung der indischen Priesterrolle im machtpolitisch unterfütterten Konzept eines „Greater India“. In dieser Spannung
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zwischen gesamtmenschheitlicher und nationalistischer Deutung der asiatischen Identität lag auch die Ursache für Tagores Scheitern in Ostasien. Selbst wer in China Tagores kulturelles Sendungsbewusstsein teilte, wie etwa Liang Qichao, tat dies, ohne die chinesische Identität in Frage zu stellen. Letztlich standen die verschiedenen Vorstellungen einer asiatischen Zivilisation, wie sie in Indien, China und Japan vorgebracht wurden, in Konkurrenz zueinander. Die Weltgesellschaft der Zukunft wurde von kulturellen Internationalisten der Zwischenkriegszeit meist nicht als Ergebnis kultureller Homogenisierung auf der Basis von Dominanz, sondern transkultureller Durchlässigkeit auf der Basis von Gleichheit gedacht. Wer die zukünftige Entwicklung der Menschheit in ihrer Gesamtheit betrachtete, sah in ihren verschiedenen kulturellen Facetten die Chance eines komplementären Verhältnisses: Eine Kultur konnte als Ergänzung oder Korrektiv der jeweils anderen fungieren. Die Wahrnehmung einer „MultipleWelten-Gesellschaft“ ging dabei nicht zwangsläufig mit einem kosmopolitischen Weltbild einher.7 Vor dem Hintergrund des wachsenden Nationalismus in Asien wurden in kulturellen Weltordnungskonzepten nicht selten partikulare Identitäten sowie eine Repositionierung Asiens als führende Weltkultur bestimmend. Das Bewusstsein der globalen Verflechtung aller Kulturen, die engen Nationalismus verbot und dagegen eine grundlegende Offenheit gegenüber anderen Kulturen einforderte, wurde wenn nicht außer Kraft gesetzt, so doch kompromittiert durch die Suche nach nationaler und kultureller Weltgeltung Chinas und Indiens.
10.2 Die Transnationalität der Ideen: Mentale Dekolonisation Ein zentrales Anliegen dieser Arbeit besteht darin, Zukunftsentwürfe über China und Indien auf die Modernisierungs- und Weltordnungskonzepte hin zu beleuchten, die ihnen zugrunde lagen, um auf diese Weise eine interpretatorische Annäherung an west-östliche Zeit-, Raum- und Distanzwahrnehmungen nach dem Ersten Weltkrieg zu ermöglichen. Es ist deutlich geworden, dass die Geschichte dieser Zukunftsentwürfe in gewisser Hinsicht als eine der Abgrenzung Chinas und Indiens beziehungsweise Asiens von der westlichen Welt erzählt werden kann. Politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungsprogramme zeugen von dem zentralen Anliegen ihrer Autoren, das Fortschrittsversprechen der westlichen Moderne zu hinterfragen, ihre Entwicklungspfade umzuschreiben, sich von ihren Entwicklungszielen zu distanzieren. Die chinesische und indische
7 Ulrich Beck: „Vorwort“, in: ders. (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt 1998, 7–10, hier 7–9.
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odernisierung, obwohl „nachholend“ im Sinne eines temporalen Prozesses, sah M man nicht an deren räumliche Vorbilder im Westen gebunden. China und Indien sollten Imperialismus, Kapitalismus und Materialismus abwenden, dagegen friedfertigen Patriotismus, soziale Gerechtigkeit, Moral und Verantwortungsgefühl in ihren inneren und äußeren Beziehungen kultivieren. Gerade mit ihrer Andersartigkeit wurde die Progressivität dieser Gangart der Modernisierung begründet. Jedoch können die Imaginationen einer chinesischen oder indischen Moderne nicht ohne den Bezug zu einem neuen internationalen Denken verstanden werden, in dem just die Eigenschaften, die man einem modernen China und Indien zusprach, zu universalen Fortschrittsidealen erklärt wurden. In den Augen der Prognostiker waren China und Indien nicht nur prädestiniert, auf ihre ganz eigene Art und Weise in den Kreis der großen Nationen aufzusteigen, sondern auch Mitbegründer einer Weltordnung, die Frieden und Gerechtigkeit zwischen Nationen und Kulturen nicht durch Ab- und Ausgrenzung, sondern durch Entgrenzung zu erreichen strebte. Der Internationalismus der Zwischenkriegszeit, in dem sich die Anerkennung nationaler Identitäten mit dem Bewusstsein kultureller Pluralität und Gleichwertigkeit verband, stellte das kognitive Grundgerüst dar, in dem die Mehrheit der Autoren die Zukunft Chinas und Indiens sah. Die Erkenntnis, dass die beiden Länder keine isolierbaren Einheiten, sondern bedeutsame Teile einer zusammenwachsenden und sich in diesem Prozess verändernden Welt waren, stand häufig am Beginn des prognostischen Schreibens. Die Formel einer gleichermaßen entgrenzten Perspektive auf China und Indien avancierte entsprechend zu einem Kernelement ihres schriftstellerischen Selbstverständnisses. Dazu gehörte zum einen, den inhaltlichen Fokus der Untersuchungen auf die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Austausch- und Verflechtungsprozesse zwischen asiatischen und westlichen Ländern zu lenken: etwa auf die weltpolitischen Auswirkungen politischer Unabhängigkeitsbewegungen, die wachsende Konkurrenz um Rohstoffe oder die Begegnung unterschiedlicher Lebens- und Denkformen. Zum anderen galt es, einen Blickwinkel einzunehmen, der den transnationalen und transkulturellen Phänomenen und Prozessen zwischen Asien und der westlichen Welt gerecht wurde, die Autoren also in die Lage versetzte, ihr Bewusstsein grenzübergreifender Zusammenhänge interpretatorisch umzusetzen. Enge Nationalismen wurden dabei als störend empfunden. Experten, Journalisten, Missionare und andere Beobachter des Weltgeschehens unterstellten sich auch häufig einem politischen Neutralitätsgebot, das freilich von Regierungsmitgliedern, Parlamentariern und politischen Aktivisten nicht in vergleichbarem Ausmaß zu erwarten war. Unabhängig davon, ob sich die Autoren gegenüber den chinesischen und indischen Souveränitätsforderungen neutral erklärten oder nicht, schrieben sich
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ihre nationalen und kulturellen Identitäten – die sich nicht immer harmonisch in ein Gesamtbild fügen mussten – in den Diskurs ein. Ein vergleichender Blick auf die Struktur der beiden Diskursstränge über China und Indien mag diesen Punkt verdeutlichen: Autoren britischer Herkunft wandten sich sehr viel häufiger Indien zu als amerikanische, die sich eher mit China beschäftigten. Für viele chinesische Autoren stellte nicht Europa, sondern Amerika, wo sie häufig ihre Ausbildung genossen hatten und beruflich tätig waren, ihren ersten Bezugspunkt zum „Westen“ dar; für viele indische Autoren galt das Gegenteil. In gewisser Hinsicht kann deshalb von einem britisch-indischen und einem sino-amerikanischen Diskurs gesprochen werden, die beide von etablierten Kommunikationsstrukturen gestützt wurden. Während Ersterer von einer historisch g ewachsenen und konfliktreichen kolonialen Interessenlage und der davon abgeleiteten Bekräftigung oder Ablehnung imperialer Identität herrührte, beruhte Letzterer in erster Linie auf einer in die Zukunft projizierten Allianz zweier starker Republiken. Spielte im britisch-indischen Diskurs die kulturelle Distanzierung zwischen „Ost“ und „West“ eine bedeutende Rolle, so wurde diese Unterscheidung im sino- amerikanischen Diskurs dadurch verwischt, dass sich einerseits chinesische seltener als indische Autoren mit dem „spirituellen Asien“ und sich andererseits amerikanische Autoren in den seltensten Fällen mit dem „alten Westen“ – also den europäischen Kolonialmächten – identifizierten. Internationalistische Autoren zelebrierten Grenzüberschreitungen als Ausdruck von Globalität und Kosmopolität.8 Keiner von ihnen erfüllte jedoch das Bild des Kosmopoliten in dem Sinne, dass er sich von nationalen und kulturellen Bindungen löste. Amerikaner und Briten waren vor diesem Hintergrund von mehr oder weniger stark ausgeprägten Formen des Ethnozentrismus ebenso wenig frei wie die asiatischen Intellektuellen.9 Ein anhaltender Glaube an die Universalität ausgesuchter westlicher Ideen, Normen und Institutionen und an eine besondere britische und amerikanische Verantwortung, China und Indien bei ihrem Modernisierungsprozess anzuleiten, fand sich in der Asienpublizistik neben Vorstellungen indischer, chinesischer und asiatischer Exzeptionalität und
8 Siehe hierzu Herren: Internationale Organisationen, 82. 9 Es ist hilfreich, hier mit Jürgen Osterhammel in Abgrenzung zum rassistischen, „exklusiven“ Ethnozentrismus, der das westliche Asienbild des späteren 19. Jahrhunderts prägte, von einem „inklusiven“ Ethnozentrismus zu sprechen, der für die Außenperspektive der europäischen Aufklärung charakteristisch war und Europa neben statt über anderen Kulturen verortete. Siehe Osterhammel: Geschichtswissenschaft, 82–84. Auch mit dem Konzept des „rooted cosmopolitanism“, das lokalen Bindungen eine ebenso große Bedeutung zuschreibt wie weltweiter Vernetzung, kann die Haltung vieler hier behandelter Autoren charakterisiert werden. Siehe K. A. Appiah: The Ethics of Identity, Princeton/Oxford 2005, Kapitel 6.
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IV Schlussbetrachtung
Zivilisierungsmission. Allerdings waren diese Ethnozentrismen vom Herkunftsland des Autors nicht in jedem Fall abhängig: So wie britische und amerikanische Autoren die asiatische Kultur stilisierten, so wandten sich chinesische und indische Autoren westlicher „science and democracy“ zu; und es handelte sich ebenso wenig um exklusive Ethnozentrismen: Mit den Vorstellungen besonderer britisch-indischer oder sino-amerikanischer Beziehungen ging nicht zuletzt die Konstruktion hybrider west-östlicher Identitäten und Räume des zivilisatorischen Fortschritts einher. Es ist deshalb weniger die Frage, ob sich die Autoren grundsätzlich und konsequent von einer nationalen oder ethnozentrischen Perspektive lösten, die über die Transnationalität ihrer Ideen Aufschluss gibt, sondern unter welchen Umständen und mit welchen Zielen sie es taten. Die Inter- und Transnationalisierungsprozesse der Zwischenkriegszeit sind hier ebenso von Bedeutung wie der Antiimperialismus, der vielen dieser Prozesse zugrunde lag. Begünstigt von internationalen Organisationen und Konferenzen, von journalistischen, missionarischen, akademischen und persönlichen Netzwerken, formierte sich die Transnationalität der Aufstiegsideen – gedacht als „semantische Konstruktion von gemeinsamen Sinnhorizonten und Zugehörigkeitsgefühlen“10 – in der Ablehnung imperialer und hierarchischer, von militärischer Dominanz und kultureller Arroganz geprägter Beziehungen zwischen Nationen und Kulturen. Dass innerhalb dieser grenzübergreifenden Kommunikationsstrukturen den Zukunftsentwürfen asiatischer Intellektueller dieselbe Aufmerksamkeit zukam wie den westlichen, entsprach dem Bewusstsein einer zukunftsoffenen Verflechtung zwischen Ost und West. Indem sie die imperialistische Ideologie theoretisch entkernte, avancierte vor diesem Hintergrund auch die Kritik der Autoren an der westlichen Moderne zu einem Element der Entgrenzung. Obwohl die Kontinuität machtbasierter Weltpolitik und rassentheoretischen Denkens eine Tatsache war, bekannte sich in der englischsprachigen und international ausgerichteten Asienpublizistik kaum ein Autor zum Recht des Stärkeren und der anarchischen Ordnung der Vorkriegszeit. Ebenso wurde zivilisatorischer Paternalismus von einem politischen Machtanspruch entkoppelt und schloss die Einsicht in kulturellen Pluralismus nicht aus. Was die große Mehrzahl der Autoren unabhängig ihrer Herkunft und ihrer Glaubenssätze verband – und was die Dualität eines sino-amerikanischen und britischindischen Diskurses zugunsten eines vielfältigen Netzes aus kommunikativen und ideologischen Verbindungen zwischen den Autoren der vier Herkunftsländer aufhob – war die Überzeugung der Autoren, dass der voraussichtliche Aufstieg
10 Kaelble/Kirsch/Schmidt-Gernig: „Einleitung“, 10.
10 Asien, der Westen und das Paradigma der „geteilten Zukunft“
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Chinas und Indiens ein grundlegendes Umdenken erzwang: von Dominanz zu Kooperation, von Über- und Unterordnung zu Parität. Die Weltöffentlichkeit, die von den Autoren begründet wurde, war also eine antiimperialistische und der Kern ihres transnationalen Denkens die mentale Dekolonisation. Dabei war weniger von Bedeutung, ob ihre prinzipielle – mal mehr, mal weniger stark ausgeprägte – Abkehr vom Imperialismus als Denk- und Ordnungsprinzip in ganzheitlichen Visionen einer Weltgemeinschaft mündete oder aber in „engeren“, regionalen Maßstäben umgesetzt wurde, etwa basierend auf einer sino-amerikanischen oder indo-amerikanischen Freundschaft, auf dem pazifischen Raum oder dem Commonwealth. Ebenso konnte sie das Ergebnis realistisch-pragmatischer Konfliktprävention sein oder einem idealistisch- visionären Streben nach gesamtmenschheitlichem Fortschritt entspringen. In jedem dieser Fälle suchten die Internationalisten der Zwischenkriegszeit nach universalen Ordnungsprinzipien für eine geteilte – keinesfalls gänzlich konfliktfreie, aber in jedem Fall gemeinsam zu gestaltende – Zukunft freier und gleichwertiger Nationen und Kulturen. Wer über den Aufstieg Chinas und Indiens in einem postimperialen Asien nachdachte, der formulierte zugleich die Bedingungen einer neuen Welt.
Anhang inweise zur Schreibweise chinesischer und indischer H Namen und Begriffe Die Schreibweise der chinesischen Namen erfolgt im Falle bekannter Persönlichkeiten des gesellschaftlichen und politischen Lebens nach der Pinyin-Umschrift (z. B. Liang Qichao) bzw. nach der in der Forschungsliteratur etablierten Schreibweise (z. B. Sun Yatsen). Bei weniger bekannten Autoren wird dagegen die zeitgenössische Umschrift übernommen, wie sie in den Quellen vorliegt. Dies bedeutet, dass in einigen Fällen der Vorname zuerst genannt wird; diese Abweichung von der chinesischen Schreibweise, oft verbunden mit einem zusätzlichen westlichen Vornamen, fand sich in zeitgenössischen englischsprachigen Veröffentlichungen sehr häufig. Chinesische Begriffe und Ortsnamen werden durchgehend in der Pinyin-Umschrift wiedergegeben (z. B. Beijing, Shanghai). Für die Romanisierung der Namen bekannter indischer Autoren ebenso wie für Namen indischer Orte und Begriffe folgt diese Arbeit der gängigsten von oft mehreren Schreibarten (z. B. Rabindranath Tagore, Kalkutta). Auf das Setzen diakritischer Zeichen wird verzichtet. Für weniger bekannte Autoren wird die Transliteration übernommen, die in den Quellen zur Anwendung kommt. Häufig erscheinen die Vornamen der indischen Autoren – wie in den Quellen selbst – in abgekürzter Form (z. B. K. T. Paul).
Abkürzungen AA AAAPSS AHR AJIL AJPH AJS AM AR BCE CCS CFR CN CR CSM CSP
African Affairs Annals of the American Association of Political and Social Sciences American Historical Review American Journal of International Law Australian Journal of Politics and History American Journal of Sociology Atlantic Monthly Asiatic Review Bulletins of Chinese Education Chinese Christian Student Council on Foreign Relations Chinese Nation China Review Chinese Students’ Monthly China Society Pamphlets
422 CSPSR CSSH CWR EJ EdJ E&PW ER FA F&D FER FPAP GG GR HR HZ IA IFAJ IIA IJBHT IJE IPR IPRNB IR IRM ISR IW JAEAR JAS JBIIA JCO JGH JHI JIIL JILP JRIE JRIIA JWH KP KPCh MAS MR NPL NPQ PA PB PC
Anhang
Chinese Social and Political Science Review Comparative Studies in Society and History China Weekly Review Economic Journal Education Journal Economic & Political Weekly Educational Review Foreign Affairs Finance & Development Far Eastern Republic Foreign Policy Association Pamphlets Geschichte und Gesellschaft Geographical Review Hindustan Review Historische Zeitschrift International Affairs Indian Foreign Affairs Journal Institute of International Affairs International Journal of Business, Humanities and Technology Indian Journal of Economics Institute of Pacific Relations Institute of Pacific Relations News Bulletin Indian Review International Review of Missions Indian Social Reformer India and the World Journal of American-East Asian Relations Journal of Asian Studies Journal of the British Institute of International Affairs Journal of Chinese Overseas Journal of Global History Journal of the History of Ideas Journal of Indian Industries and Labour Journal of International Law and Politics Journal of Research in International Education Journal of the Royal Institute of International Affairs Journal of World History Kommunistische Partei Kommunistische Partei Chinas Modern Asian Studies Modern Review Neue Politische Literatur New Perspectives Quarterly Pacific Affairs Prabuddha Bharata Public Culture
Anhang
PSQ RAC RIS TC TCD TCI TCM TCo TCoR TCR TCQ TE TFEQ TGJ TLM TN TNE TNO TNR TWT UE UI VBQ WU YI YMI
Political Science Quarterly Religion and American Culture: A Journal of Interpretation Review of International Studies The Century The China Digest The Communist International The Chinese Mercury The Communist The Communist Review The Chinese Recorder The China Quarterly The Economist The Far Eastern Quarterly The Geographical Journal The Labour Monthly The Nation The New Era The New Orient The New Republic The World Tomorrow United Empire United India Visva Bharati Quarterly World Unity Young India Young Men of India
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Personenregister Im Buch zitierte Personen werden mit Lebensdaten angeführt. Bei einigen wenigen Autoren waren die Lebensdaten jedoch nur unvollständig oder gar nicht feststellbar.
Aga Khan III. (1877–1957) 91, 339f., 348, 350, 374 Ali, Syed Ameer 309 Andrews, Charles Freer (1871–1940) 35, 90f., 132, 165, 193f., 297, 309, 311–313, 393 Anstey, Vera (1889–1976) 39, 121, 132 Arnold, Julean (1876–1946) 38, 124f., 127f., 142f., 183, 217, 270, 272, 349, 385, 409 Arundale, George Sydney 201 Babbitt, Irving (1865–1933) 290 Bain, Harry Foster (1871–1948) 46, 122, 131, 139, 346f. Balme, Harold (1878–1953) 221, 224 Banerjea, Pramathanath (1879) 136–138 Batchelder, Charles C. 126, 346f. Bau, Mingchien Joshua (Bao Mingqian, 1894) 51, 231, 243f., 303, 340f., 348, 374 Beard, Charles Austin (1874–1948) 48 Bentham, Jeremy 239 Bentinck, William 185, 200 Beri, Shridhar G. (1894–1943) 134 Besant, Annie (1847–1933) 36, 86, 132, 193, 196, 214, 284, 297, 309, 312 Bland, John Otway Percy (1863–1945) 143, 329f. Blavatsky, Helena 284 Bose, Pramathanath (1855–1934) 188–190 Bose, Sudhindra (1883–1946) 53, 195f., 203, 295f. Bowman, Isaiah (1878–1950) 30, 40 Brailsford, Henry (1873–1958) 111, 132, 159 Buck, John Lossing (1890–1975) 168f. Buck, Pearl (1892–1973) 47, 168, 183f., 237 Buell, Raymond Leslie (1896–1946) 265, 325 Butler, Harold B. (1883–1951) 344–346 Cai Yuanpei (1868–1940) 201–203, 412 Callender, Harold (1892–1959) 307 Chamberlin, William Henry (1897–1869) 367
Chakraberty, Chandra 331f. Chattopadhyaya, Virendranath 371 Chen Duxiu 73f., 148, 175 Chen Zen, Sophia (Chen Hengzhe, 1890–1976) 176, 219 Cheng, C. Y. (Cheng Jingyi, 1881–1939) 222f. Cheng Sih-Gung 51 Chiang Kaishek 54, 67, 94, 105f., 146, 180, 341–343, 374, 403, 405 Chirol, Valentine Ignatus (1852–1929) 37, 89–91, 363, 387 Christy, Arthur E. (1899–1949) 290 Chu, Chao-Hsin (Zhu Zhaoxin, 1879–1932) 149 Chuang, Chai-Hsuan (Zhuang Zhaixuan, 1895) 204, 206 Clark, Grover (1891–1938) 97, 145, 326f., 386, 389 Cobden, Richard 239 Cole, George Douglas Howard 153 Condliffe, John Bell (1891–1981) 42, 123 Coupland, Reginald (1884–1952) 259 Cousins, James Henry (1873–1856) 201, 214, 309, 312f., 413 Cousins, Margaret (1878–1954) 214 Crane, Charles Richard (1858–1939) 97 Curtis, Lionel (1872–1955) 41f., 57, 258, 262f., 280, 404 Curzon, Lord 338 Das, Chittaranjan (1870–1925) 83f., 351 Das, Taraknath (1884–1958) 49, 53, 87, 90, 116, 189, 191, 231, 247, 267, 320f., 338f., 354, 356–358, 374f., 403, 406 Datta, Surendra Kumar (1878–1948) 186f., 190, 196, 226, 247f., 287f., 353f., 368, 375 Demangeon, Albert 338 Dewey, John (1859–1952) 44, 75f., 104f., 109f., 145, 147–149, 174, 181–183, 205f., 246, 283, 287, 293, 297, 314, 399, 402 Dolsen, James H. (1885–1988) 150, 372
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Personenregister
Dutt, Rajani Palme (1896–1974) 156–158, 160, 162 Dutt, Romesh Chunder (1896–1974) 135 Eddy, Sherwood (1871–1963) 34, 54, 77, 92, 108 Edmunds, Charles Keyser (1876–1949) 208 Elmhirst, Leonard Knight (1893–1974) 166, 168 Etherton, P. T. (1879) 345 Farquhar, John Nicol 36 Ferguson, John Calvin (1866–1945) 206 Fleming, Daniel Johnson (1877–1969) 313 Flewelling, Ralph T. (1871–1960) 394f. Fox, Ralph (1900–1936) 156f. Gannett, Lewis Stiles (1891–1966) 128 Gascoyne-Cecil, Lord William (1863– 1936) 314 Gandhi, Mohandas Karamchand (1869– 1948) 35, 49, 54, 67f., 78–86, 90f., 114–118, 127, 129, 131–133, 158, 160, 163–167, 185f., 191–193, 200, 207, 211–213, 226, 284, 297, 299f., 305, 307, 311, 318, 321, 323, 348, 351, 401f., 408 Ghose, Aurobindo (1855–1934) 189f., 194, 212, 284, 297, 308, 317f., 320, 323, 394, 411 Gibbons, Herbert Adams (1880–1934) 29, 338 Gladstone, William 267 Gowen, Herbert (1864–1960) 44, 47, 254, 364f., 392f. Gramsci, Antonio 46 Grant, Madison 326 Greene, Roger Sherman (1881–1947) 209f. Gu Hongming (1857–1928) 303, 305 Gulick, Sydney L. (1860–1945) 287, 359 Gupta, J. N. (1870) 216 Hall, Joseph Washington (Upton Close, 1894–1960) 37, 44, 348, 365–368, 375 Harris, Harvey 342 Harrison, Marguerite Baker (1879–1967) 37, 331, 362f., 365, 367, 375, 398 Hatton, Richard 246
Hay, John 269, 330 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 105 Hodges, Charles (1895–1964) 142, 243 Hodgkin, Henry (1877–1933) 36, 43, 102, 221, 224, 266 Hodous, Lewis (1872–1949) 314 Holcombe, Arthur N. (1884–1977) 103f., 106 Holmes, John Haynes (1879–1964) 34f., 150, 191, 193, 297 Hornbeck, Stanley K. (1883–1966) 42, 95, 97, 270 Hossain, Syed 296 Howe, William Stuart (1890) 334–336, 343, 374 Hsu, Paul C. (Xu Cheng) 169 Hu Shi (1891–1962) 51f., 75, 93, 97f., 152–154, 174–176, 178f., 182, 190, 192f., 217, 281, 304, 380, 382, 384, 408, 411 Hudson, Geoffrey F. (1903–1974) 341f. Hume, Edward (1876–1957) 209f., 217, 228, 413 Hunt, Frazier (1885–1967) 32 Hutchinson, Paul (1890–1956) 224 Huxley, Thomas 72 Hyndman, Henry (1842–1921) 29, 35, 143, 145, 159f., 195, 237, 409 Iyer, C. P. Ramaswami (1897–1966) 257 Jaffe, Phillip J. (1895–1980) 342 Jathar, Ganesh B. (1887) 134 Jinarajadasa, Currupumullage (1875– 1953) 296 Jinarajadasa, Dorothy 214 Jones, E. Stanley (1884–1973) 226, 413 Jones, William 184 Jordan, John, Sir (1852–1925) 48 Kahn, Ida (Kang Cheng, 1873–1931) 219 Kang Youwei 175, 218 Kant, Immanuel 232, 242, 379 Kagawa Toyohiko 54, 192 Kent, Percy H. B. (1876) 146 Keyserling, Herman 307 King-Hall, Stephen (1893–1966) 385
Personenregister
Kjellén, Rudolph 327 Koo, V. K. Wellington (Gu Weijun, 1887–1985) 51, 217, 261 Kuo, P. W. (Guo Bingwen, 1880) 51, 124f., 203, 206, 288, 290 Lamont, Thomas W. (1870–1948) 271 Laski, Harold 253 Latourette, Kenneth Scott (1884–1968) 33, 103, 222, 224, 289 Lea, Homer 338 Leidecker, Kurt 307 Lenin, Wladimir Iljitsch 136, 154, 158, 163, 207, 368 Lévi, Sylvain 308, 318 Lew, Timothy Tingfang (Liu Tingfang, 1892–1947) 223 Li Dazhao 148 Liang Qichao (1873–1929) 72, 101, 175, 218, 261, 305f., 360, 415 List, Friedrich 134, 171, 408 Lin Yutang (1895–1976) 218 Lincoln, Abraham 113 Lloyd George, David (1863–1945) 103, 336–338 Lowe Chuan-Hua (Luo Chuanhua, 1902–1996) 51, 154f., 222f., 238, 291, 304f., 322, 358f., 361, 375, 406 Lunt, Carroll Prescott 245 Macaulay, Thomas 185 MacDonald, Ramsay (1866–1937) 35, 89, 160, 167 Mackinder, Halford J. (1861–1947) 327f., 330, 349 MacNair, Harley Farnsworth (1891–1947) 40, 75, 290 Mahan, Alfred T. 328, 334, 398 Mao Zedong 181 Marvin, Francis S. (1863–1943) 259 Marx, Karl 165, 171 Mason, Joseph W. T. (1855–1934) 191f. Mathews, Basil (1879–1951) 294 Mazzini, Giuseppe 84f., 239, 300 McElroy, Robert (1872–1959) 107 Meng, Chih Paul (Meng Zhi, 1901–1990) 253, 264f.
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Mill, James 185, 239 Mill, John Stuart 72, 137, 165 Millard, Thomas F. F. (1886–1942) 38, 95, 273, 362 Mills, W. Plumer (1883–1959) 368 Monroe, Paul (1869–1947) 205f., 287f., 297, 412 Montagu, Archibald Charles (1879–1924) 89 Morgenthau, Henry (1891–1967) 44, 123 Morley, Felix (1894–1982) 44, 122f. Mukerjee, Radhakamal (1898–1968) 113f., 117, 165f., 401 Murray, Gilbert (1866–1957) 255, 257, 281 Nag, Kalidas 286, 318f., 323, 350 Naoroji, Dadabhai 135 Natarajan, Kamakashi (1868–1948) 225f. Nearing, Scott (1876) 150, 372, 391, 407 Nehru, Jawaharlal (1889–1964) 49, 79, 86, 88, 91, 116, 138, 159–163, 213, 238–250, 257, 267, 370f., 375, 386, 397f., 401 Niebuhr, Reinhold 54 Noble, Margaret (Sister Nivedita, 1867–1911) 283 Noel-Baker, Philip (1889–1982) 257 Okakura Kakuzo 282f., 302, 312 Olcott, Henry 284 O’Neill, Frederick William Scott (1855– 1952) 67 Orchard, John E. (1893–1962) 346 Ormsby-Gore, William (1885–1964) 254 Page, Kirby (1890–1957) 76 Paish, George (1867–1957) 253 Palmerston, Lord (Henry John Temple) 267 Pan Shu-lun (Pan Xulun, 1893–1985) 273f., 409 Panikkar, Kovalam Madhavan (1895– 1963) 82, 213 Park, No-Yong (1899–1976) 48, 363 Paton, William (1886–1943) 225, 227 Paul, Kanakarayan Tiruselvam (1876– 1931) 186, 201, 224, 226
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Personenregister
Peffer, Nathaniel (1890–1964) 37, 45, 93f., 102–104, 237f., 331, 333f., 343, 383 Petavel, James W. (1870) 129, 131, 167, 198, 412 Pillai, P. P. 256 Porter, Lucius Chapin (1880–1958) 222, 224, 314 Powell, John B. 38, 95 Quigley, Harold (1889) 104 Radhakrishnan, Sarvepalli (1888–1975) 281, 284, 286, 291 Rai, Lajpat (1865–1928) 35, 49, 53f., 85, 87f., 112, 138, 150, 160, 187, 190f., 194, 196, 198f., 201, 227, 250, 256, 338f., 357, 389 Rakshit, Hemendra K. 289 Randall, John Herman Jr. (1899–1980) 292– 294, 322 Rawlinson, Frank (1871–1937) 33, 223f., 227f., 413 Reed, Stanley, Sir (1872–1969) 215, 249 Reilly, Henry Joseph (1881) 342f. Reinsch, Paul S. (1869–1923) 145, 270, 309 Reynolds, Reginald (1905–1958) 132, 159, 193, 258 Richard, Paul (1874) 297, 308f. Richards, Norah (1876–1971) 201 Richthofen, Ferdinand von 121f., 409 Rockefeller, John 54 Rolland, Romain 283, 297, 307f. Roosevelt, Franklin Delano 330 Roosevelt, Nicholas (1893–1982) 330 Roosevelt, Theodore 330 Rose, Archibald 245, 276 Rothenstein, William 311 Roy, Manabendra Nath (1887–1954) 156–158, 162, 407 Roy, Rammohan 184f., 212, 284, 286 Russell, Bertrand (1872–1970) 44, 73, 75, 98, 126, 130, 145, 147–149, 153–155, 160, 181, 183, 210, 217, 228, 283, 297, 307, 309, 399, 402, 408 Rutherford, Vickerman Henzell (1860– 1934) 249
Sarkar, Benoy Kumar (1887–1949) 49, 129– 131, 134, 140, 216, 247f., 275f., 280, 321, 355–358, 360, 369, 381f., 385, 406, 410 Sarkar, Jadunath (1870–1985) 114, 198, 318 Savarkar, Vinayak D. 79, 319 Saunders, Kenneth (1883–1937) 192f. See, Chong-su (1892) 271 Seligman, Edwin R. (1861–1939) 127 Shepherd, William (1871–1934) 92, 296 Shotwell, James T. (1874–1965) 40, 281, 399 Sisson, Francis H. (1871–1933) 268 Smedley, Agnes (1892–1950) 371 Smith, Adam 134 Sokolsky, George (1893–1962) 36–38, 125 Song Ziwen (T.V. Soong) 144 Sowerby, Arthur de Carle (1885–1954) 93 Spencer, Herbert 188 Spengler, Oswald 16, 194, 282, 299, 307, 310, 387, 396 Stalin, Josef 136 Steiger, George N. (1883) 247 Steiner, Rudolf (1862–1925) 297 Stimson, Henry L. (1867–1950) 264f. Stoddard, Lothrop 326 Stone, Mary (Shi Meiyu, 1873–1954) 219 Sun Yatsen (Sun Yixian, 1866–1925) 38, 51, 74, 98, 100, 103, 105f., 108f., 119, 140–142, 144f., 150–152, 154f., 158, 163, 169, 171, 180, 224, 262, 275, 277, 360f., 368f., 375, 403, 406, 408 Sundaram, Lanka (1904) 319 Sunderland, Jabez T. (1842–1936) 34f., 54, 86–88, 91, 113, 191, 195, 294, 296, 322 Sze, Sao-ke Alfred (Shi Zhaoji, 1877–1958) 51, 70, 73, 96, 98, 109f., 125, 145, 177, 205, 241–243, 402 Tawney, Richard H. (1880–1962) 39, 106, 207 Tagore, Rabindranath (1861–1941) 34, 46, 49, 54, 81f., 88, 166, 213, 226, 282, 284f., 292f., 295, 297f., 300–309, 311f., 315–318, 321–323, 357, 361, 414f. T’ang Leang-li (Tang Liangli, 1901–1970) 144f., 332, 384, 409 Tiltman, Hessel H. (1897) 37, 345 Thomas, Norman 88, 150
Personenregister
Thompson, Edward J. (1886–1946) 47, 88, 212 Toynbee, Arnold (1898–1975) 36, 41, 56f., 234, 282, 343, 346, 387f., 396 Tsao, Y. S. (Cao Yunxiang, Ts’ao Yun-Hsiang) 108 Tyau, M. T. Z. (Tiao Minqian, Tiao Min-ch’ian, 1988) 70, 96–98, 124 Vaswani, T. L. (1879–1966) 85, 197, 200, 216, 297, 312, 317, 350, 413 Vinacke, Harold M. (1893) 381 Visvesvaraya, Mokshagundam (1860– 1962) 130f., 136–138, 186f., 194, 216 Wadia, Pestonji A. (1878) 129, 131, 137, 160 Wang Jingwei (1883–1944) 103, 144f. Ward, Harry F. (1873–1966) 88, 96, 155f. Wells, H. G. (1866–1946) 30, 35, 45, 65, 150, 201–203, 266, 282, 285, 292f., 297f., 322, 414 Webb, Beatrice 160 Webb, Sydney 160 Wedgewood, Josiah 160
481
Whyte, Frederick Alexander (1883–1970) 47, 76, 110f., 256, 262f., 269, 364, 387 Wilhelm, Richard (1873–1930) 315 Willoughby, Westel W. (1867–1945) 145, 264 Wilson, Woodrow 31, 40, 55, 239–241, 248f., 251, 259, 261, 268f., 271f., 330, 409 Wood, G. Zay 106 Woodroffe, John (1865–1936) 193f., 199f., 227, 309–311, 313, 413 Woolf, Leonard (1880–1969) 258f. Wright, Herbert Francis (1892–1945) 231 Yan Fu 29, 72 Yen, Y. C. James (Yan Yangchu, 1890–1990) 204f. Young, Patrick 262f. Younghusband, Francis 355 Yuan Shikai 175 Yui, David Z. T. (Yu Rizhang, 1882–1936) 99, 108, 117, 118, 247 Zhang Junmai 261, 305 Zimmern, Alfred (1879–1957) 39, 233, 254f., 257f., 280, 285, 404
Sachregister All India Women’s Conference 214 All-India Muslim League 91 American Asiatic Association 46 Amritsar, Massaker von 65, 67 Anarchismus 17, 148, 177 – Anarchie im internationalen System 231, 239, 251f., 278, 331, 404, 414, 418 Asiatic Society 184 „Asiatische Föderation“ 339f., 350–352, 358, 375 „Asiatische Monroe-Doktrin“ 340, 352, 354 Aufklärung 11, 16, 62, 173, 176f., 182, 185f., 232, 238, 246, 282, 356, 379, 381, 400, 411 – in Asien 356f., 413 Auslandsstudenten 53, 72f., 120, 123, 127, 198, 205, 216f., 220, 288f., 352 Autoritarismus 104, 106, 118, 147, 223, 403 Bandung-Konferenz 397 Beijing-Universität (Beida) 73, 97, 153, 175, 202f. Bewegung der Nicht-Kooperation 83f., 90, 200 Bharat Mata 78 Boxer Indemnity Scholarship Program 202, 289 Boxer-Krieg 223 Buddhismus 203, 282, 302, 305f., 312, 314f., 319, 394 China Institute 253, 288 China Society of America 107, 142, 201, 287 Chinese Exclusion Act 325 Chinese Social and Political Science Association 50, 123 Chinesisch-japanischer Krieg, Zweiter 263, 265, 333, 343 Christentum 33f., 43, 79, 165, 174, 204, 209, 220–228, 246, 282f., 287, 294, 311–314, 322, 388, 394, 413f. Council on Foreign Relations (CFR) 40f., 122, 344, 346 Demographie 4, 10, 54, 119, 124, 132, 168f., 328, 335, 343, 363
Demokratie/Volkssouveränität/Parlamentarismus 63, 68, 72, 98, 101, 104–115, 118, 121, 158, 163, 169, 176, 193, 204, 206f., 217, 239, 249, 258, 274, 383, 392, 401–403 – in den internationalen Beziehungen 233, 240, 254, 259, 268, 274, 330 Dharma 116f., 185, 194, 200, 316f., 413 Dominion, britisches 89, 138, 251, 257 – Dominion-Status für Indien 88f., 91, 113, 138, 249–251 „Drain of Wealth“-Theorie 120, 140, 160 „Drei Volksprinzipien“ 74, 98, 140, 151 East India Association 249 Erster Weltkrieg 6, 29–31, 56, 115, 138, 188, 231, 246, 249, 278, 298f., 308, 310, 366, 389 Evolutionstheorie, soziale 61f., 188f., 318, 381, 383 Expatriates 36, 38, 208, 329 Fabian Society 35, 153, 160 Föderalismus 104, 113, 258, 339f., 402f. Foreign Policy Association 97, 265 Freihandelsprinzip 134f., 137, 139, 267f., 270, 334f., 366, 408f. Gadhar-Partei 87, 371 „Gelbe Gefahr“ 7, 36, 235, 325, 346, 349, 361, 365, 375, 385, 399 Gewaltlosigkeit (Satyagraha) 67, 82, 84–86, 164, 193, 311, 402 Greater India Society 318, 320, 323 Guomindang (GMD) 38, 66f., 76, 82, 93, 100f., 103f., 106, 116–118, 120, 144, 146, 151, 180f., 262, 332, 369, 402 Hindu College, Kalkutta 184 Hindu Mahasabha 319 Hinduismus 78, 80, 114, 185, 189, 194, 225f., 282, 284, 309f., 312f., 315, 317–319, 323, 394, 401, 413 „Home Rule“ 89 Hoover-Stimson-Doktrin 265
484
Sachregister
Ikonoklasmus 176, 179, 184, 217, 304, 411 Indian Home Rule League of America 35, 87, 150, 296 Indischer Nationalkongress (INC) 65, 78f., 82, 91, 111, 117, 158–160, 162, 167, 226, 250, 370, 401 Institute of International Affairs (IIA, Chatham House) 41f., 57, 174, 244f., 276, 294, 336, 344 Institute of Pacific Relations (IPR) 55, 57, 76, 119, 123, 149, 176, 205, 219, 269, 326, 352, 392, 409 International Committee on Intellectual Cooperation (ICIC) 281, 286, 321 „Internationale Gesellschaft“ 6, 8, 57, 240, 242, 245f., 248, 250f., 278, 298, 388, 401, 403–405 Internationales Bankenkonsortium 271 Japan 7, 31f., 55, 63, 71, 76, 99, 105, 108, 122, 125, 130, 137, 144, 146, 148, 174, 182, 237, 241, 263–265, 267f., 271, 276, 283, 287, 303f., 306, 308f., 314f., 325, 333– 338, 340–342, 347f., 350–354, 356–362, 365f., 368, 372–374, 405, 407, 415 Kapitalismus 16, 63, 126, 143, 147–153, 160, 162f., 165, 170, 268, 371, 384f., 391, 406, 414, 416 – Laissez-faire-Kapitalismus 147f., 153 Kastensystem 212f., 225, 412 Komintern 53, 157, 368–371, 375 Kommunalismus 114f., 117, 402 Kommunismus 36, 73, 102, 143, 149f., 153, 156–159, 161, 163, 167, 337, 388, 407 Kommunistische Partei Chinas (KPCh) 66, 105, 118, 148, 151, 169f., 180f., 371 Konfuzianismus 91, 180, 221f., 248, 290, 305, 314f., 360, 403 Kooperativen/Kooperative Bewegung 164– 167, 169–171, 408 Kosmopolität 3, 21, 47, 81, 207, 235, 281, 289–292, 298, 321f., 392, 415, 417 Labour Party 35, 89, 153, 156f., 160 League of Oppressed Peoples 54
Liberalismus 5, 17, 55, 78, 81, 84, 89, 98, 111, 134, 148f., 154, 177, 179f., 183, 204, 212, 232–234, 239, 258, 372, 404f. Liga gegen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit 369f., 407 Malthusianismus 129 Mandschurei/Mandschukuo 47, 77, 263– 265, 267, 333f., 340, 345, 348, 351, 405 Marxismus/historischer Materialismus 148, 150f., 156–158, 160, 170, 371, 407 „Middle Kingdom“ 340f. Migration 31, 241, 253, 319f., 325, 339, 343, 346f., 348f., 356 Militarismus 73, 80, 223, 263, 282, 304, 342, 359, 363, 374f., 405, 414 Modernisierungstheorie 16f., 61–64, 118, 170f., 174, 199, 213, 216, 227f., 232, 252, 400f., 415 National Christian Council (China) 221, 223 National Christian Council (Indien) 225, 227 National Economic Council (China) 144, 146 Nationale Revolution von 1925–1927 (China) 36, 67, 73, 92f., 97f., 145, 151, 180, 217, 221, 224, 402 Nationalismus, ethnischer 71, 74 „Neue Kulturbewegung“ 175, 179–181, 183, 185, 203f., 206, 222, 304, 315 „Neues-Leben-Bewegung“ 180 Oligarchie 108, 112 Open-Door-Politik 269–274, 277, 280, 330, 409 Opiumkriege 66, 71 Orient Society 296 Panasianismus, politischer 31, 302, 329, 350–352, 354–361, 364f., 368f., 372, 375, 397, 405, 407, 410 Pazifismus 86, 150, 191, 248, 266, 292 Pragmatismus 110, 151, 154, 170, 177, 182, 206, 356, 394, 406, 419 Progressivismus 153, 170 Protektionismus/Schutzzölle 136–139, 345, 408
Sachregister
Qing-Dynastie 74, 175, 202, 360, 402 Ram Rajya 115 Rassismus/Rassenkonflikt 188, 238, 241, 308, 325f., 329–331, 335, 360, 363, 366, 375, 387, 397, 418 Regionalismus 18, 263, 323, 326, 329, 341, 345, 349, 372, 374, 376, 405, 419 Renaissance, europäische 173, 182 Renaissance, Bengalische 184, 300, 411 Renaissance in Asien 174, 176f., 179, 190, 192f., 210, 392, 411, 413 Revolution von 1911, Chinesische 92f., 100f., 106 Rockefeller Foundation 41, 209, 289 Rohstoffe 31, 120–122, 131, 273, 275, 333, 335, 347, 349, 374, 409f., 416 Round Table Conference 91 Rowlatt Act 65 Russisch-japanischer Krieg 31f., 325, 373, 399 Säkularismus 78f., 289 Santiniketan 166, 301, 307, 311f., 318 Sepoyaufstand 352 „Shanghai Incident“ 66f. Singapur 336, 344 Sozialdarwinismus 72, 105, 176, 279, 328, 382, 396 Sozialdemokratie 153, 170 Sozialismus 17, 117, 132, 148–156, 159–164, 167, 170f., 177, 232, 368–371, 375, 384, 390–393, 407f. Sozialistische Arbeiterbewegung 53, 150–152, 157, 159, 161, 239, 256, 311, 344, 346, 368, 370–372, 391, 407 Swadeshi-Bewegung 135, 164, 353 Swaraj 83–88, 156, 211 Swaraj-Partei 83 Theosophische Gesellschaft 284 Ti-yong-Prinzip 175
485
„Ungleiche Verträge“/Vertragssystem 65f., 71, 92, 94–97, 100, 243, 246, 278, 403 Utilitarismus 80, 153, 177, 191f., 201, 211f., 380, 413 Vedanta 188, 284 4.-Mai-Bewegung 65, 72f., 82, 105, 148, 150, 175, 179–182, 217, 412f Völkerbund 6, 31, 43, 49, 54, 142, 207, 231, 233, 241f., 244, 255–267, 279, 281, 285f., 288, 298, 322, 326, 330, 332, 335, 353, 368, 370, 375, 390, 404, 407, 413 Warlords 74, 101, 118, 369 Weltgesellschaft/Weltgemeinschaft/„WorldFederation“ 233, 235, 264, 282f., 290–298, 316f., 322f., 367, 371, 376, 392, 415 Weltkongress der Religionen 282 Weltwirtschaft 3, 5, 7, 32, 46, 63, 126, 137f., 141, 144, 147, 162, 235, 241, 252f., 262, 267–270, 275–280, 344f., 349, 372, 391, 409f. Wirtschaftsliberalismus 4f., 63, 126, 128, 143, 146f., 241, 269f., 274, 349, 384f., 406 Yale-in-China Association 33, 202, 209 YMCA/World Alliance of YMCAs 34, 36, 54f., 99, 186, 201, 204, 220f., 224, 247, 287f., 291, 321, 353, 368, 413 Zensur 158 Zentralismus 101, 104f., 115, 133, 258, 360 Zivilgesellschaft/öffentliche Meinung 33–38, 41, 49f., 52, 54, 58, 72, 87, 97, 108, 110, 113, 173, 231, 282, 303, 309f., 314, 333, 341, 357, 362, 399, 419
Ordnungssysteme Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Die Reihe Ordnungssysteme nimmt Impulse auf, die sich seit zwei Jahrzehnten aus der Revision politik- und sozialgeschichtlicher Forschungsansätze entwickelt haben. Als Forum einer methodisch erneuerten Ideengeschichte trägt sie der Wirksamkeit politisch-kultureller Traditionen Europas seit dem Zeitalter der Aufklärung Rechnung. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dem konkreten Wechselspiel ideeller, politischer und sozialer Prozesse. Die Reihe Ordnungssysteme hat insbesondere das Ziel: – vergleichende Studien zu den nationalen Eigenarten und unterschiedlichen Traditionen in der europäischen Ideengeschichte zu fördern, – gemeineuropäische Dimensionen seit der Aufklärung zu untersuchen, – den Weg von neuen Ideen zu ihrer breitenwirksamen Durchsetzung zu erforschen. Die Reihe Ordnungssysteme verfolgt einige Themen mit besonderem Interesse: – den Ideenverkehr zwischen Europa und Nordamerika, – die Beziehungen zwischen politischen und religiösen Weltbildern, – die Umformung der politischen Leitideen von Liberalismus, Nationalismus und Sozialismus im 20. Jahrhundert, – die Herausbildung traditionsstiftender, regionenbezogener Gegensatzpaare in der europäischen Ideenwelt, wie zum Beispiel den Ost-West-Gegensatz. Die Reihe Ordnungssysteme bemüht sich um eine methodische Erneuerung der Ideengeschichte: – Sie verknüpft die Analyse von Werken und Ideen mit ihren sozialen, kulturellen und politischen Kontexten. – Sie untersucht die Bedeutung von Wissenssystemen in der Entwicklung der europäischen Gesellschaften. – Sie ersetzt die traditionelle Ideengeschichte der großen Werke und großen Autoren durch eine Ideengeschichte, die Soziabilität und Kommunikation als tragende Gestaltungskräfte kultureller Produktion besonders beachtet. – Sie bezieht Institutionen und Medien der Kulturproduktion systematisch in die Untersuchung ein.
Band 1: Michael Hochgeschwender Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen 1998. 677 S. ISBN 978-3-486-56341-2
Band 2: Thomas Sauer Westorientierung im deutschen Protestantis mus? Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises 1999. VII, 326 S. ISBN 978-3-486-56342-9
488
Ordnungssysteme
Band 3: Gudrun Kruip Das „Welt“-„Bild“ des Axel Springer Verlags Journalismus zwischen westlichen Werten und deutschen Denktraditionen 1999. 311 S. ISBN 978-3-486-56343-6 Band 4: Axel Schildt Zwischen Abendland und Amerika Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre 1999. VIII, 242 S. ISBN 978-3-486-56344-3 Band 5: Rainer Lindner Historiker und Herrschaft Nationsbildung und Geschichtspolitik in Weißrußland im 19. und 20. Jahrhundert 1999. 536 S. ISBN 978-3-486-56455-6 Band 6: Jin-Sung Chun Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit Die westdeutsche „Strukturgeschichte“ im Spannungsfeld von Modernitätskritik und wissenschaftlicher Innovation 1948–1962 2000. 277 S. ISBN 978-3-486-56484-6 Band 7: Frank Becker Bilder von Krieg und Nation Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864–1913 2001. 601 S. und 32 S. Bildteil ISBN 978-3-486-56545-4 Band 8: Martin Sabrow Das Diktat des Konsenses Geschichtswissenschaft in der DDR 1949–1969 2001. 488 S. ISBN 978-3-486-56559-1
Band 9: Thomas Etzemüller Sozialgeschichte als politische Geschichte Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 2001. VIII, 445 S. ISBN 978-3-486-56581-2 Band 10: Martina Winkler Karel Kramář (1860–1937) Selbstbild, Fremdwahrnehmungen und Modernisierungsverständnis eines tschechischen Politikers 2002. 414 S. ISBN 978-3-486-56620-8 Band 11: Susanne Schattenberg Stalins Ingenieure Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren 2002. 457 S. ISBN 978-3-486-56678-9 Band 12: Torsten Rüting Pavlov und der Neue Mensch Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland 2002. 337 S. ISBN 978-3-486-56679-6 Band 13: Julia Angster Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie Die Westernisierung von SPD und DGB 2003. 538 S. ISBN 978-3-486-56676-5 Band 14: Christoph Weischer Das Unternehmen ‚Empirische Sozialforschung‘ Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland 2004. X, 508 S. ISBN 978-3-486-56814-1
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Band 15: Frieder Günther Denken vom Staat her Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970 2004. 364 S. ISBN 978-3-486-56818-9 Band 16: Ewald Grothe Zwischen Geschichte und Recht Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900–1970 2005. 486 S. ISBN 978-3-486-57784-6 Band 17: Anuschka Albertz Exemplarisches Heldentum Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen von der Antike bis zur Gegenwart 2006. 424 S., zahlreiche Abb. ISBN 978-3-486-57985-7
489
Band 21: Thomas Großbölting „Im Reich der Arbeit“ Die Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung in den deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen 1790–1914 2007. 518 S., zahlreiche Abb. ISBN 978-3-486-58128-7 Band 22: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.) Ordnungen in der Krise Zur politischen Kulturgeschichte Deutsch lands 1900–1933 2007. 566 S. ISBN 978-3-486-58177-5 Band 23: Marcus M. Payk Der Geist der Demokratie Intellektuelle Orientierungsversuche im Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn 2008. 415 S. ISBN 978-3-486-58580-3
Band 18: Volker Depkat Lebenswenden und Zeitenwenden Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts 2007. 573 S. ISBN 978-3-486-57970-3
Band 24: Rüdiger Graf Die Zukunft der Weimarer Republik Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933 2008. 460 S. ISBN 978-3-486-58583-4
Band 19: Lorenz Erren „Selbstkritik“ und Schuldbekenntnis Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1917–1953) 2008. 405 S. ISBN 978-3-486-57971-1
Band 25: Jörn Leonhard Bellizismus und Nation Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750–1914 2008. XIX, 1019 S. ISBN 978-3-486-58516-2
Band 20: Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.) Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte 2006. 536 S. ISBN 978-3-486-57786-0
Band 26: Ruth Rosenberger Experten für Humankapital Die Entdeckung des Personalmanagements in der Bundesrepublik Deutschland 2008. 482 S. ISBN 978-3-486-58620-6
490
Ordnungssysteme
Band 27: Désirée Schauz Strafen als moralische Besserung Eine Geschichte der Straälligenfürsorge 1777–1933 2008. 432 S. ISBN 978-3-486-58704-3
Band 33: Silke Mende „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“ Eine Geschichte der Gründungsgrünen 2011. XII, 541 S., 6 Abb. ISBN 978-3-486-59811-7
Band 28: Morten Reitmayer Elite Sozialgeschichte einer politisch-gesellschaft lichen Idee in der frühen Bundesrepublik 2009. 628 S. ISBN 978-3-486-58828-6
Band 34: Wiebke Wiede Rasse im Buch Antisemitische und rassistische Publikationen in Verlagsprogrammen der Weimarer Republik 2011. VIII, 328 S., 7 Abb. ISBN 978-3-486-59828-5
Band 29: Sandra Dahlke Individiuum und Herrschaft im Stalinismus Emel’jan Jaroslavskij (1878–1943) 2010. 484 S., 9 Abb. ISBN 978-3-486-58955-9 Band 30: Klaus Gestwa Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948–1967 2010. 660 S., 18 Abb. ISBN 978-3-486-58963-4
Band 35: Rüdiger Bergien Die bellizistische Republik Wehrkonsens und „Wehrhaftmachung“ in Deutschland 1918–1933 2011. 448 S. ISBN 978-3-486-59181-1 Band 36: Claudia Kemper Das „Gewissen“ 1919–1925 Kommunikation und Vernetzung der Jungkonservativen 2011. 517 S. ISBN 978-3-486-70496-9
Band 31: Susanne Stein Von der Konsumenten- zur Produktionsstadt Aufbauvisionen und Städtebau im Neuen China, 1949–1957 2010. VIII, 425 S., 107 Abb. ISBN 978-3-486-59809-4
Band 37: Daniela Saxer Die Schärfung des Quellenblicks Forschungspraktiken in der Geschichtswissenschaft 1840–1914 2014. 459 S., 1 Abb. ISBN 978-3-486-70485-3
Band 32: Fernando Esposito Mythische Moderne Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach Ordnung in Deutschland und Italien 2011. 476 S., 17 Abb. ISBN 978-3-486-59810-0
Band 38: Johannes Grützmacher Die Baikal-Amur-Magistrale Vom stalinistischen Lager zum Mobilisierungsprojekt unter Brežnev 2012. IX, 503 S., 9 Abb. ISBN 978-3-486-70494-5
Ordnungssysteme
Band 39: Stephanie Kleiner Staatsaktion im Wunderland Oper und Festspiel als Medien politischer Repräsentation (1890–1930) 2013. 588 S., 38 Abb. ISBN 978-3-486-70648-2 Band 40: Patricia Hertel Der erinnerte Halbmond Islam und Nationalismus auf der Iberischen Halbinsel im 19. und 20. Jahrhundert 2012. 256 S., 22 Abb. ISBN 978-3-486-71661-0 Band 41: Till Kössler Kinder der Demokratie Religiöse Erziehung und urbane Moderne in Spanien, 1890–1936 2013. 544 S., 19 Abb. ISBN 978-3-486-71891-1 Band 42: Daniel Menning Standesgemäße Ordnung in der Moderne Adlige Familienstrategien und Gesellschaftsentwürfe in Deutschland 1840–1945 2014. 470 S., 8 Abb. ISBN 978-3-486-78143-4 Band 43: Malte Rolf Imperiale Herrschaft im Weichselland Das Königreich Polen im Russischen Imperium (1864–1915) 2015. 537 S., 31 Abb. ISBN 978-3-486-78142-7
491
Band 44: Sabine Witt Nationalistische Intellektuelle in der Slowakei 1918–1945 Kulturelle Praxis zwischen Sakralisierung und Säkularisierung 2015. 412 S. ISBN 978-3-11-035930-5 Band 45: Stefan Guth Geschichte als Politik Der deutsch-polnische Historikerdialog im 20. Jahrhundert 2015. VII, 520 S. ISBN 978-3-11-034611-4 Band 47: Gregor Feindt Auf der Suche nach politischer Gemeinschaft Oppositionelles Denken zur Nation im ostmitteleuropäischen Samizdat 1976–1992 2015. XII, 403 S. ISBN 978-3-11-034611-4 Band 48: Juri Auderset Transatlantischer Föderalismus Zur politischen Sprache des Föderalismus im Zeitalter der Revolution, 1787–1848 2016. XI, 525 S., 3 Abb. ISBN 978-3-11-045266-2 Band 49: Silke Martini Postimperiales Asien Die Zukunft Indiens und Chinas in der anglophonen Weltöffentlichkeit 1919—1939 2017. XI, 492 S. ISBN 978-3-11-046217-3