Postavantgardistische Ästhetik: Positionen der französischen und italienischen Gegenwartsliteratur [Reprint 2011 ed.] 9783110942613, 9783484630130

The study examines texts by Julia Kristeva, Philippe Sollers, Alain Robbe-Grillet, Georges Perec, Italo Calvino and Rola

189 85 10MB

German Pages 272 Year 1996

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Table of contents :
Vorwort
1 Einleitung
1.1 Ende der Avantgarde? Die achtziger Jahre als Epochenschwelle der Gegenwartsliteratur
1.2 Probleme der Form: Geschichte und Innovation
1.3 Der Dialog mit der Gegenwartsliteratur – Untersuchungshypothesen
2 Julia Kristeva
2.1 Der Schlüsselroman der Avantgarde: Les Samouraïs
2.2 Die melancholische Avantgarde
2.3 (Auf-)Brüche: Perspektiven und Probleme postavantgardistischer Ästhetik
3 Philippe Sollers
3.1 »Le scandale sollersien« – Sollers und die Oszillation literaturgeschichtlicher Kategorien
3.2 Text-Konstellationen: Sollers »à la Recherche de l’Histoire perdue«
3.3 Sollers und die Religion
3.4 Neubeginn der Geschichte – Aktualität der Avantgarde?
3.5 Das Geheimnis der Literatur
4 Alain Robbe-Grillet
4.1 Nouveau Roman und Nouvelle Autobiographie
4.2 Intertextuelle Konstellationen
4.4 Angélique ou l’enchantement
5 Georges Perec
5.1 »écrire tout ce qui est possible à un homme d’aujourd’hui d’écrire« – Gedächtnis und literarische Utopie
5.2 La Vie mode d’emploi: Lesarten des Puzzle – Puzzle der Lesarten
5.3 Un cabinet d’amateur und der Tod der Kunst
5.4 »53 jours« – Perec, Stendhal und die Zukunft der Literatur
6 Italo Calvino
6.1 Über die Unvermeidbarkeit von Geschichte – Italo Calvinos »idea della letteratura«
6.2 Eine Geschichte der Gegenwartsliteratur: Calvino ein postmoderner Autor?
6.3 Die Lezioni americane – (Literatur-)Geschichte oder Mythos?
6.4 Die Sprache des Mythos. Calvino und die Sprache der Bilder
7 Schluß
7.1 Die »Wahrheit« der Literatur und das Vermächtnis der Avantgarde
7.2 Dezentrierte Avantgarde
7.3 Postavantgardistische Ästhetik
7.4 (Post-)Avantgarde und Mode
8 Bibliographie
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Postavantgardistische Ästhetik: Positionen der französischen und italienischen Gegenwartsliteratur [Reprint 2011 ed.]
 9783110942613, 9783484630130

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C0MMUNICATI( )

Ba„d is

Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Fritz Nies und Wilhelm Voßkamp unter Mitwirkung von Yves Chevrel und Reinhart Koselleck

Andreas Geiz

Postavantgardistische Ästhetik Positionen der französischen und italienischen Gegenwartsliteratur

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1996

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Geiz, Andreas: Postavantgardistische Ästhetik : Positionen der französischen und italienischen Gegenwartsliteratur / Andreas Geiz. - Tübingen : Niemeyer, 1996 (Communicatio; Bd. 13) Zugl.: Saarbrücken, Univ., Diss., 1994 NE: GT ISBN 3-484-63013-2

ISSN 0941-1704

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert, Darmstadt Einband: Heinrich Koch, Tübingen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

IX

1

Einleitung

1.1

1.3.1 1.3.2

Ende der Avantgarde? Die achtziger Jahre als Epochenschwelle der Gegenwartsliteratur Probleme der Form: Geschichte und Innovation Roland Barthes und die Angst vor der Transgression Peter Bürger und die Notwendigkeit der Form Niklas Luhmann und die Evolution der Kunst Der Dialog mit der Gegenwartsliteratur Untersuchungshypothesen Alt oder Neu? Paradoxien der Beobachtung Beobachtung der Selbstbeobachtung

28 28 30

2

Julia Kristeva

33

2.1 2.1.1

Der Schlüsselroman der Avantgarde: Les Samourais Von der Theorie der Avantgarde zu ihrer Geschichte: Formen der (Selbst-)Reflexion »L'Etrangere« - Les Samourais als Dialog zwischen Julia Kristeva und Roland Barthes »Une histoire qui s'analyse« - Les Samourais als »imaginäre« Geschichte der Avantgarde Das Subjekt und sein Text - Kristevas Forderung nach einer kathartischen Ästhetik Die melancholische Avantgarde Vom »sujet en proces« zur »subjectivite provisoire« die Entwicklung von Kristevas Subjektbegriff Marguerite Duras - Text und Theorie im Zeichen von Melancholie (Auf-)Brüche: Perspektiven und Probleme postavantgardistischer Ästhetik

33

1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.3

2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3

1 1 10 11 14 20

33 38 41 50 52 52 54 58

VI

2.3.1 2.3.2 2.3.3

»La possibilite de parier une histoire« - Kristevas Theorie des Imaginären Subjektivität und Metapher - Innovation als Selbstorganisation Die »difficulte ä representer« - Verlust des Imaginären im Medienzeitalter

58 62 65

3

Philippe Sollers

3.1

3.4.3 3.5 3.5.1 3.5.2

»Le scandale sollersien« - Sollers und die Oszillation literaturgeschichtlicher Kategorien 71 Sollers j enseits der Avantgarde: von der Revolution zur Eschatologie 72 Sollers und der »refiis d'heriter«: Kontinuität und Bruch als literaturgeschichtliches Paradox 74 Der »littheraton« Philippe Sollers' und die Reaktionen der Literaturwissenschaft 77 Text-Konstellationen: Sollers »ä la Recherche de l'Histoire perdue« 78 Sollers und die Religion 82 Je suis qui Je serai - Das Subjekt im Zeichen des Unendlichen 82 Allegorische Poetik im Zeichen des Barock 85 Neubeginn der Geschichte - Aktualität der Avantgarde? 88 Von der Pluralität zur Generalisierung 88 Der Text als »hologramme verbal« und das »systeme nerveux« des Autors 89 Memoires - Postavantgarde und Gedächtnis 94 Das Geheimnis der Literatur 99 Literatur im Zeichen von Differenz und Konflikt 100 Sollers der Partisan 102

4

Alain Robbe-Grillet

109

4.1 4.1.1

Nouveau Roman und Nouvelle Autobiographie Nouvelle Autobiographie: Avantgarde oder Postavantgarde? Nouvelle Autobiographie als »autotextographie« Robbe-Grillet oder Robbe und Grillet? Identität als literaturgeschichtliche Aufgabe der Romanesques Intertextuelle Konstellationen »Pourquoi j'aime Barthes« - Das »corps ä corps« von Robbe-Grillet und Barthes

109

3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.4 3.4.1 3.4.2

4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1

71

109 113 118 121 121

VII 4.2.2

4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3

»Proust et moi« - Barthes, Robbe-Grillet und der utopische Roman Figur(ation) der Totalität: Der Spiegel als literaturgeschichtliche Figur Corinthe und das Ende der Literatur ein avantgardistischer Mythos? Angelique ou l'enchantement »la Maison Noire« - Die »black box« der »ecriture« Reevaluation: Die »armure blanche« des Formalismus Der »degre zero« und seine Metamorphosen

132 135 135 137 141

5

Georges Perec

147

5.1

5.3 5.3.1 5.3.2 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3

»ecrire tout ce qui est possible ä un homme d'aujourd'hui d'ecrire« - Gedächtnis und literarische Utopie La Vie mode d'emploi: Lesarten des Puzzle Puzzle der Lesarten Die Strukturmetapher des Puzzle zwischen Fragment und Totalität Ästhetik im Widerstreit: Bartlebooth, Winckler und Valene Rahmen-Geschichten: Die Poetik von La Vie mode d'emploi Un cabinet d'amateur und der Tod der Kunst Anch 'io son'pittore: Gedächtnis und Kfeativität »le plaisir du faire semblant« - Sinn und Simulation »53 jours« - Perec, Stendhal und die Zukunft der Literatur Der Leser als Kriminalist - das Indiz Geschichte zwischen Virtualität und Aktualisierung Stendhal und die Behauptung der Literatur

165 167 167 169 172 172 178 181

6

Italo Calvino

187

6.1

Über die Unvermeidbarkeit von Geschichte Italo Calvinos »idea della letteratura« Eine Geschichte der Gegenwartsliteratur: Calvino ein postmoderner Autor? Italo Calvino und Roland Barthes Die Lezioni americane - (Literatur-)Geschichte oder Mythos? Mythos, Kombinatorik und die Avantgarde Die Sprache des Mythos. Calvino und die Sprache der Bilder Der Kristall als Leitbild der Lezioni americane Die Genese des Kristallmodells bei Calvino

4.3.1 4.3.2

5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3

6.2 6.2.1 6.3 6.3.1 6.4 6.4.1 6.4.2

125 128

147 152 152 157

187 194 198 199 205 206 209 213

VIII 7

Schluß

7.1

7.4

Die »Wahrheit« der Literatur und das Vermächtnis der Avantgarde Dezentrierte Avantgarde Die atomisierte Form Form und Geschichte Postavantgardistische Ästhetik Das Imaginäre - (Inter-)Subjektivität und Differenz Literatur und Affekt Barthes' La chambre claire - ein letzter Diskurs über die Avantgarde (Post-)Avantgarde und Mode

237 241

8

Bibliographie

247

7.2 7.2.1 7.2.2 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3

221 221 224 224 226 228 228 232

Vorwort

Daß das Thema der Avantgarde auch in Zeiten der Postmoderne von Interesse ist, belegen die Sondernummern zweier Zeitschriften, die unlängst erschienen sind. »Abschied von der Avantgarde?« fragt die Neue Rundschau (4/1995); und auch das Kursbuch (Dezemberausgabe 1995) thematisiert unter der Überschrift »Die Zukunft der Moderne« die »Denkfigur Avantgarde«. Dabei scheint sich das Prinzip künstlerischer Innovation, welches dem Begriff der Avantgarde innewohnt, und dem ein bestimmtes Verständnis von Moderne, von Kritik an bestehenden Verhältnissen in Gesellschaft und Kunst, eventuell sogar von geschichtsphilosophischen End- und Zielvorstellungen zugrundeliegt, in einer (entscheidenden?) Krise zu befinden. Und dennoch: auch wenn der emphatische Hinweis auf das Neue angesichts einer immer wieder gern thematisierten postmodernen »Beliebigkeit« an Stoßkraft verloren zu haben scheint, entfaltet der Begriff der Avantgarde seine beunruhigende Wirkung gerade im Hinblick auf die Suche nach dem kulturellen Selbstverständnis der Gegenwart, welche die Diskussion um die Postmoderne bestimmt. Dieser (Nach-)Wirkung, die der paradoxe Begriff Postavantgarde fassen soll, ist die vorliegende Arbeit gewidmet. Dabei untersucht sie das Spätwerk von Autoren, die in der Vergangenheit beispielhaft Positionen der Avantgarde vertreten haben und deren weitere ästhetische Entwicklung eine Auseinandersetzung mit diesem Begriff, und das heißt auch mit dem eigenen Werk, einschließt. Aus diesem Grund wird hier keine der geläufigen Definitionen des Begriffs Avantgarde normativ verwendet; vielmehr werden bestimmte Verwendungsweisen dieses Begriffs problematisiert, sofern sie von Julia Kristeva, Philippe Sollers, Alain Robbe-Grillet, Georges Perec, Italo Calvino und Roland Barthes erörtert werden. Das Manuskript der vorliegenden Arbeit wurde im Sommer 1994 abgeschlossen und fur den Druck um wichtige Neuerscheinungen der Primär- und Sekundärliteratur erweitert. Dies betrifft v.a. neuere Texte von Julia Kristeva (Le temps sensible. Proust et l'experience litteraire. Paris 1994), Philippe Sollers (La guerre du goüt. Paris 1994) und Alain Robbe-Grillet (Les derniers jours de Corinthe. Paris 1994) sowie den Text von Niklas Luhmann (Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1995). Danken möchte ich an dieser Stelle allen, die mir im Laufe der vergangenen Jahre in vielfaltiger Weise behilflich waren: Prof. Jean-Yves Debreuille,

χ Prof. Philippe Hamon, Prof. Hans-Jörg Neuschäfer, Prof. Hans T. Siepe, Prof. Allen Thiher, deren wissenschaftlicher Rat, sei es in Form von Gesprächen oder im Rahmen von Kolloquien, mir wichtig war; Gabriele Penquitt, die bei der Erstellung des Manuskripts unersetzliche Hilfe leistete sowie Ute Brückner, Albrecht Buschmann, Yvonne Stork für das Korrekturlesen. Prof. Ottmar Ette danke ich für die Einsicht in das Manuskript seiner Habilitationsschrift zu Roland Barthes. Der Association Georges Perec (Paris) danke ich für die Hilfe bei der Materialbeschaffung. Den Herausgebern sei fur die Aufnahme in die Reihe Communicatio gedankt. Mein besonderer Dank aber gilt Prof. Helene Harth, ohne deren Gesprächsbereitschaft, Großzügigkeit und Verständnis die Arbeit neben den laufenden universitären Verpflichtungen nicht in dieser Form hätte fertiggestellt werden können, sowie Prof. Jochen Schlobach, ohne dessen Zuspruch und kontinuierliche Unterstützung der einmal eingeschlagene Weg nicht beschritten worden wäre. Yvonne Stork schließlich sei an dieser Stelle zum zweiten Mal erwähnt, weil ich ihr mehr verdanke, als Worte des Danks zu sagen vermögen. Potsdam/Düsseldorf,

Juli 1996

A.G.

1

Einleitung

le Roman (j'entends toujours par Ιέ cette Forme incertaine, peu canonique dans la mesure oü je ne la con?ois pas, mais seulement la remömore ou la ddsire) Roland Barthes1

1.1

Ende der Avantgarde? Die achtziger Jahre als Epochenschwelle der Gegenwartsliteratur

Am Ende seines Romans A l'ami qui ne m'a pas sauve la vie (1990) schreibt Herve Guibert: »La mise en abime de mon livre se referme sur moi. Je suis dans la merde. Jusqu'oü souhaites-tu me voir sombrer? Pends-toi Bill! Mes muscles ont fondu. J'ai enfin retrouve mes jambes et mes bras d'enfant.« Dieser Satz beendet eine Epoche: Die Ausblendung der Realität mit Hilfe der »mise en abyme«, die lange Zeit als Synonym einer von sprachtheoretischer Reflexion dominierten modernen Literatur galt, gelingt nicht mehr.2 In diesem Schlußsatz wird die Rückkehr der metatextuellen Figur zur Referenz, die Welthaltigkeit der Sprache eingefordert. 1992 ist Herve Guibert an AIDS gestorben. Der in seinem Buch dargestellte Tod Michel Foucaults ist nur ein Beispiel für die Auseinandersetzung mit dem Tod bedeutender Theoretiker, die die Arbeiten zahlreicher Autoren der französischen Gegenwartsliteratur charakterisiert. Dieser literarische Befund deutet auf die Wahrnehmung einer Zäsur, einer Epochenschwelle: Julia Kristeva beklagt in Les samourais (1990) den Tod Roland Barthes' als den der Vaterfigur, welche eine ganze Generation Lesen, Schreiben und Denken gelehrt habe. Alain Robbe-Grillet verbindet sein Gedenken an Roland Barthes in Le miroir qui revient (1984) mit der Frage nach der Zukunft des Romans.

1 2

Barthes 1984e:345. Vgl. zum Stellenwert dieser metatextuellen Figur für die moderne chung von Dällenbach 1977:11, der ihre Verwendung im Nouveau fen möchte, »si et jusqu'oü il [le Nouveau Roman] participe encore artistique occidentale (art comme mimesis) - si et depuis quand eile«.

Literatur die UntersuRoman daraufhin prüde la grande tradition il a deja rompu avec

2

Einleitung

Das Bewußtsein, Paradoxien ausgesetzt, mit den eigenen ästhetischen Vorstellungen in einer Sackgasse angelangt zu sein und Wege aus ihr heraus finden zu müssen, prägt die Literatur der genannten und anderer Autoren, denen die vorliegende Untersuchung gewidmet ist. Es geht dabei um die Frage nach dem Schicksal der literarischen Avantgarde der vergangenen drei Jahrzehnte, ihrer narrativen, ihrer literaturtheoretischen, für einige Autoren auch ihrer ideologiekritischen Parameter, die das ursprünglich auf den Nouveau Roman bezogene, jedoch verallgemeinerbare Stichwort von der »revolution romanesque« sinnfällig bündelt.3 Hat sich ihr Schreiben sichtbar verändert, und wenn ja, in welcher Weise? Oder ihr Nachdenken über Literatur? Eine Antwort auf diese Fragen wird nicht allein in theoretischen Reflexionen vermutet, sondern vornehmlich in den neueren literarischen Arbeiten von Julia Kristeva und Philippe Sollers, Alain Robbe-Grillet, Georges Perec und Italo Calvino gesucht. Die genannten Autoren stehen dabei stellvertretend für die Gruppierungen von Tel Quel, Nouveau Roman und Oulipo, wobei davon ausgegangen wird, daß, mit Ausnahme von Oulipo, diese Gruppenbezeichnungen die Vergangenheit benennen, die die Autoren reflektieren und von der sie sich absetzen. Auch ist diese Einordnung nicht nivellierend aufzufassen; weder die Unterschiede zwischen den einzelnen Autoren noch die zwischen den einzelnen Gruppierungen sollen aus dem Blick geraten, sind doch gerade sie es, die die vielfaltigen Ausprägungen des die letzten Jahrzehnte kennzeichnenden Bestrebens nach literarischer Neuerung dokumentieren.4 Wenn mit der Untersuchung ein Beitrag dazu geleistet werden könnte, der spekulativ verlaufenden Diskussion über postmoderne Literatur, der diese Arbeit nicht ausweichen kann, an der sie sich aber nur indirekt beteiligen möchte, ein historisches Fundament zu legen, wäre dies sicher sinnvoll. Die überwiegende Beschäftigung mit französischen Autoren, denen aus guten Gründen Italo Calvino zur Seite gestellt werden kann, hat in dieser Hinsicht den Vorteil, sozusagen von der Peripherie her den Übergang von avantgardistischer, experimenteller, modernistischer, spätmoderner Literatur, oder welche literaturgeschichtlichen Begriffe man auch sonst verwenden möchte, in

Zu Begriff, Geschichte und möglichem Ende der Avantgarde vgl. Bauer 1995, Bürger 1974, 1995, Böhringer 1978, 1990, Bourdieu 1992, Hardt 1989, Lange 1993, Lyotard 1984, Schulz-Buschhaus 1987, 1991b, 1992, 1994. Eine schlagwortähnliche Definition dessen, was sich hinter dem Begriff der »Evolution romanesque« verbirgt, bietet Lotringer 1972:328: »Une revolution romanesque veritable [...] se devrait done tout ä la fois de pieger la vraisemblance, gommer la reprösentation, dissoudre le sujet et dissiminer le sens.« Deshalb wird in der folgenden Darstellung auch keine chronologische Reihenfolge gewählt; sie setzt zunächst mit den eher theoretischen Reflexionen von Tel Quel ein, auch deshalb, weil Kristeva mit ihrem Roman Les Samourais den ausdrücklichen Versuch einer romancierten Epochengeschichte unternimmt und ihn in den Horizont postavantgardistischer Literatur einordnet (Kristeva 1990d:165).

Die achtziger Jahre als Epochenschwelle der Gegenwartsliteratur

3

das durch den Begriff »postmodern« zwar benannte, aber unbegriffene »Danach« beobachten zu können.5 Von der Peripherie her deshalb, weil auffallt, daß die ästhetische Debatte in Frankreich während der 80er Jahre mit Ausnahme von Fran£ois Lyotard den Begriff »postmodern« im großen und ganzen ausspart, die hier zur Untersuchung anstehenden Autoren ihr Schreiben diesem neuen Paradigma nicht ohne weiteres unterordnen.6 Ihre Auseinandersetzung mit der (Geschichte der) Avantgarde, d.h. mit ihrer eigenen Geschichte, wirft somit auch ein Schlaglicht auf die Begriffsbestimmung der Postmoderne.7 Statt von Postmoderne ist deshalb hier von Postavantgarde die Rede. Im deutschen Sprachraum benutzt Böhringer 1978:108 diesen Ausdruck in einer begriffsgeschichtlichen Untersuchung analog zu den Begriffen Postmoderne und Posthistoire und unterscheidet ihn von der sogenannten Neoavantgarde (Bürger). Ulrich Schulz-Buschhaus hingegen verwendet den Begriff in einigen neueren Arbeiten gerade in Abgrenzung zur Postmoderne.8 Auch Peter

5

6 7

8

Für Bürger 1988:7 ist die Postmoderne »der unbegriffene Ausdruck dafür, daß die Moderne sich anders denken muß«. Vgl. dazu auch Asholt 1994b:9, sowie Fußnote 7. Lethen 1986:233f. weist daraufhin, daß die meisten Definitionen von Postmoderne den Avantgardebegriff und sein Verhältnis zu dem der Moderne nicht thematisieren; ein möglicher Grund hierfür ist seiner Meinung nach, daß die in Abgrenzung zu einem bestimmten Verständnis von Moderne entstandene Postmoderne sich auf diesem Weg leichter ein innovatorisches Potential bescheinigen könne: »the contours of the polarity >Modernism versus Postmodernism< are blurred immediately when you include the Avant-garde in Modernism« (Lethen 1986:234). Seine Schlußfolgerung bestätigt den hier gewählten Untersuchungsansatz: »One thing is beyond doubt: Postmodernists of all camps generate the legend of discontinuity. And all of them support this legend by going back to very old roots, the very roots of Modernism itself. The reconsideration of the Avant-garde movements forces us to look into the direction of continuity« (Lethen 1986:237). Schulz-Buschhaus 1992:49 spricht von einem einschneidenden Bewußtseinswandel, »der die Erkenntnis-, Kommunikations- und Innovationsmöglichkeiten von Literatur in der gegenwärtigen - vorwiegend funktional differenzierten - Massengesellschaft betrifft«. Dabei betont Schulz-Buschhaus 1992:54 nicht nur den Verlust geschichtsphilosophischer und politischer Illusionen, sondern zugleich auch eine »Reihe immanenter Aporien« der Avantgarde. Dazu zählt u.a. ihre »paradoxale Erfolgsgeschichte [...]. In dem Maße, wie die Postulate der historischen Avantgarde Realität wurden, haben sie sich nämlich gleichzeitig trivialisiert«. Die für die »kunstautonome Avantgarde im Sinne von Adornos Ästhetischer Theorie« gültige Forderung nach Transgression und Innovation habe sich längst zur eigentlichen Konvention entwickelt (Schulz-Buschhaus 1992:56). Produktionsästhetisch argumentiert Schulz-Buschhaus 1992:57 mit Adornos »>Kanon des Verbotenen«« als »Ensemble verbotener, da formal abgegoltener Möglichkeiten«, dessen Anwachsen die verbleibenden Möglichkeiten literarischer Artikulation sukzessive reduziere. Seine Überlegungen münden in die Definition der »Ästhetik einer Post-Avantgarde, welche das Konzept des Fortschrittszwangs im Bereich der künstlerischen (literarischen)

4

Einleitung

Bürger spricht in seinem Aufsatz »Ende der Avantgarde?« neuerdings vom postavantgardistischen Künstler (Bürger 1995:25), relativiert jedoch gleichzeitig diese Begrifflichkeit durch den fragenden Titel seiner Studie, welche die Aussicht auf die »Möglichkeit einer zukünftigen Avantgarde« (Bürger 1995:27) nicht explizit verneint. Vielleicht noch wichtiger ist in diesem Zusammenhang, daß die untersuchten Autoren teilweise selbst von einer Postavantgarde sprechen (Kristeva 1990d:165). Der geschilderte Reflexionszusammenhang bedingt auch die Auswahl der Autoren dieser Untersuchung: gerade die Vorbildfunktion der ästhetischen Innovationen von Tel Quel, Nouveau Roman und Oulipo läßt es geboten erscheinen, sich nicht mit der Feststellung einer Epochenschwelle zu begnügen, sich der »neuesten« Literatur zuzuwenden und die vormals der Avantgarde zugerechneten Autoren in die Literaturgeschichte zu verbannen, ganz zu schweigen davon, daß eine solche Betrachtungsweise noch sehr stark dem Denken in Brüchen verhaftet bleibt, das als avantgardistisch gerade überwunden werden sollte.9 Die Paradoxie der vorliegenden Arbeit, eine historisch perspektivierte Untersuchung solcher Autoren zu versuchen, die, dem »linguistic turn« folgend, bemüht waren, v.a. ahistorische und areferentielle Vorstellungen - die Betonung der Form gegenüber der Geschichte, des Signifikanten gegenüber dem Signifikat, der Differenz gegenüber der Identität - in ihrer narrativen Praxis umzusetzen, betrifft nicht nur den Literaturwissenschaftler, sondern die Autoren selbst.10 Die Untersuchung stützt sich auf den v.a. in den 80er Jahren zu beobachtenden Versuch der Autoren, der Erfahrung des Geschichtlichwerdens ihrer als ahistorisch und in ihrer Radikalität bisweilen als letztgültig konzipierten

9

Mittel relativiert und sich die Freiheit nimmt, bewußt anti-historistisch über das gesamte historische Material zu verfügen« (Schulz-Buschhaus 1992:57f.). In unserem Zusammenhang ist besonders interessant, daß Schulz-Buschhaus 1992:52 in der »Wahrnehmung funktionaler Differenzen« bezüglich der Rolle der Literatur in der Gesellschaft einen der Gründe für den Übergang von Avantgarde zu Postavantgarde sieht; vgl. dazu unten die Überlegungen ausgehend von Niklas Luhmann. Wesentlich erscheint mir auch die Feststellung von Schulz-Buschhaus 1994:361, 363, daß die filr die Avantgarde maßgebliche Alt-neu-Unterscheidung auch in der Postmodeme relevant bleibt. Ein Beispiel filr diese Übernahme formallogischer Muster der Avantgarde bei gleichzeitiger Ablehnung derselben bietet Daniele Sallenave: »Ce qui est term ine, et c'est tant mieux, c'est l'idöe 1) que la literature doit se rdgler sur une idöe rövolutionnaire du changement social et 2) qu'il existe en art une lutte entre la tradition et les forces de progres. [...]. Renoncer ä l'id£e d'avant-garde en littirature, ce n'est done pas renoncer ä l'idöe du nouveau: [...].«(Nadeau 1989:21). In diesem Zusammenhang sei nur auf das bekannte Diktum von Jean Ricardou verwiesen, der nach einer »deriture d'une aventure« die »aventure d'une ecriture« einfordert. Zu den grundlegenden Begriffen von Referenz, Repräsentation und Realismus vgl. Wehle 1980b, Barthes 1982, Lyotard 1983, Thiher 1984, Sherzer 1986, Bessere 1989, 1990, sowie Avni 1990.

Die achtziger Jahre als Epochenschwelle der Gegenwartsliteratur

5

Vorstellungen zu begegnen. Gerade deshalb erscheint es so interessant, auf der Suche nach Merkmalen postavantgardistischer Ästhetik bei den Autoren einzusetzen, die Theorie und Praxis der Avantgarde der vergangenen Jahrzehnte bestimmt haben. Als eine Bestätigung dieser Untersuchungsperspektive kann man dabei den Umstand werten, daß gerade jüngere Autoren stärker die Auseinandersetzung mit dem Erbe der literarischen Avantgarde suchen die Namen von Claude Simon, Alain Robbe-Grillet, Georges Perec und Maurice Blanchot werden dabei am häufigsten genannt11 - , als dies in manchen literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zur französischen Gegenwartsliteratur der Fall ist. 12

11

Stellungnahmen von französischen Gegenwartsautoren finden sich in Roman 1984, Nadeau 1989, Sallenave 1987, 1988, Prigent 1991. Auch Asholt 1994b: 13 nennt Simon und Perec. Synthetisiert man die verschiedenen Aussagen zur Avantgarde, lassen sich mehrere Modelle herausarbeiten. Gemeinsam ist ihnen, daß sich der Avantgardebegriff v.a. auf die literarische Formtradition und deren Erneuerung, auf die Notwendigkeit von Theorie und Selbstreflexion bezieht, den soziologischen Aspekt jedoch weitgehend ausblendet. Avantgarde erscheint dabei als zyklisches Modell literarischen Wandels oder als notwendiges Zwischenstadium auf dem Weg zu einer teleologisch betrachteten Gegenwartsliteratur (Alain Nadaud: »la vague thöorique des annies 70 a permis d'accomplir un nöcessaire travail de clarification. La littörature qui faisait lä tout ä la fois sa revolution culturelle et son mai 68 a έίέ contrainte ä s'interroger sur elle-meme, sur son objet et ses enjeux« [Nadeau 1989:19], oder Saigas 1989:56: »Die französische Literatur der achtziger Jahre rechnet mit der Avantgarde nicht ab, sondern integriert sie [...]«). Diese Beobachtungen stützen die These von Asholt 1994b: 10, daß die »6criture«-Problematik für die Gegenwartsautoren noch längst nicht erledigt ist, daß dabei v.a. die »Referenzproblematik, die durch die ständig anwachsende Bilderflut verursacht wird«, im Vordergrund steht.

12

Übergreifende Studien zur französischen Gegenwartsliteratur bieten Baumann 1989, Bertho 1991, Privost 1990, Yale French Studies 1988, Tilby 1990, Smyth 1991a, Blüher 1992a, Flügge 1993, Asholt 1994a. Dabei steht der Nouveau Roman, bzw. der Nouveau Nouveau Roman und die Frage seiner Zuordnung zu moderner oder postmoderner Literatur meist im Vordergrund der Betrachtung (vgl. Smyth 1991b:54, McHale 1987:13f.). Die spezifischen Merkmale der verschiedenen literaturwissenschaftlichen Textsorten, in denen eine Reflexion über die Entwicklung moderner bzw. postmoderner Literatur geführt wird, sind oftmals fllr die Schwierigkeiten der literaturhistorischen oder -theoretischen Bestimmungsversuche mitverantwortlich, ohne daß dieser Umstand genügend reflektiert würde. Deskriptive Poetiken, die postmoderne Literatur durch Merkmalsbündel oder -listen einzugrenzen versuchen, übersehen oftmals, daß viele der von ihnen beschriebenen Textphänomene mehreren literaturgeschichtlichen Epochenbegriffen zugeordnet werden könnten. Eine Zuordnung zur Postmoderne erfolgt dann gerade nicht induktiv, sondern nach Apriori-Unterscheidungen. Anthologien entziehen sich dieses Kohärenzproblems durch ihre additive Anlage. Bei ihnen findet man hingegen allzu häufig die Tendenz, Brüche in der literarischen Entwicklung zu postulieren, denn meist rechtfertigt eine wie auch immer definierte Neuheit ihre Zusammenstellung. Oft werden dabei chronologische zu ästhetischen Notwendigkeiten, sind die Selektionskriterien so weit gefaßt, daß ihr arbiträrer Charakter deutlich zutage tritt. Eine dritte Form literaturwissenschaftlicher Auseinandersetzung sind Stellvertreterdiskussionen anhand literaturhistori-

6

Einleitung

Die Auflösung dieser Paradoxie muß zwei Aspekten Rechnung tragen, die beide auf eine geschichtliche Problematik bezogen werden können: der Frage der Referenz sowie dem Phänomen der Intertextualität.13 Beide in der Geschichte der französischen Nachkriegsavantgarde wichtigen und oft antagonistischen Konzepte gilt es, mit der Frage nach dem Wandel literarischer Formen zu verbinden. Dazu müssen die intrinsischen (Logik der Avantgarde) und extrinsischen Einflußfaktoren (Wandel der soziohistorischen und epistemologischen Kontexte) berücksichtigt werden. Diese Reformulierung einer geschichtlichen Problematik bezieht sich auf die zukünftige Entwicklung der Formen vor dem Hintergrund ihrer Geschichte, was im Falle der Avantgarde auch eine sekundäre Geschichte, die ihrer Transgressionen und Innovationen, mit einschließt. Die Frage nach der Geschichte zielt mithin in zwei Richtun-

13

scher Leitbilder. Ein beliebter Bezugspunkt hierfür ist Marcel Proust. So wäre es interessant, die Proust-Interpretation Gilles Deleuzes (Proust et les signes, Paris 1970), die die Recherche als »machine littiraire« modernistisch deutet, mit der von Vincent Descombes (,Proust et la philosophie du roman, Paris 1987) zu vergleichen, der seine Untersuchung auch als Replik auf textualistische Betrachtungen von Literatur verstanden wissen will. Vgl. auch Kristeva 1994. Heute überwiegt v.a. in Deutschland eine um den Gedächtnisbegriff zentrierte Diskussion der Intertextualität, vgl. Lachmann 1990, Haverkamp 1991a, 1993. In unserem Zusammenhang irritierend wirkt dabei die Betonung, »daß der Text ein künstliches Gedächtnis ist, dessen Speicherkapazität weitgehend unabhängig von individuellen Absichten und Reflexionen auf Absichten ist und deshalb unabhängig von der Erklärung solcher Absichten nach ihren technischen Voraussetzungen und Eigenschaften zu untersuchen ist. Der Text ist kein sehr geheimer Ort, aber einer, dessen dynamische Funktion und komplexe Anlage in Vergessenheit geraten ist, weil sein Funktionieren von Reflexionen längerfristig unabhängig ist« (Haverkamp 1991b: 12), da, wie zu zeigen sein wird, gerade der Subjektbegriff (man beachte die Relevanz der Unterscheidung Erinnerung - Gedächtnis) sowie die produktions- und rezeptionsästhetische Dimension literarischer Kommunikation wichtige Kategorien der Auseinandersetzung der Autoren mit Intertextualität und Gedächtnis sein werden. Wenn auch Lachmann die Transformation für ein wichtiges Merkmal der Auffassung der Intertextualität als Gedächtnis hält, versteht sie diesen Begriff doch eher im Hinblick auf »avantgardistische Synkretismen, in denen das Heterogene in der Kontiguität und Friktion der Formen Sinnkomplexion erzeugt [im Gegensatz zur] postmodernen Versammlung von Elementen verschiedener Kodes, die gerade in der Glättung der Zerstreutheit den >Formverlust< [...] nicht verschleiern kann« (Lachmann 1990:515), also mehr im Hinblick auf Prozesse der Sinnkonstitution als auf Probleme der Form. Aus ihrem Ausblick auf den gemeinsam mit Anselm Haverkamp veröffentlichten Band »Gedächtniskunst: Raum-Bild-Schrift. Studien zur Mnemotechnik« könnte jedoch eine stärkere Beschäftigung mit dem Gedächtnis der Formen abgeleitet werden: »Der literarische Text ist nicht nur Ort, an dem Konzepte eines Gedächtnisses entfaltet oder dem mnemonischen Inventar entnommene imagines aufgerollt werden, sondern ist selbst kombinatorisches System, Ort einer auf sich selbst verweisenden memoria« (Haverkamp 1991b:21). Sie spricht auch von einem »Textproduktionsmodell« sowie analog dazu von einem »Lektüremodell«, daß den »Text als Produkt eines komplexen Transformations-, Kodierungs- und Imaginationsvorgangs« betrachtet (Haverkamp 1991b:20).

Die achtziger Jahre als Epochenschwelle der Gegenwartsliteratur

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gen: sie fragt zum einen nach dem möglichen Bezug der Literatur zur Realität (Referenz), zum anderen nach der formalen Innovation bzw. Evolution; beide Bezüge entfalten sich innerhalb des literarischen Feldes, das als Teil anderer soziohistorischer Felder begriffen wird. 14 Dabei läßt sich die Untersuchung von folgenden Hypothesen leiten: Die scheinbare Dichotomie zwischen Referenz und Intertextualität kann in sich zusammenfallen, wenn die Reflexion der Autoren sich der Pluralität der (Inter-)Texte unter dem Gesichtspunkt der Historizität der Formen stellt, eine Betrachtungsweise, die nicht zuletzt autobiographischer Erfahrung entsprechen kann. 15 Diese Reflexion nimmt die Form historischer Modellbildung an; sie schließt Fragen des Vergleichs bestimmter historischer Textmodelle und daraus ableitbarer Konsequenzen für eine Gestaltung des aktuellen und zukünftiger Texte mit ein. Die Analyse der hier zu untersuchenden Autoren berücksichtigt dabei zum einen den seit der Romantik für die Geschichte der Avantgarde konstitutiven Zusammenhang zwischen ästhetischer und politischer Sphäre, zwischen formaler und gesellschaftlicher Innovation, wie er im Schlüsselbegriff der »Revolution« postuliert wurde, von dem aber zu Beginn der Untersuchung offen bleiben muß, ob er dergestalt noch vorausgesetzt werden kann 1 6 , zum anderen ältere literaturtheoretische Vorstellungen reali-

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Eine historische Perspektive, wie sie von Bourdieu vorgeschlagen wird (vgl. auch Jurt 1995, Kauppi 1990), wird hier nicht verfolgt. Bourdieu 1992:976 möchte die literarischen und künstlerischen Formen »zu den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Genese ins Verhältnis [setzen]: eine wahrhaft generative Definition«. Zwar ist Bourdieu 1992:978f. zuzustimmen, wenn er mit Blick auf die Avantgarde fordert: »Die angemessene Wahrnehmung von Werken [...], die ihre Formaleigenschaften und ihren Wert allein der Struktur des Feldes, also dessen Geschichte verdanken, ist eine differentielle, eine diakritische Wahrnehmung, d.h. auf die Abstände zu anderen zeitgenössischen oder auch älteren Werken bedacht«, doch wird in der vorliegenden Untersuchung diese differentielle Wahrnehmung auf die Selbstreflexion und Selbstbeschreibung der Texte, also auf metatextuelle Figuren gerichtet; vgl. dazu die nachstehenden Überlegungen im Anschluß an Niklas Luhmann. Zur Berücksichtigung der Formproblematik bei Bourdieu vgl. Jurt 1995:96-102. Selbstreflexion ist dann nicht mehr ausschließlich selbstreferentiell. Für Saigas 1989:54 handelt es sich dabei weniger um ein Problem der Literatur als um eines der »Legitimitätsdiskurse, in denen [die Literatur] sich traditionellerweise über sich selbst verständigt«; er datiert die Krise des Bezugssystems »Revolution« auf das Scheitern der Mai-Ereignisse von 1968. Welcher »neue« Legitimitätsdiskurs wäre imstande, der Literatur danach noch neue Substanz zu verleihen, wenn - spätestens seit Roland Barthes - die Selbstreflexion zu einem genuinen Moment der »0criture« geworden ist, Literatur und Legitimitätsdiskurs in den letzten Jahrzehnte in nominalistischem Taumel miteinander verschmolzen sind, wie dies der Diskurs mancher poststrukturalistischer Kritiker nahelegt? Aus welcher Quelle jenseits sprachlicher Signifikanten sollte sich Literatur dann noch speisen? Vorstellbar wäre dies nur, wenn es ihr gelänge, diese als Substanz aufgefaßte Quelle ohne Verlust in das Feld der Signifikanten einzutragen, oder aber die Signifikanten als letztlich inkommensurablen Ausdruck des Nicht-Ausdrückbaren zu

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Einleitung

stischer Ausprägung, die zur Zeit angeblich eine neue Konjunktur erleben. Damit ist zugleich der Hintergrund beschrieben, vor dem die Reflexion der Autoren abläuft. Ein weiteres Bestimmungsmerkmal dieses reflexiven Hintergrunds ist die Provokation des Intertextualitätsbegriffs durch den der Intermedialität. Dieser Konfrontation können die Autoren schon deshalb nicht ausweichen, weil die Simulakren der Mediengesellschaft die Literatur i.S. einer Abgrenzungsbewegung zur erneuten Erörterung der Referenzproblematik zwingen. Kann man von einem Perspektivwechsel sprechen, von dem Versuch, Pluralität und Intertextualität nach einer als kritisch verstandenen Phase der Dispersion zu restrukturieren, zu rekombinieren? Das Problem der Verbindlichkeit sowie der Form solcher Restabilisierungsversuche bleibt dabei bestehen. Der Versuch der Autoren, die Wegstrecke der Dissemination zu vermessen, kann diesen Prozeß nicht stoppen; von besonderem Interesse ist daher die Untersuchung der Methoden und Formen, die ihnen bei ihrem Versuch zu Gebote stehen. Muß nach dem in den 60er und 70er Jahren zu beobachtenden Versuch, die Literaturgeschichte mit der Geschichte zu verabschieden, jeder neue Versuch literarischer Artikulation sich zunächst mit dem Problem der Historizität (der Formen) auseinandersetzen? Kann dieser Versuch eine ernstzunehmende Auseinandersetzung mit postmodernen Thesen darstellen, oder ist er nicht mehr als das Resultat der Selbsttäuschung von Autoren, über die die Zeit hinweggegangen ist? Es erscheint umso lohnender, diese Fragenkomplexe am Beispiel der zur Untersuchung anstehenden Autoren zu erörtern, als sie, wie bereits angedeutet, sich der aus der Innovationsdynamik der Avantgarde resultierenden Probleme und Aporien durchaus bewußt sind und darauf zu reagieren versuchen, ohne jedoch den Begriff »Postmoderne« als extrinsischen Kategorisierungsversuch zu akzeptieren. Zwischen modernistischer Skylla und postmoderner Charybdis sind sie daher möglicherweise auf der Suche nach einem dritten, einem anderen Weg (vgl. Kristeva 1994:392). Das hier unterstellte dialektische Schema wird dabei von den Autoren zugleich angezweifelt, als Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit geschichtlicher Entwicklung (von Kunst) aufgefaßt. Die zentrale Frage nach der Geschichte kann gemäß einem formalen Muster umformuliert werden: Wie kann die Gegenwart sich der Vergangenheit nähern, eine Zukunft entwerfen, ohne sich wiederholen zu müssen; ist Kritik noch möglich, d.h. die Fähigkeit zu unterscheiden, eine (Form-)Wahl zu treffen?17 Welche Konsequenzen ergeben sich für die Vor-

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werten und diesem als Bezugs- und Legitimationspunkt unterzuordnen, wie es die Überlegungen Lyotards zur Avantgarde und dem Erhabenen nahelegen. Diese auf das Problem der Wiederholung zugespitzte Formulierung der »postmodernen« Auseinandersetzung mit der Geschichte verdanke ich Suleiman 1990:XV: »the postmod-

Die achtziger Jahre als Epochenschwelle der Gegenwartsliteratur

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Stellung vom Subjekt, das eine solche Unterscheidung zu treffen hat? Es ist unmittelbar einsichtig, daß die Frage nach der Geschichte als Frage nach der Wiederholung auch die literarischen Formen und ihre Entwicklung einschließt, also die bereits skizzierte Frage nach dem Schicksal der Avantgarde, nach den Konturen einer Ästhetik der Postavantgarde.

em, which I interpret as that moment of extreme (perhaps tragic, perhaps playful) selfconsciousness when the present - our present - takes to reflecting on its relation to the past and to the future primarily as a problem of repetition. How does one create a future that will acknowledge and incorporate the past - a past that includes, in our very own century, some of the darkest moments in human history - without repeating it? How does one look at the past with understanding, yet critically, in the etymological sense of >critical< (from Greek krinein, to separate, choose), which has to do with discrimination and choice in the present? These, it seems to me, are the questions that provide the urgency, as well as the apparently inexhaustible energy, of the contemporary >debate on postmodernism««. Diese »kritische« Aufgabe steht dabei vor einer großen Herausforderung, die wiederum die Frage nach der Referenz ins Spiel bringt: »nous sommes confront£s ä une pluraliti de signes d'histoire - qu'övoquent dans leur hitörogönöitö les noms de Auschwitz et de la Kolyma, de Budapest 1956 et aussi, quoi qu'on en ait, de Mai 68 [...]. Le sublime y voisine avec le monstrueux en une meme tension vers l'imprösentable. Ce dont timoigne l'expörience de l'art et de l'icriture de ce si£cle. Ce dont timoignent aussi ces pensies que l'on d0signe comme >irrationalistes< et >anti-humanistesQue la diffiärence se glisse subrepticement ä la place du conflit.< La difference n'est pas ce qui masque ou idulcore le conflit: eile se conquiert sur le conflit, eile est au-delä et ä cote de lui. Le conflit ne serait rien d'autre que l'itat moral de la diffärence; chaque fois (et cela devient friquent) qu'il n'est pas tactique (visant k transformer une situation rdelle), on peut pointer en lui le manque-ä-jouir, l'ichec d'une perversion qui s'aplatit sous son propre code et ne sait plus s'inventer: le conflit est toujours codi, l'agression n'est que le plus öculö des langages. En refusant la violence, c'est le code meme que je refuse [...]. (Barthes 1973:27f.)

»>Que la difference se glisse subrepticement ä la place du conflit.Que la difference se glisse subrepticement ä la place du conflitinterner< und >extemer< Determinanten literarischer Evolution« aufzulösen. Vgl. auch Luhmann 1990:480: »Das Ende der Kunst, die Unmöglichkeit von Kunst, der letzte Ausverkauf aller möglichen Formen, nimmt eine Form an, die Selbstbeschreibung und Kunstwerk zugleich zu sein beansprucht. Und stellt auf genau diese Weise die Reproduktion der Kunst unter Einschluß der eigenen Negation, also als perfekt autonomes System sicher.« Luhmann 1986:622f. wendet sich in diesem Zusammenhang auch gegen Adornos Konzept der Negativität. An anderer Stelle heißt es allerdings skeptisch über die Möglichkeit eines neuen konzeptuellen Rahmens für die Kunst nach der Avantgarde: »Wir werden auf diesen historisch verbrauchten Theorierahmen immer wieder zurückgreifen, denn ein überzeugender Ersatz ist nicht in Sicht« (Luhmann 1995:78). In der Diagnose der Gesetzmäßigkeiten und Aporien der Avantgarde übernimmt Luhmann bekannte Positionen, die er in die Sprache der Systemtheorie übersetzt. Die Entwicklung der Kunst - ihre amimetische Ausprägung, die Nutzbarmachung von »Selbstreferenz als Prinzip der Formengenerierung« (Luhmann

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Einleitung

der Avantgarde sei immerhin »die historische Kontingenz dieser Disbalancierung in Richtung Selbstreferenz sichtbar geworden. Das drängt die Frage auf, ob es bei dieser Form der Darstellung von Autonomie bleiben muß« (Luhmann 1995:467). Ob also, mit anderen Worten, vielleicht nur das »Ende einer Identifikation der Kunst mit einem bestimmten Stil ihrer Selbstbeschreibung: mit Einheitsreflexion statt mit Differenzreflexion« (Luhmann 1995:503) gekommen sei. Einen möglichen Neuansatz sieht Luhmann 1995:485 »in operationsbezogenen Analysen [...], die nicht leugnen, daß sie selbst auch nur Operationen sind, die ausgrenzen, was mit den Formen, die sie wählen, nicht beobachtet werden kann, aber diese Ausgrenzung dann wieder einschließen«. Es geht um die Akzeptanz der »Pluralität von Komplexitätsbeschreibungen« (Luhmann 1995:494), um deren »Transparenz« (Luhmann 1995:495). Damit verliert m.E. auch das avantgardistische Postulat der notwendigen Form sein geschichtsphilosophisches Pathos und geht in der »Notwendigkeit der Kontingenz« (Luhmann 1995:498) auf. Der Realitätsbegriff, den Luhmann am Ende seiner Arbeit entwirft, hat dann nichts mehr mit dem »unmarked space« jenseits der Formen zu tun, sondern wird als systeminterne Störung der Kommunikation gedeutet, auf die mit neuer Formbildung geantwortet werden kann. Auf eine weitere Forderung Peter Bürgers im Hinblick auf postavantgardistische Ästhetik, Kriterien für Formentwicklung unabhängig vom Materialbegriff zu entwickeln, hält Luhmanns Theorie somit interessante Antworten bereit. 2) Der Innovationsbegriff, die Unterscheidung alt-neu wird von der dialektischen Prägung befreit, die bei Bürger noch zu spüren war; er wird auf ein polykontexturales Umfeld bezogen. Die Grundbegriffe der Systemtheorie Luhmanns, Unterscheidung, Form und Beobachtung, »implizieren noch keine Negation. Vielmehr ist und bleibt die andere Seite gerade vorausgesetzt, wenn etwas dadurch Bestimmtes bezeichnet wird« (Luhmann 1995:64). Er fragt, »ob es nicht einen prälogischen Begriff des Unterscheidens geben muß, der erst auf der Ebene der Selbstbeschreibung, nämlich der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz, die Operation des Negierens benötigt« (Luhmann 1995:473). Damit gehen die Legitimationswirkung sowie die Konnotationen des emphatischen Begriffsgebrauchs ästhetischer Entwicklung als

1995:484), die beständig radikaler ausfallende »Selbstprovokation des Systems« (Luhmann 1995:270) - führt zu immer größerer »Beschleunigung der Evolution und zu einer immensen Erweiterung ihres Formenvorrats bis hin zu dem Punkt, an dem Beschränkungen nur noch dazu da sind, infragegestellt zu werden« (Luhmann 1995:389f.). Diese Entwicklung führt zu einer Ausreizung der Selbstnegation, zu einem Formverbrauchseffekt (Luhmann 1995:77): »Die Versuche, die Reflexionstheorie des Kunstsystems in der Form von Kunstwerken zu reproduzieren, markieren das Ende der ästhetischen Epoche der Selbstbeschreibung des Systems. Das heißt: das Ende aller Versuche, mit dem Problem der Referenz ins Reine zu kommen« (Luhmann 1995:485).

Probleme der Form: Geschichte und Innovation

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»Abfolge von Brüchen« verloren. Neuheit versteht Luhmann 1995:323 als »sinn- und selektionsbedürftige Disruption«, woraus er schlußfolgert, daß die Unterscheidung alt-neu auch in der Postmoderne nicht verlorengegangen ist. 32 Sie ist dort vielmehr zu einer kontextabhängigen Größe geworden, für die die Wahl des Ausschnitts aus dem Systemgedächtnis relevant ist, vor dem »Neues als neu erscheint« (Luhmann 1995:490). 33 3) Damit in engem Zusammenhang steht die Frage nach der Entwicklung des Systems Kunst. Luhmann lehnt den kausalen Geschichtsbegriff traditioneller Historiographie ab: Evolutionstheorie [...] richtet sich mithin auf Bedingungen der Möglichkeit von Strukturänderung und dadurch eingeschränkt, auf die Erklärung des Entstehens struktureller und semantischer Komplexität. (Luhmann 1995:345) Man muß zwischen Geschichtsdarstellung und Evolutionstheorie unterscheiden, und ein Zentralproblem der Evolutionstheorie ist die Erklärung abrupter Diskontinuitäten, plötzlicher Strukturänderungen nach langen Perioden der Stagnation oder des inkrementellen Wachstums, also des Ausreizens von Formen und vor allem: des plötzlichen Entstehens operativer Schließungen mit Chancen autopoietischer Autonomie. (Luhmann 1995:350f.)

Es geht um Varietätenerzeugung, um einen zirkulären Prozeß von Variation, Selektion und (Re-)Stabilisierung (Luhmann 1995:345), um dynamische Stabilität (Luhmann 1995:363). Auch in diesem Modell spielt der Begriff der Innovation eine Rolle. 34 Allein die bisherige Präsentation der kunsttheoretischen Auffassungen Luhmanns dürfte deutlich gemacht haben, warum diese Theorie im Hinblick auf die Entwicklung postavantgardistischer Literatur als produktiv einzuschätzen ist. Ihre nicht-repräsentative Grundlegung, die Akzentuierung der Selbstreferenz, nicht zuletzt als Prinzip der Formengenerierung (man denke an die Theorie der Textgeneratoren sowie den Metaphernbegriff des Nouveau Nouveau Roman), der Einschluß der Selbstbeschreibung der Kunst in das Kunstwerk (man denke an die »mise en abyme« als Wiedereintritt der Form in

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Dies ist auch die Meinung von Ulrich Schulz-Buschhaus 1994:361, der über die Unterscheidung alt-neu sagt: »La sua permanente validitä viene d'altronde confermata appunto dai vari tentativi (che potremmo chiamare >postmoderniNichtscreates< the subject. In short: art is constitutive of both subject and object, and that is why Kristeva emphasizes the notion of >practice< over >experience< which presupposes an object.« In ihrem Buch Histoires d 'amour alterniert Kristeva 1983a:27f. so z.B. die Analyse literarischer Texte mit Berichten aus der psychoanalytischen Praxis: »A la noble histoire des thöories et des mythes amoureux, le lecteur trouvera meines ici les histoires banales de nos amours modernes tels que les exposent les analysants. [...]. II ne s'agit pas d'6tablir des paralleles entre telle formation culturelle et tel drame individuel; mais de tenter [...] d'ouvrir l'experience amoureuse de l'etre parlant dans la gamme complexe de sa passion intenable, paradis et enfer compris.«

Der Schlüsselroman der Avantgarde". Les Samourai's

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Verknüpfung mit anderen Diskursen auf ihre Leistungsfähigkeit zu befragen.6 Einen der Schwerpunkte ihres Nachdenkens bildet seit geraumer Zeit die Frage, wie die Subjektivität und die sie konstituierende Geschichte im Hinblick auf ihre Artikulation in Sprache und Literatur noch vorstellbar ist, betrifft also Fragen der Repräsentation.7 Das Wagnis dieser fortgesetzten Suche nach neuen literarischen Ausdrucksformen liegt m.E. darin, daß Kristeva, indem sie Funktionsweisen von Literatur mit der anderer Diskurse, etwa der Psychoanalyse, verbindet, das Gelingen auch dieser Diskurse an das weitere Schicksal der Literatur knüpft.8 Hierin liegt vielleicht der tiefere Grund dafür, daß sie 1990 einen Roman verfaßt hat, in dem man mit einigem Recht eine Nagelprobe erkennen kann. Und gerade weil Kristeva eine literarische Form gewählt hat, die in scheinbarem Widerspruch zu früher von ihr vertretenen literaturtheoretischen Positionen steht, die sogar einen Rückgriff auf ältere Formenstandards darzustellen scheint, impliziert dies auch eine literaturgeschichtliche Fragestellung. Eine Probe aufs Exempel ist dieser Roman damit nicht nur im Hinblick auf die für eine (Literatur-)Geschichte der Avantgarde relevanten Theoriekonstrukte Subjektivität, Geschichte und Gesellschaft, sondern auch für die künstlerische Praxis, in der sie sich artikulieren und verschränken. Denn gerade auf ihr lag der Schwerpunkt von Kristevas Verständnis der Avantgarde

So kommentiert sie den Verlust, der mit dem Tod von Roland Barthes filr die Entwicklung der Literatur entstanden ist, wie folgt: »D6s lors, tamisie par les madias et en attente d'une nouvelle g6n£ration de commentateurs sörieux, la littörature apparait comme une marginale insignifiante ou comme un terrain de conflits idöologiques quand ce n'est pas, classiquement, comme le pretexte d'un engloutissement fantasmatique qui ne s'entend pas« (Kristeva 1982:122). An dieser Fragestellung läßt sich deutlich der Einfluß von Benveniste ablesen: »a particular aspect of Benveniste's writings in linguistics assumes a particular importance for Kristeva. This is the theory of subjectivity in language, studied from the perspective of the act of utterance, the enunciation (inonciation)« (Lechte 1990a:70). Auch wird die Weiterentwicklung früherer Positionen Kristevas deutlich, etwa ihrer Vorstellung von »history as text; and of writing (ecriture) as production, not representation« (Moi 1986:4). Suchsland 1992:52 sieht als »Ausgangspunkt für die Literaturtheorie Julia Kristevas« die ihrer Meinung nach von Lacans psychoanalytischer Theorie unbeantwortet gelassene Frage danach, »wie literarische Neuerungen überhaupt möglich sind, die nicht nur den Inhalt, die im Grunde doch immer gleiche Geschichte, sondern die sprachlichen Strukturen [...] selbst betreffen«. Suchsland sucht die Antwort auf diese Frage in der psychoanalytischen Theoriebildung, wenn sie feststellt, daß Kristeva »in der Auseinandersetzung mit Literatur die Möglichkeit [sieht], die Psychoanalyse weiterzuentwickeln und nicht nur bereits Bekanntes immer wieder zu bestätigen«, sie auf diesem Weg gar »zu einer anderen Konzeption des Subjekts und der Sprache« gekommen sei. Im vorliegenden Kapitel steht umgekehrt die Beschäftigung mit der Literatur(theorie) Kristevas und ihrer Entwicklung im Vordergrund.

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Julia Kristeva provided that the poetic artistic work is understood to be more than the individual artist's creation (in which case it would remain a signifying experienceexperience< and >practice< here is homologous with the difference between >subjective< and >objectivenonsymbolized outsider (Lechte 1990a: 139)

Praxis also verstanden als »die spezifische Bedeutungsleistung des Textes im Raum von Geschichte und Gesellschaft« (Lachmann 1990:62), als »Praxis der Zeichengebung [...], die durch den Anstoß des fremden Textes in Gang kommt und sich immer als Transformation, nicht als Bestätigung oder Wiederholung fertigen Sinns versteht, jedoch ohne sich einem Innovationsdruck zu beugen, der die Diskontinuität einkalkuliert« (Lachmann 1990:73). Wenn die vorliegende Untersuchung mit der Analyse der Arbeiten Kristevas einsetzt, dann nicht so sehr, weil Les Samourais ästhetisch besonders überzeugend ausgefallen wäre, auch nicht, weil die in diesem Roman vorgestellte Epochengeschichte historiographische bzw. literaturgeschichtliche Vorgaben machen würde, die normbildend wirkten. Exemplarisch belegt dieser Text jedoch den Versuch, Aporien der Avantgarde aufzulösen. In der Einleitung wurde das Ende des Denkens in Brüchen als einer Grundstruktur avantgardistischer Logik erörtert, die Sackgasse angesprochen, in die eine Dynamik der Selbstüberbietung gelangen kann. Schon früh hat sich Kristeva von einer solchen Auffassung der Avantgarde distanziert. Ihre Konzeption von Transformation geht, wie Lachmann nahelegt, über diesen Aspekt literarischer Innovation hinaus, indem sie zu einer auf die Subjektivität und ihre Konstitution durch Sprache zentrierten kulturgeschichtlichen Betrachtung der Moderne wird.9 Es waren nicht zuletzt mehrere Amerikaaufenthalte in den 70er Jahren, die Konfrontation mit einem Pluralismus an Kunstformen, welche Kristeva zu der Einsicht verhalfen, daß das transgressive Modell avantgardistischer Kunst voller Widersprüche steckt, die mit dem Anspruch auf gesellschaftliche Subversion nicht länger kompatibel sind (Hill 1990:144,

Leslie Hill pointiert diesen Sachverhalt dahingehend, daß bei Kristeva der Avantgardebegriff zunehmend synonym zu dem der Literatur gebraucht wird, daß nach ihrem Verständnis die Literatur ab einem gewissen historischen Zeitpunkt eine Literatur der Krise und damit avantgardistische Literatur geworden sei. Ihre Verallgemeinerungen bezüglich Kristevas Auffassung von Avantgarde gehen noch weiter: »The avant-garde begins to represent a crisis, the ingredients of which are inherent in all literature and which is fundamental to the economy of the speaking subject in Post-Christian Europe. The avantgarde is no longer a state of exception. It stands at the centre of the literary as such, at the crossing point of the relationships Kristeva brings into dialectical focus [...]. These embrace subjectivity, language, sexuality, religion, history, the theory of the states, and much else besides, in a complex and exhaustive web of relations« (Hill 1990:145).

Der Schlüsselroman der Avantgarde". Les Samourai's

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151).10 Dazu gehört u.a. die Erkenntnis der bei vielen AvantgardeBewegungen beobachtbaren Tendenz zur Normativität sowie der Tatsache, daß ästhetische und politische Innovation nicht automatisch Hand in Hand gehen, wie einer der Kerngedanken der Avantgarde der 60er und 70er Jahre gelautet hatte (Hill 1990:15Iff.). Kristevas Studie zu Celine, in der sie zum einen die Affinität der Avantgarde zu totalitärer Ideologie untersucht, welche vorgibt, die Grenzen des Subjekts zu stabilisieren11, in der sie andererseits der Frage nachgeht, wie Forminnovation mit rückwärtsgewandtem faschistischem bzw. rassistischem Denken einhergehen kann, markiert einen Wendepunkt ihres Denkens, zieht indirekt sogar eine seiner Grundlagen, den Glauben an die Möglichkeit der Subjektartikulation, in Zweifel. »[L]a litterature moderne [...] lorsqu'elle s'ecrit comme le langage enfin possible de cet impossible qu'est l'a-subjectivite ou la non-subjectivite, propose une sublimation de l'abjection« (Kristeva 1980a:34); Kristeva benennt hier ex negativo eine Grenze, den schmalen Grat, auf dem Literatur noch möglich ist, bevor nicht mehr Worte, sondern Taten sprechen. Diese Einsichten Kristevas sowie die zunehmende Extension des Begriffs Avantgarde haben sie den Versuch unternehmen lassen, die Avantgarde ohne Rekurs auf eine zweigliedrige Logik oder gar Dialektik zu definieren.12 An dieser Stelle wurden nur einige wenige Voraussetzungen dafür genannt, daß Kristeva 1990d:165 im Hinblick auf aktuelle Versuche der Neuorientierung ästhetischer Theorie und Praxis die Bezeichnung »Postavantgarde« verwendet. Die Samourai's wurden als Probe aufs Exempel bezeichnet; die Lektüre dieses Textes dient jedoch nicht dem Ziel, abschließend die Frage zu beantworten, inwieweit ihr wirklich die Begründung einer neuen Ästhetik gelungen ist. Vielmehr soll dieser Text in einem zweiten Schritt als Kristallisationspunkt der Beurteilung ihrer theoretischen Arbeiten der jüngsten Vergangenheit dienen. Dabei geht es darum herauszufinden, inwieweit der hier zunächst hypothetisch formulierte Befund, Kristeva versuche Aporien der Entwicklung der Avantgarde auf dem Wege wie vorsichtig auch immer formulierter (literatur)geschichtlicher Reflexionen zu begegnen, zutreffend ist und inwie-

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Erste Ansätze zu dieser Wende finden sich im Aufsatz »D'Ithaca ä New York (19711976)«, in welchem dem amerikanischen im Gegensatz zum europäischen Liberalismus zugute gehalten wird, totalitären Versuchungen nicht erlegen zu sein (Kristeva 1977j:506). Vgl. auch die Doppelnummer 71/73 (1977) der Zeitschrift Tel Quel »Pourquoi les Etats-Unis?« (Moi 1986:272-291). Im Anschluß an diese Erfahrungen entwickelt Kristeva ein neues Konzept des Intellektuellen (Un nouveau type d'intellectuel: le dissident, in: Tel Quel 74 (1977), 3-8). So habe Coline indirekt die »radioscopie la plus audacieuse des >bases pulsionelles< du fascisme« (Kristeva 1980a: 181) geleistet. Deswegen lehnt sie auch die Perspektive eines in Dichotomien verharrenden Feminismus ab (Lechte 1990a:205).

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Julia

Kristeva

weit dabei die literaturtheoretische Kategorie der Repräsentation (von Subjekt und Geschichte) bedeutsam wird. Ich untersuche daher den Roman in einem die Reflexion begleitenden und sie fortsetzenden Sinn. Mehrere Gründe sprechen mithin dafür, die an der Untersuchung ihres Werkes gewonnenen Fragen und Lösungsansätze mit denen anderer Autoren der Gegenwartsliteratur zu konfrontieren.

2.1.2

»L'Etrangere« - Les Samourai's als Dialog zwischen Julia Kristeva und Roland Barthes

Roland Barthes hat spätestens seit Le plaisir du texte ähnliche Problemstellungen aufgegriffen (vgl. Kap. 1). Vor allem in seinem 1975 erschienenen Buch Roland Barthes par Roland Barthes setzt er sich, mit Blick auf die Probleme der an einem bestimmten Punkt ihrer Entwicklung angelangten Avantgarde, mit der Gattung Autobiographie auseinander. Diese Schrift hält bezüglich der beiden Begriffe Geschichte und Identität nicht nur für Kristevas Versuch einer Autobiographie und Epochengeschichte, sondern auch für die Texte der anderen Autoren dieser Untersuchung bedenkenswerte Formulierungen bereit. Barthes 1973:98 unternimmt den Versuch, den Begriff der Identität nach dessen langer Tabuisierung in textualistischen Theorien neu zu bestimmen - als Kategorie der Fiktion: Alors peut-etre revient le sujet, non comme illusion, mais comme fiction. Un certain plaisir est tir£ d'une fa?on de s'imaginer comme individu, d'inventer une demiäre fiction, des plus rares: le fictif de l'identite. Cette fiction n'est plus l'illusion d'une unitö; eile est au contraire le thöätre de soci6t6 oil nous faisons comparaitre notre pluriel: notre plaisir est individuel - mais non personnel.

Beide Begriffe, Identität und Fiktion, können dabei nach Barthes nicht ohne den der Pluralität gedacht werden; diese Simultanität gilt auch für sein autobiographisch geprägtes Projekt eines »livre du Moi« (vgl. Kap. 4). Barthes 1975:163 spitzt diese Vorstellung noch zu, wenn er den Zusammenhang von Körper als möglichem Bild für Identität und Schreiben in der Metapher des sich ständig wandelnden, intertextuell bestimmten »Korpus« ausdrückt. Angesichts dieser Beispiele wird der problematische Zusammenhang von Pluralität und einer die Identität bestimmenden, fiktional konstituierten Geschichte (auch in Form der Autobiographie), bzw. der zögerliche und für das Vorhaben der Neubestimmung von Identität wichtige Versuch der Überführung der einen in die andere, immer offenkundiger. So läßt sich behaupten, der Begriff »revenir« (»Alors peut-etre revient le sujet, non comme illusion, mais comme fiction«) bezeichne für Barthes nicht zuletzt eine historische Verlaufsform. Als Skizze zu Barthes' Projekt eines »livre du Moi« läßt sich daher ein Modell ansehen, welches die Intertextualität versuchsweise zur Konstitution eines Entwicklungsmodells der eigenen Schrift nutzt: in »Phases«, einer tabel-

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larischen, chronologischen Werkliste, ordnet Barthes 1975:148 seinen Texten jeweils einen geschichtlichen Oberbegriff sowie entsprechende Intertexte zu. Auf die Phase der »mythologie sociale« (Sartre, Marx, Brecht), der »semiologie« (Saussure), der »textualite« (Sollers, Kristeva, Derrida, Lacan) sei die Phase der »moralite« gefolgt, der Nietzsche zugeordnet wird. Diese in Ansätzen historische Vorgehensweise wird zwar als imaginäre Operation diskreditiert und als Zugeständnis im Hinblick auf die Verständlichkeit der Darstellung abgewertet. Doch hat Barthes selbst die Vorstellung einer mit Pluralitätsvorstellungen kompatiblen »fa^on de s'imaginer [Hervorhebung von A.G.] comme individu« eingeführt, den Begriff der Imagination folglich rehabilitiert. In diesem Zusammenhang schließlich - und dies gilt genauso für Kristeva wie für die anderen hier untersuchten Autoren - erweist sich die Auseinandersetzung mit der Geschichte eigener und fremder Texte - Ausdruck der die Identität pardoxal bestimmenden Pluralität - als unerläßlich. Kristeva kehrt die Perspektive um und wendet das von Barthes u.a. in »Phases« skizzierte Verfahren der intertextuell determinierten Kontextualisierung der eigenen Biographie auf ihn selbst an, indem sie ihn als intertextuelles »Korpus« ihres Romans bestimmt. Im Mittelpunkt von Kristevas Roman Les Samourais steht der Tod Roland Barthes' und anderer Weggefahrten. Der Tod der Vaterfigur Roland Barthes ist Abschied und letzte Frage, Aufforderung zur Interpretation: »Elle lui dit quand meme qu'elle l'adorait, qu'elle lui devait son premier travail ä Paris, qu'il lui avait appris ä lire, qu'ils allaient repartir ensemble, au Japon par exemple [...]. Les yeux päles se remplissaient d'eau, mais Brehal faisait toujours le meme geste d'adieu« (Kristeva 1990a:405f.). Je suis persuadie que, pour ces hommes qui meurent autour de moi, la mort fait partie de la dämonstration achamöe selon laquelle la pens£e n'est pas une action parmi d'autres, mais la vie meme, la fin comprise. La mort advient alors comme un accomplissement de leur parole que pourtant, eile liquide. Iis ne nous signifient pas que la mort serait facile ä cause de l'6ternit6 qui nous recueille [...], ni insignifiante ä cause de l'absurde qui nous borne [...]. Cependant, pour avoir explord le sens - le sens des mots, des symptömes, des reves, des textes, des infamies, des nuits avec fin ou sans fin - , ils livrent leur mort ä l'interprötation. Provocatrice, absurde ou stupide, leur mort s'inclut dans le sens qu'ils ont bäti. 13 (Kristeva 1990a:382)

Es geht darum, den Tod desjenigen zu lesen, der ihr nach eigener Einschätzung das Lesen beigebracht hat. Man halte sich die Bedeutung vor Augen, die der Rolle des Lesers nach dem von Barthes so benannten »Tod des Autors« beigemessen wurde, um die Subjekt- und literaturtheoretische Bedeutung dieses Satzes zu erfassen. Es geht darum, die Hinterlassenschaft seiner und anderer zeitgenössischer Theorien zu bilanzieren. Die Überprüfung dieses, ihres Weges - daher sein nochmaliges fiktionales Abschreiten im Roman - ist die

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autobiographische und zugleich historische Ausprägung einer letzten Auseinandersetzung mit Roland Barthes, die seit 1965 kontinuierlich geführt wurde. So resümiert Kristeva 1990d:167 ihre Arbeit im Begriff der »etrangete«14 und verweist damit auf den ersten ihr gewidmeten Artikel, »L'Etrangere«, den Roland Barthes im Jahr 1970 verfaßt hat: »II est pour moi quelque chose d'incontournable, narcissiquement sans doute, mais aussi parce que j'ai l'impression qu'il anticipe sur ce que j'ai fait depuis.« Dieser Rückblick über mehr als zwanzig Jahre führt die bleibende Bedeutung vor Augen, die Barthes für Julia Kristeva gehabt hat.15 Ein Blick in den Artikel »L'Etrangere« und spätere Arbeiten Barthes' belegt die Wechselseitigkeit der Beeinflussung: »Lui devant deja beaucoup (et des le debut), je viens d'eprouver une fois de plus, et cette fois-ci dans son ensemble, la force de ce travail« (Barthes 1984b:211).16 Der Begriff der Fremdheit bezieht sich dabei nicht nur auf Kristevas Herkunft, nicht allein auf differenztheoretische Prämissen ihres Denkens, sondern deutet darüber hinaus auf ihre Stellung innerhalb der Geschichte der Avantgarde der 60er und 70er Jahre hin: im Unterschied zu einigen radikalen Vertretern von Tel Quel oder Nouveau Nouveau Roman hat sie ebenso wie Barthes Konzepte reiner Autoreferentialität zurückgewiesen, hat sie auf der Suche nach einer möglichen Verbindung von Literatur, Subjektivität, Gesellschaft und Geschichte bestanden. Der dialogische Charakter des Zeichens, der Versuch einer Versöhnung von Geschichte und Form, das Mißtrauen gegenüber der Verwendung letztgültiger Begriffe, die so manche Avantgardebewegung kennzeichnet, der »petit supplement de liberte«, der ihr Denken in der Differenz, in der Theorie als sprachlicher Selbstreflexivität (»le regard retourne d'un langage sur lui-meme«) bestimme 17 , ihr »discours [qui] nous transforme, nous deplace, nous donne des mots, des sens, des phrases qui nous permettent de travailler et declenchent en nous le mouvement creatif meme: la permutation« - dies sind nach Barthes 1984b:212f. die vornehmsten Züge der Arbeiten von Julia Kristeva. Ihre Vermutung, Barthes habe mit dieser Charakteristik aus dem Jahr 1970 vieles von dem antizipiert, womit sie sich in der Folge

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Vgl. auch ihre 1988 als Etrangers ä nous-memes veröffentlichten Reflexionen über den bzw. das Fremde(n) als psychohistorische Grundlage jeder Gesellschaft. Vgl. ihren programmatischen Artikel von 1971, »Comment parier ä la littdrature« (Kristeva 1977d), um nur ein frühes Beispiel zu nennen, dessen Thesen sie ausgehend von Barthes entwickelt. In einem Nachruf auf Barthes spricht auch Kristeva 1982:119 von der Interdependenz der Einflüsse und Wirkungen, von der »6volution des iddes nouvelles que Barthes pnkidait ou qu'il attrapait toujours ä temps (certains croyaient betement qu'il les dirigeait)«. Interessanterweise hat auch Kristeva 1982:120 Barthes diese Qualität zugesprochen: »Le sentiment de liberte qu'il prodigue et nous laisse, vient de son art de r6sonner avec notre fragilitd, et de l'accompagner [...]. [...] une ithique d'ami qui vous apprivoise parce qu'il vous interpr£te ä partir d'une longue cohabitation avec la maladie... Cette öthique fait de lui le plus moderne (c'est-ä-dire d'une morale non engagöe et a-temporelle) des grands.«

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beschäftigt hat, läßt sich für die jüngste Epochenschwelle umformulieren: ist Kristevas mit dem Begriff der Fremdheit umrissenes Denken nach zwanzig Jahren noch mit dem Ziel vereinbar, in Les Samourais ihrer historischen Identität im Gewand des Romans habhaft zu werden? Bietet dieses Denken, in dem sich viele typische Merkmale der Anschauungen anderer, in dieser Untersuchung ebenfalls vertretener Autoren und Theoretiker der 60er und 70er Jahre widerspiegeln, eine Antwort auf die (ästhetischen, ggf. ethischen) Fragen der Gegenwart? So geht es in Les Samourais, einem Roman, dessen Struktur sie nicht zuletzt ebenfalls Barthes verdankt 18 , auch um die Frage, ob der gemeinsam beschrittene Weg weiterverfolgt werden kann. Den Tod Roland Barthes' richtig lesen heißt, die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen von Subjektivität und ihrer Artikulation als und in einer Geschichte zu beantworten.

2.1.3

»Une histoire qui s'analyse« - Les Samourais als »imaginäre« Geschichte der Avantgarde

Les Samourais ging die kurze persönliche Erinnerungsschrift »Memoire« (Kristeva 1983b) voraus, eine Auflistung von Fakten und Ereignissen, die der Roman in eine »histoire« überführt, d.h. in der narrativen Entwicklung kontextualisiert, bewertet und auf ihre Relevanz und Repräsentativität für die Epoche befragt. Der Titel »Memoire« zeigt zur Genüge, wie wichtig die Gedächtnisproblematik im Hinblick auf das Entstehen einer neuen Form ist, aber auch, daß beim Gedächtnisbegriff nicht stehengeblieben werden kann. Auf welcher Grundlage entsteht diese Fiktion (»le fictif de l'identite«, wie Barthes sagt), welchem Programm gehorcht sie? Es geht dabei für Kristeva 1983b:39 nicht um eine Geschichte im herkömmlichen Sinn: »Plus encore, faire l'histoire m'apparait desormais [...] une tache sinon impossible, du moins deplacee. Plutöt qu'ä constituer des >archives< ou des >annalesnous< n'est pas une analyse, c'est une histoire qui s'analyse. [...]. En somme, le röcit d'une trajectoire intellectuelle de cette pöriode et de maintenant devrait etre d'abord un röcit du changement - pour certains ce fut une explosion - des corps, des discours, des fa^ons d'etre.

Wie immer diese, widersprüchlichen Imperativen gehorchende, Geschichte auch aussehen mag, im Sinne der in der Einleitung formulierten Hypothese wird zumindest ersichtlich, daß die zentrifugale »explosion - de corps, de discours, des fa^ons d'etre« nun einem Impuls der Restrukturierung (»stabilisation provisoire«) ausgesetzt ist. Das Konzept dieser »histoire d'un

Ihre Auseinandersetzung mit Michel Foucault ist hierbei von Interesse. Dessen pointierte Thesen kreisen um den auch für Kristeva zentralen Zusammenhang zwischen der Subjektivität (bzw. ihrer Nicht-Existenz), der Geschichte (bzw. ihrer nur als Archäologie zu rekonstruierenden Nicht-Existenz) und der Sprache (in ihrer machtvollen Diskursgestalt). Von diesem Potential an Negativität mußte sich Kristeva, die gerade die, wenn auch fragile, Möglichkeit betont, durch die Sprache einer individuellen und intersubjektiven Geschichte habhaft zu werden, herausgefordert fühlen. Ihren Dissens formuliert sie in Les Samoura'is anhand der Studien Foucaults zur Geschichte des Wahnsinns. Dem Schema einer durch Ausgrenzung konstituierten Diskurs- und Gesellschaftsformation begegnet sie mit der Vorstellung des Wahnsinns als Idiolekt, als Diskurs, dem man im Dialog begegnen kann: »Ainsi, il n'existe pour moi que des itats singuliers de discours que je peux moduler avec quelqu'un d'autre. Pour refaire un corps et une äme (ä lui, ä moi) comme on fait une ceuvre d'art« (Kristeva 1990a: 183; im Original kursiv).

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ensemble en transformation perpetuelle« (Hervorhebung von A.G.) ist daher von großer Bedeutung für die Beantwortung der Frage nach Kristevas Verständnis der Verbindung von Sprache und Subjektivität, sowie beide umfassend und durchdringend, der Geschichte; immerhin hatte sie 1971 noch eine transformative Kraft der Sprache postuliert (vgl. Kristeva 1977d:33). Kommt in dieser Verschiebung von Aktiv zu Passiv der Abschied von der Politik zum Vorschein, die lange Zeit im Vordergrund ihrer Suche nach der Wahrheit des »etre parlant« stand, und wird sie als Bezugsgröße literarischer Praxis durch die Psychoanalyse ersetzt, deren Kategorien im Zitat sichtbar wurden? Das politische und historische Geschehen, unlängst noch Bezugspunkt von Kristevas Denken, droht damit zum Schauplatz eines inneren Theaters zu werden, das dem analytischen Blick offenliegt - ist dies eine späte Analyse des Scheiterns der literarischen Revolution der Avantgarde und ihrer politischen Ambitionen? 20 Doch stellt diese Verschiebung eine wirkliche Alternative dar? Schließlich impliziert auch die Psychoanalyse eine beim Individuum ansetzende historische Perspektive (Anamnese), verfolgt sie therapeutische Absichten. Darüber hinaus fragt Kristeva explizit nach der Leistung der Psychoanalyse im Hinblick auf die das Individuum transzendierende, es in sich begreifende Geschichte (»une histoire qui s'analyse«). Gerade wenn man Kristevas Neuperspektivierung des ästhetischen Projekts als »histoire d'un ensemble en transformation perpetuelle«, als »>autobiographie< du nous« ernst nimmt, dabei aber die Kontinuität ihrer Auseinandersetzung mit der Avantgarde nicht übersieht 21 , wird es möglich, ausgehend von ihrer Reflexion des Wechselverhältnisses von Literatur und Psychoanalyse Leistung und Grenzen postavantgardistischer Ästhetik zu beurteilen. Drei Beispiele aus Les Samourais sollen für die konkrete narrative Umsetzung der gerade skizzierten Besonderheiten der historischen Analyse in Kristevas Roman sensibilisieren; es handelt sich dabei um ihre Auseinandersetzung mit den Begriffen Avantgarde, Revolution sowie mit dem ideologiekritischen Potential der Intertextualität. Folgende Leitfragen sind dabei wesentlich: Wie konkretisiert sich Kristevas Vorstellung vom Wandel der literarischen Avantgarde? Welche Rolle spricht sie der Psychoanalyse zu? Wie erörtert sie Fragen der Repräsentation? Nach dem Blick

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Unter Bezugnahme auf ihr Buch über Ciline, Pouvoirs de l'horreur, schreibt sie: »Les pöripeties politiques, sur ce fond de ddsir et de haine que l'analyste divoile ä ciel ouvert, m'ont paru telles qu'en elles-memes le recul les change: comme un pouvoir d'horreur, comme une abjection. L'oeuvre sublime et affreusement compromise de Celine me donna l'occasion d'en parier« (Kristeva 1983b:53). »Lieu de l'abjection maximale, lieu de recueil de l'horreur privee qui ne peut etre levie que par un ddplacement infini-indefini dans la parole et ses effets, la psychanalyse est aujourd'hui devenue, pour moi, la consiquence logique de mes interrogations initiales qu'elle me permet aussi de poursuivre. [...] la psychanalyse me semble etre la version la'fque, la seule, de cette recherche de la viriti de l'etre parlant« (Kristeva 1983b:45).

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auf die konkrete Textgestalt soll dann den theoretischen Implikationen der im Roman entfalteten Ästhetik nachgegangen werden. Die »Kriegs-Kunst« der Samourai als Titelallegorie des Romans ist unmittelbarer Anknüpfungspunkt einer Reflexion des Avantgardebegriffs, der ebenfalls der militärischen Sprache entstammt.22 Einer der Protagonisten aus dem zum Zeitpunkt der Romanhandlung noch existierenden Ostblock betrachtet die Aufgabe der Literatur gleichsam traditionell i.S. engagierter Literatur; den »ecriture«-Konzepten in Frankreich wirft er bloßen Ludismus vor (Kristeva 1990a:64). Olga Morena alias Julia Kristeva hält dagegen: »Car tout art est un art martial oü Ton se met ä mort pour se refaire un nouveau corps, une nouvelle forme« (Kristeva 1990a:62) 23 Am Ende des Romans greift sie das Bild der Samourai's erneut auf - als Bild eines Kinderspiels. Ihr Mann spielt es mit Sohn Alex im Jardin du Luxembourg. Sie beschließt, eine Geschichte über die Samourai' zu schreiben, um dem Sohn, d.h. der nachfolgenden Generation, die Bedeutung dieser Allegorie (bzw. den Wandel ihrer Bedeutung) zu veranschaulichen. Man kann annehmen, daß es sich dabei um den vorliegenden Roman handelt (Kristeva 1990a:447ff.). Diese nunmehr poetologisch, historisch und nicht zuletzt psychoanalytisch24 perspektivierte Allegorie der Avantgarde wird nicht mehr i.S. einer ihrem traditionellen Selbstverständnis entsprechenden Fortschrittsgeschichte gedeutet, sondern zyklisch: als literarisches Programm, als wiederholtes Erzählen von Geschichten gegen Sinnverlust und Tod. Hinter dieser Bedeutungsverschiebung der die Avantgarde vorstellenden Allegorie steht keine ironische Geschichtsauffassung, in dem Sinne, »ernsthafte« Avantgardebemühungen hätten den gleichen Status wie ein Kinderspiel. Im Gegenteil: Die Rede von einem »reseau de souvenirs et de

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Suchsland 1992:17 sieht im Romantitel eine Anspielung auf Simone de Beauvoirs Schlüsselroman Les mandarins de Paris aus den fünfziger Jahren. Dieser Freund Olga Morenas, Autor eines Bandes Hagakure ou l'Art de la guerre und damit Repräsentant einer anachronistischen Vorstellung von Avantgarde, stirbt, während er an einer Studie über den »toten Christus« von Hans Holbein arbeitet. Nicht nur parallelisiert Kristeva explizit seinen Tod - er stirbt an einer Infektion im Krankenhaus und Olga Morena vermutet, er habe keinen Lebenswillen mehr besessen - mit dem Tod »de nos amis qui se sont suicidis ou laissös döpdrir« (Kristeva 1990a:401) und spielt damit erneut auf die Wahrnehmung einer Epochenschwelle an, dieser Tod läßt sich darüber hinaus auch auf ihre eigenen Arbeiten beziehen. Julia Kristeva selbst hat eine Studie über Holbein in ihrem Buch Soleil noir. Depression et melancolie (1987) veröffentlicht - verabschiedet sie sich in diesem Autokommentar von der Versuchung der Melancholie, die dem Glauben an die revolutionäre Veränderung der Geschichte gefolgt war? Steht Les Samourais für einen Neuanfang und wenn ja, für welchen? Das Bild des Kinderspiels ist im psychoanalytischen Zusammenhang selbstverständlich von Bedeutung. Darüber hinaus spricht Kristeva 1990c:63 auch explizit von ihrem Wunsch, durch die Sprache »une experience infra-langagiöre et infra-conceptuelle« wiederzugeben »dans l'ömotion, la sensation, la perception, qui est - conformöment au code de l'avant-garde - une jouissance souvent cachee, mais parfois avouee«.

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fantasmes« (Kristeva 1990c:63) in diesem Zusammenhang verweist auf das Imaginäre, ein Konzept, das Kristeva seit Histoires d'amour von 1983 in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zur Genese von Subjektivität und Literatur gestellt hat; auf dieses wichtige Element postavantgardistischer Ästhetik wird später noch ausführlich eingegangen. Zunächst nur soviel: Es erscheint sinnvoll, diese Kategorie im Rahmen der hier im Vordergrund stehenden (Literatur-)Geschichte der Avantgarde zu erörtern, da Kristevas individualpsychologisch anmutende Definition des Imaginären einige Parallelen zu dem umfassenderen Projekt einer »>autobiographie< du nous«, einer »histoire qui s'analyse« aufweist. So kann man Les Samourais, den Roman über die Geschichte der Avantgarde, als Umsetzung von Kristevas Verständnis des Imaginären ansehen. In Bezug auf die Samourais definiert Kristeva 1990c:60 das Imaginäre wie folgt: »L'imaginaire peut etre considere comme la structure profonde des concepts et de leurs systemes. Peut-etre le creuset du symbolique, ce sont les bases pulsionnelles du signifiant, c'est-ä-dire les sensations, les perceptions, les emotions; et les traduire, c'est quitter le domaine des idees pour entrer dans la fiction«. Eine spätere Definition, deren Formulierung, auch wenn sie nicht auf den zur Debatte stehenden Text bezogen ist, an die Aufgabenstellung in »Memoire« und ihre Umsetzung in Les Samourais erinnert, lautet: »J'appelle imaginaire la representation de strategies d'identification, introjection et projection, qui mobilisent l'image du corps, celles du moi et de l'autre, et qui utilisent les processus primaires (deplacement et condensation)« (Kristeva 1993:157). Natürlich unterscheidet Kristeva 1993:159 das Imaginäre als vornehmlich affektive »preconditions psychiques« der Sprache vom Imaginären der »ceuvres d'imagination ou de fiction«, doch thematisieren die beiden Zitate gerade die Übersetzung des vorsymbolischen Wissens, seine Repräsentation und zeigen, daß die Übergänge zwischen individualpsychologischen und intersubjektiven, vorsymbolischen und symbolischen Aspekten fließend sind, daß gerade diese Übergänge das Wesentliche von Kristevas Begriff des Imaginären ausmachen. Das Imaginäre im Sinne Kristevas als historischer Begriff (in ihm manifestiert sich der in der Geschichte verankerte Prozeß der Subjektbildung sowie der der Textkonstitution, also das Entstehen einer Form) ist für den Betrachter ihrer Arbeiten nicht zuletzt selbst historisch bestimmt, nämlich durch sein Verhältnis zu analogen, sich ebenfalls auf Subjekt- und Textzustände beziehenden Begriffen in Kristevas früherem Werk. Verschiebungen im Hinblick auf ein ehemaliges Theorie- und Avantgardeverständnis werden sichtbar: Ihr Konzept des »sprechenden Subjekts« der Avantgarde erweitert sich durch eine Theorie des Imaginären zum einen hin zu einer Integration des Körpers (»affects«, »sensations«, »pulsions«, etc.) in die Theorie dies hatte bereits ihre Vorstellung des Semiotischen bzw. der »chora« geleistet, die jedoch beide die Repräsentation unterliefen andererseits hin zu

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einer adäquaten Artikulation dieser Verschränkung, ihrer Repräsentation in der Fiktion. In Les Samourais schließt sich der Kreis, wird die Geschichte dieser Verschiebung in Theorie und Praxis vor den Augen des Lesers entfaltet. In dieser Übersetzung einer individualpsychologischen, jedoch schon immer intersubjektiv geprägten Struktur in die (historisch perspektivierte) Fiktion liegt die nicht unproblematische Innovation Kristevas. Hier kann die intersubjektive Dimension jener »autobiographie du nous« erfaßt werden. Les Samourais stellt für Kristeva und - so zumindest möchte sie es sehen - für ihre Generation diese Fiktion dar. Ihr Roman erscheint, von seiner zentralen Allegorie her gelesen, als Versuch, nach Jahren fragloser Gültigkeit selbstreferentieller und amimetischer Textmodelle ein Verfahren zu entwickeln, die Narration der Historizität, der Referenz zu öffnen, ohne dabei hinter den theoretischen IstZustand zurückzugehen und einem »retour au recit« das Wort zu reden. Hierbei setzt sie sich in ihrem Roman Les Samourais über den möglichen Vorbehalt hinweg, ob das der Psychoanalyse entlehnte dialogische Modell von Übertragung und Gegenübertragung, das ihrem Begriff des Imaginären funktional zugrunde liegt, in der Fiktion überhaupt gelingt, wenn diese die Entwicklung kollektiver Projektions- und Identifikationsprozesse nachzeichnet. Eine zweite Bruchstelle des von ihr entwickelten Modells verrät der Kommentar von Joelle Cabarrus, der Psychoanalytikerin im Roman: »Nous en sommes lä: la civilisation est une memoire qui sait faire de la vie et de la mort un simulacre, une apparition voulue« (Kristeva 1990a:45 8). 25 Damit kann Kristeva sich nicht abfinden: das Gedächtnis müsse mit der (inter)subjektiven Geschichte verknüpft werden, sonst drohe Sinnverlust in Wiederholung und Simulakrum. Ihr ästhetisches Modell, das, wie die Samourai's-Episode gezeigt hat, avantgardistische Paradigmen ablösen sollte, steht damit vor dem gleichen Problem, auf das es eine Antwort darstellen sollte; die potentiell unbegrenzte Wiederholung stellte nämlich bereits eine der eingangs beschriebenen Aporien avantgardistischer Logik dar. 26 Die genannten Verschiebungen im Verständnis von Avantgarde, die letzten Endes diesen Begriff obsolet erscheinen lassen, werden in Les Samourais an einem ihrer privilegierten Topoi verdeutlicht, dem der Revolution. Kristevas Analyse der Revolutionen und Revolten, die im Dreischritt 1789-19681989 (Bicentenaire der französischen Revolution) das Hintergrundschema ihres Romans bilden, erfolgt ebenfalls jenseits politischer Peripetien. Ihre In-

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Im Original kursiv. Wenn Roland Barthes 1953:14 in Le degre zero de l'ecriture die Sprache einmal als Negativität bezeichnet hat, als »limite initiale du possible«, dann deckt sich dieses Verständnis von Möglichkeit nicht mehr mit dem gerade skizzierten des Simulakrums. An einem solchen Beispiel wird eine Geschichte der Avantgarde mit Händen greifbar.

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terpretation des Phänomens Revolution ist eine erste Anwendung der von ihr vorgelegten Theorie des Imaginären als psychoanalytisch fundierter, historischer Methode der Bestimmung von Identität. In Umsetzung des in diesem Zusammenhang methodisch wichtigen Verfahrens der Identifikation untersucht die Psychologin im Roman Leben und Handeln von Theresa Cabarrus, einer Vorfahrin aus der Zeit der Französischen Revolution; Kristeva 1990a:175 spricht von »similitudes«, von »filiations«.27 Ihr Verhalten während der Französischen Revolution besitzt für Kristeva 1990a: 181 Modellcharakter (»la force de la vie plaisante contre celle de l'hero'isme ä mort«). Es handelt sich um ein Modell, welches das Recht des Individuums absolut setzt. Die Französische Revolution sei 1968 mit der Studentenrevolte zu Ende gegangen, als sich individualistische Prinzipien wie »plaisir«, »desir« und »imagination«, die »jouissance« durchgesetzt hätten.28 Die Parallelen zu literaturtheoretischen Schlüsselbegriffen der Vergangenheit sind unübersehbar. Hier darf Kristevas (autobiographische) Überlegung, die ja gerade die Zeit nach 1968 in den Blick nimmt, allerdings nicht enden. So fragt sich die Protagonistin in Les Samoura'is denn auch, ob die genannten Werte in der Gegenwart, 1989, noch Gültigkeit beanspruchen können. »[L'A]rt de vivre demythifie serait-il une definition de l'epoque actuelle?« (Kristeva 1990a:454), so lautet die Frage einer der Protagonistinnen. Über eine Freundin heißt es: »De sa jeunesse sans mythes, eile fait un mythe artificiel. Elle aime et souffre, mais dit que c'est pour rire: un jeu. Je ne la crois pas. L'insolence est le mythe des gens qui n'ont plus de mythes« (Kristeva 1990a:453f.). Entmythifizierung als neuer Mythos, der als zynisch bezeichnete Spielbegriff als Signum der postmodernen Epoche? Kristeva versucht konsequent, die zuvor genannten Leitbegriffe mit der für die Gegenwart scheinbar charakteristischen Vorstellung vom Spiel zu konfrontieren. Dadurch eröffnet sich ihr die Möglichkeit, den Spielbegriff als ein Bestimmungsmerkmal der Postmoderne zu kritisieren, indem sie diese Bezeichnung gemäß ihrer für das Imaginäre benannten Kriterien (historisch, intersubjektiv, Bezugnahme auf den Körper etc.) kontextualisiert. Allein diese Vorgehensweise beraubt den Spielbegriff eines seiner wesentlichen Attribute, nämlich gerade nicht kontextualisierbar zu sein, sondern selbst als arbiträrer Rahmen Kontextualisierungen im Modus

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Kristeva 1990a: 171f. spricht von der »ötrange proth£se drotique qu'est la mdmoire. Tel est au fond le miracle de l'analyse, dont on ne parle jamais. Vous apprenez ä habiter votre pass£ si intensiment qu'il n'est plus separ6 de votre corps präsent et chaque parcelle de souvenir se transforme en une hallucination röelle, en une perception crue, ici et maintenant«. Auch der »Wille zur Macht« wird als interpretatorisches Modell herangezogen; desweiteren tauchen hegelianische Reminiszenzen auf, wenn etwa das Verhältnis von Libertins und Jakobinern mit dem Verhältnis von Herr und Knecht verglichen wird (Kristeva 1990a:175f.).

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einer immer aufs neue wiederholbaren Inszenierung zu ermöglichen. Mit diesem Vorgehen versucht Kristeva, der geschilderten Gefahr des Sinnverlusts angesichts von Simulakrum und Repetition zu begegnen, der auch ihr ästhetisches Modell ausgesetzt schien. Der Spielbegriff, der die Prinzipien von 1968 abgelöst habe, wird dabei deutlich negativ beurteilt als »künstlicher« Mythos. Implizit behauptet Kristeva damit die Geltung des von ihr psychoanalytisch fundierten, in Fortfuhrung avantgardistischer Prinzipien entwickelten Textmodells, d.h. nicht zuletzt der Prinzipien von 1968, von »plaisir«, »desir« und »imagination«, ohne die sie dem Spielbegriff nicht hätte begegnen können. Die weitere Auseinandersetzung mit ihrer Arbeit muß erweisen, ob es sich dabei um mehr als um ein bloßes Postulat handelt. Was geschieht, könnte man fragen, wenn Kristevas Text- und Kommunikationsmodell auf die Gesellschaft trifft? Schließlich sind die Leitvokabeln ihrer »Revolutionsgeschichte« durchaus gesellschaftlich perspektiviert, ist die Integration des Textes in die soziokulturelle Dynamik als Praxis eines der Hauptmerkmale ihres Modells der Intertextualität, das nun durch das des Imaginären abgelöst zu werden scheint. 29 Wie steht es dann um ein Konzept, das nach dem bisherigen Stand der Dinge vornehmlich der anamnetischen Rekonstruktion der Subjektbildung dient, eine soziohistorische Perspektive, wie die Textbeispiele gezeigt haben, jedoch einschließt? Gilt dies auch für die ideologiekritische Eigenschaft dieser einstigen ästhetischen Grundkategorie Kristevas? Die Reflexion über die Intertextualität vollzieht Kristeva dabei in einer Art »mise en abyme« im intertextuellen Modus selbst: Celine und Rushdie, für deren literarische Arbeit die subversive Funktion von Intertextualität wiederum sehr wichtig ist, sind ihre Bezugspunkte. Eine amerikanische Zeitschrift formuliert als Kritik auf eine Celine-Studie von Olga Morena, in der man unschwer diejenige Julia Kristevas erkennen kann, die Beschäftigung mit diesem Autor sei angesichts seiner ideologischen Positionen nicht zu rechtfertigen. Olga Morena setzt sich im Gespräch mit ihrem amerikanischen Freund, einem Spezialisten für internationales Recht, energisch gegen eine derartige Tabuisierung, gegen Zensur jeglicher Art zur Wehr. Stattdessen operiert sie mit dem alten Begriff der Katharsis und plädiert für eine »permanente« Analyse. Ihr amerikanischer Gesprächspartner, den sie zu ihrer Verteidigung um eine Gegendarstellung bittet, lehnt dieses Ansinnen ab und spielt den advocatus diaboli: Literatur sei Privatsache und könne keine allgemeine Geltung beanspruchen (Kristeva 1990a:363f.). Dies ist die andere Seite des Liberalismus, dessen Pluralismusbegriff Kristeva noch ein paar Jahre zuvor zu einer Revision des traditionellen Avantgardebegriff veranlaßt

Suchsland 1992:82 weist darauf hin, daß Kristeva bereits in La revolution du langage poetique den Begriff der Intertextualität durch den der »transposition« ersetzt und damit schon 1974 eine Beziehung zur Psychoanalyse hergestellt habe.

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hatte. Hier zeigt sich, daß Pluralismus und Pluralität nicht unbedingt gleichbedeutend sind. Olga Morena hingegen vertritt eine andere Position: II s'agit de la liberty comme risque. Risque mental. Mais aussi risque pour le droit. Qui a le droit d'arreter la liberty? Quel est ce droit? Tu connais le droit administratif ou commercial, le droit universel. Mais le droit de l'art est-il le meme que celui dont tu t'occupes? [...]. Imagine un intögriste fanatisd condamnant ä mort l'öcrivain qui le dirange. - D'accord, j'y penserai, il n'y a pas urgence. - Pour moi, si. (Kristeva 1990a:366)

»La liberte comme risque« - diese Formulierung löst im Hinblick auf die Entwicklung von Julia Kristevas Denken vielfältige Echos aus. Wo die intersubjektive, den Körper einbeziehende Konstitution des Imaginären an intertextuelle Vorstellungen anzuknüpfen schien, da nämlich, wo sie - allerdings unter umgekehrtem, rekontextualisierendem, die Geschichte integrierendem Vorzeichen - die Kraft haben sollte, Grenzen zu überwinden, erstaunt diese an Theorien des amerikanischen Liberalismus erinnernde institutionelle Argumentation (»droit de l'art«). Hier scheint sich eine Differenz zwischen Theorie und (gesellschaftlicher) Praxis aufzutun, die ihre Konzeption des Imaginären doch eigentlich überwinden sollte. Auch scheint die intertextuelle Performanz, an die ihr Begriff des Imaginären anknüpft, und fur die Celine und Rushdie stellvertretend stehen, von der permissiven individualistischen Gesellschaft vollständig assimiliert zu werden, so sehr, daß es gesellschaftlicher Institutionen bedarf, um den Wirkungsgrad und die Reichweite von Kunst zu bewahren. Dieser Argumentationsansatz erstaunt umso mehr, als Kristevas psychoanalytisch fundierte Betrachtung doch gerade beim Individuum ansetzt, von dem aus die intersubjektive, wenn nicht gesellschaftliche Dimension der Kunst eingelöst werden soll. Olga Morenas Forderung wird angesichts der konkreten Realität westlicher Mediengesellschaften hinfallig, auf die sie im Text bezogen war, gewönne allenfalls erneutes Profil vor dem Hintergrund der jedoch erst nach Erscheinen des Romans zu einem Höhepunkt gelangten pc-Bewegung. Kristevas Vorstellung vom »Recht der Kunst« scheint für die individualistischen liberalen Gesellschaften Westeuropas oder der USA insofern falsch konzipiert, als die Kunst dort (zugegeben fast) jedes Recht hat, ihr Freiheitsbegriff inoperativ und nicht gesellschaftskritisch beziehbar wird. Gegenüber der realen Zensur autokratischer Gesellschaften, gegenüber der Unterdrückung der Meinungsfreiheit in manchen Staaten bleibt sie Postulat. Die subversive, geschichtstilgende Kraft, die Kristeva einst der Intertextualität zugesprochen hatte, wird hier nicht mehr sichtbar. Ist die Auffassung von einer »liberte comme risque« also doch nicht mehr als die Schwundstufe einer Ästhetik und Gesellschaftstheorie, die sich einst an Bataille, Artaud und Maiakovsky maß, die eine »vision dramatique du langage comme pratique risquee (Hervorhebung von A.G.), ouverture de l'animal parlant au rythme du corps en meme temps qu'aux bouleversements de l'histoire« (Kristeva 1977g:368) entwickelte, und die immer dann an den Umwälzungen der Geschichte zu partizipieren glaubte, wenn sie die Grenzen der gesellschaftlich

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sanktionierten Ausdrucksweise zu sprengen suchte? Die Vorstellung einer >>fiction souveraine«, die die Repräsentation auf Ungesagtes, auf Zensur und Verdrängung hin durchforstet, und sie dabei zugleich erschüttert, scheint ausgedient zu haben, nicht zuletzt in ihrem Anspruch, die Erfahrung im Diskurs festhalten und einer gesellschaftlichen Praxis zuführen zu können (Kristeva 1977f:127). Sie kann dem vorgeschlagenen Textmodell des Imaginären in keiner Weise mehr entsprechen. Dabei hatte Kristeva 1973 gerade eine spezifische Praxis der Avantgarde gefordert, die den »moment thetique« nicht aus den Augen verlieren sollte, an dem die Infragestellung von Sinn, Subjekt und Geschichte zusammenfallen, einen Moment, in dem die »probabilite communautaire« (Kristeva 1977f:108) sichtbar werden würde. In der individualistischen westlichen Gesellschaft gerät ihre Theorie des Imaginären als individuelle und zugleich intersubjektive Leistung an ihre Grenzen, wenn Kristeva sie über den individualpsychologischen Aspekt hinaus als gesellschaftliche Praxis betrachtet. 30

2.1.4

Das Subjekt und sein Text - Kristevas Forderung nach einer kathartischen Ästhetik

Wie beurteilt nun Kristeva selbst ihren Roman, wie bewertet sie die Besonderheiten und Widersprüche, die sich aus ihrem Konzept einer »histoire qui s'analyse« ergeben, welche ästhetischen Schlußfolgerungen zieht sie daraus? Die Frage nach den Widersprüchen erscheint berechtigt, da Kristeva das Zusammenspiel von Subjekt, Körper, Geschichte und Text im Rahmen ihrer Vorstellung vom Imaginären erhalten muß, wenn sie ihre in der Geschichte der Avantgarde wurzelnde Auffassung von Literatur nicht aufgeben will. Doch zeigte die Analyse des Romans Widersprüche auf, die genau in diese Richtung weisen: zum einen die Problematik des Verlusts der diskursiven »probabilite communautaire« in von Kontingenz geprägten, liberalen Gesellschaften, zum anderen die Konfrontation des Imaginären mit Repetition, Simulakrum und Spiel. Die instabile evolutionäre Dynamik von Identifikation und Projektion einerseits, die als Imaginäres das Subjekt konstituiert, und dem

30

Auch wenn Leslie Hill 1990:151 meint, daß Kristevas Suche nach Möglichkeiten von Repräsentation das Avantgardeprojekt rettet: »At stake here is the central issue of the whole avant-garde project. This might be described as a search for cultural difference or as the desire for some relationship, within a culture, with the other of that culture. Both literary and political concerns come together in this ethical questioning. The commitment of Kristeva's work to the thetic moment of sense-making cuts off any escape route she otherwise might envisage into a literary relativism which treats all texts, whether avantgarde or not, as being fundamentally the same, or into any kind of political scepticism or nihilism that would relinquish the need for involvement in the public sphere.«

Der Schlüsselroman

der Avantgarde: Les Samourai's

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Gedächtnis als kollektivem, aber kontingentem Reservoir andererseits, kann im Hinblick auf die Entstehung von Geschichte einen weiteren möglichen Widerspruch darstellen. Doch gerade beim Gedächtnis als Voraussetzung und Grundlage von Geschichte, als intersubjektiver Vermittlungsinstanz setzt Kristeva ihre Neubewertung der Avantgarde in Les Samourais an, wie das folgene Zitat belegen wird. Für Kristeva bedeutet dies zunächst die Auseinandersetzung mit ihrer eigenen avantgardistischen Vergangenheit. Kristeva ersetzt die Gruppe als synchronen Bezugspunkt des Subjekts der Avantgarde durch die Geschichte: Nachdem in den 60er und 70er Jahren die Gruppe dem in seiner Identität verunsicherten Individuum in einer Art »meta-famille« Halt geboten hätte (Kristeva 1990d: 164), stünde an deren Stelle heute die röförence ä une tradition, ä une mömoire, nationale par exemple ou religieuse, mais qui est prise avec une certaine distance ironique. [...] on essaie nianmoins de retrouver une tradition et ainsi de se ressourcer, de retrouver ses valeurs, sa gloire et, en meme temps, de la relativiser et de l'ironiser. Et de s'en servir alors comme d'un bateau qui, fluctuat sed mergitur, va pouvoir survivre dans ce choc de cultures oü il n'y aura peut-etre ni de nationality ni de la non-nationalit£ mais de la transnational. (Kristeva 1990d: 165)

Vor diesem Hintergrund bestätigt sich auch die in der Romananalyse getroffene Feststellung, daß Kristeva das Intertextualitätskonzept einer Revision unterzogen hat. Dezentrierende und restrukturierende Perspektiven werden ausgetauscht, bzw. im Begriff der Ironie miteinander verbunden. Entgegen dieser Selbstbeschreibung Kristevas fallt dem Beobachter an den Samourais jedoch gerade ein ausgeprägter Mangel an Ironie auf. Wenn dort überhaupt von einer Relativierung der Muster historischer Identitätsbildung die Rede sein kann, so rührt diese allenfalls von der Konfrontation eines die Geschichte der Avantgarde aufarbeitenden Textes mit einer liberalen, von Kontingenz geprägten Gesellschaft her (also höchstens von einer Art Ironie der Geschichte) und nicht von einer wie auch immer gearteten produktionsästhetischen Absicht Kristevas. Hier bleibt Kristeva möglicherweise hinter ihrem eigenen ästhetischen Anspruch zurück. Diese Inkonsistenz, betrachtet man sie nicht als persönliches Ungenügen einer Romanautorin, sondern als ein für die hier untersuchte Epochenschwelle typisches, für Theorie und Praxis gleichermaßen bezeichnendes ästhetisches Problem, zeigt uns das aus der Metafamilie der Avantgarde herausgelöste Subjekt ohne einen es umgrenzenden und bestimmenden Diskurs. Wenn Kristeva auch den Versuch unternommen hat, durch die Weiterentwicklung ihres Konzeptes der Intertextualität anhand desjenigen des Imaginären eine rein textualistische Bestimmung von Subjektivität zu vermeiden, sowie neben der Geschichtsreflexion Vorstellungen eines »corps erotique«, einer über ihn vermittelten »katharsis« (Kristeva 1990c:64f., 68) stärker zu profilieren, bleibt der Text doch weiterhin Fokus ihrer Reflexionen über die Artikulation und Kommunikabilität von Subjektivität. Die von ihr geforderte Weiterentwicklung poetologischer Prinzipien der Avantgarde läuft allerdings trotz der scheinbaren Übernahme einiger überkommener Parameter

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Julia Kristeva

- Kristeva 1990c:65 glaubt in Bezug auf die Samourais, in der »construction de discontinuites, de fragments, de liaisons fugaces, de resonances reciproques entre les hommes, les femmes, les espaces et les discours« Erfahrungen der literarischen Avantgarde konserviert zu haben 31 - auf eine Revision der Schreibpraxis hinaus, wie sie in den 60er und 70er Jahren unter dem Schlagwort der »ecriture« zusammengefaßt wurde. Wo Kristeva lange Zeit glaubte, nur eine Revolution des Signifikanten könne die durch Zensur oder Verdrängung aufgebaute Differenz von Signifikant und Signifikat auflösen, fordert sie heute eine ethisch bzw. pädagogisch verstandene »lisibilite«, »clarte«, »simplicite« (Kristeva 1990d:173), die der medialen Nivellierung entgegengesetzt werden könne. Es handelt sich bei der von ihr angestrebten Schreibweise nach eigenen Aussagen um eine »ecriture de contagion, de communicabilite post-moderne, [...] de la plenitude et de l'abondance dans la joie et la souffrance« (Kristeva 1990c:68). Die in ihrem Selbstkommentar zu Les Samourais vorgetragene poetologische Ausrichtung an neuen ästhetischen Parametern - auch wenn sie ihr Roman nicht immer einzulösen scheint - wird präziser faßbar, wenn sie vor dem Hintergrund einer von Kristeva nun nicht mehr romanesk sondern diskursiv entfalteten Literaturgeschichte der Avantgarde betrachtet wird. Welche Auffassung von Geschichte liegt ihr zugrunde? Welche Auswirkungen hat diese literarhistorische Analyse auf die bei Kristeva stets implizite Theorie des Subjekts (seiner Repräsentation); lassen sich Rückkopplungen auf den theoretischen Diskurs selbst sowie auf dessen Möglichkeitsbedingungen beobachten?

2.2

Die melancholische Avantgarde

2.2.1

Vom »sujet en proces« zur »subjectivite provisoire« - die Entwicklung von Kristevas Subjektbegriff

Das Beispiel Celines, bei dem die Auflösung der Subjektidentität nicht mit einer dem pluralen Textmodell angemessenen Gesellschaftstheorie bzw. Geschichtsphilosophie, sondern mit einer totalitären Ideologie einherging, markiert für Kristeva den Endpunkt einer bestimmten literaturgeschichtlichen Entwicklung und damit den Ausgangspunkt einer Revision ihres eigenen Avantgardebegriffs. Es ist jedoch möglich, eine bereits früh einsetzende und bis in die Gegenwart reichende Auseinandersetzung Kristevas mit dem Subjektbegriff nachzuweisen, die in der Lage ist, das Extrembeispiel Celine in die

31

Vgl. auch Kristeva 1990c:69.

Die melancholische

Avantgarde

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Gesamtentwicklung ihres Denkens zu integrieren. An die Stelle des »sujet unaire« (Kristeva 1977e:55) trat 1973 das »sujet en proces« (vgl. Kristeva 1977e), gar das »sujet dissident« (Kristeva 1977f:124), dem in Distanz zu orthodoxem Marxismus dialektische Negativität zugesprochen wurde; damit sollte dieses Subjekt als aktive Größe im historischen Prozeß verankert werden, der im weitesten Sinn marxistisch verstanden wurde (vgl. Kristeva 1977b).32 Daß Kristeva diesem SubjektbegrifF einen utopischen Charakter beimaß, ist offensichtlich. So spricht sie vom (poetischen) Handeln des Subjekts: le temps du po£me est un futur antdrieur qui n'aura jamais lieu, qui ne s'accomplira pas comme tel, mais uniquement comme bouleversement du lieu et du sens presents. Or, par cette suspension du present, par cet enjambement de la memoire antirieure insens£erythmöe et d'un sens annoncö pour plus tard ou jamais, le langage poötique se structure comme le noyau meme d'une historicity monumentale. (Kristeva 1977g:366)

Dieses Subjekt wird in Übereinstimmung mit dem gerade entworfenen Geschichtsbild zum Begründer einer Historiographie der Zukunft (»discours historique par excellence«, Kristeva 1977g:366), zum utopischen Boten eines »autre sens, mais ä venir, impossible« (Kristeva 1977g:368). 1974, im gleichen Jahr forderte sie in »Polylogue«, einem Aufsatz, der dem Roman Η von Philippe Sollers gewidmet ist: »Rythmons l'histoire [...] pour pouvoir etre le sujet inflnitise de toutes les histoires [...] que rien desormais ne peut totaliser« (Kristeva 1977h:215). Dennoch, oder vielleicht gerade weil sie sich der Gefahr unbegrenzter Pluralität bewußt war, beharrt Kristeva 1977e:64 auf der dialektischen Strukturierung dieses »sujet infmitise«. Die Vorstellung eines »sujet jugeant« betrachtet sie als notwendigen Schutz gegen Atomismus und Dissemination, »qui rate ainsi le moment pratique-historique« (Kristeva 1977e:64; vgl. auch 1977i:156f.). 1979 allerdings fehlt diese fur die 70er Jahre typische geschichtsphilosophische Referenz ihres Subjektbegriffs, wie am Beispiel der für Kristeva zentralen Vorstellung einer chora33 als Schnittpunkt

32

33

In diesem Zusammenhang muß auf die grundlegende Bedeutung Hegels für Kristeva hingewiesen werden, u.a. fllr ihr Konzept des »rejet« als dialektisches Prinzip der »signifiance« (vgl. Payne 1993:183-194). Lechte 1990a: 128f. definiert diesen überaus komplexen Begriff folgendermaßen: »The chora is a kind of place, or receptacle. It is not easy to make this element intelligible because it is not, strictly speaking, representable. [...]. To speak about the chora at all is paradoxical, given that to do so is to give it a place in the symbolic. The chora is a mobile and >extremely provisional articulation constituted by movements and their ephemeral stasesprimarily< located. [...]. The importance that the drives assume in Kristeva's work from 1974 onwards cannot be overemphasized. For it is the drives above all which become the precondition of the subject in process. [...]. The chora is connotative of the mother's body an unrepresentable body. The mother and the body as such in fact go together for Kristeva. The mother's body becomes the focus of the semiotic as the >pre-symbolic< - a mani-

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Julia Kristeva

zwischen biologischer und soziokultureller, präverbaler semiotischer und symbolischer Ordnung nachgewiesen werden kann. 1973 als Ausdruck fortdauernder Infragestellung von Identität und sozialer Ordnung konzipiert (Kristeva 1977e:57f.), verändert dieser Begriff Ende der 70er Jahre seine Ausrichtung. Er bleibt zwar weiterhin gegen eine lineare Geschichtskonzeption und damit gegen das Prinzip der Linearität der Erzählung gerichtet, die chora wird nun jedoch als zyklische Struktur betrachtet - wie, und dieser Zusatz ist im Hinblick auf die weitere Entwicklung von Kristevas Denken wichtig, der »espace imaginaire« (Kristeva 1993:303). Damit ist das Imaginäre, mit dem wir uns bisher am Beispiel von Les Samourais nicht zuletzt in poetologischer Hinsicht beschäftigt haben, auch im Hinblick auf den Subjektbegriff eindeutig von der progressiven geschichtsphilosophisehen Vorstellung der Avantgarde abgesetzt. Aus dem euphorisch begrüßten »sujet dissident« ist dann in den 80er Jahren die »subjectivite provisoire: celle qui sait dire jusqu'ä la mort« (Kristeva 1987:115) geworden, hin und her gerissen zwischen der bereits am Beispiel Celines angesprochenen Versuchung der »abjection« und damit von Totalität und Totalitarismus auf der einen Seite und der Melancholie auf der anderen Seite (vgl. ihre 1987 erschienene Studie Soleil noir. Depression et milancolie). Am Ende droht, wie bereits gesehen, der Totalitarismus, der die verlorene Einheit von Subjekt und Geschichte durch eine die Ganzheit simulierende Ideologie wiederzuerlangen vorgibt, oder die Melancholie aufgrund des erlittenen Verlusts von Einheit und Ganzheit, mit anderen Worten am Ende stehen Affekte, die zum Wahnsinn oder zum Schweigen führen können. Hier interessiert vor allem die Ausprägung der Melancholie, weil Kristeva sie direkt auf die Entwicklung avantgardistischer Literatur nach dem zweiten Weltkrieg und damit als Denk- und Schreibhorizont auf sich selbst bezieht.

2.2.2

Marguerite Duras - Text und Theorie im Zeichen von Melancholie

Beispielhaft untersucht Kristeva dieses literaturgeschichtliche Modell am Werk von Marguerite Duras (vgl. Kristeva 1987:227-265). Noch einmal formuliert sie in diesem Zusammenhang ihre Kritik an der formalistischen Ästhetik, deren Vorstellung einer vom Subjekt losgelösten Texttheorie sie verwirft: sehr geschickt bezieht sie dabei die Begriffe »degre zero« und »Tel Quel«, die für eine ganz bestimmte, historisch determinierte ästhetische Praxis

festation - especially in art, of what could be called the >materiality< of the symbolic: the voice as rhythm and timbre, the body as movement, gesture, and rhythm. Prosody, wordplays, and especially laughter fall within the ambit of the semiotic.« Vgl. auch Suchsland 1992:89f.

Die melancholische

Avantgarde

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stehen 34 , auf einen spezifischen Subjektzustand, den der Melancholie, jenen »travail tel quel de la mort, au degre zero du psychisme« (Kristeva 1987:38). Durch die Verbindung dieser literarhistorischen Begriffe, die für die Entwicklung der Nachkriegsliteratur große Bedeutung besitzen, mit Bereichen der Psychoanalyse wird von vornherein eine bestimmte Konzeption autoreferentieller, das Subjekt ausblendender Literatur in Frage gestellt. Indem Kristeva die amimetische, subjektlose Vorstellung vom Text auf die Arbeit der Melancholie, auf das »Intervalle arepresentatif de la representation« (Kristeva 1987:37) bezieht, integriert sie das Subjekt wieder in ihre Überlegungen, fördert sie zutage, was formalistische Literaturkonzeptionen ihrer Meinung nach immer schon verdrängt haben, daß es nämlich die objektive Form nicht geben kann. Die Arbeit der Melancholie wird ihrer Meinung nach nämlich gerade in der Aufhebung der »einen« Form sichtbar, »precisement dans la dissociation de la forme elle-meme, lorsque la forme se de-forme, s'abstrait, se de-figure, s'evide; seuils ultimes de la dislocation et de la jouissance inscriptibles« (Kristeva 1987:38); die Melancholie erscheint als mögliche Reaktion auf den Verlust der Identität, als Vollendung und Umkehrung des von Barthes in Le plaisir du texte formulierten Konzepts der jouissance. Kristeva scheut nicht vor klaren Urteilen zurück: Die sich selbst zugewandte Literatur, welche einst die richtige Konsequenz aus der katastrophalen Geschichtserfahrung des 20. Jahrhunderts gezogen habe, werde nach und nach uninteressant. Dies gilt nach Kristeva 1987:232 auch fur die Entwicklung des Nouveau Roman. Marguerite Duras hingegen habe einen anderen, nicht weniger avantgardistischen Weg beschritten (von dem sie sich gleichwohl absetzen wird): »Si recherche formelle il y a, eile est subordonnee ä l'affrontement au silence de l'horreur en soi et dans le monde. Cette confrontation la conduit ä une esthetique de la maladresse d'une part, ä une litterature non cathartique d'autre part« (Kristeva 1987:233). Duras bleibe innerhalb einer Logik der Repräsentation, ganz nahe an der »insignifiance frigide d'un engourdissement psychique, signe minimal mais aussi signe ultime de la douleur et du ravissement« (Kristeva 1987:236). Duras' Literatur kann nach Kristeva nicht postmodern genannt werden, habe sie doch die Suche nicht zugunsten des Simulakrums aufgegeben (Kristeva 1987:237). Letztlich bleibt ihr Urteil über Duras zurückhaltend, in das Gewand der Frage gekleidet, ob eine solche Literatur der Melancholie noch eine Zukunft besitzt, oder ob sie nicht irgendwann nur mehr einen »moment de la synthese narrative« (Kristeva 1987:264) postmodern zu nennender Inszenierungen darstellen wird.

34

Vgl. Roland Barthes' Le degre zero de l'ecriture (1953), sowie die Gruppe Tel Quel, deren Mitglied sie war. Insofern grenzt sie sich auch von Positionen ab, die sie selbst einmal vertreten hat, fährt sie in ihrem imaginären Dialog mit Roland Barthes fort.

56

Julia Kristeva

Liest man allerdings zwischen den Zeilen, kommt man zu einem klareren Ergebnis im Hinblick auf Kristevas Einschätzung der Aporien der Avantgarde, wie sie sie aus den Schriften Duras' herausliest. In den Augen von Julia Kristeva ist Marguerite Duras' Literatur die Festschreibung der Krise, ein letztlich paradoxer Zustand, wenn er auch über zwei Jahrzehnte im Mittelpunkt der literarischen Avantgarde gestanden hat, sogar zu einem ihrer Markenzeichen geworden war. Eine sich zur Depression entwickelnde Melancholie stellt einen Prozeß dar, eine Geschichte, an deren Ende die Überwindung der Krise oder der Verlust der Subjektivität, das Verstummen stehen kann. Kristevas Charakteristik des Werkes von Duras erscheint ambivalent: Ein Roman, der weder selbstreflexiv auf seine Ausdrucksmittel (das hatte sie ihm gegen formalistische Literaturkonzepte zugute gehalten), noch reflexiv auf die Welt bezogen ist 35 , verhält sich mimetisch zur Depression. D.h. aber nichts anderes, als daß ihm eine Entwicklung zum Schweigen oder zu seiner Überwindung eingeschrieben ist. Letzteres scheint ihm Kristeva allerdings nicht zubilligen zu wollen: die Gründe hierfür liegen möglicherweise in einer impliziten literaturgeschichtlichen Kategorisierung ihrerseits. Man kann sich nämlich fragen, ob nicht in der Argumentation Kristevas selbst der Grund dafür liegt, daß sie die von ihr solchermaßen beschriebene Literatur der Melancholie für nicht entwicklungsfähig hält. Zumindest implizit konfrontiert sie nämlich die als nicht-kathartisch bezeichnete Ästhetik Duras' mit Les Samouräis, ihrem Roman, mit dem sie dem Ziel einer kathartisch verstandenen Ästhetik näher kommen möchte. Wie anders hätte sie sonst die Rückkehr eines gewissen Realismus bei Duras, v.a. mit der Publikation von L'amant (1984), verurteilen können, entspricht doch eine solche Vorgehensweise mutatis mutandis ihrem eigenen ästhetischen Neuansatz? Gerade das Partikulare einer Geschichte vermerkt Kristeva negativ 36 , obwohl sie an anderer Stelle im Hinblick auf ihre eigene Suche nach einer neuen, nachavantgardistischen Ästhetik immer wieder das Singuläre als Bedingung einer die Subjektivität nicht leugnenden Schrift ansieht:

35

36

»Pour cette ithique et esthötique soucieuses de la douleur, le ρπνέ bafouö obtient une dignite grave qui minorise le public tout en attribuant ä l'Histoire la responsabilitt grandiose d'etre le döclic de la maladie de la mort. La vie publique s'en trouve gravement d6realisöe, alors que la vie ριϊνέβ est, en revanche, aggravde jusqu'ä occuper tout le röel et ä rendre caduque toute autre pröoccupation« (Kristeva 1987:243). In dieser Perspektive ist die Öffnung zur Realität, zu Geschichte und Gesellschaft, im Werk Duras' nur Teil eines Kreislaufs, der wieder beim sich und die Welt als Schmerz wahrnehmenden Ich anlangt. Von einer »consonance sociale et historique nöoromantique«, einem »exotisme 6rotique« ist die Rede, »[qui] beignent le plaisir suave et maladif de l'enfant prostitute [...] tristement et cependant avec la pers6v6rance d'une narratrice professionnelle.« Der Text wird dann zur Ausnahme erklärt: »Toute l'oeuvre de Duras n'obeit peut-etre pas ä cette asc6tique fidelity ä la folie qui pröcöde L'Amant« (Kristeva 1987:238).

Die melancholische

Avantgarde

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Pourtant, il y a lä une exigence qui fut aussi celle des avant-gardes, et qui me parait etre le d£sir de se singulariser, de montrer ce qu'il y a d'irr0ductible dans l'etre humain. C'est peut-etre le destin meme de l'art que de nous porter vers l'appröciation de cette singularity, de cette i n a u d i b i l i t y , pour nous inviter ä retrouver nos itrangetes. (Kristeva 1990d:166)

Indem sie also die Texte Duras' ähnlich wie die Literatur Celines oder die formalistische Literatur zum Teil einer Entwicklung avantgardistischer Literatur werden läßt, die an einem toten Punkt angelangt zu sein scheint, gelingt es ihr umso leichter, die eigenen Versuche ihrer Fortsetzung zu profilieren. Anders als Kristeva beispielsweise hat Robbe-Grillet 1992a:33f. den Versuch ästhetischer Erneuerung gerade am Beispiel von L'amant anerkannt und mit seinen eigenen Bemühungen um eine Nouvelle Autobiographie korreliert. Ihre Ausgrenzung einer Avantgarde unter dem Signum der Melancholie ist nicht nur interessant, weil sie dazu dient, neue literarhistorische Entwicklungen zu legitimieren, sondern auch, weil Kristeva im Anschluß an die Thematisierung der Melancholie die Möglichkeitsbedingungen ihres und damit des theoretischen Diskurses überhaupt reflektiert. Die Melancholie zieht den progressiven Verlust von Referenz und Sinn, den Verlust der symbolischen Ordnung nach sich 37 , eine Gefahr, die nicht nur den literarischen, sondern auch den theoretischen Diskurs bedroht. Bezeichnet die Melancholie nicht das Schicksal des Theoretikers, zumal des Theoretikers der Avantgarde, der den Glauben daran verloren hat, seine Theorie kenne eine Entsprechung in der Realität, in der Praxis? Ist also Kristevas Auseinandersetzung mit der Melancholie eine Aufarbeitung des Scheiterns der politischen Zielsetzung einer Theorie der Avantgarde, die nicht zuletzt über neue Text- und Subjektmodelle realisiert werden sollte, ist sie mithin ein Versuch der Selbsttherapie? Betreibt Kristeva in Les Samoura'is mit ihrer »imaginären« Epochengeschichte, d.h. der Erzählung ihrer Entwicklung zum Subjekt der Theorie, ihre eigene Anamnese? L'affrontement du psychanalyste avec la döpression le conduit done ä s'interroger sur la position du sujet par rapport au sens [...]. Du point de vue de l'analyste, la possibility d'enchainer des signifiants (paroles ou actes) semble ddpendre d'un deuil accompli vis-ävis d'un objet archaique et indispensable, aussi bien que des Amotions qui s'y rattachent. Deuil de la Chose, cette possibility provient de la transposition, au-delä de la perte et sur un registre imaginaire ou symbolique, des marques d'une interaction avec l'autre s'articuIant selon un certain ordre. (Kristeva 1987:52)

Erneut taucht der Begriff des Imaginären an einer wichtigen Stelle auf, wenn es um die Bedingung der Möglichkeit der Subjektartikulation geht. Eine ihrer Voraussetzungen ist allerdings, und darin liegt die Schwierigkeit fur Literatur

37

»La myiancolie s'aeheve alors dans l'asymbolie, la perte de sens: si je ne suis plus capable de traduire ou de mdtaphoriser, je me tais et je meurs« (Kristeva 1987:54). Vgl. auch Kristeva 1987:62f.

58

Julia

Kristeva

und Theorie, daß die Arbitrarität der Zeichen akzeptiert wird. »Les signes sont arbitraires parce que le langage s'amorce par une denegation (Verneinung) de la perte, en meme temps que de la depression occasionnee par le deuil. [...]. Le deprime, au contraire, denie la denegation: il l'annule, la suspend et se replie, nostalgique, sur l'objet reel (la Chose) de sa perte« (Kristeva 1987:55). Der »deni« scheint die Bedingung der Möglichkeit der Zeichenproduktion.38 Die Akzeptanz einer semiotischen Differenz kommt am Ende allerdings einer Glaubensentscheidung nahe; Kristeva (le »theoricien melancolique«?) behilft sich mit einer Variante des Kierkegaardschen »saut psychanalytique« (Kristeva 1987:52) bzw. des Pascalschen »pari«: Poser l'existence d'un objet originaire, voire d'une Chose, ä traduire par-delä un deuil accompli, n'est-ce pas un fantasme de th6oricien m61ancolique? [...]. L'obsession de l'objet originaire, de l'objet ä traduire, suppose qu'une certaine adöquation (certes imparfaite) est considöröe possible entre le signe et, non pas le r£firent, mais l'expdrience non verbale du röförent dans l'interaction avec l'autre. [...]. Le pari de la traductibiliti est aussi un pari de maitriser l'objet originaire et, en ce sens, une tentative de combattre la döpression [...] par une cascade de signes destinie pröcisöment ä capter l'objet de joie, de peur, de douleur.« (Kristeva 1987:77f.)

2.3

(Auf-)Brüche: Perspektiven und Probleme postavantgardistiscner Ästhetik

2.3.1

"La possibilite de parier une histoire" - Kristevas Theorie des Imaginären

Die Psychoanalyse bietet nach Kristeva 1987:64 diskursive Strategien an, die, auf dem Schnittpunkt von affektivem und symbolischem System antidepressiv, sprachentwickelnd wirken und einen Weg aus der Sackgasse der Melancholie weisen, eine Sackgasse, deren literaturgeschichtliche Bedeutung im Hinblick auf die Avantgarde herausgestellt wurde. Im vorliegenden Kontext interessiert deshalb vor allem, inwiefern Kristevas psychoanalytisch gestützte Suche nach Möglichkeiten der Sinn- und Subjektkonstitution die Entwicklung eines intersubjektiven und differenztheoretischen Modells erlaubt, das poetologische bzw. ästhetische Relevanz besitzt. In diesem Zusammenhang fiel bereits mehrere Male das Stichwort des Imaginären.

»Le deni porte sur l'inscription intrapsychique (semiotique et symbolique) du manque [...]. En d'autres termes, le deni porte sur des signifiants susceptibles d'inscrire des traces sdmiotiques et de les transposer pour faire sens dans le sujet pour un autre sujet« (Kristeva 1987:56).

(Auf-)Briiche: Perspektiven

und Probleme postavantgardistischer

Ästhetik

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Einige Merkmale, die Kristeva mit diesem Begriff verbindet, sind bereits genannt worden. Faßt man zusammen, erscheint das Imaginäre als die Repräsentation von inter subjektiv begründeten, der Subjektkonstitution dienenden Introjektions- und Projektionsprozessen, die auch auf einer vorsymbolischen, körperlichen Ebene ablaufen. Der Vorgang der Repräsentation verbindet dabei das Imaginäre mit dem Bild (»Partie prenante de l'imaginaire, l'>image< est un discours figurant la construction: eile est une >visionnouveau rapport< - >nouveau< en ce qu'il restitue nouvellement la memoire involontaire d'un temps perdu [...] - se cherche ä travers le vide qu'ont laisse dans ce siöcle le vieillissement des croyances et la döbäcle des id6ologies. Pendant que la prioccupation technique d'efficaciti et de spectacle affadit ou crispe les religions tout en les rendant, pour cela meme et par moments, contagieuses; pendant que le reve d'une acc616ration rövolutionnaire de l'histoire se retire apres avoir sombre dans le totalitarisme - l'espace imaginaire demeure celui, le seul oü se ressource la singularity insaisissable [...]. II s'agit d'une troisiöme voie entre l'impatience de l'histoire dont nous refusons autant les promesses que les d£sastres, et la passion des corps röduits aux seuls langages utilitaires, iconomisant les mitaphores et les ambigu'it£s. L'imaginaire-roman nous incarne et nous d6place, il nous prend et nous iloigne. Nous dörivons, de plus en plus perdus et cependant retrouvös: divers, divergents, authentiquement impropres. (Kristeva 1994:391 f.)

Bei Kristeva wird Marcel Proust zum Postavantgardisten, jenseits von Gruppenbildung und revolutionären Träumen der Avantgarde; es gehe vielmehr um die »proliferation de singularites irreductibles: metaphores, phrases, caracteres« (Kristeva 1994:202). Damit werden einige der wichtigsten literarischen Erneuerungsbestrebungen der Nachkriegszeit in die Literaturgeschichte verabschiedet: Proust rigionalise dangereusement la littörature qui lui succfede, en la situant dans la politique (quand cette litterature aspire ä l'universaliti, comme chez Malraux ou Sartre), dans la religion drotique (quand eile cultive la transgression avec Bataille ou Genet) ou dans l'esth&isme (quand eile feint d'ignorer son adhösion au langage convenu, pour etre mieux admise car eile en est, mais en le d&iiant: tels le nouveau roman ou le minimalisme postmoderne). Ni d'un cöte, ni de l'autre, sans cesse au-delä, Proust ne cesse de deranger tous ceux qui veulent >en etreQu'est-ce que< signifiant ici: comment les dire? L'expdrience amoureuse comme dynamique de la crise et de la renovation subjective et discursive, et son corrilat linguistique, la m0taphoricit£, paraissent etre, de ce point de vue, au centre d'un debat essentiel. (Kristeva 1983a:340f.)

Tatsache, daß sie aus der hier angesprochenen literarischen Erfahrung in einem früheren Buch die Aufgabenstellung der Psychoanalyse ableitet als »genealogie des signes cognitifs. Faire basculer le cogito vers la sensation. [...]. Le temps retrouve n'est rien d'autre que le sujet, mais seulement pour autant que quelqu'un soit capable de disenfouir, sous le langage cognitif, la perception elle-meme« (Kristeva 1993:153). Die wiedergefundene Zeit wäre dann »celui de la mömoire infantile: une experience sensorielle transcognitive« (Kristeva 1993:152).

64

Julia Kristeva

Der von Kristeva gewählte konzeptuelle Rahmen verdeutlicht hinlänglich, daß ihre Theorie des Imaginären sowie ihr Innovationsbegriff weit von geschichtsphilosophischen Auffassungen linearer Progression entfernt sind, welche die Position der Avantgarde gekennzeichnet hatten.42 Sie spricht von der Dauer, die das Absolute ersetzt habe, bezeichnet die Psychoanalyse als »le moment le plus interiorise de l'historicisme occidental« (Kristeva 1983a:342) und operiert konsequenterweise mit einem psychoanalytisch verstandenen Zeitbegriff: Si le Temps est le temps psychique, s'il modöle nos corps en consequence, alors il demeure l'unique valeur imaginaire que le roman puisse proposer ä la communion des lecteurs. [...]. Par l'intermödiaire du temps, Proust est ä la recherche d'un imaginaire >incorporölangage-reel< du pervers« (Kristeva 1993:71).45 Die Frage bleibt also offen, ob die Literatur noch die geeignete Form ist, um der »structure ouverte« der Psyche in der heutigen Gesellschaft gerecht zu werden. 46

45 »Je considirais done la perversion comme une non-liaison entre les pulsions et leurs reprösentants psychiques d'une part, le langage ainsi que le fonetionnement symbolique d'autre part. Cette non-liaison laissait le corps ä döcouvert, exposö aux somatisations. L'auto-drotisme et le discours artificiel £taient une tentative de pallier les effractions par la constitution non pas d'une identite, mais d'une totality ovoi'de, autogöröe et autodigirante, sadique-anale, sans manque et sans autre« (Kristeva 1993:27). »Comme il y a des personnalitds >comme si.structures ouvertesobjectiviticelui qui a change d'idees«< (Barthes 1979:9), welches verkenne, daß Sollers nichts anderes versucht habe, als alle (Selbst-)Bilder zu verwerfen, sie oszillieren zu lassen, argumentiert Roland Barthes 1979:89: il rejette la derniere image possible: celle de: >celui-qui-essaye-des-directions-diff0rentesavant-de-trouver-sa-voie-d£finitive< (mythe noble du cheminement, de l'initiation: >apr6s bien des errements, mes yeux se sont ouvertsind6fendabler6volution < est un terme d'astronomie, et pourtant quelle fortune en dehors des astres! (Barthes 1979:7) Qa se produit quand la pens£e (ou le disir) de la fin exc£de le temps prösent, le calcul präsent. [...]. La littörature est sa voix, qui, par un renversement >paradisiaqueoscillation< ä une attitude mystique puisqu'il pense s'attaquer ä l'immobilite, ä la mortification de l'Image, brouiller par exemple la reprdsentation de l'intellectuel comme figure de la Bonne Conscience, est une action dangereuse, extreme [...]. Pourquoi pas? Ce texte a 6ti £crit en 1978, ä une dpoque oü le Spectacle n'avait pas encore pris sa courbure d6finitive, il faut attendre les annies 80 pour voir surgir techniquement - nous y sommes maintenant ä plein regime - ce qui va se donner comme spectaculaire intögri [...]. L'anticipation de Barthes est done tout ä fait ötonnante.5 (Sollers 1993a:24)

Barthes antizipiert mit seiner Bemerkung über Sollers' eschatologische Literatur gleichsam die Entstehung der 1983 gegründeten, Tel Quel nachfolgenden Zeitschrift L'inßni, sowie Sollers' Beschäftigung mit dem Sakralen im Lauf der 80er Jahre (s.u.). In der Tat hatte Barthes bereits 1973 Vorbehalte gegenüber einem reinen Strukturbegriff zum Ausdruck gebracht; er bevorzuge, »le spectacle (la fiction) ä la structure, parce que la fin de toute structure est de constituer une fiction, un >fantöme de thiätre* (Bacon)« (Barthes 1979:74), und damit auf eine der Metaphern verwiesen, mit denen Philippe Sollers sein eigenes Werk beschreibt, »l'id6e d'un espace rigoureusement irrepresentable.

74

Philippe Sollers

Hier wird die Oszillation nicht mehr auf die Literatur, sondern auf die Bildund damit Stereotypenflut der Informations- und Mediengesellschaft der Gegenwart bezogen. Ähnlich wie Kristeva spricht auch Sollers von einer Antizipation Barthes1; bezog sie sich bei Kristeva auf den Begriff der »etrangete«, so im Falle von Sollers auf das nicht weniger differenztheoretisch relevante Konzept der Oszillation. Diese Zuschreibung situiert die Autoren, hier Philippe Sollers, in einer literaturgeschichtlichen Konstellation, die von Distanz und Nähe zugleich bestimmt wird und die historische Ordnungsversuche gerade verhindern soll.

3.1.2

Sollers und der »refus d'heriter«: Kontinuität und Bruch als literaturgeschichtliches Paradox

Wenn zuvor von der scheinbaren Paradoxie von gleichzeitigem Bruch und Fortsetzung der Avantgarde die Rede war, dann könnte die Vorstellung einer Oszillation (dieser literaturgeschichtlichen Begriffe) den Versuch darstellen, sie aufzulösen, oder zumindest, sie darstellbar zu machen.6 Auch Sollers räumt die Möglichkeit einer Paradoxie ein: so stimmt er zwar mit Barthes in der Diagnose eines Bruchs überein, dies hindert ihn jedoch nicht daran, Kontinuitätshypothesen zu artikulieren: Alors ce que je dis a l'air paradoxal, je parais laisser entendre que la mise en scöne de mes premiers livres 6tait une mise en sc£ne de paroles. Tout le monde aurait dit, moi y compris, que c'ötait l'öcriture de l'icriture, l'icriture en train de se dicouvrir öcriture, l'äcrit sur l'icrit, le sujet de l'öcriture, etc. Eh, foutre! Je n'ai jamais dit que ce n'etait pas la fa9on d'avancer masqu6. (Ja ne veut pas dire qu'il n'y a pas eu des tas de philosophes pour penser que j'dtais le type qui öcrit. Mais je n'ai jamais έίέ le type qui öcrit. Je suis, depuis le döbut, le type qui se sert, notamment, de l'0criture. [...]. Tout 9a, pour moi, est de l'ordre du semblant, du theatre, au sens mitaphysique du terme. [...]. Pour moi, il y a done une continuity totale et aueune rupture, de meme qu'il n'y a aueun changement au niveau de ce que j'appellerai mes prestations d'opinion. 7 (Sollers 1986e:276f.)

C'est-ä-dire de reprendre au theatre sa structure meme de reprisentation pour abolir toute representation« (Sollers 1991h:38). Bereits 1970 hatte Sollers eine Vorstellung der »ecriture g£n0ralis£e« gegen den Avantgarde-Klassik-Gegensatz gesetzt: »Evidemment, il ne faut pas tomber dans un autre ptege de l'ideologie bourgeoise qui consiste ä valoriser le nouveau comme nouveau [...]. II faut que le travail reel, le travail revolutionnaire reel dans le langage se presente comme ni ancien ni nouveau: il doit absolument rompre avec cette dichotomie, cette fausse opposition, oü on trouve justement que les deux courants se rencontrent, les deux th£mes sont en complicity l'un avec l'autre« (Riponses, in: Tel Quel, 43 [1970], 72). Daß Sollers seine Thesen mit der Apostrophe »Eh, foutre!« vorbringt, läßt eine Anspielung auf den Beginn von Barthes' Degre zero de l'ecriture vermuten: »H6bert ne commen^ait jamais un numiro du Pere Duchine sans y mettre quelques >foutre< et quelques

Sollers und die Oszillation literaturgeschichtlicher

Kategorien

75

Dieses Zitat verdeutlicht die Probleme, die eine Beurteilung von Sollers' Texten der 80er und 90er Jahre so schwierig machen. Denn selbst wenn man die von Sollers im Rückblick vorgenommene Distanzierung von der »ecriture«, die er nur benutzt habe (zu welchem Zweck?), nicht akzeptiert, selbst wenn man, anders als er selbst, die Widersprüchlichkeit seiner Aussagen nicht darin sieht, daß seine eigene Einschätzung und die der Kritiker divergieren, sondern vielmehr darin, daß Sollers einerseits die Historizität des eigenen Werkes verleugnet (es habe keinen Bruch in seinem Werk gegeben), andererseits aber sich selbst in die Gruppe derjenigen einreiht, die eine solche Historizität und damit einen Bruch in den ästhetischen Auffassungen angenommen hatten (»Tout le monde aurait dit, moi y compris, que c'etait l'ecriture de l'ecriture«, Hervorhebung von A.G.), selbst und gerade dann muß man die Schwierigkeit eingestehen, historiographische Aussagen über die Entwicklung des Werkes von Philippe Sollers zu treffen. Er selbst bezieht eine ambivalente Position, welche die Behauptung von Kontinuität und Bruch gleichermaßen zuläßt. Mehr noch, die Verwendung des Begriffs der Maske als Ausdruck von Inauthentizität und gleichzeitigem Indikator einer möglichen, nicht offen sichtbaren Identität läßt sowohl eine avantgardistische Interpretation des Schreiben Söllers' zu, nach der sein Schreiben um eine Leerstelle kreist, die zum Stimulus des zu schreibenden Buches wird (Barthes 1979:7 sprach im Hinblick auf Sollers von einer »ethique de l'ecrivain, qui l'oblige ä risquer tout de suite l'enigme de son oeuvre«), als auch eine postmoderne Deutung, nach der sich Sollers' Schreiben am ständig wechselnden Spiel der Masken gefällt, und er dieser Differenz epistemologische Qualität zuspricht. Dieser doppelte Bezugsrahmen und die Schwierigkeit einer eindeutigen Zuordnung lassen das Werk von Philippe Sollers geeignet erscheinen, die Frage nach dem Schicksal der Avantgarde zu stellen, deren Entwicklung er und die von ihm dominierte Gruppe Tel Quel wesentlich beeinflußt haben. Zunächst noch ein pointiertes Beispiel für die scheinbar paradoxe Selbsteinschätzung Sollers', die erneut Roland Barthes ins Spiel bringt. Dieses Beispiel erscheint v.a. deshalb interessant, weil es eine zeitliche Spanne von 1968 bis 1992 umfaßt, also den Zeit-

>bougresretour äde gauche< allant des Etats-Unis au Japon, une galaxie enti£re avec ses amas, ses constellations, ses meteores... Marxisme, psychanalyse, linguistique... >Nouveau Romanintermezzo< [...]: tout ce qu'il produisait etait finalement inter cale: mais entre quoi et quoi? Que veut dire une suite pure d'interruptions?« Bereits Söllers' 1979 erschienener Roman Paradis, der durch den völligen Verzicht auf Interpunktion die komplexe Struktur einer Konstellation wiederzugeben bemüht ist, scheint eine angemessene Antwort auf Barthes' Frage bereitzuhalten, jedenfalls wählt Sollers 1986f:214 eine an Barthes' Frage angelehnte Formulierung und erteilt dabei sowohl linearem als auch zyklischem Geschichtsdenken eine Absage: Paradis est un livre violemment anti-liniaire et anti-cyclique. [...]. C'est un temps d'önonciation qui vise la constitution de la plus grande memoire possible, et la plus grande memoire possible se montre sous un travail trös insistant d'accumulation et d'interruption. Une continuite d'interruption [Hervorhebung von A.G.]. C'est ainsi que cette forme m'a έίέ imposöe. 1 4

Diskontinuität als Problematisierung von Zeit und Geschichte meint für den Sollersschen Protagonisten nicht mehr die produktionsästhetisch und ideologiekritisch gegen überkommene Geschichtsphilosophien gerichtete und durch literaturtheoretische Modelle der Differenz abgesicherte Subvertierung bürgerlicher Ideologie im Kunstwerk; die Vorgabe der Avantgarde der 60er und 70er Jahre ist mittlerweile von der Wirklichkeit eingeholt worden. Hat sich nicht die Geschichte der »posthistoire« selbst um das historische Attribut gebracht, und, wenn dies so ist, muß dann nicht die Literatur, auch die vormals »geschichtslose«, darauf reagieren; beispielsweise, indem sie sich auf die Suche nach der bzw. einer verlorenen Geschichte macht? Hier kommt nun das synchrone Begriffsverständnis von Diskontinuität ins Spiel, i.S. der Kontingenz literarischer Form. Wir befinden uns an der Nahtstelle zwischen der literaturgeschichtlichen Entwicklung des Literatursystems und seiner Aktualisierung, d.h. der Entstehung eines neuen Textes in einem synchronen Zusammenhang. Die folgende Frage an die Schrifitstellerfigur in Portrait du joueur weist auf diese beiden verschränkten Aspekte hin, und es handelt sich dabei

14

Er spricht an gleicher Stelle auch von einem »temps prophitique. Un temps ä Eclipses. On peut imaginer un proph0te qui prophdtiserait comme un feuilletoniste« (Sollers 1986f:214). Zum Konzept einer »histoire feuilletie« vgl. Sollers 1993a:37.

Text-Konstellationen:

Sollers Ȋ la Recherche de l'Histoire

perdue«

81

um ein für die 80er Jahre sicher typisches Zitat: » - Vous vous considerez comme en dehors de l'Histoire? - Au contraire, au contraire... Je pense que l'Histoire est en train de se debarrasser de l'Histoire. Et que c'est meme la, maintenant, toute l'Histoire« (Sollers 1984:218). Und selbst wenn Sollers 1992b: 119 zu Beginn der 90er Jahre in Le secret von einem »recommencement subversif« der Geschichte spricht, heißt dies noch lange nicht, daß deren Determinanten offen zutage treten würden 15 ; auch hier ist die Umkehrung beachtenswert, muß der vormals subversiv wirkende Text nun auf die subversiv verlaufende Geschichte reagieren. Die Aufgabe bleibt also bestehen: »Je pourrais aussi bien appeler ma navigation A la recherche de l'Histoire perdue« (Sollers 1992b:228).16 Die Wahrnehmung von Geschichte als Wahrnehmung von Formfragmenten (so bezeichnet er unter Rückgriff auf Poes Erzählung Der Maelstrom die Geschichte als einen Fluß voller Trümmer, die zu keinem Ganzen mehr zusammengesetzt werden könnten, vgl. Sollers 1986e:277ff.) wird nach Sollers 1986c: 128 heute noch dadurch erschwert, daß die fortschreitende Mediatisierung der Lebenswelt die Wahrnehmung von Geschichte in Frage stellt. Die Rolle der Fiktion ist dabei durchaus ambivalent: Zwar kann sie durch ihren Doppelcharakter (Sollers 1986i:25 spricht auch von »double« oder »doublure«) und die dadurch bewirkte Eröffnung von Möglichkeitsräumen zur Quelle von Freiheit werden, andererseits muß sie sich an den Kriterien des »semblant, du theatre« (Sollers 1986e:276), des Simulakrums messen lassen, öffnet sie sich manipulativem Zugriff durch zunehmende Normierung des fiktionalen Gehalts. Diese Argumentation ist uns bereits von Julia Kristeva, aus einem stärker psychoanalytischen Blickwinkel, bekannt. Informations- und Bilderflut, diese Merkmale der in Anlehnung an Guy Debord von Sollers so benannten »societe du spectacle« bedrohen die Literatur und ihre kritische Fähigkeit in ihrem Bestand, setzen auf der anderen Seite aber ggf. neue Möglichkeiten künstlerischer Gestaltung frei, die sich als ihr Rettungsanker herausstellen könnten (so spricht Sollers 1986f:202 von der Notwendigkeit fur die Literatur »de coller autant que possible ä l'imaginaire tel6matique de l'ipoque«). Die Determinanten des Sollers-

15

16

Muß man hier die von vielen als Manie abgestempelte Eigenart Sollers1 einordnen, in immer neuen Abkürzungen diejenigen Kräfte zu benennen, die als anonyme gesellschaftliche Machtkonstellationen Individualität bedrohen: OEUF (Sollers 1984:216), ASTHME (Sollers 1992b:38), etc. Forest spricht hier sogar von einem »empire des sigles« (Forest 1992:321), die als Indiz auf anonym die Gesellschaft dominierende Kräfte hinweisen. In diesem Zusammenhang erwähnt er Tocqueville und Orwell (Forest 1992:322). Vgl. ähnliche Stellungnahmen in Sollers 1986f:209, wo es mit Bezug auf Paradis heißt: »tout cela ne va nulle part mais reclame de s'autodöchiffrer en permanence. Done c'est un coup d'arret ä ce que serait une vision lindaire de l'histoire allant vers un but, et c'est le commencement d'un tourbillon plus plan6taire qui consiste ä faire apparaitre des dates, simples chiffres en train de rouler comme combinaisons d'un coffre-fort qui serait le sens.«

82

Philippe

Sollers

sehen Werkes der 80er und 90er Jahre sind damit hinlänglich konturiert. Sichtbar wurde v.a., wie sehr der Verlust gültiger Vorstellungen von Geschichte und Subjektivität mit dem Text als ein Problem der Formsuche verknüpft wird. In diesem Zusammenhang erlangt, wie im obigen Zitat gesehen, der Gedächtnisbegriff eine besondere Bedeutung. Der Gedächtnisbegriff, literarisch gewendet der Begriff der Intertextualität, erscheint dabei eher als Ausdruck der hier zusammengefaßten Problematik denn als Patentlösung: Im Hinblick auf das Subjekt bringt die Vorstellung der Memoria genau die Diskontinuität (Präsenz, Absenz, die Frage der Selektion, der Gestalt) auf den Begriff, deren Auswirkungen auf die literarische Form analysiert wurden und auf die sie reagieren muß.

3.3

Sollers und die Religion

3.3.1

Je suis qui Je serai - Das Subjekt im Zeichen des Unendlichen

Wenn Philippe Sollers für die 80er Jahre, v.a. aber zu Beginn der 90er Jahre die »recherche de l'Histoire perdue« zum ästhetischen Programm erklärt, läßt sich v.a. für die erste Hälfte der 80er Jahre der parallel dazu verlaufende Versuch beobachten, in der Beschäftigung mit dem Thema Religion den universellen Anspruch der literarischen Avantgarde in einem sicher ungewöhnlichen Gegenstandsbereich aufs Neue zu thematisieren, den Verlust des historischen Bezugsrahmens zu kompensieren: »L'histoire ne tranchera pas puisque, je vous dis, e'est le maelstrom. Moi je ne plaide pas histoire [...]. Je ne dis pas que je vous donne rendez-vous ä la fin de l'humanite, je dis que je m'occupe de la logique de l'universel, notamment sur son Symptome cle des deux mille dernieres annees« (Sollers 1986e:281).17 Man kann darin sicher nicht zuletzt auch einen Reflex auf Barthes' bereits zitierte Einschätzimg der Sollersschen Texte als eschatologische sehen. Das Besondere dieser Betrachtung des Universellen, der Totalität (einer Form) im Gewand des Sakralen, und insofern fügt es sich in den bisherigen Argumentationsrahmen ein, liegt darin, daß die-

17

Vgl. v.a. Sollers 1991c, 1986d, 1986e, 1986h, 1981, 1983 und 1992a, ein Band, der Interviews aus den Jahren 1982-1985 enthält. In späteren Interviews, etwa dem 1993 erschienenen »Les secrets de Philippe Sollers«, werden Fragen zum Verhältnis von Religion und Ästhetik in Form eines Rückblicks auf seine Texte der 80er Jahre erörtert. Ist dieser Ansatz in Le secret (1992) also wieder überwunden, wenn es dort unter Bezugnahme auf die Ausbeutung der AIDS-Problematik in den Medien heißt: »Un historien fiitur dira peut-etre: en ce temps-lä, quelle imitation endiablie du catholicisme! Quelle passion Iiturgique! Quel matraquage d'images, de messes ä l'envers dans les chambres noires! Etait-ce pour c£16brer un suicide ginöralisö?« (Sollers 1992b: 144).

Sollers und die Religion

83

ses Bildfeld zumindest für Sollers i.S. negativer Theologie gerade die problematische Erkenntnis des Sakralen als Leerstelle thematisiert und mit dem Formbegriff - verstanden als »unkenntliche« Form - verbindet; es stellt also vielmehr, als daß es sie beantwortet, die Frage nach universeller Bedeutung und Geltung, ist letzten Endes nur eine andere Ausprägung der »recherche de l'Histoire perdue« als Suche nach einer (literarischen) Form. Diese Parallele gilt auch für die formsetzende Subjektivität: Sollers 1986d:35f. spricht von einer »theologie verbale«, bei der es darum gehe, »de s'elever, comme singularity absolue, au-delä meme de l'infini«. Man wird Sollers sicher nicht fehlinterpretieren, wenn man sagt, daß die theologische Erörterung im wesentlichen epistemologische und ästhetische Allegorie ist, es ihm dabei nicht primär um religiöse Inhalte geht. Daß sich Philippe Sollers über einen längeren Zeitraum mit der religiösen Problematik auseinandersetzt, mag nicht zuletzt polemisch begründet sein. Seine Ansicht, die Avantgarden hätten die Literatur sakralisiert, ohne daß über das Phänomen des Sakralen als solches nachgedacht worden wäre, würde in diese Richtung deuten, ebenso aber auch seine Beobachtung heftiger ideologischer Brüche im Frankreich der 70er Jahre. Dazu gehörte nach Sollers 1991f: 185 die v.a. durch die SolchenitsynLektüre geforderte Erkenntnis, in welch hohem Maß der Kommunismus religiösen, ideologischen Strukturen entspricht.18 Daß es ihm insgesamt nicht um spezifisch christliche Inhalte, sondern stärker um Formprobleme geht, zeigt seine Antwort auf die Frage, wo denn eine mögliche Gemeinsamkeit seiner Beschäftigung mit so disparaten Gegenständen wie dem dialektischen Mate-

18

Die Frage nach dem Scheitern der Aufklärung spielt hier eine wichtige Rolle: »II se trouve que depuis un certain temps est reposö le problfeme de ce qu'il en est d'un signifiant fondamental pour notre civilisation, savoir s'il tient le coup ou s'il ne tient pas le coup. Aprös qu'on eut cru l'öclairer ou le dissoudre par la philosophie ou l'application politique du discours philosophique, on est bien obligi, devant l'effondrement de l'histoire du X X e stecle, d'aller sonder un peu plus loin, un peu plus profond« (Sollers 1991c:l 14f.). Forest 1995:542 verweist darüber hinaus auf den Einfluß von Ren6 Girards Des choses cachies depuis la fondation du monde, sowie auf Bernard-Henri Livys Le Testament de Dieu, beide Ende der 70er Jahre erschienen. »Pour Girard comme pour les ecrivains de Tel Quel, la Bible constitue moins l'une des formes nouvelles du sacrö que la possibility d'une rupture definitive d'avec celui-ci. L'analyse de la violence mimitique produite micaniquement par I'inauthenticit6 du dösir rösonne avec le pessimisme politique de Tel Quel condamnant toute soctetö comme mauvaise. Dans sa demarche meme, Girard [...] entend lui aussi rompre avec un certain nihilisme ηέ de l'enlisement du post-structuralisme [...]. La reference au christianisme est necessaire ä l'invention d'une >positivite< nouvelle« (Forest 1995:544). Die Parallele zu Bernard-Henri Levy sieht Forest darin, daß auch dieser den jüdischen Monotheismus als »digue fragile contre le paganisme idolätre dont procfcdent totalitarismes et ideologies [betrachtet habe], [...] Comme Girard [...], comme Sollers dans Paradis, Levy oppose le monothdisme au sacri« (Forest 1995:545). Vgl. auch Kristevas Auseinandersetzung mit dem Judentum im Kontext ihrer Behandlung der »abjection« in der Celine-Studie.

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Philippe

Sollers

rialismus, chinesischem Denken und der Theologie liegen könnte - womit zugleich verschiedene Etappen der Entwicklung Sollers' benannt und unter einem neuen Gesichtspunkt vereint werden: La question est celle de l'infini. De l'approche de cette question dependent toutes les formes et toutes les transformations έ l'interieur de ces formes. [...]. II y a un abime entre se placer par rapport ä un infini externe et etre en train de parier dans l'infini lui-meme. [...] si le poudroiement corpusculaire du langage saisi par l'infini n'etait pas susceptible d'un traitement logique extremement rigoureux, on aurait tout simplement ä faire ä la simulation psychotique. 1 9 (Sollers 1992a: 16)

Sollers sucht die Grenzen nunmehr konturloser Subjektivität auszuloten, indem er sie mit dem alle Grenzen überschreitenden Subjekt Gott gleichsetzt. In der Konstellation des »sens absent« (Sollers 1991c: 126) ergreift ein gottähnliches Subjekt das Wort und erschafft sich seinen Sinn. Es geht also wie bei Kristeva um das »sujet d'enonciation«, um die Position des Subjekts in der Sprache. Wie sehr sich Barthes und Sollers trotz aller Bezüge unterscheiden, zeigt der Umstand, daß Barthes Loyola als den Erfinder einer Sprache gegenüber einem stummen Gott betrachtet (Barthes 1971:80), während Sollers nur von der Person Gottes aus glaubt, die Rolle des Schriftstellers in der heutigen Zeit angemessen erfassen zu können. So heißt es zum Beispiel über das Subjekt in einer Formel, die historisch zur Definition des Gottesbegriffes verwendet wurde: »faire sentir le sujet comme ayant sa circonference partout et son centre nulle part« (Sollers 1981:95).20 Immerhin wird hier erneut das Primat des Formbegriffs deutlich. Die problematische Identität des Künstlers demonstriert Sollers, wie die folgenden Zitate belegen, am Beispiel der JahweFormel: »Ich bin, der ich bin (und, der ich sein werde)«. 21 Diese Formel verknüpft die Dimension der Zeit mit derjenigen der Identität. Die Nichtidentität wird dabei - wie einst im utopischen Diskurs der Avantgarde auf die Geschichte - nun auf eine Identität bezogen, die alle Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in sich aufnimmt. Um einen Eindruck vom hermetisch-

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2

'

Die über die primär religiöse Fragestellung hinausgehende Sichtweise dieses Problems zeigt sich schon allein darin, daß das Infini zum Titel seiner nach Aufgabe von Tel Quel und dem Verlassen des Verlags Seuil bei Gallimard gegründeten Zeitschrift wurde. In mehreren Interviews dieses Zeitraums finden sich ähnliche Verwendungen dieses Begriffs: »?a s'infinitise au präsent, et 9a c'est rigoureusement scandaleux« (Sollers 1991c: 148). Oder: »signer la page infinie, flottante, emportde, consumde« (Sollers 1981:18). Die gleiche Formel hat Sollers im Laufe der Jahre allerdings zur Definition von fast jedem Begriff gedient. Philippe Forest sieht in dieser totalisierenden Perspektive sogar Sollers' Antwort auf die Polemik zwischen Francis Mauriac und Jean-Paul Sartre, auf eine »des plus c616bres polemiques de l'histoire littöraire fran?aise: Dieu est bien un artiste, et Philippe Sollers igalement!« (Forest 1992:217). Das große Fremdwörterbuch. Herkunft und Bedeutung der Fremdwörter. Mannheim 1994, s. Jahwe.

Sollers und die Religion

85

spekulativen Charakter der Überlegungen Philippe Sollers1 zu vermitteln, und damit von der Schwierigkeit ihrer literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung, seien an dieser Stelle einige ausfuhrlichere Zitate erlaubt, die die Verwendung des skizzierten Argumentationsschemas dokumentieren: II y a trois moments dans ce que dit Dieu: Je suis, je serai qui je suis. Je suis qui je suis. Je suis qui Je est. Je serai qui je serai. £ a däsigne ce Je quelque chose qui serait inaccessible ä prendre de l'intärieur. Je suis qui Je est. Je suis qui Je suis. Je suis qui Je serai; ou Dieu parla, parlant, disant: parle, c'est rigoureusement la meme chose, c'est-ä-dire, allez vous y jeter vous-memes si vous voulez etre enfin un sujet. Mais c'est präsentö comme impossible. (Sollers 1991c:122) passä-participe präsent-impäratif, ce qui est son präsent, qui est un präsent de toute ätemitä, un präsent qui n'est pas du temps, un präsent futur, un präsent passä, j'ai ätä je suis je serai [...]. (Sollers 1991c: 127) Ce que j'ai ätä, je le suis, non pas d'une fa9on arithmätique comme une addition composäe de diffärents passäs, mais comme un bloc, une colonne, une Sphäre dont la circonfärence serait partout et le centre nulle part. Ici, en ce moment meme, lä-bas, autrefois, ici. Si je disparais, le passä disparait avec moi? Pas du tout, puisque je ne suis pas une somme en cours d'opäration, allant vers un terme fixe, un-plus-un-plus-un-plus-un tombant sur zero, mais l'ensemble vibrant de rapports dägagäs par un battement stable. J'ai ätä, je suis, je serai. Je suis ete. Faute de grammaire? Eh bien, j'affirme cette faute qui, en fran^ais, donne, en plus, la couleur du beau temps. Irradiation fine. Präsent sur präsent, sans fin, sans enfance, sans jeunesse, sans maturitä, sans vieillesse, et sürement pas le faux präsent ou je dois mourir [...]. Präsent intägral qui a ätä lä, qui sera toujours lä, meme si tout a disparu de ce qui le composait. L'amour est la dimension de Yiti-est-sera. (Sollers 1992b:139f.)

3.3.2

Allegorische Poetik im Zeichen des Barock

Es wurde behauptet, Sollers' Argumentation mit der Theologie stelle eine epistemologische und ästhetische Allegorie dar. Neben allgemeinen und sehr abstrakten Gedankengängen verdeutlicht Sollers das durch einen Rückgriff auf den Barock, der kulturgeschichtlich selbst durch seine Vorliebe für allegorische Verfahrensweisen gekennzeichnet ist. Diese Parallele wird Sollers gleichsam zur historischen Allegorie einer (allegorischen) Poetik. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Barock wird ihm damit bereits zur Illustration des ästhetischen Verfahrens, das er aus seiner Beschäftigung mit dem Barock ableitet. Die Auseinandersetzung mit dem Barock und der Allegorie rückt Sollers in große Nähe zu den Überlegungen Benjamins, den er jedoch an keiner Stelle erwähnt oder zitiert. Ähnlich wie dieser situiert Sollers seine Überlegungen im Horizont der Merkmalsbestimmung einer modernen Kunst, er spricht sogar von »postrevolutionärer« Kunst. Wo Benjamin aber noch den Glauben als Klammer allegorischer Deutung ansah, die für ihn bei rein ästhetischer Betrachtung in ihrem semantischen Gehalt zerfallen mußte, sieht Sollers dieses Problem nicht. Das Gefühl von Melancholie, das Walter Benjamin mit der Allegorie und der in dieser Figur aus ihrem transzendenten Sinnzu-

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Sollers

sammenhang herausgelösten Geschichte verband, und das wir auch bei Kristevas Erörterung der literarischen Avantgarde und ihres Schicksals wiederfanden (Kristeva 1987:113f. erwähnt Benjamin auch explizit), scheint Sollers trotz der Erkenntnis der Relativität und Historizität ästhetischer Positionen vollkommen fremd. Ganz im Gegenteil spricht Sollers 1991c: 116 von einer »constellation catholique« als »matrice d'une certaine elaboration esthetique pour l'histoire occidentale« - dies ist nicht zuletzt auch seine Sichtweise des Barock. 22 Daß es sich bei dieser Zuwendung zur Allegorie um Söllers' Reaktion auf die Abkehr vom avantgardistischen, modernen Hintergrundschema der Revolution handelt - nicht umsonst ist die Allegorie bevorzugtes Thema der Postmoderne-Debatte - , kann das folgende Beispiel verdeutlichen, in dem Sollers die Allegorie im Horizont der Frage nach dem Erbe der Revolution diskutiert. In einem aus Anlaß des »Bicentenaire« der Französischen Revolution veröffentlichten Text wertet Sollers den Revolutionsbegriff ohne viel Aufhebens i.S. einer Apotheose des Individuums um und befreit ihn von jeglichem Ideologieverdacht (Sollers 1991i:20). Auch diese Einschätzung ist uns bereits von Julia Kristeva bekannt. Angesichts des konservativen Duktus der Debatten, die in Frankreich aus Anlaß der 200-Jahr-Feier der Französischen Revolution gefuhrt wurden, war dies sicher keine mehrheitsfähige Position. Sollers fuhrt exemplarisch vor, wie ein Legitimationsdiskurs, der lange Zeit seine Romanproduktion und sein gesellschaftspolitisches Engagement bestimmt hat, nicht einfach aufgegeben, sondern durch semantische Umwertung auch für die »periode post-revolutionnaire que nous vivons« (Sollers 1991i:37) bewahrt wird - auch dies eine mögliche Art und Weise, literaturgeschichtliche Kontinuität zu simulieren. Sollers empfindet es dabei nicht als Widerspruch, daß er das von ihm selbst favorisierte allegorische Verfahren bei radikalen Vertretern der Französischen Revolution und ihrem Kult um das »etre supreme« als

22

Die von Sollers an gleicher Stelle vorgebrachte Pointe, der Katholizismus bedeute filr ihn die Überwindung der Religion, kommentiert Philippe Forest 1992:237 folgendermaßen: »Le catholicisme, de manifere bien difßrente, est präsente comme la logique et rigoureuse construction esthitique, intellectuelle et ithique qui permet de mettre en ichec le paganisme toujours renaissant dans lequel se complait l'espöce humaine.« Unter Rekurs auf Freuds Totem und Tabu sowie das biblische Wirken der Propheten gegen den Aberglauben sieht Sollers im monotheistischen Christentum und seiner göttlichen Vaterfigur eine gesetzgebende und gesellschaftskonstituierende Kraft, die sich gegen die zyklischen und als weiblich konnotierten Naturreligionen richtet (Forest 1995:541f.). Die beschriebene ästhetische Wirkung des Katholizismus, die Forest 1992:239 als eine Art negative Dialektik ansieht, macht allerdings vor seiner eigenen transzendenten Dimension nicht halt. Dieser Umstand wird filr Forest, nun allegorisch auf den Text bezogen, zur Bestätigung der jeden Glaubens- oder Wissensbestand subvertierenden Kraft der »öcriture«. In dieser Einschätzung liegt immerhin ein weiteres Argument dafür, Söllers' Beschäftigung mit der Religion nicht unter theologischen Gesichtspunkten zu betrachten.

Sollers und die Religion

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ideologisch kritisiert: »Qu'est-ce que le mauvais goüt? Un bazar de pieces rassemblees qui n'ont aucun rapport d'historicite, voire de consistance signifiante entre elles, et qui sont mises ensemble pour faire une stele en fonction d'un transcendantal qui n'est pas dans sa position d'origine, qui est decale de son origine« (Sollers 1991i:24). Das von ihm in den eigenen Romanen gewählte, vergleichbare allegorische Verfahren bleibt vielleicht einfach nur deshalb von der im Zitat erhobenen Kritik, bzw. von der in ihrer Folge zu erwartenden Melancholie, die Benjamin und Kristeva im Hinblick auf die sinnstiftende Funktion der Allegorie herausgestellt haben, unberührt, weil die Transzendenz seines Textes doch immer nur der selbstreferentielle Text bleibt - so kann man nicht zuletzt auch seine Interpretation christlicher Barockkunst sehen 23 - , auch wenn er vorgibt, diese Haltung zum Text zu problematisieren. Man kann sich fragen, ob der von ihm vermißte und reklamierte »rapport d'historicite«, die wiederentdeckte Geschichte, wirklich durch programmatische Paradoxien eingelöst werden kann. So erklärt er, er konstruiere literarische Konstellationen, in denen z.B. Voltaire dem Katholizismus zur Hilfe eilt, um einen, wie gesehen, vornehmlich als ästhetische Allegorie aufgefaßten Barock gegen den von gewissen Vertretern der Französischen Revolution unternommenen Versuch der Durchsetzung einer ideologisch begründeten Universalreligion zu verteidigen; diese Konstruktion entspricht durchaus dem von ihm selbst aufgestellten Merkmalskatalog des schlechten, allegorischen Geschmacks. Seine gleichsam individualistische Interpretation des Barock verharrt darüber hinaus in einer paradox anmutenden Kontinuität zu Kollektivvorstellungen der Avantgarde. Eine gezielte Reminiszenz auf das militärische Vokabular der Avantgarde kann nämlich in den folgenden Worten gesehen werden: »On y est. A la fran^aise! Contre-attaque! Furia francesei Dans le roman! Bien sür! Evidemment! le Too French se rebiffe! Se fache! Le Due avec nous! En tete! A roriflamme! A l'etendard! A Tepee!... Saint-Simon marechal... Montaigne dans la salle des cartes... Balzac, Stendhal et Proust generaux...« (Sollers 1984:312). Ein letzter Aspekt von Sollers' Diskussion der Religion ist für die weitere Argumentation noch wichtig. Die Gleichsetzung von Kunst und Kirche (Katholizismus) zeigt, daß man sich der Verbindung von Kunst und Ideologie nicht entziehen kann, daß alle Kunst letzten Endes auch ideologisch ist. Eine solche Auffassung geht über (negative) Dialektik, über Oppositionsbildung als ideologiekritische Verfahren der Avantgarde hinaus.

23

So spricht Sollers 1992a: 105 vom »öpouvantable dechainement de l'art, sous ses formes vari£es, ditach^es, a6r6es, indifiniment transformables. C'est le fait d'etre tellement d£tach£ des images qu'on puisse vous en produire ä sati6t6 comme instantanös et moments de passage. Rien d'autre: le monde vu comme transpergable et sondable - sans fin - par l'art. C'est ?a, le crime jesuite!«.

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Philippe

Sollers

Jusqu'ä present on nous a toujours prdsenti une doxa non religieuse qui pourrait s'opposer ä l'incamation vaticanesque de la religion. Je suis probablement un des premiers ä insister sur le fait que cette poldmique, cette guerre, impliquent qu'on soit dans le camp d'une religion ou d'une autre sans qu'il y ait de troisteme terme >ath6e< au-dessus ou en dehors de cette guerre. (Sollers 1993a:36)

Diese Feststellung verlangt die Neuorientierung einer Kunsttheorie und der ihr entsprechenden literarischen Praxis, die sich in der Nachfolge der Avantgarde situieren.

3.4

Neubeginn der Geschichte - Aktualität der Avantgarde?

3.4.1

Von der Pluralität zur Generalisierung

Sollers Beschäftigung mit dem Thema Religion, die ähnlich wie zuvor seine Betrachtung der Konstellation die Frage subjektiver Wahrnehmung und Erkenntnis einer (unendlichen und von daher möglicherweise universellen, notwendigen) Form und ihres Wandels zum Gegenstand hat, zeigt, wie wenig das emanzipatorische und innovative literaturtheoretische Schlagwort der 70er Jahre schlechthin, die »Pluralität«, noch Gültigkeit besitzt. Sollers setzt ihm in den achtziger Jahren den Begriff der »Generalisierung« zur Seite, der die erstgenannte Vokabel zunehmend semantisch absorbiert. Einige Beispiele belegen die Omnipräsenz dieses neuen Begriffs im Werk Philippe Söllers' der 80er Jahre und können ein Bild von den unterschiedlichen Kontexten bieten, in denen es Verwendung findet: »mythologie generale« (Sollers 1981:116), »somnambulisme generalise« (Sollers 1983:186), »anti-litterature generale« (Sollers 1984:62), »scene qui desormais est generalisee« (Sollers 1991h:44), »la mecanisation generale« (Sollers 1989c:30), »Nihilisme generalise« (Sollers 1988:66), »le secret generalise« (Sollers 1992b: 190), »la relativite generalisee, mon vieux! Conduisant ä la Simulation sans fin...« (Sollers 1992b:49), »l'incredulite generale, ce qui revient ä un comble de credulite« (Sollers 1992b: 124), »la simulation generalisee« (Sollers 1992b: 129), »maladie generalisee« (Sollers 1992b: 161).24 Unterscheidung und Differenzbildung, die zur Ausbildung von Strukturen fuhren könnten, erscheinen nunmehr unmöglich, Relativismus ist die Folge. Die auch ideologiekritisch gemeinte Radikalisierung des Subjektbegriffs, die Sollers durch die Bezeichnung der Singularität einfuhrt, büßt in diesem Kontext an Schärfe ein; das

Dieses die Form betreffende Problem betrifft alle Lebensbereiche, (metaphorisch) auch den Urbanismus: »Tu as remarquö comme Paris a disparu des röcits? Comme s'il n'y avait plus qu'une banlieue gdniralisöe, anonyme?« (Sollers 1988:53).

Neubeginn der Geschichte - Aktualität der Avantgarde?

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gleiche gilt für den Begriff der Pluralität. Wurden beide Begriffe zunächst im Sinne der Emanzipation von kollektiven, gruppenspezifischen Programmen der Avantgarde verstanden, sollten beide, sowohl die Pluralität als auch die nicht im Gegensatz zu ihr gedachte Singularität, darüber hinaus eine subjekttheoretische, geschichtsphilosophische und ästhetische Perspektive begründen (Sollers spricht von einer »theorie des exceptions«, s.u.), besteht nunmehr die Gefahr ihrer Nivellierung und Gleichschaltung, ihrer Implosion in einem Gesamt an Bedeutungslosigkeit. Sollers kommt zu dem Schluß, daß das Subjekt es mit diesem totalisierenden Phänomen in einem unaufhörlichen Differenzierungsprozeß aufnehmen muß; jüngst kleidete Sollers 1993a:41 diesen Sachverhalt in die Formel, die Vorstellung eines Exils, wie z.B. noch gegenüber dem Totalitarismus, sei nicht mehr möglich, eine Formulierung, die wir ähnlich bereits aus seiner »theologischen« Argumentation kennen: dort war es die Ubiquität der Kirche, als Metapher für die Ideologisierung jedes Diskurses, die keinen neutralen, absoluten Beobachterstandpunkt mehr zuließ, der seine eigene Position nicht zu reflektieren und damit zu relativieren hätte. Oder wie es Sollers 1992a: 16 im gleichen Zusammenhang formulierte, »[i]l y a un abime entre se placer par rapport ä un infini externe et etre en train de parier dans l'infini lui-meme«. 25 Die zunehmend ethischen Implikationen seines Diskurses werden sichtbar.

3.4.2

Der Text als »hologramme verbal« und das »systeme nerveux« des Autors

Um den Ambivalenzen des Identitätsbegriffs (der Form), die im Verlauf von Sollers' Beschäftigung mit der Geschichte, der Religion oder dem Phänomen der Generalisierung aufgetaucht sind, so z.B. die Frage der Bestimmbarkeit von Subjektivität, ihrer Erkenntnismöglichkeiten, ihrer geschichtlichen Position im Hinblick auf (Selbst-)Reflexion und ihr Instrument, die ästhetische Praxis, aus dem Weg zu gehen, benutzt Sollers v.a. in der zweiten Hälfte der

25

Den in seiner Argumentation enthaltenen Zusammenhang zwischen Individualismus und Totalitarismus, den er bei der Diskussion des Sakralen allenfalls am Rande berücksichtigt, wird zum Gegenstand eines Essays über den antiken Atomismus. Dort ist es Lukrez, der die Vorstellung eines Maximums an individuellen Freiheiten und die Gefahr der Instrumentalisierung, ja sogar die Indienstnahme durch einen »fanatisme policier« (Sollers 1986j:14) gegeneinander abwägt. Die Dialektik zwischen einem Maximum an Freiheit und einem Maximum an Unfreiheit thematisiert auch sein Essay »Saint-Simon ou le savoir absolu«. Dort verwendet Sollers 1986g:38 die Metapher des Atoms oder des Atomismus in einer negativen Einfärbung: »Tacite, Saint-Simon, Sade: cela suffit, en somme, pour nous informer, en detail, de ce qui nous attend comme atome döjä efface dans ce carnaval broyeur qu'on appelle la soci6t6 et Phistoire.«

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Philippe

Sollers

80er Jahre eher operativ-funktionale Begriffe wie »systeme nerveux« und »hologramme verbal« (Sollers 1983:535). Der Begriff Identität bleibt dabei zunächst ausgeblendet; die Verwendung der beiden komplementären Begriffe als Bezeichnung für die organisierende Instanz in Text und Kontext bietet Sollers gerade die Möglichkeit, Annäherungen an den ausgesparten Begriff zu betreiben, ohne sich mit metaphysischen und ontologischen Konnotationen zu belasten. »Systeme nerveux« und »hologramme« bezeichnen die formale literarische Umsetzung einer komplexen Subjekt- und Geschichtserfahrung. Mit ihrer Hilfe versucht Sollers die Behandlung der Zeit als wichtiger Determinante von Identität nach dem religiösen Exkurs wieder auf den Horizont der Geschichte zu beziehen. Das »systeme nerveux« funktioniert als eine Art Selektionsorgan des Romans, als erkenntnistheoretische, aisthetische und mnemotechnische Instanz. Selbst die Dimension des Körpers wird über sie in den Text integriert. Der Begriff taucht kontinuierlich in den Texten der 80er Jahre auf. Dabei bezieht sich die Bezeichnung wahlweise auf den Roman selbst, »roman, absolu du roman, systeme nerveux domine de tous les romans possibles« (Sollers 1984:315), auf den soziohistorischen Kontext, »J'essaie de comprendre le systeme nerveux de l'epoque« (Sollers 1987:338), oder auf den Autor: »Le roman n'a pas a etre vrai... Mais si!... C'est lui la verite, au contraire... Tout depend du systeme nerveux de l'auteur... Combien il peut en supporter, de verite, en cours de route« (Sollers 1983:483), oder »Qu'est-ce qu'un romancier, au fond? Bonne question... Beaucoup plus interessante et juste que la >crise du romanL'Histoire n'est pas une succession d'6poques mais une unique proximity du Meme, qui conceme la pensöe en de multiples modes imprevisibles de la destination, et avec des degrös variables d'immidiateti< [de Heidegger, Nietzsche].

Es handelt sich bei dieser Vorstellung einer im ästhetischen Medium zu leistenden historischen Zusammenschau m.E. nicht um eine postmoderne Auffassung des Kunstwerks als Rekombination kontingenter historischer Momente. Es geht vielmehr um eine Weiterentwicklung von Vorstellungen ästhetischer Epiphanie modernistischer und avantgardistischer Provenienz. 28 Haben seine bisherigen Überlegungen und die an ihnen herausgearbeiteten Widersprüche - bei seiner Behandlung der Allegorie z.B., auf deren Struktur Sollers' Geschichtsmodell ja aufbaut - diese Vorstellung nicht bereits ihrer Grundlage beraubt?

28

Die Nähe zu Borges' Modell des »Aleph« ist auffallend. Wie stark ihn diese Erzählung geprägt hat, zeigt der Umstand, daß er den Titel eines seiner Romane, Le cceur absolu, mit dem »Aleph« in Verbindung bringt: »L'Aleph, vous vous rappelez, ce point brillant ou la t o t a l i s du monde apparait... une sorte de cceur absolu des choses« (Sollers 1987:235).

94 3.4.3

Philippe Sollers

Memoires - Postavantgarde und Gedächtnis

Eines der Leitmotive, das bei der bisherigen Erörterung immer wieder angeschlagen wurde, ist das des Gedächtnisses, bzw. im literarischen Zusammenhang, das der Intertextualität. Die Kategorie des Gedächtnisses ist mit den bisher besprochenen Merkmalen der Romane Söllers' über die Eigenschaften von Diskontinuität und Kontingenz verbunden; insofern die Texte Sollers' als Reaktion auf den durch diese beiden Begriffe beschriebenen, als geschichtsphilosophisch, ästhetisch und ethisch defizitär empfundenen Zustand betrachtet wurden, sind sie immer auch zugleich eine Auseinandersetzung mit dem Gedächtnisbegriff. An dieser Stelle muß noch einmal darauf hingewiesen werden, daß dieser Begriff, wie auch die von Sollers in Anschlag gebrachte allegorische Poetik mit ihren konkreten poetologischen, historischen und subjekttheoretischen Allegorien (Gott bzw. das Unendliche, das Hologramm, das »systeme nerveux« etc.) eher Kondensationspunkte der skizzierten Problematik denn ihre Auflösung darstellen. Allein die letzten Ausführungen zu Sollers' Versuch, am Beispiel intertextueller Bezüge eine »mobile« Literaturgeschichte zu konstruieren, die weder linear noch zyklisch ausfallen, noch avantgardistischer Dialektik folgen soll, zeigen, wie hier Gedächtniselemente nach einem neuen Muster rekombiniert werden sollen. An dieser Stelle bestätigt sich auch die Vorgehensweise, den Begriff der Oszillation zugunsten desjenigen der Konstellation in den Hintergrund zu rücken. Der Begriff der Konstellation impliziert nämlich bereits die Bewegung als Merkmal einer Relativierung von Paradigmen sowie Indikator ihrer begrenzten Gültigkeit, ihrer Reversibilität. Die unterschiedliche Gewichtung dieser beiden Begriffe deutet auch auf einen Perspektivwechsel hin, der zuvor bereits im Werk Kristevas herausgearbeitet werden konnte. Wo die Oszillation stärker die Verwischung feststehender Identitäten betont, zudem noch dem bipolaren Schema der Avantgarde verhaftet bleibt, geht es bei der Konstellation, und das hat die bisherige Betrachtung des Sollersschen Werkes deutlich gemacht, um die Frage, inwieweit in einem bestimmten, nach Luhmann in einem »polykontexturalen« Raum, Zonen provisorischer Identität, also Formen ausgebildet werden. Diese Verschiebung erlaubt es beispielsweise auch, das bisher als mögliche Aporie beschriebene Oszillieren zwischen dem Bruch mit der Avantgarde und ihrer Fortsetzung neu zu betrachten. Im begrifflichen Rahmen der Konstellation ist jede Rekombination Bruch und Fortsetzung zugleich und insofern immer neu; dort haben diese dichotomischen literaturgeschichtlichen Modelle ihre dialektischen und geschichtsphilosophischen Bezugspunkte verloren und damit an Bedeutung eingebüßt. Im folgenden soll untersucht werden, welche literarische Form nach Sollers auf die skizzierte Problematik zu antworten in der Lage ist; die Analyse seines Romans Le secret von 1992 zeigt im Anschluß, wie seine ästhetische Praxis auf die von ihm

Neubeginn der Geschichte - Aktualität der

Avantgarde?

95

diagnostizierte Herausforderung antwortet. 29 Wenn gesagt wurde, die Reflexionen Sollers' siedelten sich im Horizont nachavantgardistischer Kunstreflexion an, dann greift gerade dieser Roman den nie ganz abgelegten Topos zum wiederholten Male auf - dies gilt auch für seinen jüngsten Text La guerre du goufi0 setzt sich mit dem militärischen Referenz- und Legitimationsdiskurs der Avantgarde auseinander und entwickelt einen neuen Phänotyp schriftstellerischen Selbstverständnisses.31 Fragt man nun nach den poetologischen Vorschlägen Söllers', so stellt man fest, daß er aus der Not eine Tugend macht, indem er den Gedächtnisbegriff, dessen Problematik bereits diskutiert wurde, zum Gattungsbegriff einer Literatur der Zukunft macht. Sollers plädiert für eine Reaktualisierung der Gattung der »Memoires« und bezieht sich damit auf einen aus der Literaturgeschichte übernommenen Gattungsbegriff. II est remarquable que, dans l'acte de memoire, l'engagement d'icriture soit done de l'ordre apocalyptique realise. Rialisö rialistement. [...]. Le problöme de la littörature c'est celui des Memoires. [...]. II n'y a plus de moindre distance entre ce qui est en train de se passer et le recit du m£morialiste. C'est ?a la modemitö: cette simultaniite de la gestion ambiante du mensonge et de la riposte, de la correction, de la >magie efficace< [...] qui a lieu au meme moment... c'est 9a dösormais la question. (Sollers 1992a:72f.)

Allein die Pluralbildung Memoires zeigt, daß die aus den Gedächtnisfragmenten ausgebildete Geschichte nicht mehr, wie dies noch die Avantgarde postuliert hatte, eine progressive, eindimensionale Relation ausbilden kann. »[II] faudra [...] prendre appui sur [...] toutes les legeretes, les mobilites, les immediatetes de la memoire historique, et s'ecrire en diagonale par rapport ä cette memoire« (Sollers 1992a:54). Die Wahl dieses polysemen Begriffs ist auch insofern geschickt, als damit Vergangenheit und Gegenwart als historiographische Kategorien verwischt werden, die mögliche Übersetzung des Begriffs »Memoires« als »Chronik« und »Geschichte« läßt eine eindeutige Festlegung der Bezugsebenen nicht mehr zu. Wie beschreibt Sollers nun die Aufgabe des

29

Diese Trennung hat einzig heuristische Zwecke: wie auch in der vorstehenden Argumentation gilt, daß für Sollers ästhetische Selbstreflexion und literarische Praxis in der literarischen Form zusammenfallen.

30

»Le roman, pour moi, n'a jamais cesse d'etre la continuation de la pensee par d'autres moyens. Le romanesque räflöchit et raconte l'ouverture de l'existence poetique, l'interdiction ou la degradation sociales qu'on lui inflige, la repression ou la falsification dont eile est I'objet - mais aussi ses grandes liberies, sa tdnacitd, ses lueurs. La pensee, ä son tour, m£dite les raisons de ces obstacles, de ces öclaircies: le tissu est le meme. J'emploie le mot guerre parce que c'est la guerre, et que ne pas le reconnaitre releve, au mieux, de la niaiserie; au pire, du cynisme manipulateur« (Sollers 1994:12). War zuvor die Theorie noch als Fest bezeichnet worden, verdüstert sich das Bild nun wieder: Mit einem Clausewitz-Zitat heißt es bei Sollers 1994:18: »la theorie semble plutöt un produit du danger que de la pensöe«.

31

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Philippe Sollers

Subjekts der »Memoires«, das sich ja erst im Vollzug dieser rekonstruktiven Arbeit konstituiert? II faut prendre tous les έηοηοέβ comme pouvant etre repris ä la premidre personne dans une expdrience subjective en train de se raconter le roman que le sujet est en train de vivre. C'est la forme la plus juste de l'histoire en train de se faire en tant qu'elle est forc6e de calculer comment eile emerge de toutes les stratifications mortes qui ont eu lieu auparavant. (Sollers 1986f:207)

Diese 1979 formulierte Aussage thematisiert mehrere der bisher beschriebenen Vektoren des literarischen Feldes: die Aufhebung der Trennung zwischen Kunst und Leben, die Entstehung von Geschichte aus der Pluralität der Geschichten (»tous les enonces«). Dabei wird die mögliche Dissoziierung zwischen Geschichte und Gedächtnis (»comment eile emerge de toutes les stratifications qui ont eu lieu auparavant«) sichtbar. Diesen Vorgang schildert Sollers als notwendig im Hinblick auf die Entstehung historischen Bewußtseins. In diesem Zitat könnte auch der Versuch sichtbar werden, Muster z.B. Foucaultscher Diskursanalyse (»il faut prendre tous les enonces«, »toutes les stratifications mortes«) auf die Figur der Subjektivität und ihre Genese zu beziehen und damit das Anliegen, Problembereiche poststrukturalistischen Denkens aufzugreifen und weiterzuentwickeln. Die zuvor gestellte Frage, inwieweit die Widersprüche z.B. bei Sollers' Erörterung des Allegoriebegriffes nicht die Ausbildung des von ihm anvisierten Geschichts- und Textmodells verhindern, muß insofern zurückgestellt werden, als Sollers in den von ihm propagierten »Memoires« einen Rahmen vorgibt, der selbst die Erörterung solcher Widersprüche noch erlaubt. Doch wie kann sich das Subjekt im Kontext der von Sollers so oft thematisierten postindustriellen Medien- und Informationsgesellschaft überhaupt historisch begreifen, eine Gesellschaft, in der die »ruse de l'Histoire« durch die »rase de la Chimere« ersetzt worden ist (Sollers 1989c:20) und die souverän mit den Geschichtsbildern spielt, die das Individuum zu seiner Selbstreflexion benötigt? Die Referenzvorstellung, die Beziehung zur außertextuellen Wirklichkeit hat Sollers nicht aufgegeben, gerade das Modell der »Memoires« soll aufgrund seiner Komplexität ihre Integration ermöglichen, eine Leistung, die der überwundenen avantgardistischen Form nicht mehr zugetraut wurde. In dem als »Histoire de France«, als »manuel d'histoire« (Sollers 1988:32) ironisch angekündigten Roman Les folies franqaises erlebt der in seine Tochter France verliebte Erzähler die Auseinandersetzung mit der (eigenen) Geschichte besonders intensiv: »Je repasse par les feuilles, les bruits, la distance se met ä vibrer comme dans la memoire, oui, le present est de la memoire dejä lä, en avant. L'amour est la valeur entre« (Sollers 1988:90). Dieses

Neubeginn der Geschichte - Aktualität der Avantgarde?

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»Geschichtsbuch« kennt keine Tragik 32 , Vergangenheit und Gegenwart sind einander strukturell verwandt, sind Augenblicke, deren wesentliches Bestimmungsmerkmal darin besteht, daß sie, selbst kontingent, intersubjektiv Kontingenz eindämmen helfen. 33 Die interessante Frage nach Möglichkeiten und Grenzen einer Übermittlung geschichtlicher Erfahrung, und damit die in der Tradition der Avantgarde stehende Frage nach der geschichtlichen Wirkmächtigkeit der Literatur, beantwortet Sollers nicht eindeutig (»L'amour est la valeur entre«). Auch Kristeva, zu deren Arbeiten bereits zum wiederholten Mal deutliche Parallelen festgestellt wurden, hatte die Frage nach dem Gelingen des Prozesses von Übertragung-Gegenübertragung, von Identifikation und Projektion im Zusammenhang mit ihrer »histoire qui s'analyse« offen gelassen. Bei Sollers wird jedoch noch stärker, als dies bei Kristeva der Fall war, die überindividuelle, historische Dimension dieser Fragestellung zum Gegenstand der Narration. In Fete ä Venise heißt es, die Idee einer Definition der Literatur in bezug auf das Gedächtnis sei dem Protagonisten angesichts zunehmender Kommunikations- und Erinnerungslosigkeit in der Gesellschaft gekommen: »Y aura-t-il encore une transmission? Par oü passera-t-elle? Les gestes amoureux? Vieilles marques animales toujours fraiches?« (Sollers 1991a: 169). Erneut grenzt er sich vom Revolutionsbegriff in der Tradition von 1968 ab, der damit als Folie der Reflexion allerdings präsent bleibt: Mais qui a dit que nous £tions rivolutionnaires? Nous ne miprisons pas, nous ne d6truisons pas, nous achetons, nous posthumons, nous restaurons, nous montrons! (Söllers 1991a: 179) - En somme, vous faites du pillage ä l'envers?

32

33

» - II faudrait tout recommencer? - Tout. Tu te dis que l'apocalypse a eu lieu, tu ouvres la fenetre, premier matin si tu veux. Et, surprise, rien n'a disparu, le film continue, les archives s'ouvrent, les informations fourmillent... Pour rien! D61ivr£es d'aller quelque part!... Le vingt et uniöme si£cle sera gratuit ou ne sera pas! (Sollers 1988:91). Forest 1992:300 spricht bezüglich dieses Textes sogar von einer »sorte d'exploration iclatöe de la mdmoire culturelle fran9aise [...]. L'image d'ensemble reste cependant cohörente: eile est celle d'une culture qui, se refusant au tragique, se dödie tout enttere ä une gratuiti et ä une ret6«. Das 18. Jhd. ist für Sollers dabei die Referenzepoche, mit der er sich immer wieder auseinandersetzt: etwa in der Thematisierung von Libertinismus und Geheimgesellschaften in Le coeur absolu, oder in Fete ä Venise durch den Bezug auf ein Bild von Watteau, an dem die Thematik von Kunstmarkt und KunstfMlschung abgehandelt wird; auch in seinen kritischen Arbeiten setzt er sich mit vielen Autoren des 18. Jhds. auseinander. Der Rekurs auf das 18. Jahrhundert, ftlr Sollers die Epoche von Individualisierung und Liberalisierung, zielt u.a. auf die Frage nach der Aktualität aufklärerischer Werte. In Fete ä Venise formuliert Sollers 1991a:188: »Si je me sers du dix-huitteme stecle (adieu dix-neuvteme, adieu vingtifeme), c'est juste pour respirer, voyez-vous. Le vingt et unifeme siöcle sera le renouveau, et l'approfondissement inattendu dans tous les sens des Lumiöres, ou ne sera pas. Cela dit, le roman instantanö peut se passer n'importe oü, n'importe quand, et aussi bien en restant immobile dans une chambre de province, ä vous de le dömontrer.«

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Sollers

- Si vous voulez. - Ce rassemblement, ces citations, ces collages: le roman comme encyclopödie et arche de Νοέ? Apr6s vous le diluge? - Voilä. En clair. Les membres ipars d'Osiris. Avec phallus. On transmet ä l'avenir improbable. S'il y a eu quelqu'un, il y aura peut-etre quelqu'un. - Reprenons: votre idee est bien celle d'une tyrannie et d'une barbarie esclavagiste montan te? - Exactement. - Nouvel analphabetisme institue sur fond de technique et de domestication de la Science? S'appuyant sur la perte de memoire, la morbiditd obligatoire, la toutepuissance de l'image en direct, la Surinformation pour rien, la destruction ou la manipulation des sources, le vol ou l'interprötation aplatie et unilaterale des documents et des oeuvres d'art? [...]. Vous etes done un öcrivain engagö? - Et comment. Dans les divisions invisibles, spectrales, et pourtant toujours grises et jaunes, des g£niraux Beauregard, Lee. [...]. - Votre obsession est bien celle-ci: sauver, conserver, stocker, en attendant des jours meilleurs? Et pritendre, en plus, qu'il s'agit d'une action subversive? - Vous m'avez compris. (Sollers 1991a:268f.)

Die Erläuterung der Eingangshypothese der auch in diesem Zitat ironisch präsentierten, paradoxen literaturgeschichtlichen Figur von gleichzeitigem Bruch und Kontinuität mit der Avantgarde muß nicht noch einmal wiederholt werden. Der kritische Anspruch der Literatur (»action subversive«) bleibt bestehen, auch wenn er jetzt im Modus der Memoria umgesetzt werden soll. Das folgende Zitat bestätigt noch einmal diese Figur (die topische Gattung avantgardistischer Selbstreflexion, das »Comment j'ai ecrit certains de mes livres?« wird dabei verabschiedet, gleichzeitig die Figur eines »wahren« Revolutionärs ausgerufen), weist aber auf ein weiteres Problem hin, das uns bereits von Julia Kristeva unter dem Stichwort Autoreferentialität bekannt ist. Kristevas Leitfrage lautet dabei ganz ähnlich wie die Söllers': »Voulez-vous savoir?«; der Gedanke einer ironischen, indirekten Hommage an Julia Kristeva ist von daher nicht von der Hand zu weisen: Enregistrer et classer, c'est bien; savoir pourquoi est une autre affaire. L'habitant du futur, bourrö de cassettes ou de disques, aura de plus en plus tendance ä penser: tel ou tel document, film, concert, opira, debat, je pourrais le voir, je pourrais l'entendre, mais comme je pourrais, precisement je ne le fais pas, sauf si j'y suis obligö, et alors ä toute allure. Je pourrais, signifie: je ne veux pas, je n'ai plus ä vouloir, si je voulais je pourrais, c'est lä, empilö, chez moi, ou bien, de fa?on beaueoup plus massive, dans l'une ou l'autre centrale, lä oil on peut garantir mon je pourrais. La seule question exclue est celle-ci: pourrais-je vouloir? >Voulez-vous savoir?< ->Je pourrais. < ->Mais le voulez-vous?< ->Ecoutez, on est dibordis. [...]. Ou donner de la tete? Oü est passte ma tete?< [...]. A quoi bon privilegier tel ou tel disir, puisque nous avons la cle de tous les desirs? [...]. Quand le premier venu ecrira des livres, on pourra dire, ä juste titre, que tout le monde est ^crivain sauf celui qui est reellement doue pour le faire. [...]. Quelqu'un qui voudrait etre revolutionnaire aujourd'hui (mais qui?) dirait exactement le contraire: j'abandonne la poösie pour me vouer ä la medecine. Comment j'ai ecrit certains de mes livres? Non: comment je suis devenu le meilleur, et d'ailleurs le seul, psychiatre de mon temps. (Sollers 1992b: 196ff.)

Das Geheimnis der Literatur

3.5

99

Das Geheimnis der Literatur

Die verschiedenen Ausprägungen der »recherche de l'Histoire perdue« haben immer wieder den Topos der Revolution gestreift und damit ihre Herkunft angezeigt. Sie stellten gleichzeitig eine Suche nach der Subjektivität dar, die diese Geschichte zu erfassen bzw. zu konstituieren imstande wäre, und waren insofern immer auch Suche nach einer literarischen Form. Sollers' Experimentieren mit verschiedenen Textmodellen, ihren literaturgeschichtlichen und subjekttheoretischen Implikationen galt bisher die Aufmerksamkeit dieses Kapitels. Im Zuge dieser Entwicklung verdient die Beobachtung besonderes Interesse, daß die ältere, von der Moderne beeinflußte ästhetische Vorstellung der Epiphanie, einer das Subjekt von der Last der Geschichte befreienden Verschmelzung aller Zeitstufen von Sollers i.S. der Betrachtung des Textes als Gedächtnismodell reformuliert wurde. Nunmehr stehen stärker Konzepte von Räumlichkeit und Diskontinuität sowie ihre subjektiven Korrelate im Vordergrund. Dabei fallt auf, daß Sollers kaum noch in der Lage ist, den von ihm im Hinblick auf das Subjekt und seinen Text positiv bewerteten Zustand des »present integral qui a ete lä, qui sera toujours lä, meme si tout a disparu de ce qui le composait« (Sollers 1992b: 140) begrifflich vom »vertige informationnel incessant, le present perpetuel« (Sollers 1993a:40) der heutigen Mediengesellschaft zu unterscheiden. Ein anderes Problem, das er selbst bereits angesprochen hat, betrifft die Frage nach den Grenzen kommunikativer Übertragung von Gedächtnis. Was, wenn z.B. nicht mehr die Liebe (»L'amour est la dimension de Vete-est-sera« [Sollers 1992b: 140], »L'amour est la valeur entre«), die ihm als Bedingung dieses kommunikativen Prozesses der »Memoires« erschien, sondern der Haß die intersubjektive Beziehung regelt, wofür der in Sollers' Roman Le secret thematisierte Krieg in BosnienHerzegowina ein beredtes Beispiel abgibt? Die Analyse dieses Romans schließt die Beschäftigung mit Sollers' Werk ab. Es ist bereits daraufhin gewiesen worden, daß die Gattungsbezeichnung der »Memoires« im Grunde genommen das eigentliche Problem, Diskontinuität und Kontingenz, nicht auflöst, sondern zu einer typologischen Figur ausgestaltet, die der Auffüllung bedarf, jener immer wieder aufs Neue ausgelösten »recherche de l'Histoire perdue«. Wenn in diesem Kapitel von Verbaltheologie im Hinblick auf Sollers' Ästhetik die Rede war, dann schließt das die Vorstellung von einem Numinosum, einem zu offenbarenden Geheimnis mit ein. Auf Graciän bezogen behauptet Sollers zwar, daß dieser sich mit der Oberfläche und ihrer Wahrnehmung begnüge, keinen versteckten Sinn hinter den Phänomen vermute - pointiert formuliert er, das wahre Geheimnis sei, daß es kein Geheimnis gebe (Sollers 1986d:36) - , dennoch wird der Begriff secret - auch ohne hermeneutische Akzentuierung im Sinne einer Formsuche verstanden - zu einem Schlüsselbegriff der Ästhetik seines Spätwerkes. Seit

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Femmes (1983) und Portrait du joueur (1984) taucht dieser Topos an prominenter Stelle im Werk Sollers' auf. In Le cceur absolu von 1987 steht eine Geheimgesellschaft im Vordergrund, deren Ziel das Glück und die »jouissance« ihrer Mitglieder ist, 1989 reflektiert der Autor in Le lys d'or über »similation et dissimilation« (Sollers 1989a: 101), in Laßte ä Venise (Sollers 1991a) geht es ihm nach eigenen Worten um eine »mise au secret de l'art«, bevor dieses Geheimnis zum Titel seines bislang jüngsten Romans {Le secret, Sollers 1992b) wird.

3.5.1

Literatur im Zeichen von Differenz und Konflikt

Militärische Analogien bei der Beschreibung der Funktion von Literatur, wie sie vom Wortursprung ja auch im Begriff der Avantgarde enthalten sind, sind Gegenstand des Romans Le secret von 1992. Das Einschreiben der Literatur in den Kontext von Geheimnis und Krieg thematisiert Begriff und historische Dimension der Avantgarde, die als reflexiver Hintergrund von Sollers' Werk gelten kann, bzw. zwingt dazu, sich zu fragen, was an die bislang vom Avantgarde-Begriff besetzte Stelle getreten ist. Diese literaturgeschichtliche Reflexion bewegt sich zwischen dem bisher vornehmlich untersuchten Geschichtsverlust und einem in jüngster Zeit von Sollers diagnostizierten Wiederbeginn der Geschichte. Eine Metamorphose, die geeignet ist, den literarischen Text auf mögliche ihm verbliebene Funktionen im Kontext von Geschichte und Gesellschaft zu befragen. Als »mise en abyme« dieser Selbstreflexion dient eine Aktennotiz des Geheimagenten Clement, Protagonist von Sollers' Roman, der darin Informationen über das Attentat auf Johannes Paul II. für seine Dienststelle niedergeschrieben hat. Sie zirkuliert auf unergründliche Weise und scheinbar bedeutungslos durch verschiedene Abteilungen, ohne daß Clement je eine Reaktion auf seinen Text erhält. Skizziert wird in diesem Roman eine Situation allumfassender Spionage konkurrierender, aber nicht näher spezifizierter Geheimdienste; Sollers hat in diesem konkreten Szenario die Implikationen der von ihm beschworenen epistemologischen Situation der Generalisierung nachvollzogen. Der Kampf um Wissen, Information und Interpretation hat die Wahrheit verdeckt. Die Analogie zur Medien- und Informationsgesellschaft der Gegenwart ist sicher alles andere als zufallig. Diese Hintergrundhandlung stellt die potentiell konfliktive bzw. instrumentelle Indienstnahme des Differenzmodells dar. Sollers zeichnet Verhältnisse ubiquitärer Ideologie, die er zuvor schon mehrmals beschworen hat, die keinen objektiven Beobachterstandpunkt mehr zulassen, der nicht bereits in ein System integriert wäre. Referenz und Realität treten gegenüber Inszenierung und Simulakrum in den Hintergrund; in dieser Versuchsanordnung läßt sich noch ein spätes Echo auf die Frage erkennen, die Roland Barthes mit seiner Vorstel-

Das Geheimnis der Literatur

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lung vom Krieg der Sprachen aufgeworfen hat, den allein die Literatur zu bekämpfen imstande wäre: Les questions ne se posent plus; les r^ponses, c'est-ä-dire les charniers, d6bordent. La seule guerre est done celle des röcits? Mais oui. Noyaux de faits, sans doute, mais selon que je vous les raconte comme-ci ou comme-9a [...] leur substance et leurs consequences ne sont pas les mSmes. Le style change tout dans les replis privös comme dans les representations collectives. (Sollers 1992b: 138)

Ein Beispiel für diese »noyaux de faits« ist der Krieg in Ex-Jugoslawien, der als einer der anzitierten Hintergrundereignisse des Romans in den Augen Sollers' Zeugnis von der wiederbeginnenden Geschichte ablegt und die Auseinandersetzung des literarischen Textes mit der Geschichte neu auf die Tagesordnung setzt, ein anderes Beispiel ist der Fall Salman Rushdie. Gegenüber der Unvermeidbarkeit von Geschichte müssen Literaturtheorie und praxis sich neu positionieren. Die in der bisherigen Analyse beschriebenen Probleme bei der Suche nach einer möglichen Beziehung von Geschichte, Text und Subjektivität werden von Philippe Sollers erneut (»on revient«) auf das soziohistorische Feld bezogen. Die Auseinandersetzung mit dem Gedächtnisbegriff bleibt in diesem Zusammenhang von grundlegender Bedeutung. En somme, on revient ä l'itude des glaciers, on döcouvre ici et lä, dans le temps figd et de plus en plus moisi de l'Histoire, des blocs de rochers isolis, on examine les coulöes et les rainures du passd, 9a dögouline de partout, [...] les communautis cherchant leurs fötiches, leurs frontieres, leurs vieilles contradictions enfouies sous des tonnes de poussiere... (Sollers 1992b:34f.)

Der Protagonist von Le secret, Clement, arbeitet in einer speziellen Abteilung seines Geheimdienstes, dem ISIS, »Institut des Systemes Intelligente Selectifs. Travaux sur la memoire« (Sollers 1992b:83): »Un des travaux de l'ISIS est done de tracer ces courbes de dominations changeantes, internationales, fastidieuses, boueuses, filandreuses, oü apparait rarement (mais alors, quel eclair!) une connexion logique de premier plan« (Sollers 1992b: 191). Daß es sich bei dieser Aufgabe um eine poetologische handelt, zeigt ein nahezu identisches Zitat aus einem Interview mit Philippe Sollers, in dem der Begriff des Geheimdienstes durch den des Romans ersetzt wird: »Par le roman, j'essaye de faire sentir exaetement la courbe de cette mutation; je voudrais savoir pourquoi l'organisation de la societe dite du spectaculaire integre est plus dangereuse que jamais pour le principe d'individuation« (Sollers 1993a:41). Die Gleichsetzung des Schreibens mit der geheimdienstlichen Tätigkeit erlaubt es auch, in der Notiz des Agenten eine Allegorie der Literatur zu erkennen. Aufgrund dieser eindeutigen Analogie soll die Arbeitsweise dieses Instituts und seiner Protagonisten näher unter die Lupe genommen werden:

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Philippe

Söllers

L'ISIS part du principe que la guerre du futur, d0jä totale, sera spirituelle, done en grande partie invisible. Tout a l'air purement monetaire mais les vrais enjeux sont ailleurs. Qui possödera le maximum de M6moire vaincra, du moins ä long terme. L'ISIS est une sorte de nouveau monastfere par anticipation. [...]. Mon travail consiste done ä silectionner [...], ä orienter (quand e'est encore possible), ä soigner (le plus souvent), ä encourager (toujours). [...]. La Memoire itant de plus en plus vulnerable et hai'e, la difficulte est de trouver les systömes nerveux capables de resister au lavage [...]. D'enormes quantites d'archives existent, mais qui saura les dechiffrer, les interroger, les d6velopper? Distinguer le vrai du faux? Le faux-vrai-faux du faux-vrai ou du vrai-faux-vrai? (Sollers 1992b: 195f.)

Es handelt sich hierbei um ein umfassendes ethisches und ästhetisches Programm: dem Roman, der Kunst obliegt die Pflicht zur Transparenz, wo Dinge im Verborgenen ablaufen, zur Unterscheidung dessen, was verwischt werden soll, die Aufgabe, kontextbildend zu wirken. Auch hier taucht das als poetologischer Begriff bereits eingeführte »systeme nerveux« auf. Diese Aufgabe stellt sich selbst dann, wenn die Erfolgsaussichten gering sind: Et voici le grand secret: il faut ecrire comme si cela n'avait aueune importance, diriver, dövier, revenir, s'enfoncer, attendre, deraper, foncer... Ecrire pour ecrire et parier pour parier, comme vivre pour vivre [...]. La situation s'y prete, le sujet aussi. C'est quand tu es le plus isole que tu es le plus dans le vrai. (Sollers 1992b: 138)

3.5.2

Sollers der Partisan

Dieses ist nicht mehr das Programm des Revolutionärs, der das mythische Vorbild der Avantgarde dargestellt hatte, sondern das des Widerstandskämpfers, des Partisanen. Es handelt sich hierbei nicht mehr um den Tagesbefehl für die Vorhut, sondern um die Instruktion desjenigen, der aus der Defensive heraus versucht, Boden wieder gut zu machen. Sollers' Überlegungen münden in den Versuch der Definition einer Ästhetik - des Partisanenkampfs. Von Verschwörung, Geheimnis und Krieg ist, wie gesehen, in den Romanen der 80er Jahre verstärkt die Rede, Le secret bildet da keine Ausnahme. Wo das Hauptmerkmal gegenwärtiger Geschichte ist, daß sie im Verschwinden begriffen ist (Sollers 1984:218), wo die Gefahr besteht, daß die Geschichte nur noch als Paranoia erlebt wird (vgl. Sollers 1986g: 3 9), wo ein Totalitarismus durch den nächsten, den der Bilder der Informationsgesellschaft, ersetzt wird, betätigt sich der Autor als »specialiste des fonds secrets« (Sollers 1988:54). Dieser Einsatz kann soweit gehen, daß seine Kunst selbst zum Geheimnis werden muß, in ihren Konturen und in ihrer Bedeutung unerkannt bleibt. Wie unterscheidet sie sich dann von der Gesellschaft, mit der sie es aufnehmen sollte? Gibt sie sich damit nicht selber preis? Ihre Aufgabe ist komplex - in diesem Zusammenhang rekurriert Sollers dabei noch einmal auf die spezifische Avantgardeproblematik von Wiederholung und Rekuperation und zeigt, wie sehr sie seiner Meinung nach obsolet geworden ist:

Das Geheimnis der Literatur

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Vous voulez savoir ce que pensent dösormais les intellectuels? Leur demiäre ambition, aprds celle de l'apologie salutaire des Droits de l'Homme, est la döfense de la complexity de pensie contre les simplifications abusives, les stiröotypes et les clichös ginirateurs d'exclusion et d'intolirance. Question: que doivent faire les intellectuels? Rdponse: ddfendre la complexite. Objection: mais si vous rep£tez tout le temps la meme phrase, y compris celle-lä, ne devient-elle pas un cliche? Reponse: et alors? (Sollers 1991a: 180)

Die Vermutung liegt nahe, daß Sollers1 Ästhetik des Widerstandskampfs ein Funktionsäquivalent der Avantgarde darstellt. So heißt es in Le secret beispielsweise mehrmals, im nächsten Krieg sei es wichtig, den nunmehr unsichtbar gewordenen Gegner zu erkennen (Sollers 1992b:229), eine klassische Aufgabe der Avantgarde. 34 Einige der Autoren, die in begriffsgeschichtlichen Untersuchungen zur militärischen Bedeutung des Avantgardebegriffs auftauchen, zitiert Sollers auch in Le secret, so zum Beispiel Klausewitz, De la guerre, v.a. Buch VI, Kap. 9, »La bataille defensive«; den Marechal de Saxe, Sur la Pologne, Kap. 9, »Sur la Pologne«, Kap. 18, »Des espions et guides«; T.E. Lawrence, La science de la guerilla·, Jacques-Antoine-Hippolyte, comte de Guibert, Essai general de tactique (1770), Defense du systeme de guerre moderne (1790); Liddell Hart, Histoire mondiale de la Strategie; die Treize articles (»le classique chinois de la guerre, date de 1772«, Sollers 1992b:237), und Sun-tse. Umgekehrt haben einige der Autoren, die sich mit der Avantgarde auseinandergesetzt haben, auch über die Gesetze des Partisanenkampfs nachgedacht. Sollers erwähnt Lenin nicht explizit, hat sich aber in der Vergangenheit sehr intensiv mit ihm beschäftigt. Und es paßt auch gut in unseren Kontext, daß der Avantgardebegriff nicht nur in Elitetheorien, sondern auch in Handlungstheorien relevant ist (Böhringer 1978:104), geht es doch Sollers darum, den Handlungsspielraum der Kunst in einer kunstfeindlichen Umgebung zu steigern. Der Vollständigkeit halber und im Bewußtsein möglicher Überinterpretation sei die Begriffsverwendung Alfred Adlers zur Beschreibung des »nervösen Charakters« erwähnt, der sich durch »erhöhte halluzinatorische Fähigkeiten und gesteigerte Affektbereitschaftee (Böhringer 1978:92) auszeichnet. Der Gedanke an Sollers' Konzeption des Romans als eines »systeme nerveux«, an seine Auffassung der Geschichte als Ausprägungsform von Paranoia und Hysterie ist naheliegend. Das Modell des literarischen Partisanenkampfs bleibt also durchaus funktional äquivalent zu dem der Avantgarde, wenn sich auch, sofern der militärische Ausdruck in diesem Zusammenhang erlaubt ist, die Stoßrichtung geändert hat - es geht um eine Verteidigung, eine Apologie der Literatur. Der Partisanenkampf unterscheidet sich, militärisch betrachtet, von der Avantgarde u.a. dadurch, daß dort hinter den feindlichen Linien operiert wird. Ist dies nicht eine zutreffende Beschreibung für das Vorgehen in Le secret, wo Sollers immer wieder betont, ein Außer-

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Vgl. im folgenden Böhringer 1978.

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Philippe

Sollers

halb, d.h. klare Frontstellungen bzw. Beobachterpositionen, gäbe es nicht mehr? Sollers thematisiert darüber hinaus auch explizit die Übertragung von Militärtaktiken auf die Literatur: »Je me propose de montrer que ce qui etait vrai pour l'ocean, la mer, le desert [...], Test desormais pour la guerre spirituelle et sa substance fluide et reversible de temps comme de memoire« (Sollers 1992b: 164). >Les grands giniraux, dit encore Sun-tse (j'ai failli ecrire: les grands ecrivains), sont prets ä tout; ils profitent de toutes les circonstances.< Iis savent >faire naitre la force du sein meme de la faiblesse< (ma note\ ma notel). Les mots cl6s: division, disposition, regulation. Exemple: >La supreme tactique consiste ä disposer ses forces sans forme apparente.< Et aussi: >Quand j'ai gagnö une bataille, je ne Γέρέΐε pas ma tactique, mais je riponds aux circonstances selon une vari6t£ infinie de voiesLe secret des operations militaires depend de votre faculte de faire semblant de vous conformer aux desirs de votre ennemk« (Sollers 1992b:239). Diesen Aspekt entwickelt Sollers 1992b:85 am Beispiel des Roman de Renart.

Das Geheimnis der Literatur

105

sind Geschwindigkeit, Ausdauer, Kombinationskraft, d.h. die Fähigkeit zu Diversion, Variabilität, Fluidität und Spiel36 sowie die Leichtigkeit. Das Motto auf dem Theatervorhang des Marechal de Saxe in Chambord kommentiert Sollers 1992b:166 wie folgt: »>ludum in armisC'est le mouvement qui est l'objet principal: toutes les autres combinaisons ne sont qu'accessoires et il faut tächer de les lui soumettre< [Guibert]. (Sollers 1992b:220) >La veritable vertu de la puissance de concentration mobile reside dans sa fluidity, sa variability etnon dans sadensit6< [Guibert]. (Sollers 1992b:221) On compte done sur la mobility, la vitesse, le temps, l'avancie suivie du reeul imm6diat [...], le modöle devenant celui, musical, de la portee et non de la force, avec initiative individuelle et, comme dans le jazz, une improvisation collective de tous les instants. [...] sans continuity apparente. (Sollers 1992b: 164)

Dieses ästhetische Programm läßt interessanterweise Fragen, die Sollers im Zusammenhang mit seiner Suche nach literarischen Merkmalen der Postavantgarde selbst gestellt hat, wie die nach ihrem kommunikativen Potential, nach der intersubjektiven Legitimation der aus Gedächtnisfragmenten gebildeten Geschichte etc. beiseite. In Le secret geht es nicht mehr um Fragen pragmatischer Begründung, sondern um die ethische Entscheidung des Einzelnen. Folgerichtig läßt er andere Verfahren, mit denen moderne selbstreflexive Texte sich auf die Geschichte beziehen, nicht gelten, etwa das uchronische Umschreiben der Geschichte (»Apres tout, on pourrait peut-etre faire repartir l'horloge ä l'envers? Ou au moins dans un autre sens? Tenez, on reprend vers 1910, on reecrit la copie... Non?«, Sollers 1992b:230) ebenso wie ein Folgern nach Indizienlogik.37 Er entweicht den Konsequenzen dieser Fragen nicht zum ersten Mal durch den Aufbau einer allegorischen Beziehung - der Schriftsteller als Widerstandskämpfer, als Partisan - , die allerdings nicht ohne weiteres mit der zentralen Allegorie des Romans, dem Geheimnis bzw. Geheimdienst, deckungsgleich ist. Wen meint Sollers mit dieser Allegorie? »[L]e romancier, inevitablement, s'il est pousse ä sa limite. Ou alors le penseur de la

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»On fait la guerre ä la guerre, on traite le mal par le mal, on fait mourir la mort avec la mort (mort, ou est ta victoire?), on circule ä grande vitesse dans une immobility parfaite, on ne vise aueun but, et c'est pourquoi, finalement, il y en a un« (Söllers 1992b: 168). »Quant au raisonnement logique par indices convergents, impossible. Trop dur. Les indices, et meme bien davantage, existaient, soit. Je me les rem^more un par un. Je reprends tout ä zöro, je fais comme si je ne connaissais pas l'evönement« (Sollers 1992b: 150).

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Philippe Sollers

logique mathematique s'il prenait - ce qui n'est pas souvent le cas dans la vie, une decision quant ä la realite des phenomenes. Une decision ethique« (Sollers 1991h:49). Diese Analogie exemplifiziert Sollers am Beispiel von Jean Cavailles, dem Physiker, Epistemologen und Widerstandskämpfer; man kann sogar behaupten, daß Le secret eine Art Hommage an ihn darstellt.38 Unter Bezug auf Jean Cavailles heißt es je me doute que le fait d'arriver ä une teile relativitö est probablement ce qu'on peut faire aujourd'hui de plus difficile. C'est le comble de l'affirmation solitaire. Personne n'en voudrait sur un thdätre, puisque le theatre c'est etre ensemble. La viriti cruelle qu'essaie de cacher le spectacle est simplement qu'un seul peut avoir raison contre tous. Voulez-vous qu'on finisse en disant que cela consiste ä ne pas etre collaborateur? II me semble. (Sollers 1991h:50f.)

Diese Relativität absolut setzen, in diesem Paradox scheint Sollers heute angesichts des überbordenden Angebots von Wirklichkeiten die Begründung der Kunst zu sehen. Doch diese Position hat ihre Schwachstellen. Literaturtheoretisch gesprochen ist ungewiß, ob die aus der Allegorie des Widerstands abgeleitete Signifikanz (die Verfolgung spricht dem Verfolgten automatisch eine Bedeutung zu, wie umgekehrt der Verfolgte seinen Sinn aus dieser Polarität zieht) Bestand hat; Sollers selbst, dies hat die Analyse seines Werkes ergeben, insistiert immer wieder auf der zunehmenden Entwertung von Dialektik und Pluralität im Kontext generalisierter Differenz. Sollers' Verharren im Spannungsfeld von Verfolgung und Widerstand stellt vielleicht einen Fall von Nostalgie gegenüber der Avantgarde dar, die um so ausgeprägter ist, je weniger ihr die reale Situation entspricht.39 Ebensowenig thematisiert Sollers die

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In einem Essay von 1989 taucht Jean Cavailtes zum ersten Mal auf (Sollers 1991h:48ff.); in La fite ä Venise (Sollers 1991a:61ff.) wird die Analogie zwischen dem Widerstandskämpfer und Mathematiker der Mengenlehre sowie der Literatur ausgebaut. In beiden Texten zitiert Sollers ein Buch mit dem Titel J. C. Un philosophe dans la guerre, bzw. J.C. Un philosophe combattant. Und auch die Initialen des Protagonisten von Le secret, Jean Clement, lauten J.C. Im Text werden mehrere Personen durchgespielt, die die gleichen Initialen besitzen. Auch wenn er nicht explizit genannt wird, lassen sich folgende Textstellen ebenfalls auf Jean Cavailläs beziehen: »II semble pourtant content que nous ayons les memes initiales, sa mere, lui et moi: Judith, Jeff et Jean Clement... Trois fois J.C.? Avant et apres J.C.? Before C? After C? Toute l'histoire modulöe selon notre calendrier? En somme« (Sollers 1992b:23). Eine weitere Parallele sind die vielen Decknamen, die sich Cavailtes während seiner Resistance-Aktivitäten zugelegt hat (Sollers 1991a:62). Sie decken sich mit den Thematisierungen der Maske und der Pseudonyme als poetologischer Metapher bei Sollers. So fragt sich Padis 1993, ob die Selbststilisierung von Sollers als von Zensur und Mißgunst der Medien verfolgter Schriftsteller überhaupt haltbar ist; er sieht hierin vielmehr eine Inszenierung des Schriftstellers und Medienprofis Sollers, seine Reaktion auf die zunehmende Mediatisierung der Literatur und der Person des Schriftstellers: Nach der Phase des Tabubruchs sei Sollers nunmehr in einer Phase der »substitution derri£re un masque comme röponse et comme surenchäre ä la reaction des m^dias« (Padis 1993:142). Doch

Das Geheimnis der Literatur

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Ambivalenz einer Theorie, bei der die Anerkennung der Kontingenz zu einem ethischen Absolutismus fuhrt. In ihrer Absolutheit fallt sie nämlich hinter von Sollers bereits diagnostizierte Schwächen zurück (Totalitarismus, Fundamentalismus), dabei zitiert er selbst im Roman die Affare Rushdie und den Krieg in Ex-Jugoslawien als warnende Beispiele. Die Analogie zwischen Schriftsteller und Widerstandskämpfer umgeht diese Ambivalenz, indem sie die Wertungsfrage α priori beantwortet: so ist dem historischen Beispiel des Widerstands gegen die Naziherrschaft die positive Beurteilung von vornherein eingeschrieben. Auch unabhängig von der Frage, ob die Welt (des Schriftstellers) wirklich in Bildern des Partisanenkampfs gedacht werden kann, ist nicht sicher, ob Sollers, benutzt man das Bild des Geheimagenten, die richtige Strategie für die Literatur bereithält. Der Gedächtnisraum, den der Geheimagent der Literatur durchmißt, ähnelt immer stärker einem Labyrinth, in dem das Individuum, das es auf der Suche nach sich selbst betreten hatte, verlorenzugehen droht. Zwar hält Sollers weiterhin Unterscheidung und Ordnung für notwendig, wenn auch die bittere Erkenntnis darin bestehen kann, daß die Unterscheidung Freund-Feind nur noch als eine Frage von Haltung und Affinität getroffen werden, das Spiel der Masken und ihres steten Wandels ansonsten nicht mehr durchdrungen werden kann. Differenzierung als Instrument der Erkenntnis wird von Sollers nicht verabschiedet, sondern in einen Zusammenhang mit Affektivität und Ideologie gebracht.40 Die Oszillation, als ein zu Beginn auf das Werk Philippe Sollers' bezogener Parameter, droht dann, ihre subversive Wirkung nicht mehr entfalten zu können, nur noch als das notwendige Spiel der Konstellationen aufzutauchen. Die Literatur könnte dann zu einer Sache der Parteibildung werden, der Begriff des Partisans ist davon nicht allzu weit entfernt. Der Autor Sollers wäre dann erster Protagonist und erstes Opfer dieser Polarisierungsstrategie in der Öffentlichkeit. Und es wäre vielleicht nicht eine seiner letzten »ruses«, in einer Zeit der UnUnterscheidbarkeit polarisierend zu wirken. Ob allerdings angesichts der beschriebenen Gegenwarts-Konstellation eine Verteidigung der Literatur wirklich die Verteidigung

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gibt er zur Strategie Sollers' zu bedenken: »Un grand ecrivain est toujours censurö, je suis censuri done je suis un grand Ecrivain: tel est le syllogisme implicite sur lequel la stratigie de Sollers est fondee. [...]. II faut prendre l'argument de Sollers au serieux: pourquoi un öcrivain, parrainö par Ponge, salu6 d6s ses premiers textes par Mauriac et Aragon, accueilli au Seuil par Jean Cayrol puis defendu par Roland Barthes et Michel Foucault, fondateur d'une revue des plus influentes durant une dicennie, aujourd'hui directeur de collection et directeur de revue, pretend-il ne pas etre reconnu?« (Padis 1993:147). Vgl. den Titel seiner neuesten Publikation La guerre du gout, v.a. Sollers 1994:12.

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Philippe Sollers

von Leben bedeutet, wie im Fall Rushdie 41 , muß - leider - bezweifelt werden.

41

»[J]'ai retenu une phrase qu'il a mise en exergue: >L'6crit est ce dont tous les ditenteurs de pouvoir ont le plus peurDe qui est-ce?< - >D'un certain Rushdies«, Sollers 1992b:211.

4

Alain Robbe-Grillet

4.1

Nouveau Roman und Nouvelle Autobiographie

4.1.1

Nouvelle Autobiographie: Avantgarde oder Postavantgarde?

Manche literarhistorische Schlagwörter entwickeln ein Eigenleben, dem mit analytischen Verfahren nicht beizukommen ist; die Begriffe Nouveau Roman und Nouvelle Autobiographie gehören ganz sicher dazu. Dennoch wird immer wieder der Versuch ihrer Kritik unternommen, meist um beide Bezeichnungen dann als inadäquat zu verwerfen. Hier soll ein anderer Weg versucht werden. Im Zentrum unserer Beschäftigung mit diesen beiden Syntagmen, die auseinander hervorgegangen bzw. aufeinander gefolgt sind, steht die Frage, inwieweit in ihnen eine Geschichte der Avantgarde zum Ausdruck kommt und damit, ob die Nouvelle Autobiographie ein Element postavantgardistischer Ästhetik darstellt.1 Die Bildung des Begriffs Nouvelle Autobiographie erfolgt

Robbe-Grillets Werk wird nicht im Hinblick auf die Gattungsgeschichte der Autobiographie untersucht. Vgl. zu diesem Aspekt Grüter 1993, Grüter 1994:198f.: »Robbe-Grillet erhebt mit dem Entwurf der >nouvelle autobiographie< einen doppelten und durchaus widersprüchlichen Anspruch: Einerseits behauptet er, die >recherche< des Nouveau Roman fortzusetzen, indem er lediglich dessen Verfahren in das Genre der Autobiographie hineintrage. Dies könnte, da allen gegenteiligen Behauptungen Robbe-Grillets zum Trotz der >projet autobiographique< mit den ästhetischen und weltanschaulichen Prämissen des Nouveau Roman letztlich unvereinbar ist, nur auf eine Dekonstruktion und nicht auf eine Erneuerung der Gattung hinauslaufen. Andererseits scheint Robbe-Grillet umgekehrt nach neuen Wegen des Erzählens jenseits des Nouveau Roman zu suchen, was zumindest bis zu einem gewissen Grad einen konstruktiven Rückgriff auf das autobiographische Muster implizieren würde.« Diesen Widerspruch löst Grüter 1994:213f. durch ein ebenfalls paradoxes Konstrakt auf, das des Autors, der als »Schriftsteller des Ungewissen Subjekt der Dekonstruktion« ist, der »aktive Sinnkritik« als Spiel mit dem Klischee betreibt. Ob man allerdings wie Grüter 1994:212 den Subjektbegriff als Grenze der Dekonstruktion ansehen kann, scheint mir alles andere als sicher. Unbestritten bleibt jedoch die »n£cessit£ d'articuler Involution de la fiction et celle de l'autobiographie« (Lejeune 1991:29), eine ftlr die adäquate Beschreibung der Gegenwartsliteratur wichtige Aufgabe. Lejeune unterzieht sich ihr am Beispiel der Texte von Georges Perec und nutzt die Gelegenheit zu manch polemischer Spitze gegen Robbe-Grillets angeblich innovatorische Nouvelle Autobiographie (Lejeune 1991:39,72-74).

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Alain

Robbe-Grillet

analog zu der des Nouveau Roman (»Comme il y a un >nouveau romannouvelle autobiographies, Robbe-Grillet 1988:91) 2 und versucht, den Gestus des Bruchs als Grundmuster avantgardistischer (Selbst-) Überbietungspraxis zu bewahren.3 Es sieht so aus, als könne man das Werk Robbe-Grillets nur mit den Kategorien der Avantgarde adäquat erfassen. Auf der anderen Seite sehen viele in der Nouvelle Autobiographie eine Rückkehr zu realistischem Schreiben. Scheinbar bekräftigt Robbe-Grillet 1984:12 die Abkehr von bisherigen Positionen des Nouveau Roman, wenn er die Frage nach der Repräsentation der Welt und der Person erneut auf die literaturgeschichtliche Tagesordnung setzt, die Frage nach der »expression d'une personne, qui est ä la fois un corps, une projection intentionnelle et un inconscient«. Er ist sich der Ambivalenzen der (literatur)geschichtlichen Einordnung seines Werkes bewußt: J'ai done sans cesse όΐέ amene ä rectifier le tir et, une fois le tir riussi, ä changer de cible. [...]. La publication du Miroir a un röle flagrant. Le Ii vre a immödiatement accroche, beaueoup plus largement que je ne pensais, et a et6 favorablement acceuilli par deux fractions opposöes de la critique. D'une part les amis anciens, qui y voyaient un diveloppement, une nouvelle phase de ce que j'avais ecrit avant. D'autre part, les ennemis anciens qui disaient: >£a, e'est trds bien, parce que c'est la nögation de tout ce que Robbe-Grillet a fait jusqu'ä prdsent. [...]. Mais cette contradiction entre les deux inteφrέtations du meme livre est intöressante: la suite de mes riflexions sur la littirature ou le contraire. J.-J.B. Et qu'est-ce que c'itaitl A.R.-G. - La suite evidemment (Brochier 1985:144f.). 4

Vgl. auch Robbe-Grillet 1987b:23: »Ich finde, daß man jene autobiographischen Texte, die der nouveau roman hervorgebracht hat, >Neue Autobiographie< nennen mtlßte. Wenn es einen neuen Roman in bezug auf den alten, einen Roman der Freiheit in bezug auf einen Roman der Wahrheit gibt, dann gibt es wahrscheinlich auch eine neue Autobiographie.« Solange Robbe-Grillet selbst dieses Schema verwendet, kann Roger-Michel Allemand 1992b:II nicht zugestimmt werden, wenn er seine Bilanz des Nouveau Roman mit einer Kritik an literaturwissenschaftlichen Untersuchungen eröffnet, die das Verhältnis RobbeGrillets zur Avantgarde thematisieren, weil sie seiner Meinung nach ungeeignet sind »de saisir et de restituer la contemporaneite et la sp6cificit£ de ces recherches narratives, tout en les intdgrant d'emblee ä la dijä longue thöorie des Evolutions et restaurations qui ont pu ponetuer l'histoire du roman«, er überdies unterstellt, daß solche Untersuchungen in der Vergangenheit meist durch die Brille einer »vision progressiste [qui] tentait de constituer une chaine entre les differentes epoques littiraires, en particulier par la recherche d'hypothötiques >maillons manquantsnouveau roman< et archdtypes« beschäftigen und die Revolution als Hintergrundschema der Avantgarde, wie sein eigenes Zitat zu erkennen gibt, einen wichtigen Archetyp der Literaturgeschichte darstellt. Darüber hinaus wird die Untersuchung von RobbeGrillets Werk zeigen, daß dieser sich ebenfalls mit der Geschichte von Umbruchsprozessen in der Literatur auseinandersetzt. An anderer Stelle meint Robbe-Grillet 1987b: 14 zur widersprüchlichen Rezeption von Le Miroir qui revient: »Die Kritiker haben >Skandal< geschrien. Welche Kritiker? Die feind-

Nouveau Roman undNouvelle

Autobiographie

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Allein schon dieser Ansatz einer Reflexion des avantgardistischen Innovationsbegriffs könnte zur Historisierung der Avantgarde und damit zu ihrer Relativierung als eine literaturhistorische Modellvorstellung unter vielen fuhren; so weit allerdings geht Robbe-Grillet hier nicht. Er löst den angeführten Widerspruch der Einordnung seines Werkes scheinbar auf, indem er die Texte der Romanesques in der Kontinuität seiner bisherigen Ästhetik situiert. Er bleibt damit einem linearen Avantgardeverständnis verhaftet, statt den geschilderten Widerspruch zum Thema zu machen und damit den Avantgardebzw. Innovationsbegriff zu problematisieren. Doch so eindeutig, wie es scheint, ist seine Einschätzung der Nouvelle Autobiographie nicht, man könnte sogar behaupten, seine ästhetischen Vorstellungen seien paradox, seien es schon immer gewesen.5 So wird z.B. nicht ersichtlich, ob die Nouvelle Autobiographie wirklich einen Bruch mit dem Nouveau Roman darstellt (»Comme il y a un >nouveau romanautobiographische< Dimension seines Romanschaffens«, die mit »zahllosen außertextlichen Referenzen« belegt werde, stelle seine bisherige Ästhetik in Frage, kann ich mich daher nicht anschließen. Da Blüher die »>autobiographische< Dimension seines Romanschaffens« mitverantwortlich filr einen Übergang von der Moderne zur Postmoderne im Spätwerk Robbe-Grillets macht, müßte auch diese Kategorisierung überprüft werden. Darüber hinaus sagt Blüher 1992c:83f. selbst: »Da diese inneren obsessioneilen Erinnerungsbilder aus einem Gedächtnisreservoir stammten, das zugleich immer auch imaginäre Vorstellungen und Phantasmen enthält, werden für Robbe-Grillet die Grenzen zwischen authentischen Erinnerungsbildern und lediglich von seiner Phantasie erzeugten bildhaften Vorstellungen fließend. Im Akt des Schreibens vermischt sich für ihn dergestalt Dichtung und Wahrheit, Imaginäres und Authentisches, werden beide Bereiche zu fast gleichwertig empfundenen autobiographischen Quellen des Ich.« Der Begriff des Autobiographischen wird als referentieller Begriff hier gerade entwertet.

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Alain Robbe-Grillet

nen Textmodelle bezieht. Hier geht es um mehr als um das postmoderne »mehrdeutige intertextuelle Spiel mit vorgegebenen eigenen Texten, aber auch mit >Zitaten< aus fremden Texten« (Blüher 1992b: 15). Hoek 1990:105 hat diese Besonderheit der Romanesques erkannt. Er spricht denn auch anstatt von einer Autobiographie folgerichtig von einer »>autotextographierelevepapiers< de mes brillants 0l£ves portent justement sur le prisent mömoire sans fond ni origine, peutetre sans fin, dont je suis en train d'öcrire le troisiäme volume que vous lisez en ce moment meme«. Im Anschluß an dieses Zitat setzt sich Robbe-Grillet mit einigen Merkmalen der Nouvelle Autobiographie auseinander und schließt: »Voilä ce que m'aprennent mes Steves et leurs lectures« (Robbe-Grillet 1994:18). Robbe-Grillet bleibt demnach nicht bei der »>Dezentrierung< der Erzählinstanz« (Blüher 1992c:79) stehen, die nurmehr aus »miteinander unvereinbaren Erzählerpositionen« (Blüher 1992c:79f.) besteht, im Gegenteil. Er, der in »der Fragmentierung, der Lückenhaftigkeit und der Widersprüchlichkeim (Robbe-Grillet 1992a: 17) die Konstituenten des Nouveau Roman und der Nouvelle Autobiographie sieht, erkennt die in den gleichen Phänomenen begründete Aufforderung zur Chronologie (Robbe-Grillet 1992a:23), zur Kontinuität als Quelle der Spannung im Text. Dieser Prozeß scheint allerdings unabschließbar, »so als müßte die Wahrheit des Sprechenden unentwegt neu geschaffen werden« (Robbe-Grillet 1992a:33). Den politischen Implikationen der Herstellung von Ordnung, die er autobiographisch am Beispiel des Nationalsozialismus erörtert, hat RobbeGrillet einen breiten Raum eingeräumt (z.B. Robbe-Grillet 1987b: 16-22, aber auch in den Romanesques). Den Roman wertet er in diesem Zusammenhang als Instrument der Suche nach Freiheit. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch folgende Stellungnahme in einem Interview mit Jean-Pierre Saigas, in der Robbe-Grillet 1985:6 mitteilt, was er in seiner sogenannten Autobiographie zu finden hofft: »Un livre mobile qui serait non pas moi, mais en tout cas une image de moi qui correspondrait un peu ä mon travail.« Vgl. auch die folgende Aussage Robbe-Grillets: »Ich erzähle nicht irgendetwas in dieser Autobiographie - ich erzähle das, was meiner Ansicht nach bestimmte, daß ich zum Schriftsteller wurde und das, was später ebenso mein Schreiben prägte« (Alain Robbe-Grillet, »Warum schreiben Schriftsteller über sich selbst, Monsieur Robbe-Grillet? - Ein Interview mit

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Robbe-Grillet

zeitig nach Stellenwert und Funktion des Schriftstellers und damit der Literatur heute. Me voilä done privenu: si je me ddtourne vers l'arriere [...] pour contempler le monde passö d'oü je viens et la situation qu'y 6tait la mienne, celle-ci comme celui-lä seront du meme coup röduits en cendres, en fumöe. Alors que j'avais l'impression d'avoir marchi sur un terrain solide, je verrai soudain la route parcourue, jusqu'ä l'horizon, se dissourdre entre des ruines et je sentirai le sol ä present qui se dörobe sous mes pieds frappis de paralysie. L'interdit est clair, mais il fait en meme temps partie de la contradiction inhärente ä nos existences rdflexives: je ne puis pas m'abstenir de me retourner, car je dois ruiner derrifcre moi toute chose et je ne peux vivre autrement que pour disparaitre ä mon tour. (Robbe-Grillet 1994:192).

Sehr geschickt verbindet Robbe-Grillet hier das Motiv der Erinnerung, der Geschichte mit dem orphischen Motiv literarischer Kreation (vgl. auch seine Ausführungen zu einer Ästhetik ausgehend vom Begriff der Ruine). Die folgenden Betrachtungen sind der Umsetzung von Robbe-Grillets theoretischen Äußerungen in den drei Romanen der Romanesques gewidmet. Dabei wird die Analyse strukturiert durch einen ständigen Dialog mit Roland Barthes und Marcel Proust, vermittelt durch Barthes' Auseinandersetzung mit mit diesem für die Geschichte der modernen Literatur so wichtigen Autor. Für diese Vorgehensweise gibt es mehrere Gründe. Barthes ist zum einen ein wichtiger intertextueller Bezugspunkt des schriftstellerischen Weges von Robbe-Grillet, es waren nicht zuletzt seine Artikel, die das Bild vom Nouveau Roman als einer objektiven, »literalen« Literatur prägten, gegen das RobbeGrillet nun anschreibt 18 ; in einer frühen Phase wurde Barthes auch vom Nouveau Roman beeinflußt. Daneben hat Barthes in einer späteren Phase der Entwicklung seiner ästhetischen Theorie Vorschläge unterbreitet, die in die Richtung von Robbe-Grillets Projekt der »expression d'une personne, qui est ä la fois un corps, une projection intentionnelle et un inconscient« (RobbeGrillet 1984:12) gehen. Insgesamt gesehen hat somit Barthes einen gewichtigen Anteil an der Entstehung des Bildes, das in der Leserschaft über RobbeGrillet vorherrscht, hat also gewissermaßen dessen literarische Identität mit-

18

Jtlrg Altwegg«, Frankfurter Allgemeine Magazin, 8.8.1986, zit. nach Blüher 1992c:98). Der literarhistorischen Dimension dieses Problems ist sich Robbe-Grillet 1992a:36f. bewußt: »Außerdem muß man sich ständig in Erinnerung rufen, daß es keine Wahrheit der Literatur gibt. Aus diesem Grunde ist es äußerst schwierig, literaturgeschichtliche Fragen zu behandeln. Aber man muß nun einmal Vorträge an den Universitäten halten. Ich selbst habe glücklicherweise einen Doppelnamen: Robbe-Grillet. Robbe schreibt die Bücher, die mit sich selbst recht unversöhnt und durchweg problematisch sind, und dann kommt Grillet und sagt: >Aber nein, das ist doch ganz einfach, ich werden Ihnen alles erklärenid6es< ont quelque rapport avec la modernity, voire avec ce qu'on appelle l'avantgarde (le sujet, l'Histoire, le Sexe, la langue); mais il risiste ä ses idöes: son >moipourquoi j'aime Barthes?< Barthes prend ainsi la figure d'un romancier« (Robbe-Grillet 1978a: 13). Mit dieser Erläuterung scheidet die Identität als Bestimmungsmodell des Verhältnisses von Autor und Text aus, eine im Hinblick auf die Nouvelle Autobiographie wichtige Feststellung. Dieses differentielle Verhältnis wird jedoch durch den Begriff des »couple« nicht seines Zeichen- und Verweischarakters entkleidet. Weder Subjekt noch Text, im autobiographischen Zusammenhang wechselseitig füreinander Signifikant und Signifikat, werden aus dem Prozeß der Signifikation entlassen, auch wenn ihr Verhältnis zum Zerreißen gespannt ist. Die gerade in ihrer Funktionsweise beschriebene Beziehung »de corps ä corps« verschiedener »personnage-texte« mit ihrer differentiellen, jedoch auf Signifikation ausgerichteten Strukturierung, läßt Barthes für Robbe-Grillet zum Teil der eigenen Autobiographie bzw. Autotextographie und im Sinne literarhistorischer Hypothesenbildung, zum literarischen Vorbild, zum Repräsentanten einer neuen Avantgarde werden, wie das folgende Zitat belegt. Hier haben wir es mit einem schönen Beispiel für eine subjektzentrierte Wendung differentieller Bezüge zu tun. Handelt es sich dabei um einen für das Imaginäre nach Kristeva typischen Fall

22

Die Folge des Zitats bringt deutlich die Distanzierung von früheren ästhetischen Positionen zum Ausdruck: »Ce sont en somme des rapports louches, suspects, condamnis en tout cas par toute une direction de modernite que j'ai cru bon d'encourager röcemment encore. Et cette tres forte intervention du personnage dans le texte, la sensation que j'ai affaire ä un corps, ä des pulsions, ä des choses pas propres, probablement, fait que le texte tend ä devenir un simple porte-parole de ce corps, ce qui est effectivement odieux pour quelqu'un qui a participi comme moi, ä toute cette entreprise d'ivacuation de l'auteur hors de son texte« (Robbe-Grillet 1978a:12f.).

Intertextuelle

Konstellationen

125

von Projektion und Introjektion? Wird hier nicht Robbe-Grillets Hoffnung spürbar, die Barthes zugesprochene Yorreiterrolle möge auf ihn selbst zurückfallen, da er - die bisherige Untersuchung hat es gezeigt - auf dessen Positionen seine eigenen literarischen Versuche einer Nouvelle Autobiographie gegründet hat? Ce qui caractdrise le genre romanesque, c'est qu'il a besoin d'etre ä chaque instant dans 1'impasse. II y a eu l'impasse Joyce, il y a eu le Nouveau Roman des annöes cinquante qui a aussi connu sa propre impasse, puis le Nouveau Roman avec Jean Ricardou qu'on a apρβΐέ le Nouveau Nouveau Roman et qui est ögalement dans son impasse. Quelque chose de nouveau doit 6tre fait dans le roman, et ce quelque chose de nouveau sera justement fait par quelqu'un qui refusera d'etre un romancier de profession, d'appliquer quelque rögle que ce soit du roman passö. [...]. Avec Fragments du discours amoureux, tu as franchi [...] ton propre pas vers ce qui apparaitra, peut-etre, dans vingt ans comme le Nouveau Nouveau Roman des annies quatre-vingts. Qui sait? (Robbe-Grillet 1978a:26f.)

In einem weiteren Schritt sollen die intertextuellen Bezüge, die bisher zwischen Robbe-Grillet und Roland Barthes beschrieben wurden, auf Marcel Proust ausgedehnt werden. Ihr Verhältnis zu Proust scheint geeignet, erneut das Konzept von Intertextualität als Teil einer »autotextographie« zu überprüfen, welche die Geschichte des Subjekts mit der der Literatur vereint.

4.2.2

»Proust et moi« - Barthes, Robbe-Grillet und der utopische Roman

Der Hinweis auf die strukturelle Nähe der Romanesques zu Marcel Prousts Recherche kann um ein weiteres, von Robbe-Grillet selbst erwähntes Beispiel ergänzt werden. »C'est d'autant plus curieux que justement Proust est un theoricien. Le livre de lui qui me passionne le plus, Contre Sainte-Beuve, melange, comme Le Miroir qui revient, Ia theorie de la litterature, l'autobiographie et la fiction, puisque l'histoire des Guermantes y est dejä« (Brochier 1985:146).23 Die zu Beginn hypothetisch eingeführte Parallele zu A la recherche du temps perdu bestätigt sich jedoch nur teilweise. Robbe-Grillet kann den Schritt, den Marcel Proust vom Contre Sainte-Beuve zur Recherche vollzogen hat, nicht nachvollziehen. Die von Proust in einem als architektonische Form konzipierten Rahmen gegebene Beschreibung des den Menschen bis zur Unkenntlichkeit verzerrenden Wirkens der Zeit glaubt Robbe-Grillet

23

»Non, curieusement, le seul livre oü je reconnaisse un projet analogue au mien est un livre inachevö: le Contre Sainte-Beuve. On y trouve ä la fois les Guermantes tels qu'ils seront dans la Recherche, les rapports avec la vraie mfere et une thöorie de la littirature qui s'oppose ä la conception sainte-beuvienne« (Robbe-Grillet 1985:6). Dieses Plädoyer für die Theorie sollte all denen zu denken geben, die wie Vareille 1989:33 Robbe-Grillets vordergründig autobiographische Texte als Abkehr von den »charmes un tantinet masochistes du terrorisme et de l'austdritö thioriques« betrachten.

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Robbe-Grillet

zu Beginn der 80er Jahre nicht mehr leisten zu können. Die in der Recherche beschriebene Formsuche mündet am Ende in ein literarisches Projekt, das in gleichsam mythischer Perfektion in sich kreisen könnte, sich selbst dabei affirmierend. Nicht so bei Robbe-Grillet: zwar beschreiben auch die Romanesques die Geschichte einer literarischen Vokation, einer Formsuche. Doch mündet sie nicht in die Entdeckung einer ästhetischen Formel; gegen das Bild der Kathedrale setzt Robbe-Grillet den Begriff der Ruine als Ausgangspunkt der Suche nach einer Ästhetik, deren literaturgeschichtlichen und subjekttheoretischen Implikationen bisher nachgespürt wurde. Wie nun gestaltet sich Barthes' Verhältnis zu Marcel Proust? Ohne Übertreibung kann man in dieser Auseinandersetzung eine Vorwegnahme von Problemstellungen im späten Romanwerk Robbe-Grillets sehen. 1978 hielt Roland Barthes am College de France eine Vorlesung mit dem Titel »Longtemps je me suis couche de bonne heure«. In diesem Vortrag entwickelt er einige der Ansätze einer Revision des Intertextualitätsbegriffs weiter, die er bereits in Roland Barthes par Roland Barthes skizziert hat. Ein erster Umdeutungsversuch des Intertextualitätsbegriffs bestand für Roland Barthes darin, diesen Begriff für sein Verständnis des »corps«, des »corpus« als intersubjektives, affektives Element der Bildung einer (Fiktion von) Identität zu verwenden. »Proust et moi« - so lautet das Thema seines Vortrags; es gehe ihm dabei jedoch lediglich um eine »confusion de pratique, non de valeur« (Barthes 1984e:333). Die Identifikation Barthes' mit Proust, die bereits seinem veränderten Verständnis von Intertextualität entspricht, beziehe sich auf eine Aufgabe, der Proust »absoluten« Wert beigemessen habe (Barthes 1984e:334). Wie prekär auch immer dieses Bezugverhältnis ausfallt, allein die Bestimmung des Proustschen Versuchs als absolut zeigt den letztendlich objektiven und allgemeingültigen Standpunkt, den Barthes mit seiner identifikatorischen Lektüre anstrebt - bei einem Apologeten der Pluralität, der Differenz läßt dieses Adjektiv aufhorchen. Proust habe lange Zeit gezögert zwischen den Ausdrucksformen (die beiden »cotes« der Recherche) der Kritik, des Essays und denen des Romans (Barthes 1984e:334f.): »Proust cherche une forme qui recueille la souffrance (il vient de la connaitre, absolue, par la mort de sa mere) et la transcende« (Barthes 1984e:335). In dem zwei Jahre später erschienenen Buch La chambre claire sieht sich Barthes vor dieselbe Aufgabe gestellt, wird sich auch seine Reflexion vor dem Hintergrund des schmerzhaft erfahrenen Verlustes der Mutter vollziehen. Die erneute Verwendung des Adjektivs »absolue« - einmal im Hinblick auf die literarische Aufgabe, zum anderen als Ausdruck einer inkommensurablen und auf diese negative Weise identitätsstiftenden Leidenserfahrung, auf die sie sich bezieht - zeigt in der Parallelisierung subjektiver und ästhetischer Bereiche den, von Barthes so konstruierten, notwendigen und unbedingten Charakter der Form, die Proust letztlich finden wird: es ist die Form der Recherche, weder Essai noch Roman noch

Intertextuelle

Konstellationen

127

beides zusammen, Barthes 1984e:336 nennt sie »une tierce formen.24 Ihre Merkmale analysiert Roland Barthes 1984e:337 im Incipit der Recherche, dessen erster Satz seinem Vortrag auch den Namen gibt: Der Schlaf bedinge die Aufhebung der Chronologie, der Kausalität, bewirke die Entstehung von intellektuellen und narrativen Fragmenten, welche die Logik der traditionellen Erzählung hinter sich lassen. Weiter heißt es - und die Parallelen zu RobbeGrillet werden deutlich, wenn man im folgenden Zitat »Biographie« durch »Autobiographie« ersetzt: »Cette desorganisation de la biographie n'en est pas la destruction. Dans l'oeuvre, de nombreux elements de la vie personnelle sont gardes, d'une fa9on reperable, mais ces quelques elements sont en quelque sorte deportes« (Barthes 1984e:338). Beispiele fur diese trotz der Begriffsverwendung der »tierce forme« nicht mehr dialektisch zu nennende Bewegung sind nach Barthes die Dissoziierung der Person Marcel Prousts und des Erzählers Marcel, sowie diejenige zwischen dem Roman und seinem Inhalt, welcher der Wunsch ist, ihn zu schreiben. Die Recherche ist für Barthes 1984e:339 Ausdruck einer Subjektivität, die auf ihr Leben nicht als vorgegebene Ganzheit, sondern allenfalls als »etoilement de circonstances et de figures« zurückgreifen kann. 25 Dies meint Barthes' Rede vom »deport«, von der spannungsgeladenen Verschränkung, nicht Identität von Fiktion und Faktizität, von Individualität und Allgemeinheit, von Metapher und Metonymie. Bestehende Differenzen zwischen den verschiedenen Ich-Instanzen, zwischen vollendeter und sich entwickelnder Form werden dabei gewahrt und dynamisiert. Barthes 1984e:340 spricht von einer neuen Logik, von einer »Scienza Nova« bzw. »Vita Nova« (Barthes 1984e:346, 342). In dieser Interpretation verfaßte bereits Proust eine Art Nouvelle Autobiographie. Die Besonderheit der Projektion eigener Problemstellungen auf Marcel Proust liegt in ihrem utopischen Charakter: Was Proust für seine Zeit gelungen ist, das müßte auch in der Gegenwart möglich sein. Dieser Syllogismus verlangt nach einer neuen Form. Nur durch diese neue, noch nicht gefundene Form kann die Differenz zwischen Fiktion und Referenz, zwischen Individualität und Allgemeinheit, zwischen Metapher und Metonymie, möglicherweise überwunden werden: Ce Roman utopique, il m'importe de faire comme si je devais l'ecrire. Et je retrouve ici, pour finir, la möthode. Je me mets en effet dans la position de celui qui fait quelque chose, et non plus de celui qui parle sur quelque chose: je n'ötudie pas un produit, j'endosse une production; j'abolis le discours sur le discours; le monde ne vient plus ä moi sous la forme d'un objet, mais celle d'une öcriture, c'est-ä-dire, d'une pratique [...]. >Comme sie cette formule n'est-elle pas l'expression meme d'une dömarche scientifique,

24

25

Die Vorstellung einer absoluten, notwendigen Form, die Theorie und Praxis miteinander verschmelzen soll, und sich der Absenz, dem »disir« verpflichtet weiß, deutet auf Spuren avantgardistischer Denkmuster hin. Vgl. die Grundstruktur von Kristevas Roman Les Samourais (Kap. 2).

128

Alain

Robbe-Grillet

comme on le voit en mathömatiques? Je fais une hypothdse et j'explore, je decouvre la richesse de ce qu'on en döcoule; je postule un roman ä faire, et de la sorte je peux espörer en apprendre plus sur le roman qu'en le consid6rant seulement comme un objet d6jä fait par les autres. (Barthes 1984e:345f.)

Die Dichotomie von Theorie und Praxis fallt hier in sich zusammen, die Perspektive verschiebt sich scheinbar von der Vergangenheit zur Zukunft, scheinbar deshalb, weil sich diese Veränderung des Blickwinkels in Wirklichkeit dem Rückgriff auf Marcel Proust verdankt. Barthes verweist mit dem Begriff des »comme si« auf einen Indikator von Fiktionalität. Die Suche nach einer Form der Fiktion verbindet sich also mit der autobiographischen und literaturhistorischen Problematik. Das zwischen Roland Barthes und Marcel Proust aufgenommene Gespräch, das den Versuch darstellt, der Literatur nach ihrer die Welt und das Subjekt disseminierenden Phase eine neue Funktion, d.h. eine neue Form zuzuweisen, bleibt jedoch an dieser Stelle ohne Ergebnis.

4.3

Le miroir qui revient

4.3.1

Figur(ation) der Totalität: Der Spiegel als literaturgeschichtliche Figur

Kann Robbe-Grillet den Ansprüchen, die Roland Barthes »verkörpert«, gerecht werden? Zweifel scheinen angebracht angesichts unterschiedlicher Einschätzungen beider Autoren in zentralen Punkten. Hierzu zählen ein divergierendes Verständnis von Avantgarde, die daraus resultierende und von Barthes und Robbe-Grillet verschieden beantwortete Frage, welcher der beiden der »eigentlich« avantgardistische Autor sei 2 6 , ob dieses Konzept heute überhaupt noch Gültigkeit besitzt. So thematisiert Barthes im Gespräch mit Robbe-Grillet z.B. den Begriff des »inactuel«, den er von der alt-/neuUnterscheidung absetzt, indem er ihn mit der geschichtsphilosophischen Metapher der Spirale verknüpft (»j'ai propose une metaphore qui rend compte de cette dialectique de l'ancien et du nouveau, qui est la metaphore de la spirale: on fait revenir des choses du passe, mais ä une autre place«, Robbe-Grillet 1978a:49), sowie die mit dem Begriff des »inactuel« in engem Zusammenhang stehende Frage nach der Wahrscheinlichkeit der Realisierung einer zukünftigen literarischen Form. Diese Frage erörtern beide Autoren am Beispiel

26

»Mais le mouvement de la litterature est ce glissement d'une scdne ä la meme scene qui se repöte sous une forme ä peine d6tourn6e, ä peine contournie, ä peine retournie... Je sens que tu n'es pas d'accord...; Roland B. - Si, mais le romancier moderne, c'est toi.; Alain R.G. - Non, parce qu'ä l'heure actuelle, je suis un romancier des annies 60 ou 70, c'est toi peut-etre qui va etre le romancier moderne de demain...; Roland B. - Mais non, puisqu'on fait la meme chose« (Robbe-Grillet 1978a:35).

Le Miroir qui revient

129

Marcel Proust; sie kommen jedoch zu unterschiedlichen Ergebnissen. Für Barthes bleibt sie allenfalls im Modus der Utopie vorstellbar, Robbe-Grillet hingegen sieht sie in seiner eigenen Nouvelle Autobiographie bereits verwirklicht. Sind diese Zweifel, sollten sie sich bestätigen, nicht auch schon ein ernsthafter Vorbehalt gegenüber Barthes' und Robbe-Grillets Versuch, historischen und subjekttheoretischen Disseminierungen der Intertextualität durch die Aufwertung des sie ablösenden Funktionszusammenhangs des Körpers zu begegnen? Zur Beantwortung dieser Frage muß jedoch nunmehr untersucht werden, wie Robbe-Grillet ihr Verhältnis, ihren Dialog in den Romanesques ausgestaltet. Zu diesem Zweck werden analog zu Barthes' Untersuchung des Beginns der Recherche die beiden Anfänge von Le Miroir qui revient und Angelique ou l'enchantement untersucht. Umrahmt von Fragen nach dem Ordnungsprinzip der bereits vorgestellten Fragmente der »autotextographie« (Robbe-Grillet 1984:7-10, 56), von Fragen nach der Relektüre, nach Differenz und Identität (»Les eclairages se sont modifies, les perspectives ont pu se defaire, s'inverser dans certains cas; mais, en fait, les memes questions se posent toujours, vivaces, lancinantes, peut-etre inutiles...«, Robbe-Grillet 1984:7), wird in Le miroir qui revient zunächst die Spiegelmetapher vorgestellt. In diesem Zusammenhang taucht der Begriff der Figur auf, den wir bereits von Robbe-Grillets Überlegungen zur Identitätskonstitution (»la representation vivante«), von Barthes' Überlegungen zum Ich als Person, als Maske, aber auch von Sollers und Kristeva her kennen. Die Figur bestimmt indirekt sogar den Titel von Le miroir qui revient, der gemeinhin als realistischer oder als psychoanalytischer Indikator verstanden wird. 27 Hier soll jedoch eine andere Lesart verfolgt werden, die im Bild des

27

Die Episode des Spiegelfundes durch Corinthe ist der Kronzeuge psychoanalytischer Interpretationen: Der Spiegel ist dort einmal Anspielung an das Spiegelstadium Lacans, also den Übergang von imaginärer zu symbolischer Ordnung (v.a. Allemand 1991a:53), daneben ein »medium de communication entre rintörioritd matemelle et l'extirioritö patemelle« (Allemand 1991a: 108). Der Spiegelmetapher kommt darüber hinaus eine wichtige Rolle bei der Selbsterforschung des Schriftstellers zu: »L'dcriture, le passage par le miroir de l'Autre, par toutes les identifications proposies par la culture, par tous les spectres qui hantent sa conscience et son inconscient, par l'onirisme et la jubilation du verbe d£chain6, a sans doute aid6 l'icrivain έ se voir et ä se comprendre, ä se faire voir et se faire comprendre, ä se libdrer aussi, peut-etre, d'une emprise angoissante, et d'une culpabiliti diffuse. Et le traumatisme obsessionnel s'est retoum£ en une singularite affirmee qui fonde une personnalitö, et qui a produit une oeuvre parmi les plus importantes de notre temps« (Allemand 1991a:79f.). Vgl. auch Vareille 1989. Robbe-Grillet 1985:6 scheint diese Angaben zu bestätigen: »Le Miroir qui revient correspond au Stade du miroir lacanien: l'enfant recolle ses morceaux dans la glace et s'aper?oit que l'image de lui-meme est un autre!« Betrachtet man ältere Titel der Sekundärliteratur, erkennt man die große Plastizität der Spiegelmetapher: Calle-Gruber 1982:85f. sieht anders als psychoanalytische Lesarten hierin gerade die Thematisierung der Oberfläche, der Entfremdung und damit

130

Alain Robbe-Grillet

Spiegels literaturgeschichtliche und -soziologische Kontexte reflektiert sieht. Zu Beginn des Romans in der Textpassage von 1977 schreibt Robbe-Grillet 1984:11: »L'ideologie, toujours masquee, change facilement de figure [Hervorhebung von A.G.]. C'est une hydre-miroir, dont la tete coupee reparait bien vite ä neuf, presentant ä l'adversaire son propre visage, qui se croyait vainqueur.« Der Spiegel als Hydra, die dem vermeintlichen Sieger sein Antlitz zurückwirft, ihn zur Maske erstarren läßt: wie man dieser Figur(ation) der Totalität entweichen kann, darum geht es Robbe-Grillet. Es geht damit auch um die ideologischen Implikationen literarischen Handelns.28 Dies impliziert u.a. eine Auseinandersetzung mit dem Prozeß der Avantgarde, der - und das gilt nicht zuletzt auch für den Nouveau (Nouveau) Roman - zu Ideologisierung und Dogmatisierung neigt. Hier wird am Ende doch etwas von der Vorsicht und dem Wunsch nach Selbstdistanzierung sichtbar, die Barthes 1975:123 bezüglich des »livre du Moi« von einem »livre recessif«, einem »livre de mes resistances ä mes propres idees« sprechen ließen.29 RobbeGrillets Ausführungen zur Dialektik literarischer Entwicklung, die weitgehend das avantgardistische Schema zu wiederholen und nie in Frage zu stellen schienen, hatten solche Gedanken zunächst vermissen lassen. Die Distanz zu

28

29

Aufhebung von (Inter-)Subjektivität. Für eine realistische Deutung dieser Episode vgl. Blüher 1992c:98f. Vgl. hierzu auch Jefferson 1990. Die Aufwertung der Autorfunktion betrachtete bereits Oppenheim 1982 (1986a:7) in seiner Einleitung zum New Yorker Kolloquium über den Nouveau Roman als Ansatz dazu, wieder stärker die ideologische Funktion der Texte, ihre Funktion im gesellschaftlichen Zusammenhang zu beleuchten. Die hier vorgeschlagene Deutung des Spiegels betont Robbe-Grillets kontinuierliche Auseinandersetzung mit seinem eigenen, vormals revolutionären ästhetischen Anspruch. Auf dem New Yorker Kolloquium 1982 sagt er: »there is no pure revolutionary consciousness. The ideology of the society in which I live is not in front of me, as though I were a kind of archangel who had escaped this ideology and who would write New Novels fallen from heaven into a world refusing of them. No, not at all! The ideology is in me, too, and consequently this longing for order and coherence, this struggle against incoherence, exists in me as well and probably, therefore, in my text, too« (Oppenheimer 1986:26). Man kann sogar so weit gehen, in der »hydre-miroir« das Bild für selbstreflexive, die Vergangenheit einbeziehende Prozesse überhaupt zu sehen. Im Zusammenhang mit der Frage, wann er seine »entreprise auto-hdtöro-biographique« (Robbe-Grillet 1994:190) begonnen habe, thematisiert Robbe-Grillet zwei Allegorien, die er Nietzsche und Kafka entlehnt: der Mensch auf einem Seil über dem Abrund gehend, sowie der Mensch als Brücke, die sich umdreht, um einen Passanten zu beobachten, und in die Tiefe stürzt. Auf dieses letzte Bild Kafkas bezieht sich Robbe-Grillet 1994:192, wenn er sagt: »La relation s'est deroulee de telle maniere que le pont et le passant ne semblent faire qu'un solitaire et unique personnage d£doubl£, qui se retourne sur lui-meme pour divisager son propre moi, c'est-ä-dire sa propre mort. Me voilä done prevenu: si je me detoume vers l'arrifere [...] pour contempler le monde passe d'oü je viens et la situation qu'y etait la mienne, celle-ci comme celui-lä seront du meme coup röduit en cendre, en fumee.« (Robbe-Grillet 1994:192).

Le Miroir qui revient

131

sich selbst, also die Problematik einer vom Scheitern bedrohten Ausbildung von Subjektivität wird in ihrer Verknüpfung mit literaturgeschichtlichen Entwicklungen zum Movens literarischer Artikulation. Robbe-Grillets Glaube, seine Initiative von 1977 (»Je n'ai jamais parle d'autre chose que de moimeme«) stelle den Versuch dar, den zum antihumanistischen Dogma erstarrten Nouveau Roman in hegelianischem Sinn »aufzuheben«, ein Versuch, der dann allerdings von der Welle des »retour ä« eingeholt worden sei, hat sich zwar als nicht stichhaltig erwiesen; dieses Scheitern fuhrt Robbe-Grillet 1984:9f. im Anschluß an die Präsentation der Spiegelmetapher jedoch zu einer im Hinblick auf unsere Fragestellung nach dem Schicksal der Avantgarde äußerst interessanten, weil zwiespältigen Konstruktion: II faudrait done, ä prisent, reprendre les actions terroristes des annies 55-60? Tr£s certainement, il le faudrait. Pourtant (et j'expliquerai plus tard pourquoi) je choisis avec rage de reproduire ici sans y rien changer, telles que je les ai öcrites en 77, les premiöres pages d£jä dömodies, de mon point de vue, pour etre si vite devenu ä la mode.

Doch weder wird jene explizit angekündigte Erklärung gegeben, noch wird der Anspruch auf eine Fortführung »revolutionärer« literarischer Praxis für obsolet erklärt. Wie schwer es Robbe-Grillet fallt, die Form seiner Romanesques im Hinblick auf ihr literarisch innovatives Potential zu bestimmen, zeigt sich, wenn er die Präsenz narrativer und essayistischer Passagen in den Romanesques, die er noch an anderer Stelle unter Hinweis auf Prousts Contre Sainte-Beuve als innovativ angesehen hatte, durch den Rückgriff auf Barthes' Unterscheidung von »ecrivain« und dem im Hinblick auf die Umsetzung moderner Ästhetik rückschrittlicheren »ecrivant« erklärt, also jede Verbindung(sfigur) zwischen beiden leugnet: »II serait inutile, pour me justifier, de recourir ici ä la dialectique« (Robbe-Grillet 1987a: 182). Geschichtsphilosophische Dialektik mit dem Ziel der Forminnovation rückt aus dem Blickfeld. Das weitere Voranschreiten des Textes »ä l'aveuglette« (Robbe-Grillet 1984:56) - eine Hommage an Claude Simons poetologische Metapher des Orion aveugle? - führt zu weiteren Spiegelungen, bei denen Roland Barthes erneut eine Vorrangstellung einnimmt (Robbe-Grillet 1984:56-70). Wie bei Barthes' Auseinandersetzung mit Proust mündet die identifikatorische Lektüre Barthes' durch Robbe-Grillet 1984:69 ebenfalls in die Frage nach einer neuen Form: »Roland Barthes, ä son tour, etait-il un romancier? Cette question aussitöt en appelle une autre: qu'est-ce qu'un roman aujourd'hui?« 30 Eine Frage, die ebensowenig wie die oben zitierte explizit beantwortet wird (RobbeGrillet 1984:70), es sei denn, man betrachtet die Romanesques selbst als Antwort auf diese Fragen.

30

Allein diese Frage zeigt, daß der zuvor beschriebene Dialog zwischen Robbe-Grillet und Barthes nicht nur konstitutiv für die Poetik der Romanesques ist, sondern ihr darüber hinaus eine literaturgeschichtliche Perspektive zuschreibt.

132 4.3.2

Alain

Robbe-Grillet

Corinthe und das Ende der Literatur - ein avantgardistischer Mythos?

Robbe-Grillets von den Textfragmenten der Romanesques ausgehende Suche nach einer neuen literarischen Form in Auseinandersetzung mit Selbst- und Fremdbildern, eine Suche, für die er den Begriff »dialektisch« zurückgewiesen hat, folgt in meinen Augen der von Barthes so genannten Logik des »deport«, einem Begriff, den dieser u.a. bei seiner Beschäftigung mit Marcel Proust geprägt hat. Robbe-Grillet nimmt in der Figur des Henri de Corinthe das literarhistorische »corps ä corps« mit Roland Barthes erneut auf. Dieser Figur der Romanesques wird im allgemeinen der Rang eines Doppels von Robbe-Grillet bzw. seines Vaters zugeschrieben.31 Es wird nach dem bisher über das Verhältnis von Barthes, Robbe-Grillet und Corinthe Gesagten nicht mehr erstaunen, daß Corinthe im Begriff steht, eine Mischung aus Autobiographie, Theorie und Fiktion zu schreiben, als welche auch die Romanesques Robbe-Grillets beschrieben worden waren. Er selbst hat mehrmals die zentrale Stellung dieser Figur als Auslöser seines autobiographischen Vorhabens hervorgehoben: Ecrivant mon enfance, de bonne foi au döbut, pour les Editions du Seuil, me revient ä l'esprit quelque chose que j'avais plus ou moins oubliö ou occultö: quelqu'un venait ä la maison, qu'on m'empechait de voir, quelqu'un qui semblait important, beaucoup plus que mes parents qui 6taient des gens sans importance. II 6tait colonel de cavalerie, alors que mon pfere itait tout ce qu'il y a de plus roturier et avait fait toute la guerre de 14 dans les tranches, comme soldat. Que venait faire chez mon p£re ce personnage qui 6tait le comte Henri de Corinthe, dont l'existence est attestöe - mais pas plus que celle de Rollebon en quelque sorte? Et meme quelquefois, j'ai pensö que je les confondais tous les deux. Et tout ä coup, j'ai icrit cette phrase: >Si j'arrivais ä dire qui itait Henri de Corinthe, peut-etre finirais-je par savoir qui je suis?Si j'arrivais ä dire qui etait Henri de Corinthe, peut-etre finirais-je par savoir qui je suis?Maison Noirela maison du noirpersonneadvientcriCa a ete< disparaitra, lui aussi. II a dejä disparu. J'en suis, je ne sais pourquoi, Tun des derniers temoins (temoin de l'Inactuel), et ce livre en est la trace archai'que« (Barthes 1980a:146f.). Damit steht gerade der in der Parallelisierung von affektiver und symbolischer Ordnung (der Literatur, der Photographie) geschaffene Bereich in Frage, den Barthes als Verwirklichungsraum eines neu verstandenen »degre zero« angesehen hatte. Es sieht so aus, als ob Roland Barthes mit der Geschichte nun auch die Gemeinschaft der (Inter-)Texte verläßt; sein eigenes Buch als die Wahrnehmungsspur eines a ite« gibt es im Grunde genommen nicht mehr (»Et sans doute l'etonnement du a ete< disparaitra, lui aussi. II a dejä disparu.«). Dies verweist zuletzt wieder auf die Romanesques und dort auf die literarischen Versuche Corinthes, der gleichfalls als »dernier ecrivain« angekündigt worden war. Was sagt Barthes' Weiterentwicklung des »degre zero« über Robbe-Grillets Romanesques? Robbe-Grillets Versuch einer intersubjektiven und intertextuellen Lektüre des »personnage-texte« Roland Barthes führt ihn beinahe zu den gleichen Konsequenzen wie Barthes. Doch findet er m.E. genau in diesem Dialog das Mittel der Distanzierung, das ihn vor dem Schicksal des letzten Schriftstellers bewahrt, nämlich genau jenen Barthes entlehnten »deport«, die »Figur« Corinthe. Wo Barthes in der Figur zeitweilig die Liebe (»Les choses intellectuelles ressemblant aux choses amoureuses, dans le binarisme, ce qui lui plaisait, c'etait la figure«, Barthes 1975:56) und den Sinn zu entdecken glaubte (»Etant la figure de l'opposition, la forme exasperee du binarisme, l'Antithese est le spectacle meme du sens«, Barthes 1975:142), um zuletzt müde das Ende der Signifikation zu erkennen (»il a parfois envie de laisser reposer tout ce langage qui est dans sa tete, dans son travail, dans les autres, comme si le langage etait lui-meme un membre fatigue du corps humain [...]. II voit le langage sous la figure d'une vieille femme fatiguee [...], qui soupire apres une certaine

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Alain Robbe-Grillet

Barthes 1975:179), da stellt Robbe-Grillet durch die Figur Corinthe die Frage nach dem möglichen Roman. Corinthe, der sich am Ende der Literaturgeschichte und damit am Ende der Geschichte überhaupt angekommen sieht, »[s]eul dieu de cet univers qu'il a cree de ses seules mains« (Robbe-Grillet 1987a:35), ist das Werk seiner Hände abhanden gekommen. Die Unauffindbarkeit seines Manuskripts, welches große Ähnlichkeiten mit dem Text der Romanesques hat, kann einerseits bedeuten, daß sein Versuch am Ende der Literaturgeschichte ähnlich wie bei Roland Barthes bereits selbst Teil der Vergangenheit ist (»Et sans doute l'etonnement du ~>Qa a ete< disparaitra, lui aussi. II a dejä disparu.«), die uns Robbe-Grillet präsentiert und die der Leser archäologisch rekonstruiert. Andererseits kann sie aber auch als Hinweis auf die Zukunft betrachtet werden: der letzte Roman ist noch nicht geschrieben worden. retraite...«,

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Georges Perec

5.1

»ecrire tout ce qui est possible ä un homme d'aujourd'hui d'ecrire« - Gedächtnis und literarische Utopie

Der letzte zu Lebzeiten von Georges Perec erschienene Text Un cabinet d'amateur. Histoire d'un tableau (1979) zeigt allein durch seinen Untertitel an, welchen Weg Perec seit Beginn der 60er Jahre, seit seinem Erfolgsroman Les choses ou une histoire des annies soixante (1965) eingeschlagen hat. Die Geschichte einer Epoche hat der Geschichte eines Kunstwerks und damit auch der Geschichte der eigenen Werke Platz gemacht; an die Stelle der Dinge, der Referenz, sind Selbstreferenz und Selbstbeschreibung getreten. Diese literaturgeschichtliche Modellskizze dient dem Ziel, die literarische Entwicklung Georges Perecs mit der anderer Gegenwartsautoren vergleichbar zu machen, ohne jedoch seine Spezifika aus den Augen zu verlieren.1 Anders als z.B. einige Autoren des Nouveau Roman vertrat Perec nie ausschließlich areferentielle Positionen2, ging es ihm immer darum, der Geschichte, seiner Ge-

Eine Formulierung der Frage, auf die folgende Überlegungen eine Antwort versuchen, findet sich bei Burgelin 1989:66: »Dans l'ensemble, l'ipoque a έΐέ dominie par le formalisme. Mais dominöe plus qu'imprdgnie. Le formalisme a rencontrö un acceuil mitig£. Robbe-Grillet et le Nouveau Roman ont eu une audience internationale, mais l'entreprise a 6t6 plus entourie d'une curiosity intellectuelle que d'une Sympathie active. Le >textocentrisme< tel-quilien est restd affaire d'avant-garde. Et l'oulipisnie objet de pas mal de malentendus. La greife du formalisme (des formalismes, plutöt) a eu durant les trente derniäres annöes, du mal ä prendre. A-t-elle changi notablement l'öcriture narrative? La τέponse n'est pas ividente.« Nicht mehr in die Untersuchung aufgenommen wurden Böhar 1995 sowie Rosienski-Pellerin 1995. In einer Reihe von Artikeln in der linksgerichteten Zeitschrift Partisans hat er 1962/1963 literaturtheoretische Position bezogen (die meisten dieser Aufsätze sind inzwischen gesammelt erschienen, vgl. Perec 1992). Er kritisiert den Ästhetizismus und Formalismus des Nouveau Roman; seine theoretischen Vorstellungen bezeichnet er als Selbsttäuschung der Schriftsteller über ihre Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft. Das »Einfrieren«, das Einklammern der Welt in Zeitlosigkeit, der Entzug jeglicher Dynamik zementiere den Wunsch der Gesellschaft, nichts an den bestehenden Verhältnissen zu ändern; der revolu-

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Georges Perec

schichte habhaft zu werden, und gerade deshalb spielt die Geschichte der Literatur als Entfaltung solcher Versuche für ihn eine wichtige Rolle. Anders ausgedrückt: die abwesende Geschichte der Kindheit Perecs, der seine Mutter im Konzentrationslager verlor und mehrere Jahre unter falschem Namen im Vercors leben mußte, korrespondiert mit der Abwesenheit des sprachlichen Zeichens, das in der Lage wäre, sie einzuholen. Sie wird zum Stimulus literarischer Kreativität. Perec hat sich in seinem ohne den Buchstaben e verfaßten Roman La Disparition dieser Aporie der Repräsentation gestellt. Denn gerade der fehlende (verdrängte, zensierte) Buchstabe gewinnt Bedeutung: Dies haben Poes Erzählung The purloined letter und, auf ihr fußend, Lacan ebenso deutlich gemacht wie Perec in La disparition am Beispiel des Untergangs von Anton Voyl und seiner Familie, d.h. am jüdischen Schicksal. So ist konsequenterweise der autobiographische Roman W ou le souvenir d'enfance (1975) dem Buchstaben e gewidmet. In diesem Roman, der mit dem paradox anmutenden Motto anhebt, »Je n'ai pas de souvenirs d'enfance« (Perec 1975:13), ist die Referenz zwischen dem um die zentrale Leerstelle des Holocaust angesiedelten Versuch der Erinnerung an die eigene Kindheit und der Schilderung des Schicksals der Kolonie W, Kindheitsphantasma und alptraumhafte Vision vom Konzentrationslager zugleich, zwischen zwei Geschichten also verschwunden, jedoch im intertextuellen Netz noch zu orten: »Mais dans le reseau qu'ils tissent comme dans la lecture que j'en fais, je sais que se trouve inscrit et decrit le chemin que j'ai parcouru, le cheminement de mon histoire et l'histoire de mon cheminement« (Perec 1975:14). Ist also der Versuch, die Unsagbarkeit der Wirklichkeit zu sagen - nämlich, daß der Krieg, »l'Histoire avec sa grande hache« (Perec 1975:13), ihm »seine« Geschichte geraubt habe - gescheitert?3 Selbst, wenn man (noch) nicht so weit gehen will, muß man in dem, was Philippe Lejeune 1990:57 das »indirect« nennt (vgl. auch den Titel seiner Studie von 1991, La memoire et l'oblique), eine Reaktion Perecs auf die Präsenz-Absenz der Geschichte, auf das differentielle Verhältnis von Text und Geschichte sehen.4 Philippe Lejeune weist

tionäre Anspruch des Nouveau Roman entpuppe sich als avantgardistischer Mythos. Michel Butor bezieht Perec in diese Kritik jedoch nicht mit ein. Das Unsagbare, den Krieg und die Vernichtung eines ganzen Volkes zu sagen, war ihm lange Zeit noch als ein mögliches Gegenmodell zu der Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre vorherrschenden amimetischen Literatur erschienen; Robert Antelme, der seine KZErfahrungen in L'Espece humaine niederzuschreiben versucht hat, wurde ihm zum Modell eines »neuen Realismus«, vgl. Perec 1963a. Dieses differentielle Verhältnis schließt das Subjekt mit ein. In diesem Zusammenhang ist es kein Zufall, daß Perec mehrere Psychoanalysen in seinem Leben gemacht hat: 1949 mit Fran^oise Dolto, als er 13 Jahre alt war, 1956 mit Michel de M'Uzan und von 19711975 mit J.-B. Pontalis (Lejeune 1990:57). Der Zusammenhang mit dem Indirekten liegt hier offen auf der Hand. Auf die über die autobiographische Problematik im engeren Sinn hinausgehende Notwendigkeit, bei der Interpretation von Perecs Werk die Textarbeit

Gedächtnis und literarische Utopie

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in einer Studie zu Perecs autobiographischen Projekten nach, daß dieser bereits Anfang der 70er Jahre in den Notizen 7M.W ou le souvenir d'enfance die gleiche strukturelle Dreiteilung vorgenommen hat wie Robbe-Grillet in den 80er Jahren fur die Romanesques. Er berücksichtige neben einer fiktionalen und einer autobiographischen Ebene eine dritte metatextuelle, die das problematische Verhältnis des autobiographischen und realistischen Substrats zur fiktionalen Darstellung selbst zum Gegenstand hat (auch wenn diese selbstreflexive Ebene in der endgültigen Textfassung nicht mehr auftaucht); Perec habe gleichsam die Nouvelle Autobiographie antizipiert (Lejeune 1991:73). Die am Beispiel der Texte Perecs sichtbar gewordene scheinbar selbstreflexive Thematisierung von Sprache und Literatur bleibt auf die Referenzproblematik bezogen. Gerade deshalb setzt sich Perec mit der Geschichtsmächtigkeit, aber auch der Geschichtlichkeit der Sprache, mit ihrer Gedächtnisfunktion auseinander.5 Perecs Reflexionen orientieren sich dabei an Barthes' Diktum vom faschistischen Charakter der Sprache6, oder an Auffassungen, die

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sowie die Übertragung autobiographischer Probleme auf metatextuelle Fragestellungen nicht aus den Augen zu verlieren, hat Magni 1989e hingewiesen, v.a. Magn0 1989e:181ff. Aber auch er spricht im Zusammenhang mit dem Altemieren eines autobiographischen sowie eines fiktionalen Erzählstrangs in W ou le souvenir d'enfance von einer »isotopie du manque« (Magni 1989e:165). So auch die These von Jürgen Rittes Analyse der Sprachspiele Perecs, die er vom Vorwurf bloßer Selbstreferentialität freisprechen möchte: »Der Wille zum Sinn und seine Unmöglichkeit bestimmen die Sprachspiele Perecs« (Ritte 1992:139). Marcel Bönabou 1990:44 schätzt den Einfluß, den Roland Barthes in einer frühen Phase auf Perec ausgeübt hat, sehr hoch ein: »Au cours de cette meme periode, un autre foyer d'influence erudite mörite d'etre signal: la friquentation par Perec du siminaire de Roland Barthes sur la rhetorique, qui pourrait bien avoir jou6 un role analogue ä celui que joua, pour Queneau, le söminaire de Koj£ve sur La Phenomenologie de Hegel.« Diesen Einfluß macht er dann besonders an Quel petit velo deutlich, Perecs Auseinandersetzung mit dem Algerienkrieg, die jedoch auf der spielerischen Anwendung rhetorischer Figuren gründet. Perec hatte bereits ein Jahr zuvor Barthes1 Seminar Uber Semiologie belegt. Ende 1963 legte er ihm eine der Textfassungen von La grande aventure vor, ein Roman, der 1965 als Les choses ou une histoire des annees soixante seinen literarischen Durchbruch bedeuten sollte und der wesentlich von Barthes' Mythologies beeinflußt ist. Barthes antwortet ihm Ende Januar 1964, lobt die Brechtschen Qualitäten des Textes und rät ihm zur Publikation (Bellos 1994:317). Georges Perec war Roland Barthes zum ersten Mal 1955 von Jean Duvignaud vorgestellt worden. Er nahm in den Jahren 1956/57 auch an den Redaktionssitzungen der von Edgar Morin, Barthes und Duvignaud gegründeten Zeitschrift Arguments teil. Der Einfluß Barthes1 reicht bis in die 70er Jahre, als Perec in Arts Loisirs eine Artikelsammlung im Stile der Mythologies mit dem Titel »L'esprit des choses« veröffentlicht, und als er in Un homme qui dort viele intertextuelle Hinweise auf Barthes einbaut. Barthes hat Perec auch die Druckfahnen zum Systeme de la mode zur Lektüre gegeben. Eine unveröffentlichte Rezension Perecs ist erhalten (Bellos 1994:766). Die Beziehung scheint sich erst abgekühlt zu haben, als Barthes - so jedenfalls wurde es Perec kolportiert - sich geweigert hat, seinen Roman La disparition zur Kenntnis zu neh-

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den ausgrenzenden Charakter von Sprache betonen.7 Das Bewußtsein von der intertextuellen Konstitution seiner Texte spielt hier auch eine Rolle. Dazu gehört nicht nur die ständige Bezugnahme auf seine eigenen Texte, sondern ebensosehr die Anerkennung ihrer Historizität. Neben dem Indirekten und der Intertextualität ist fur Lejeune 1991:43 das »remplissage« eine weitere Kategorie zur Beschreibung von Perecs Ästhetik. Er bezieht sich hierbei insbesondere auf das in seiner ursprünglich vorgesehenen Form unvollendet gebliebene Projekt Lieux, bei dem Perec in periodisch wiederkehrenden Abständen bestimmte Orte in Paris beschrieb und die Beschreibungen durch Erinnerungsskizzen ergänzte, die jeweiligen Texte in Umschlägen verschloß, um sie dann nach 12 Jahren zu einem neuen Text zu verarbeiten. Lejeune 1991:43f. spricht von einem Versuch »de vivre ä partir de 1969 ä l'abri de 1981 [...]. Vivre au futur anterieur dans un espace deja investi par l'ecriture«, von der Konstruktion einer »memoire future« (Lejeune 1991:150), die den Verlust der Kindheitserinnerungen ausgleichen soll, von einem dispositif pour observer Involution [...] non pas du >travail de l'icriturepourquoi j'dcris< auquel je ne peux ripondre qu'en icrivant, diffdrant sans cesse l'instant meme oü,

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mani£re propre d'envisager les övönements du passö. Le but ötait bien sür de brouiller le temps historique, de ruser avec le prötendu sens de l'histoire, en la soumettant, cette histoire, ä un ordre autre que chronologique. Deux idöes done au ddpart: le recours ä l'ordre alphabdtique, et le recours ä l'ordre numirique«. Vgl. auch das groß angelegte, unvollendet gebliebene autobiographische Projekt L'arbre, das sich in Gestalt eines genealogischen Baums mit seiner Familiengeschichte auseinandersetzen sollte und an dem Perec zwischen 1967-1971 sowie von 1979-1981 gearbeitet hat. Von einer »place vacante« ist die Rede »que l'oeuvre qu'il est en train d'öcrire va venir remplir«, von einer »relation nöcessaire« zwischen den verschiedenen Intertexten (Perec 1990a:36). Auch hier wird die Suche nach der Form mit der Suche nach der Geschichte (des Subjekts) verbunden. Über seine Psychoanalyse in den Jahren von 1971 bis 1975 sagt Perec 1985c:69: »Lorsque j'essayais de parier, [...] d'affronter ce clown intörieur qui jonglait si bien avec mon histoire, [...] tout de suite j'avais l'impression d'etre en train de recommencer le meme puzzle, comme si, ä force d'en öpuiser une ä une toutes les combinaisons possibles, je pouvais un jour arriver enfin ä l'image que je cherchais.«

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cessant d'icrire, cette image deviendrait visible, comme un puzzle inexorablement acheνέ. (Perec 19850:12)' 3

Und noch 1982, in seinem Todesjahr, berichtet er in »Penser/Classer« von der Versuchung, die Welt als Puzzle zu betrachten, um diese nicht nur literarische Utopie - die als Utopie aber Movens seines Schaffens war - wegen ihres unausgesprochenen Ordnungsanspruchs sogleich wieder zu verabschieden: »Toutes les utopies sont deprimantes, parce qu'elles ne laissent pas de place au hasard, ä la difference, aux >diversceuvre< inachevie ä l'intörieur d'une littirature jamais achevöe. Chacun de mes livres est pour moi l'iliment d'un ensemble; je ne peux pas d^finir l'ensemble, puisqu'il est par definition projet inachevable.« Perec deduziert daraus ein »projet d'öcriture dans lequel je ne ri-öcrirai jamais deux fois le meme livre, ou plutöt, dans lequel, ri-öcrivant chaque fois le meme livre, je l'öclairerai chaque fois d'une lumiöre nouvelle« (L'Arc 1979:3). Zu den La Vie mode d'emploi zugrundeliegenden Strukturen vgl. Perec 1979b, sowie die Arbeiten von Bernard Magn6, v.a. Magnö 1982. Dort hat Magn6 bereits auf die vielfältige intra- und intertextuelle Bedeutung der Metapher des Puzzle hingewiesen, die sich nicht nur auf die 99 Kapitel des Romans beziehen dürfe - jedes Kapitel setze sich nämlich noch einmal aus verschiedenen Textelementen zusammen, die Perec nach einem exakten mathematischen Schlüssel verteilt habe - , sondern darüber hinaus auch die Stellung von La Vie mode d'emploi als Teil des Gesamtwerkes von Perec sowie Teil des »vaste puzzle de la literature« berücksichtigen müsse (Magn6 1982:74). Er hat diesen Aspekt dann aber nicht weiterverfolgt. Magne 1982:78-80 hat in diesem Zusammenhang bereits die autobiographische Dimension dieser ordnenden Tätigkeit sowie die amimetische Wirkung des Puzzles erwähnt. In seinem Artikel untersucht er dann jedoch stärker die mit dem Puzzle verbundene »isotopie du manque« (Magn6 1982:81) in autobiographischer Hinsicht, Wenn Magn£ hier und in einem anderen Aufsatz glaubt, daß die »mise en procös du recit ne passe pas ici par une spectaculaire mise en crise de la dimension röförentielle: eile intervient sur d'autres plans et relfcve beaucoup plus du leurre sournois que de la rupture affichöe« (Magne 1990a: 187), dann scheint mir die hier untersuchte, intertextuelle bzw. literaturgeschichtliche Dimension von Perecs Texten eines dieser Verfahren der Problematisierung von Referenz zu sein, gerade weil sie sich als Suche nach ihr darstellt. Einen faszinierenden Einblick in die »Werkstatt« von La Vie mode d'emploi bietet

La Vie mode d'emploi: Lesarten des Puzzle - Puzzle der Lesarten

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rec, nicht nur die Frage der Historizität der Formen, sondern auch Fragen der Repräsentation und Referenz darzustellen. Schließlich ergibt nur ein zusammengesetztes Puzzle ein Bild; läßt es sich nicht zusammensetzen, d.h. nehmen die literarischen Formen keine eindeutige Gestalt an, läßt sich auch keine Aussage über Abbildungsverhältnisse treffen. Der Gebrauch der Metapher des Puzzle zielt gerade wegen dieses Zusammenhangs nicht nur auf die Gestaltung eines sich intertextuell verstehenden Kunstwerkes gemäß der spielerischregelhaften Auffassungen des Ouvroir de litterature potentielle, sondern vor allem auf eine historisch perspektivierte Legitimation des eigenen Textes in der Pluralität der (Inter-)Texte. Die intertextuelle Verknüpfung wird dabei in den Mikrokosmos des eigenen Werkes einbezogen. Das Puzzle als »mise en abyme« ist die Schaltstelle dieser Übertragung. Aus diesem Grund sollte man La Vie mode d'emploi m.E. nicht nur nach formalen bzw. narratologischen Gesichtspunkten befragen, wie dies ein Großteil der Sekundärliteratur tut 15 , sondern diesen Text ebensosehr als literaturgeschichtliche Stellungnahme des Autors lesen.16 Der aktuelle Text wird damit nicht nur zum Gedächtnisraum

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die Faksimile-Ausgabe von Perecs »cahier des charges«; vgl. dort auch das Vorwort von Hans Hartje, Bernard Magne und Jacques Neefs (Perec 1993). Magnö 1990b hat vor einer Verabsolutierung sowohl textualistischer als auch referentieller Interpretationen von Perecs Texten gewarnt. Sein Programm einer Lesart, die sich Perecs Kombinatorik zu eigen macht, umschreibt er wie folgt: »Relier des fragments disjoints, ötablir une continuiti par l'exercice d'une anamnöse textuelle, non pour reconstituer un chimörique etat originel ou retrouver les gestes du scripteur, mais pour faire surgir un tissu de relations et tracer dans l'espace du texte des itin6raires et des repferes dont quelques-uns sans doute ichappent au diterminisme des contraintes initiales: tel pourrait etre le programme de cette lecture rdticulde dont je voudrais ici proposer deux esquisses« (Magn£ 1990b: 155). Trotz des Begriffs der »anamnese textuelle« bezieht sich sein Lektürevorschlag auf das oulipoeske Regelwerk - und dessen Umgehung durch Perec. Vgl. hierzu auch sein Interesse am »clinamen«, ein Begriff, den er dem antiken Atomismus entlehnt (vgl. Fußnote 21). Neben den vielen impliziten intertextuellen Bezügen dokumentiert Perec auch explizit die von ihm zitierte Literatur in den »Piöces annexes«, dem 68 Seiten umfassenden Index (Perec 1978a:607-675), und v.a im »Post-scriptum« (Perec 1978a:695): »(Ce livre comprend des citations, parfois Iögörement modifies, de: Ren6 Belletto, Hans Bellmer, Jorge Luis Borges, Michel Butor, Italo Calvino [es folgt eine Liste von weiteren 25 Autoren].« Zu beachten ist dabei, daß Perec sich selbst in diese Liste aufgenommen hat, und es gibt in der Tat in La Vie mode d'emploi Anspielungen auf bzw. »redcritures« früherer Texte. Gemeint sind auch die verschiedenen Gattungen, die La Vie mode d'emploi enthält, die Vielzahl der Romane (darunter auch eigene), die Vielzahl behandelter Themen, die vielen Protagonisten, die das modernistische Modell des Künstlerromans bis an seine Grenzen führen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lesen wir in La Vie mode d'emploi Kriminalromane, Genealogien, Kataloge, Mythen, Forschungs- und Abenteuerberichte, Liebesromane, Literaturgeschichten, Memoiren und nicht zuletzt oulipoeske Literaturspiele; allein die Liste der dort behandelten Themen, der »Rappel de quelques-unes des histoires racontees dans cet ouvrage«, reicht über mehrere Seiten (Perec 1978a:691-694).

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früherer Texte, sondern darüber hinaus auch zum historischen (Auto-) Kommentar; im Puzzle stellt sich die Frage nach dem Gesamtbild, dem Rahmen, nach dem Verhältnis der Summe zu den Teilen: »Dans La Vie mode d'emploi, c'est un peu comme si, au bout de vingt ans d'ecriture, j'essayais de me colleter avec un travail oü j'aurais ä rendre compte de tout ce que j'ai fait depuis que j'ai commence ä ecrire« (Oriol-Boyer 1981:49). 17 Man kann ohne Übertreibung behaupten, daß, wenn Perec für frühere Texte einzelne Autoren und Werke als intertextuellen Bezugsrahmen angegeben hat, es sich im Falle von La Vie mode d'emploi um die gesamte Literaturgeschichte handelt. La Vie mode d'emploi könnte somit als hypothetischer Schlußstein des Puzzles Literatur gelesen werden, der in seiner Binnenstruktur die gesamte Literaturgeschichte und ihre Problemstellungen widerspiegelt. Wo die Textfigur der »mise en abyme« normalerweise wie keine andere den Bruch mit der Literaturgeschichte repräsentiert - und Belege für diesen Verwendungstyp der »mise en abyme«, nach dem sie die Struktur oder ein Teilelement des Gesamtwerkes im Werk reproduziert und damit als selbstreflexives Element die Entstehung einer »illusion referentielle« verhindert, finden sich auch bei Perec liegt die Besonderheit der Metapher des Puzzle gerade darin, daß sie die Werkeinheit zugunsten der (literarischen) Geschichte überschreitet. Damit schreibt sie dem Werk die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen neuer (literarischer) Formen ein. Eine Besonderheit der Anlage von La Vie mode d'emploi besteht m.E. nämlich darin, daß die jeweiligen, im Roman dargestellten ästhetischen Projekte nicht durch (Selbst-)Zitat oder durch Raumstrukturen (vgl. die neben dem Puzzle La Vie mode d'emploi ebenfalls zugrundeliegende Hausmetapher, die beide die Temporalität der Erzählung auf die Simultanität eines Raummodells zu projizieren scheinen) historisch entwertet bzw. suspendiert werden, eine Behauptung, aus der auf ihren melancholischen oder postmodernen Charakter geschlossen werden könnte, sondern daß sie vielmehr im Rahmen gedoppelt werden, daß der problematische Versuch der Einblendung einer Totalität unternommen wird. Durch die Übernahme wesentlicher Merkmale der verschiedenen ästhetischen Projekte in der von ihnen determinierten Struktur des Gesamttextes (welche sie wiederum umschließt) stellt Perec die Frage nach der Legitimation seines Romanprojekts. Neben dem beschriebenen Aspekt, der die Berücksichtigung von Struktur und Wandel der Literatur ermöglicht, erlaubt das Puzzle die Einbeziehung der pragmatischen Ebene, die über das von Bernard Magne 1982:78 festgehaltene »protocole de lecture« hinausgeht und bis hin zu modellhaften Inszenierungen von Intersubjektivität reicht. In einer als »Kunst des Puzzles« dem Roman vorangestellten Propädeutikum wird betont, daß es sich beim Puzzle nicht um

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Ein gleichlautender Autokommentar wird auch die Analyse der Lezioni americane Calvinos einleiten und bestimmen (vgl. Kap. 6).

La Vie mode d'emploi. Lesarten des Puzzle - Puzzle der Lesarten

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ein einsames Spiel, sondern um eine dialogische Konfrontation handelt (Perec 1978a: 18), womit Perec den meist positiv verwendeten Dialogbegriff negativ konnotiert. Denn Ziel einer »Kunst des Puzzles« ist eben nicht die schnelle Konstruktion eines Bildes, sondern der Versuch, sie, wenn nicht zu verhindern, so doch zu verzögern (Perec 1978a: 17), Repräsentation durch Täuschung zu unterlaufen. So ist zunächst keine semantisierbare Ordnung zwischen den einzelnen Textelementen und -ebenen erkennbar außer der mathematisch-formalen, die Perec als Distributions- und Strukturkriterium entwikkelt hat. Auch hier gilt, daß Untersuchungen von La Vie mode d'emploi, die sich darauf beschränken, deren Funktionsweise im Text aufzudecken, um im Anschluß daran die Frage nach der Konformität dieses Textes zu oulipoesker Ästhetik zu beantworten (vgl. Magne 1989c), an den Thematisierungen von (Inter-)Subjektivität, von Kommunikationsprozessen vorbeigehen, deren konkrete Ausgestaltung vielleicht sogar geeignet ist, die Grenzen des formalistischen Textmodells sichtbar zu machen. Denn es könnte sich im Sinne der »Kunst des Puzzles« auch bei einer durch den Text scheinbar suggerierten Lektüre, die auf Aufdeckung des ihm zugrundeliegenden, komplexen Regelwerks abhebt, um eine (Selbst-)Täuschung handeln. Im folgenden werden deshalb beispielhaft zentrale Lektürevorschläge aus La Vie mode d'emploi, die sich auf verschiedene ästhetische Projekte unterschiedlicher fiktionaler Ebenen beziehen, erörtert. Lassen sich Hierarchisierungen bzw. Wertungen ausmachen? Dabei interessieren uns vor allem die gegensätzlichen künstlerischen Projekte der beiden wichtigsten Protagonisten von La Vie mode d'emploi, Bartlebooth und Valene. Die Frage muß nun lauten, ob und inwieweit sich das Scheitern beider Protagonisten und ihrer ästhetischen Positionen auf den Roman insgesamt und damit auf Perecs ästhetische Positionen bezieht oder nicht.

5.2.2

Ästhetik im Widerstreit: Bartlebooth, Winckler und Valene

Bartlebooths Projekt, über mehrere Jahre hinweg 500 Hafenansichten aus aller Welt zu malen, sie zu Puzzles umarbeiten zu lassen, um sie dann nach seiner Rückkehr in Paris zu rekonstruieren und sie in einem letzten Schritt an den Originalschauplätzen wieder im Wasser auflösen zu lassen, ließe sich durchaus als avantgardistisch bezeichnen. Am Ende bleibt nur noch die weiße Seite übrig, die auch am Anfang dieses künstlerischen Prozesses gestanden hatte. Es geht nicht darum, die Totalität der Welt zu erfassen, »projet que son seul enonce suffit ä ruiner«, sondern ein Fragment, d.h. es geht darum, der Inkohärenz der Welt ein in sich geschlossenes Programm entgegenzusetzen (Perec 1978a: 156). Das Postulat der Notwendigkeit des Kunstwerks liegt dabei in einer Traditionslinie, die sich von Flaubert an entwickeln ließe, und es ist wohl auch eine gezielte Reminiszenz, wenn Bartlebooth behauptet, sein Projekt antworte auf die Frage »Que faire?« mit »rien«. Es gehe um eine

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Georges Perec

»certaine idee de la perfection« (Perec 1978a: 157), wobei die einzige Form, unter der ästhetische Perfektion und damit die geschichtliche Notwendigkeit des Kunstwerks noch vorstellbar scheint, in der Darstellung der Auflösung der Kunst liegt: Bartlebooth, en d'autres termes, döcida un jour que sa vie tout entifere serait organis^e autour d'un projet unique dont la nöcessite arbitraire n'aurait d'autre fin qu'elle-meme [...] un projet maitrisd d'un bout ä l'autre et qui, en retour, gouvernerait, dans tous ses details, la vie de celui qui s'y consacrerait. [...] I'entreprise ferait fonctionner le temps et I'espace comme des coordonnöes abstraites oil viendraient s'inscrire avec une rdcurrence ίηέΐιιο table des övenements identiques [...]: inutile, sa gratuitö 6tant l'unique garantie de sa rigueur, le projet se d&ruirait lui-meme au fur et ä mesure qu'il s'accomplirait. (Perec 1978a: 157)

Dieses selbstreferentielle, ahistorische und notwendig scheinende Projekt erscheint als umfassende, den Lebensvollzug integrierende Praxis, traditionell eines der Merkmale der Avantgarde. Die Ebene des Signifikats spielt keine Rolle; die serielle Konstruktion von nur durch leichte Varianten gekennzeichneten Hafenansichten betont, daß es hier um die Signifikantenebene geht. Der Werkcharakter wird, auch dies analog zur Theoriebildung der 60/70er Jahre, zugunsten eines prozeßhaften Verständnisses von Kunst, einer Definition der Kunst als Spiel mit klar vorgegebenen Regeln, aufgegeben. Und doch wird das Projekt an seinen Widersprüchen scheitern. Zunächst einmal scheitert es im Hinblick auf seine ästhetischen Ziele: Wenn Perec von Bartlebooths Projekt als den »variations sur le gris, bribes incomprehensibles d'une enigme sans fond, seules images d'un vide qu'aucune memoire, aucune attente ne viendraient jamais ä combler, seuls supports de ces illusions piegees« (Perec 1978a: 167) spricht, kritisiert er deutlich Konzepte formalistischer Literatur, indem er insbesondere die Gefahr der Wiederholung hervorhebt. Wenn Perec die Momente einer geglückten Lektüre, in denen es Bartlebooth gelingt, ein Puzzle zusammenzusetzen, beschreibt, inszeniert er ein ironisches Zitatpotpourri ästhetischer Vollkommenheitserfahrungen der Literaturgeschichte: Plus souvent heureusement [...] Bartlebooth atteignait une sorte d'ötat second, une stase, une espfcce d'höbitude toute asiatique, peut-etre analogue ä celle que recherche le tireur ä l'arc: un oubli profond du corps et du but ä atteindre, un esprit vide, parfaitement vide, ouvert, disponible, une attention intacte, mais flottant librement au-dessus des vicissitudes de l'existence, des contingences du puzzle et des embüches de l'artisan. [...]. Cette impression de grace durait parfois plusieurs minutes et Bartlebooth avait alors la sensation d'etre un voyant: il percevait tout, il comprenait tout, il aurait pu voir l'herbe pousser, la foudre frapper l'arbre, l'örosion meuler les montagnes comme une pyramide trös lentement us£e par l'aile d'un oiseau qui l'effleure [...] des espaces entiers se soudaient les uns aux autres, le ciel et la mer retrouvaient leur place, des troncs redevenaient branches, des oiseaux vagues, des ombres goemon. Ces instants priviligiis itaient aussi rares qu'ils etaient enivrants et aussi öphömäres qu'ils semblaient efficaces. (Perec 1978a:419f.)

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Eine der Anspielungen bezieht sich auf die Epiphanieerfahrung der Madeleine-Episode in der Recherche Marcel Prousts 18 , doch die Momenterfahrung einer »memoire involontaire« - bei Versuchen, diesen Zustand systematisch herbeizufuhren, scheitert Proust - , hat bei Bartlebooth einer mühsamen Systematik Platz gemacht, die auf Erinnerung und damit auf subjektive Perspektivierung verzichtet. Im Gegensatz zu Prousts Recherche kann bei Bartlebooth von der Bewahrung einer Essenz der Zeit sowieso nicht die Rede sein. Eine ästhetische Erhöhung des Gegenstandes findet ebensowenig statt, der Zusammenschluß von Vergangenheit und Gegenwart, wenn aus dem Puzzle wieder ein Aquarell geworden ist, fördert nichts zutage als ein »acquarelle intacte, telle qu'elle etait le jour oü, vingt eins auparavant, Bartlebooth l'avait peinte« (Perec 1978a:42). Neben Proust wird auch der »voyant« aus den »Lettres du voyant« Rimbauds als ästhetische Wahrnehmungsdisposition zitiert, ebenso die Vorstellung der Ewigkeit aus Rimbauds Gedicht »Eternite«: »C'est la mer allee/Avec le soleil«. 19 Bartlebooth gelingt eine ähnliche »absolute« Erfahrung nicht mehr; zum Erreichen der oben beschriebenen Zustände muß er stets aufs neue Puzzle öffnen: »A mesure qu'il l'avait assouvi, dans la frustration ou l'enthousiasme, son desir s'etait eteint, ne lui laissant d'autre issue que d'ouvrir une nouvelle boite noire« (Perec 1978a:421). Das Spiel des Bartlebooth, dessen Aporien Perec am Beispiel der Hafenansichten deutlich macht, scheitert nicht zuletzt an der problematischen Zeitstruktur der Wiederholung. So werden die verschiedenen Teile des Puzzles Bartlebooth zu »les pions biscornus d'un jeu sans fin dont il avait fini par oublier les regies, ne sachant meme plus contre qui il jouait, quelle etait la mise, quel etait l'enjeu« (Perec 1978a: 167) eine deutliche Kritik an einem (postmodernen) Spielbegriff. Dieses scheinbar avantgardistisch angelegte Projekt hat jeden emanzipatorischen Charakter eingebüßt, im Gegenteil, Bartlebooth verliert seine Freiheit, je weiter sein künstlerisches Projekt voranschreitet (Perec 1978a: 166, 528). Die Kritik Perecs ergreift damit am Ende auch die von ihm selbst praktizierte oulipoeske Ästhetik. Das Verfahren regelgeleiteter Textproduktion wird

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»Mais ä l'instant meme oü la gorgie melie des miettes du gäteau toucha mon palais, je tressaillis, attentif ä ce qui se passait d'extraordinaire en moi. Un plaisir dölicieux m'avait envahi, isoli, sans la notion de sa cause. II m'avait aussitöt rendu les vicissitudes de la vie indifferentes, ses ddsastres inoffensifs, sa brifevete illusoire, de la meme fa^on qu'op£re l'amour, en me remplissant d'une essence pricieuse: ou plutöt cette essence n'etait pas en moi, eile itait moi. J'avais cessö de me sentir mddiocre, contigent, mortel« (Marcel Proust, A la recherche du temps perdu. [6d. Pierre Clarac, Andrö Ferre]. Paris 1954, I, 45). Man könnte auch noch eine Anspielung an Sartres Nausee vermuten: »des troncs redevenaient branches«. Der Vollständigkeit halber sei daraufhingewiesen, daß diese Zitate, so auffällig ihre Parallelen zu Perecs Text auch zu sein scheinen, im Cahier des charges nicht dokumentiert sind. Allerdings ist Perec von diesem Distributionsprogramm mitunter abgewichen.

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Georges Perec

ambivalent: D i e Potentialität als Schlüsselbegriff der Ästhetik des Ouvroir de litterature potentielle wird vor dem Hintergrund der aus der Aktualisierung der Regel entstandenen Form problematisiert. D i e Herausforderung wird auf z w e i Seiten gesehen: in der Konfrontation mit dem Phänomen von Wiederholung und Wiederholbarkeit auf der einen, mit der aktualisierten und damit irreversiblen Geschichte auf der anderen Seite. D i e s e s doppelte Spannungsverhältnis allein ermöglicht erst die Erfahrung von Verlust und Melancholie. Perec reflektiert hier indirekt eine Debatte, die in den Kreisen v o n Oulipo gegen Ende der 70er Jahre gefuhrt wurde. Soll die »contrainte«, die textgenerierende Regelvorgabe offengelegt werden oder aber i m Werk versteckt bleiben? Calvino war für die Offenlegung eingetreten, Perec dagegen (Oriol-Boyer 1981:54), in seiner ästhetischen Praxis jedoch, vor allem in La Vie mode d'emploi, gibt es ein eindeutiges Primat der erzählten Geschichte, die damit g e g e n die Potentialität »ausgespielt« wird. 2 0 In diesem Zusammenhang kann man sich auch fragen, ob nicht das »clinamen«, jener wichtige Gegenpol zur Theorie der »contrainte« in der Ästhetik von Oulipo, d.h. das mit dem Begriff aus der antiken Atomtheorie bezeichnete Abweichen von der Regel, nicht geradewegs zum Bild für das Wirken der Geschichte wird. 21 Bartlebooths

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»S'il y a, dans La Vie mode d'emploi, des lectures potentielles (par exemple ä partir de l'Index), l'essentiel du livre repose malgrö tout sur l'actualisation, la röalisation effective de ce que les contraintes permettent« (Magnö 1989c: 162). Der »röseau« der vielen »contraintes« produziert nach Magnö dabei einen semantischen Reichtum, der über die »contrainte« hinausgeht (ebd.). Perec gehe es eher um die Ausfüllung der Potentialität, vgl. auch seine Vorliebe für die Listen, die »tentatives d'ipuisement...« 2 ' Warren F. Motte 1986:19 verweist auf Lukrez' Begriffsverwendung »clinamen atomorum« (De rerum natura, II, 216-293), einen Begriff, den dieser gegen Demokrits deterministisches Atommodell profiliert habe. Den Versuch einer Reaktualisierung dieses Begriffs sieht er bei Harold Bloom, The anxiety of influence (1973), Kabbalah and Criticism (1975), A map of misreading (1975) sowie Agon von 1982, bei Michel Serres, La naissance de la physique dans le texte de Lucrece: Fleuves et turbulences (1977) und Jeffrey Mehlmann, Cataract. A study in Diderot (1979); außerdem verweist er auf eine Debatte dieses Begriffs in Sub-Stance 40 (1983). Magn6 1989c:158 erklärt die Funktionsweise dieses Begriffs für Oulipo: »Dans l'icriture perecquienne comme dans l'6criture oulipienne, la contrainte est d'autant plus productive qu'elle se combine avec sa propre contestation. Toute contrainte suppose l'intervention d'un öcart, d'un disfonctionnement momentanö: c'est ce qu'avec les oulipiens on appelle le clinamen.« Magnö bezeichnet dieses Verfahren auch als »producteur de sens« (Magne 1989c: 159), warnt allerdings vor der Gefahr einer Fehlinterpretation: »En tant qu'ultime figure de la ddconstruction, le clinamen perecquien me semble done receler ä la fois un paradoxe, un risque et une aporie. Le paradoxe serait simplement celui d'un dispositif qui s'efforce de faire illisible pour rendre lisible. Le risque serait qu'ä multiplier les obstacles ä la reconstruction on n'aboutisse, έ l'inverse, ä la valoriser et done ä l'encourager. L'aporie enfin serait la suivante: est-il possible d'affirmer que le sens du texte surgit de l'ecart au syst£me et en meme temps d'effacer la trace du systeme, interdisant par lä meme tout repdrage de l'0cart?« (Magnö 1989d:238).

La Vie mode d'emploi: Lesarten des Puzzle - Puzzle der

Lesarten

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zunehmende Erblindung hebt die Prämissen seines formalistischen Projektes auf, jenen Glauben, sich der Wirkung von Raum und Zeit, der Kontingenz in der Kunst entziehen zu können. Perec bedeutet dies unmißverständlich, wenn er Bartlebooth im Moment seines Todes anstelle des X, das den letzten fehlenden Stein des 439. Puzzle darstellt, ein W in der Hand halten läßt: der Verweis auf den Holocaust, auf die Erinnerung, auf die geschichtliche Dimension der Sprache.22 Weitere Widersprüche beziehen sich auf die intersubjektive Ebene. Sie werden am Beispiel der Lektüre des Puzzle abgehandelt, beziehen sich also zum einen auf seine Herstellung ausgehend vom Aquarell sowie auf seine Rekonstruktion, und damit auch auf gesellschaftliche Kommunikationsprozesse. Dabei treten in einem ersten Moment Bartlebooth und der von ihm mit der Herstellung der Puzzles betraute Gaspard Winckler in ein Verhältnis der Interaktion, das durchaus antagonistische bzw. agonale Züge trägt (Perec 1978a:412-421). Der ganze Roman erscheint nach den Worten des Erzählers sogar als die Geschichte einer Rache: »Gaspard Winckler est mort, mais la longue vengeance qu'il a si patiemment, si minutieusement ourdie, n'a pas encore fini de s'assouvir« (Perec 1978a:22). Hier, am Schnittpunkt von Diskursen, von problematischer (Inter-)Subjektivität und ästhetischem Projekt liegt m.E. die Originalität Perecs. Perecs Faszination für die ästhetischen Projekte von Valene und Bartlebooth wird von derselben Haßliebe geprägt, die auch die Protagonisten füreinander empfinden. Perec sieht in der Rache das zentrale Thema, das den Rahmen und auch die zeitliche Dynamik von La Vie mode d'emploi bestimmt (Oriol-Boyer 1981:56).23 Das Motiv der Rache

22

Das W verweist vor allem auf W ou le souvenir d'enfance, auf die Suche nach der verlorenen Geschichte der Kindheit. Über die Metamorphosen des W, des X, heißt es dort, sie stünden als Zeichen für das »mot rayö nul - la ligne des χ sur le mot que Ton n'a pas voulu ecrire - , signe contradictoire de l'ablation [...] et de la multiplication, de la mise en ordre (axe des X) et de l'inconnu mathömatique, point de dipart enfin d'une g0om£trie fantasmatique dont le V d^doublö constitue la figure de base et dont les enchevetrements multiples tracent les symboles majeurs de l'histoire de mon enfance« (Perec 1975:105f.). Gemeint sind hier, wie Perec im weiteren Verlauf des Zitats unter Zuhilfenahme von Skizzen zeigt, das Hakenkreuz, das Zeichen der SS und der Judenstern.

23

Für die Bedeutung des Gaspard-Stoffs, die über die hier dargestellten Elemente hinausgeht, vgl. Bellos 1994:216, dort v.a. die Anspielung auf Aloysius Bertrands Gaspard de la nuit (1842) sowie Verlaines Gedicht »Gaspard Hauser chante«. Die Figur Gaspard Wincklers läßt sich im Werk Perecs bis in das Jahr 1958 zurückverfolgen. Betrachtet man ihre Entwicklung, berücksichtigt man dabei ihre enge Verbindung mit Fragen des künstlerischen Werdegangs und Selbstverständnisses von Georges Perec, wird die Bedeutung der »longue vengeance qu'il a si patiemment, si minutieusement ourdie« im Hinblick auf die Frage der Textproduktion offenkundig. Die Figur Gaspard Winckler ist in den verschiedensten Texten Projektionsfläche für die Suche nach einem ästhetischen Projekt, für die Angst vor einem eventuellen Versagen als Schriftsteller. Die Frage von Authentizität und Fälschung ist dabei zentral für Perecs Suche nach einem literarischen Projekt, lange

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Georges Perec

Wincklers liegt in einer Art ästhetischer Mimesis des Begehrens, mit der sich Perec auch noch in späteren Texten, z.B. Un cabinet d'amateur, auseinandersetzen wird. Dieser Mechanismus hilft die im Text aufbrechenden Ausbrüche von Wut, Haß, Aggression und Angst auf Seiten der Protagonisten und Künstler zu erklären: ob es die Panik eines Bartlebooth angesichts der Sysiphusarbeit der (De-)Konstruktion einer reinen Form ist, an die er nicht glauben kann, und die er daher stets aufs Neue erzeugen muß, die Verzweiflung eines Valene bezüglich der Sinnhaftigkeit sowie der Form seines MemoriaProjektes, oder die Aggressivität eines Gaspard Winckler, der mit seinem

bevor dieses Gegensatzpaar postmodeme Konjunktur erlangt hat. Dabei geht es immer auch um die Frage künstlerischer Eigenständigkeit, um das Thema des Bruchs mit der Tradition, ein Thema, das im hier behandelten Kontext von Avantgarde und Postavantgarde große Relevanz besitzt. Gaspard war der Titel des »troisiöme premier livre« (Bellos 1994:214) Perecs, d.h. des dritten, von Perec verfaßten, aber unveröffentlicht gebliebenen Romanentwurfs; Perec spricht von einem »livre de la döfilialitö [...] ma premiere ceuvre ne peut etre que la totale destruction de tout ce qui m'engendra« (zit. nach Bellos 1994:217). Gaspard ist dort wie in La Vie mode d'emploi ein Schreiner, der eine Holzschachtel perfekt zu imitieren bemüht ist, sich dann aber in den Details seiner Imitation verliert. In Le condottiere ist Winckler dann ein Kunstfälscher, der mit seiner Kopie von Antonello di Messinas gleichnamigen Bild ein Meisterwerk der Fälschung realisieren soll, eine Aufgabe, an der er jedoch scheitert (vgl. Bellos 1994:243-250). Daraufhin bringt er seinen Auftraggeber um. Der zweite Teil von Le condottiere sollte dann in einem Portrait der künstlerischen Ambitionen Wincklers bestehen. In den vorliegenden Textfragmenten wird nicht nur die Nähe zwischen Winckler und Bartlebooth deutlich und damit das Motiv seiner Rache erklärbar, sondern auch die zwischen Perec und Bartlebooth: Dessen ästhetisches Projekt repräsentiert eine bestimmte Phase der Entwicklung Perecs, die er nach und nach hinter sich gelassen hat, ist Ausdruck einer Angst vor künstlerischer Impotenz, vor der Wiederholung. So sagt Winckler: »Tout ce qui me restait, c'&ait d'dpuiser le Benezit. Tous les peintres, graveurs et sculpteurs... Dans l'ordre alphabötique... [...]. Comme ces gosses qui jouent ä mettre un grand icrivain, un peintre, un musicien, une capitale [...] sous une meme lettre... Voilä. J'en 6tais röduit ä ce jeu stupide« (Bellos 1994:246). Antonello di Messina ist der Künstler, der Winckler nicht werden kann. Wenn das Fazit von Wincklers Lebensbeichte in Le condottiere lautet: »Et comme lui [Antonello di Messina] tu iras vers le monde, cherchant l'ordre et la coh£rence, cherchant la vöriti et liberty« (Bellos 1994:248), dann erinnert dies überdeutlich an die Präambel von La Vie mode d'emploi und die in ihr erteilte Leseanweisung zum Puzzle. Deswegen kann Bellos 1994:250 auch nicht zugestimmt werden, wenn er Winckler als die »figure de l'angoisse de Perec, non pas de son ambition« bezeichnet. Winckler (und auch Bartlebooth) sind beides, und dies macht gerade die Spannung der im Roman gestalteten intersubjektiven Beziehungen, des Wettstreits ästhetischer Konzepte aus. Der Auftraggeber, den Winckler ermordet, hat die gleichen Initialen wie Antonello di Messina. Bellos sieht hier zu Recht eine »scene primaire sinon primale, une fiction originaire qui enveloppe, sous la double cape de l'art et du crime, ce terrible ressentiment profond6ment enfoui qui allait dösormais propulser Perec ä travers son extraordinaire avancie dans l'0criture, jusqu'ä la demidre page chatoyante de la Vie mode d'emploi, et son p6trifiant renversement« (Bellos 1994:250).

La Vie mode d'emploi: Lesarten des Puzzle - Puzzle der Lesarten

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Kopistenschicksal nicht zufrieden ist und dafür Rache nimmt. Letztlich liegt also das gewichtigste Argument gegen die postmoderne Vorstellung eines Puzzles (Literatur-)Geschichte in der Praxis. Perec führt uns vor Augen, daß die Pragmatisierung einer postmodernen Vorstellung scheitern kann: so ist es auch kein Zufall, daß weder Bartlebooth noch Valene ihre Puzzle vollenden.24 Wie reagiert nun die Gesellschaft auf die Provokation des Projekts von Bartlebooth, die darin besteht, daß er es dem gesellschaftlichen Kommunikationsprozeß entziehen will? Wie kann sie es überhaupt wahrnehmen, als Kunst rezipieren und sich mit ihm auseinandersetzen, wo doch Bartlebooth alles daran setzt, sein Vorhaben als solipsistisches, individuelles ästhetisches Erleben geheim zu halten? Zwei Beispiele: Der Fernsehproduzent Rohrschash trifft wie die übrigen Hausbewohner die direkt literaturtheoretisch beziehbare Feststellung: »personne ne savait vraiment comment tous ces elements se combinaient entre eux« (Perec 1978a:95). Eine Sendung »oü l'on ferait rien de moins que reconstituer toute l'affaire [...] un projet qui tenait ä la fois des Chefs d'ceuvre en peril et des Grandes batailles du passen (Perec 1978a:95f.), soll darauf die Antwort geben. Handelt es sich hier um die ironische Verabschiedung des avantgardistischen Anspruchs, um seine Integration in den Markt? Perec verweist neben den Medien auch auf die Kritik als gesellschaftlich institutionalisierten Metatext. Der Kunstkritiker Charles-Albert Beyssandre soll für den Hotelkonzern »Marvel House International« mäzenatisch tätig werden. Seine Idee: nicht eine große, sondern eine kleine Sammlung von Meisterwerken aufzubauen (Perec 1978a:524), deren Zugang stark limitiert ist. Bartlebooths Aquarelle bzw. Puzzle sollen dazu gehören: »ce serait ces

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Die Lektüre des Puzzle, die Bildung von Kontinuität ausgehend von der Diskontinuität, von Identität ausgehend von der Differenz, entwickelt sich zu einem Kampf zwischen Bartlebooth und Winckler. Bartlebooths Versuche einer strukturellen Lektüre der Puzzles (Perec 1978a:413) werden mit einem Begriff von Ganzheit gekontert, der die 500 Puzzles als Einheit begreift (Perec 1978a:418), ein Widerstreit, dessen literaturgeschichtliche Bedeutung zu Beginn angesprochen wurde. Immer wenn Bartlebooth glaubt, den Aufbau der Puzzles durchschaut zu haben, stellt sich heraus, daß der Bezugsrahmen filr Wincklers Ausarbeitung des Puzzles der Zusammenhang der 500 Puzzles war, jedes einzelne Puzzle als Puzzleteil eines imaginären Puzzles konzipiert ist und damit verschieden ausfällt. Voreinstellungen, die das Erkennen von Formen (hier: von Puzzleteilen) erleichtern, etwa das Gedächtnis, das Erkennen der Referenzebene, werden strategisch zur Täuschung genutzt. Es wird die Fähigkeit eingefordert, »[de] voir autrement ce que fallacieusement l'autre lui donnait ä voir« (Perec 1978a:415). Damit wird der Begriff des Gedächtnisses auch nicht mehr ausschließlich positiv konnotiert. Über die Ambivalenzen der verschiedenen Erfahrungen von Intersubjektivität bemerkt Perec 1983c:78f.: »C'est un livre [La Vie mode d'emploi] qui parle beaucoup de la passion, de la passion des gens pour les choses inutiles.[•..]· Je crois que ce sont des histoires d'amour mais qui sont un peu ddcaldes, dont l'objet du ddsir n'est pas toujours immidiat.«

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oeuvres memes que leur auteur souhaitait faire absolument disparaitre qui constitueraient le joyau le plus precieux de la collection la plus rare du monde« (Perec 1978a:528). Gerade weil Bartlebooth seinem Projekt den Charakter eines Kunstwerks abspricht, ist es für Beyssandre ein Kunstwerk. Diese Konstellation mündet in einen offenen Konflikt zwischen Bartlebooth und Beyssandre. Antithetisch zu Bartlebooths Kunstauffassung verhält sich das Vorhaben Serge Valenes. Valenes Projekt ist Gedächtnisarbeit, stellt Fragen der Repräsentation in den Vordergrund; es ist der Versuch, die Geschichte des Hauses und seiner Bewohner in einem Bild festzuhalten. Auch dieser Plan ist nicht frei von Widersprüchen: die Deskription ist arbiträr im Hinblick auf Selektion und Repräsentation des Dargestellten. Diese Problematik wird in La Vie mode d'emploi am Beispiel verschiedener Sammlerfiguren abgehandelt. Ein Höchstmaß an komplexer Ordnung korrespondiert dabei mit dem Zufall (wie im Falle von Wincklers Sammlung von Hoteletiketten, Perec 1978a:54), eine Reflexion, die sich direkt auf Theorie und Praxis von Oulipo übertragen läßt. James Sherwood, Sammler von Unikaten (Perec 1978a:l 16ff.), der auf seiner Suche nach dem Heiligen Gral geprellt wird, scheint darüber keine Melancholie zu empfinden - anders als die literarische Avantgarde nach dem Verlust des »wahren« Textes. Es hält sich sogar das Gerücht, er habe diese gewissermaßen postmoderne Inszenierung der Nivellierung von Original und Kopie genossen und sich dabei noch gewitzter verhalten als die Betrüger, die er mit Falschgeld bezahlt habe. 25 Ein weiteres Problem ist das der temporalen Ordnung der Repräsentation. Die Deskription erfaßt die Identität des zu Beschreibenden nur für den Augenblick der Deskription, woraus Perec die Konsequenz zieht, seinen Roman als Deskription eines einzigen Augenblicks zu gestalten, der Vergangenheit und Gegenwart in sich birgt: »C'est le 23 juin mille neuf cent soixante-quinze et il va etre huit heures du soir« (Perec 1978a:600). Die Zukunft (der Form) allerdings ist aus der Deskription ausgeblendet. Die Zeit explodiert.26 Valene gibt folgende Beschreibung vom eigenen Projekt: »L'idee raeme de ce tableau qu'il projetait de faire [...] l'idee meme de cet immeuble eventre montrant ä nu les fissures de son passe, l'ecroulement de son present, cet entassement sans suite d'histoires grandioses ou derisoires, frivoles ou pitoyables, lui faisait l'effet d'un mausolee grotesque« (Perec 1978a: 168). Es geht Valene im wahrsten Sinne des Wortes um eine Archäologie (»mausolee grotesque«), die keine Geschichte ausbilden

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Dies geht aus einem Indiz hervor, »l'arrestation, en Argentine, en 1898, d'un reseau de faux-monnayeurs tentant d'äcouler massivement des coupures de vingt dollars« (Perec 1978a: 130). Man beachte die Anspielung an Gides Faux-monnayeurs. »Le moment oil Bartlebooth est en train de mourir. En fait ä partir de cette unique seconde on fait tout exploser, comme quelqu'un qui se souvient de toute sa vie avant de mourir« (Perec 1983c:78).

La Vie mode d'emploi: Lesarten des Puzzle - Puzzle der

Lesarten

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kann, um ein »entassement sans suite d'histoires«. Und dennoch ist Valenes Projekt von Hoffnung auf Auflösung der zuvor benannten ästhetischen und damit historischen Widersprüche geprägt (»Valene, parfois, avait l'impression que le temps s'etait arrete, fige autour d'il ne savait quelle attente«, Perec 1978a: 168).

5.2.3

Rahmen-Geschichten: Die Poetik von La Vie mode d'emploi

Die beiden Kunstprojekte von Bartlebooth und Valene verkörpern die Spezifik der Ästhetik Perecs im Kontext der Entwicklung der Gegenwartsliteratur der 60er und 70er Jahre: die Problematik der Erfassung der Referenz, des Wechsels der Formen, die Selbstreferenz von Sprache und Text beim gleichzeitigen Willen, Geschichte abzubilden. Perec thematisiert die Polarität einer (literatur)geschichtlichen Konstellation, die auch noch diejenige der Avantgarde gewesen war. Zugleich ist La Vie mode d'emploi bereits der Versuch, dieses Schema hinter sich zu lassen. Wenn Valenes Bild die Geschichte des Hauses und seiner Bewohner abbildet, dann ist in diesem Bild auch die Geschichte Bartlebooths sowie die seines künstlerischen Projekts enthalten. So trägt Perecs Darstellung des Projekts von Bartlebooth Züge einer Auseinandersetzung mit der Geschichte einer Avantgarde, deren Versuchungen ihm selbst nicht fremd waren. Am Ende von La Vie mode d'emploi, als man im Zimmer des Malers Valene, der Bartlebooth nur um wenige Wochen überlebt hat, sein Bild sehen kann, ist es jedoch leer, eine weiße Oberfläche, auf der lediglich die Strukturskizze des Hauses zu sehen ist, Form ohne Inhalt. Dieses Ende stellt die Frage nach den Zielsetzungen, dem telos der Gesamtanlage der »Romane«, die nach dem Wortlaut des Untertitels La Vie mode d'emploi konstituieren. Kurz vor Drucklegung sei sich Perec über die Redeinstanzen im Roman noch unsicher gewesen, sei Valene noch der Erzähler des Textes gewesen (Magne 1989b:67), danach jedoch sei er durch einen Erzähler in der dritten Person ersetzt worden. Am Ende bleibt unklar, wie sich Bild und Bildbeschreibung, der gesamte Roman sowie eine der in ihm dargestellten Ästhetiken, wie sich also ein historisch determiniertes Textmodell und die Literaturgeschichte zueinander verhalten. Magne 1989b:69 spricht von einer »aporie enonciative: toute interpretation diegetique de la situation d'enonciation bute sur l'indiscutable existence du tableau, qui impose une lecture metadiegetique; mais toute lecture metadiegetique bute sur l'irrecusable vacuite du tableau, qui impose une lecture diegetique« (Magne 1989b:69f.).27 Negiert sich der Ro-

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Auch wenn Magnö 1989b:68 eine bestimmte Tendenz ausmachen will: »il en ressort que le tableau de l'immeuble est pr£sent6 tantöt comme hypothfese (sequences au conditionnel), tantöt comme projet (siquence au fiitur), tantöt comme rialiti (söquences au ρτέ-

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man, der ja die Geschichte des Hauses erzählen wollte, somit selbst, indem er nach Magne metadiegetisch ausfällt und sich damit, könnte man hinzufugen, dem gescheiterten Projekt Bartlebooths annähert? Ist nicht andererseits bei diegetischer Betrachtungsweise Bartlebooths künstlerisches Vorhaben in Valenes »Mausoleum« eingeschlossen, und damit als erzählter »Text« Teil der Vergangenheit? 28 Oder muß hier ein weiterer Außenstandpunkt angenommen werden? Denn wer erzählt den »Epilogue« nach dem Tod von Bartlebooth und Valene? Die Besonderheit dieser Hausstruktur liegt also darin, daß sie keinen übergeordneten Charakter besitzt. Sie stellt keine Synthese in bezug auf die als defizitär markierten Kunstvorstellungen dar, die mit ihr auf paradoxe Weise verbunden sind. 29 Perec führt durch diese Gleichsetzung der narrativen Muster des Textes und ihre jeweilige Relativierung auch sein eigenes Kunststreben in seiner Widersprüchlichkeit vor Augen. Autoreferentielles Formenspiel und mimetisch geprägte Literatur werden nicht gegeneinander ausgespielt, wie noch in der Avantgarde, sondern gegeneinander geführt. Es handelt sich um ein wechselseitiges Einschlußverfahren, das die Beschränkung der jeweiligen Kunstauffassungen aufzeigt. Konzentriert man den Blick auf Bartlebooth, so zeigt Perec die Aporie einer Avantgarde, die nach systematischer Erforschung der Formensprache vor dem Paradox steht, noch ihre (Selbst-)Zerstörung im literarischen Werk kommunizierbar machen zu müssen, die Auflösung der Kunst in der Kunst darzustellen.30 In diesem Paradox stellt Perec die Frage nach der Zukunft der Literatur von ihrem möglichen Ende her.

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sent). Or les söquences au präsent sont, je viens de le dire, largement dominantes, par leur nombre et surtout par leur dynamisme, car elles tendent ä 61iminer au fur et ä mesure de l'avancie du texte les occurrences du conditionnel et du futur«. Vgl. beispielsweise die Indexe und Listen am Ende des Buchs, die der Benutzer als bereits realisierte, vergangene Formen von Theorie und Praxis der Kunst ansieht. Deshalb kann auch Nitsch 1994:59 nicht zugestimmt werden, der davon ausgeht, daß »sich der Erzähler des Lebens ganz auf die Seite seines konstruktiven Doubles Vatene [schlägt], während er vom dekonstruktiven Gestus seines Doubles Winckler gleichsam in letzter Minute Abstand nimmt. Wo auf Geschichtsebene das Chaos siegt, dort setzt sich auf Vermittlungsebene eine als arbiträr reflektierte, in sich aber vollkommen geschlossene Ordnung durch«. Vgl. dazu Perecs Begeisterung für Melvilles Bartleby the Scrivener, wo die Verweigerung des Schreibprozesses »geschrieben« werden muß.

Un cabinet d'amateur und der Tod der Kunst

5.3

Un cabinet d'amateur und der Tod der Kunst

5.3.1

A nch 'io son' pittore: Gedächtnis und Kreativität

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Un cabinet d'amateur. Histoire d'un tableau, dieser letzte zu Lebzeiten von Perec erschienene Text, kann neben vielen anderen Interpretationsmöglichkeiten auch als Eigenkommentar Perecs zu La Vie mode d'emploi bezeichnet werden; denn auch dieser Roman ist in gewisser Hinsicht die »Geschichte eines Bildes«, jenes Bildes von Serge Valene aus La Vie mode d'emploi. Der Begriff des Kunstkabinetts meint bereits die Repräsentation einer musealen Struktur, insofern hier die Bilder eines Museums in einem anderen Bild dargestellt werden. Wir haben es also mit einer selbstreferentiellen Struktur zu tun, die die Geschichtlichkeit der Kunst und ihre Gedächtnisfunktion in einem noch direkteren Maß als in La Vie mode d'emploi reflektiert, und zwar in Form einer potenzierten Beobachtung: im Bild des Kunstkabinetts wird das alle Gemälde vereinende Bild erneut dargestellt, eine Figur des regressus ad infinitum. Eine weitere Besonderheit dieser Textstruktur ist, daß in den sukzessive immer kleiner dargestellten Kunstkabinetten Varianten der einzelnen Bilder beschrieben werden, deren Sinn im Dunkeln liegt. Sinnkonstitution scheint nicht mehr möglich, die Zeichen verweisen nurmehr auf sich selbst. Im Text macht sich der Kunstkritiker Lester Nowak mit seinem Artikel »Art and Reflection« zum Sprachrohr dieser selbstreflexiven und intertextuellen (intermedialen) Interpretation des Kunstwerks: »Toute oeuvre [est] le miroir de l'autre«; dargestellt werde eine »dynamique reflexive«, das Werk repräsentiere die gesamte Geschichte der Kunst, ihre Transposition in einen synchronen, räumlichen Zusammenhang (Perec 1979a:29ff.). Der explizite Vergleich mit der Las A/ew'rcas-Interpretation von Foucault verweist auf diesen poststrukturalen Zusammenhang. Die Konsequenz aus einer solchen Auffassung einer problematisch gewordenen Unterscheidung von Original und Kopie ist das mögliche Ende der Kunst, die nur noch zu Wiederholung und Selbstbespiegelung fähig ist, ist umgekehrt die Frage nach der verbleibenden Möglichkeit authentischer Kunst: Cette oeuvre itait une image de la mort de l'art, une reflexion sp6culaire sur ce monde condamne ä la r6p6tition infinie de ses propres modfeles. Et ces variations minuscules de copie ä copie [...] ötaient peut-etre l'expression ultime de la mdancolie de l'artiste: comme si, peignant la propre histoire de ses ceuvres ä travers l'histoire des ceuvres des autres, il avait pu, un instant, faire semblant de troubler >l'ordre dtabli de l'artlibert6 de l'artiste< face au monde qu'il est mercantilement charg6 de reproduire, et pas davantage d'une perspective historico-critique assignant au peintre l'impossible hdritage d'on ne sait trop quel >äge d'or< ou »Paradis perdutrompe l'ceil