Politische Systeme in Deutschland [1 ed.] 9783428446308, 9783428046300


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Politische Systeme in Deutschland [1 ed.]
 9783428446308, 9783428046300

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Politische Systeme in Deutschland

STUDIEN ZUR DEUTSCHLANDFRAGE Herausgegeben vom Göttinger Arbeitskreis

BAND 4

Politische Systeme in Deutschland

Mit Beiträgen von Georg Brunner • Otto Kimminich Siegfried Mampel • Günter Püttner • Ulrich Scheuner Klaus Stern • Gottfried Zieger

DUNCKER & HUMBLOT I

BERLIN

Die in dieser Reihe veröffentlichten Beiträge gehen ausschliefilich die Ansichten der Verfasser wieder.

Der Göttinger Arbeitskreis: Veröffentlichung Nr. 424 Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlln 41 G e druckt 1980 bei Buchdruckerei A . Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlln 61 Printed in Germany

© 1980 Duncker

ISBN 3 428 04630 7

INHALT Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat der Bundesrepublik Deutschland Von Prof. Dr. Otto Kimminich, Universität Regensburg

7

Das politische System in der DDR Von Prof. Dr. Georg Brunner, Universität Würzburg

41

Die Stellung des Individuums in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland Von Prof. Dr. Klaus Stern, Universität Köln

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Individuum und politisches System in der DDR Von Prof. Dr. Gottfried Zieger, Universität Göttingen . . . . . . . . . . . . . .

79

Partizipation der Bürger in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland Von Prof. Dr. Günter Püttner, Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer ............. . ...................................... 101 Teilnahme der Bürger im politischen System der DDR Von Prof. Dr. Siegfried Mampel, Berlin

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Vom Selbstverständnis der Bundesrepublik Von Prof. Dr. Ulrich Scheuner, Bonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

Die Beiträge dieses Bandes fußen auf Vorträgen, die auf der Wissenschaftlichen Jahrestagung des Göttinger Arbeitskreises am 19. und 20. April 1979 in Mainz gehalten wurden.

DER FREIHEITLICH-DEMOKRATISCHE RECHTSSTAAT DER BUNDESREPUBLIK DEUSCHLAND Von Otto Kimminich "Die Lebensform der freiheitlich-rechtsstaatliehen Demokratie ist, historisch gesehen, vorläufig noch Episode1." Diese Worte stehen am Anfang einer Untersuchung über die rechtsstaatliche Demokratie, und sie stammen von einem Bundesverfassungsrichter. Sie können daher nicht leichthin als Ausdruck eines modischen Kulturpessimismus abgetan werden. Aber auch die Abgeklärtheit des distanzierten historischen Betrachters, der darauf hinweist, daß letztlich alles in der menschlichen Geschichte Episode ist,- sofern man nicht die Meinung vertritt, in der Endzeit zu leben -, ist nicht angebracht. Steinherger - er ist es, der hier zitiert worden ist - erläutert in dem darauffolgenden Satz seine Aussage zur freiheitlich rechtsstaatliehen Demokratie: "Ob dieser bislang anspruchsvollste aller Gesellschaftsentwürfe Bestand haben wird oder ob er das menschliche Vermögen zur Schaffung einer politischen Kultur der ,offenen Gesellschaft' nicht überzieht, wird sich erst in der Zukunft ausmachen lassen." So tröstlich dieser Satz auf den ersten Blick erscheint, weil er immerhin die Möglichkeit offenläßt, daß die Realisierung der rechtsstaatlichdemokratischen Ideale gelingen kann, vertieft er doch die Skepsis gegenüber der künftigen Entwicklung, und so ist der Leser kaum noch überrascht, wenn er auf die Feststellung stößt, "die politische Lebensform der freiheitlich orientierten Demokratie" befinde sich seit dem Ende des Ersten Weltkriegs "in der Stagnation, wenn nicht gar politisch auf dem Rück.zug"2. Wir alle wissen, daß dies keine Einzelmeinung ist. Wir wissen auch oder ahnen es zumindest - daß sie in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland weit verbreitet ist. Fassungslos mußte der Bürger mitansehen, wie erbitterte Gegner unseres Staates, deren Radikalität und Verfassungsfeindlichkeit offenkundig war, von den Inhabern höchster Staatsämter auch noch gelobt wurden, wie Kirchen, politische Parteien, Massenmedien und Kulturpäpste die "heilsame Unruhe" be1 Helmut Steinberger: Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, Berlin- H eidelberg- New York 1974, S. 1. 1 Ebenda.

Otto Kinuniruch

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grüßten, von der damals nur ein winziger Teil der akademischen Jugend ergriffen war, wie Recht und Ordnung in der öffentlichen Meinung zum Schimpfwort gemacht wurden und wie die zunächst vielgepriesene "demokratische Verunsicherung" 3 sich zu einer "Verunsicherung des Verfassungsbewußtseins" 4 ausweitete. Es ist müßig, darüber zu streiten, wie festgefügt und historisch fundiert die staatliche Tradition eines Volkes sein muß, um derartig massive Angriffe gegen die staatliche Grundordnung auszuhalten, und es ist ebenso müßig, der Frage nachzugehen, ob hinter allem ein meisterhaft ausgeklügelter Gesamtplan steht oder ob sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren nur zahlreiche Faktoren verschiedenen Ursprungs sozusagen zufällig zur gleichen Zeit und in der gleichen Richtung ausgewirkt haben. Unbestreitbar ist jedenfalls die Tatsache, daß in unserem Lande die Angst umgeht. Herr Sartre meint, es sei die Angst vor der "Polizei Helmut Schmidts, die mordend durch die Straßen zieht", wer aber selbst in diesem Lande lebt und seine Mitbürger sorgfältig beobachtet, kann leicht feststellen, daß es die Angst des einfachen Mannes ist, daß möglicherweise schon die nächste Generation von Deutschen nicht in der Lage sein wird, diesen Staat zu erhalten. Interessant ist dabei ein von unseren Massenmedien kaum bemerkter oder vielleicht absichtlich totgeschwiegener Frontwechsel: diejenigen, die Ende der sechziger Jahre alles in unserem Staat in Frage stellten, um es zu beseitigen oder umzufunktionieren, befinden sich heute in hochbezahlten staatlichen Spitzenpositionen und gehen mit einer unbegreiflichen Selbstverständlichkeit davon aus, daß dieser Staat trotz allem, was vorgefallen ist und noch weiter vorfällt, bestehen bleiben wird. Diejenigen aber, die in jenen Jahren des Übermuts still und fleißig weiterarbeiteten und an staatserhaltenden Tugenden festhielten, verlieren jetzt den Mut. Konfiskatorische Steuern haben ihren Leistungswillen gebrochen, Inflation und zunehmende Planwirtschaft lähmen die Unternehmerischen Aktivitäten, die ersten Auswirkungen der sogenannten Bildungsreform haben das Berufsgefüge destabilisiert die Auswirkungen der sogenannten Universitätsreform werden erst in zehn bis zwanzig Jahren hinzutreten -, die mangelnde Bereitschaft der Organe und Repräsentanten des Staates, die in der Verfassung zum Ausdruck kommenden und von ihr geschützten und garantierten Grundwerte energisch zu verteidigen, hat sie nicht nur verunsichert, sondern mutlos gemacht. Vom historischen Standpunkt ist diese Situation hochinteressant. Nichts hat die Historiker und Staatsphilosophen aller Zeiten mehr be3

Vgl. Martin Kriele: Legitimitätsprobleme der Bundesrepublik, München

4

Kriele, S. 7.

1977, s. 8.

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schäftigt als die Frage nach den Ursachen des Untergangs von Staaten. Über jeden einzelnen Staatsuntergang in der uns bekannten Geschichte ist jahrhundertelang gestritten worden, und nicht nur die Geschichtswissenschaft verdankt solchen Gelehrtenstreiten große wissenschaftliche Werke, deren Ruhm oft langlebiger war als die betreffenden Staaten. Auch die Staatslehre ist durch solche Dispute ungemein bereichert worden. Man denke nur an das große staatsphilosophische Werk des Heiligen Augustinus, das niemals geschrieben worden wäre, wenn Augustinus sich nicht bemüßigt gefühlt hätte, den Ursachen des Niedergangs des Römischen Reiches nachzuspüren. Bei solchen wissenschaftsgeschichtlichen Erkenntnissen denkt man unwillkürlich an das Wort von Regel, daß die Eule der Minerva nur in der Dämmerung fliegt. Unter diesem Aspekt ist allerdings das Anwachsen der staatsrechtlichen Literatur in der Gegenwart höchst beunruhigend. Der dreißigste Jahrestag des Inkrafttretens des Grundgesetzes wird Anlaß geben, die großartige Leistung der Schöpfer des Grundgesetzes zu würdigen und die im Verhältnis zur Kürze der demokratisch-rechtsstaatlichen Tradition im mitteleuropäischen Raum relativ lange Dauer dieser Verfassung hervorzuheben. Aber auch Helmut Steinhergers Wort vom episodischen Charakter der rechtsstaatliehen Demokratie wird in Erinnerung gerufen werden. Die Zuversichtlichen werden es als Mahnung begreifen, die Ängstlichen als böses Omen. Die Angst ist kein guter Ratgeber in der Politik, und wenn es gar darum geht, den eigenen Standort im Fluß der Geschichte zu bestimmen, trübt sie wohl vollends den Blick bei diesem schwierigen Unterfangen. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß die Skepsis, die heute allseits in Bezug auf die Zukunftsaussichten des vom Grundgesetz verfaßten Gemeinwesens herrscht, grundlegend anders ist als die Vorsicht, mit der jene rechtliche Neuordnung Deutschlands in den ersten beiden Jahrzehnten betrachtet wurde5 • Von denjenigen, die das Ende dieses Staates kaum erwarten können, soll hier nicht gesprochen werden. Zu gedenken ist all derer, die schon vor Inkrafttreten des Grundgesetzes und in den drei Jahrzehnten danach unermüdlich und oft unter großen Opfern für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Deutschland gearbeitet haben und sich heute ernsthaft fragen, ob all ihre Mühen und Opfer umsonst gewesen sind. So erlangt das Wort vom episodenhaften Charakter der rechtsstaatliehen Demokratie für die Bundesrepublik Deutschland eine schicksalhafte Bedeutung. Nur während einer ganz kurzen Zeitspanne- deren Mitte etwa um das Jahr 1960 liegt -, als die vorsichtige Skepsis des s Ein markantes Beispiel für jene in den fünfziger Jahren weitverbreitete skeptische Vorsicht ist das Werk von Winfried Martini: Freiheit auf AbrufDie Lebenserwartung der Bundesrepublik, Köln - Berlin 1960.

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Neubeginns einer hoffnungsvollen Zuversicht auf Stabilität zu weichen begann und die wütende, zerstörerische, geschichtslose Agitation noch nicht mit voller Wucht eingesetzt hatte, überwog in der Bundesrepublik Deutschland die optimistische Einstellung gegenüber den Überlebenschancen dieser Verfassungsordnung. Die historische Verortung aber nahm immer mehr melancholische Züge an. Hatte man vorher die Bundesrepublik Deutschland als "junge" Demokratie apostrophiert, die Ära des Grundgesetzes als den Beginn eines von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit geprägten Zeitalters, so entsteht jetzt allmählich das Bild der ersten Jahrzehnte dieses Staates als ein letztes - vielleicht unverdientes - Glück in der langen, tragischen Geschichte des deutschen Volkes - der freiheitliche, demokratische Rechtsstaat als eine Episode, die sich dem Ende zuneigt und in der Rückschau wie ein letztes Aufflackern einer einst mächtigen Kraft erscheint, an die sich die Hoffnungen der Zeitgenossen nur kurz und vergebens geklammert haben, ähnlich wie Julian Apostata das antike Heidentum noch einmal entflammte oder wie der kurze Siegeszug Konradins noch einmal den Glanz der Staufer erstrahlen ließ8 • Aber die Vergleiche sind in jedem Fall falsch. Die ersten zwanzig Jahre der Bundesrepublik Deutschland waren keine Glanzzeit- weder im Sinne eines sorglosen Genießens noch im Sinne einer Wiederherstellung alten Glanzes. (Alle gegenteiligen Darstellungen sind schamlose Geschichtsfälschungen, deren Unverfrorenheit um so empörender ist, als hier offenbar nicht nur mit dem kurzen Gedächtnis oder gar der Dummheit derjenigen gerechnet wird, die jene Jahre selbst miterlebt haben, sondern bereits der Terror eine Rolle spielt, der die Wahrheit zum Schweigen verurteilt.) Mit der Feststellung, daß die Zeit des Aufbaus des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates in Deutschland keine Glanzzeit war, ist keinerlei Vorwurf verbunden. Es sind nicht nur die Zeitumstände-die entsetzliche Not des deutschen Volkes am Ende des Zweiten Weltkrieges nach Nazidiktatur, Bombenkrieg, Völkermord und Vertreibung - die jene Kennzeichnung rechtfertigen. Wenn heute gedankenlose Schlagersänger die goldenen fünfziger Jahre preisen, so darf nicht vergessen werden, daß der Wiederaufbau mehr als zwei Jahrzehnte erforderte, daß Flüchtlingselend, Hunger und Obdachlosigkeit jahrelang zum All8 Eindrucksvoll sind in dieser Beziehung insbesondere die Beurteilungen von außen. So schreibt einer der scharfsinnigsten Beobachter der Nachkriegsentwicklung in Deutschland, der Amerikaner Peterson, nach einer überzeugenden Darstellung des Kampfes von Ludwig Erhard für die Errichtung der Marktwirtschaft, die er in engstem Zusammenhang mit der freiheitlichen demokratischen Verfassungsordnung sah: "Damals wurden in Deutschland die Weichen für zwanzig Jahre gestellt." (Edward N. Peterson: The American Occupation of Germany, Detroit 1978, S. 186.)

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tag des deutschen Volkes gehörten und daß die damit verbundenen Mühen und Entbehrungen weite Teile unseres Volkes physisch und psychisch nicht nur in diesen Jahrzehnten geprägt, sondern für ihr ganzes Leben gezeichnet haben. Aber selbst wenn sich Deutschland in den ersten beiden Jahrzehnten der Geltung des Grundgesetzes nicht in dieser Lage befunden hätte, wäre die Zeit des Aufbaus und der Festigung dieses Verfassungssystems keineswegs glanzvoll gewesen. Es gehört zu den Merkmalen der Demokratie, daß sie mühselig und unprätentiös ist. Nur Diktaturen umgeben sich mit äußerem Glanz und stellen ihn bewußt zur Schau7 • Neben den zahlreichen sozialpsychologischen Vorteilen, die ihnen dies bringt, gibt es ihnen noch die Möglichkeit, mit Verachtung auf die Armseligkeit der Demokratien hinzuweisen. Eine kleine Episode aus dem Privatleben Mussolinis mag dies illustrieren. Schweizer Zeitungen hatten Mussolini gelobt, weil er die Schweiz als eine Demokratie bezeichnet hatte. Als Mussolini davon erfuhr, erklärte er seinem Schwiegersohn: "Wenn ich sage, die Schweiz sei das einzige Land, das demokratisch sein kann, so glauben die Leute, das sei ein Kompliment, und in Wirklichkeit ist es eine schreckliche Beleidigung8 ." Wenn heute gerätselt wird, warum eine Generation, die in Wohlstand und in dem Gefühl der Sicherheit und des Überflusses lebt, die Demokratie ablehnt und sich von totalitären Ideologien angezogen fühlt, so sollte man auch jenes Phänomen der scheinbaren Armseligkeit der freiheitlichen Demokratie berücksichtigen. Wem das Gespür für innere Werte verlorengegangen ist, wer nur noch auf Äußerlichkeiten sieht, findet naturgemäß den demokratischen Rechtsstaat nicht attraktiv. Bei so abstrakten und schwer definierbaren Begriffen wie Demokratie und Rechtsstaat mag das sogar plausibel erscheinen. Um so wichtiger ist die Erkenntnis, daß dasselbe sozialpsychologische Phänomen auch in Bezug auf die Freiheit zu beobachten ist. Auch die Freiheit verliert sozusagen im Alltag der Demokratie ihren Glanz. Wie erhebend ist es, wenn der Freiheitsheld vor den Gewehren des Erschießungskommandos seine Brust entblößt, um tapfer für die Freiheit zu sterben. - Schon weniger erhebend ist es allerdings, wenn das gleiche nur vor der harmlosen Fernsehkamera geschieht. - Aber es gehört eben viel mehr Überlegung, Intelligenz und Vorstellungskraft dazu, zu begreifen, 7 Die großen Paraden und Massenveranstaltungen bei Staatsfeiertagen geben dem einzelnen das Gefühl der Teilhabe und Integration und täuschen ihn über seine Machtlosigkeit und Entrechtung hinweg. Vgl. Otto Kimminich: Rüstung und politische Spannung, Gütersloh 1964, S. 151; Karl Loewenstein: Betrachtungen über politischen Symbolismus, in: Beiträge zur Staatssoziologie von Karl Loewenstein, Tübingen 1961, S. 289. 8 Der Vorfall wird berichtet in Galeazzo Ciano, Tagebücher 1937/1938, Harnburg 1949, S. 186. Das Gespräch fand am 24. 6. 1938 statt.

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daß für die Freiheit nicht nur in den rauschhaften Augenblicken des Tyrannensturzes gekämpft wird, sondern auch im Alltag der Demokratie. Für die Freiheit zu sterben, ist ein großes Leitmotiv in der Geschichte der Menschheit, dem wir unsere Achtung nicht versagen wollen. Für die Freiheit exorbitante Steuern zu zahlen, fünfzehn Monate aktiven Wehrdienst abzuleisten, sich im täglichen Leben wie im Berufsleben komplizierten Regelungen zu unterwerfen bis hin zu Laufbahnverordnungen und Verfahrensvorschriften, sollte deshalb nicht von vornherein verachtenswert sein. Aber es ist eine Tatsache, daß diese Pflichten, obwohl sie doch wesentlich geringere Opfer verlangen als dasjenige des Lebens, sehr bald als drückend empfunden werden und Anlaß zu der Frage geben, ob denn die Freiheit dies wirklich verlange, oder ob die Freiheit tatsächlich bedroht sei. Die negative Antwort auf diese Frage liegt nur allzuleicht auf der Zunge. Sie erscheint als ein bequemer Ausweg aus den unangenehmen Pflichten, und wenn gar ein mächtiger Politiker - aus welchen Gründen auch immer dasselbe sagt, so ist ihm der billige Beifall all derer, denen das Denken zu schwer ist, sicher. Man könnte aus der gesamten Staatengeschichte die Erkenntnis ableiten, daß die Diktatur die einfachste Regierungsmethode ist, während die Demokratie die schwierigste ist, die höchste Anforderungen an die moralischen Qualitäten des Menschen stellt. Die Vorkämpfer totalitärer Ideologien haben dieses Problem sehr wohl erkannt und bemühen sich daher unablässig, gerade diesen Ideologien das Mäntelchen einer höheren Ethik umzuhängen und gleichzeitig die Demokratie als ethisch minderwertig, dekadent und verkommen anzuprangern. Die demokratische Staatslehre würde sich selbst untreu werden, wenn sie auf das Niveau der gegenseitigen moralischen Anwürfe herabstiege. Das Äußerste, was sie tun kann, ist, mit demokratischer Demut und Toleranz an der These festzuhalten, daß die Demokratie "nicht leicht, aber lohnend" sei, wie John H. Herz bereits vor Jahrzehnten geschrieben hat9 • Der Verfassungsjurist bewegt sich nicht auf jener Ebene. Seine erste Aufgabe ist es, die Schwierigkeiten aufzuzeigen, die mit der Handhabung der einzelnen Begriffe verbunden sind. Daß er damit auch geistige Munition für diejenigen liefert, die gegen den demokratischen Rechtsstaat kämpfen, erschwert seine Position, entbindet ihn aber nicht von der Pflicht zur kritischen Durchleuchtung. Zur zwielichtigen Figur wird er nur dann, wenn er nicht merkt, daß der Beifall von der falschen Seite kommt oder wenn er gar zum Anbiederer wird. Der Verfassungsjurist, ja der Jurist überhaupt - nicht nur der sogenannte kritische Jurist - hat in der Diktatur keinen Platz. Es ist daher kein o John H. Herz und Gwendolen Carter: Regierungsformen des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1962, S. 16.

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Zufall, daß alle, die zur Diktatur neigen, den Juristenstand hassen. Wir kennen das aus der deutschen Geschichte zur Genüge. Das Wort vom juristischen Formelkram, den man beiseite schieben müsse, um endlich Politik zu machen, ist 1970 nicht geprägt, sondern nur wiederholt worden. Mit der Erkenntnis, daß Recht und Juristen zu den natürlichen Feinden der Diktatur gezählt werden, sind bereits Zusammenhänge aufgedeckt, deren Verständnis für die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland grundlegend ist. In einem kurzen Referat können solche Verbindungslinien nur angedeutet werden, die großen rechtswissenschaftliehen Kontroversen, die sich darum ranken, sollen dabei nicht in Vergessenheit geraten, aber es ist vollkommen unmöglich, sie hier in voller Breite darzustellen. Einmütigkeit besteht in der Fachliteratur darüber, daß die Tradition des Rechtsstaates in Deutschland älter ist als das Grundgesetz. Mehr noch: die Rechtsstaatsidee steht seit mehr als eineinhalb Jahrhunderten im Mittelpunkt des deutschen Verfassungsrechts10• Einer weitverbreiteten Auffassung zufolge ist der Ausdruck "Rechtsstaat" sogar eine spezifisch deutsche Wortprägung11• Konrad Hesse hat den Rechtsstaat als eine der "Eigentümlichkeiten deutscher Rechts- und Verfassungsentwicklung" bezeichnet12 • Trotzdem wird gleichzeitig betont, daß die Idee der Rechtsstaatlichkeit zum europäischen Kulturerbe gehört13 und daß sich trotz unterschiedlicher Ausprägungen und Bezeichnungen ein gemeinsamer Wesenskern nachweisen läßt: das Bekenntnis zur Herrschaft des Rechts. Aber an dieser Stelle beginnen die Gelehrtenstreite. Während die einen sagen, daß das angelsächsische Prinzip der "rule of law" im wesentlichen identisch ist mit dem deutschen Begriff des Rechtsstaates, weisen andere auf die Unterschiede hin14• Gottfried Dietze hat dies zum Anlaß genommen, über die Antinomie der Begriffe "Rechtsstaat" und 10 So stellt Ulrich Scheuner fest: "Durch allen Wandel der Schicksale und Verfassungen hindurch hat sich der Rechtsstaatsgedanke als ein Zentralbegriff der neueren deutschen Verfassungsgeschichte behauptet." Ulrich Scheuner: Die neuere Entwicklung des Rechtsstaats in Deutschland, in: 100 Jahre deutsches Rechtsleben. Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860- 1960, hrsg. von Ernst von Caemmerer, Ernst Friesenhahn und Richard Lange, Bd. 2, Karlsruhe 1960, S. 229. 11 Vgl. Klaus Stern: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, München 1977, S. 602. 12 Konrad Hesse: Der Rechtsstaat im Verfassungssystem des Grundgesetzes, in: Festgabe für Rudolf Smend, Tübingen 1962, S. 71. 13 So auch mit Nachdruck Helmut Schulze-Schaeffer: Die Staatsform der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1966, S. 140. 14 Vgl. Martin Kriele: Einführung in die Staatslehre, Harnburg 1975, s. 109 ff.

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"Staatsrecht" zu sinnieren. Schon aus der Zusammenstellung der Wortteile ergebe sich, daß im Rechtsstaat das Recht dem Staat vorzugehen habe. Aber er warnt zugleich davor, Rechtsstaat und Unrechtsstaat einander gegenüberzustellen. "Denn der Rechtsstaat ringt wohl ebensowenig nur mit dem Unrechtsstaat wie das Recht mit dem Unrecht. Alles ist komplizierter." Wie kompliziert alles ist, demonstriert Dietze in den darauf folgenden Sätzen: "Im Kampf ums Recht geht es nicht nur um Recht und Unrecht als absolute Werte und um ihre Distanz, sondern auch um ihr Ausmaß und ihre Nähe. Es geht um ihr Ineinandergreifen, ja Ineinanderaufgehen, um das Hervorgehen des Rechts aus dem Unrecht und des Unrechts aus dem Recht. Ohne Unrecht kein Recht, ohne Recht kein Unrecht.... Nur der Laie fragt grob nur nach Recht und Unrecht16." Unter Berufung auf alles, was die führenden Kommentatoren zum Grundgesetz und was das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung zum Begriff des Rechtsstaates gesagt haben, wage ich, diese Sätze energisch zu bestreiten. Zwar kennen wir alle die sozusagen berufsmäßige Scheu des Juristen, von Recht und Gerechtigkeit zu sprechen - eine Scheu, die sich daraus erklärt, daß der Jurist auf Grund seiner Berufserfahrung besser als der Laie weiß, wie schwer Recht und Gerechtigkeit zu definieren und zu verwirklichen sind. Aber wir wissen auch, daß der Glaube an die Fähigkeit des Menschen, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, an der Wurzel unserer gesamten Berufsarbeit liegt. Sicher ist es so, daß das Recht in der menschlichen Vorstellung erst vor dem Hintergrund des Unrechts schärfere Konturen gewinnt, so wie etwa im Bereich der Theologie erst die Häresie den rechten Glauben hervortreten läßt oder im Bereich der Farbenlehre die Kontraste für das Begreifen der einzelnen Farbwerte notwendig sind. Die Welt ist voll von Beispielen für die Notwendigkeit von Gegensätzen, die einander in dieser Weise bedingen oder benötigen. Aber das darf uns nicht zu der irrigen Annahme verführen, das eine entstünde aus dem anderen. Aus Unrecht kann niemals Recht werden. Diese Erkenntnis ist uralt, und wenn man sie zu den Prämissen des Rechtsstaates zählt, mag es gerechtfertigt sein, von einem "tausendjährigen Bildungsgang" des Rechtsstaats zu sprechen, wie es Rudolf von Gneist getan hat18. Aber die Geschichte der Rechtsstaatsidee ist zu unterscheiden von der Geschichte des Rechtsstaatsbegriffs, so wie er uns heute im öffentlichen Recht der Bundesrepublik Deutschland begegnet. Im letzteren Sinn ist 15 Gottfried Dietze: Rechtsstaat und Staatsrecht, in: Die moderne Demokratie und ihr Recht. Festschrift für Gerhard Leibholz zum 65. Geburtstag, 2. Band, Tübingen 1966, S. 19. 16 Rudolf von Gneist: Der Rechtsstaat, Berlin 1872, S. 39.

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"Rechtsstaat" ein Terminus technicus, dessen Auftauchen in der deutschen öffentlichrechtlichen Literatur sehr genau datiert werden kann. Es ist das frühe 19. Jahrhundert, es ist eine geistesgeschichtliche Bewegung, die von vielen als "Liberalismus" bezeichnet wird17, und es ist der Verfassungstyp der konstitutionellen Monarchie, die uns diesen Begriff beschert und die ersten Versuche zu seiner Verwirklichung beflügelt haben. Man wird also ohne Umschweife sagen können, daß die Rechtsstaatsidee im mitteleuropäischen Raum auf eine Tradition von mehr als eineinhalb Jahrhunderten zurückblicken kann. Ihre enge Verbindung mit der Verfassungsform des konstitutionellen Staates läßt am ehesten den Inhalt des Rechtsstaatsprinzips in seiner ursprünglichen Form erkennen: Mäßigung und Kontrolle der Staatsgewalt. Die Tatsache, daß sich der Liberalismus für dieses Prinzip einsetzte, ist zwar ohne weiteres verständlich, kann aber nur wenig zur Erklärung des Rechtsstaatsgedankens beitragen. Vor allem birgt die Überbetonung der sogenannten liberalistischen Ursprünge der Hechtsstaatsidee die Gefahr in sich, daß das Rechtsstaatsprinzip von vornherein mit der Vorstellung einer Behinderung oder Einschränkung staatlichen Handeins verbunden wird. Eine völlig falsche Vorstellung! Wohl führen die Erfordernisse des Rechtsstaates häufig dazu, daß die Ausführung politischer Entschlüsse schwierig, teuer und zeitraubend wird. Aber das ist nicht das Ziel des Rechtsstaates, sondern der Preis, der für ihn zu bezahlen ist. Das Ziel des Rechtsstaates wird in einem der gängigen deutschsprachigen Lehrbücher der Allgemeinen Staatslehre mit folgendem Satz umschrieben: "'Ziel des Rechtsstaates ist die Bindung des gesamten staatlichen Lebens an Rechtsvorschriften und an die Idee der Gerechtigkeit18." Dieser Satz überdeckt einen Abgrund, der sich in der staatsrechtlichen Literatur unserer Tage bei der Interpretation des Hechtsstaatsprinzips aufgetan hat. Er ist entstanden durch den Gegensatz zwischen denjenigen, die das Rechtsstaatsprinzip im materiellen Sinne verstehen und denjenigen, die es nur als formales Prinzip gelten lassen. Genaugenammen müßten noch zwei weitere Kategorien genannt werden: diejenigen, die es materiell auffassen, sich aber darüber beklagen, daß es in der Praxis nur formell gehandhabt werde; und diejenigen, die es als Formalprinzip betrachten, sich aber darüber beklagen, daß die herrschende Lehre es als ein materielles Prinzip auffaßt. 11 In diesem Sinne hat insbesondere F. A. von Hayek den historischen Ursprung des Rechtsstaats gedeutet ("Der Rechtsstaat als Ideal der liberalen Bewegung"). Vgl. F. A. von Hayek: Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 1971, s. 255 ff. ts Günther und Erich Küchenhoff: Allgemeine Staatslehre, 6. Aufl. Stuttgart 1967, S. 85.

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Hinter jeder dieser Meinungen verbirgt sich jeweils eine mit der Gegenmeinung unvereinbare Überzeugung vom Wesen des Rechtsstaats, zu der gelegentlich auch eine bestimmte Überzeugung von der deutschen Verfassungsentwicklung hinzutritt. So glaubt z. B. Dietze feststellen zu können, daß das Rechtsstaatsprinzip bereits von seinen ersten Theoretikern, Robert von Mohl und Friedrich Julius Stahl19 rein formal begriffen worden ist. Schon bei Robert von Mohl, von dem bekannt ist, daß er den materialen Inhalt des Rechtsstaates nicht leugnete, glaubt Dietze die Hinwendung zum Formalprinzip darin zu erkennen, daß Mohl zwar eine willkürliche Polizei ablehnte, aber eine "gute Polizei" bejahte, vorausgesetzt, daß dieselbe in den gesetzlich vorgeschriebenen Formen wirkte. Daraus folgert Dietze: "So blieb der Rechtsstaat selbst bei seinem eifrigsten Verfechter potentiell ein Gefangener der Polizei, wenn auch der ,guten'. Er blieb ein Gefangener des Rechts, das von jenen gesetzt wird, die den Staat lenken20." Alle übrigen Autoren, die sich im 19. Jahrhundert mit dem Rechtsstaat befaßten, bezeichnete er als "Anhänger des formalen Rechtsstaatsbegriffs". Der Rechtsstaat sei schon damals "eine leere Schale der Gesetzlichkeit" gewesen21. Diese griffige Formel stammt von Ulrich Scheuner. Scheuner aber hat sie nicht für die Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt und verwendet, sondern, wie sich aus dem Zusammenhang ergibt, für bestimmte Entwicklungen des 20. Jahrhunderts. Die betreffende Textstelle lautet: "Als mit den Grundrechten die Basis der persönlichen Freiheit beiseite gesetzt wurde und der Gesetzgeber zum Mittel einer totalitären Politik geworden war, blieb vom Rechtsstaat nur mehr eine leere Schale der Gesetzlichkeit, wie sie schließlich in jedem modernen Staat aus rein administrativen Gründen zentraler Leitung bestehen muß22." In diesem Satz ist zunächst eine verfassungshistorische Erkenntnis enthalten. Sie ist eindeutig, und wo immer sie bestritten wird, sollte dem energisch widersprochen werden. Denn es läßt sich nachweisen, daß der Rechtsstaat von den frühen Theoretikern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts materiell begriffen wurde. Ziel des Rechtsstaates war daher von Anfang an nicht die bloß formelle Bindung des staatlichen Handeins an den Buchstaben des Gesetzes, sondern das Streben nach der Verwirklichung der Gerechtigkeit. 19 Vgl. Robert von Mohl: Die Polizeiwissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, Tübingen 1832; Friedrich Julius Stahl: Rechts- und Staatslehre, l.Aufl. Heidelberg 1837. 2o Dietze, S. 28. !1 Dietze, S. 32. 22 Ulrich Scheuner: Die neuere Entwicklung des Rechtsstaats in Deutschland, in: Ulrich Scheuner, Staatstheorie und Staatsrecht. Gesammelte Schriften, hrsg. von Joseph Listl und Wolfgang Rüfner, Berlin 1978, S. 205.

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Für das Erfassen der rechtstheoretischen und staatsphilosophischen Problematik dieses Rechtsstaatsbegriffes ist es wichtig, diese Formulierung genau zu untersuchen. Als Rechtsstaat wird danach nicht derjenige Staat bezeichnet, der die Gerechtigkeit verwirklicht. Die Gerechtigkeit ist ein absoluter Begriff, dessen Verwirklichung in der von Unvollkommenheiten beherrschten Welt niemals gelingen kann. Würde man die Verwirklichung der Gerechtigkeit zum Kriterium des Rechtsstaates machen, so stünde von vornherein fest, daß es auf Erden keinen Rechtsstaat gibt. Die Lehre vom Rechtsstaat wäre dann eine reine Gedankenspielerei. Gerade das war sie aber schon in ihren Anfängen nicht. Sie war eine mächtige politische Triebfeder, die dazu beitrug, die Epoche des Absolutismus zu überwinden und eine neue Verfassungstradition zu begründen. Nicht die Verwirklichung der Gerechtigkeit ist das Kriterium des Rechtsstaates, sondern das Streben nach der Verwirklichung der Gerechtigkeit. Auf den ersten Blick mag die dahinterstehende Grundeinstellung dem Laien suspekt erscheinen: Wohl wissend, daß die reine Verwirklichung eines absoluten Begriffes unmöglich ist, streben diejenigen, die ihr Handeln an der Lehre vom Rechtsstaat orientieren, nach der Verwirklichung der Gerechtigkeit. Aber wenn man diese Grundeinstellung näher untersucht, stellt man fest, daß sie in letzter Tiefe mit einer Tugend verbunden ist, die ihrerseits die Vorbedingung für diejenige Grundhaltung darstellt, ohne die eine Demokratie nicht funktionieren kann, nämlich die Toleranz. An der Wurzel der Toleranz liegt die Demut. Sie ist es auch, die hinter jener Auffassung vom Rechtsstaat steht. Die Verpflichtung zum Streben nach der Verwirklichung der Gerechtigkeit ist weit entfernt von jedem triumphalistischen Anspruch auf den alleinigen Besitz des Wissens über das Glück für alle und die unfehlbare Fähigkeit, immer gerecht zu sein. Solche Ansprüche erheben nur totalitäre Ideologien. Andererseits liegt in jenem demokratischen Rechtsstaatsbegriff auch nicht die Verpflichtung zu einem sinnlosen Tun, einer quälenden Sisyphusarbeit, die ungeheure Anstrengungen erfordert, ohne jemals zum Ziele zu führen. Eine solche Betrachtungsweise ist zwar heute modern, weil offenbar der oberflächliche moderne Mensch in seiner Hybris den Gedanken der menschlichen Fehlbarkeit unerträglich findet und es vorzieht, das Märchen vom irdischen Paradies zu glauben, das ihm die totalitären Ideologien vorgaukeln. Aber sie ist falsch und realitätsfern, und diese Realitätsferne zeigt sich in der politischen Praxis der totalitären Herrschaften sehr bald und verstärkt deren Tendenz zur Ersetzung der Autorität des Rechts ....,.... die wir mit Stifter als die "sanfte Gewalt" bezeichnen könnten - durch die brutale Gewalt der totalitären Zwangsherrschaft. 2 Politische Systeme

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So mag wohl die Verpflichtung zum Streben nach der Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit - bei gleichzeitigem Verzicht auf eine allgemeingültige Definition derselben - hohe moralische Anforderungen an den einzelnen stellen, aber sie entspricht den Realitäten der menschlichen Existenz, ohne doch vor deren negativen Seiten zu kapitulieren. Das Wissen um die Unvollkommenheit dieser Welt führt weder zur Resignation der Anarchie noch zur illusorischen Hybris des vollkommenen Machtstaates, sondern zum beharrlichen, pflichtbewußten Streben des demokratischen Rechtsstaates. Man sieht auf den ersten Blick, daß diese Ausdeutung und Ausgestaltung des Rechtsstaatsprinzips nur auf der Grundlage eines ganz bestimmten Ethos möglich ist, wodurch die Aussage über die Verwurzelung des Rechtsstaatsprinzips im europäischen Kulturerbe besonderes Gewicht erhält. Und so ist es nicht verwunderlich, daß auch andere Staatslehren des frühen 19. Jahrhunderts, die mit der deutschen Rechtsstaatsidee nur durch solche tiefgründige Wurzelverflechtungen verbunden sind, die gleiche demokratische Demut aufweisen. Ein Beispiel dafür ist das utilitaristische Schlagwort vom "größtmöglichen Glück für die größtmögliche Zahl" 23 • Auch dort wird nicht das absolute und gleiche Glück für alle versprochen, sondern nur das größtmögliche für möglichst viele. Diese demokratische Bescheidenheit und Demut beruht nicht darauf, daß eine Minderheit bewußt beiseite geschoben wird, sondern darauf, daß der Unvollkommenheit und Mannigfaltigkeit Rechnung getragen und kein Wert dem anderen geopfert wird. Wer sein Glück anders definiert als es die Mehrheit tut, wird es in der von der Mehrheit bestimmten Rechtsordnung schwerlich finden, aber er verliert deswegen nicht sein Leben, seine Freiheit und seine Menschenwürde. Schon an dieser Stelle wird deutlich, daß der so verstandene Rechtsstaat nicht nur mit der Demokratie zusammenhängt, sondern auch mit der Freiheit. Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie bilden eine Einheit, in der jede Komponente durch die anderen mitgeprägt wird. Auch das ist ein Erbe, das die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland von den frühen Theoretikern des Rechtsstaatsprinzips übernommen hat. Halten wir also fest: In einem Staat, dessen Verfassung sich zum Rechtsstaatsprinzip bekennt - wie es das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Art. 20 Abs. 3 tut -, sind alle, die in irgendeiner Form Staatsgewalt ausüben, gleichgültig ob sie der vollziehenden, der rechtsprechenden oder der gesetzgebenden Gewalt zuzuordnen sind, dazu verpflichtet, unverbrüchlich und unablässig nach der Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit zu streben. Eine zeitliche oder räumliche Ausnahme von dieser Pflicht zum Streben nach der Ver23 Vgl. Jeremy Bentham: Prinzipien der Gesetzgebung, Köln 1833, hierzu H. R. G. Greaves: Grundlagen der politischen Theorie, Neuwied 1960, S. 47 ff.

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wirklichung der Gerechtigkeit gibt es im Rechtsstaat nicht. Niemand auch kein Beschuldigter, Angeklagter oder Verurteilter, keine Minderheit, kein Staatenloser - steht im Rechtsstaat außerhalb des Rechts und außerhalb jener Verpflichtung der Organe und Repräsentanten des Staates, die um der einzelnen willengegeben ist. Es kann nicht oft genug wiederholt werden, daß dieser materielle Begriff des Rechtsstaats am Beginn derjenigen Verfassungstradition steht, als deren Träger sich die Schöpfer des Grundgesetzes empfanden. Die verfassungshistorische Entwicklung Deutschlands vom Frühkonstitutionalismus bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zeigt allerdings deutliche Abweichungen von dieser Tradition. Die Gründe dafür sind oft beschrieben worden. In der Mitte des 19. Jahrhunderts fing alles recht harmlos an. Die Theorie des öffentlichen Rechts wandte sich dem Problem der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der daraus resultierenden Kontrolle des Verwaltungshandeins zu, die Praxis baute auf dieser Grundlage die Verwaltungsgerichtsbarkeit auf, die stets als besondere Ausprägung des Rechtsstaats betrachtet worden ist24 • Aber schon der Ausdruck "Gesetzmäßigkeit der Verwaltung" deutet auf eine Formalisierung hin. Möglicherweise erscheint das nur in der Rückschau so. Gerade die neuesten Forschungen zur Geschichte der Verwaltungsrechtswissenschaft haben bestätigt, daß die Männer, die jene Wissenschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts begründeten, dermaßen von der materiellen Rechtsstaatsidee erfüllt waren, daß sie eine inhärente, untrennbare Verbindung zwischen Rechtsstaatlichkeit und Verwaltungsrecht in die Tradition des deutschen öffentlichen Rechts einbauten. Das Verwaltungsrecht und die Verwaltungsrechtswissenschaft entstanden erst auf dem Boden des materiellen Rechtsstaatsbegriffs. Forsthoff ist diesen Gedankengängen nachgegangen und formuliert sie mit seinen eigenen Worten: "Denn der von der unbeschränkten monarchischen Machtvollkommenheit getragene Vollzug der Staatsfunktionen zur Verwirklichung der staatlichen Zwecke stellte keinen Rechtsvorgang im strengen Sinne dar. Jedes Recht setzt eine Begrenzung, eine Schrankensetzung voraus25." Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts scheint das Gespür für diese Zusammenhänge verlorengegangen zu sein. Der Rechtsstaat wurde zum Gesetzesstaat, zum Staat des ordnungsgemäßen Gesetzesvollzugs. Die gesamte Geschichte des zweiten Deutschen Reiches, das von den Kommentatoren seiner Verfassung einhellig als 24 Vgl. Otto Bähr: Der Rechtsstaat, Kassel und Göttingen 1864, Neudruck Aalen 1969; Rudolf von Gneist: Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland, 2. Aufl. Berlin 1879. 25 Ernst Forsthoff: Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 1. Bd., 10. Aufl., München 1973, S. 41.

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Rechtsstaat bezeichnet wurde, war durch dieses Abgleiten in den formalen Rechtsstaatsbegriff belastet26 • Der Grund dafür lag aber weder in den Ursprüngen der Rechtsstaatsidee noch allein in der Hinwendung zu den Problemen des Verwaltungsrechts. Wie alles in der Geschichte ist auch dieses Phänomen multikausaL Aber man kann ohne weiteres sagen, daß jenes katastrophale Abgleiten in den Gesetzesstaat, das schließlich dazu führte, daß der "Unschuldsmantel des formalen Rechtsstaats"27 auch einer Gewaltherrschaft umgehängt werden konnte, nur auf der Grundlage des Rechtspositivismus möglich war. Die Bedeutung des Rechtspositivismus wird erst dann voll erfaßbar, wenn man den Rechtspositivismus im Rahmen der geistesgeschichtlichen Gesamtentwicklung sieht. Es ist kein Zufall, daß am Anfang dieser Entwicklung derjenige Philosoph steht, der auch als erster in der Reihe derjenigen Denker genannt worden ist, die sich mit dem Rechtsstaatsproblem beschäftigt haben. Es ist Thomas von Aquin mit seinem dreistufigen System der Rechtsnormen. An der Spitze steht die lex divina, das göttliche Recht, dann folgt die lex naturalis, das Naturrecht, die unterste Stufe bildet die lex positiva, das positive, gesetzte Recht. Im Rahmen dieses Systems ist jede niederrangige Rechtsnorm an einer höherrangigen zu messen. Das geschriebene Gesetz wird am Naturrecht gemessen; entspricht es ihm nicht, so ist es nicht Recht und entfaltet keine verpflichtende Kraft. Hier haben wir die Wurzeln des Widerstandsrechts im christlichen Naturrecht des Mittelalters. Aber auch das Naturrecht stellt im thomistischen System nicht die höchste Stufe dar. Es steht unter dem göttlichen Recht, wird an ihm gemessen und aus ihm abgeleitet. Dadurch unterscheidet sich das christliche Naturrecht des Mittelalters, das scholastische Naturrecht, wesentlich vom Naturrecht der Aufklärung. Der weitere Gang der geistesgeschichtlichen Entwicklung kann als fortschreitender Abbau des thomistischen Systems begriffen werden. Die Philosophie der Aufklärung beseitigte die oberste Stufe. Immerhin aber blieb die Hierarchie der Rechtsnormen zweistufig, das geschriebene Gesetz wurde nach wie vor mit dem Maßstab einer höherrangigen Norm, nämlich des Naturrechts, gemessen. Dieses Naturrecht aber unterlag keiner weiteren Nachprüfung. Es war ein reines Vernunftrecht. Die Vernunft galt als oberste Instanz. Der Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts beseitigte auch die zweite Stufe. Übriggeblieben war nur noch das geschriebene Gesetz, das nunmehr keiner weiteren Nachprüfung fähig war. Das positive 28

Vgl. Otto Kimminich: Deutsche Verfassungsgeschichte, Frankfurt/M.

27

Dietze, S. 35.

1970,

s. 438 f.

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Recht war zugleich unterste nnd oberste Stufe, oder - mit anderen Worten -: das geschriebene Gesetz wurde mit dem Recht schlechthin identifiziert. Auf der Grundlage dieser Auffassung entfaltete sich der formale Rechtsstaatsbegriff, der das Abgleiten zum Gesetzesstaat ermöglichte und schließlich seinen Höhepunkt in derjenigen Staatsordnung fand, in der auf der Grundlage einer verfassungsrechtlich formell ordnungsgemäß zustandegekommenen Ermächtigung einem Diktator die Befugnis verliehen wurde, positives Recht zu setzen, das sich jeder Nachprüfung entzog und gegen das ein Widerstandsrecht nicht in Frage kam. Dadurch war der Rechtsstaat zum Unrechtsstaat geworden. Diese Perversion tritt überall dort ein, wo der Gedanke der Messung des geschriebenen, gesetzten, positiven Rechts an einer höherrangigen Rechtsnorm verworfen wird. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland bekräftigt sein Bekenntnis zum materiellen Rechtsstaatsbegriff durch die Errichtung einer Institution, deren Aufgabe es ist, jene Messung des geschriebenen Rechts an einer höherrangigen Rechtsnorm durchzuführen: der Verfassungsgerichtsbarkeit. Nur von dieser Funktion her ist die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts zu begreifen. Der Rechtsstaat bindet den Gesetzgeber an das Recht. Dieser Gedanke hat schon den Rechtsstaat der konstitutionellen Monarchie beherrscht; um wieviel mehr muß er den demokratischen Rechtsstaat der Republik beherrschen. Das bedeutet aber zugleich Kontrolle über politische Akte; denn die Gesetzgebung ist ein politischer Akt. Dadurch soll verhindert werden, daß der demokratische Rechtsstaat zur Diktatur der Parlamentsmehrheit pervertiert wird. Daß die Messung des geschriebenen Rechts an einer höherrangigen Norm vom Grundgesetz einer gerichtlichen Instanz, nämlich dem Bundesverfassungsgericht, übertragen worden ist, ist kein Zufall, sondern wieder eine Konsequenz des Rechtsstaatsprinzips, das die richterliche Kontrolle, d. h. unabhängige Kontrolle, fordert. Die Durchführung des Normenkontrollverfahrens im äußeren Rahmen eines Gerichts darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß dieses Gericht nicht etwa nur einen Streit zwischen zwei Parteien schlichtet, sondern daß es Hüter der Verfassung ist und insoweit keine richterliche Funktion erfüllt. Die Ausstattung bestimmter Urteile des Bundesverfassungsgerichts mit Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 BVerfGG) bringt dies deutlich zum Ausdruck. Das sind Zusammenhänge, die ein Student der Rechtswissenschaft schon im ersten Semester lernt und begreift. Unbegreiflich ist es dagegen, daß es in unserem Lande seit einiger Zeit Mode geworden ist, das Bundesverfassungsgericht zu tadeln, weil es über die Kompetenzen eines Gerichts hinausgehe und sich politische Entscheidungen anmaße. Das mangelnde Verständnis für die wichtige Funktion, die das Bundes-

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verfassungsgericht im rechtsstaatlich-demokratischen Verfassungssystem der Bundesrepublik Deutschland erfüllt, ist ein beunruhigendes Zeichen der Zeit, das jeden Kenner der Materie mit größter Besorgnis erfüllt. Allerdings hat die Einkleidung des Normenkontrollverfahrens in das Gewand eines Gerichtsverfahrens zur Folge, daß das Bundesverfassungsgericht nicht von Amts wegen tätig werden kann, sondern wie ein Gericht warten muß, bis ein dazu Befugter den entsprechenden Antrag stellt. So erklärt es sich, daß ein verfassungswidriges Gesetz oft jahrelang praktiziert wird, bis einer der betroffenen Antragsberechtigten die nötigen Schritte unternimmt, um den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen. Daraus ist aber nur die Lehre zu ziehen, daß es nicht genügt, ein Verfassungsgericht zu haben. Der Rechtsstaat funktioniert nur dann, wenn diejenigen, die in bestimmten Bereichen Macht und Verantwortung tragen - und das sind im Rahmen der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht nur Bund und Landesregierungen sowie Parteien und Abgeordnete, sondern auch die Bürger, sowohl als einzelne als auch in verschiedenen Zusammenschlüssen - den Mut haben, das verfassungsgerichtliche Verfahren in Gang zu bringen. Ebenso folgt daraus, daß es einen schweren Angriff gegen die rechtsstaatlich-demokratische Verfassung bedeutet, wenn eine Atmosphäre erzeugt wird, in der jener notwendige Mut mißverstanden, angeprangert oder gar unterdrückt wird. Der materielle Rechtsstaatsbegriff, zu dem sich das Grundgesetz nach der ganz überwiegenden Meinung seiner Kommentatoren bekennt28, erfordert daher zwingend die beiden sich überwölbenden Prinzipien, die in Art. 20 Abs. 3 GG zum Ausdruck kommen: den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und den Grundsatz der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung garantiert, daß das Verwaltungshandeln nur auf gesetzlicher Grundlage in Gang gesetzt wird und nicht über die im Gesetz enthaltene Ermächtigung hinausgeht. Der Grundsatz der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze garantiert, daß die Gesetze der höherrangigen Normenordnung der Verfassung entsprechen. Diese Verfassung, das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, ist positives, geschriebenes Recht. Aber sie bekennt sich unmißverständlich zum überpositiven Recht, wie sich aus Art. 1, der die Würde des Menschen als obersten Grundwert herausstellt und das Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen 28 Dabei wird betont, daß "der materielle Rechtsstaatsbegriff infolge der Grundrechtsaktualisierung (Art. 1 III) seine materiellen Gehalte heute vornehmlich aus den Grundrechten bezieht" (Maunz I Dürig I Herzog, Grundgesetz, 3. Aufl. 1968, Randnr. 71 zu Art. 20).

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Menschenrechten enthält, eindeutig ergibt. Das Bundesverfassungsgericht hat niemals die Frage entschieden, ob darin ein Bekenntnis zum christlichen Naturrecht oder zum Naturrecht der Aufklärung enthalten ist. Da die Menschenrechte im Grundrechtskatalog positiviert worden sind, hat sich für das Bundesverfassungsgericht oder für irgendein anderes Gericht in der Bundesrepublik Deutschland noch niemals die Notwendigkeit ergeben, sich das Recht "aus den Sternen" zu holen. Trotzdem hat das Bundesverfassungsgericht mit großem Nachdruck betont, daß das Grundgesetz keinen "Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzespositivisrnus" zuläßt29 • Bereits in einer seiner ersten Entscheidungen, nämlich im Urteil vorn 23. Oktober 1952, hat es sich nicht gescheut festzustellen, daß dem Grundgesetz die Vorstellung zugrundeliegt, "daß der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt und Freiheit und Gleichheit dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit sind" 30. Im Urteil vorn 25. Februar 1975 wiederholte es diese Formulierung und fügte hinzu: "Diese Grundentscheidung der Verfassung bestimmt Gestaltung und Auslegung der gesamten Rechsordnung. Auch der Gesetzgeber ist ihr gegenüber nicht frei; gesellschaftspolitische Zweckrnäßigkeitserwägungen, ja staatspolitische Notwendigkeiten können diese verfassungsrechtliche Schranke nicht überwinden. Auch ein allgemeiner Wandel der hierüber in der Bevölkerung herrschenden Anschauungen - falls er überhaupt festzustellen wäre ~ würde daran nichts ändern können31." Mit diesen Worten hat das Bundesverfassungsgericht wiederum nur etwas Selbstverständliches zum Ausdruck gebracht. Es hat keineswegs eine Art Überverfassung oder einen "Wertrigorisrnus"32 geschaffen, der jede Anpassung an gewandelte Verhältnisse verbietet, sondern es hat nur an den alten Grundsatz der Einheit der Verfassung erinnert und an die damit zusammenhängende Tatsache, daß die Verfassung eine Wertordnung zum Ausdruck bringt, schützt und garantiert33• Daß auch diese Selbstverständlichkeit in der politischen Diskussion unserer Tage weitgehend nicht mehr verstanden wird, ist ebenfalls ein beunruhigendes ·zeichen. Viele unserer t>olitiker verwechseln offenbar Pluralismus mit Wertneutralität34 • Der Pluralis29

Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. 12. 1953, BVerfGE 3, 225

(332).

BVerfGE 2, 1 (12). BVerfGE 39, 1 (67). 32 Vgl. Erhard Denninger: Freiheitsordnung Wertordnung - Pflichtordnung, JZ 1975, S. 547 f., Anm. 36. 83 So bereits zahlreiche frühere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Vgl. BVerfGE 1, 32; 19, 220; 21, 83; 24, 389; 28, 261; 30, 193; 34, 287. Auch das Bundesverwaltungsgericht hat auf die "Einheit der Verfassung und die von ihr geschützte gesamte Wertordnung" hingewiesen. Vgl. BVerwGE 49, 202 (209). so

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mus gehört zum Wesen der Demokratie. Er ist zwar selbst kein Wert, ergibt sich aber aus einer fundamentalen Wertentscheidung des Grundgesetzes, nämlich aus der Entscheidung für den Wert der Freiheit, die das Gesamtgefüge unserer Verfassungsordnung so stark prägt, daß die Kommentatoren des Grundgesetzes von einer "Präponderanz der Freiheit" gegenüber dem ebenfalls in der Menschenwürde begründeten Wert der Gleichheit sprechen85• Diese Wertentscheidung ist abgesichert durch die personale Freiheit des Art. 2, die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit des Art. 4, die Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Freiheit der Kunst und Wissenschaft, die in Art. 5 gewährleistet wird. Die Freiheitsrechte des Art. 2 stehen unter dem ausdrücklichen Vorbehalt einer Schrankentrias (Rechte anderer, verfassungsmäßige Ordnung, Sittengesetz). Die Freiheitsrechte des Art. 5 stehen unter dem Vorbehalt der allgemeinen Gesetze, der gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre. Hinsichtlich der Wissenschaftsfreiheit betont Art. 5 Abs. 3 GG, daß die Freiheit der Lehre nicht von der Treue zur Verfassung entbindet. In diesen Schranken - immer unterstützt durch die unverrückbaren Grundsätze der Art. 1 und 20, d. h. Schutz der Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit, Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Demokratie und Sozialstaatlichkeit - entfaltet der demokratische Staat die Toleranz, auf deren Grundlage das Zusammenleben der Menschen in der staatlichen Gemeinschaft erst erträglich wird. Aber mit Wertneutralität hat das nichts zu tun. Wertneutralität in dem Sinn, daß an die Stelle der fundamentalen Wertentscheidungen der Verfassung beliebige Zielvorstellungen gesetzt werden könnten, würde bedeuten, daß das Grundgesetz eine Selbstzerstörerische Kraft entfaltet. Das ist nicht die Funktion irgendeiner Verfassung, auch nicht der demokratischen. Im Gegenteil: jede Verfassung ist auf Staatserhaltung angelegt. Dem Problem des Wandels trägt nur die demokratische Verfassung in angemessener Weise Rechnung, indem sie die gewaltlose Anpassung an gewandelte Verhältnisse durch Mittel der Verfassungsänderung und der Verfassungsinterpretation ermöglicht. Zu berücksichtigen ist aber, daß Verfassungsinterpretation nur dort möglich ist, wo der Text der Verfassung interpretationsfähige und interpretationsbedürftige Begriffe enthält. Diese finden sich im Grundgesetz an verschiedenen Stellen36, und das Bundesverfassungsgericht hat in diesen Fällen niemals .34 Vgl. insbes. Helmut Schmidt: Ethos und Recht in Staat und Gesellschaft, Vortrag vor der Katholischen Akademie in Hamburg, veröffentlicht von der Bundesregierung, Bundesdruckerei Bonn, 622 297 6. 76 (Bonn 1976), S. 11. 35 Günter Dürig, in: Maunz I Dürig I Herzog: Kommentar zum GG, Randnr. 2 zu Art. 2 Abs. I.

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gezögert, bei der Interpretation solcher Begriffe gewandelte Verhältnisse und Auffassungen gebührend zu berücksichtigen. Wo aber die Möglichkeit der Gestaltung der Verfassungswirklichkeit durch gewandelte Interpretation nicht besteht, bleibt nur die Möglichkeit der Verfassungsänderung, die ihre Grenzen in Art. 79 GG findet, durch den wiederum neben dem obersten Grundwert der Menschenwürde vor allem auch das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit jeder Änderung entzogen ist. Wer das Grundgesetz über diese Grenzen hinaus verändern will, muß sich die Mühe machen, eine Revolution zu gewinnen. Er kann sich dieser Mühe nicht dadurch entheben, daß er behauptet, das Grundgesetz könne mit neuem Geist erfüllt werden - so, wie es Hitler mit der Weimarer Reichsverfassung getan hat - oder man müßte nur bestimmte Grundrechte "umfunktionieren". Was sich hier manifestiert, ist weder etwas Neues, noch etwas Aufregendes. Es ist letztlich nur die normative Kraft der Verfassung. Anscheinend ist durch das ganze Gerede über die normative Kraft des Faktischen das Gespür für die normative Kraft der Normen verlorengegangen. Aber es muß zugegeben werden, daß die normative Kraft der Verfassung kein Formalprinzip ist. Die Verfassung bezieht ihre normative Kraft nicht aus dem Buchstaben des Verfassungsdokuments, sondern aus der Wertordnung, die sie schützt, zum Ausdruck bringt und garantiert, und die eingebettet ist in die Gesamtkultur des betreffenden Volkes, dessen staatliche Ordnung die Verfassung normiert. Damit ist auch der Zusammenhang zwischen Recht und Sittlichkeit angesprochen, der heute ebenfalls in Vergessenheit zu geraten droht. Recht und Sittlichkeit sind nicht miteinander identisch, aber beide sind ein Produkt derselben Kultur. Das Recht schafft keine Grundwerte, sondern baut auf ihnen auf und schützt sie. Aus dieser Tatsache ziehen nun aber manche, die das Funktionieren der rechtsstaatliehen Demokratie nicht begreifen, falsche Schlüsse. Sie meinen, daß gewandelte Auffassungen von Grundwerten automatisch zu einem Wandel der Verfassungswirklichkeit führen müßten. Das ist sogar in demjenigen Bereich falsch, in dem die Anpassung tatsächlich möglich und geboten ist, nämlich dort, wo interpretationsfähige und interpretationsbedürftige Verfassungsnormen vorliegen, die dem Wandel gesellschaftlicher Auffassungen angepaßt werden müssen. Es ist nämlich nicht jeder einzelne oder jedes beliebige Staatsorgan befugt, eine solche Interpretation vorzunehmen und allgemein verbindlich festzulegen. Vielmehr obliegt dies, wie bereits ausgeführt, allein dem Verfassungsgericht. Wo aber die Möglichkeit der Berücksichtigung des Wandels durch gewandelte Verfassungsinterpretation nicht besteht, hat der einfache Gesetzgeber weder die Pflicht noch die Möglichkeit, sozusagen den

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Staat im Nachhinein umzugründen. Hinter der Forderung, der Gesetzgeber habe sich solchen gewandelten gesellschaftlichen Auffassungen jederzeit zu beugen - wobei diejenigen, die diese Forderung lautstark erheben, in der Regel den Beweis für das Vorliegen des Wandels schuldig bleiben - steht die Meinung, daß Gesetzgebungstätigkeit nur noch "bloße Registrierung des jeweiligen Zeitgeistes" sein dürfe37• Besorgt fragt ein scharfsinniger Beobachter der gegenwärtigen Entwicklungen: "Kann es überhaupt Aufgabe der Gesetzgebung sein, ein kurzfristiges Ethos, eigentlich eine politisch-moralische Zeitstimmung, legislatorisch festzuschreiben? Der Versuch, den Historismus in politische Praxis zu übersetzen, ist absurd38." Und doch bezeichnen sich diejenigen, die jenes absurde Unterfangen wagen, stolz als "Realisten", während sie diejenigen, die auf die normative Kraft der Verfassung und die Einbettung der Rechtsordnung in den Boden der Gesamtkultur verweisen, als "Legalisten" verspotten. Aber nichts könnte gefährlicher sein als die Auffassung, es müsse zwischen Realität und Recht unterschieden werden, und jeder, der sich auf das Recht beruft, sei kein Realist. Leider sehen viele unserer Politiker nicht die Gefahr, die darin liegt, eine solche Auffassung zu vertreten. Naturgemäß haben Politiker den Ehrgeiz, als Realisten zu gelten und werden daher nur allzuleicht ein Opfer derjenigen, die ihnen einreden, das Recht sei Instrument, Geschöpf und Dienerio der Politik. Der nächste Schritt ist dann die Herabwürdigung von "Recht und Ordnung" zum Spott- und Schimpfwort. So wird gerade der Jurist, der sich das Recht nicht aus den Sternen holt, sondern es als von Menschen geschaffene Ordnung zur Ermöglichung und Erleichterung des Zusammenlebens von Menschen begreift, immer wieder auf die Frage gestoßen, wie vermieden werden kann, daß das Recht weder in einen hoffnungslosen Gegensatz zur Realität gerät noch zur Dienerio der Macht herabsinkt. Die Rechtsphilosophie hat sich diesem Problem zu allen Zeiten gestellt. Wie jeder 38 Ein markantes Beispiel ist der Begriff des Eigentums. Im Beschluß vom 17. 11. 1966 erklärte das Bundesverfassungsgericht: "Da es k einen ,absoluten' Begriff des Eigentums gibt, ist es Sache des Gesetzgebers, Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG). Er orientiert sich dabei an den gesellschaftlichen Anschauungen seiner Zeit. Der an das Grundgesetz gebundene Gesetzgeber hat außerdem die grundlegenden Wertentscheidungen und Rechtsprinzipien der Verfassung zu beachten" (BVerfGE 20, 355 f.; ähnlich bereits BVerfGE 14, 277 f.; 18, 132). Auch der BGH hat anerkannt, daß das Eigentum seinem Inhalt nach nicht starr, sondern historisch wandelbar ist (BGHZ 6, 277). 37 Vgl. Josef Ziegler: Organverpflanzung, Düsseldorf 1977, S. 101, der eindringlich vor den Gefahren einer solchen Verkennung warnt. 38 Helmut Kuhn: Der Streit um die Grundwerte, Zeitschrift für Politik 1977, s. 31.

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Philosophie erscheint es ihr als ein Problem der Antinomie von Sein und Sollen. Nach jahrzehntelangen Forschungen gelangte einer ihrer Vertreter, der die Methoden des Rechts in den verschiedenen Kulturkreisen von den archaischen Ursprüngen bis zur Gegenwart untersucht hatte, zu dem Ergebnis: "Es gibt nur einen Weg, die auf Macht bezügliche Finalität des Sollens anzuerkennen und doch das Sollen nicht wieder ins Sein abgleiten zu lassen: man muß der Wertigkeit des Sollens die Wertigkeit entgegensetzen, welche das Sollen daran hindert, in die Sphäre der Macht hinüberzuwechseln39." Woher diese "Wertigkeit" genommen wird, läßt der Autor offen; denn dieser Frage haben Philosophen und Theologen nachzugehen. Aber er erläutert ihre Funktion: diese Wertigkeit soll gegensteuern, soll verhindern, daß das gesamte Vehikel des Rechts in den Strudel der politischen Macht gerät und von diesem in den Abgrund gerissen wird. Von dieser Funktion des Gegensteuerns her beginnt er den Versuch, den realen Ausdruck jener Wertigkeit verbal zu definieren. Er verwendet zunächst den Begriff "Gegenwerte" und fügt dann die folgenden Präzisierungen hinzu: Rahmensetzende Werte, Rahmenwerte, Grundwerte. Damit ist eigentlich die Funktion der Grundwerte einer Rechtsordnung bereits umrissen. Aber Fikentscher - um ihn handelt es sich - ist auch der Frage nachgegangen, warum Grundwerte zur "Gegensteuerung" notwendig sind: sie sichern den Wertungsablauf. Er geht dabei von der Erkenntnis aus, daß menschliche Wertungen "von Natur aus" majorisierbar sind, aber durch Majorisierung ihren Wertcharakter - man könnte auch sagen: ihre Steuerungsfunktion - verlieren. "Sie behalten ihn jedoch, wenn man nicht majorisierbare Werte hinzufügt, das Werturteil durch ein Grundwerturteil absichert. In einem Satz: aus dem Charakter des Sollens als Maßstab des Seins folgt notwendig eine Grundrechtsdemokratie als diejenige gesellschaftliche Ordnung von Menschen, in der man grundsätzlich frei werten kann, Grundwerte aber dafür sorgen, daß auch künftig frei gewertet werden kann. Durch diese Grundwerte - in personenzugeordneter Form: Grundrechte - wird das unendliche Freiheitsspektrum der Werte in beachtlichem Umfang eingeengt. Der Relativismus der Wertung stützt sich auf die Absolutsetzung der Grundwerte. Die Problemoffenheit wird marginal mit breiter Marge! -geschlossen, um existent zu bleiben. Aus der Antinomie des Sollens (nämlich als ,geltende' Regelung des Seins zur Durchsetzung zu tendieren) folgt die Antinomie der Freiheit, von einer gewissen Unfreiheit abhängig zu sein40." 39

Wolfgang Fikentscher: Methoden des Rechts, Bd. IV, Tübingen 1977,

40

Fikentscher, S. 402 f.

s. 402.

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Letztlich ist damit der wissenschaftliche Beweis dafür geliefert, daß die rechtsstaatliche Demokratie freiheitlich sein muß. Nach westlichem Demokratieverständnis gehören Rechtsstaatlichkeit und Freiheit wesensnotwendig zur Demokratie, so daß sich die in dem Begriff "Freiheitlich-rechtsstaatliche Demokratie" zum Ausdruck kommende Trias von selbst ergibt. Andererseits bedeutet das aber, daß die ganze Problematik des Freiheitsbegriffs so eng mit der Problematik des Rechtsstaatsprinzips verwoben ist, daß diese Demokratie wie ein undurchdringliches Dickicht von Problemen erscheint. Es wird nicht gelingen, dieses dornige Gestrüpp in der kurzen Zeit, die jetzt noch zur Verfügung steht, zu durchqueren. Der geistige Hubschrauber, der sich unvermittelt vom Boden abhebt und über die Hecken springt, um auf einer dahinter vermuteten Spielwiese zu landen, kann aber auch nicht das erstrebenswerte Vehikel sein. Lieber wollen wir doch möglichst behutsam hineingreifen und dabei allerdings riskieren, daß uns einige Dornen verletzen. Es ist bereits von der Präponderanz der Freiheit gesprochen worden, von der das Grundgesetz nach dem Willen seiner Schöpfer geprägt ist. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt neben der Menschenwürde auch die Freiheit als obersten Grundwert herausgestellt41. Aber es wäre naiv, daraus zu schließen, daß die Freiheit in der Demokratie automatisch gesichert ist. Nichts könnte gefährlicher sein als die Auffassung, daß es nicht notwendig ist, die Freiheit in einem demokratischen Staat ausdrücklich zu sichern. Die Geschichte aller Staaten gibt Zeugnis davon, daß die Freiheit des einzelnen ständig bedroht ist, ganz gleich, welche Verfassung für den betreffenden Staat gilt. Art und Ausmaß der Freiheitsbedrohung sind freilich sehr unterschiedlich. Die Diktatur ist dadurch gekennzeichnet, daß sie die Freiheit des einzelnen ungeschützt läßt oder sogar bekämpft, Hauptmerkmal der Demokratie ist es dagegen, daß sie die Freiheit des einzelnen achtet und schützt. Aber auch in der Demokratie gibt es Macht und Machtmißbrauch und daher Freiheitsbedrohung. Dieser Bedrohung sucht die rechtsstaatlich-demokratische Verfassung durch die Garantie von Grundrechten und ein kompliziertes System von gegenseitigen Hemmungen und Mäßigungen der Staatsgewalt zu begegnen. Der Ausdruck "Gewaltenteilung", der seit Montesquieu 41 Aus der Grundentscheidung für die Freiheit erhalten auch andere Grundrechte ihren Sinn, wie z. B. das Grundrecht auf Eigentum, von dem der BGH in seiner Entscheidung vom 10. 6. 1952 (BGHZ 6, 276) gesagt hat: "Der in den Staat eingegliederte einzelne bedarf, um unter seinesgleichen als Person, d. h. frei und selbstverantwortlich leben zu können, und um nicht zum bloßen Objekt einer übermächtigen Staatsgewalt zu werden, also um seiner Freiheit und Würde willen, einer rechtlich streng gesicherten Sphäre des Eigentums."

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für dieses System verwendet wird, ist irreführend. Es handelt sich nicht um eine Teilung der Staatsgewalt, sondern um eine Verteilung ihrer Ausübung auf verschiedene, voneinander unabhängige Organe42 • Wenn vom Freiheitsschutz der rechtsstaatlich-demokratischen Verfassung die Rede ist, so muß zweierlei betont werden: 1. Es geht hier um die Freiheit des einzelnen. Wohl kann einer demokratischen Verfassung die Freiheit der Gemeinschaft, deren Zusammenleben sie ordnet, nicht gleichgültig sein. Aber die Probleme, die mit der Verteidigung der Freiheit des Gemeinwesens gegenüber Bedrohungen von außen zusammenhängen, liegen auf einer anderen Ebene. Eine Verbindung zwischen den beiden Ebenen wird nur durch das Prinzip hergestellt, daß ein demokratischer Staat die Erfordernisse der Verteidigung der Freiheit des Gemeinwesens nicht zum Vorwand für die Aufhebung der Freiheit des einzelnen nehmen darf, und daß auch darüber die Verfassungsgerichtsbarkeit wacht. 2. Die Freiheit, die von der rechtsstaatlich-demokratischen Verfassung geschützt wird, ist nicht identisch mit Anarchie, d. h. Herrschaftslosigkeit. Auch der freiheitliche, rechtsstaatliche, demokratische Staat wird regiert und verwaltet. Die Formel von der "Identität der Regierenden und Regierten "43 ist falsch, wenn man sie wörtlich nimmt. Ihr wahrer Kern liegt nur im Prinzip der Volkssouveränität beschlossen, zu dem sich das Grundgesetz in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 bekennt: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." Schon der darauf folgende Satz erklärt das näher: "Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt." Damit stellt sich der nach dem Prinzip der repräsentativen Demokratie organisierte demokratische Rechtsstaat als ein System von Machtdelegationen dar, innerhalb dessen der Strom der Macht von unten nach oben, von den Staatsbürgern zu den obersten Organen des Staates, fließt, während der Gegenstrom der Verantwortung die umgekehrte Richtung nimmt. Die letztliehe Verantwortung eines jeden Amtsträgers in diesem Staat besteht gegenüber dem einzelnen Bürger. (Die Verantwortung gegenüber dem Vorgesetzten, die im Rahmen einer Behördenorganisation besteht, darf über die demokratische Verantwortung gegenüber dem einzelnen Bürger nicht hinwegtäuschen.) Nicht Herrschaftslosigkeit ist das Kennzeichen des freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaates, sondern gezügelte, vom Volk abgeleitete, kon42 Die so verstandene Gewaltenteilung hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 18. 12. 1953 (BVerfGE 3, 247) als "tragendes Organisationsprinzip des Grundgesetzes" herausgestellt. 43 Vgl. Carl Schmitt: Verfassungslehre, 1. Aufl. Berlin 1928, unveränderter Nachdruck Berlin 1965, S. 234.

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trollierte Herrschaft. Dementsprechend sagt das Bundesverfassungsgericht vom Prinzip der sogenannten Gewaltenteilung: "Seine Bedeutung liegt in der politischen Machtverteilung, dem Ineinandergreifen der drei Gewalten und der daraus resultierenden Mäßigung der Staatsherrschaft44." Das, was die Freiheit von der Anarchie unterscheidet, ist die Bindung an Inhalte. Sie wird wohl nur deshalb so selten als Bindung im Sinne einer drückenden Last empfunden, weil die Inhalte der Freiheit bereits durch die vorhin erwähnten kulturprägenden Faktoren in die Verhaltensstrukturen des einzelnen eingegangen sind, so daß der einzelne sie seiner Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung automatisch zugrundelegt. Um so notwendiger ist es, gelegentlich an diesen als selbstverständlich empfundenen Zusammenhang zu erinnern, wie es Ulrich Hommes getan hat: "Freiheit ist mehr als ungehindert seinen Geschäften nachgehen zu können und seine Vergnügungen zu haben. Freiheit ist nicht das bloße Sichausleben. Zur Freiheit gehört die Bindung an Inhalte45." Umgekehrt wird man allerdings auch die Befürchtung hegen müssen, daß dann, wenn Inhalte der Freiheit nicht mehr erkannt oder Bindungen nicht mehr anerkannt werden, die Freiheit verlorengeht. Die Übereinstimmung bezüglich des Inhalts der Freiheit ist das wichtigste staatserhaltende Element in der Demokratie. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat die Prägekraft der europäischen Kulturtradition in den westlichen Demokratien ausgereicht, jene Übereinstimmung aufrechtzuerhalten. In der Gegenwart wird die Befürchtung geäußert, das Ende jener gemeinsamen Kultur zeichne sich ab, womit gleichzeitig der Untergang der westlichen Demokratie besiegelt wäre. Von anderen wird die optimistische Überzeugung entgegengesetzt, daß in einer so großen Gruppe, wie sie die Bevölkerung moderner Staaten darstellt, niemals der Zeitpunkt kommen wird, in dem der Grundkonsens über Wert und Inhalt der Freiheit nicht mehr möglich ist. Letztlich liegt diesem Optimismus die Auffassung zugrunde, daß die von der freiheitlichen, rechtsstaatlich-demokratischen Verfassung geschützten Grundwerte in der Natur des Menschen verankert sind. Wir erleben daher in unserer Zeit eine der größten Auseinandersetzungen im Bereich der allgemeinen Staatslehre, deren Ausgang für die Gestaltung der politischen Zukunft Europas von schicksalhafter Tragweite sein wird. Die Fronten dieser Auseinandersetzung sind unklar, weil die begriffliche Klarheit weitgehend verlorengegangen ist und häufig auch bewußte Sprachfälschungen verwendet werden, um die Öffentlichkeit, die ja in einem demokratischen Staat an der Diskussion teilnimmt, zu täuschen. " BVerfGE 3, 247. 45 Ulrich Hommes: Freiheit heute Nachrichten 1978, S. 259.

die Frage nach den Inhalten, IBM-

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Verhängnisvoll ist dabei insbesondere ein falsches Demokratieverständnis, das Demokratie als bloße Herrschaft der Mehrheit begreift und alle Verfassungsprinzipien zur Disposition dieser Mehrheit stellt. Vor dieser Deformation des Demokratiebegriffs haben nicht nur deutsche Verfassungsjuristen in den letzten Jahren eindringlich gewarnt. Detlef Merten schreibt: "Die Apotheose der Demokratie darf nicht darüber täuschen, daß die nicht gebändigte Herrschaft des Volkes in eine ungezügelte Diktatur der Mehrheit umschlagen kann, bei der, um ein Bild Hans Hubers aufzunehmen, ,das grinsende Gesicht des Totalitarismus aus den bloßen Formen der Demokratie' hervorschaut46 ." Der große Schweizer Rechtsgelehrte Hans Huber hat diese Mahnung bereits vor mehr als zwanzig Jahren formuliert47 • Sein Landsmann Werner Kägi spricht von einer "dezisionistisch-totalitären Auffassung der Demokratie" und bezeichnet diese Demokratie als "Widersacher des Rechtsstaates" 48 • Aber es ist eben nicht die Demokratie, die das Grundgesetz meint. Der Demokratiebegriff des Grundgesetzes ist nur zu verstehen im Zusammenhang mit den bereits genannten Begriffen der Rechtsstaatlichkeit und der Freiheit, in die dann noch das Sozialstaatsprinzip hineinverwoben ist. Zu letzterem müssen noch einige Worte gesagt werden, die über die Themenstellung des Referats an sich hinausgehen, aber unerläßlich sind. Hier geht es zunächst nur darum zu zeigen, daß man die Problematik nicht richtig erfassen kann, wenn man Rechtsstaatsprinzip und Demokratie als gegenseitige Begrenzung auffaßt und bestimmte politische Situationen nur als Konflikte zweier Prinzipien begreift, die mit Hilfe einer ideologisch begründeten Priorität eines der beiden Prinzipien zu lösen sind. Auf der Grundlage eines solchen Denkens kann das formale Rechtsstaatsprinzip die Demokratie verdrängen, wie wir es am Ende der Weimarer Republik gesehen haben. Es kann aber auch der deformierte, radikale Demokratiebegriff, der die Demokratie zur Herrschaft der 51 °/o degradiert, den materiellen Rechtsstaat überwinden . In beiden Gefahren steht die Bundesrepublik Deutschland, wenn man ihre Verfassung nicht richtig begreift. Das Grundgesetz normiert einen Staat, in dem die verschiedenen Komponenten - Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Freiheit, Sozialstaatlichkeit - sich gegenseitig bedingen und formen. Diese Erkenntnis steht hinter zahlreichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und Äußerungen maßgeblicher Verfassungsjuristen. So sagt etwa MerDetlef Merten: Rechtsstaat und Gewaltmonopol, Tübingen 1975, S. 8. Hans Huber: Demokratie und Bürokratie, Schweizer Monatshefte 1957 (Jahrgang 36), S. 135. 48 Werner Kägi: Rechtsstaat und Demokratie, in: Festgabe für Zaccaria Giacometti, Zürich 1953, S. 108 bzw. 123. 48

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ten: "Daher beschränkt und entschärft das Grundgesetz die demokratische wie auch die sozialstaatliche Verfassungskomponente insbesondere durch das Rechtsstaatsprinzip, das zu ihnen in einem Spannungsverhältnis steht. Demokratische Willensbildung und sozialer Ausgleich dürfen sich nur in rechtsstaatliehen Formen und mit rechtsstaatliehen Mitteln vollziehen, wie umgekehrt die Gesetzesherrschaft demokratisch legitimiert und sozial intendiert sein muß. Wie bei den Staatsgewalten auf eine Gewaltenbalance zu achten ist, muß auch eine Harmonie der tragenden Verfassungsprinzipien erstrebt werden, die die Diktatur nur eines Verfassungsgrundsatzes ausschließt49." Merten ist dieser Frage bis in ihre letzten Verästelungen nachgegangen und schließt daher auch nicht die Möglichkeit aus, daß in gewissen Sondersituationen tatsächlich ein Konflikt zwischen Demokratie und Rechtsstaat entsteht, auch wenn man die Demokratie nicht in jenem deformierten, radikalen - im Grunde bereits totalitären - Sinne begreift. Hierzu hat Kägi ausgeführt, daß eine Verabsolutierung der Demokratie zur Relativierung des Rechtsstaates führe 50• Daher plädiert er dafür, nicht von der rechtsstaatliehen Demokratie, sondern lieber vom demokratischen Rechtsstaat zu sprechen51 • Daraus schließt Merten, daß in einem echten Konfliktsfall das Rechtsstaatsprinzip den Vorrang genießt. Nach der hier vertretenen Auffassung werden in der politischen Praxis solche Konfliktsfälle dadurch vermieden, daß die Demokratie von vornherein in eine innere Beziehung zum Rechtsstaat gesetzt wird, so wie es der große Rechtsphilosoph Gustav Radbruch beschrieben hat: "Demokratie ist gewiß ein preisenswertes Gut, Rechtsstaat aber ist das Wasser zum Trinken, die Luft zum Atmen, und das beste an der Demokratie ist gerade dieses, daß nur sie geeignet ist, den Rechtsstaat zu sichern52 ." Ebenso aber bedingen sich Rechtsstaat und Freiheit. Es ist das große Verdienst Ulrich Scheuners, in kritischer Zeit an "die materiale Grundlage des Rechtsstaats in der Freiheit der Person" und "die notwendige Verknüpfung rechtsstaatlicher Mäßigung des Staates und freiheitlicher Verfassung" hingewiesen zu haben53• Auf der Basis eines solchen Verständnisses wird ohne weiteres klar, daß diejenigen Normen des Grundgesetzes, die äußerlich als Beschränkungen individueller Freiheiten erscheinen, in Wirklichkeit "Schutzvorkehrungen der Detlef Merten, S. 8 f. Werner Kägi, S. 132. s1 Werner Kägi, S. 141. 52 Gustav Radbruch: Aphorismen der Rechtsweisheit, hrsg. von Arthur Kaufmann, Göttingen 1963, S. 51. 53 Ulrich Scheuner: Die neuere Entwicklung des Rechtsstaats in Deutschland, in: Ulrich Scheuner: Staatstheorie und Staatsrecht, hrsg. von Joseph Listl und Wolfgang Rüfner, Berlin 1978, S. 186. 49

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Verfassung zur Wahrung der Gemeinschaftsinteressen und Gemeinschaftsbelange" sind und nicht als die individuelle Freiheit zurückdrängend zu begreifen sind, wie es Karl Doehring deutlich gesagt hat: "Denn alle diese Bindungen erfüllen ihren Sinn und ihre Aufgabe nur und ausschließlich in der dienenden, schützenden und so dem Ziel der menschlichen Freiheit verpflichteten Funktion; sie stellen den Freiheitsraum erst her. Nur dann nämlich, wenn diese Abgrenzungen vorhanden sind, ist Individualfreiheit realisierbar, d. h. ohne sie bestünde schlechthin eine solche Freiheit nicht54." Folgerichtig kommt Doehring zu dem Ergebnis, "daß die sogenannten Schranken der Freiheitsrechte des Individuums, richtig betrachtet, nicht hemmend, sondern konstituierend wirken. Durch die Beschränkung erst wird individuelles Freiheitsrecht möglich.... So besteht keine Gegensätzlichkeit zwischen Freiheit und Schranke, wie sie so oft aufgezeigt wird. Weil die schrankenlose Freiheit sich schlechthin selbst aufheben würde, ist ihre Bindung als Freiheitselement zu sehen. Nur auf eines kommt es dann an, nämlich darauf, daß diese Bindung nicht und niemals zum Eigenwert erhoben wird. Der Unterschied der Freiheits- und Grundrechtsauffassung des Grundgesetzes zu sogenannten sozialistischen Staaten und auch im Hinblick auf jedes betont sozialistische System überhaupt, liegt darin, daß in diesem System des betonten Sozialismus die Gemeinschaftsbindung als Selbstzweck rangiert" 55• Auch die in diesem Zitat angedeutete Gefahr wird dadurch verringert, daß Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zusammen gesehen und mit dem Begriff der Demokratie verbunden werden. Allerdings setzt das voraus, daß der Rechtsstaatsbegriff materiell gesehen wird56• Erst dadurch wird 64 Karl Doehring: Sozialstaat, Rechtsstaat und freiheitlich-demokratische Grundordnung, Die Politische Meinung, Sonderheft 1978, S. 18. 55 Doehring, S. 19. 56 In dieser Beziehung vertritt Doehring (S. 12 f.) die gegenteilige Auffassung. Er sieht im Rechtsstaat nur "Verfahrensgerechtigkeit, Rechtssicherheit und Berechenbarkelt des Rechts" und will die materielle Gerechtigkeit im Bereich des Sozialstaatsprinzips verwirklichen. Nach der hier vertretenen Auffassung ist eine solche Trennung nicht statthaft, weil die einzelnen Komponenten des freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats miteinander verschmolzen sind. Das Streben nach der Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit, das sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergibt, ist selbstverständlich auch die Triebkraft für alle Handlungen, die der Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips gelten. Im übrigen verschweigt Doehring nicht, daß seine Auffassung der herrschenden Meinung widerspricht. Letztere hat Ulrich Scheuner mit den Worten zusammengefaßt: "Man ist sich in der deutschen Staatsrechtslehre weithin einig darin, daß das Grundgesetz nicht den formalen Rechtsstaatsbegriff des Positivismus erneuert hat, sondern eine materiale, auf inhaltliche Gerechtigkeit der Staatsführung abzielende Vorstellung aufnahm". Ulrich Scheuner: Die neuere Entwicklung des Rechtsstaats in Deutschland, in: Ulrich Scheuner, Staatstheorie und Staatsrecht, hrsg. von Joseph Listl und Wolfgang Rüfner, Berlin 1978, S. 187. Als weitere Gewährsmänner werden zitiert: Otto Bachof: Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, VVDStRL 12 (1954), S. 39 ff.; Christian Friedrich Menger:

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das deutlich, was Scheuner den "politischen Gehalt des Rechtsstaatsprinzips" nennt, "seine unlösliche Verknüpfung mit einer freiheitlichen Verfassung". Daraus ergibt sich ferner, "daß nicht ein Höchstmaß an individueller Staatsferne, sondern eine im Einklang mit der politischen Verantwortung und Pflicht des Bürgers eines freien Staates bemessene und zugleich in den politischen Einrichtungen gesicherte Freiheit den Kern des Rechtsstaats bildet" 57 • Im gleichen Sinne ist Klaus Stern zu verstehen, wenn er die "staatliche Ordnungsmacht" als "unentbehrlichen Hort der Freiheit und der Sicherheit des Individuums" bezeichnet58• Solche Aussprüche sind hierzulande ungewohnt und stoßen auf instinktive Ablehnung oder zumindest Skepsis. Diese Tatsache offenbart eigentlich das ganze Elend der gegenwärtigen Lage Deutschlands. Der Unrechtsstaat des Nationalsozialismus hat offenbar das Staatsverständnis im deutschen Volke so gründlich zerstört, daß man sich den Staat als Hort der Freiheit gar nicht mehr vorstellen kann, daß man instinktiv die freiheitliche Demokratie als einen gegen den Staat gerichteten Bürgerschutz begreift. In Wirklichkeit ist die Demokratie gekennzeichnet durch das stolze Wort der freien Bürger: Der Staat sind wir. Der Staat ist nicht etwas, das neben uns, außerhalb von uns oder gar über uns existiert, sondern er ist etwas, das wir tun. Dieses Tun vollzieht sich im Rahmen von Institutionen, die ihre Existenz, ihre Legitimität und ihre Lebenskraft aus dem Willen der Bürger ableiten. Das ist die angelsächsische Vorstellung vom Staat als System von Machtdelegationen. Daß diese Vorstellung nichts zu tun hat mit unbekümmerter Sorglosigkeit, ist bereits erwähnt worden. Die Möglichkeit der Freiheitsbedrohung durch einen freiheitlichen demokratischen Staat ist eine Tatsache. Aber gerade weil keine permanente und wesensmäßige Frontstellung zwischen dem einzelnen und dem Staat gesehen wird, beobachtet der Bürger eines wahrhaft demokratischen Staates das staatliche Handeln mit der gleichen Sorgfalt wie sein eigenes Handeln. Der freiheitliche Rechtsstaat gibt ihm dazu vielfältige Möglichkeiten. Die Schöpfer des Grundgesetzes sind offensichtlich davon ausgegangen, daß im Nachkriegsdeutschland ein solches Staatsverständnis heranreifen wird. In mühevoller Arbeit haben Staatsrechtslehre und Verfassungsrechtsprechung, unter der Führung des Bundesverfassungsgerichts, den Begriff der freiheitlich-demokratischen Grundordnung herausgearbeitet59• Heute, 30 Jahre nach Inkrafttreten des GrundDer Begriff des sozialen Rechtsstaats im Banner Grundgesetz, Tübingen 1953, s. 17. 67 Ulrich Scheuner, S. 187. 58 Klaus Stern: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, München 1977, S. VIII.

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gesetzes, muß man sich besorgt fragen, ob diese Mühe vergebens gewesen ist. Hohnvoll sprechen selbst ernstzunehmende Verfassungsjuristen von der "fdGO-Formel" und identifizieren sie nur noch mit "militantem Antikommunismus" 60 • Andere mißdeuten sie so, daß sie als grundsätzlich vereinbar mit dem Rätesystem betrachtet wird61. - Diese überraschende, aber aufschlußreiche Feststellung verdanken wir keinem Geringeren als Peter von Oertzen. - Dazu muß klar und unmißverständlich gesagt werden: das ist nicht der Staat, den das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verfaßt. Nun muß eine freiheitliche, rechtsstaatliche Demokratie auch mit Mittelmaß und Unverstand fertigwerden. Die Demokratie müßte ein utopischer Idealstaat bleiben, wenn sie von der Prämisse ausginge, daß jeder Bürger den Sachverstand eines hochqualifizierten Verfassungsjuristen hat. Aber das verlangt die Demokratie gerade nicht. Sie verlangt Kenntnisse und Tugenden, deren Erwerb und Besitz gewisse intellektuelle und moralische Anstrengungen erfordert und deren gleichzeitige Anwendung manchmal schwierig erscheint, wie z. B. Toleranz einerseits, geistige Disziplin andererseits. Aber die Hoffnung auf Freiheit und Demokratie lebt davon, daß diese Kenntnisse und Tugen59 Aus der Fülle der hierzu erschienenen Literatur seien genannt: Peter Badura: Verfassung, Staat und Gesellschaft in der Sicht des Bundesverfassungsgerichts, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, 2. Band Tübingen 1976, S. 1 ff.; Eckart Bulla: Die Lehre von der streitbaren Demokratie. Versuch einer kritischen Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Archiv des öffentlichen Rechts 1973 (98. Bd.), S. 340 ff.; Karl Doehring: Sozialstaat, Rechtsstaat und freiheitlich-demokratische Grundordnung, Die Politische Meinung Sonderheft 1978, S. 7 ff.; Heinz Laufer: Die freiheitliche demokratische Grundordnung und ihre Grenzen, in: Verfassung und Verfassungsrechtsprechung, Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, München 1972, S. 73 ff.; Erich Kaufmann: Die Grenzen des verfassungsmäßigen Verhaltens nach dem Bonner Grundgesetz, insbes.: Was ist unter einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu verstehen?, in: Verhandlungen des 39. Deutschen Juristentages 1951, Tübingen 1952, S. A 15 ff.; Gerd Lautner: Die freiheitliche demokratische Grundordnung, Kronberg Ts. 1978; Gerhard Leibholz: Der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und das Bonner Grundgesetz, DVBl. 1951, S. 554 ff.; Walter Priepke: Das Staats- und Gesellschaftsbild der streitbaren freiheitlichen Demokraite, Deutsche Richterzeitung 1974, S. 109 ff.; Michael Ruland: Der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Diss. Berlin 1971; Walter Oskar Schmidt: Der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes, DOV 1965, S. 433 ff.; Walter Schmitt Glaeser: Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, Bad Hornburg v. d. H. 1968, S. 32 ff.; Klaus Stern: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, München 1977, S. 414 ff. 80 Erhard Denninger: Zur juristischen Dogmatik der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, in: Freiheitliche demokratische Grundordnung I, hrsg. von Erhard Denninger, Frankfurt/M. 1977, S. 70. 81 So Peter von Oertzen: Freiheitliche demokratische Grundordnung und Rätesystem, Politische Bildung 1969, S. 14 ff.

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den in einer mitteleuropäischen Nation des 20. Jahrhunderts in ausreichendem Maße vorhanden sind. Wenn das nicht mehr der Fall ist, besteht die Gefahr, daß wir in schmerzlicher Weise an einen Ausspruch Hegels erinnert werden, der am Ende einer langen Epoche der deutschen Verfassungsgeschichte steht, nämlich am Ende des Ersten Deutschen Reiches und speziell für die staatliche Existenz Deutschlands geprägt worden ist: "Was nicht mehr begriffen wird, ist nicht mehr82.'' Die Pflicht, die Bundesrepublik Deutschland als das zu begreifen, was sie wirklich ist, bezieht sich nicht nur auf die Bundesrepublik als Deutschland im Rechtssinne, sondern auch auf die innere Struktur dieses Staates, wie sie sich aus dem Grundgesetz ergibt. Es ist die Struktur eines freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates. Wer entweder die einzelnen Teile oder die Gesamtheit dieses zusammengesetzten Begriffes nicht mehr begreift, wer die von der Verfassung zum Ausdruck gebrachte, garantierte und geschützte Wertordnung nicht erkennt, wer sie sogar ablehnt oder bekämpft, wer im Rechtsstaat nur die Beschränkungen, in der Demokratie nur die Machbarkeit, in der Freiheit nur die Zügellosigkeit, im Sozialstaat nur den Anspruch auf Leistungen der Gemeinschaft sieht, kann den Staat der Bundesrepublik Deutschland, unseren Staat, nicht begreifen. Er kann ihn deshalb auch nicht erhalten. Das gleiche aber gilt auch für denjenigen, der die einzelnen Komponenten isoliert sieht und nicht begreift, daß und wie sie sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. Die Betonung dieser Zusammengehörigkeit ist deshalb besonders wichtig, weil die Erhaltung eines harmonischen Ganzen unter den Bedingungen des Wandels von größter Bedeutung ist. Der von den sogenannten Progressiven gegen das Bundesverfassungsgericht erhobene Vorwurf, es berücksichtige den Wandel gesellschaftlicher Auffassungen zu wenig, ist nicht nur ungerecht, sondern grotesk. Bei näherem Hinsehen erweist es sich nämlich, daß gerade die sogenannten Progressiven mit dem Problem des Wandels nicht fertig werden. Denn ihr Argument, alle in "der Gesellschaft" vorhandenen Wertvorstellungen müßten ohne Rücksicht auf die geltenden Verfassungsnormen in gesetzgeberisches Handeln umgesetzt werden, nimmt nicht nur dem einfachen Gesetz, sondern auch der Verfassung die normative Kraft. Das Bundesverfassungsgericht hat in jahrzehntelanger Rechtsprechung den Beweis dafür geliefert, daß der demokratische Rechtsstaat mit den Problemen des Wandels fertig wird, ohne eine solche Selbstzerstörerische Wirkung zu 82 Hegel schrieb im Jahre 1801: "Deutschland ist kein Staat mehr. Es ist kein Streit mehr darüber, unter welchen Begriff die deutsche Verfassung falle. Was nicht mehr begriffen werden kann, ist nicht mehr." Zit. nach G. F. W. Hegel: Der Staat, hrsg. von Faul Alfred Merbach, Leipzig 1924, s. 106.

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entfalten. Voraussetzung dafür ist allerdings, wie es Ernst Friesenhahn ausgedrückt hat, tiaß die Grundrechtsbestimmungen auch als "Elemente objektiver Ordnung" gesehen werden63 • Das ist die große, noch immer viel zu wenig gewürdigte Leistung des demokratischen Rechtsstaates: die Berücksichtigung und Ermöglichung des Wandels unter Aufrechterhaltung der freiheitlichen Grundordnung. Es wäre leicht, die Probleme des Wandels dadurch zu lösen, daß die bestehenden Institutionen vernichtet werden. Deshalb ist die Versuchung zu solchem Tun stets groß, und zu seiner Rechtfertigung läßt sich stets vorbringen, die bestehenden Institutionen seien alt, abgenutzt und überholt. Dagegen ist es schwierig, die Institutionen eines Gemeinwesens inmitten des ständig vor sich gehenden Wandels funktionsfähig zu erhalten. Diktaturen lösen dieses Problem, indem sie den Wandel entweder gewaltsam unterdrücken oder ihn rigoros institutionalisieren und planen, was zwangsläufig zur restlosen Vernichtung der Freiheit des einzelnen führt. Dagegen ist der demokratische Rechtsstaat in der Lage, den friedlichen Wandel in Freiheit zu vollziehen. Zum Schluß sei noch einmal daran erinnert, daß das Grundgesetz sich nicht mit der Trias von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit begnügt, sondern ihr bewußt die Sozialstaatlichkeit hinzufügtu. Auch diese steht im Wechselverhältnis mit den anderen Komponenten, wird von ihnen geprägt und durchdringt sie. Jede isolierte Betrachtungsweise des Sozialstaatsprinzips verzerrt die Sicht des Grundgesetzes mit ähnlich verheerenden Folgen wie die Außerachtlassung des Sozialstaatsprinzips&5. 88 Ernst Friesenhahn: Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, Verhandlungen des 50. Deutschen Juristentages, Bd. II, München 1974, S. G 6, unter Hinweis auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 2. 5. 1967, BVerfGE 21, 379. 64 Auch hierzu nur eine bescheidene Literaturauswahl: Ludwid Fröhler: Die verfassungsrechtliche Grundlegung des sozialen Rechtsstaats in der Bundesrepublik Deutschland und in der Republik Österreich, München 1967; Hans Peters: Geschichtliche Entwicklung und Grundfragen der Verfassung, bearb. von Jürgen Salzwedel und Günter Erbel, Berlin- Heidelberg 1969, S. 195 ff.; Georg Roth: Die Gefahrenvorsorge im sozialen Rechtsstaat Berlin 1968; Karl Albrecht Schachtschneider: Das Sozialprinzip - Zu seiner Stellung im Verfassungssystem des Grundgesetzes, Bielefeld 1974; tnrich Scheuner: Die neuere Entwicklung des Rechtsstaates in Deutschland, in: tnrich Scheuner: Staatstheorie und Staatsrecht, hrsg. von Joseph Listl und Wolfgang Rüfner, Berlin 1978, S. 204 ff.; Werner Weber: Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl. Göttingen 1970, S. 249 ff.; Fritz Werner: Wandelt sich die Funktion des Rechts im sozialen Rechtsstaat?, in: Die moderne Demokratie und ihr Recht, Festschrift für Gerhard Leibholz, 2. Bd., Tübingen 1966, S. 153 ff. es Fritz Werner (S. 159) warnt eindringlich "vor der Versuchung, die Sozialstaatlichkeit als eine Art revolutionären Rechtsprinzips in unsere Rechtsordnung einzuführen".

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Leider sind die begrifflichen Konturen auch dieses Wortes stark verwischt worden, so daß unter Berufung auf das Soziaistaatsprinzip die unterschiedlichsten Forderungen erhoben werden. In seiner Freiburger Festansprache vom 7. Februar 1979 hat der Nobelpreisträger Friedrich A. von Hayek das Wort "sozial" als ein "Wiesel-Wort" bezeichnet. Er spielte damit auf eine amerikanische Sprachgewohnheit an, die sich auf die bekannte Eigenschaft des kleinen Nagetieres bezieht, ein Ei so geschickt anzubeißen und auszuleeren, daß seine Schale nicht zerbricht und es hinterher so aussieht, daß man nicht merkt, daß es leer ist. Wiesel-Wörter sind diejenigen Wörter, die, wenn man sie einem Wort beifügt, dieses Wort jeden Inhalts und jeder Bedeutung berauben, Wörter, die wie Wiesel sind, wenn sie sich über ein Ei hermachen. Daran knüpfte Hayek die Überlegung: "Ich glaube, das Wiesel-Wort par excellence ist das Wort sozial. Was es eigentlich heißt, weiß niemand. Klar ist nur, daß eine soziale Marktwirtschaft keine Marktwirtschaft ist, ein sozialer Rechtsstaat kein Rechtsstaat, ein soziales Gewissen kein Gewissen, soziale Gerechtigkeit keine Gerechtigkeit, und ich fürchte, daß auch soziale Demokratie keine Demokratie ist66." Dem ist zu widersprechen. Das Grundgesetz geht davon aus, daß es einen sozialen Rechtsstaat und eine soziale Demokratie gibt. Die Schwierigkeiten der exakten Definition teilt der Begriff Sozialstaat durchaus mit den Begriffen des Rechtsstaates und der Demokratie67 • Das mindert allerdings nicht den Wahrheitsgehalt der Mahnung Hayeks, einem "sprachlichen Kollektivfetisch" nicht das Opfer der Freiheit oder der Rechtsstaatlichkeit zu machen. Wieder ist es der richtige Einbau dieser Komponente in das Gesamtgefüge der Verfassung und die von ihr zum Ausdruck gebrachte, geschützte und garantierte Wertordnung, auf den es ankommt. Die Einfügung des Sozialstaatsprinzips in den Gesamtbau des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats ist deshalb besonders schwierig, weil dabei das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit zu berücksichtigen ist. An diesem Problem sind bisher noch alle sozialistischen Staaten gescheitert. Ihre Bürger mußten die Erfahrung machen, daß die Entwicklung zur Gleichheit in die Unfreiheit führte. Der demokratische Rechtsstaat aber erstrebt die Freiheit der Gleichen68 • • 6 Zit. nach Klaus Peter Krause, Hayek: Was sozial ist, weiß ich nicht, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. 2. 1979, S. 11. 67 Das Bundesverfassungsgericht hat keinen dieser Begriffe jemals abschließend definiert, sondern hat stets nur im Einzelfall festgestellt, welche konkrete Folgerung sich in diesem Einzelfall aus dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie oder der Sozialstaatlichkeit ergibt. es Vgl. Ralf Dahrendorf: Revolution der Gleichheit - Ende oder Beginn der Freiheit?, Bergedorier Gesprächskreis zu Fragen der freien industriellen Gesellschaft, Protokoll-Nr. 47, Harnburg 1974, S. 6 ff.

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Kaum jemand hat diesen kunstvollen Bau besser beschrieben als Günter Dürig in seiner Kommentierung von Art. 3 GG. Er weist nach, daß das Grundgesetz das Spannungsverhältnis von Gleichheit und Freiheit nicht nur aufhebt, sondern zugleich im konstruktiven Sinne ausnutzt. Dabei bedient er sich in anschaulicher Weise des Vergleichs mit einer architektonischen Konstruktion. Als "Fußboden" dient ein Standard egalitärer Rechtsgleichheit und Rechtsanwendungsgleichheit, "bei dem ein Widerstreit von Gleichheit (im Recht) und Freiheit (von Unrecht) gar nicht aufkommen darf, weil Kongruenz von ,FreiheitsGleichheit' bzw. ,Gleichheits-Freiheit' besteht" 89• Auf diesem Fußboden werden in vertikaler Richtung wie Stützpfeiler die Grundrechte gesetzt, die dem einzelnen seine Entfaltungsfreiheit garantieren. Darüber zieht sich dann die Decke der "sozialen Auffangrechte", die durch die Schlagworte "Sozialhilfe, Versorgung, Versicherung, Entschädigung" umrissen werden. Auf der horizontalen Basis egalitärer Chancengleichheit baut sich die nach oben strebende Entfaltungsfreiheit auf, die jene soziale Decke trägt, die zugleich die Spannungen der vertikalen Kräfte auffängt und verteilt. Besonders interessant ist die Schlußfolgerung, die Dürig aus dieser Betrachtung des verfassungsrechtlichen Gebäudes zieht: Auch die Gleichheit hat eine dienende Funktion. Auch sie dient der Freiheit. Sie wird dadurch nicht in ihrer Bedeutung herabgesetzt. Im Gegenteil: sie wird zur Basis, zur "Bedingung der freien Entfaltung menschlicher Anders- und Einzigartigkeit"70• Daraus wiederum folgt die klare Entscheidung des Grundgesetzes "gegen eine unterschiedslose Egalisierung jederzeit in jeder Beziehung, gegen Kollektivierung, Nivellierung, Schematisierung aller Personen und Lebensbereiche" 71 • Ob dieses imposante Gebäude, das die Schöpfer des Grundgesetzes errichtet haben, heute noch stabil ist, scheint Dürig zu bezweifeln. In seiner bildhaften Sprache faßt er die von ihm an zahlreichen Stellen seiner Kommentierung geäußerten Befürchtungen in folgendem Satz zusammen: "Wenn in unserem Bild aber die Decke auf den Fußboden fällt, gehen eben (mal wieder in unserer Verfassungsgeschichte) die Lichter aus." Man beachte, daß diese Formulierung nicht am Aschermittwoch in Passau oder Vilshofen gefunden worden ist, sondern in einem der angesehensten Kommentare zum Bonner Grundgesetz, und 89 Günter Dürig, in: Maunz I Dürig I Herzog: Grundgesetz, Randnr. 140 zu Art. 3 Abs. I. 70 Dürig, Randnr. 135. In Übereinstimmung damit hat das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung das Willkürverbot als den eigentlichen Inhalt des Gleichheitsprinzips des Art. 3 GG herausgestellt: es v erbietet, daß Gleiches willkürlich ungleich und Ungleiches willkürlich gleich behandelt wird. Vgl. BVerfGE 4, 155; 7, 315; 9, 337; 18, 124. 71 Dürig, Randnr. 135.

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daß sie am Ende einer sorgfältigen Analyse steht, in der die Entwicklung von der Gleichheit der Freien zum "Grundrecht auf Neid" sorgfältig beschrieben wird. Man wird also jedenfalls der deutschen Staatsrechtslehre nicht den Vorwurf machen können, sie habe es versäumt, rechtzeitig auf Gefahren hinzuweisen, die unserem Staat drohen. Sicher wird man zu keiner Zeit behaupten können, es sei alles gesagt, was zu sagen war. Die Diskussion wird und muß weitergehen. Aber darüber darf nicht vergessen werden, daß nicht nur geredet, sondern auch gehandelt werden muß.

DAS POLITISCHE SYSTEM DER DDR Von Georg Brunner

I. Zum Begriff des "politischen Systems" Jedermann, der sich mit Fragen des innerdeutschen Rechts- oder Systemvergleichs beschäftigt hat, weiß, welch lästiges Problem die Wahl der richtigen Terminologie darstellt. Es geht bei ihr nicht nur darum, daß viele Worte in Ost und West mit völlig unterschiedlichem Begriffsinhalt verwendet werden; es stellt sich auch die Aufgabe, die funktionalen Äquivalente in unterschiedlichen Systemen aufzufinden und mit unmißverständlichen, systemübergreifenden Bezeichnungen zu belegen. Herr Kollege Kimminich und ich sind gebeten worden, das gleiche Sachproblem für West- bzw. Mitteldeutschland darzustellen. Er wählte dafür den Ausdruck "freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat", während ich mich für die farblosere Bezeichnung "politisches System" entschieden habe. Der Grund für die Konzentration des Interesses auf den zudem in dreifacher Weise qualifizierten - "Staat" im westdeutschen Fall und das wertneutrale "politische System" beim mitteldeutschen Pendant dürfte nicht unbedingt in einer unterschiedlichen Vorliebe für die Jurisprudenz oder die Politologie zu erblicken sein. Es ist vielmehr die unterschiedliche Beschaffenheit des Gegenstandes, die eine abweichende Terminologie nahelegt. Das "politische System" ist im Vergleich zum "Staat" nicht nur der jüngere, sondern auch der weitere Begriff. Er umfaßt auch die außerstaatlichen Machtträger. In einem politischen Gemeinwesen, in dem der Staat die entscheidende Herrschaftsorganisation darstellt - so wie es in der Bundesrepublik jedenfalls sein soll -, mag man sich vorrangig mit dem Staat beschäftigen. Ganz ohne Gefahr ist die rein staatliche Betrachtungsweise freilich auch hier nicht, und dies haben die Staatsrechtslehrer schon längst erkannt. Denn auch in den westlichen Demokratien gibt es außerstaatliche Machtträger von großem Gewicht. Man denke nur an die politischen Parteien und die Interessenverbände. In der Bundesrepublik hat Art. 21 GG die dogmatische Möglichkeit eröffnet, die politischen Parteien als "Verfassungsorgane" zu qualifizieren und damit in die Nähe des Staates zu rücken. Bei den Interessenverbänden gibt es keinen vergleichbaren Weg, obwohl es eine unbe-

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streitbare politische Tatsache ist, daß der Machtzuwachs einiger Interessenverbände die innere Souveränität des Staates zu unterhöhlen beginnt. In der Bundesrepublik ist dieser Erosionsprozeß noch nicht so weit gediehen wie etwa in Großbritannien, wo es aus jüngster Zeit einige Beispiele dafür gibt, daß der Staat der Rechtsordnung gegen den Widerstand der Gewerkschaften keine Geltung zu verschaffen vermochte und offene Rechtsbrüche hinnehmen mußte, aber das Gespenst des "Gewerkschaftsstaates" spukt nicht nur in weißen Gewändern in englischen Schlössern, sondern geht auch bei Tageslicht und wohlgekleidet in bundesdeutschen Amtsstuben und Verfassungsräumen umher. Sollten sich diese Vorgänge außerhalb des durch die Staatsbrille vermittelten Blickfeldes abspielen, wäre ein Stück Wirklichkeitsverlust der Preis für die rein staatliche Betrachtungsweise. Ginge man nun an die DDR mit dieser Betrachtungsweise heran, so wäre nicht nur der Preis zu hoch, man würde vielmehr den Gegenstand überhaupt verfehlen. Denn die entscheidende Herrschaftsorganisation des politischen Gemeinwesens befindet sich hier außerhalb des Staates, und diese kann nur mit Hilfe des umfassenderen Konzepts des politischen Systems sachgerecht eingefangen werden. Dies wird noch im einzelnen ausführlich darzulegen sein. Vorerst soll ein Blick auf den Sprachgebrauch in der DDR selbst geworfen werden. Hier ist in neuerer Zeit ein interessanter Wandel festzustellen. Bis zu Beginn der 70er Jahre sprach man in der DDR, wie in allen übrigen kommunistischen Ländern, in konventioneller Weise vom "Staat", dem freilich eine "Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung" zugrunde lag. In jüngster Zeit ist aber der Ausdruck "politisches System" allgemein salonfähig geworden und hat sogar in das Vokabular der neuen sowjetischen Verfassung vom 7. Okt. 1977 Eingang gefunden (Art. 6 u. 9). In der DDR ist der Sprachgebrauch noch uneinheitlich: es tauchen auch die Ausdrücke "politisches Regime" und "politische Organisation" auf, wobei es unklar ist, ob sie synonym oder zur Bezeichnung unterschiedlicher Phänomene verwendet werden sollen. Immerhin enthält das von der "Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR" und dem "Institut für Staats- und Rechtstheorie an der Akademie der Wissenschaften der DDR" herausgegebene "Wörterbuch zum sozialistischen Staat" einen eigenen Artikel zum "politischen System der sozialistischen Gesellschaft", das folgendermaßen definiert wird: "Gesamtheit aller staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen, Institutionen und Bewegungen der von der Arbeiterklasse und ihrer marxistischleninistischen Partei geführten Werktätigen bei der Ausübung der politischen Macht und der Leitung der politischen, wirtschaftlichen und geistig-kulturellen Entwicklung in der sozialistischen Gesellschaft und beim Aufbau des Kommunismus1 . " 1 Wörterbuch zum sozialistischen Staat, Berlin/Ost 1974, S. 222.

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Aus den weiteren Ausführungen geht hervor, daß zum politischen System außer den Staatsorganen die kommunistische Partei, die gesellschaftlichen Organisationen und die Nationale Front zählen sollen und das politische System mit den identischen Konzepten der "Diktatur des Proletariats" und der "sozialistischen Demokratie" zusammenfallen soll. In einem kürzlich erschienenen Aufsatz zweier Mitarbeiter der "Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR" wird dem "politischen System" ein über das Institutionelle noch hinausgreifender Inhalt beigemessen: "Wir verstehen unter dem politischen System des Sozialismus die organisch homogene, sich dynamisch entwickelnde Gesamtheit von politischen Institutionen und Organisationen, mit deren Hilfe die von der Arbeiterklasse und ihrer Partei geführten Werktätigen die politische Macht ausüben, sowie die dieses System prägenden politischen Beziehungen und Anschauungen, die über das Wirken der Glieder der politischen Organisation und der politisch-rechtlichen Institute, insbesondere die sozialistische Demokratie, das sozialistische Recht und die gesellschaftlichen Normen, realisiert werden2.'' An einzelnen Elementen dieses politischen Systems werden im folgenden genannt: 1) die führende Rolle der Partei; 2) die Einheit von Stabilität und Dynamik; 3) die organische Verknüpfung der staatlichen und gesellschaftlichen Elemente mit dem Schöpferturn des Volkes; 4) Verwirklichung der sozialistischen Gesetzlichkeit; 5) vielfältige Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Institutionen des politischen Systems3. Die neuerliche Anfreundung mit dem an sich nicht ganz unbedenklichen Ausdruck "politisches System", der ja schließlich aus der amerikanischen Politikwissenschaft stammt, ist ideologisch zu erklären. Die Lehre vom "Absterben des Staates" ist ein Grundpfeiler der marxistisch-leninistischen Staatstheorie. Die Unsinnigkeit dieser Lehre ist zwar evident, und auch der Sowjetstaat zeigt nach über sechs Jahrzehnten, an der Schwelle zum Kommunismus keinerlei Neigung zum Absterben. In Anbetracht des Offenbarungscharakters der klassischen Lehre einerseits und der Widerborstigkeit der politischen Wirklichkeit andererseits bleibt das ideologische Problem bestehen, das letztlich nur mit einem Taschenspielertrick gelöst werden kann. Chruschtschow hatte mit seiner im Parteiprogramm der KPdSU von 1961 niedergelegten Konzeption des "Volksstaates", der allmählich in Formen der "kommunistischen Selbstverwaltung" hinüberwachsen soll, ohne daß an der Wirklichkeit Wesentliches geändert werden müßte, bereits eine Lösungsmöglichkeit aufgezeigt'. Sie ist mit kleinen Variationen neuer2 C. Luge I R. Mand: Politisches System des Sozialismus, Recht, Demokratie, gesellschaftliche Organisationen, Staat und Recht 1979, S. 232 ff. (233). a Ebd. S. 233 f.

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dings wieder aufgegriffen worden. Der tiefere ideologische Sinn der Bevorzugung des "politischen Systems" liegt darin, den Staat in ein umfassenderes Konzept einzubetten und somit etwas in den Hintergrund zu rücken und zugleich das Führungsmonopol der Partei, die ja auch zum politischen System gehört, herauszustreichen. Dieser Trend hat sich in der neueren Verfassunggebung der osteuropäischen Staaten deutlich niedergeschlagen: die Verfassungen beschränken sich nicht auf die Regelung der staatlichen Organisation, sondern wollen ein Grundgesetz der gesamten gesellschaftlich-politischen Ordnung, eben des politischen Systems sein5 • Auf diese Weise kann die Entstaatlichung des politischen Systems durch einen einfachen Etikettenschwindel bewerkstelligt werden, indem von Staatsorganen plötzlich erklärt wird, daß sie sich nunmehr in gesellschaftliche Organisationen verwandelt hätten. So wird etwa in dem zitierten Aufsatz in einer an Chruschtschow erinnernden Manier behauptet, daß die Volksvertretungen, die das Gerüst des mittelduetschen Staatsaufbaus bilden, "nicht nur staatliche, sondern auch die umfassendsten gesellschaftlichen Organisationsformen der Macht darstellen" 8 • Ein angenehmer Nebeneffekt kommt hinzu: der Ausdruck "politischen System" ist auch im Westen modern und klingt irgendwie nach "Weltniveau", um das sich namentlich die DDRFührung nach Leibeskräften bemüht. Seitdem die DDR die Bühne der internationalen Beziehungen betreten hat, legt sie gesteigerten Wert darauf, als "fortschrittliches" Land anerkannt zu werden.· Da sie nicht bereit ist, ihren Fortschrittswillen durch Anpassung ihrer politischen Institutionen an die international hochgehaltenen Werte von Demokratie, Freiheit, Menschenrechte usw. unter Beweis zu stellen, konzentriert sie sich auf eine verbale Modernisierung ihrer Herrschaftsordnung, um Eindruck zu machen.

II. Die formale Struktur des politischen Systems Das politische System der DDR gliedert sich auf den ersten Blick in drei große Subsysteme: Partei, Staat und gesellschaftliche Organisationen. Zwischen diesen Subsystemen bestehen ein bestimmtes Zuordnungsverhältnis und eine gewisse Funktionsteilung. Nach der offiziellen Systemideologie wie auch in der gegenwärtigen politischen Praxis 4 Vgl. etwa B. Meissner: Das Parteiprogramm der KPdSU 1903 bis 1961, Köln 1962, S. 98 ff.; D. Pfaff: Die Entwicklung der sowjetischen Rechtslehre, Köln 1968, S. 198 ff. 5 Vgl. G. Brunner: Die Funktionen der Verfassung in den sozialistischen Staaten im Spiegel der neueren Verfassunggebung, in: F.-Ch. Schroeder (Hrsg.) : Verfassungs- und Verwaltungsreformen in den sozialistischen Staaten, Berlin 1978, S. 11 ff. (20 ff.). 8 C. Luge IR. Mand (Anm. 2), S. 237.

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ist die Partei dem Staat und den gesellschaftlichen Organisationen übergeordnet, während die beiden letztgenannten Subsysteme in einem Verhältnis der Gleichordnung zueinander stehen. In funktionaler Hinsicht soll die Partei die politischen Grundentscheidungen treffen, die von Staat und gesellschaftlichen Organisationen durchzuführen sind, während die Kontrolle über die Entscheidungskonformität des Durchführungsprozesses wiederum bei der Partei liegt7. Dieses allgemeine Schema bedarf allerdings der näheren Differenzierung. Die theoretisch unbegrenzte Entscheidungsvollkommenheit der Partei unterliegt naturgemäß praktischen Schranken der Machbarkeit. Man kann generell nur sagen, daß alle wichtigen Fragen von der Parteiführung entschieden werden, wobei über das Kriterium der Wichtigkeit die Parteiführung selbst befindet. Einen gewissen Hinweis auf den Kreis wichtiger Angelegenheiten bietet Art. 6 der neuen Sowjetverfassung, der das Führungsmonopol der KPdSU relativ ausführlich behandelt und dessen Aussagen unbedenklich auch auf die SED übertragen werden können. Hiernach gehören zum Vorbehaltsbereich der Partei die allgemeine innen- und außenpolitische Richtlinienkompetenz, die langfristige Planungshoheit auf allen Gebieten und das Monopol der Ideologieproduktion. Daß im Falle der SED-Führung die Entscheidungsfreiheit durch die höhere Entscheidungsmacht der sowjetischen Parteiführung begrenzt ist, versteht sich von selbst. Dem Staat obliegt zunächst die Umsetzung der von der Partei getroffenen Grundentscheidungen in die erforderlichen Rechtsformen im Wege der Rechtsetzung. Im staatlichen Subsystem vollziehen sich des weiteren die Rechtspflege und der größte Teil der öffentlichen Verwaltung, namentlich die Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und Ordnungsverwaltung. Die Hauptaufgaben der gesellschaftlichen Organisationen liegen auf dem Gebiet der politischen Sozialisation, wo sie Träger der Massenagitation und vieler Presseorgane sind. Sie sind auch an der Kulturverwaltung beteiligt. Spezielle Durchführungsfunktionen erfüllen die Gewerkschaften, die Träger der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten sind und bestimmte Aufgaben im Bereiche des Arbeitsrechts wahrnehmen. Eine Sonderstellung nehmen die Organe der Herrschaftssicherung ein. Formal gesehen sind sie Bestandteile des staatlichen Subsystems. Die Nationale Volksarmee untersteht dem Ministerium für Nationale Verteidigung, der Staatssicherheitsdienst wird vom Ministerium für Staatssicherheit geleitet, dem als bewaffneter Verband ein Wachregiment zur Verfügung steht, und an der Spitze der Deutschen Volkspolizei, zu der auch militärähnliche Truppen gehören, steht der Minister des Innern. Tatsächlich sind aber alle diese Organe der Herrschafts7 Zur näheren Erläuterung dieser Funktionenlehre vgl. G. Brunner: Kontrolle in Deutschland, Köln 1972, S. 63 ff.

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sicherung aus der Leitungsstruktur des Staatsapparates weitgehend herausgelöst; sie werden über die ZK-Abteilung für Sicherheitsfragen unmittelbar von der Parteiführung angeleitet. Wegen ihres großen Machtpotentials, von dem allerdings bislang nur der Staatssicherheitsdienst und dieser auch nur in den 50er Jahren einen eigenständigen Gebrauch zu politischen Zwecken machen zu wollen schien (Zaisser- und Wollweber-Affäre), und ihres institutionellen Sonderstatus können sie als weitere Subsysteme des politischen Systems angesehen werden.

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Qualifikation des politischen Systems: totalitäre Diktatur?

Lange Zeit war es üblich gewesen, die politischen Systeme der kommunistisch regierten Länder mit der Kategorie des Totalitarismus zu erfassen. Seit Anfang der 60er Jahre ist das Totalitarismus-Konzept in der westlichen Politikwissenschaft einer zunehmenden Kritik unterzogen worden, und zeitweise hatte es den Anschein, als ob der "Totalitarismus" - jedenfalls der Name, wenn auch nicht die Sache - tot wäre. Hinsichtlich der DDR war es vor allem Peter Christian Ludz, der im Glauben an die Kontinuität der sich Mitte der 60er Jahre bemerkbar machenden, letztlich aber als vorübergehend erweisenden Liberalisierungstendenzen den Abschied vom Totalitarismus-Konzept forderte und den Systemwandel zum "konsultativen Autoritarismus" konstatieren zu können meinte8 • In jüngster Zeit scheint aber der totgesagte Totalitarismus wieder zu erwachen, und es mehren sich die Stimmen derer, die in ihm ein nach wie vor nützliches Instrument der Analyse kommunistischer Herrschaft erblicken9 • Den Kritikern des Totalitarismus-Konzepts ist jedenfalls zuzugeben, daß es der Politikwissenschaft bislang nicht gelungen ist, einen allgemeinen Konsens über Inhalt und Kriterien des Totalitarismusmodells herbeizuführen, und dieses demzufolge nicht präzise genug ist. Allerdings ist zu berücksichtigen, daß der mangelnde Konsens und die inhaltliche Unbestimmtheit kein Spezifikum des Totalitarismusbegriffs sind, sondern als eine allgemeine Zustandsbeschreibung der gegenwärtigen Politikwissenschaft gelten können. Da noch niemand auf die Idee gekommen ist, aus diesem Grunde die Abschaffung der Politikwissenschaft zu verlangen, müssen gegen einen Verzicht auf den Totalitarismusbegriff jedenfalls so lange Bedenken angemeldet werden, bis es gelungen ist, ein besseres, konsensfähiges und zweckdienliches Kons P. Ch. Ludz: Parteielite im Wandel, Köln 1967, S. 35 ff. Wegweisend ist in dieser Hinsicht der Aufsatz von P. Graf Kielmannsegg: Krise der Totalitarismustheorie?, Zeitschrift für Politik 1974, S. 311 ff. Zum neuesten Diskussionsstand vgl. W. Schlangen: Die Totalitarismus-Theorie, Stuttgart 1976; M. Funke (Hrsg.): Totalitarismus, Düsseldorf 1978. 9

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zept zu entwickeln. Dieser Zeitpunkt ist noch nicht in Sicht, und deshalb scheint es vernünftiger zu sein, die Energien auf die Präzisierung eines vorhandenen und gewiß nicht unbrauchbaren Konzepts zu verwenden, um mit seiner Hilfe die Wirklichkeit analysieren und eventuelle Wandlungen genau registrieren zu können. Will man im Rahmen einer Vergleichenden Regierungslehre den Typus einer totalitären Diktatur systematisch entwickeln, so hat dies in einsichtiger Weise mit Blick auf die Fragestellungen zu geschehen, die für politische Systeme generell als wichtig erachtet werden. Begreift man das politische System als eine Herrschaftsorganisation, in der das politische Gemeinwesen seine Angelegenheiten dadurch gestaltet, daß Entscheidungen getroffen und durchgeführt werden, so können drei Fragen als generell wichtig angesehen werden10 : 1. wer ist Herrschaftsträger (Entscheidungsträger)?, 2. wie groß ist die Reichweite der Herrschaft (der Entscheidungen)? und 3. mit welchen Mitteln wird die Herrschaft ausgeübt (werden die Entscheidungen durchgeführt)? Anders ausgedrückt: die drei wesentlichen Gesichtspunkte sind die Herrschaftsstruktur, der Herrschaftsumfang und die Herrschaftsausübung. Da es sich bei diesen Fragen nicht um einfache Entscheidungsfragen handelt, die mit Ja oder Nein beantwortet werden können, müssen vielfache Abstufungen und Differenzierungen vorgenommen werden. Die Herausarbeitung generalisierender Antworten, die in ihrer Kombination zu Typenbildungen geeignet sind, ist Aufgabe der Typenlehre. Sie in Angriff zu nehmen, ist für unsere Zwecke an dieser Stelle - glücklicherweise - nicht erforderlich. Denn die totalitäre Diktatur befindet sich offensichtlich an dem einen Ende der Skala möglicher Antworten und Antwortkombinationen. Ein politisches System ist dann eine totalitäre Diktatur, wenn die Entscheidungsmacht in einem Herrschaftszentrum konzentriert ist (monistische Herrschaftsstruktur), die Herrschaft sich auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erstreckt (totaler Herrschaftsumfang) und die Mittel zur Durchführung von Grundentscheidungen der Art und Intensität nach unbegrenzt sind (totale Herrschaftsausübung). Im folgenden soll nun geprüft werden, ob diese Merkmale einer totalitären Diktatur auf das gegenwärtige politische System der DDR zutreffen.

IV. Monistische Herrschaftsstruktur Gibt es im politischen System ·der DDR ein Herrschaftszentrum, in dem alle wesentliche Entscheidungsmacht konzentriert ist? 10 So auch B. R. Barber: Conceptual Foundations of Totalitarianism, in: C. J. Friedrich IM. Curtis I B. R. Barber: Totalitarianism in Perspective, New York 1969, S. 3 ff. (20); P. Graf Kielmannsegg (Anm. 9), S. 324.

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Die zuvor entworfene Skizze der formalen Struktur des politischen Systems zeigt uns, daß in der DDR möglicherweise - über Einzelheiten kann man immer streiten- sechs politische Subsysteme unterschieden werden können (Partei, Staat, gesellschaftliche Organisationen, Nationale Volksarmee, Staatssicherheitsdienst, Volkspolizei), von denen der Partei die Vorrangstellung zukommt. Hieraus den Schluß ziehen zu wollen, die SED sei das Herrschaftszentrum der DDR, wäre allerdings sicher voreilig. Denn die SED an sich kann mit ihren über 2 Millionen Mitgliedern gewiß kein Herrschaftszentrum sein, in dem irgendwelche Entscheidungen getroffen werden könnten. Andererseits kann aus der prinzipiell untergeordneten Stellung der übrigen Subsysteme nicht ohne weiteres deren politische Bedeutungslosigkeit gefolgert werden. Um an das Herrschaftszentrum heranzukommen, muß eine genauere institutionelle Differenzierung vorgenommen werden. Als Organisationseinheiten der SED, die als Elemente eines Herrschaftszentrums in Frage kommen, sind nur die Organe der Parteiführung in Betracht zu ziehen. Als "höchste Parteiorgane" bezeichnet das Parteistatut den Parteitag, das Zentralkomitee, das Politbüro, das Sekretariat, die Zentrale Revisionskommission und die Zentrale Parteikommission. Die beiden letztgenannten Organe haben spezielle Aufgaben, zu denen die Fällung politischer Grundentscheidungen nicht gehört. Als Beschlußgremien mit gewichtigen Entscheidungskompetenzen sind nur Parteitag, Zentralkomitee und Politbüro konzipiert. Zwischen ihnen besteht ein Delegationszusammenhang dergestalt, daß das jeweils höherrangige und mitgliedsstärkere Organ ein kleineres Organ bestellt, das in der Zeit zwischen den Tagungen seines Kreationsorgans dessen Kompetenzen mit nur geringfügigen Einschränkungen wahrnimmt. Der formale Delegationszusammenhang erweist sich in der Praxis als eine Umkehrung der Rangordnung und führt zu einer Konzentration der Beschlußmacht beim kleinsten Gremium, dem Politbüro. Diese Machtverlagerung wird nicht zuletzt durch die relative Arbeitsunfähigkeit des formal höherrangigen Organs bewirkt, die sich aus der Seltenheit seiner Tagungen und der großen Zahl seiner Mitglieder ergibt. Parteitage werden seit 1971 nur alle fünf Jahre abgehalten, und an einem Parteitag nehmen über 2000 Delegierte teil. Das Zentralkomitee tritt im langjährigen Jahresdurchschnitt zu vier Sitzungen zusammen, wobei die Sitzungsdauer 1-3 Tage beträgt. Folglich ist das Zentralkomitee nur etwa an acht Tagen im Jahr entscheidungsfähig. Da ihm gegenwärtig rund 200 Personen angehören - auf dem IX. Parteitag im Jahre 1976 sind 145 Mitglider und 57 Kandidaten gewählt worden-, ist es viel zu groß, als daß sich in ihm ein echter Entscheidungsprozeß vollziehen könnte. Demgegenüber ist das Politbüro, dem zur Zeit 19 Mitglieder und 8 Kandidaten angehören, ein kleines

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und arbeitsfähiges Gremium, das in der Regel wöchentlich einmal zu Sitzungen zusammentritt. Das Politbüro ist in der Tat das mit Abstand mächtigste Organ der SED wie auch der ganzen DDR, wo alle politisch wichtigen Entscheidungen fallen. Neben ihm kommt auch dem ZKSekretariat mit dem Generalsekretär an der Spitze eine Schlüsselstellung im politischen Entscheidungsprozeß zu. Zwar ist das Sekretariat nur als ein Exekutivorgan des Politbüros konzipiert, doch befindet es sich in einer strategisch günstigen Lage, die ihm eine beträchtliche Machtbasis verschafft. Abgesehen davon, daß es nach der internen Geschäftsverteilung viele wichtige Entscheidungen selbst treffen kann, ist das Sekretariat für die Vorbereitung und Durchführung der Beschlüsse des Politbüros verantwortlich. Es verfügt also einerseits über den unmittelbaren "Zugang zum Machthaber" (C. Schmitt) und beherrscht andererseits den Parteiapparat. Wesentlich schwieriger gestaltet sich die exakte Benennung der Staatsorgane, die tatsächlich einen maßgeblichen Anteil an politischen Grundentscheidungen für sich in Anspruch nehmen können. Die formale Rechtsverfassung kennt sechs Verfassungsorgane: Volkskammer, Staatsrat, Ministerrat, Nationaler Verteidigungsrat, Oberstes Gericht und Generalstaatsanwalt. Die beiden letztgenannten Organe kommen wegen ihrer spezifischen Aufgabenstellung für unsere Zwecke nicht in Betracht. Es steht auch außer Zweifel, daß die Volkskammer, die nach dem Prinzip der Gewaltenkonzentration "oberstes staatliches Machtorgan" (Art. 48 Abs. 1 Verf.) sein soll, in Wirklichkeit keinerlei politische Macht besitzt. Die sachgerechte Einschätzung der restlichen drei Verfassungsorgane bereitet wesentlich größere Schwierigkeiten. Von Haus aus verfügt der Ministerrat als Regierung und Spitze der Verwaltung über die größte Machtbasis, da ihm der ganze Staatsapparat unterstellt ist. Indes ist er in den 60er Jahren vom Staatsrat in den Schatten gestellt worden. Der Staatsrat wurde im September 1960 als ein persönliches Machtinstrument des damaligen Parteichefs, W. Ulbricht, geschaffen, da es diesem unter den obwaltenden politischen Umständen als inopportun erschien, die Nachfolge des verstorbenen Staatspräsidenten W. Pieck anzutreten oder 0. Grotewohl aus dem Amt des Regierungschefs zu verdrängen. Der Vorzug der Staatsratslösung bestand neben der zusätzlichen Absicherung der Machtposition des Parteichefs im staatlichen Bereich in der Möglichkeit, den Staat nach innen und außen zu repräsentieren, als Staatsmann und Landesvater aufzutreten, ohne dabei mit der Führung der Staatsgeschäfte über Gebühr belastet zu sein. Es ist seinerzeit im westlichen Schrifttum vielfach verkannt worden, daß der Staatsrat als Gremium niemals ein eigenes politisches Gewicht besaß; ihm fehlte die unmittelbare Verbindung zur Verwaltungsbürokratie, und er setzte sich seit seiner Gründung ganz überwie4 Politische Systeme

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gend aus politisch belanglosen Personen zusammen. Seine Vorrangstellung gegenüber dem Ministerrat beruhte ausschließlich auf der in der Herrschaft über den Parteiapparat wurzelnden persönlichen Macht des Parteichefs. Mit der schwindenden persönlichen Macht Ulbrichts seit Ende 1970 trat der Staatsrat denn auch zunehmend in den Hintergrund, und nach der Absetzung Ulbrichts als Parteichef am 3. Mai 1971 sank er zur völligen Bedeutungslosigkeit herab. In der Folgezeit durfte Ulbricht aus Gründen der optischen Kontinuitätswahrung das Amt des Staatsratsvorsitzenden bis zu seinem Tode am 1. August 1973 behalten, aber sein enger Vertrauter 0. Gotsche wurde von seinem Amt als Sekretär des Staatsrats sofort entbunden, um dem Vorsitzenden die Verbindung zu dem im Laufe der Zeit kräftig ausgebauten Apparat des Staatsrats abzuschneiden. Die mit dem Niedergang des Staatsrats einhergehende Aufwertung des Ministerrats ist durch das neue Ministerratsgesetz vom 11. 10. 1972 (GBL I, S. 253) und der Verfassungsrevision vom Oktober 1974 positiv-rechtlich nachvollzogen worden. Seither hat sich insofern eine weitere Veränderung ergeben, als im Oktober 1976 Parteichef E. Honnecker den Vorsitz im Staatsrat übernommen hat. Obwohl damit die politischen Voraussetzungen einer Staatsratsverfassung erneut gegeben sind, ist der Staatsrat auch weiterhin kaum maßgeblich in Erscheinung getreten. Es hat den Anschein, als ob Honecker sein Staatsamt in erster Linie für außenpolitische Zwecke benutzen wollte. Als echter Machtträger kommt heute nur der Vorsitzende, nicht aber der Staatsrat als Kollegium in Betracht. Anders verhält es sich mit dem Ministerrat, der in seiner Verfügungsgewalt über den Staatsapparat eine eigene Machtbasis findet. Allerdings ist er mit gegenwärtig 44 Mitgliedern viel zu groß, als daß er in seiner Gesamtheit als Machtträger angesehen werden könnte. Da das Plenum frühzeitig über die Größenordnung hinausgewachsen war, die die Arbeitsfähigkeit noch gewährleistet, bildete sich schon im Sommer 1952 ein Präsidium heraus. Dieses kleine Gremium, das aus dem Vorsitzenden, seinen Stellvertretern und den wichtigsten Fachministern besteht und gegenwärtig 16 Personen umfaßt11, stellt das eigentliche Kabinett dar, in dem die meisten Entscheidungen fallen. Diese Entscheidungen können namentlich auf ökonomischem Gebiet die Wichtigkeit von politischen Grundentscheidungen erreichen, weshalb es sachgerecht zu sein scheint, das Präsidium des Ministerrats zum Kreise der institutionellen Machtträger zu rechnen. Was schließlich den Nationalen Verteidigungs11 Diese sind der Vorsitzende, 2 Erste Stellvertreter, 9 Stellvertreter, die größtenteils eigene Fachressorts leiten (Staatliche Plankommission, Wissenschaft und Technik, Materialwirtschaft, Allgemeiner Maschinen-, Landmaschinen- und Fahrzeugbau, Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Postund Fernmeldewesen, Justiz, Staatliches Vertragsgericht), und 4 Fachminister (Finanzen, Außenhandel, Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Amt für Preise).

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rat angeht, so fällt eine Einschätzung seines politischen Gewichts deshalb schwer, weil kaum etwas über seine Tätigkeit bekannt ist; es wird sogar seine personelle Zusammensetzung geheimgehalten. Immerhin ist er nach der Rechtslage für Fragen der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik zuständig, und er verfügt über nicht unwichtige Rechtsetzungs-, Verwaltungs- und Notstandskompetenzen, die durch das neue Verteidigungsgesetz vom 13. 10. 1978 (GBl. I, S. 377) noch erweitert worden sind. Als ein Indiz für seine jedenfalls nicht unwichtige Stellung im politischen System ist auch die Tatsache zu werten, daß E. Honecker kurz nach seiner Bestellung zum Parteichef das Amt des Vorsitzenden von seinem Vorgänger, W. Ulbricht, übernommen hat. Bei einer Würdigung aller Umstände dürfte es sachgerecht sein, den Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrats als echten Machtträger anzusprechen. Die gesellschaftlichen Organisationen erfüllen fast ausschließlich Durchführungsfunktionen, und auch ihre Spitzenorgane kommen kaum je in die Lage, an politischen Grundentscheidungen beteiligt zu werden. Allenfalls dem Chef der wichtigsten Massenorganisation, dem Vorsitzenden des Bundesvorstandes des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, kann eine derartige Machtposition zugebilligt werden. Von den drei Institutionen der Herrschaftssicherung kann nach den vorliegenden Erkenntnissen das Amt des Ministers für Staatssicherheit ohne Bedenken zu den Machtträgern gerechnet werden. Es dürfte des weiteren angemessen sein, dem Minister für Nationale Verteidigung einen gewissen Anteil an militärpolitischen Grundentscheidungen zuzubilligen. Demgegenüber lassen sich kaum Anhaltspunkte dafür finden, daß der Minister des Innern und Chef der Deutschen Volkspolizei an sicherheitspolitischen Grundentscheidungen maßgeblich beteiligt wird. Im Ergebnis dieser institutionellen Kurzanalyse läßt sich zusammenfassend feststellen, daß als Entscheidungsträger im politischen System der DDR folgende Gremien und Einzelämter in Frage kommen: - Politbüro der SED, - 'ZK-Sekretariat der SED mit Generalsekretär, - Präsidium des Ministerrats, - Vorsitzender des Staatsrats, - Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrats, - Vorsitzender des FDGB, - Minister für Staatssicherheit, - Minister für Nationale Verteidigung. Bedeutet nun dies, daß die Herrschaftsstruktur der DDR pluralistisch ist, weil mehrere Machtträger identifiziert werden können? Die Frage

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ist zumindest aus zwei Gründen zu verneinen. Erstens handelt es sich nicht um gleichgeordnete Machtträger, deren Kompetenzen im Sinne der Gewaltenteilung voneinander abgegrenzt wären. Die Machtträger sind einander hierarchisch zugeordnet, indem das Politbüro die Kompetenzkompetenz besitzt und die politischen Grundentscheidungen nach freiem Ermessen entweder selber trifft oder einem der übrigen Machtträger überläßt. Zweitens werden die institutionellen Grenzen zwischen den Machtträgern mittels einer Personalunion im Politbüro weitgehend aufgehoben. Die genannten acht Machtträger umfassen nach dem gegenwärtigen Stand 59 Amtspositionen, die aber von nur 38 Personen besetzt sind, von denen wiederum 27 dem Politbüro angehören. Im einzelnen stellt sich die personelle Ämterverflechtung folgendermaßen dar: - Die personelle Integration des ZK-Sekretariats in das Politbüro ist der Tradition entsprechend total. Der Generalsekretär und die 10 ZK-Sekretäre gehören ohne Ausnahme als Mitglied (8) oder Kandidat (3) dem Politbüro an. - Von den 16 Mitgliedern des Präsidiums des Ministerrats haben 5 - also rund ein Drittel- einen Sitz im Politbüro. Vollmitglieder sind der Vorsitzende W. Stoph und seine beiden Ersten Stellvertreter, W. Krolikowski und A. Neumann. Zwei Stellvertreter, G. Schürer (Vorsitzender der Staatlichen Plankommission) und G. Kleiber (Minister für Allgemeinen Maschinen-, Landmaschinen- und Fahrzeugbau), sind Kandidaten des Politbüros. - Parteichef E. Honecker ist zugleich Vorsitzender des Staatsrats und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrats. - Der Vorsitzende des FDGB hat Anwartschaft auf einen Sitz im Politbüro. Der langjährige Gewerkschaftschef H. Warnke (1948 - 1975) war 1953 bis 1958 Kandidat und seit 1958 bis zu seinem Tode Mitglied des Politbüros. Sein Nachfolger, H. Tisch, war zum Zeitpunkt der Amtsübernahme bereits Kandidat des Politbüros und ist kurz darauf zum Vollmitglied befördert worden. - Der langjährige Minister für Staatssicherheit, E. Mielke (seit 1957), ist 1971 als Kandidat und 1976 als Vollmitglied in das Politbüro aufgenommen worden. Mit dieser Aufwertung des Staatssicherheitsdienstes ist die DDR dem sowjetischen Beispiel gefolgt. - Ebenfalls auf das sowjetische Vorbild ist es zurückzuführen, daß Verteidigungsminister H. Hoffmann (seit 1960) 1973 unter Überspringen der Kandidatenstufe sofort als Vollmitglied Eingang in das Politbüro gefunden hat. Vor diesem Hintergrund verwischen sich die institutionellen Grenzen. Hinter den Institutionen stehen Personen, und eine kleine oligarchische Personengruppe, die die Spitzenpositionen des politischen Systems unter sich aufteilt und sich im Wege der Kooptation ergänzt, bildet das Herrschaftszentrum der DDR. Die Herrschaftsstruktur der DDR ist folglich eine monistische.

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V. Totalität des Herrschaftsumfanges und der Herrschaftsausübung Die Fragen ·nach dem Herrschaftsumfang und nach der Herrschaftsausübung hängen eng miteinander zusammen, da es bei ihnen letztlich darum geht, ob die Herrschaft irgendwelchen Schranken unterliegt. Aus diesem Grunde sollen sie hier gemeinsam behandelt werden, und zwar unter drei Gesichtspunkten. Der erste Gesichtspunkt betrifft die Rolle der Ideologie, die in den klassischen Totalitarismus-Konzepten eine zentrale Stelle einnimmt12 oder sogar als das "Primärphänomen" auftaucht13• Offizielle Systemideologie der DDR ist der Marxismus-Leninismus sowjetischer Prägung. Das politische System ist auf einen bestimmten materiellen Inhalt festgelegt; der Staat der DDR ist - um mit Herbert Krüger zu sprechen ein "Staat der Identifikation" und ist demzufolge kein freiheitlicher "Moderner Staat" 14• Diese Ideologie ist inhaltlich so beschaffen, daß sie nicht nur keine Anhaltspunkte für eine Beschränkung der politischen Herrschaft bietet, sondern darauf angelegt ist, die Totalität der Herrschaft, und zwar der Parteiherrschaft zu rechtfertigen. Sie begreift sich als eine umfassende wissenschaftliche Gesellschaftstheorie, die absolute Wahrheiten verkörpert. Sie tritt mit einem Ausschließlichkeitsanspruch auf, mit dem abweichende, konkurrierende Meinungen unvereinbar sind. Eine öffentliche Meinung, die sich auf einem pluralistischen Meinungsmarkt frei bilden könnte und den politischen Prozeß kontrollieren und beeinflussen würde, ist mit ihr unvereinbar. Da sich die Sowjetideologie als eine umfassende Gesellschaftstheorie versteht, sind ihrem Geltungsanspruch prinzipiell alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens unterworfen. Sie gestattet keine Trennung zwischen öffentlichen und privaten Angelegenheiten und bewirkt somit eine durchgehende Politisierung aller Lebensbereiche. Auf diese Weise wird der Herrschaftsumfang unbegrenzt. Gegenüber den von der Partei mediatisierten "gesellschaftlichen Interessen" kann es keinen autonomen Interessenbereich von Gruppen und Individuen geben. Konsequenterweise wird der Pluralismus als eine Theorie von "Sonderinteressen" heftig bekämpft; das Einzelinteresse hat sich den "gesellschaftlichen Interessen" bedingungslos unterzuordnen. Im neuesten Lehrbuch der "Marxistisch-leninistischen Staats- und Rechtstheorie" wird das daraus folgende Verhältnis zwischen Staat und Individuum so beschrieben: 12 So wird sie von C. J. Friedrich I Z. K. Brzezinski: Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957, S. 19, an der Spitze des Merkmalskatalogs genannt. 1a So M. Drath: Einleitung "Totalitarismus in der Volksdemokratie", in: E. Richert, Macht ohne Mandat, 2. Aufl., Köln 1963, S. XI ff. u H. Krüger: Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., Stuttgart 1966, S. 178 ff.

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"Wie im Recht allgemein, so drückt sich auch in der Rechtsstellung der Wille der herrschenden Klasse aus. Daraus folgt, daß in den Beziehungen zwischen sozialistischem Staat und Bürger der Staatswille das Primat hat, der sich auf der Grundlage einer wachsenden Obereinstimmung der Interessen in den wesentlichen Bereichen der Gesellschaft herausbildet. . . . Die Rechtsstellung des Bürgers im Sozialismus ist somit nicht als gesetzlich geregelter Raum für den einzelnen in einem individualistischen, staatsfreien Sinne zu begreifents." Es ist eine zwangsläufige Folge dieser Ausgangsposition, daß für das klassisch-rechtsstaatliche Mittel zur Begrenzung staatlicher Macht von vornherein kein Raum bleibt: es gibt keine Menschenrechte, und die vom Staat gewährten Bürgerrechte haben nur insofern Bestand, als sie vom jeweiligen politischen Willen des Herrschaftszentrums gedeckt sind. Da Herr Kollege Zieger über die Stellung des Individuums in der DDR referieren wird und ich vor zwei Jahren an dieser Stelle das Thema der Grundrechte behandelt habe16, darf ich auf weitere Ausführungen zu diesem Problem verzichten. Zweitens ist danach zu fragen, inwiefern das Recht in der DDR grundsätzlich geeignet ist, Umfang und Ausübung der Herrschaft zu begrenzen. Es ist bekanntlich ein Wesensmerkmal des Rechtsstaates, daß das Recht oberster Regulator des gesellschaftlichen Lebens ist und politische Herrschaft sich nur in den Grenzen entfalten kann, die von der Rechtsordnung vorgegeben sind. Auch wenn es die DDR-Führung zeitweise erwogen hat, ihren Staat aus propagandistischen Gründen zum "Rechtsstaat" zu erklären17, steht es nach ihrem Selbstverständnis außer Frage, daß die DDR dieses Wesensmerkmal nicht erfüllt. Denn ihrem Rechtsverständnis ist der Primat der Politik gegenüber dem Recht immanent. Die ideologische Begründung für diese Aussage liefern die Thesen von der führenden Rolle der Partei und dem Instrumentalcharakter des Staates und des Rechts. Die Partei nimmt das uneingeschränkte Erkenntnis- und Führungsmonopol für sich in Anspruch und betrachtet Staat und Recht als Hauptinstrumente zur Verwirklichung der von ihr als richtig erkannten politischen Ziele. Die Folge davon ist, daß der Geltungsbereich des Rechts in zweifacher Hinsicht eingeschränkt ist: 1. die Partei ist von rechtlichen Bindungen völlig frei, 2. der Staat unterliegt rechtlichen Bindungen nur insofern, als dies politisch zweckmäßig ist. Nun ist auf der anderen Seite nicht zu verkennen, daß die politischen Machthaber namentlich dann, wenn sie ihre Herrschaft konsolidiert haben, auch ein praktisches Bedürfnis nach Ordnung und Si15

Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, Berlin/Ost 1975,

s. 255.

18 G. Brunner: Die östliche Menschenrechtskonzeption, in: Die KSZE und die Menschenrechte, Berlin 1977, S. 95 ff. 17 Vgl. K. Sieveking: Die Entwicklung des sozialistischen Rechtsstaatsbegriffs in der DDR, Baden-Baden 1975.

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cherheit haben, das zuvörderst vom Recht zu befriedigen ist. Dieses Bedürfnis besteht neben dem Bedürfnis nach uneingeschränkter politischer Handlungsfreiheit. Das Rechtsprinzip, das die beiden entgegengesetzten Bedürfnisse zu harmonisieren berufen ist, ist die "sozialistische Gesetzlichkeit", die für das Handeln aller Staatsorgane, gesellschaftlichen Organisationen und Bürger (nicht aber der Partei) maßgebend sein soll. Die beiden Elemente der sozialistischen Gesetzlichkeit werden meistens als "strikte Einhaltung der Gesetze und anderen Rechtsnormen" und als "Parteilichkeit" oder "Forderung nach Übereinstimmung mit den objektiven Erfordernissen der gesellschaftlichen Entwicklung" bezeichnet. Das erste Element bringt nichts anderes als die allgemeine Bindungswirkung des Rechts zum Ausdruck. Das zweite Element beinhaltet die Forderung, die Rechtsnormen so zu formulieren und anzuwenden, daß sie der Verwirklichung der Ziele dienen, die von der Partei jeweils für maßgeblich erklärt werden. Daß zwischen den beiden Elementen ein offensichtlicher Widerspruch besteht, der im Konfliktfalle nur zugunsten des einen oder des anderen Elements gelöst werden kann, wird im Schrifttum der DDR freilich geleugnet. In der Praxis sind die beiden Elemente den Schwankungen der politischen Generallinie entsprechend unterschiedlich akzentuiert worden. Während auf dem Höhepunkt der "Liberalisierung", Mitte der 60er Jahre, der Aspekt der Rechtssicherheit stärker betont wurde, hat im Zuge der Verhärtung des ideologischen und innenpolitischen Kurses, die im Anschluß an den Einmarsch in die Tschechoslowakei im August 1968 eingesetzt und seit dem VIII. Parteitag der SED vom Juni 1971 zugenommen hat, wiederum die Parteilichkeit an Gewicht gewonnen: .,Weil die sozialistische Gesetzlichkeit in ihrem Wesen nur von den objektiven sozialen Gesetzmäßigkeiten her bestimmt werden kann, ist sie stets von den in den Parteibeschlüssen enthaltenen gesellschaftlichen Zielsetzungen her inhaltlich zu begreifen und zu entwickeln.... Parteilichkeit und Gesetzlichkeit stehen nicht in einem alternativen oder einander ergänzenden Verhältnis zueinander. Die sozialistische Gesetzlichkeit ist Ausdruck der Parteilichkeit18." Für die praktische Verwirklichung dieser Forderung hat sich im Laufe der Zeit eine Reihe von Techniken eingebürgert, deren wichtigste nur stichwortartig genannt werden sollentu: -

bindende Wirkung der Parteibeschlüsse für alle Staatsorgane und Staatsbediensteten; ausgiebiger Gebrauch von ausfüllungsbedürftigen Rahmenregelungen und unbestimmten Rechtsbegriffen in der Gesetzgebung; 18

Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie, Berlin/Ost 1975,

s. 396.

tt Ausführlicher bei G. Brunner: Einführung in das Recht der DDR, 2. Aufl., München 1979, S. 3 ff.

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- häufige Verwendung von Aufgabennormen, die die logische Struktur einer Zweck-Mittel-Relation und nicht eines Rechtssatzes aufweisen; - selektive Rechtsanwendung nach der Methode der "Schwerpunktbildung", wobei die vorrangig anzuwendenden Rechtsnormen in zentralen Anweisungen angegeben werden; - politische Zweckmäßigkeit als allgemeine Richtschnur der Rechtsauslegung; - notfalls auch offene Rechtsbrüche. Das Konzept der sozialistischen Gesetzlichkeit beeinträchtigt im Endeffekt die Normativität des Rechts in einem rechtsstaatlich unvertretbaren Maße. Diese generelle Aussage bedarf allerdings der Differenzierung für den Einzelfall. Wie hoch die Geltungskraft einer konkreten Rechtsnorm einzuschätzen ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Das Alter, der Abstraktionsgrad und die Ranghöhe der betreffenden Norm gehören in gleicher Weise zu ihnen wie die politische Bedeutung der geregelten Materie und der jeweilige rechtspolitische Kurs der Parteiführung. Jedenfalls ist die Rechtsordnung nicht darauf angelegt, Umfang und Ausübung der Herrschaft zu begrenzen. Schließlich soll auf die Frage des Rechtsschutzes eingegangen werden. Denn die beschränkte und schwer bestimmbare Narrnativität des Rechts kann dem Einzelnen nur dann zugute kommen und sich somit auf die zulässigen Mittel der Herrschaftsausübung auswirken, wenn der Bürger überhaupt die Möglichkeit hat, sich gegen rechtswidrige Maßnahmen der Staatsgewalt zur Wehr zu setzen. In diesem Punkte ist festzustellen, daß der Rechtsschutz des Einzelnen in der DDR - im Widerspruch zu Art. 2 Abs. 3 a) des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19. 12. 1966, der die Errichtung eines wirksamen Beschwerdesystems gegen Menschenrechtsverletzungen zwingend verlangt - so mangelhaft ausgestaltet ist, daß man geneigt ist, von einer systematischen Rechtsschutzverweigerung zu sprechen. Im Grunde stehen dem DDR-Bürger nur zwei Rechtsbehelfe zur Verfügung, die beide wenig Erfolg versprechen. Mit Hilfe des allgemeinen Eingabenrechts kann er Beschwerden aller Art vorbringen und so auch Verletzungen seiner Rechte durch die Staatsorgane rügen. Bei diesen Eingaben handelt es sich nicht um Rechtsmittel, sondern um ein formalisiertes Petitionsrecht, das zwar einen Anspruch auf eine- schriftlich oder mündlich - begründete Antwort vermittelt, den Inhalt der Entscheidung aber völlig dem Ermessen der Behörde überläßt. Auch wenn die Behörde zu der Überzeugung kommen sollte, daß eine Rechtsverletzung vorliegt, muß sie der Eingabe nicht stattgeben. Daneben gibt es in gesetzlich besonders vorgesehenen Fällen förmliche Beschwerden, die gegen bestimmte Verwaltungsmaßnahmen innerhalb gewisser Fristen erhoben werden können. Obwohl das Enumerationsprinzip gilt, sind die

Das politische System der DDR

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gesetzlich vorgesehenen Fälle recht zahlreich, so daß ein verwaltungsinterner Rechtsschutz meistens gegeben ist. Freilich liegt die große Schwäche dieses Rechtsschutzes darin, daß eine Verwaltungsbehörde über die Beschwerde entscheidet, aus deren Organisationsbereich die angefochtene Maßnahme stammt. Einen gerichtlichen Verwaltungsrechtsschutz gibt es - im Gegensatz zu allen übrigen kommunistisch regierten Ländern- nicht. Zwar sah Art. 138 der alten DDR-Verfassung von 1949 eine Verwaltungsgerichtsbarkeit noch ausdrücklich vor, aber die bestehenden Verwaltungsgerichte sind schon im Zusammenhang mit der Verwaltungsreform von 1952 durch eine interne Anordnung des Innenministers aufgelöst worden. An einen Ausbau des gerichtlichen Verwaltungsrechtsschutzes wird in der DDR auch nicht gedacht. Im Gegenteil: es sind neuerdings sogar noch die bescheidenen Ansätze eines außergerichtlichen Verwaltungsrechtsschutzes beseitigt worden, die nach Verabschiedung der Verfassung von 1968 eingeführt wurden. Art. 105 dieser Verfassung ordnete in seiner ursprünglichen Fassung die Errichtung von Beschwerdeausschüssen bei den örtlichen Volksvertretungen an, was durch den Eingabenerlaß vom 20. 11.1969 (GBl. I, S. 239) dann auch geschah. Die Beschwerdeausschüsse konnten gegen Beschwerdeentscheidungen der Leiter örtlicher Staatsorgane angerufen werden. Eine Sachentscheidungskompetenz besaßen sie allerdings nicht. Für den Fall, daß sie eine Beschwerde als begründet erachteten, konnten sie entweder beim zuständigen Rat eine Entscheidung beantragen und hierzu Empfehlungen aussprechen oder den Vollzug der angefochteten Maßnahme aussetzen und vom Vorsitzenden des Rates die unverzügliche Aufhebung der Maßnahme verlangen. Die praktische Bedeutung der Beschwerdeausschüsse war von Anfang an gering, und wohl 1973/74 sind sie völlig eingeschlafen. Anläßlich der Verfassungsrevision vom Oktober 1974 ist der einschlägige Art. 105 ersatzlos gestrichen worden, und das bald darauf erlassene neue Eingabengesetz vom 19. 6. 1975 (GBL I, S. 461) kennt keine Beschwerdeausschüsse mehr.

• Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß in der DDR alle politische Entscheidungsmacht bei einer kleinen, oligarchischen Personengruppe konzentriert ist, die Herrschaft sich auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erstreckt und die anwendbaren Herrschaftsmittel keinen wirksamen Schranken unterliegen. Dies bedeutet aber nichts anderes, als daß das politische System der DDR- trotz aller Wandlungen, die es in seiner 30jährigen Geschichte zum Besseren und zum Schlechteren durchgemacht hat- nach wie vor eine totalitäre Diktatur darstellt.

DIE STELLUNG DES INDIVIDUUMS IN DER FREIHEITLICHEN DEMOKRATISCHEN GRUNDORDNUNG DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND Von Klaus Stern "Die richtigen Grenzen zwischen dem Individuum und der Gesamtheit zu erkennen, ist das höchste Problem, das denkende Betrachtung der menschlichen Gemeinschaft zu lösen hat", mit diesen Worten schloß Georg Jellinek seine um die Jahrhundertwende erstmals vorgelegte Abhandlung über "Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" 1 und gab damit erneut ein Signal für die Diskussion der Abgrenzung zwischen individueller Freiheitssphäre und staatlichen Befugnissen im Verfassungsstaat der Neuzeit. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung fand zugleich eine Besinnung auf die Bedeutung der Menschen- und Grundrechte statt, die für das Verständnis dieser Rechte bei der Aktualisierung in der Gegenwart nicht außer Betracht bleiben darf. Wenn es mir im Rahmen dieser Tagung des Göttinger Arbeitskreises zufällt, über die Stellung des Individuums in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland zu referieren, so ist die Behandlung dieses Themas - namentlich in der Gegenüberstellung zu den Referaten, die sich mit dem anderen Teil Deutschlands beschäftigen - nicht ohne eine kurze historische Aufbereitung möglich, die zu verdeutlichen hat, wie es zu jener individualbezogenen Interpretation der Menschen- und Bürgerrechte gekommen ist, die für den freien Teil unseres Vaterlandes signifikant geworden ist.

L 1. Das Mittelalter vermochte bekanntlich eine Rechts- und Freiheitssphäre nicht des Individuums, sondern allenfalls einer Gruppe, eines Verbands, eines Standes zu respektieren. Auch die gern als Urdokument der Idee individueller Grundrechte herangezogene Magna Charta 1 1. Aufl. 1895; 4. Aufl. 1927, abgedruckt bei R. Schnur (Hrsg.): Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, 1964, S. 1 (72). Anstelle des Ausdrucks Individuum verwandte Jellinek das damals Gebräuchlichere "Ich". Die Philosophie des Individualismus stand erst in den Anfängen. Vgl. jetzt aber M. Landmann: Das Ende des Individuums- Anthropologische Skizzen, 1971, s. 115 ff.

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Libertatum von 1215 ist weniger Verbürgung von Rechten des Individuums gegen den König, sondern Verzicht bestimmter königlicher Machtbefugnisse vor allem gegenüber den Baronen. Eine einigermaßen deutliche Wendung in Richtung individueller Rechte nahmen erst die englischen Verfassungsdokumente des 17. Jahrhunderts, besonders die Bill of Rights von 1689, vor. In ihr vollzog sich ein vorsichtiger Umschwung von objektiven Beschränkungen staatlicher, d. h. absoluter königlicher, Macht zur Gewährung subjektiver Rechte, deren Herleitung fre~lich zunächst noch im Dunkeln bleibt und als "Erklärung" zur Sicherung und Wahrung aller Rechte und Freiheiten eher vertragsartigen Charakter besaß. In Anknüpfung an alte naturrechtliche auf dem Kontinent gewachsene Überlegungen haben dann Locke und Blackstone Rechte des Individuums, das zunächst allerdings nur der englische Bürger war, als ihm von Natur aus angeboren konstruiert, die sich gegen den Staat richteten. Danach war es für die amerikanischen Verfassungsväter nur noch ein kleiner Schritt, zuerst in der Virginia Bill of Rights und in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 sowie alsdann 1787 in der Verfassung der USA festzuschreiben, daß das Individuumkraft seiner Natur Rechtssubjekt ist und bestimmte unveräußerliche und unantastbare Rechte hat2 • "Mögen die Verfassungen zu Grunde gehen, diese Rechte werden dauern bis ans Ende der Welt", schrieb James Otis, der Theoretiker und Verkünder der amerikanischen Revolution, bereits 17643 • Die amerikanischen Formulierungen der Menschenrechte fanden in Europa Eingang in die von der französischen verfassunggebenden Nationalversammlung proklamierte Declaration des droits de l'homme et du citoyen vom 23. 8. 1789 und von da als Grundrechte in die Verfassungen des übrigen Konti~ nents, wenngleich besonders in Deutschland auf durchaus nicht einfach rezeptive Weise. 2. Warum trage ich diese historische Skizze vor? Sie lehrt vor allem dreierlei: Erstens: Die Festigung und Verankerung individueller Rechte im Verfassungsrang sind nicht Niederschlag eines sich in Selbstgenügsamkeit und Quietismus zurückziehenden Bürgertums, sondern Programm geistig, politisch und ökonomisch höchst aktiver, ja kampfbereiter Menschen gewesen. Zweitens: Die Idee individualistisch konzipierter Menschen- und Bürgerrechte ist in den Völkern beiderseits des Atlantiks gewachsen und in t Eine jüngste Darstellung der Geschichte und rechtsdogmatische Begründung bei F. Nietlispach: Grundlagen des Freiheitsrechts, Zürich 1977, S. 44 ff. und bei J. Schwartländer (Hrsg.): Menschenrechte - Aspekte ihrer Begründung und Verwirklichung, 1978. 3 The rights of the Colonies asserted and proved, zitiert nach G. Jellinek,

s. 62.

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ihren Verfassungen durchgesetzt worden. Sie bedeutete gegenüber der absolutistischen Staatsauffassung eine so radikale Veränderung, daß es insoweit angebracht ist, von einer europäisch-atlantischen (nicht von einer bloß französischen) Revolution zu sprechen. Da diese Idee weiterhin das Verfassungsrecht dieser Staaten beherrscht, ist es berechtigt, von einer westlichen Konzeption dieser Rechte zu sprechen. Drittens: Die in den Verfassungsurkunden des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts niedergelegten Grundrechte waren zwar vorstaatlich gedacht, aber stets in die Staatsverfassungen eingebettet, also in den Zusammenhang mit einer staatlichen Ordnung gebracht. Die Grundrechte wurden als Ausdruck eines spezifischen geschichtlichen Gestaltungswillens mit bestimmten Organisationsprinzipien ein wesentlicher Faktor der staatsbildenden Kraft des modernen Staates. Anders ausgedrückt: Grundrechte sind Existenzbedingungen des Verfassungsstaates geworden, aber sie sind zugleich ohne Staat nicht denkbar. Darauf ist noch einzugehen. 3. a) Individualität bedeutet eine nicht mehr teilbare Einheit, aber der Träger dieser Individualität, das Individuum, steht auch in übergreifenden Zusammenhängen, in einer Gemeinschaft. Dies ist seit Aristoteles bekannt. Nur die Formen der Gemeinschaft haben gewechselt. Heute ist es nur noch eine: die des Staates. Dieser ist die heute allein denkbare Grundlage der menschlichen Existenz, die "rechtlich or~:. -~ sierte Wirkungseinheit" (H. Heller) seiner Bürger zur Erhaltung von äußerer und innerer Sicherheit, Recht, Freiheit, Kultur und allgemeiner Wohlfahrt, um die wichtigsten der in Art. 2 Entw. der neuen SchwBV formulierten Staatsziele aufzugreifen'. Die rechtliche Organisation be' Art. 2 Entwurf für eine neue Bundesverfassung der Schweiz lautet: Art. 2: Ziele 1. "Der Staat sorgt für das friedliche Zusammenleben der Menschen in einer gerechten Ordnung. 2. Er schützt die Rechte und Freiheiten der Menschen und schafft die erforderlichen Grundlagen für ihre Verwirklichung. 3. Er fördert die Mitwirkung der Bürger an den politischen Entscheidungen. 4. Er strebt eine ausgeglichene Sozial-, Eigentums- und Wirtschaftsordnung an, die der Woh_lfahrt des Volkes und der Entfaltung und Sicherheit des Menschen dient. 5. Er schützt die Umwelt und schafft eine zweckmäßige Raumordnung. 6. Er schützt die allgemeine Gesundheit. 7. Er fördert Bildung und Wissenschaft, Kunst und Kultur. 8. Er wahrt die Unabhängigkeit des Landes und setzt sich ein für eine friedliche und gerechte internationale Ordnung. Ober die Zweckausrichtung des Staates neuerdings E. W. Böckenförde: Der Staat als sittlicher Staat, 1978, S. 18; ders.: Die verfassungstheoretischen Unterscheidungen von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, 1973, S. 15 ff.; K. Eichenberger: Die Sorge für den inneren Frieden als primäre Staatsaufgabe, SchwZentralblatt für Staats- und Gemeindeverwaltung 1977, 433 ff .. M. Kriele: Einführung in die Staatslehre, 1975, gliedert

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sorgt in allen Staaten vorzugsweise die Verfassung. Wie sehr Verfaßtsein des Staates und Menschen- und Bürgerrechte miteinander zusammenhängen, zeigt Art. 16 der französischen Declaration: Eine Gemeinschaft, in der die Verbürgung der Menschen- und Bürgerrechte nicht gesichert und die Gewaltenteilung nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung. Freilich nicht die Verfassung gewährt erst die Individualrechte, sondern diese Rechte sind die Basis der Verfassung. Grundrechtsverbürgung ist mithin ein Essentiale des verfassungsmäßig geordneten Staates. Kein Schutz der Grundrechte ohne die Verfassung, keine Verfassung ohne die den Bürgern verbürgten Grundrechte, so hat es Cromwell's Schwiegersohn Henry Ireton in den Diskussionen über das Agreement of the People formuliert5• Ist die Staatsmacht nicht auf eine Konstitution gegründet, so laufen die Grundrechte ins Leere; denn gegen rechtlich nicht geordnete Gewalt wirken sie allenfalls als moralischer Appell, aber nicht als rechtlich durchsetzbar. Umgekehrt bedürfen Grundrechte zur Verwirklichung ihres Inhalts eines Rechtssystems, das nur ein Staat zu gewährleisten vermag. Die Interdependenzen sind also beiderseitig6 • b) Ist nun eine der Aufgaben der Verfassung, Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums zu gewähren und zu sichern, so können diese niemals unbegrenzt sein; denn stets steht die Freiheit des einen in ~~ f',~,. ;R.echtsgemeinschaft in Konkurrenz mit der Freiheit des anderen, die gegeneinander abgegrenzt werden müssen. Natürliche Freiheit muß umgeformt werden in rechtliche Freiheit. Die naturrechtliehen Menschenrechte werden durch ihre verfassungsrechtliche Konkretisierung mithin zu juristisch aktualisierten Grundrechten, wie der deutsche Terminus seit 1848/49 lautet. Manche deutsche Verfassungen des Frühkonstitutionalismus waren allerdings zunächst überhaupt nur so weit gegangen, daß in ihnen nur solche bürgerlichen Freiheiten gewährt wurden, die nach Abzug der vom Staatszweck geforderten Schranken übrig blieben. Grundrechte beruhten also nur auf staatlicher Zuerkennung7 • Das ändert sich grundlegend erst in der Grundrechtsdebatte der Frankfurter Paulskirchenversammlung. Sie stand voll und ganz auf dem Boden der vorstehend geschilderten weiter westlich bereits Tradition gewordenen Rechtskultur8• seine Darstellung in die drei Teile Friede: Der Staat; Freiheit: Der Verfassungsstaat; Gerechtigkeit: Der demokratische Verfassungsstaat. 5 Vgl. J. Bohatec: Die Vorgeschichte der Menschen- und Bürgerrechte in der englischen Publizistik der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: R. Schnur, S. 267 (300). ' Vgl. M. Kriele: Zur Geschichte der Grund- und Menschenrechte, in: Festschrift H. U. Scupin, 1973, S. 187 (194 ff.). 7 Vgl. U. Scheuner: Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 636 ff. m. N. 8 Vgl. E. R. Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2, 1960,

s. 776.

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c) Der Frankfurter Grundrechtskatalog blieb bekanntlich unverwirklicht. Seine uneingeschränkte Effektuierung erfolgte erst 100 Jahre später, als das Grundgesetz in Art. 1 Abs. 2 normierte, daß das Deutsche Volk sich zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft bekennt und die Grundrechte in Art. 1 Abs. 3 als unmittelbar geltendes und verpflichtendes Recht für alle drei Staatsfunktionen statuierte. Weder der Reichskonstitutionalismus des Deutschen Reiches von 1871 noch die Verfassung der Weimarer Republik waren bei aller Anerkennung ihres bundesverfassungsrechtlichen bzw. reichsgesetzlichen und verfassungsprogrammatischen Individualrechtsschutzes bereit, Grundrechte grundsätzlich auch gegen die gesetzgebende Gewalt anzuerkennen9 • Demokratische Souveränität stand noch vor rechtsstaatlicher Souveränität. II. 1. a) Mit den an die Spitze des Verfassungstextes gestellten Grundrechten hat das Grundgesetz den wohl unter allen Verfassungen der Welt weitesten Katalog individueller Rechtsgarantien eingeführt. Für den Parlamentarischen Rat waren für diesen Schritt vier Beweggründe ausschlaggebend: Erstens: die nahezu totale Mißachtung der Menschen- und Bürgerrechte während der 12jährigen Herrschaft des Nationalsozialismus;

zweitens: die - stärker als vom Text gefordert - zur bloßen Programmatik abgeschliffene Grundrechtsentfaltung der WRV; drittens: der Blick auf die östliche Praxis zunehmender Reduzierung individueller Freiheitsentfaltung; viertens: das historisch verwurzelte, auch naturrechtlich fundierte Bekenntnis, daß Grundrechte in erster Linie solche Rechte sind, die vorstaatlicher Natur sind und nur vom Staat anerkannt und geschützt, aber nicht verliehen werden. b) Der Verfassunggeber begnügte sich indessen nicht mit der Normierung umfassender Grundrechte und der Festlegung ihrer erhöhten Geltungskraft (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG), sondern er stattete sie noch zusätzlich mit besonderen Vorkehrungen zu ihrem Schutz und zu ihrer 9 Vgl. für 1871 E. R. Huber: Grundrechte im Bismarckschen Reichssystem, in: Festschrift U. Scheuner, 1973, S. 1'63 ff., für 1919 R. Thomas, in: Nipperdey (Hrsg.): Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 1, 1929, S. 5, 19, 31 ff. Auch der Naumannsche Grundrechtskatalog hatte dies nicht vor (über seine Intentionen vgl. E. R. Huber: Festgabe Wieacker, S. 384 ff.). Über die Notwendigkeit der Schaffung von Grundrechten für die Europäischen Gemeinschaften vgl. zuletzt D. Nickel IR. Bieber: EuGRZ 1979, 21 ff. m. w. N.

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Durchsetzung aus. Wenn ein Grundrecht durch Gesetz eingeschränkt werden kann, darf es in keinem Fall in seinem Wesensgehalt angetastet werden (Art. 19 Abs. 2 GG). Soweit Grundrechte an den Prinzipien der Menschenwürde oder den Grundsätzen des Art. 20 GG Anteil haben, dürfen sie auch vom Verfassungsänderungsgesetzgeber nicht beseitigt werden (Art. 79 Abs. 3 GG). Auch im Falle des Notstands ist nur eine auf einzelne Grundrechte beschränkte zeitweilige Einschränkung zulässig (besonders Art. 115 c Abs. 2, 12a GG). Und schließlich ist den Grundrechten breiteste Durchsetzungskraft bei den Gerichten verliehen worden (Art. 19 Abs. 4, Art. 93, 100 GG), namentlich durch die jedermann eingeräumte Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). Auf Grund dieser Verfassungsrechtslage ist daher die Stellung des Individuums wie nie zuvor in Deutschland abgesichert. Damit waren die rechtlichen Bedingungen für eine nach dem verlorenen Krieg ungeahnte Freiheitsentfaltung in allen Lebensbereichen geschaffen. Wo immer Schranken bestanden oder sich auftaten, wurden sie kaum je hingenommen, sondern führten zu ihrer Überprüfung auf ihre Verfassungsmäßigkeit am Maßstab vorzugsweise der Grundrechte, maßgeblich unter Anrufung des Bundesverfassungsgerichts. Dieses wurde daher neben den obersten Bundesgerichten, bes. dem Bundesverwaltungsgericht10, zum Grundrechtsinterpreten kat exochen. Weit mehr als mit dem organisatorischen Teil der Verfassung hatte sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Judikatur unmittelbar oder mittelbar mit der Stellung des Individuums zu befassen, die es zwar nicht ausschließlich, aber doch ganz wesentlich in den Grundrechten geformt sah. 2. Versucht man seine Rechtsprechung in den Grundlinien zusammenzufassen, so lassen sich folgende Aussagen machen11 : Erstens: "Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Das ergibt sich aus der geistesgeschichtlichen Entwicklung der Grundrechtsidee wie aus den geschichtlichen Vorgängen, die zur Aufnahme von Grundrechten in die Verfassung der einzelnen Staaten geführt haben. Diesen Sinn haben auch die Grundrechte des Grundgesetzes, das mit der Voranstellung des Grundrechtsabschnitts den Vorto H. J. Becker, DÖV 1978, 573 ff. u Die Frage nach einer Grundrechtstheorie kann hier offen bleiben; ob sie überhaupt Gewinn verspricht, erscheint mir zweifelhaft; vgl. zuletzt K. Kröger: Grundrechtstheorie als Verfassungsproblem, 1978. Eine Analyse des BVerfG-Urteils zur Verfassungsmäßigkeit der erweiterten Mitbestimmung vom 1. 3. 1979 dürfte deutlich machen, daß sich das Gericht grundrechtstheoretisch außerordentlich restriktiv verhalten und stark verbalexegetisch argumentiert hat. Betont ist freilich der personale Bezug aller Grundrechte.

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rang des Menschen und seiner Würde gegenüber der Macht des Staates betonen wollte12." Zweitens: Das Bundesverfassungsgericht ist bei dieser klassischen historischen Bedeutung allerdings nicht stehengeblieben, sondern hat im Grundrechtsabsclmitt "auch eine objektive Wertordnung" 13, ein "Wert- oder Güter-, ein Kultursystem", wie es R. Smend ausgedrückt hat14, gesehen, das "seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet" 15. Diese verfassungsrechtliche Wertentscheidung hat für alle Bereiche des Rechts zu gelten; sie ist eine wichtige Legitimationsgrundlage der positiven Staats- und Rechtsordnung. Für die Stellung des Individuums ist daraus abgeleitet worden, daß das "Menschenbild des Grundgesetzes nicht das des selbstherrlichen Individuums, sondern das der in der Gemeinschaft stehenden und ihr vielfältig verpflichteten Persönlichkeit ist"18. Drittens: Sehr viel umstrittener ist eine weitere Dimension bundesverfassungsgerichtlicher Deutung der Grundrechte, die der subjektiven Rechte auf staatliche Leistungen: der Grundrechte als originärer Teilhaberechte. Das numerus-clausus-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat solchen Wandel der Grundrechte von der Schutz- zur Leistungsfunktion bekanntlich im Bereich des Ausbildungswesens bejaht: "Je stärker der moderne Staat sich der sozialen Sicherung und kulturellen Förderung der Bürger zuwendet, desto mehr tritt im Verhältnis zwischen Bürger und Staat neben das ursprüngliche Postulat grundrechtlieber Freiheitssicherung vor dem Staat die komplementäre Forderung nach grundrechtlicher Verbürgung der Teilhabe an staatlichen Leistungen17." Das Bundesverfassungsgericht hat später an dieser Konstruktion trotzmannigfacher Kritik festgehalten 18. Es ist an dieser Stelle nicht angebracht, die Frage zu erörtern, ob die Ableitung originärer Leistungsansprüche aus den Grundrechten konstruktiv verfehlt ist19 oder nicht - das Gericht hat sie durchaus vorsichtig gehandhabt -. Von grundlegender Bedeutung sind zwei ganz 12 BVerfGE 7, 198 (204 f.); ebenso BVerfGE 21, 362 (369); 39, 1 (41); zuletzt BVerfG EuGRZ 1979, 181 und EuGRZ 1979, 132 f. 13 BVerfGE 7, 198 (205); ebenso BVerfGE 21, 362 (371). 14 Vgl. R. Smend: Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 264 f.; zurückgehend teilweise auf F. Naumann, wie E. R. Huber, Festgabe Wieacker, S. 384 ff. gezeigt hat. 15 BVerfGE 7, 198 (205). 11 BVerfGE 12, 45 (51); 4, 7 (15 f.); 30, 1 (20); 41, 29 (50); zuletzt EuGRZ 1979, 137. 17 BVerfGE 33, 303 (330 f.). 1s BVerfGE 43, 291 (314 f.). 18 So etwa zuletzt Chr. Starck, DVBl. 1978, 943 f.; E. Friesenhahn, 50 DJT, Sitzungsberichte, 1974, S. 6 1 ff.

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andere Aspekte dieses gewandelten Grundrechtsverständnisses, die die Stellung des Individuums unmittelbar berühren: Das ist einmal der unmittelbar aus der Verfassung, also ohne Zwischenschaltung des Gesetzgebers, für den Bürger zu gewinnende Anspruch auf Leistungen durch den Staat- verfehlt spricht BVerfGE 43, 314 von der "Gesellschaft" -, ohne daß ein spezieller Verfassungsauftrag wie bei Art. 3 Abs. 2 oder Art. 6 Abs. 5 GG, oder auch nur eine Direktive der Verfassung vorliegt. Zum Zweiten ist es die Einsetzung der Gerichte zur Verwirklichung solcher staatlichen Pflichten, deren finanzielle Folgen der Haushaltsgesetzgeber jedenfalls nicht eingeplant hat. Wer den interpretativen Spielraum besonders der Verfassungsgerichte andernorts begrenzen will, muß sich im klaren darüber sein, daß er ihn auf diesem Felde wie nie zuvor erweitert. Das ist die folgenschwere Konsequenz der Anerkennung von originären Teilhaberechten auf Leistung. Viertens: Eng damit hängt die Frage der Möglichkeit der Verbürgung sozialer Grundrechte zusammen. Das Grundgesetz kennt sie im Gegensatz zu manchen Landesverfassungen und der WRV bekanntlich nicht. Wie das Schicksal dieser Rechte gezeigt hat, war es vernünftiger, ihren Gehalt in der Sozialstaatsklausel, d. h. in einer primär an den Gesetzgeber gerichteten Ermächtigung, in einem generellen Auftrag und in einer Zielbestimmung zur Schaffung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherung in einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung einzufangen. Wie könnte man ein Recht auf Arbeit, Bildung, Umweltschutz, Naturgenuß konkret realisieren? Letztlich geht auch der Entwurf der neuen Schweizer Bundesverfassung in Art. 26 trotz der Überschrift "Sozialrechte" diesen Weg, wenn er sagt: "Der Staat trifft Vorkehren ... " Fünftens: Anknüpfend an die Charakterisierung der Grundrechte als Wertordnung für die gesamte Rechtsordnung sah das Bundesverfassungsgericht auch einen Lösungsansatz für die Problematik der Geltung der Grundrechte in den Rechtsbeziehungen der Privatpersonen untereinander. Er ist bekannt unter dem Stichwort Drittwirkung oder neuerdings Horizontalwirkung der Grundrechte. Es war vor allem W. Leisner, der in seiner Studie "Grundrechte und Privatrecht" den Versuch unternommen hat, Entstehung, politische und geistesgeschichtliche Hintergründe der Grundrechte so zu deuten, daß sie nicht ausschließlich als Bestandteil der Entwicklung "the man versus the state" (R. Thoma) gesehen werden dürfen, sondern des freien Menschen schlechthin, gleichgültig wodurch dieser gefährdet wird20• Die ausschließliche Staatsgerichtetheit wird mithin zu einer Allseitigkeitswirkung der Grundrechte ausgedehnt. Ich vermag Leisner in diesem Ansatz nicht zu folgen. Gleichwohl steckt in seinen Überlegungen ein 20

Vgl. Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 7.

Die Stellung des Individuums in der Grundordnung

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gerade heute wieder bedeutsam gewordener richtiger Kern: Die Notwendigkeit des Schutzes des Individuums gegen die modernen pouvoirs intermediaires. Sie sind nunmehr andere als die, die der absolute Staat zu beseitigen hatte; aber manche sind nicht weniger mächtig. Ich brauche nur an die ausdrücklich in Art. 9 Abs. 3 GG auch drittgerichtete und mancherorts gefährdete negative Koalitionsfreiheit oder an das Thema Verbandsgerichtsbarkeit, z. B. im Sport, bzw. Betriebsjustiz zu erinnern, um zu signalisieren, welch neuartige, die Stellung des Individuums gefährdende Phänomene auftauchen können. Sechstens: Nur vorsichtig hat sich das Bundesverfassungsgericht einer institutionellen Sicht der Grundrechte neben der individuellen oder wertorientierten Deutung zugewandt. Grundrechte sollen danach zugleich "Ordnungen" für bestimmte Lebensbereiche enthalten. Zu denken ist an Presse, Rundfunk, Wissenschaft, Kunst, Tarifautonomie. Die dazu ergangenen Urteile des Bundesverfassungsgerichts äußern sich zurückhaltend21 • Es ist die grundsätzliche Frage angebracht, inwieweit eine institutionelle Sicht der Grundrechte überhaupt einen Sinn haben kann, zumal sich ihre Vertreter gerade über das Institutionelle höchst uneins sind22• Wenn das Bundesverfassungsgericht z. B. vom "Institut freier Presse" spricht, so kann das eher eine fa~on de parler für Pressefreiheit sein, muß aber nicht als Bekenntnis zu einer institutionellen Theorie der Grundrechte aufgefaßt werden. Sie generell zu akzeptieren, würde die Individualfreiheitskomponente der Grundrechte der breiten gesetzgeberischen Formierung öffnen. Übedegenswert kann also nur die Möglichkeit sein, in ihr eine ergänzende Komponente zu sehen. In diesem Sinne scheint es mir allerdings nicht ausgemacht zu sein, ob nicht die Komplementärfunktion, die allemal nur durch den Gesetzgeber begründet werden kann, der sich häufig als rein organisatorischer, freiheitsschützender drapiert, die individuelle Komponente erstickt. Die Hochschulgesetzgebung ist ein warnendes Beispiel. 3. Der von den Grundrechten geschützte individuelle Freiheits- und Rechtsbereich ist unter unterschiedlichen Gesichtspunkten systematisiert worden. Jede Systematik läuft freilich Gefahr, einem historischen Mißverständnis zum Opfer zu fallen, nämlich die Grundrechte jeweils nur als Reaktion auf eine irgendwann bedrohte Individualsphäre zu sehen und nicht als Ausdruck jenes die späte römische Jurisprudenz 21 Zur Presse vgl. Bd. 10, 118 (121); 20, 162 (175); 25, 256 (268); 36, 193 (204). Zum Rundfunk vgl. 12, 205 (260 f.); 13, 54 (80); 31, 314 (325 f.); 35, 202 (222 f) .. Zur Wissenschaft vgl. 15, 256 (264); 35, 79 (112 ff.). Zur Kunst vgl. 30, 173 (188 f.); 36, 321 (331 f .). Zur Tarifautonomie vgl. 19, 303 (314 ff.); 28, 295 (304 ff.); 29, 312 (317); 38, 386 (393); EuGRZ 1979, 141 ff. 22 Vgl. zuletzt H. Bethge: Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977, S. 332 ff. m. w. Nachw.; J. Schwabe: Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, s. 133 ff.

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charakterisierenden status hominis, d. h. seine dem Menschen als Persönlichkeit zukommende Rechtsstellung schlechthin, wie es später prägnant das Österreichische Gesetzbuch von 1811 formuliert hat: "Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte und ist daher als eine Person zu betrachten." In diesem Sinne können die Grundrechte des jeweiligen verfassungsrechtlichen Grundrechtskatalogs nur jeweils paradigmatische personale Ausprägungen sein, die nicht abschließend sind, weil die jeweiligen Bedrohungen im vorhinein niemals zur Gänze bekannt sein können. Darum verdient die Deutung, die das Bundesverfassungsgericht dem Art. 2 Abs. 1 GG als Ausdruck allgemeiner Handlungsfreiheit, als Auffanggrundrecht gegeben hat, volle Zustimmung23 • Damit konnte es über die von G. Jellinek begründete Statuslehre24, die den einzelnen einen negativen, aktiven oder positiven Status nach Maßgabe der Rechtsordnung zubilligte, hinausschreiten und einen generalklauselartigen Schutz vor verfassungsrechtlich nicht gedeckten Beeinträchtigungen der persönli