Politik und Ideologie im gegenwärtigen Indien [Reprint 2021 ed.] 9783112573761, 9783112573754


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Politik und Ideologie im gegenwärtigen Indien [Reprint 2021 ed.]
 9783112573761, 9783112573754

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Politik und Ideologie im gegenwärtigen Indien

AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN DER DDR SCHRIFTEN DES ZENTRALINSTITUTS FÜR GESCHICHTE B A N D 46

Politik und Ideologie im gegenwärtigen Indien Herausgegeben von

E. N. Komarov, A. D. Litman B. Schorr, D. Weidemann

Mit 1 Karte

A K A D E M I E - V E R L A G • B E R L I N 1976

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag, Berlin 1976 Lizenznummer: 202/100/108/76 Einbandgestaltung: Nina Striewski Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 4570 Bestellnummer: 752 5939 (2083/46) • LSV 0235 Printed in GDR EVP 38. -

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Erster Teil-. Soziale und politische

IX Probleme

E. N. Komarov Die soziale und politische Entwicklung des unabhängigen Indien . . . . 1. Die Erringung der Unabhängigkeit 2. Errungenschaften und Widersprüche — Die sozialökonomische Entwicklung bis zu Beginn der siebziger Jahre 3. Die politische Evolution bis gegen Mitte der sechziger Jahre . . . . 4. Veränderungen 5. Die Ergebnisse der 4. allgemeinen Wahlen von 1967 und die Bildung von Nicht-Kongreß-Regierungen in einer Reihe von Staaten 6. Die außerordentlichen Wahlen zu den Gesetzgebenden Versammlungen einiger Staaten im Jahre 1969 7. Die Spaltung der Kongreßpartei 8. Eine neue Situation 9. Die außerordentlichen Parlamentswahlen von 1971 und die Wahlen für die Gesetzgebenden Versammlungen der Staaten von 1972 — eine Niederlage der Rechtsparteien 10. Die ökonomische Politik zu Beginn der siebziger Jahre 11. Die Komplizierung der ökonomischen Lage 12. Eine neue Verschärfung des politischen Kampfes 13. Der Ausnahmezustand. Das Regierungsprogramm

3 3 6 16 18 23 28 30 32

38 48 50 54 66

D. Weidemann Die Haltung des Indischen Nationalkongresses zu internationalen Fragen — entscheidende historische Quelle und Vorgeschichte der Außenpolitik des unabhängigen Indien 1. Die wesentlichen historischen Quellen der Außenpolitik des unabhängigen Indien 2. Die Haltung des Indischen Nationalkongresses zu internationalen Fragen von 1885 bis 1917 3. Die außenpolitischen Leitvorstellungen des Nationalkongresses nach dem ersten Weltkrieg 4. Zur Prägung der außenpolitischen Konzeption J . Nehrus 5. Die außenpolitische Grundhaltung des Nationalkongresses von 1936 bis zum Ende des zweiten Weltkrieges

73 74 74 80 85 89

VI

Inhalt

6. Das außenpolitische Programm des INK am Vorabend der Unabhängigkeit (1945 bis 1947)

107

A. Hafner Zur sozialen Lage und zum Kampf der Arbeiterklasse im unabhängigen Indien 1. ökonomische und soziale Merkmale 2. Die Organisiertheit der Arbeiterklasse 3. Massenkämpfe

117 117 126 134

M. N. Egorova Einige Probleme der Gewerkschaftsbewegung in Indien 1. Zur Formierung und zur materiellen Lage der Arbeiterklasse seit der Unabhängigkeit 2. Staatliche Regulierungsmaßnahmen im Bereich der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit 3. Einige Probleme der Gewerkschaftsspaltung 4. Die Verschärfung des Klassenkampfes 5. Zur Einheit der Gewerkschaftsbewegung

139 139 143 146 150 152

P. V. Kucobin Der linke Extremismus in Indien 1. Zur Vorgeschichte der Spaltung der Kommunistischen Partei Indiens . 2. Das Entstehen der Kommunistischen Partei Indiens (Marxisten) und ihrer extremistischen Gruppierungen 3. Vereinigungsversuche und Spaltung der Extremistengruppen . . . . 4. Der Niedergang des linken Extremismus

157 159 165 172 178

A. I. CifSerov Probleme der nationalen Beziehungen im unabhängigen Indien 1. Die nationalen Bewegungen vor der Unabhänigkeit 2. Die nationalen Beziehungen in den fünfziger und sechziger Jahren . . . 3. Die demokratischen Kräfte im Kampf gegen nationalistische Tendenzen 4. Die Bedeutung der Erfahrungen der UdSSR

187 187 191 195 200

R.-D. Jung Zum Verlust der Macht und Privilegien feudaler Herrscher. Anmerkungen zum Klassenkampf in Indien 1. Der Kampf der indischen Bourgeoisie gegen die feudalen Autonomiebestrebungen 2. Die Schaffung eines republikanischen Staates 3. Die territoriale Neugliederung der Indischen Union und ihre antifeudale Wirkung 4. Zur Abschaffung der Privilegien ehemaliger Feudalherrscher

203 204 207 211 214

VII

Inhalt Zweiter Teil: Wirtschaflspolitische

Probleme

0 . V. Maljarov Sozialökonomische Politik in Indien 1. Die Rolle des Staates bei der Evolution der sozialökonomischen Struktur Indiens 2 . Die Ergebnisse des sozialökonomischen Kurses der J a h r e 1950 bis 1960 . 3. Die verschärften Auseinandersetzungen um die sozialökonomische Politik. Verschiedene sozialökonomische Konzeptionen 4. Wandlungen in der sozialökonomischen Politik (1960 bis 1970) . . . .

221 221 229 233 236

I. I. Egorov Probleme des staatlichen Sektors in der Politik der indischen Regierung . . 1. Die Herausbildung der Konzeption des staatlichen Sektors 2. Die Bewegungsweise der gemischten Wirtschaft 3. Veränderungen in den Wirtschaftspraktiken der Staatsbetriebe . . .

243 243 248 255

U. Padel Die Agrarstrategie der indischen Regierung. Die „grüne Revolution" als Versuch zur Lösung des Ernährungsproblems in Indien 1. Die Maßnahmen der indischen Regierung zur Intensivierung der Landwirtschaft und deren Auswirkungen auf die Nahrungsmittelproduktion 2. Technische und ökonomische Voraussetzungen für die Intensivierung der Landwirtschaft 3. Sozialökonomische Ergebnisse der „grünen Revolution" 4. Die Bedeutung der Maßnahmen der „grünen Revolution" für die Lösung des Ernährungsproblems in Indien Dritter Teil: Ideologische

261 261 267 271 277

Probleme

H. Krüger Zum Einfluß internationaler Faktoren auf die Herausbildung und Entwicklung der antiimperialistischen Haltung Jawaharlal Nehrus . . . . . I. Zur Genesis antiimperialistischen Denkens in der nationalen Befreiungsbewegung Indiens 2. Zur politisch-ideologischen Entwicklung Jawaharlal Nehrus bis zur Mitte der zwanziger Jahre 3. Jawaharlal Nehru und die Liga gegen den Imperialismus

287 287 297 308

B . Schorr Zur Entwicklung der gesellschaftspolitischen Vorstellungen S. C. Böses in den dreißiger Jahren 1. Die Ausrichtung der indischen Nationalbewegung auf Unabhängigkeit und gesellschaftlichen Fortschritt 2. S. C. Bose — Ein Exponent des linken Flügels 3. Die sozialen Ziele 4. Der Kampf für eine Offensive gegen die Kolonialherrschaft 5. Beginnende Isolierung vom Nationalkongreß 6. „Der Sprung ins Ungewisse"

335 335 341 347 357 361 364

Vili

Inhalt

A. D. Litman Einige Besonderheiten der Entwicklung der heutigen indischen Philosophie 1. Das Bemühen um eine neue „Philosophie des Lebens" 2. Mystizistische und spiritualistische Tendenzen 3. Rationalistische Tendenzen 4. Humanistische Tendenzen 5. Der antiimperialistische Trend des heutigen indischen Idealismus . . . 6. Die marxistische Philosophie im heutigen Indien

371 371 378 380 384 388 392

H. Rüstau Zur Ideologie der Ramakxishna Mission I. Die philosophische Grundkonzeption führender Vertreter der Ramakrishna Mission 2. Zum Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie und Religion 3. Soziologische Auffassungen der Ramakrishna Mission 4. Moral und Ethik 5. Hauptmerkmale des Menschenbildes 6. Ranganathananda über die Politik

399 402 408 412 420 424 426

Anhang Die politische Gliederung Indiens (Karte) Personenverzeichnis Verzeichnis der politischen Parteien und Organisationen Autorenverzeichnis

433 434 437 440

Vorwort

Als Indien im August des Jahres 1947 seine Unabhängigkeit errungen hatte, begann die schon von Karl Marx vorausgesagte Etappe der „Erneuerung dieses großen und interessanten Landes". 1 In dem Vierteljahrhundert der souveränen Entwicklung der Republik Indien hat das indische Volk bedeutende Erfolge auf dem Wege des ökonomischen, sozialen und kulturellen Fortschritts erzielt. Die mit dem Namen Jawaharlal Nehrus verknüpfte, auf die Prinzipien der friedlichen Koexistenz und der Zusammenarbeit gegründete, konstruktive Außenpolitik Indiens ist zu einem wichtigen Friedensfaktor in Asien und in der ganzen Welt geworden. Enge freundschaftliche Beziehungen, die auf den gemeinsamen Interessen des Kampfes gegen den Imperialismus, für die völlige Beseitigung des Kolonialsystems basieren, verbinden Indien mit den Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft. Der Generalsekretär des ZK der K P d S U L. I. Breshnew hob auf der Massenkundgebung in Delhi während seines Indienbesuchs im November des Jahres 1973 hervor, daß die freundschaftlichen Beziehungen der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Länder zu Indien „eine der überzeugendsten Erscheinungsformen des großen Bündnisses zwischen der Welt des Sozialismus und der Welt, die von der nationalen Befreiungsbewegung hervorgebracht wurde," 2 sind. Die Erfahrungen einer mehr als 25jährigen Entwicklung des unabhängigen Indien ermöglichen und erfordern eine allseitige Analyse des Prozesses der nationalen Wiedergeburt des großen indischen Volkes. Die außerordentliche Kompliziertheit und die Vielschichtigkeit dieser Aufgabe machen es notwendig, daß Wissenschaftler verschiedener Länder, insbesondere der Länder der sozialistischen Staatengemeinschaft, wo sich die Indienwissenschaft in den letzten Jahrzehnten wesentlich entwickelte, ihre Anstrengungen vereinigen. Der vorliegende Sammelband, ein erster Versuch dieser Art, ist das Resultat der gemeinsamen Initiative des Instituts für Orientforschung der Akademie der Wissenschaften der U d S S R , des Zentralinstituts für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin und der Sektion Asienwissenschaften der HumboldtUniversität Berlin. Die Beiträge spiegeln die Ergebnisse der Forschungen zu einer 1

2

K. Marx, Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien, in: MEW, Bd. 9, Berlin 1960, S. 225. L. I. Breshnew, Der Sozialismus gibt dem Streben der Völker nach Frieden vollen Ausdruck, in: Neues Deutschland v. 28. 11. 1973.

X

Vorwort

Reihe wichtiger Probleme der politischen, sozialökonomischen u n d ideologischen E n t w i c k l u n g Indiens in der neuen u n d neuesten Zeit wider. Natürlich können im R a h m e n eines solchen Werkes die einzelnen T h e m e n n i c h t erschöpfend b e h a n d e l t werden, da sie r e c h t kompliziert sind, u n d jedes f ü r sich Gegenstand spezieller Monographien sein k ö n n t e . Die Verfasser verfolgen das Ziel, eine allgemeine Charakteristik wichtiger Prozesse u n d Erscheinungen in den drei g e n a n n t e n Bereichen des gesellschaftlichen Lebens in Indien zu geben. Die Autoren hoffen, daß die von ihnen aufgeworfenen Fragen, das vorgelegte wissenschaftliche Material u n d die getroffenen Schlußfolgerungen zur weiteren Erforschung dieser Probleme beitragen, Diskussionen u n d einen schöpferischen Meinungsaustausch anregen u n d zur Vertiefung u n d Erweiterung der wissenschaftlichen Z u s a m m e n a r b e i t der Indienwissenschaftler der sozialistischen L ä n d e r sowohl u n t e r e i n a n d e r als auch m i t den progressiven Wissenschaftlern Indiens u n d anderer L ä n d e r f ü h r e n . Die Herausgeber

E. N. KOMAROV

Die soziale und politische Entwicklung des unabhängigen Indien

1. Die E r r i n g u n g der U n a b h ä n g i g k e i t Die nationale Unabhängigkeit Indiens im J a h r e 1947 war ein Ereignis von gewaltiger Bedeutung in der jahrhundertealten Geschichte dieses großen Landes. Sie ist das Ergebnis des selbstlosen Kampfes vieler Generationen indischer Patrioten, des Erwachens der Volksmassen und ihrer Einbeziehung in die nationale Befreiungsbewegung, des langen und hartnäckigen Ringens der fortschrittlichen nationalen Führer und Denker Indiens — wie Ram Mohan Roy, Dadabhai Naoroji, Bai Gangadhar Tilak, Mahatma Gandhi, Jawaharlal Nehru und viele andere. Sie ist Bestandteil des weltweiten revolutionären Prozesses, zu dessen entscheidendem F a k t o r der Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und in der Folge die Bildung des sozialistischen Weltsystems wurden. Die indische nationale Befreiungsbewegung erstreckte sich über mehr als ein J a h r hundert. Sie begann mit kleinen nationalen gesellschaftlich-politischen Organisationen, die in einzelnen Gebieten des Landes in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entstanden waren, führte zur Gründung des Indischen Nationalkongresses (INK), einer allindischen nationalen Organisation, im J a h r e 1885 und zu seiner Umwandlung in eine Massenorganisation in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts sowie zur Bildung von Massenorganisationen der Werktätigen. Der Kampf verlief über spontane und halbspontane Aufstände im 19. Jahrhundert, von denen der größte die Volkserhebuug von 1857 war, bis zu organisierten politischen Massenaktionen der Arbeiter, Bauern, Mittelschichten und gegen Ende des zweiten Weltkrieges auch der indischen Militärangehörigen der Kolonialarmee gegen die englische Herrschaft. Gerade der Massenkampf führte zur Unabhängigkeit. Große Bedeutung für den Verlauf und den Charakter der indischen nationalen Befreiungsbewegung hatte der Umstand, daß sich in Indien aufgrund einer Reihe historischer Ursachen die Bourgeoisie recht früh, schon im 19. Jahrhundert, als Klasse herauszubilden begann, d. h. früher als in vielen anderen kolonialen und abhängigen Ländern. Obwohl die indische Gesellschaft noch zu Beginn des 20. J a h r hunderts halbfeudal und in einigen Gebieten des gewaltigen Landes sogar hauptsächlich feudal geblieben war, konsolidierten sich die wachsenden bürgerlichen Elemente dieser Gesellschaft selbst unter den damaligen Bedingungen bereits ideologisch, organisatorisch und politisch als Klasse. Indessen waren das in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandene Industrieproletariat, die verschiedenen halbproletarischen sowie bedeutende kleinbürger-

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E. N. Komarov

liehe Schichten der Städte, ganz zu schweigen von der bäuerlichen Masse, in dieser Zeit in vielem eine noch vom Mittelalter geprägte Bevölkerung geblieben. Ihre Befreiung von der jahrhundertealten Erniedrigung und den mittelalterlichen Vorstellungen vollzog sich hauptsächlich seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts, obwohl die ersten Anzeichen dafür bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts auftraten. Unter diesen Umständen waren die verschiedenen nationalen gesellschaftlichpolitischen Organisationen und der Indische Nationalkongreß bis ins 20. Jahrhundert hinein und sogar bis Ende des ersten Weltkrieges in der Regel noch weit von den Volksmassen entfernt. Dessen ungeachtet, spielte die Tätigkeit dieser Organisationen keine geringe progressive Rolle. Sie trug zur Herausbildung des nationalen Selbstbewußtseins bei, untergrub die Herrschaft der mittelalterlichen Ideologie und führte zur Aufnahme von Ideen der nationalen Befreiung und der Demokratie und schuf somit die ideologischen sowie organisatorischen Voraussetzungen für die spätere Entwicklung des Massenkampfes um die nationale Befreiung. Gleichzeitig kamen durch den elitären Charakter dieser Organisationen und ihre viele Jahrzehnte andauernde Trennung von den Volksmassen bestimmte negative ideologische und politische Traditionen der liberalen Beschränktheit auf, die auch in der Folgezeit ihren Einfluß ausübten. Diese durch die Entwicklungsbedingungen der nationalen Bewegung überwiegend schon im 19. Jahrhundert entstandenen Traditionen nutzten den besitzenden Klassen, insbesondere der Oberschicht der sich formierenden Bourgeoisie. Sie trugen zur Erhaltung des politischen Einflusses und der vorherrschenden organisatorischen Positionen der nationalen Bourgeoisie bereits zu jener Zeit bei, als die nationale Bewegung Massencharakter annahm und der Nationalkongreß unter Führung von Mahatma Gandhi zur Organisation von antiimperialistischen Massenaktionen überging. Das beginnende nationale Erwachen der Volksmassen und ihre Einbeziehung in die organisierte nationale Befreiungsbewegung verliehen dieser wirkliche Kraft. Dabei kam es neben der Verstärkung des Kampfes für nationale Freiheit zu einem Aufschwung des Kampfes der werktätigen Massen gegen soziale Unterdrückung und Ausbeutung innerhalb der indischen Gesellschaft. Die Entwicklung der Massenbewegung für die nationale Befreiung vollzog sich unter dem Einfluß des Sieges der Großen Oktoberrevolution von 1917 und des Aufbaus des Sozialismus in der UdSSR. Zu Beginn der zwanziger Jahre entstand in Indien eine organisierte Arbeiterbewegung, in der Folge wurden Bauernorganisationen und andere Massenorganisationen der Werktätigen und der Jugend geschaffen. Im J a h r e 1925 wurde die Kommunistische Partei Indiens (KPI) gegründet, die ersten indischen Kommunisten hatten bereits 1922 auf der Tagung des Nationalkongresses ein Programm sozialer Umgestaltungen vorgeschlagen, welches insbesondere die Liquidierung des Großgrundbesitzes, die Nationalisierung der öffentlichen Versorgungsbetriebe („public utilities"), die Festlegung des Rechtes der Arbeiter auf Organisation, Minimallohn, den Achtstundentag und weitere Maßnahmen vorsah. Unter den Bedingungen der kolonialen Unterjochung bei Aufrechterhaltung der halbfeudalen Struktur der Gesellschaft sowie bei den gewaltigen Ausmaßen des

Soziale und politische Entwicklung

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Landes entfaltete sich das demokratische und erst recht das Klassenbewußtsein der Werktätigen langsam und ungleichmäßig. Es konnte nur einige Schichten des werktätigen Volkes erfassen, vor allem den entwickelteren Teil der zahlenmäßig noch relativ geringen Arbeiterklasse in den Städten und lediglich einen verhältnismäßig, kleinen Teil der Bauernschaft in einzelnen Gebieten. Die Organisationen der Werktätigen waren im Vergleich zu den Millionenmassen des Volkes in diesem riesigen Lande klein. Dessenungeachtet waren die Massen in Bewegung geraten. Die vom Nationalkongreß unter der Leitung von Mahatma Gandhi durchgeführten antiimperialistischen Massenkampagnen, die großen Streiks der Industriearbeiter und die antifeudalen Bauernaktionen, welche von Kommunisten und fortschrittlichen Vertretern des Kongresses organisiert wurden, die demokratische Bewegung und die Aufstände in den Fürstenstaaten, die Tätigkeit der illegalen national-revolutionären Organisationen in einigen Gebieten des Landes — das alles widerspiegelte das Anwachsen der nationalen Befreiungsbewegung, die sich ihrem Sieg näherte. Der Aufschwung des Massenkampfes für die nationale Befreiung brachte die E n t wicklung progressiver national-demokratischer Strömungen innerhalb des Nationalkongresses mit sich, obwohl die national-bürgerlichen Kreise die dominierenden organisatorischen Positionen beibehielten. Im Jahre 1929 erhob der Nationalkongreß die Forderung nach vollständiger Unabhängigkeit und nahm 1931 erstmals ein systematisch formuliertes Programm sozialer Umgestaltungen an. Dieses Programm, das antiimperialistisch und antifeudal war, hatte einen im großen und ganzen bürgerlichen Charakter. Es enthielt jedoch eine wichtige These, deren Verwirklichung über den Rahmen der Interessen der im Entstehen begriffenen Großbourgeoisie hinausgehen konnte, nämlich die These, daß sich die Schlüsselzweige der Industrie, die Bodenschätze und das Verkehrs- und Verbindungswesen im Besitz oder unter Kontrolle des Staates befinden sollen. Besonders während des Aufschwungs des Befreiungskampfes in der Mitte der vierziger Jahre, sowie unter der Einwirkung der Errungenschaften des Sozialismus in der U d S S R vertiefte sich der demokratische Charakter dieses Programms, obgleich es seinem Wesen nach bürgerlich blieb. Die Schwächung des Imperialismus im Ergebnis des zweiten Weltkrieges, bei der die Sowjetunion die entscheidende Rolle spielte, und die Entstehung des sozialistischen Weltsystems schufen günstige internationale Bedingungen für eine siegreiche Entwicklung der nationalen Befreiungsbewegung. Die Unabhängigkeit Indiens im Jahre 1947 war eine der ersten und bedeutendsten Erscheinungsformen des Zusammenbruchs des imperialistischen Kolonialsystems. Sie ist ein Ergebnis des Anwachsens des revolutionären Weltprozesses.

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2. Errungenschaften und Widersprüche — Die sozialökonomische Entwicklung bis zu Beginn der siebziger J a h r e Der Sturz der zweihundertjährigen englischen Kolonialherrschaft in Indien bereitete den Weg für die „Erneuerung dieses großen und interessanten Landes." 1 Gemäß der 1950 angenommenen Verfassung wurde im Lande die republikanische Ordnung errichtet — ein parlamentarisches System mit einer aus zwei Kammern bestehenden Volksvertretung, einer dem Parlament verantwortlichen Regierung und einem Präsidenten, der mit breiten Vollmachten ausgestattet ist, wobei die Exekutivgewalt jedoch faktisch uneingeschränkt durch die Regierung verwirklicht wird. Die Verfassung proklamiert die demokratischen Freiheiten, die Gleichheit der Bürger unabhängig vom Geschlecht, der nationalen, religiösen und Kastenzugehörigkeit. Bereits in den ersten Jahren der Unabhängigkeit wurden die sogenannten einheimischen Fürstenstaaten liquidiert, die ungefähr die Hälfte des gesamten Territoriums des Landes einnahmen und Hochburgen des Feudaldespotismus waren, der von den britischen Behörden gestützt worden war. Indien, ein gewaltiges multinationales Land, ist in der Hinsicht höchst eigenartig, daß keine der zahlreichen „Sprachgruppen" bzw. Nationalitäten die Mehrheit der Bevölkerung bildet. Hindi, die („offizielle") Staatssprache im gesamtindischen Maßstab, wird nur von ungefähr einem Viertel der Gesamtbevölkerung des Landes gesprochen. Die Hindi Sprechenden (bzw. Hindustani) sind vorwiegend auf einigen Staaten Nordindiens (den „Hindigürtel") konzentriert, wobei es unter der Bevölkerung selbst dieser Staaten erhebliche sprachliche und andere Unterschiede gibt. Die englische Sprache, die ebenfalls eine „offizielle" Sprache im gesamtindischen Maßstab ist, kennen in unterschiedlichem Grade lediglich rund drei Prozent der Bevölkerung. Außerdem gibt es dreizehn Sprachen, die jeweils von zwei bis mehr als 30 Millionen Menschen (in der Regel über 10 Millionen) gesprochen werden, und noch Dutzende anderer Sprachen geringerer Verbreitung. In der Kolonialperiode waren die Siedlungsgebiete vieler indischer Völker auf Fürstenstaaten und verschiedene Provinzen „Britisch-Indiens" aufgeteilt. Die Beseitigung der Fürstenstaaten und danach die Reorganisation der staatlich-territorialen Struktur (die „Reorganisation der Staaten", die hauptsächlich in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre durchgeführt wurde) ermöglichten es, die staatliche Gliederung in Übereinstimmung mit den Siedlungsräumen der größeren Völker des Landes zu bringen. Diese wichtige Umgestaltung trug zur Entwicklung der indischen Völker bei und festigte die staatliche Einheit des multinationalen Landes auf demokratischer Grundlage. Indien stellt eine föderative Union von Staaten dar, die über eine bestimmte Autonomie verfügen. Die Staaten (jetzt gibt es 22) haben ihr eigenes System legislativer und exekutiver Organe, die in den Grenzen der von der Verfassung festgelegten Vollmachten ihre Macht verwirklichen. Die Sprache der 1

K. Marx, Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien, in: MEW, Bd. 9, Berlin 1960, S. 225.

Soziale und politische Entwicklung

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Hauptbevölkerung eines Staates ist hier die „offizielle" Sprache. Gleichzeitig ist die Indische Union eine zentralisierte Föderation. Zur Kompetenz der Union gehören neben der Verteidigung und den auswärtigen Beziehungen viele wichtige Fragen der staatlichen Leitung, des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens. Die wesentlichsten Glieder des Staatsapparates sind die „allindischen Behörden", die von der Zentralregierung kontrolliert werden. Die Staaten hängen in finanzieller Hinsicht in nicht geringem Maße vom Zentrum ab. Wenn es von der Zentralregierung als notwendig erachtet wird, geht unter bestimmten Umständen die gesamte Macht auf dem Territorium eines Staates innerhalb eines festgelegten Zeitraumes an die Zentralregierung über, was als „Präsidialherrschaft" bezeichnet wird. Der Indische Nationalkongreß kam mit einem progressiven bürgerlich-demokratischen Programm an die Macht, das auf die Überwindung der ökonomischen Rückständigkeit und die Gewährleistung einer unabhängigen nationalen Entwicklung gerichtet war. Als Mittel zur Industrialisierung und zum Aufschwung der nationalen Wirtschaft wurden die Bildung eines die „Schlüsselpositionen" einnehmenden staatlichen Sektors in der Industrie, die Einführung des Planungsprinzips und die staatliche Regulierung der privaten Kapitalanlagen (durch die Ausgabe von Lizenzen für die Gründung neuer Betriebe und durch die Kreditund Steuerpolitik) angesehen. Der Aufbau des staatlichen Sektors wurde später von den Führern der Kongreßpartei nicht selten als Weg zum Sozialismus interpretiert. Obwohl der staatliche Sektor für die Industrialisierung und die Festigung der nationalen Unabhängigkeit objektiv notwendig war, bedeutete er an sich keineswegs einen Abbruch der weiteren Entwicklung des Kapitalismus und des damit verbundenen Wachstums der Großbourgeoisie. Entsprechend den bekannten Beschlüssen der Regierung, die hauptsächlich in den fünfziger Jahren gefaßt worden waren, entstand der staatliche Sektor nicht auf dem Wege der Nationalisierung der bestehenden privaten Großbetriebe, darunter der des Auslandskapitals, sondern auf dem Wege der Errichtung neuer Betriebe durch den Staat, fast ausschließlich in der Schwerindustrie. Die Entwicklung einiger ihrer Zweige wurde voll und ganz für den Staat reserviert, während in den anderen Zweigen seine Rolle ständig wachsen sollte. Die Leichtindustrie verblieb nahezu vollständig in privaten Händen. Gleichzeitig wurde der Aufbau neuer Privatbetriebe auch in einer Reihe von Zweigen der Schwerindustrie erlaubt (Werkzeugmaschinenbau, einige Arten der Metallurgie und der Förderung von Bodenschätzen, der chemischen Industrie). Das Programm der Kongreßpartei sah eine Agrarreform vor, einschließlich der Liquidierung des großen feudalen Großgrundbesitzes (der feudalen Rechte der Großgrundbesitzer), der Festlegung einer Höchstgrenze für den Besitz an Grund und Boden und der Verteilung des überschüssigen Bodens unter die landlosen Bauern. Es wurde die Entwicklung von Genossenschaften (darunter von Produktionsgenossenschaften) sowohl in der Landwirtschaft als auch in der kleinen Industrie- und Handwerksproduktion in Aussicht genommen, denen der Staat Unterstützung geben und die er vor dem Druck des Großkapitals schützen sollte. 2

Politik in Indien

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Einen Staat von säkularem Charakter, Demokratie und soziale Gleichheit verkündete die Kongreßpartei als ihr allgemeines Ziel. Späterhin indes wurde die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft in Indien zum Ziel der Kongreßpartei erklärt. Eine herausragende Rolle bei der unabhängigen nationalen Entwicklung Indiens spielte Jawaharlal Nehru, der hervorragende nationale Führer des Landes. Unter seiner Leitung begann Indien, eine unabhängige Außenpolitik der Nichtpaktgebundenheit zu betreiben, die den neokolonialistischen Bestrebungen des Imperialismus entgegenwirkte und die Sache des Friedens förderte. Das unabhängige Indien setzte sich für friedliche Koexistenz, internationale Entspannung und Abrüstung ein und trat gegen Kolonialismus und Rassismus auf. Jawaharlal Nehru verteidigte entschlossen die Errichtung eines staatlichen Sektors, in dem er die notwendige Bedingung für die Industrialisierung und die Sicherung der ökonomischen Selbständigkeit des Landes sah. Er erkannte klar, daß die Verwirklichung dieses Zieles ohne aktive ökonomische Zusammenarbeit und freundschaftliche Verbindungen mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern unmöglich ist, und leistete einen großen persönlichen Beitrag zur Herstellung und Entwicklung dieser fruchtbaren Zusammenarbeit. Auf der Grundlage der fortschrittlichen Politik von Nehru konnte Indien wichtige Erfolge bei seiner unabhängigen nationalen Entwicklung erringen. Die Industrieproduktion wuchs etwa um das Dreifache, und es wurde eine Reihe wichtiger Industriezweige errichtet. Das ermöglicht es dem Land, bereits auf vielen Gebieten die Bedürfnisse der sich entwickelnden Ökonomie selbständig zu befriedigen. Jedoch sind mehr als 70 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt. Bei der Schaffung eines eigenen industriellen und wissenschaftlich-technischen Potentials spielt der staatliche Sektor, der an Stärke gewinnt und in einer Reihe von Zweigen zum dominierenden Sektor wird, die führende Rolle. Das ist eine große Errungenschaft des Landes und eine wichtige Voraussetzung seines weiteren Fortschritts. Nach vorhandenen Einschätzungen konzentriert heute der staatliche Sektor ungefähr die Hälfte aller Kapitalinvestitionen in der modernen („organisierten") Industrie auf sich. In den Jahren 1969/70 betrug der Anteil der staatlichen Betriebe an der Gesamtproduktion von Roheisen 62, Stahl 55, Werkzeugmaschinen 48, Zink 68, Rohöl 52 und Kunstdünger 77 Prozent. Dem Staat gehören die Kohleförderung, die Produktion von Elektroenergie, der Eisenbahnund Lufttransport sowie einige andere Transportarten, die Kommunikationsmittel und seit 1969 ebenfalls die wichtigsten Handelsbanken. Insgesamt umfaßt der staatliche Sektor ungefähr 30 Prozenz der Produktion in der Großindustrie. Von 18 Millionen Menschen, die in den „organisierten" Tätigkeitsbereichen (d. h. außerhalb der Landwirtschaft und der Heimindustrie) arbeiten, waren 1972 im staatlichen Sektor 11,2 Millionen Menschen gleich 67 Prozent beschäftigt. Ohne Verwaltungspersonal war die Zahl der im staatlichen und im privaten Sektor Beschäftigten annähernd gleich — entsprechend 5,4 und 5,7 Millionen Menschen. Jedoch in den „produzierenden" Zweigen (hauptsächlich in der bearbeitenden und der extraktiven Industrie sowie in der Energieerzeugung) war die Beschäftigtenzahl im

Soziale und politische Entwicklung

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privaten Sektor knapp viereinhalb Mal größer als im staatlichen Sektor — 4 Millionen gegenüber 0,9 Millionen Menschen. Unter den Bedingungen der unabhängigen nationalen Entwicklung erhöhte sich die landwirtschaftliche Produktion ungefähr um das Doppelte. Eine Rolle spielte hierbei die Teilagrarreform in den fünfziger Jahren, durch die einige Formen des traditionellen feudalen Grundbesitzes liquidiert wurden, welche in ungfähr 40 Prozent des Landesterritoriums vorherrschten. Es wird angenommen, daß ungefähr 20 Millionen Bauern und andere Grundbesitzer, die auf der Basis eines ständigen Pachtvertrages über Land verfügten, zu Besitzern dieses Bodens wurden, während die feudalen Rechte der Großgrundbesitzer durch Aufkauf abgeschafft wurden. Diese Großgrundbesitzer, die vorwiegend die aristokratische Oberschicht der Großgrundbesitzerklasse bildeten, behielten jedoch einen bestimmten Teil ihrer Besitzungen als uneingeschränktes Privateigentum. Außerdem wurden die traditionellen Feudalrechte der Großgrundbesitzer auf das Land als solche bei weitem nicht einmal überall liquidiert. In den sechziger Jahren begann man, in einigen Regionen des Landes mit Unterstützung des Staates agrotechnische Maßnahmen durchzuführen, die zum Wachstum der landwirtschaftlichen Produktion beitrugen und die Bezeichnung „grüne Revolution" erhielten. Es wurde die Einstellung des Imports von Nahrungsmittelgetreide im Rahmen der Wirtschaftshilfe beschlossen. Das bedeutet die Beseitigung einer der eklatantesten Folgeerscheinungen der Kolonialherrschaft, die die indische Landwirtschaft derart ruiniert hatte, daß das Agrarland sich nicht selbst mit Nahrungsmitteln versorgen konnte und zum systematischen Import von Nahrungsmitteln gezwungen war. Fortschritte wurden im Bereich des Gesundheitswesens erzielt. Das ermöglichte es, die schweren Epidemien zu verhindern, die früher neben dem Hunger regelmäßig große Gebiete des Landes heimgesucht und Millionen von Menschenleben gekostet hatte. Die durchschnittliche Lebenserwartung erhöhte sich in Indien von 32 Jahren auf ungefähr 50 Jahre, sie ist damit aber immer noch bedeutend niedriger als in den entwickelten Ländern. Die Volksbildung verbesserte sich merklich, und die Zahl der Lernenden wuchs um ein Mehrfaches. Die Ausbildung eigener wissenschaftlicher und technischer Kader nimmt zu. Ungeachtet dessen waren 1971 lediglich 30 Prozent der Bevölkerung des Lesens und Schreibens kundig (gegenüber 17 Prozent im Jahre 1951). Für 1975 ist die Einführung der Grundschulpflicht für Kinder im Alter bis zu 11 Jahren vorgesehen. Eine wichtige Rolle in der Wirtschaft Indiens als Entwicklungsland spielten und spielen auch weiterhin die von ausländischen Staaten als Kredit im Rahmen der Wirtschaftshilfe zur Verfügung gestellten Mittel. Der Anteil dieser Mittel an den gesamten Kapitalinvestitionen betrug 1951 bis 1955 6 Prozent, 1956 bis 1960 13 Prozent und stieg auf 17 Prozent in den Jahren 1961 bis 1965. Bei den Kapitalinvestitionen des staatlichen Sektors war der Anteil der ausländischen Hilfe noch höher — entsprechend 9,22 und 28 Prozent. Jedoch bereits der IV. Fünfjahrplan (1969/70 bis 1973/74) sah eine gewisse Senkung des Anteils der ausländischen Hilfe vor — auf 8 Prozent an den gesamten Kapitalinvestitionen und auf 14 Prozent an den Kapital2*

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Investitionen des staatlichen Sektors. Der Export von staatlichem Kapital durch die entwickelten kapitalistischen Mächte nach Indien im Rahmen der Wirtschaftshilfe hatte insbesondere die Schaffung eines solchen Typs der „gemischten Wirtschaft" zum Ziel, der die weitere Entwicklung des Kapitalismus und gleichzeitig die Fortsetzung der neokolonialistischen Ausbeutung des Landes gewährleistet, also das, was Ministerpräsidentin Indira Gandhi in ihrer Rede in Lusaka im Jahre 1970 als die Ausnutzung der Überlegenheit auf technischem Gebiet durch ungleiche Zusammenarbeit bezeichnete. 2 Wenn die kapitalistischen Industrieländer Unterstützung auf dem Gebiet des Maschinenbaus und anderer Zweige erweisen, die die wichtigste Rolle beim technischen Fortschritt spielen und den Produktionszyklus abschließen, so sind sie bestrebt, vor allem dem privaten Sektor zu helfen. In Indien entfielen 1970 von den „festgeschriebenen" Krediten der kapitalistischen Länder für den staatlichen Sektor auf die Energiewirtschaft und Metallurgie 84 Prozent und auf den Maschinenbau lediglich 12 Prozent. Indessen betrug das entsprechende Verhältnis dieser Kredite für den privaten Sektor 42 und 53 Prozent. 3 Im Zusammenhang mit der Wirtschaftshilfe erreichte die Verschuldung Indiens gegenüber den kapitalistischen Ländern eine gewaltige Summe, wobei die Rückzahlungen der Kredite und die für sie erhobenen Zinsen ungefähr drei Viertel der gesamten neugewährten Hilfe dieser Staaten verschlingen. Die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Länder erwiesen Indien eine ihren Kräften entsprechende Hilfe bei der wirtschaftlichen Entwicklung, die eine grundlegende Rolle bei der Festigung der nationalen Unabhängigkeit und der Schaffung des staatlichen Sektors spielte. Ministerpräsidentin Indira Gandhi erklärte 1973, die Sowjetunion „hat uns wirtschaftlich geholfen und war während vieler Jahre das einzige Land, das die Entwicklung unserer Industrie im staatlichen Sektor unterstützte, was wir als sehr wichtig für unseren Fortschritt und unsere Stabilität erachten" 4 . Mit Hilfe der Sowjetunion wurden bzw. werden 80 Objekte errichtet, von denen 50 bereits in Betrieb sind. In den mit Unterstützung der Sowjetunion gebauten Betrieben werden 80 Prozent der metallurgischen Ausrüstungen, 60 Prozent der schweren Elektroausrüstungen, 30 Prozent der Elektroenergie und ungefähr 20 Prozent des Stahls produziert sowie mehr als 50 Prozent des Erdöls gefördert und 30 Prozent verarbeitet 5 . In den Jahren 1970/71 nahm die Sowjetunion den ersten Platz in der indischen Exportstatistik und den zweiten Platz im Gesamtvolumen des Außenhandels Indiens ein. Die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern trug nicht nur unmittelbar zur Entwicklung der Schlüsselzweige der Industrie und zur Schaffung ökonomischer Grundlagen der nationalen Unabhängigkeit bei, 2 Vgl. I. Gandhi, The Unfinshed Revolution, in: Socialist India, 15/1973, S. 25f. Vgl. ausführlicher M. A. Aleksandrov, A. E. Granovskij, Ekonomiceskaja pomosc' kapitalisticeskich gosudarstv stranam Juznoj Azii, Moskva 1973, S. 124ff. 4 The Transkript of the interview givea in New Delhi oa May 26, 1973, by the Prime Minister of India to the Australian Broadcasting Commission. Press Information Bureau. Government of India. 5 Pravda v. 28. 11. 1973. 3

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sondern veranlaßte auch die imperialistischen Mächte, in ihren Beziehungen mit Indien bestimmte Zugeständnisse zu machen. Die günstige Hilfe der sozialistischen Länder zwang die kapitalistischen Staaten, den Zinsfuß für die Kredite zu senken, deren Tilgungsfristen zu verlängern sowie den Umfang der Kredite zu vergrößern und selbst ihre Richtung zu verändern. 6 Wenn man die ökonomische Rückständigkeit des Landes, die wahrhaft ungeheuerliche Armut seiner Volksmassen und die Vielfalt der anderen Schwierigkeiten und Probleme berücksichtigt, die das zweihundertjährige Kolonialregime hinterließ, sind die Errungenschaften Indiens zweifellos bedeutend. Dessenungeachtet verwies Ministerpräsidentin Indira Gandhi im Oktober 1971 auf folgendes: „Das Volk ist mit der bestehenden Lage der Dinge unzufrieden. Es will ein schnelleres ökonomisches Wachstumstempo. Es will eine gerechtere Verteilung der Früchte unserer nationalen Anstrengungen. Es will größere soziale Gerechtigkeit und größere Gleichheit." 7 Die Unzulänglichkeit des erreichten ökonomischen Entwicklungstempos wird vor dem Hintergrund der aus der kolonialen Vergangenheit ererbten Armut der Volksmassen und des schnelleren Bevölkerungswachstums klar und deutlich. In den Jahren 1951 bis 1971 wuchs die Bevölkerung Indiens von 361 Mill. auf 547 Mill. Menschen, wobei sie in den letzten Jahren ungefähr um 12 Mill. Menschen jährlich anstieg. 1970/71 produzierte Indien erst 7 Mill. t Roheisen und 6,1 Mill. t Stahl, 75 Mill. t Kohle und 56 Mrd. kw Elektroenergie; die Getreideernte betrug 108 Mill. t. Ungeachtet des Produktionswachstums in den Jahren der Unabhängigkeit blieb das Nationaleinkommen pro Kopf der Bevölkerung trotz einer Erhöhung um ungefähr 30 Prozent eines der niedrigsten in der Welt. Gleichzeitig sind Einkommen und Konsumtion äußerst ungleichmäßig verteilt. Im Verlaufe der bürgerlichen Entwicklung wurden die Kontraste zwischen dem gewachsenen Reichtum, besonders der Oberschicht der besitzenden Klassen mit ihrem zur Schau gestellten vulgären Luxus, und der Armut der Masse des werktätigen Volkes noch hervorstechender. Von 1951 bis 1965 wuchs der Anteil der ihrem Einkommen nach obersten Gruppe der Bevölkerung, die lediglich 1 Prozent der Gesamteinwohnerzahl ausmacht, am Gesamteinkommen der Bevölkerung um mehr als das Doppelte von 4,7 auf 9 Prozent. Gleichzeitig haben 40 Prozent der ländlichen und 50 Prozent der städtischen Bevölkerung ein so geringes Einkommen, daß es nicht für das äußerst niedrige Minimum eines Nahrungsmittelkonsums von 2250 Kalorien am Tag ausreicht. Auf das ärmste Viertel der Bevölkerung kommt lediglich ein Zehntel des Gesamtverbrauchs. Die Lebensbedingungen der Volksmassen verbesserten sich in den Jahren der Unabhängigkeit dahingehend, daß als Ergebnis der Industrialisierung und des Kampfes der Werktätigen die aus dem Mittelalter und der Kolonialperiode ererbten brutalsten und barbarischsten Ausbeutungs- und Unterdrückungsformen abge6

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M. N. Stasov, Sovetsko-indijskoe ekonomiceskoe i techniceskoe sotrudnicestvo, Ekonomika sovremennoj Indii, Moskva 1972, S. 59. Indian and Foreign Review v. 1. 11. 1970.

in:

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schafft wurden. Das fand seinen Ausdruck in der Entwicklung einer Arbeitsgesetzgebung. Die materielle Lage des werktätigen Volkes hat sich jedoch nur unbedeutend verändert, wobei die erreichten teilweisen Verbesserungen sich oft als unbeständig erweisen und unter den Bedingungen der kapitalistischen Entwicklung sogar ganz zunichte gemacht werden. Die schärfsten Probleme stellen die Preissteigerungen für die lebensnotwendigsten Dinge und die sich vergrößernde Arbeitslosigkeit, vor allem auch unter der Jugend mit mittlerer und höherer Bildung, dar. In der Stadt kamen neben dem Anwachsen des staatlichen Sektors, der die progressive Tendenz der sozialökonomischen Entwicklung des Landes widerspiegelt, auch reaktionäre Tendenzen auf. Vor allem nahm die ökonomische Macht der monopolistischen Bourgeoisie zu. Eine kleine Gruppe von Monopolvereinigungen, die eng mit ausländischen Monopolkreisen liiert ist und sich ihrer Unterstützung erfreut, errang die Vorherrschaft im privaten Sektor und strebt danach, den staatlichen Sektor ihren Interessen unterzuordnen. Von 1963 bis 1968 wuchs der Anteil der 75 Monopolgesellschaften am Gesamtkapital (außer Banken) des privaten Sektors, der mehr als 2200 Gesellschaften zählte, von 47 auf 54 Prozent. Den 75 Monopolen flössen 53 Prozent aller Mittel zu, die der Staat den Privatgesellschaften als Kredite usw. zur Verfügung stellte, wobei die 20 größten von ihnen 33 Prozent erhielten. Die Monopole sicherten sich den Löwenanteil an Lizenzen für die Errichtung neuer Betriebe und tätigten ungefähr die Hälfte aller Abschlüsse mit ausländischen Firmen. Die Aktiva des größten Industrie- und Finanzhauses, des Unternehmens Tata, die 1951 nur 950 Mill. Rupien (Rs) betrugen, erreichten 1974, wie angenommen wird, 6,4 Mrd. Rs, während die Aktiva des Hauses Birla in der gleichen Zeit von 511 Mill. Rs auf ungefähr 5 Mrd. Rs anwuchsen. Nach Angaben der Reservebank Indiens erhöhten 290 der größten Privatunternehmer in den Jahren 1965 bis 1970 ihren Profit (nach Abzug der Steuern) um 60 Prozent, während der Anteil des Arbeitslohnes ihrer Arbeiter und Angestellten zurückging. Gleichzeitig sank das Wachstumstempo der Grundfonds dieser Unternehmen in der genannten Periode von 9,7 auf 2,6 Prozent jährlich. Das zeugt von den gewaltigen Ausmaßen der nichtproduktiven, spekulativen Tätigkeit des Großkapitals, die zur Entwicklung der Spekulation und des Schwarzmarktes beitrug. Ungeachtet des bedeutenden relativen Rückgangs der Positionen des Auslandskapitals in der Wirtschaft des Landes erhöhten sich die ausländischen Privatinvestitionen (außer den Banken) von 2,5 Mrd. Rs 1948 auf 12,9 Mrd. Rs im J a h r e 1970. Nach offiziellen Angaben führten allein 36 der größten ausländischen Unternehmen in den Jahren 1968 bis 1970 1,1 Mrd. Rs als Profite und andere Einnahmen aus dem Lande aus. Das Wachstum der einheimischen Monopole in Zusammenarbeit mit dem Auslandskapital war der konzentrierteste Ausdruck der ökonomischen Ungleichheit. So erklärte Ministerpräsidetin Indira Gandhi in einer ihrer Reden im Februar 1971: „44 Familien halten die Hebel der ökonomischen Macht in einem Land mit einer Bevölkerung von 550 Mill. Menschen in ihren Händen. Bei einer solchen Lage kann man keinen Frieden und keine Stabilität erwarten." 8 « Patriot v. 20. 2. 1971.

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Auch die sozialen Beziehungen im Dorf sind von scharfen Widersprüchen gekennzeichnet. Im Ergebnis der begrenzten Agrarreformen behielt die Feudal- und Großgrundbesitzeraristokratie einschließlich der ehemaligen Fürsten bedeutende Landbesitzungen und andere Privilegien und somit auch soziale Positionen. Aufgrund der Mängel der Ende der fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre angenommenen Gesetzgebung über die oberste Grenze des Besitzes an Boden sowie infolge des Widerstandes der Großgrundbesitzer und der reicher werdenden Oberschicht des Dorfes, die Einfluß auf den Staatsapparat und auf die Politik hatten, wurde die Umverteilung des Bodens fast oder überhaupt nicht durchgeführt. Landbesitz erwarben auch nicht selten städtische Kapitalisten, und einige der größten unter ihnen konzentrierten viele tausende Hektar Land in unterschiedlichen Gebieten Indiens in ihren Händen. Es wird allgemein anerkannt, daß von den Teilagrarreformen der fünfziger Jahre und von den agrotechnischen Maßnahmen der Regierung in den sechziger Jahren („grüne Revolution") hauptsächlich die oberen und teilweise die mittleren Schichten der Bauernschaft profitierten, d. h. schätzungsweise insgesamt ungefähr 15 Prozent der ländlichen Bevölkerung. Die Verbraucher- und Absatzgenossenschaften befanden sich dort, wo sie entstanden waren, oft in Abhängigkeit von der reichen Oberschicht des Dorfes. Aufgrund all dieser Umstände besaßen zu Beginn der sechziger Jahre 22 Prozent der Wirtschaften (Familien) überhaupt kein Land, 62 Prozent der Wirtschaften verfügten über 5 Acre (2 ha) und mehr, besaßen aber insgesamt lediglich 19 Prozent des in Privateigentum befindlichen Bodens, während 3,2 Prozent der Wirtschaften — mit einer Größe über 30 Acres (12 ha) — 24 Prozent des Bodens auf sich konzentrierten. Unterdessen verschwindet im Verlaufe der unabhängigen nationalen Entwicklung und mit dem Wachstum der Industrialisierung allmählich die jahrhundertealte Erniedrigung der Werktätigen, darunter auch auf dem Dorf, ihre materiellen Bedürfnisse nahmen zu und ihr Gesichtskreis erweiterte sich. Es kam zum weiteren Erwachen des demokratischen Bewußtseins der Volksmassen. Hierzu trugen die von der Kongreßpartei verkündeten Losungen der sozialen Gleichheit bei. Auch Ebenda, v. 10. 10. 1971.

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der Kongreßpartei vorgesehen war. Dessenungeachtet sicherten in der Anfangsetappe der unabhängigen Entwicklung die progressiven Maßnahmen (vgl. Abschnitt 2) der Kongreßpartei die Unterstützung des überwiegenden Teils der politisch aktiven Volksmassen. Die aufgeführten Umstände führten in ihrer Gesamtheit zu folgendem: Erstens übertraf Anfang der sechziger Jahre der Kongreß nach seinem Masseneinfluß und seinen organisatorischen Möglichkeiten bei weitem alle anderen politischen Parteien nicht nur im gesamtindischen Maßstab, sondern auch nahezu in allen nationalen Gebieten (Staaten). Das verschaffte ihm eine feste Macht sowohl im Zentrum als auch in fast jedem Staat. Die anderen Parteien verfügten jede nur in zwei bis drei Staaten über einen spürbaren Einfluß oder sogar nur in einem Staat, und auch hier blieben sie mit einzelnen Ausnahmen weit hinter dem I N K zurück. Unter diesen Bedingungen gab das Mehrheitswahlsystem der einzigen großen Partei, der Kongreßpartei, einen entscheidenden Vorteil gegenüber den restlichen Parteien. Obwohl die Kongreßpartei bei den allgemeinen Wahlen in den Jahren 1952,1957 und 1962 lediglich 45 bis 48 Prozent der Stimmen erhielt, sicherte sie sich trotzdem ungefähr Dreiviertel der Abgeordnetensitze im Parlament (Lok Sabha — „Volkskammer") und eine feste Mehrheit in den Gesetzgebenden Versammlungen fast aller (damals 15) Staaten. Eine Rolle spielte auch die Tatsache, daß ein bedeutender Teil der Massen politisch passiv blieb. Zweitens wurde bis Ende der fünfziger Jahre unter den Bedingungen einer weitgehenden politischen Einheit der nationalen Bourgeoisie (gemeinsam mit einigen anderen Gruppen der besitzenden Klassen) die Oppositon gegenüber dem Kongreß auf dem gesamtindischen Schauplatz durch Parteien vertreten, die von linken Positionen auftraten: der Kommunistischen Partei Indiens ( K P I ) und der Volkssozialistischen Partei (Praja Socialist Party — P S P ) . Außerdem gab es eine ganze Reihe kleiner linker Parteien und Gruppierungen, darunter die bedeutendere Sozialistische Partei, die jeweils in ein bis zwei Staaten wirkten. Der Einfluß der K P I vergrößerte sich, während sich der Einfluß der P S P ständig verringerte. Die Volkssozialistische Partei stellte im wesentlichen das gleiche sozialökonomische Programm wie der I N K auf, kritisierte jedoch dessen Herrschaft von linken Positionen aus. Gleichzeitig verfolgte die P S P eine Politik des Antikommunismus. Während sich der Stimmenanteil der K P I bei den Parlamentswahlen von 3,3 Prozent im Jahre 1952 auf 9 Prozent 1957 und auf 10 Prozent im J a h r e 1962 vergrößerte, fiel der Stimmenanteil der P S P von 16 Prozent im Jahre 1952 bis auf 7 Prozent im Jahre 1962. Die Zunahme des Einflusses der Kommunistischen Partei Indiens, insbesondere die Bildung der Regierung durch die K P I im Staate Kerala in den Jahren 1957—1959, widerspiegelte das Anwachsen der sozialen Forderungen und der Massenbewegung der Werktätigen. Das förderte die Aktivität der fortschrittlichen Kreise innerhalb des Nationalkongresses selbst. Im Jahre 1955 verkündete die Kongreßpartei als ihr Ziel den Aufbau einer „Gesellschaft nach sozialistischem Muster" in Indien. 1956 faßte die Regierung wichtige Beschlüsse, die auf die Schaffung eines starken staatlichen Sektors gerichtet waren, und 1959 sprach der Kongreß von der Notwendigkeit

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landwirtschaftlicher Genossenschaften, darunter von Produktionsgenossenschaften. In diesen Jahren begann sich die sowjetisch-indische ökonomische Zusammenarbeit breit zu entfalten, und die positive Rolle Indiens auf dem internationalen Schauplatz verstärkte sich. Die dem INK oppositionell gegenüberstehenden eigentlichen bürgerlichen und bürgerlich-feudalen Parteien und Gruppierungen, die sehr zahlreich sind, waren erheblich weniger entwickelt als die KPI und die PSP. In der Regel hatte jede einzelne von ihnen lediglich regionale Bedeutung. Allein die 1952 gebildete kommunalistische (religiös-chauvinistische) Partei J a n a Sangh verfügte in einigen Staaten Nordindiens über einen gewissen Einfluß. Sowohl die führenden bürgerlich-progressiven und in beträchtlichem Maße kleinbürgerlichen Strömungen als auch die konservativen Hauptkräfte waren innerhalb des Nationalkongresses selbst tätig. Dabei hatten die konservativen Elemente des öfteren einen vorherrschenden Einfluß in dem aus der Kolonialzeit ererbten Staatsapparat, was sich wesentlich auf das allgemeine sozialpolitische Kräfteverhältnis im Lande auswirkte.

4. Veränderungen Infolge der sich im Verlauf der Entwicklung des Kapitalismus vergrößernden Differenzierung der besitzenden Klassen, vor allem der Bourgeoisie selbst, und der Widersprüche zwischen ihren verschiedenen Schichten und Gruppen sowie im Ergebnis der wachsenden sozialen Forderungen und des Klassenkampfes der Werktätigen begann sich in den sechziger Jahren die nach der Erringung der Unabhängigkeit entstandene politische Struktur in Indien zu verändern. Neben der Stärkung der demokratischen Bewegung begannen gegen Ende der fünfziger Jahre auch die reaktionären Kräfte, aktiver zu werden, um weitere soziale Umwälzungen zu verhindern: die Vertiefung der Agrarreform und die Entwicklung des staatlichen Sektors in einer antimonopolistischen Richtung. Zum Anziehungspunkt und politischen Exponenten der verschiedenartigen reaktionären und konservativen Elemente wurde die monopolistische Oberschicht der Bourgeoisie. Dazu trugen ihre traditionellen Bindungen an das koloniale und feudale Erbe, ihre tonangebende Rolle im privatkapitalistischen Unternehmertum und ihre aktive Unterstützung durch imperialistische Kreise des Auslands bei. Die führenden Industrieund Finanzmagnaten mobilisierten und lenkten den politischen und sozialen Einfluß, den die Feudalaristokratie (die ehemaligen Fürsten und Großgrundbesitzer) und die anderen konservativen Elemente, die ihre sozialen und Kastenprivilegien verteidigten, traditionell hatten. Die Monopole waren bestrebt, auch breitere bürgerliche Kreise ihrer politischen Vormundschaft zu unterwerfen. Zu diesem Zweck stellten die Rechtskräfte als Gegengewicht zur staatlichen Regulierung die Losungen von der „Freiheit des Unternehmertums", von der Heiligkeit und Unantastbarkeit jeglichen Privateigentums auf. Unter indischen Bedingungen dienten diese Losungen faktisch der Ermunterung spekulativer Machenschaften zum Schaden der nationalen Interessen, der Aufrechterhaltung und Festigung der Positionen der monopoli-

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stischen und feudalen Oberschicht der besitzenden Klassen sowie der Positionen des Auslandskapitals. Gleichwohl nutzte die reaktionäre Propaganda nicht nur die Unzulänglichkeiten des staatlichen Wirtschaftsmechanismus äußerst raffiniert aus, sondern sogar Erscheinungen seiner wachsenden Unterordnung unter das Großkapital wie auch nicht selten auftretende Fälle von Korruption. Die reaktionären Kräfte verleumdeten auch die Zusammenarbeit Indiens mit der Sowjetunion und den Ländern der sozialistischen Gemeinschaft. Die Rechtspresse nutzte den Grenzkonflikt zwischen der Volksrepublik China und Indien an der Wende der fünfziger und sechziger Jahre sowie die feindselige Haltung der maoistischen Führung gegenüber Indien in breitem Maße zu ihren Zwecken aus. Sie strebten den Verzicht auf die Politik der Nichtpaktgebundenheit an. Das Fortbestehen von bedeutenden Überresten der halbfeudalen Gesellschaftsstruktur einerseits und die Stärkung der wirtschaftlichen Macht der Monopole andererseits führten dazu, daß sich in einer ganzen Reihe von Staatenorganisationen des INK oligarchische Gruppierungen herausbildeten, die die örtliche Macht in ihren Händen hielten. Oft hatten sie einen mehr oder weniger ausgeprägten Kastencharakter in Widerspiegelung der traditionellen sozialen Vorherrschaft bestimmter hauptsächlich aus dem Großgrundbesitz stammender Schichten. Zugleich begannen im Laufe der Zeit diese herrschenden Gruppierungen in immer größerem Maße, auch im Interesse begrenzter Gruppen der Bourgeoisie zu wirken, haupsächlich im Interesse gerade der „supranationalen" Monopolherren zum Schaden breiterer Schichten der Bourgeoisie des betreffenden Staates. Die Repräsentanten solcher oligarchischer Gruppierungen, die auf der Ebene der Staaten entstanden, bildeten den rechten Flügel in der zentralen Führung der Kongreßpartei und arbeiteten dem fortschrittlichen Kurs Jawaharlal Nehrus nach und nach entgegen. Nach Nehrus Tod im Jahre 1964 stärkten sich ihre Positionen, und in der Kongreßführung begann sich eine Gruppierung zu formieren, die unter der Bezeichnung „Syndikat" bekannt ist. Die Aktivierung der reaktionären Kräfte fand auch ihre Widerspiegelung in der Entwicklung einer Rechtsopposition zur Kongreßpartei, die bedeutend breiter war als früher. Im Jahre 1959 wurde die Swatantra Party, eine „säkulare" Rechtspartei, gegründet. Die kommunalistische Partei J a n a Sangh verstärkte ihre Tätigkeit. Beide Parteien nahmen eine Anzahl unterschiedlicher regionaler rechtsgerichteter feudaler und bürgerlicher politischer Parteien und Gruppierungen in sich auf, die in einzelnen Staaten zum Nationalkongreß in Opposition standen. In einer Reihe von Orten mobilisierten die Swatantra und der J a n a Sangh den traditionellen persönlichen Einfluß der Feudalaristokratie unter der Bevölkerung, mancherorts auch den traditionellen Einfluß der „ländlichen Elite" (besonders die Swatantra und teilweise der J a n a Sangh) und zogen einen gewissen Teil der städtischen Bourgeoisie und der Mittelschichten mit sich (hauptsächlich der J a n a Sangh). Die Verschärfung des politischen Kampfes und eine gewisse Schwächung der Positionen der Kongreßpartei zeigten sich bereits während der dritten allgemeinen Wahlen im Jahre 1962. Der Nationalkongreß erhielt bei diesen Wahlen 44,7 Prozent der Stimmen und 362 von 497 Abgeordnetensitzen in der Lok Sabha gegenüber 47,8 Prozent der Stimmen und 371 Sitzen im Jahre 1957. Einen bedeutenden Platz

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nahmen auf dem politischen Schauplatz die Rechtsparteien ein. Die erstmals an Wahlen teilnehmende Swatantra erhielt 7,9 Prozent der Stimmen und 18 Sitze in der Lok Sabha und der J a n a Sangh 6,4 Prozent der Stimmen und 14 Sitze gegenüber 5,9 Prozent der Stimmen und lediglich 4 Sitzen, die diese Partei bei den Wahlen von 1957 erhalten hatte. Die Rechtsparteien konnten in einigen von den Staaten Fuß fassen, in denen die Positionen der linken Parteien, besonders der Kommunisten, schwach waren und die Opposition zum Kongreß hauptsächlich durch die P S P vertreten war. Die letztere verlor hier ihre Position als führende Oppositionspartei. Diesen Platz nahmen die Rechtsparteien ein. So begann sich eine Rechtsopposition zur Kongreßpartei auf gesamtindischer Ebene herauszubilden, obwohl die Rechtsparteien nur in einigen Staaten einen mehr oder weniger bedeutenden Einfluß erringen konnten. Die Hauptsache bestand jedoch darin, daß die Rechtsparteien offen gegen den Kurs Nehrus auftraten und mit ihrer Tätigkeit den konservativen Kräften innerhalb des I N K selbst halfen. Im Ergebnis der Aktivierung der Rechtskräfte, insbesondere nach dem Tod Jawaharlal Nehrus, wurden dem einheimischen und ausländischen Großkapital Zugeständnisse gemacht. Das Planungsprinzip und die staatliche Regulierung wurden geschwächt und mitunter zunichte gemacht. Mitte der sechziger Jahre wurde die Wirtschaft des Landes durch eine Depression heimgesucht. Es verlangsamte sich das Wachstumstempo der Industrieproduktion. Einige Jahre mit Mißernten verschlechterten die ohnehin angespannte Nahrungsmittellage stark. Die Preise begannen schneller als sonst zu steigen, was sich schwer auf die Lage der werktätigen Bevölkerung besonders in den Städten auswirkte. Das Großkapital verstärkte ebenfalls seinen Druck auf die kleinen Unternehmer, indem es bestrebt war, aus der Depression sowohl auf Kosten der Werktätigen als auch auf Kosten der unteren Schichten der Bourgeoisie herauszukommen. All dies zusammengenommen rief eine wachsende Unzufriedenheit des Volkes mit der Herrschaft der Kongreßpartei und weitere Veränderungen auf dem politischen Schauplatz hervor. In ihrem Wesen widerspiegelten sie die Verschärfung des politischen Kampfes zwischen den Kräften, die für weitere sozialökonomische Umgestaltungen eintraten, und den reaktionären Kräften, die die Interessen der Oberschicht der besitzenden Klassen verteidigten. Dieser Kampf entwickelte sich jedoch bei weitem nicht geradlinig, sondern beinhaltete unterschiedliche und oft widersprüchliche Erscheinungen in den verschiedenen Etappen des sich beschleunigenden politischen Prozesses der zweiten Hälfte der sechziger Jahre. Eine solche widersprüchliche Erscheinung bestand darin, daß die Aktivierung der linken Parteien im Ergebnis des verstärkten Massenkampfes einherging mit der wachsenden parteimäßigen Zersplitterung der linken Bewegung insgesamt, insbesondere der Gewerkschafts- und Bauernbewegung. Der Aufschwung und die Ausweitung des Kampfes der werktätigen Massen für neue, jetzt bereits hauptsächlich soziale und Klassenforderungen förderte in der Politik in einer bestimmten Etappe unumgänglich gewisse Erscheinungen der großen sozialen Heterogenität der werktätigen Massen selbst zutage, einer Heterogenität, die für den sich entwickelnden Kapitalismus charakterisch ist und die durch die verschiedenartigen,

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historisch entstandenen sozialpolitischen Bedingungen in den unterschiedlichen Gebieten des gewaltigen multinationalen Landes vervielfältigt wurde. Wie es scheint, ist dieses Phänomen für eine bestimmte Entwicklungsetappe charakteristisch und daher von zeitweiliger und vorübergehender Natur. Die Entwicklung des Kampfes der progressiven Kräfte insgesamt wurde wesentlich durch die Spaltung in der Kommunistischen Partei Indiens (KPI) kompliziert. Im Zusammenhang mit der Verschärfung der Unzufriedenheit der Massen mit der Herrschaft der Kongreßpartei und mit der Verstärkung rechter Tendenzen innerhalb derselben begann zu Anfang der sechziger Jahre ein Teil der führenden Mitglieder der damals einheitlichen Kommunistischen Partei, zur Negierung der Unterschiede zwischen dem Kongreß und den Rechtsparteien zu neigen und die Rolle der progressiven Kreise innerhalb des INK faktisch zu ignorieren. Die Einmischung der maoistischen Führung der VR China, die mit Angriffen auf die KPI auftrat, verhinderte die Uberwindung der Meinungsverschiedenheiten, zu denen es in der KPI im Ergebnis der Veränderung der politischen Lage im Lande gekommen war, und trug zur Spaltung der Partei bei. 1964 bildete eine Gruppierung, die im Nationalrat der KPI in der Minderheit war, eine eigene Partei, die sich als „Kommunistische Partei Indiens (Marxisten)" (KPI(M)) bezeichnet. In der indischen Presse wird gewöhnlich ihre abgekürzte Bezeichnung CP(M) gebraucht. In der Folge veranlaßte die Führung der KPI(M) die Spaltung der von den Kommunisten geführten Gewerkschaftsvereinigung, des Allindischen Gewerkschaftskongresses(AITUC), und der Bauernorganisation, des Allindischen Bauernverbandes (AIKS), und bildete ihr eigenes Indisches Gewerkschaftszentrum (CITU) und ihre eigene Bauernorganisation. Der KPI(M) fiel der größere Teil der Parteiorganisation der ehemals einheitlichen Kommunistischen Partei in den Staaten Kerala und Westbengalen zu, in denen sie nach der Kongreßpartei die größte politische Partei gewesen war und dieser unmittelbar gegenüberstand, während die reaktionären Parteien fast oder überhaupt keinen Masseneinfluß besaßen. Die rechten und konservativen Elemente waren hier in der Kongreßpartei selbst konzentriert. Im Staat Andhra, in dem teilweise eine ähnliche Situation existierte, spaltete sich die Kommunistische Partei dieses Staates in zwei ungefähr gleichstarke Gruppen. Indessen wurde in den restlichen Staaten der Hauptkampf auf dem politischen Schauplatz zwischen dem INK und den Rechtsparteien geführt oder zwischen dem Kongreß und lokalen Parteien sowie zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb der Kongreßpartei selbst. Die Haltung der KPI(M)-Führung resultierte vor allem aus der in Westbengalen und Kerala entstandenen Lage, die sich von der Lage im Lande insgesamt unterschied. Sie ignorierte das sich herausbildende neue politische Kräfteverhältnis im gesamtindischen Maßstab, d. h. die gefährliche Stärkung der Rechtsparteien und das Vorhandensein unterschiedlicher politischer Tendenzen innerhalb der herrschenden Kongreßpartei selbst. Daher beschränkte sich die Tätigkeit derKPI(M) faktisch hauptsächlich auf die Staaten Westbengalen und Kerala. Wenn auch die KPI(M) anfangs einen gewissen Einfluß in einigen weiteren Staaten erreichte, insbesondere in Andhra, im Pandschab und in Tamilnad, so wurde im Verlaufe der Zeit die regionale Begrenztheit dieser Partei auf die Staaten West-

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bengalen und Kerala immer deutlicher. In den restlichen Staaten verblieben die Organisationen der früher einheitlichen Kommunistischen Partei im wesentlichen bei der K P I , die vom gesamtindischen Kräfteverhältnis ausging und f ü r die Zusammenarbeit aller progressiven und demokratischen Kräfte innerhalb und außerhalb des INK im Kampf gegen die Rechte auf der Grundlage der Entfaltung der demokratischen Massenbewegung eintrat. Dies ermöglichte es der KPI, im weiteren ihre Positionen gerade als gesamtindische Partei, die als Avantgarde der fortschrittlichen Kräfte wirkt, zu stärken. Nach den allgemeinen Wahlen von 1962 wurde ein Versuch zur Vereinigung der Volkssozialistischen Partei (PSP) und der Sozialistischen Partei (SP) unternommen. Jedoch ein bedeutender Teil der Führung der P S P nahm schließlich von einer Vereinigung Abstand. Der andere Teil vereinigte sich mit der SP und es kam zur Bildung einer neuen Partei: der Vereinigten Sozialistischen Partei (SSP). Die Führung der SSP erließ einen Aufruf zur Zusammenarbeit aller Oppositionsparteien unabhängig von ihrer Richtung bei den Wahlen von 1967, um dem Nationalkongreß eine Niederlage zu bereiten. Die Führer der SSP behaupteten, daß eine Niederlage der Kongreßpartei im Ergebnis gegen sie gerichteter Wahlabsprachen zwischen allen Oppositionsparteien eine labile Situation schaffe und daß dies angeblich „die Revolution vorantreiben wird". Indessen wäre eine derartige Entwicklung unter den Bedingungen des Anwachsens der Rechtskräfte in Wirklichkeit nur letzteren zugute gekommen und hätte die Gefahr der Eroberung der Macht durch diese erhöht. Daher hatte die Haltung der SSP einen abenteuerlichen Charakter. In ihr t r a t auch das opportunistische Streben einiger Führer zutage, einen einflußreichen Platz in der politischen Arena mit Hilfe von prinzipienlosen Vereinbarungen mit den Rechtsparteien zu erringen. Dessenungeachtet hatte der Umstand eine positive Bedeutung, daß die SSP und ihre Gewerkschaften jetzt eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten bei Massenaktionen der Werktätigen befürworteten, die hauptsächlich auf Initiative der K P I und der von ihr geführten Gewerkschaftsvereinigung, des Allindischen Gewerkschaftskongresses, durchgeführt wurden. Die Massenaktionen, hauptsächlich Generalstreiks (bandh), in einer Reihe von Städten, die Mitte der sechziger J a h r e auf der Grundlage gemeinsamer Aktionen der K P I , der KPI(M), der SSP und anderer linker Parteien durchgeführt wurden, spielten eine bedeutende Rolle im wachsenden politischen Kampf. In einer Situation der Unzufriedenheit des Volkes und des Aufschwungs des Massenkampfes der Werktätigen begannen die oligarchischen, promonopolistischen Tendenzen der Kongreßführung in einigen Staaten auf den wachsenden politischen Widerstand bedeutender Gruppen der regionalen Bourgeoisie (der Staaten) zu stoßen. 1967 zeigte sich dies insbesondere in Folgendem: Erstens, es verstärkten sich die bereits bestehenden oppositionellen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien. Besonders deutlich wuchs der Einfluß der regionalen Parteien Dravida Munnetra Kazhagam (DMK) in Tamilnad und Akali Dal im Pandschab. Die gesamtindische Partei SSP wurde ebenfalls stärker. Gleichzeitig fingen in einer Reihe von Staaten die Rechtsparteien J a n a Sangh und Swatantra in dem einen oder anderen Maße die Unzufriedenheit lokaler bürgerlicher und

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sogar kleinbürgerlicher Kreise auf, was die Erhöhung ihres Masseneinflusses zur Folge hatte. Zweitens kam es mitte der sechziger Jahre zur Spaltung der Kongreßpartei in einigen Staaten. Das war von sehr großer Bedeutung und führte zur Entstehung etlicher neuer Parteien, die im Maßstab einzelner Staaten wirkten. Einige von ihnen begannen eine merkliche Rolle in ihren Staaten zu spielen: der Bangla-Kongreß, der Kerala-Kongreß, der Bharatiya Kranti Dal (BKD) in Uttar Pradesch, der Jana-Kongreß in Orissa. Die anderen waren kleine abgespaltene Gruppierungen. Diese Parteien waren nicht nur nach ihrem Einfluß, sondern auch nach ihren politischen Positionen sehr unterschiedlich, was hauptsächlich vom Kräfteverhältnis zwischen der Kongreßpartei, den rechten und linken gesamtindischen Parteien in den betreffenden Staaten und von einigen anderen lokalen Bedingungen abhing. Die Spaltung des I N K in einigen Staaten schwächte seine Positionen bei den allgemeinen Wahlen im J a h r 1967 sehr erheblich. Nach Pressemeldungen traten bei diesen Wahlen gegen die 3964 Kandidaten der Kongreßpartei für die Lok Sabha und die gesetzgebenden Versammlungen der Staaten allein ungefähr 1000 ehemalige Mitglieder dieser Partei auf.

5. Die Ergebnisse der 4. allgemeinen Wahlen von 1967 und die Bildung von Nicht-Kongreß-Regierungen in einer Reihe von S t a a t e n Die Wahlen von 1967 brachten wichtige Veränderungen des Einflusses einer Reihe von politischen Parteien unter den Wählern und insbesondere ihrer Positionen im Parlament und in den Gesetzgebenden Versammlungen der Staaten im Vergleich zu den Wahlen von 1962 an den Tag. Die wachsende Unzufriedenheit des Volkes mit der Herrschaft des I N K , in dem sich die rechten Tendenzen verstärkten, führte zu einer ernsten Schwächung der Positionen der herrschenden Partei. Der Nationalkongreß erhielt 1967 bei den Parlamentswahlen 41 Prozent der abgegebenen Stimmen und 284 (54 Prozent) der Abgeordnetensitze in der Lok Sabha (von 520) gegenüber 45 Prozent der Stimmen und 361 (73 Prozent) Sitzen im Jahre 1962. In den Gesetzgebenden Versammlungen der Staaten erhielt die Kongreßpartei insgesamt lediglich 48 Prozent der Gesamtzahl der Sitze gegenüber 60 Prozent im Jahre 1962. Der Einfluß des I N K unter den Wählern ging merklich weniger zurück als seine Vertretung im Parlament. Das erklärte sich augenscheinlich aus den Teilwahlabsprachen zwischen den Oppositionsparteien sowie aus dem Vorzug, den die Wähler jetzt des öfteren den größeren Oppositionsparteien gegenüber den kleinen Parteien und unabhängigen Kandidaten gaben. Wenn auch das Mehrheitswahlsystem der Kongreßpartei noch immer Vorteile brachte, indem es ihr einen größeren Anteil an Abgeordnetensitzen ermöglichte als ihr Anteil an Wählerstimmen ausmachte, so ging dieser Vorteil jetzt erheblich zurück. In der Perspektive erwiesen sich die Positionen des I N K sowohl im Parlament als auch in den gesetzgebenden Versamm3

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lungen sogar jener Staaten als instabil, in denen er 1967 die Mehrheit der Sitze erhalten hatte. Beispielsweise erhielt die Kongreßpartei bei den Wahlen zu den Gesetzgebenden Versammlungen der Staaten Tamilnad und Westbengalen entsprechend 41 und 40 Prozent der Stimmen, d. h. genau so viel oder sogar mehr als bei den Wahlen zum Parlament im gesamtindischen Maßstab, sie konnte sich jedoch nicht die Mehrheit der Sitze in den Gesetzgebenden Versammlungen dieser Staaten sichern. Der Kongreß errang bei den Wahlen ebenfalls keine Mehrheit in den Gesetzgebenden Versammlungen der Staaten Orissa, Bihar, Kerala und Pandschab, in denen 31 bis 37 Prozent der Wähler für ihn stimmten. In den Staaten Madhja Pradesch, Radschasthan, Harjana und Uttar Pradesch erhielt die Kongreßpartei von 32 bis 41 Prozent der Stimmen, verlor jedoch durch den Austritt einer Reihe von Abgeordneten kurz nach den Wahlen die gewonnene Mehrheit in den Gesetzgebenden Versammlungen. Somit büßte der Nationalkongreß im Ergebnis der Wahlen von 1967 sowie der darauf fügenden weiteren Spaltung der Kongreßorganisation in einer Reihe von Staaten seine Position als herrschende Partei in neun Staaten ein, in denen ungefähr drei Fünftel der Gesamtbevölkerung des Landes leben. Neben der Schwächung des INK zeigten die Wahlen eine bedeutende Stärkung der verschiedenen rechten und linken Oppositionsparteien sowie einiger regionaler nationalbürgerlicher Parteien. Dabei nahmen die Rechtsparteien mehr zu als die linken. Jedoch blieben der Gesamteinfluß der linken und regionalen Parteien unter den Wählern und die Positionen in den Gesetzgebenden Versammlungen erheblich größer als bei den Rechtsparteien, was die bereits damals überwiegende demokratische Tendenz sichtbar macht. Diese mußte sich jedoch in einer sehr widersprüchlichen politischen Entwicklung, in einem komplizierten Kampf der progressiven Kräfte gegen die Reaktion durchsetzen, die danach strebte, die berechtigte Unzufriedenheit des Volkes mit der Herrschaft der damaligen Kongreßpartei, in der die Rechten stärker wurden, zu ihren Zwecken ausnutzen. Die Partei J a n a Sangh erhielt 1967 9 Prozent der Wählerstimmen und 35 (7 Prozent) Sitze in der Lok Sabha gegenüber 6 Prozent der Stimmen und 14 Sitzen im Jahre 1962. Der Einfluß der Swatantra unter den Wählern veränderte sich bei den Parlamentswahlen nur geringfügig. Jedoch vergrößerte die Swatantra aufgrund von Wahlabsprachen mit anderen Parteien, insbesondere in Tamilnad, ihre Vertretung im Parlament von 18 auf 42 Sitze und ihre Fraktion wurde zur größten Fraktion nach der Kongreßpartei. Merklich wuchsen die Positionen der Vereinigten Sozialistischen Partei, die darauf aus war, mit beliebigen Oppositionsparteien, sowohl linken als auch rechten, Wahlabkommen zu schließen. Manchmal gelang ihr das in der damaligen Situation einer noch wenig differenzierten Unzufriedenheit des Volkes mit der Kongreßpartei. Die S S P gewann bei den Wahlen von 1967 ungefähr 9 Prozent der Stimmen und 23 Sitze in der Lok Sabha gegenüber 8 Sitzen, die sie vor den Wahlen innehatte. Die Volkssozialistische Partei erhielt lediglich 3 Prozent der Wählerstimmen und 13 Sitze im Parlament gegenüber 7 Prozent der Stimmen und 12 Sitzen im Jahre 1962. Die Kommunistische Partei Indiens errang bei den Wahlen zur Lok Sabha

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4,9 Prozent der Stimmen und 23 Sitze (außerdem wurde ein Abgeordneter als „Unabhängiger" gewählt), die KPI(M) entsprechend 4,5 Prozent der Stimmen und 19 Sitze. 1 1 Die Wahlen von 1967 widerspiegelten die weitere Stärkung solcher regionaler Parteien wie der DMK und des Akali Dal sowie eine gewisse Zunahme der MuslimLiga, die in einigen Staaten einen Einfluß hat, vor allem in Kerala und Tamilnad. Die allgemeine Stärkung der Oppositionsparteien bedeutete jedoch bei weitem nicht, daß eine unter ihnen herausragte, die in der Lage gewesen wäre, mit dem Kongreß im Maßstab des ganzen Landes zu konkurrieren. Wenn der I N K bei den Parlamentswahlen 41 Prozent der Stimmen erhielt, so bekam die nächste Partei nach ihm, der J a n a Sangh, lediglich 9 Prozent der Stimmen. In den verschiedenen Staaten nahmen unterschiedliche Oppositionsparteien an Bedeutung zu, vor allem gerade jeweils jene Partei, die 1967 den größten Einfluß unter den anderen Oppositionsparteien des betreffenden Staates hatte. Jedoch sogar die größeren Oppositionsparteien, sowohl die rechten als auch die linken, verfügten nach wie vor jeweils nur in ein bis zwei Staaten über einen beträchtlichen Einfluß. Gleichzeitig zeigten die Wahlen von 1967, daß gerade auf regionaler Ebene in einer ganzen Reihe von Staaten entweder einzelne Organisationen der sich als gesamtindisch betrachtenden Oppositionsparteien oder regionale Parteien in einem solchen Maße an Stärke gewannen, daß es ihnen möglich wurde, mit der Kongreßpartei zu konkurrieren und das Recht auf Bildung der Staatenregierungen für sich in Anspruch zu nehmen, jedoch in der Regel nicht auf sich allein gestellt, sondern in einer Koalition mit anderen weniger großen Parteien des betreffenden S t a a t e s . In zehn der damals siebzehn Staaten Indiens bekam die jeweils größte Oppositionspartei bei den Wahlen zu den Gesetzgebenden Versammlungen der Staaten im J a h r e 1967 von 18 bis zu 40 Prozent der Stimmen, während die Kongreßpartei in diesen Staaten von 30 bis zu 45 Prozent der Stimmen gewann. In neun der genannten Staaten (außer Gudscharat) wurden bald nach den Wahlen von 1967 Nicht-Kongreß-Koalitionsregierungen gebildet und in dem großen S t a a t Tamilnad eine Einparteienregierung der Partei DMK. Indessen behielt der I N K in acht Staaten und, was das wichtigste ist, im Zentrum die Macht, obwohl auch wesentlich weniger stabil als in der Vergangenheit. 11

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In den offiziellen Publikationen, die Angaben über die Zahl und den Anteil der Stimmen machen, die die K P I und die KPI(M) bei den Wahlen zur Lok Sabha von 1967 erhielten, gibt es eine Differenz. So wird in der Veröffentlichung Fourth General Election. An Analysis. Ministry of Information and Broadcasting (Government of India New Delhi August 7, 1967, S. 2) festgestellt, daß die KPI 7, 151 Mill. Stimmen oder 4,9 Prozent erhielt und die KPI(M) 6,507 Mill. Stimmen oder 4,5 Prozent. Indessen erhielt die K P I laut der Veröffentlichung India Goes to Polls, die von der gleichen Organisation im Februar 1971 herausgebracht wurde, sowie nach Presseangaben von 1971 im Jahre 1967 mehr, nämlich 7,564 Mill. Stimmen oder 5,2 Prozent während die KPI(M) danach weniger erhielt — 6,141 Mill. Stimmen oder 4,2 Prozent. Dieser Unterschied ist bei der Einschätzung der Ergebnisse beider Parteien bei den Wahlen von 1971 von einer gewissen Bedeutung.

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Anteil der Stimmen des INK und der jeweils größten Oppositionspartei in ausgewählten bei den Wahlen zu den Gesetzgebenden Versammlungen 1967 in Prozent Staat

INK

Uttar Pradesch _ 32 Madhja Pradesch 4 1 Gudscharat 45 Radschasthan 41 Orissa 30 Kerala 35 Westbengalen 40 Tamilnad 42 Pandschab 37 Bihar 33

Jana Sangh

Swatantra KPI(M) D M K

Akali Dal

Staaten

SSP

22 28 38 23 23 24 18 41 20 17,5

Der Umstand, daß in den verschiedenen Staaten Parteien unterschiedlicher und sogar entgegengesetzter Richtungen den zweiten Platz nach dem Kongreß einnahmen, erklärte sich vielfach aus dem oft spontanen und halbspontanen Charakter der Massenunzufriedenheit mit der Kongreßherrschaft. Es wirkte sich ebenfalls die Labilität jener Schichten der regionalen Bourgeoisie (der Staaten) und ihrer Organisationen aus, die in Opposition zur Kongreßpartei standen. In den Staaten, in denen die demokratische Bewegung entwickelt ist, traten bedeutende Gruppen von ihnen sowie die mit ihnen verbundenen Organisationen oft von progressiven Positionen aus auf, wie der Bangla-Kongreß in Westbengalen, die DMK in Tamilnad sowie teilweise auch in einer bestimmten Periode der Akali Dal im Pandschab und der B K D in Uttar Pradesch. Dort, wo die demokratische Bewegung schwach entwickelt war, wurden die oppositionellen Stimmungen der wachsenden nationalen Bourgeoisie (der Staaten), einschließlich der Kleinbourgeoisie, bisweilen von verschiedenen Rechtskräften ausgenutzt. In der Tätigkeit einiger regionaler Parteien, besonders wenn sie sich an den Staatenregierungen beteiligten, zeigten sich die ausbeuterischen Tendenzen der aufstrebenden Bourgeoisie, einschließlich der ländlichen Oberschicht, und bisweilen auch Verbindungen zu feudalen Kreisen. Manche dieser Parteien waren in dem einen oder anderen Maße durch das Kastenwesen oder andere rückständige soziale Auffassungen geprägt. Wie auch in etlichen anderen Parteien der besitzenden Klassen kamen Opportunismus und Korruption zum Ausdruck. Die nach den Wahlen von 1967 durch zum Kongreß in Opposition stehende Parteien gebildeten Koalitionsregierungen der Staaten waren ihrer Zusammensetzung nach oft sehr verschiedenartig, was vielfach ihre Labilität bedingte. In den Staaten Uttar Pradesch, Bihar und Pandschab kamen 1967 Koalitionsregierungen zustande, in die bei verschiedenen Zusammensetzungen sowohl linke (einschließlich der K P I ) als auch rechte sowie regionale Parteien Eingang gefunden hatten. In solchen Staatenregierungen, an denen der I N K nicht beteiligt war, sahen

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bedeutende gesellschaftliche Kreise einen Weg, politische und soziale Veränderungen durchzusetzen. Indessen konnten solche Regierungen nicht ohne die Unterstützung aller Hauptparteien gebildet werden, die in Opposition zum INK standen. Unter diesen spezifischen und vorübergehenden Bedingungen traten die KPI und eine Reihe anderer linker und demokratischer Parteien den Nicht-Kongreß-Koalitionsregierungen der genannten Staaten bei, obwohl an ihnen auch Rechtsparteien beteiligt waren, die jedoch keine vorherrschende Stellung inne hatten. Letztere gehörte gewöhnlich entweder regionalen Parteien wie dem Akali Dal im Pandschab und dem BKD in Uttar Pradesch oder der SSP in Bihar. Im Ergebnis der Aktivität der linken und demokratischen Parteien führten die Koalitionsregierungen in den genannten Staaten einige positive Teilmaßnahmen durch, hauptsächlich in der Sphäre der politischen und Bürgerrechte. Jedoch insgesamt wurde ihre Tätigkeit bald durch den Widerstand der Rechtsparteien sowie der Bürokratie faktisch blockiert. Infolge unvermeidlicher tiefer Widersprüche zwischen den Beteiligten an den Koalitionsregierungen in Uttar Pradesch, Pandschab und Bihar zerfielen diese Regierungen ungefähr ein Jahr nach ihrer Entstehung. Es entwickelten sich auch Widersprüche in der Regierung Westbengalens, die als Ergebnis einer erst nach den Wahlen von 1967 hergestellten Zusammenarbeit zwischen den konkurrierenden Vereinigungen linker und regionaler Parteien gebildet wurde. In der Partei Bangla-Kongreß vollzog sich eine Spaltung und ein Teil ihrer Fraktion in der Gesetzgebenden Versammlung trat gegen die Regierung auf. Dies gab dem Gouverneur des Staates, der die Zentralmacht repräsentierte, die Möglichkeit, die Regierung der Vereinigten Front abzusetzen, was in progressiven Kreisen als eine den Verfassungsnormen widersprechende Handlung angesehen wurde. Jedoch verfügte die Kongreßpartei in den genannten vier Staaten (Bihar, Westbengalen, Pandschab und Uttar Pradesch) nicht über ausreichende Positionen in den Gesetzgebenden Versammlungen, um die Staatenregierungen zu stellen. Lediglich in drei Staaten (Madhja Pradesch, Radschasthan, Harjana) wurden Kongreßregierungen neu gebildet, da die Nicht-Kongreßparteien und Gruppierungen, hauptsächlich gerade rechtsgerichtete, sich hier oft selbst als instabil erwiesen und der Einfluß der linken Parteien in diesen Staaten nicht groß war. In Kerala setzte die Regierung der Vereinigten Front, in welcher die KPI(M) vorherrschte und die zweitgrößte Partei die KPI war, ihre Tätigkeit fort. In Tamilnad fungierte eine Einparteienregierung der DMK. In Orissa existierte eine Koalitionsregierung der Rechtspartei Swatantra und der regionalen Partei Jana-Kongreß, die im Zuge einer Spaltung der Organisation des Nationalkongresses des Staates bereits vor den Wahlen von 1967 entstanden war. Im Staat Harjana wurden 1968 außerordentliche Wahlen zur Gesetzgebenden Versammlung durchgeführt. Dabei siegte der Nationalkongreß, der mehr Stimmen als 1967 erhielt (44 gegenüber 41 Prozent) und die Mehrheit der Sitze in der Gesetzgebenden Versammlung eroberte. In Madhja Pradesch und Radschasthan wurden schließlich als Ergebnis des Übertritts von Abgeordneten aus anderen Parteien und Gruppierungen in die Fraktion des INK erneut Kongreßregierungen gebildet. Die „Übertritte" (crossing the floor) von Abgeordneten von einer Partei zur anderen,

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bzw. genauer von einem entstandenen Regierungslager zur Opposition und umgekehrt, die sich manchmal vielfach wiederholten, wurden zu einer gewöhnlichen Erscheinung. Das trug sich in jenen Staaten zu, wo das Kräfteverhältnis zwischen dem Nationalkongreß und den anderen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien sowie zwischen letzteren labil war und die Übertritte ihrerseits die Labilität vertieften. Einige Koalitionsregierungen blähten sich maßlos auf. Ihre Führer waren bestrebt, die Mehrheit in den Gesetzgebenden Versammlungen durch die Einbeziehung einer möglichst großen Zahl von Abgeordneten, manchmal einige Dutzend, zu sichern. Es ist selbstverständlich, daß sich solche Regierungen als ineffektiv erwiesen.

6. Die außerordentlichen Wahlen zu den Gesetzgebenden Versammlungen einiger S t a a t e n im J a h r e 1969 Im Februar 1969 wurden außerordentliche Wahlen zu den Gesetzgebenden Versammlungen von vier großen Staaten, Westbengalen, Bihar, Pandschab und Uttar Pradesch, sowie des Staates Nagaland durchgeführt. In diesen Staaten, die sich von den nordwestlichen bis zu den nordöstlichen Grenzen des Landes erstrecken, sind fast 40 Prozent seiner Gesamtbevölkerung konzentriert, was diesen Wahlen eine erhebliche politische Bedeutung gab. Sie bestätigten insgesamt die Wahlergebnisse von 1967, zeigten jedoch auch gleichzeitig sich abzeichnende wichtige Veränderungen an. So erhielt die Kongreßpartei 1969 in drei Staaten etwas mehr Stimmen als 1967, und zwar in Westbengalen 42,4 gegenüber 41,3 Prozent, im Pandschab 39,3 gegenüber 37,4 Prozent, in Uttar Pradesch 33,5 gegenüber 32,1 Prozent. Das zeugte von einer gewissen Verschiebung zugunsten des I N K unter jenen gesellschaftlichen Schichten, die augenscheinlich von der Tätigkeit der sich als instabil erweisenden Nicht-Kongreß-Koalitionsregierungen enttäuscht waren. Diese teilweise Verlagerung ermöglichte es jedoch der Kongreßpartei bei weitem nicht, ihre Positionen in den Gesetzgebenden Versammlungen der genannten Staaten wiederherzustellen. Im Gegenteil, im Ergebnis der Wahlen verschlechterte sich hier deutlich ihre Gesamtlage. Im Kongreß wirkten die Rechtstendenzen weiter und die Unzufriedenheit des Volkes mit der herrschenden Partei, die sich bei den Wahlen von 1967 gezeigt hatte, blieb nicht nur im wesentlichen erhalten, sondern bekam jetzt auch eine stärker ausgeprägte demokratische Ausrichtung. Trotz eines gewissen Stimmenzuwachses für die Kongreßpartei in Westbengalen, Pandschab und Uttar Pradesch fielen ihr in den Gesetzgebenden Versammlungen der Staaten, in denen außerordentliche Wahlen durchgeführt worden waren, insgesamt 419 Sitze gegenüber 501 Sitze bei den Wahlen von 1967 zu. Die Kongreßpartei konnte ihre Vertretung lediglich in der Gesetzgebenden Versammlung des Staates Uttar Pradesch vergrößern. Aber auch hier bekam sie bei den Wahlen nicht die parlamentarische Mehrheit, und es gelang ihr nur mit größer Mühe, im weiteren eine Staatenregierung zustande zu bringen. In Westbengalen traten die Parteien, die zur 1967 gebildeten Koalitionsregierung gehörten, hauptsächlich die

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KPI(M), die KPI und der Bangla-Kongreß, diesmal bei den Wahlen gemeinsam auf. Sie bildeten eine Vereinigte Front, die einen Sieg davontrug, indem sie 43,5 Prozent der Stimmen und 210 von 280 Sitzen in der Versammlung errang. Ungeachtet einer gewissen Zunahme des Stimmenanteils der Kongreßpartei war ihre Vertretung in der Staatenversammlung jedoch stark — von 127 auf 55 Sitze — zurückgegangen. Das war vor allem eine Folge der Vereinigung der gegen sie im Wahlkampf auftretenden Parteien unter den Bedingungen des Mehrheitswahlsystems. Im Pandschab erfuhr die Partei Akali Dal eine wesentliche Stärkung. Sie erhielt 29 Prozent der Wählerstimmen und 44 (von 104) Sitzen in der Gesetzgebenden Versammlung gegenüber 24 Prozent der Stimmen und 29 Sitzen im Jahre 1967. Die Vertretung der Kongreßpartei ging demgegenüber von 47 Sitzen im Jahre 1967 auf 38 Sitze im Jahre 1969 zurück. In Bihar verlor der INK im Vergleich zu 1967 sowohl Wählerstimmen (30 gegenüber 33 Prozent) als auch Sitze in der Gesetzgebenden Versammlung (118 statt bisher 128 von 315 Sitzen). Hier wuchs einerseits der Einfluß des J a n a Sangh, der 16 Prozent der Stimmen und 34 Sitze gegenüber 11 Prozent der Stimmen und 26 Sitzen im Jahre 1967 erhielt,und andererseits der KPI, die 10 Prozent der Stimmen und 25 Sitze gegenüber 7 Prozent der Stimmen und 24 Sitzen bekam. Im Februar 1969 fanden ebenfalls die fälligen Wahlen im Staat Nagaland statt, in welchem keine eigene Staatenorganisation der Kongreßpartei existiert. Hier siegte die regionale Partei Nationale Organisation Nagalands. Im Ergebnis der Wahlen vom März 1969 in Pondicherry („Unionsterritorium", welches sich an den Staat Tamilnad anschließt) wurde dort eine Koalitionsregierung der DMK und der KPI gebildet. Die Beteiligung der S S P und der PSP an den Koalitionsregierungen in Uttar Pradesch und Bihar in den Jahren 1967/68 führte offensichtlich zu ihrer stärkeren Annäherung an einige Gruppen der besitzenden Klassen, als das früher der Fall gewesen war, was sich auf die politischen Positionen dieser Parteien in den genannten Staaten auswirkte. Gemeinsam mit einigen anderen Gruppierungen versuchten sie in Uttar Pradesch und Bihar, Wahlbündnisse ohne Beteiligung der KPI zu schaffen. Jedoch erlitten diese beiden Parteien bei den außerordentlichen Wahlen eine Niederlage. Es verringerten sich sowohl ihr Stimmenanteil als auch ihre Abgeordnetensitze in den Versammlungen. Bei einem unbedeutenden Zurückgang des Stimmenanteils der KPI in Uttar Pradesch und im Pandschab verringerte sich deren Vertretung in den Versammlungen dieser Staaten. Gegen die KPI traten auch solche Parteien auf wie die S S P und P S P (in Uttar Pradesch) sowie der Akali Dal (im Pandschab). Diese Parteien rechneten jetzt damit, erneut an die Macht zu gelangen, jedoch bereits ohne die KPI, die beiseite gedrängt werden sollte, und in zeitweiliger Bevorzugung einer Zusammenarbeit mit den Rechten. Ein wichtiges Ergebnis der außerordentlichen Wahlen von 1969 war die Niederlage der Partei J a n a Sangh an ihrer Hauptbasis, in Uttar Pradesch, sowie ihre Schwächung im Pandschab. Einige bürgerliche und kleinbürgerliche Schichten, die dem J a n a Sangh bei den Wahlen von 1967 ihre Unterstützung gegeben hatten, begannen sich jetzt mehr oder minder deutlich von dieser Partei mit ihrer reaktionären sozialen Zielsetzung im Interesse der Oberschicht der besitzenden Klassen und

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ihrer religiös-chauvinistischen Pogrompropaganda abzuwenden. Bei den Wahlen von 1969 gaben sie entweder der Kongreßpartei, besonders im Pandschab und teilweise in U t t a r Pradesch, oder der regionalen Partei BKD in U t t a r Pradesch den Vorzug. Die außerordentlichen Wahlen von 1969 in einer Reihe von Staaten zeigten zugleich das weitere Anwachsen der regionalen Parteien sowie in Westbengalen der Linksparteien, während sich der Masseneinfluß der Rechtsparteien abzuschwächen begann. In der Regel kam es zu einer weiteren Reduzierung der Vertretung der Kongreßpartei in den Versammlungen dieser Staaten.

7. Die S p a l t u n g der K o n g r e ß p a r t e i Im Ergebnis der Wahlen von 1967 und 1969 wurde offenbar, daß die Kongreßpartei (obwohl keine einzige Partei allein im gesamtindischen Maßstab mit ihr konkurrieren konnte), insbesondere bei einer Fortsetzung des bisherigen politischen Kurses, bei den folgenden Wahlen von 1972 nicht mehr in der Lage sein würde, sich die Mehrheit sowohl in den Gesetzgebenden Versammlungen vieler Staaten als auch im Zentralparlament zu sichern. Das stellte die Frage auf die Tagesordnung: entweder eine bestimmte Veränderung des politischen Kurses in progressiver Richtung, was eine Erweiterung des Masseneinflusses der herrschenden Partei ermöglichen würde, sowie eine Zusammenarbeit mit den fortschrittlichen Kräften außerhalb dieser Partei — oder aber eine Fortsetzung des seit der Mitte der sechziger J a h r e verfolgten Kurses, was faktisch einem weiteren Rechtsruck gleichkäme, da sich die Kongreßpartei in diesem Falle auf eine Zusammenarbeit mit den Rechtsparteien bis hin zur gemeinsamen Bildung von Koalitionsregierungen in den Staaten und im Zentrum einlassen müßte. Das würde die Errichtung eines rechtsgerichteten Regimes im Lande bedeuten und könnte große soziale und politische Erschütterungen zur Folge haben. Im Kampf um den weiteren politischen Kurs der Kongreßpartei kam es zu zwei Hauptgruppierungen in ihrer zentralen Führung. Das waren einmal die Anhänger der Ministerpräsidentin Indira Gandhi und zum anderen eine Gruppierung, die unter der Bezeichnung „Syndikat" bekannt ist. Im J a h r e 1969 entstand eine solche Lage, daß jede Entscheidung über die Frage des weiteren Kurses der Kongreßpartei unausweichlich die Verdrängung einer dieser beiden sich entgegenstehenden Gruppen nach sich ziehen mußte. Die Führer des „Syndikats" hatten äußerst starke und sogar vorherrschende Positionen in den obersten Leitungsgremien der Kongreßpartei, dem Arbeitsausschuß und dem Büro der Parlamentsfraktion. Sie hatten ebenfalls die Kongreßparteiorganisationen einiger Staaten hinter sich. Jedoch zeichnete sich das „Syndikat" nicht durch organisatorische Geschlossenheit aus. Die Anhänger der Ministerpräsidentin bildeten die Mehrheit in der Parlamentsfraktion der Kongreßpartei. In verfassungsmäßiger Hinsicht war das für die staatliche Führung von entscheidender Bedeutung. Wie später die indische Presse feststellte, wurde die Ministerpräsidentin hauptsächlich vom zentralen Staatsapparat unterstützt. Ihre Anhänger überwogen in den

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Kongreßorganisationen der meisten Staaten. Es gab auch eine Menge verschiedenartiger schwankender Elemente. Dazu gehörten auch einige Repräsentanten der oligarchischen Gruppierungen in den Staatenorganisationen der herrschenden Partei, die es in der einen oder anderen E t a p p e des innerparteilichen K a m p f e s im I N K f ü r sich als vorteilhaft empfanden, sich den Anhängern der Ministerpräsidentin, die den Sieg davongetragen h a t t e n , anzuschließen. Kennzeichnend f ü r die sozialpolitische H a l t u n g des „ S y n d i k a t s " war eine E r klärung des damaligen Präsidenten der Kongreßpartei, S. Nijalingappa, der im April 1969 die Arbeit der Staatsbetriebe kritisierte u n d dabei hervorhob, daß er „gegen die Schaffung von Großbetrieben im staatlichen Sektor allein zu dem Zweck, daß dies den sozialistischen Losungen entspricht", sei. 12 Eine wichtige Diskussion entfaltete sich u m die „Notiz zur Wirtschaftspolitik", die die Ministerpräsidentin der Tagung des Allindischen Kongreßkomitees (AICC) Anfang J u n i 1969 unterbreitete. In diesem Dokument wird von der Notwendigkeit sozialökonomischer Umgestaltungen gesprochen und die Nationalisierung der Banken vorgeschlagen. Das Dok u m e n t der Ministerpräsidentin erhielt die Zustimmung der Tagung des AICC, wobei die F ü h r e r des „Syndikats sich nicht dazu entschließen konnten, gegen die darin enthaltenen Vorschläge zu stimmen, zumal allein die A n n a h m e auf der Tagung des AICC bei weitem noch nicht ihrer Realisierung gleichkam. Die Ministerpräsidentin jedoch, die sich auf die Beschlüsse der Tagung des AICC stützte u n d ihr verfassungsmäßiges Recht nutzte, entfernte den Finanzminister, einen der führenden Konservativen, Morarji Desai von seinem Posten, der danach ebenfalls von seinem Posten als Stellvertretender Ministerpräsident z u r ü c k t r a t . Danach f a ß t e die Regierung am 19. J u l i 1969 den Beschluß über die Nationalisierung der 14 größten Privatbanken. Dieser Beschluß wurde gefaßt in einer Situation des scharfen K a m p f e s in der F ü h r u n g der herrschenden Partei u m die K a n d i d a t u r f ü r den Posten des Präsidenten der Republik nach dem Ableben des Präsidenten Zakir Hussain im Mai 1969. U n t e r den Bedingungen der sich im Lande entwickelnden politischen Krise erhielt die Stellung des Präsidenten eine besonders große Bedeutung, da er nach der Verfassung mit entscheidenden Vollmachten ausgestattet ist, die er gerade in einer Krisensituation nutzen k a n n . Der Präsident wird von den Abgeordneten des P a r l a m e n t s u n d der Gesetzgebenden Versammlungen der Staaten auf fünf J a h r e gewählt. Das „Syndikat", das über die Mehrheit im Büro der Parlamentsfraktion der Kongreßpartei verfügte, wies den Vorschlag der Ministerpräsidentin f ü r die K a n d i d a t u r auf diesen Posten zurück und stellte einen seiner Führer, Sanjiva Reddy, als K a n d i d a t e n der Kongreßpartei auf. In der Presse t a u c h t e n Meldungen auf, daß die F ü h r e r des „ S y n d i k a t s " m i t den Rechtsparteien in K o n t a k t getreten seien, damit diese S. R e d d y Unterstützung gewähren. Wie es in einer Erklärung des Sekretariats der K P I hieß, sollte die W a h l dieses Kandidaten zum Präsidenten „der erste Schritt bei der Vorbereitung der rechten Reaktion zur Eroberung der Macht im Z e n t r u m " sein. 13 Bezeichnend w a r " Statesman v. 29. 4. 1969.

13 New Age v. 27. 7. 1969.

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in dieser Hinsicht die Erklärung des damaligen Vorsitzenden der Kongreßpartei und eines der Führer des „Syndikats", S. Nijalingappa, vor den Präsidentschaftswahlen, daß er „nicht sagen kann", ob I. Gandhi bis zu den nächsten Parlamentswahlen im J a h r e 1972 in der Funktion des Ministerpräsidenten bleiben wird. 14 Die Anhänger der Ministerpräsidentin setzten sich für die Wahl von V. V. Giri, der vorher die Position des Vizepräsidenten inne hatte, zum Präsidenten ein (nach der bisher üblichen Praxis wurde die Person, die diese Stellung einnahm, als Präsident gewählt, wenn der Posten des letzteren vakant wurde). Es wurde erklärt, daß die Wahlmänner der Kongreßpartei das Recht haben müssen, nach ihrem eigenen Ermessen abzustimmen. Von den anderen Parteien war die KPI die erste gesamtindische Partei, die für die Unterstützung Giris eintrat und eine Kampagne zugunsten seiner Wahl durchführte. Er erhielt ebenso die Unterstützung einer Reihe linker und regionaler Parteien und errang bei den Präsidentschaftswahlen, die im August 1969 stattfanden, den Sieg. Am 22. und 23. November 1969 versammelte sich die Mehrheit der Mitglieder des Allindischen Kongreßkomitees auf einer Tagung, die gegen den Widerstand der Exponenten des Syndikats einberufen worden war. Gemeinsam mit ihren Anhängern nahmen diese nicht daran teil. Auf der Tagung des AICC wurde ein neuer Präsident des Nationalkongresses gewählt und die Führungsorgane der Partei in einer neuen Zusammensetzung gebildet. Die Gruppierung des „Syndikats" wurde damit zu einer eigenen Partei, die jedoch gleichfalls Anspruch auf die Bezeichnung als Indischer Nationalkongreß erhob. In der indischen Presse begann man, sie gewöhnlich als Oppositionskongreß bzw. Organisationskongreß (Cong-0) im Unterschied zur herrschenden Partei zu bezeichnen, die den Namen Indischer Nationalkongreß behielt.

8 . Eine neue Situation Im Dezember 1969 wurde in Bombay die Jahrestagung der herrschenden Kongreßpartei durchgeführt. Die von ihr angenommene „Resolution zur Wirtschaftspolitik" sah insbesondere vor, den staatlichen Sektor in der Industrie weiterzuentwickeln, das allgemeine Versicherungswesen zu nationalisieren, den Import allmählich in die Hände des Staates zu überführen, den staatlichen Großhandel mit den landwirtschaftlichen Hauptprodukten zu intensivieren, eine maximale Eigentumsgrenze in den Städten festzulegen, die kleinen und mittleren Unternehmer zu unterstützen, neue Mittel für die Entwicklung der Staaten zu gewähren und die Unterhaltszahlungen an die ehemaligen Fürsten einzustellen. In der Resolution der Bombayer Tagung wurde ebenfalls von der Notwendigkeit einer schnellen praktischen Umsetzung der Gesetzgebung über die oberste Grenze des Landbesitzes gesprochen, wobei die Führer der herrschenden Partei erklärten, daß diese oberste Grenze zukünftig gesenkt werden kann. K Statesman v. 23. 8. 1969.

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Wie die Zeitung „Times of India" feststellte, zielten die in der Bombayer Resolution vorgesehenen Maßnahmen, neben der Nationalisierung der wichtigsten Banken im Jahre 1969, hauptsächlich auf die „Heranziehung kleiner und neuer Unternehmer", auf „die Eroberung neuer Bündnispartner unter der weniger großen Bourgeoisie" ab. 15 Im Jahre 1970 ging die Regierung an die Durchführung einiger Maßnahmen, die in erster Linie auf die Förderung der kleinen und mittleren Unternehmer gerichtet waren. Im Zusammenhang damit wurden Teilbeschränkungen für die Tätigkeit der Monopole eingeführt. So wurde 130 der größten Gesellschaften der Bau von Betrieben in 41 Zweigen, in denen die maximalen Investitionen für einen Betrieb bis zu 10 Mill. Rupien ausmachen, vollständig verboten. Es wurde die Zahl der Zweige erhöht (von 55 auf 92), die für die Entwicklung der Kleinindustrie vorbehalten sind, und die Nomenklatur jener Waren erweitert, die die staatlichen Organisationen verpflichtet sind, nur bei Kleinbetrieben zu kaufen. Die Nationalisierung der Banken ermöglichte es, im Verlaufe eines Jahres die Zahl der Kleinbetriebe, die staatliche Kredite erhalten, von 38900 auf 81700 zu steigern. Nach indischen Pressemeldungen entfiel jedoch ein nicht geringer Teil der Kredite, die von den nationalisierten Banken gewährt wurden, auch auf große Gesellschaften. Von einigen Staatenregierungen wurde 1969/70 die Bodensteuer für die kleinsten Besitzungen gesenkt oder sogar abgeschafft. Dank der Nationalisierung der Banken wurde der staatliche Kredit auf dem Lande bedeutend erweitert. Jedoch wurde hauptsächlich aufgrund des Widerstandes der meisten Staatenregierungen, sowohl der Kongreß — als auch der Nicht-Kongreßregierungen, die Annahme neuer Gesetzeswerke über die Agrarreform mit Ausnahme des Staates Kerala, über den später noch etwas zu sagen sein wird, verschoben. Der IV. Fünfjahrplan (1969 bis 1974) wurde überprüft und der Anteil des staatlichen Sektors an der Gesamtsumme der geplanten Kapitalinvestitionen von 59 auf 66 Prozent erhöht. Diese, selbst von I. Gandhi als „gering" bezeichneten, 1969/70 von der Regierung durchgeführten progressiven Maßnahmen sowie die Verkündung eines neuen Programms der Kongreßpartei für soziale Umgestaltungen verstärkten bereits den Masseneinfluß der herrschenden Partei und insbesondere die persönliche Autorität von I. Gandhi. Indessen waren die Positionen der Kongreßpartei in den gesetzgebenden Organen sowohl im Zentrum als auch in vielen Staaten nach wie vor begrenzt und die politische Situation im Lande sehr angespannt. In den gesetzgebenden Organen blieb jenes parteipolitische Kräfteverhältnis erhalten, welches sich im Ergebnis der Niederlage des INK bei den Wahlen von 1967 und der Spaltung der herrschenden Partei herausgebildet hatte. Mit der Spaltung hatte die Kongreßpartei ihre parlamentarische Mehrheit verloren. Ihre Fraktion im Parlament umfaßte rund 220 Abgeordnete bei einer Gesamtzahl von 523 Abgeordnetensitzen. Die Fraktion des Organisationskongresses (Cong-O) « The Times of India v. 28. 12. 1969.

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in der Lok Sabha zählte gegen Ende 1970 65 Abgeordnete u n d war die zweitgrößte Fraktion. Der Cong-0 verfügte über wesentliche Positionen in den Gesetzgebenden Versammlungen von sechs der damals siebzehn Staaten des Landes, d. h . in einer wesentlich größeren Zahl von Staaten als jede andere Oppositionspartei. Jedoch in jenen Staaten, in denen die Leitungsorgane der ehemals einheitlichen Kongreßpartei fast vollständig oder zu einem bedeutenden Teil zum Cong-0 übergegangen waren, folgten die unteren Organisationen bei weitem nicht immer ihren F ü h r e r n . Aber das stellte sich nicht sofort heraus. Nach der Spaltung des I N K bildete sich immer deutlicher eine Gruppierung der rechten Parteien heraus: des Organisationskongresses, des J a n a Sangh u n d der Swat a n t r a , die sich den Sturz der Regierung I. Gandhi zum Ziel setzten. Sie beschuldigten die Ministerpräsidentin eines A t t e n t a t s auf die Demokratie und verdächtigten sie des „Kommunismus". Aus diesem Anlaß stellte übrigens I. Gandhi selbst fest, daß jene, die mit derartigen Behauptungen auftreten, „die vollständigste Ignoranz bezüglich der politischen K r ä f t e , die in unserem Land wirken, u n d des wahren Lebens in Indien von 1969 an den Tag legen." 1 6 Im Bereich der Parteipolitik begann m a n u n t e r den Führern der Rechtsparteien von der Notwendigkeit zu sprechen, sich an die Bedingungen eines Mehrparteiensystems anzupassen. Darunter verstand m a n folgendes. Die drei Rechtspartein verfügten lediglich über ein Viertel der Abgeordnetensitze in der Lok Sabha. Gegen Ende des J a h r e s 1970 h a t t e n sie 133 Sitze von 523, sie rechneten jedoch damit, andere Parteien u n d bestimmte Elemente innerhalb der herrschenden Kongreßpartei f ü r den Kampf gegen die Regierung zu ihren Zwecken zu nutzen. Obwohl die herrschende Partei infolge der Spaltung die parlamentarische Mehrheit verloren h a t t e , blieb die Regierung an der Macht, da sie die Unterstützung einer Reihe anderer Parteien erhielt. Konsequente Unterstützung f ü r die Regierung gegen den sich herausbildenden Block der Rechtsparteien leistete die Kommunistische P a r t e i Indiens. Unmittelbar nach der Spaltung der Kongreßpartei u n t e r s t ü t z t e n die Regierung auch alle wichtigen regionalen Parteien (der S t a a t e n ) : die DMK, der Bangla-Kongreß, der B K D , der Akali Dal und andere sowie ebenfalls die P S P und die Mehrheit der unabhängigen Abgeordneten. In der ersten Zeit t r a t e n die KPI(M) sowie etliche Abgeordnete der S S P aus unterschiedlichen Erwägungen nicht gegen die Regierung auf. Jedoch mit der Zeit begannen einige der Parteien u n d unabhängige Abgeordnete, die anfänglich die Regierung u n t e r s t ü t z t h a t t e n , gegen sie zu opponieren. Davon die einen von rechts wie z. B. der B K D und einige Unabhängige. Die anderen u n t e r opportunistischen und linksabenteuerlichen Losungen in der einen oder anderen Kombination wie die S S P und nach ihrer Art die KPI(M). Wie schon bemerkt wurde, nahm Mitte der sechziger J a h r e bei einem allgemeinen Anwachsen der Unzufriedenheit m i t der Herrschaft des I N K fast in jedem S t a a t gerade jene Oppositionspartei des betreffenden Staates mehr als die anderen zu, die dort bereits die bedeutendsten Positionen inne h a t t e . In Westbengalen u n d Kerala 16 Statesman v. 8. 8. 1969.

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war diese Partei die KPI(M). Sie nahm die vorherrschende Stellung in den Koalitionsregierungen der Vereinigten Front ein, die hier von 1967 bis 1969 von linken und regionalen Parteien gebildet worden waren. Die Bildung solcher Regierungen in Kerala und Westbengalen hatte eine wichtige Rolle gespielt. Sie trug zur politischen Aktivierung der Volksmassen bei, vor allem in diesen Staaten selbst, und stimulierte auch den Kampf der demokratischen Kräfte und eine progressive Entwicklung im gesamtindischen Maßstab. Es ist z. B. höchst kennzeichnend, daß gerade diese beiden Staatenregierungen ein Gesetzeswerk über eine radikale Agrarreform ausarbeiteten. Nach Pressemeldungen hatten in Westbengalen landlose Bauern aus eigenem Antrieb bereits vorher ungefähr 300000 Acre Land besetzt, die sich gesetzwidrig im Eigentum von Grundbesitzern befanden. Der Kampf der Werktätigen für ihre sozialen Forderungen und ihre dringenden Interessen, der sich unter den Regierungen der Vereinigten Front verstärkte, obwohl er oft noch halbspontanen Charakter trug, führte in der Tat zur Beseitigung verschiedenartiger feudaler und kolonialer Überbleibsel in den tagtäglichen gesellschaftlichen Beziehungen sowohl in der Stadt wie auch auf dem Lande und rüttelte die Volksmassen auf. Wenn die Bildung und Tätigkeit der Regierungen der Vereinigten Front, in denen die KPI(M) überwog, in vieler Hinsicht eine positive Bedeutung hatten, so brachte jedoch die Politik dieser Partei insgesamt ernste negative Folgen für die Linkskräfte mit sich. Die Führung der KPI(M) ging hauptsächlich von der regionalen Situation in Westbengalen und Kerala sowie von ihren engen Parteiinteressen aus und ließ das politische Kräfteverhältnis im Maßstab des ganzen Landes de facto unberücksichtigt. In Westbengalen und Kerala selbst nutzte die KPI(M) einige zeitweilige Vorteile, die sie aus der Verbindung der linken Position mit einer regionalen Orientierung zog, sowie ihren Einfluß im Staatsapparat zum Schaden jener Linkskräfte, vor allem der KPI, aus, die in ihrer Politik von der gesamtindischen Situation und der Notwendigkeit einer Zusammenarbeit aller progressiven und demokratischen Kräfte gegen die Reaktion ausgingen. Eine solche Haltung der KPI(M) führte zur Konfrontation zwischen den Beteiligten an den Regierungen der Vereinigten Front, obwohl keine wesentlichen Meinungsverschiedenheiten auf dem Gebiet der von ihnen angenommenen Aktionsprogramme dieser Regierungen bestanden. Indessen waren die Regierungen der Vereinigten Front in Westbengalen und Kerala eben Koalitionsregierungen und konnten nur unter der Bedingung der Einheit aller Beteiligten funktionieren, vor allem der KPI(M) und der KPI in beiden Staaten und in Westbengalen auch des Bangla-Kongresses. Die Aktionen der KPI(M), die die demokratische Einheit verletzten, paralysierten die Tätigkeit der Regierungen der Vereinigten Front bei der Verwirklichung der von ihnen in Aussicht genommenen Umgestaltungen und spielten in Wirklichkeit den Interessen der Rechtskreise in die Hände. Andererseits befriedigte die Beteiligung der KPI(M) an den Regierungen der Vereinigten Front die extremistischen Kräfte innerhalb dieser Partei nicht, die von der maoistischen Führung der Volksrepublik China ermuntert und gefördert wurden und die jetzt mit Ausfällen auch gegen die KPI(M) auftraten.

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Diese Gruppierungen versuchten, B a u e r n a u f s t ä n d e in einigen e n t f e r n t e n Gebieten Westbengalens u n d A n d h r a s auszulösen. Einer dieser Versuche f a n d im Gebiet N a x a l b a r i in Westbengalen s t a t t . D a h e r werden die Mitglieder linksextremistischer Gruppierungen Indiens gewöhnlich als „ N a x a l i t e n " bezeichnet. In der K P I ( M ) k a m es zu einer Spaltung. Die aus der K P I ( M ) ausgeschiedenen G r u p p e n v o n E x t r e misten in einigen S t a a t e n , die verhältnismäßig größten in A n d h r a u n d Westbengalen, versuchten, sich zu vereinigen u n d eine eigene P a r t e i zu bilden, die sich K o m m u n i stische P a r t e i Indiens (Marxisten-Leninisten) n a n n t e . Obwohl die „ N a x a l i t e n " in einigen wenigen Regionen einen gewissen Masseneinfluß erringen k o n n t e n , gelang es ihnen nicht, sich irgendeine stabile Organisation zu schaffen. Ihre neue P a r t e i zerfiel bald in lokale Gruppierungen, die sich in der Regel feindlich gegenüberstanden. Ihre abenteuerlichen U n t e r n e h m u n g e n wurden niedergeschlagen. Das linke Abent e u r e r t u m n a h m i m m e r m e h r die F o r m von individuellem Terror an, der in einer Reihe von S t a a t e n , insbesondere in Westbengalen, v e r ü b t wurde. Gleichzeitig zeugten d a s A u f k o m m e n linksextremistischer Gruppierungen u n d eine b e s t i m m t e Verbreitung, die ihre Tätigkeit erfuhr, auf ihre A r t vom Anwachsen der sozialen Widersprüche u n d von der Zuspitzung der politischen Lage im Lande. I m S t a a t e Westbengalen waren die Aktionen der KPI(M) gegen die anderen Teiln e h m e r der Regierungskoalition m i t U n t e r d r ü c k u n g s m a ß n a h m e n v e r b u n d e n u n d lösten blutige Zusammenstöße zwischen den verschiedenen politischen Gruppierungen aus. Besonders zahlreich waren die Zusammenstöße zwischen den A n h ä n g e r n der K P I ( M ) u n d den verschiedenen S t r ö m u n g e n der N a x a l i t e n . Sie k ä m p f t e n u m die V o r h e r r s c h a f t in jenen Orten, wo die KPI(M) über Einfluß v e r f ü g t e . Der S t a a t s a p p a r a t in Westbengalen zerfiel immer mehr, verschiedene kriminelle u n d provokatorische E l e m e n t e t a u c h t e n auf u n d die Situation begann, einen anarchischen Char a k t e r a n z u n e h m e n . Dies alles versuchten die reaktionären K r ä f t e zur Diskredit i e r u n g der linken Bewegung im allgemeinen u n d der Regierungen der Vereinigten F r o n t in Westbengalen u n d Kerala im besonderen zu n u t z e n . In Westbengalen stürzte die Regierung der Vereinigten F r o n t im März 1970, als der Bangla-Kongreß, dessen F ü h r e r diese Regierung geleitet h a t t e n , aus der Koalition ausschied. Der S t a a t wurde der Präsidialherrschaft unterstellt, d. h. der zeitweiligen u n m i t t e l b a r e n M a c h t a u s ü b u n g durch die Zentralregierung. In den S t a a t wurden Polizeikräfte, die der Zentrale subordiniert waren, u n d später auch Armeeeinheiten verlegt. Gleichzeitig sanktionierte die Zentralregierung im J a n u a r 1971 das neue Gesetz ü b e r die Agrarreform in Westbengalen. Das war ein Ergebnis des Aufschwungs des Massenkampfes der W e r k t ä t i g e n u n t e r der Regierung der Vereinigten F r o n t u n d der von ihr begonnenen Vorbereitung zu einer neuen Agrargesetzgebung. In Kerala v e r m o c h t e n es die progressiven K r ä f t e letztendlich, die d u r c h die Aktionen der KPI(M) ausgelöste negative Entwicklung zu verhindern. Die K P I ( M ) , die den Posten des Chefministers sowie andere Ministerposten in der Regierung d e r Vereinigten F r o n t des S t a a t e s Kerala inne h a t t e , versuchte auch hier, in ihrem engen Parteiinteresse zu handeln u n d die anderen Teilnehmer aus der Koalition zu verdrängen. Dies gelang jedoch nicht. Im O k t o b e r 1969 wurde in Kerala eine neue R e -

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gierung der Vereinigten Front mit demFührer derKPI, AchuthaMenon, an der Spitze ohne Teilnahme der KPI(M) und trotz dieser gebildet. Letztere kämpfte gegen diese Regierung ebenso wie die regionalen Rechtsgruppierungen und die S S P . Während dabei der Organisationskongreß gegen die neue Regierung der Vereinigten Front auftrat, unterstützte die herrschende Kongreßpartei diese Regierung und beteiligte sich 1971 an ihr. Die Regierung A. Menon nahm sich energisch der praktischen Verwirklichung des Programms der Umgestaltungen an, das bereits 1967 von den Parteien der Vereinigten Front ausgearbeitet worden war. Das radikale Gesetz über die Agrarreform wurde ohne Verzögerung dem Präsidenten (d. h. der Zentralregierung) zur Bestätigung vorgelegt und trat beginnend mit dem 1. Januar 1970 in Kraft. Wenn die Rechtsparteien unter den Bedingungen Westbengalens und Keralas keine wesentliche selbständige Rolle spielten, so sah das in den meisten anderen Staaten und dementsprechend im Maßstab des ganzen Landes anders aus, insbesondere nach der Spaltung des I N K und der faktischen Bildung eines Blocks der Rechtsparteien. Unter Ausnutzung ihrer Positionen vor allem in den gesetzgebenden Organen sowohl im Zentrum als auch in einer ganzen Reihe von Staaten und mit Unterstützung der Oberschicht der besitzenden Klassen waren die Rechtsparteien bestrebt, zum Angriff überzugehen. Vornehmlich ging es ihnen darum, die von der Regierung festgelegten progressiven Maßnahmen zu vereiteln, um ihr eine Niederlage zu bereiten und im Volk Enttäuschung hervorzurufen. So errang die Regierung nur mit Mühe eine Zweidrittelmehrheit in der Lok Sabha r die für die Annahme eines Zusatzes zur Verfassung notwendig ist, um den ehemaligen Fürsten ihre Pensionen („privy purses") und Privilegien zu nehmen. Sie konnte eine solche Mehrheit jedoch nicht im Oberhaus (Rajya Sabha — „Staatenkammer") erreichen. Die entsprechende Verfügung des Präsidenten, die diese Maßnahme in Kraft setzen sollte, wurde durch das Oberste Gericht annulliert. Bereits 1969 wurde im Ergebnis der vom Obersten Gericht bezogenen Haltung den Besitzern der nationalisierten Großbanken die ohnehin nicht geringe Entschädigung erhöht. Mit der Spaltung der herrschenden Partei im Jahre 1969 gerieten die Staatenregierungen von Gudscharat und Maisur in die Hände des Organisationskongresses. 1970 brachten die Rechtsparteien, indem sie den B K D auf ihre Seite zogen sowie die S S P und auch konservative Elemente im I N K selbst ausnutzten, rechte Koalitionsregierungen in zwei weiteren großen Staaten, in Uttar Pradesch und Bihar, zustande. Außerdem regierte seit 1967 im Staat Orissa eine rechte Koalition mit der Swatantra an der Spitze. Die Bevölkerung der genannten fünf Staaten beträgt 40 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes. Indessen existierten Regierungen der Kongreßpartei lediglich in acht Staaten, deren Bevölkerung 36 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes ausmacht. In vier Staaten regierten Regierungen der linken und regionalen Parteien, die die Zentralregierung unterstützten (Kerala, Tamilnad, Pandschab und Nag^land). Zusammen mit Westbengalen, wo die „Präsidialherrschaft" eingeführt worden war, betrug die Einwohnerzahl dieser Staaten 24 Prozent der Bevölkerung des Landes. Die Offensivmanöver der Rechtskräfte drohten, die Positionen der herrschenden Partei in den gesetzgebenden Organen noch mehr einzuschränken. So führten die

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im März 1970 abgehaltenen Wahlen für ein Drittel der Abgeordnetensitze in der R a j y a Sabha, dem Oberhaus der Volksvertretung (es wird von den Abgeordneten der Gesetzgebenden Versammlungen der Staaten gewählt), zu einer Verringerung der Kongreßfraktion von 103 auf 88 (von insgesamt 240 Sitzen in der Staatenkammer), während sich die Vertretung der Rechtsparteien vergrößerte. Dies geschah in bedeutendem Maße aufgrund der Sabotage rechter Elemente in einigen Staatenorganisationen der Kongreßpartei. Zwar gelangen den Rechtskräften ihre Manöver in den Gesetzgebenden Versammlungen, dagegen begann jedoch gleichzeitig ihr Einfluß im Volk zurückzugehen. Nach der Spaltung des I N K und der Durchführung gewisser progressiver Maßnahmen durch die Regierung I. Gandhi löste sich die bisherige Atmosphäre des „Antikongressismus" auf. Ihr Widerstand gegen die progressiven Maßnahmen der Regierung I . Gandhi offenbarte die Rechtsparteien deutlicher als bisher als Verfechter der Interessen gerade der Oberschicht der besitzenden Klassen, der Reichen. Davon zeugen beispielsweise die Ergebnisse von Umfragen, die 1970 vom Indischen Institut für die öffentliche Meinung durchgeführt wurden. Die überwiegende Mehrheit jener, die eine Antwort auf die Frage geben konnten, wessen Interessen die eine oder andere Partei vertritt, sagte, daß der Organisationskongreß und der J a n a Sangh (ganz zu schweigen von der Swatantra) die „Reichen" verteidigen, die K P I und K P I ( M ) die „Armen", während es in bezug auf den Nationalkongreß in Übereinstimmung mit den Traditionen der nationalen Rewegung größtenteils hieß, daß er „alle" vertritt. Auch die Ergebnisse der 1970 stattgefundenen Nachwahlen für einzelne Abgeordnetensitze in den Gesetzgebenden Versammlungen verschiedener Staaten und in der Lok Sabha fielen hauptsächlich zugunsten der Kongreßpartei aus. Somit entsprach das Kräfteverhältnis in den gesetzgebenden Organen, in denen die Rechtsparteien erfolgreich manövrieren konnten, nicht mehr dem neuen politischen Kräfteverhältnis im Lande nach der Spaltung der herrschenden Partei. Unter diesen Bedingungen faßte die Regierung den Beschluß über die Auflösung des Parlaments zum 27. Dezember 1970 und über die Durchführung von Neuwahlen für März 1971, d. h. ein J a h r vor dem turnusgemäßen Termin.

9. D i e außerordentlichen P a r l a m e n t s w a h l e n v o n 1 9 7 1 u n d die W a h l e n für die Gesetzgebenden V e r s a m m l u n g e n der S t a a t e n v o n 1 9 7 2 — eine Niederlage der R e c h t s p a r t e i e n Es wurde schon darauf verwiesen, daß der Kongreßpartei bei den Parlamentswahlen in der Periode von 1952 bis 1967 alle Oppositionsparteien entgegenstanden, die dabei in der Regel den Kampf untereinander führten. Bei den Wahlen von 1971 sah die Sache in vieler Hinsicht anders aus. Bei diesen Wahlen entfaltete sich der Hauptkampf zwischen zwei großen, wenn auch nach ihrer Struktur nicht ähnlichen Gruppierungen politischer Parteien. J e t z t ließ sich der Kongreß in einzelnen Staaten erstmals auf eine Zusammenarbeit mit der K P I sowie mit einigen regionalen und

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kleinen Parteien wie der DMK, der Muslim-Liga u. a. ein. Andererseits bildeten die Rechtsparteien J a n a Sangh, Cong-0 und Swatantra einen Block, der die anspruchsvolle Bezeichnung „Große Allianz" („Grand Alliance") erhielt. Ihm schloß sich die S S P an, die ihrer Politik des „totalen Antikongressismus" treu blieb. Im Wahlmanifest der Kongreßpartei 17 wurde vor allem die Notwendigkeit von Verfassungsänderungen für die Durchführung sozialökonomischer Umgestaltungen hervorgehoben. Die Kongreßpartei versprach, einen Aufschwung des materiellen Wohlstandes der Volksmassen anzustreben, und stellte die Losung „Fort mit der Armut!" auf. Mit ihrer Zusage, das Anwachsen der sozialökonomischen Ungleichheit zu verhindern, deklarierte die Kongreßpartei, wie auch früher, den „Sozialismus" zu ihrem Ziel. Gleichzeitig erklärte die herrschende Partei, daß sie für eine „gemischte Ökonomie" und für die Beibehaltung des Privateigentums in „vernünftigen Grenzen" eintritt. Außer den eigentlich rechten Parteien bezog die Mehrheit der anderen Parteien im wesentlichen analoge Positionen, unabhängig davon, ob sie bei den Wahlen mit der Kongreßpartei zusammenarbeiteten (wie die DMK) oder außerhalb der Hauptgruppierungen auftraten (wie der Akali Dal, der Bangla-Kongreß u. a.) oder sogar mit den Rechtsparteien kollaborierten (wie die SSP). Schon dies zeugte offenkundig von dem im Volk vorherrschenden Streben nach sozialen Umgestaltungen. In den Manifesten der Mehrheit der Parteien wurde die Notwendigkeit der Entwicklung der autonomen Rechte der Staaten betont. Das wurde vor allem von den regionalen Parteien (der Staaten) hervorgehoben, die gleichzeitig von der Wichtigkeit einer festen staatlichen Einheit des Landes sprachen. Im Manifest des I N K wie auch der Mehrheit der anderen Parteien wurde die Treue zur Politik der Nichtpaktgebundenheit unterstrichen. Im Manifest der K P I wurde als politische Hauptaufgabe bei den Wahlen die Zerschlagung der rechten Reaktion und des Kommunalismus, „die Konsolidierung und Erweiterung der linken und progressiven Kräfte" gestellt. Die K P I verwies auch darauf, daß „die Reaktionäre innerhalb der herrschenden Kongreßpartei und der Verwaltung systematisch bestrebt sind, eine progressive Umorientierung der Politik zu verhindern". Die K P I trat bei den Wahlen mit ihrem Programm sozialer Umgestaltungen auf, das beispielsweise vorsah: „die Nationalisierung der Monopolkonzerne" und des Auslandskapitals, vor allem der ausländischen Erdölgesellschaften und ausländischen Banken, „die schnelle Erweiterung des staatlichen Sektors, damit er eine entscheidende Rolle in der Wirtschaft spielt, sowie seine Demokratisierung . . . eine drastische Reduzierung der heute bestehenden maximalen Grenzen für den Besitz an Land". Die K P I erklärte, daß sie eine „strikte Einschränkung" des Eigentums der Monopolherren, Fürsten und Großgrundbesitzer anstrebt, jedoch „nicht für eine Abschaffung des Rechts auf Eigentums eintritt", sondern im Gegenteil „forderte, das Eigentum, soweit es um den einfachen Menschen, einschließlich des Kleineigentümers geht, gegen die Angriffe der Kapitalisten, Grundbesitzer, Wu17

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Die Wahlmanifeste der politischen Parteien werden zitiert nach: Election Manifestoes. 1971. New Delhi 1971. Politik in Indien

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cherer sowie auch der Regierung, die im Interesse dieser Ausbeuter wirkt, voll und ganz zu schützen". Die KPI(M) setzte sich in ihrem Manifest für gesellschaftliche Umgestaltungen gleichen Charakters ein. Sie rief jedoch die Wähler dazu auf, „gegen beide Parteiengruppierungen zu stimmen." Dabei konzentrierte die KPI(M) ihre Kritik hauptsächlich gegen die Kongreßpartei sowie die K P I und streifte die Rechtsparteien lediglich im Vorübergehen. Das oben charakterisierte regionalistische Herangehen der K P I (M) führte dazu, daß ihr Wahlmanifest das einzige war, in dem die Forderung nach Entwicklung der autonomen Rechte der Staaten nicht mit dem Problem der Vollmachten der Zentralregierung in Verbindung gebracht wurde. Darin wurde ohne Vorbehalt behauptet, daß „es in einem vielsprachigen Lande wie dem unseren für die Staaten eine natürliche Tendenz ist, sich gegenüber dem Zentrum durchzusetzen". Das zeugte davon, daß die KPI(M) immer mehr auf die Ausnutzung regionalistischnationalistischer Stimmungen setzte und selbst von solchen Stimmungen durchdrungen war. In den Wahlmanifesten der drei Rechtsparteien waren nur flüchtige Anmerkungen über „Reformen" enthalten, während der Hauptakzent auf alle möglichen Versprechungen einer beschleunigten ökonomischen Entwicklung überhaupt gelegt wurde. Der J a n a Sangh und die Swatantra erklärten direkt, daß sie gegen jegliche Korrektur der früher festgelegten Maximalgrenzen für den Landbesitz sind, während der Organisationskongreß lediglich an die Absicht erinnerte, die früheren Beschlüsse des I N K (bis zur Spaltung) zur Agrarreform zu verwirklichen. Die Reaktion war bestrebt, die verschiedenen religiösen, nationalen und Kastenwidersprüche und lokalen Interessen zu entfachen und auszunutzen. E s wurden Versuche zur Provozierung von Zusammenstößen zwischen religiösen Gemeinschaften unternommen. Im S t a a t Maharaschtra trat bei den Wahlen die in den letzten Jahren entstandene Organisation Shiv Sena aktiv in Erscheinung, die für die Vertreibung von aus anderen Staaten stammenden Indern aus Maharaschtra eintrat. Äußerst komplizierte und widersprüchliche Umstände bestimmten die Politik der herrschenden Kongreßpartei bei den Wahlen. Während der I N K in einer Reihe von Staaten auf eine starke Opposition vor allem seitens der rechten Parteien und in zwei Staaten seitens der KPI(M) traf, war die Lage der herrschenden Partei in den anderen Staaten ausreichend stabil, wobei verschiedene konservative Elemente in ihrer Führung, besonders auf der Ebene von Staaten, keinen geringen Einfluß behielten. Sie wirkten einer Zusammenarbeit zwischen dem I N K und der K P I bei den Wahlen entgegen. Zu einer Zusammenarbeit zwischen der Kongreßpartei, der K P I und einigen anderen Parteien kam es lediglich in einigen Staaten, zumeist dort, wo sich der I N K einer starken Opposition gegenübersah. Insgesamt stellte die Kongreßpartei ihre Kandidaten für 442 Abgeordnetensitze von den umstrittenen 518 Sitzen in der Lok Sabha auf, während sie früher ihre Kandidaten für fast alle Sitze nominiert hatte. Mit anderen Worten, sie beanspruchte jetzt ungefähr 80 Sitze nicht, sondern überließ diese jenen Parteien, mit denen sie Wahlvereinbarungen oder ein „gegenseitiges Einvernehmen" hatte. Lediglich in zwei Staaten, in Tamilnad und Kerala, sahen die Vereinbarungen zwischen der Kongreßpartei und den anderen

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Parteien, einschließlich der K P I , die Verteilung aller Wahlkreise zwischen den an der Vereinbarung Beteiligten vor. In einer Reihe weiterer Staaten stellte der I N K in einigen wenigen Wahlkreisen keine eigenen Kandidaten gegen die Kandidaten der K P I und einiger anderer Parteien auf. Ungeachtet der Begrenztheit der Wahlvereinbarungen zwischen der Kongreßpartei, der K P I und einigen anderen Parteien zeigte sich in ihnen die Tendenz zur Zusammenarbeit der progressiven und demokratischen Kräfte gegen die rechte Reaktion. Diese Zusammenarbeit war das Ergebnis des Anwachsens der demokratischen Bestrebungen und Forderungen der Volksmassen und spielte eine Rolle bei der Niederlage der Rechtsparteien in den Wahlen. Was die drei rechten Parteien und die S S P anbetrifft, von denen jede lediglich in einzelnen Staaten über mehr oder weniger bedeutende Positionen verfügte, so konnten sie sich ungefähr in 350 von 518 Wahlkreisen über eine gegenseitige Unterstützung einigen. Jedoch bekämpften sich die Beteiligten an dieser Allianz oft untereinander, gerade in jenen Fällen, wo zwei oder mehr von ihnen eine gewisse Stärke hatten und wo folglich die Zusammenarbeit bei den Wahlen für sie am wichtigsten gewesen wäre (besonders in Uttar Pradesch und in Bihar). Die Zwistigkeiten bei der Aufteilung der Kreise, die oft zum Zerfall der Allianz führten, widerspiegelten nicht nur die Konfrontation der Parteiinteressen, sondern auch tiefere Widersprüche. Während die Vereinigung des J a n a Sangh und der Swatantra mit relativ geringen Auseinandersetzungen innerhalb dieser äußerst rechten Parteien selbst erreicht wurde, rief die Herstellung eines Bündnisses des Organisationskongresses mit ihnen die ernsthafte Unzufriedenheit eines bedeutenden Teils seiner Funktionäre hervor, die in dem einen oder anderen Maße an den traditionellen Kongreßpositionen festhielten. Sie befürchteten nicht ohne Grund, daß das Bündnis mit den Parteien der äußersten Rechten jene Wähler, einschließlich der religiösen Minderheiten und niederen Kasten, vom Cong-0 abstoßen wird, die traditionell die früher einheitliche Kongreßpartei unterstützt hatten. Scharfe Gegensätze gab es auch innerhalb der S S P . Aufgrund der genannten Umstände kam es bei den Parteien der Allianz nicht zu einem gemeinsamen Programm. Sie traten lediglich mit einer gemeinsamen „Deklaration" auf, die aus allgemeinen Phrasen und hauptsächlich aus Angriffen auf die Regierung bestand. Zur Zeit der Wahlen erwiesen sich die Organisationen des Cong-0 und der S S P als erheblich zerrüttet. Die Swatantra Party besaß kaum untere Parteiorganisationen im eigentlichen Sinne und nutzte in der Vergangenheit bei den Wahlen hauptsächlich den traditionellen persönlichen Einfluß einer Reihe ehemaliger Fürsten und Grundbesitzer aus. Sie erhielt ebenfalls die Unterstützung einiger Großkapitalisten. Indessen begannen solche Vertreter der Oberschicht der besitzenden Klassen bei der Spaltung der Kongreßpartei verstärkt gerade eine parteimäßige Organisationsbasis für ihre Opposition gegenüber der Regierung zu suchen. Sie setzten hauptsächlich auf den J a n a Sangh und teilweise auf den Organisationskongreß. Das führte bereits vor den Wahlen in vielen Orten zum Zerfall der Swatantra. Von den rechten Parteien und Gruppierungen verfügte vor allem der J a n a Sangh über ein weitverzweigtes und zentralisiertes Netz von unteren Parteiorganisationen, das jedoch nur einige Staaten Nordindiens umfaßt. 4*

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Die oben festgestellten Schwächen des Blocks der Rechtsparteien ändern nichts an der Tatsache, daß diese Parteien bei den Wahlen von 1971 eine erheblich aktivere Unterstützung der Oberschicht der besitzenden Klassen als jemals zuvor erhielten. Obwohl es auch unter den Kandidaten des INK Vertreter der Großindustrie und in Einzelfällen sogar „loyale" Fürsten gab, traten dessenungeachtet fast alle ehemaligen Fürsten sowie etliche große Kapitalisten erstmals offen gegen die Kongreßpartei auf. Sie beteiligten sich entweder als direkte Kandidaten der Rechtsparteien oder als unabhängige Kandidaten mit Unterstützung der Allianz oder erwiesen der Allianz der Rechten eine wirksame Hilfe. Den von den Rechtsparteien aufgestellten bzw. unterstützten Kandidaten, oft selbst Reiche, standen als Kandidaten der Kongreßpartei und der regionalen Parteien hauptsächlich Politiker gegenüber, die aus den Mittelschichten stammten und als Kandidaten der K P I die Führer und Aktivisten der Massenorganisationen der Werktätigen. Während die Wahlkampagne der Kandidaten der Rechtsparteien, der großen Kapitalisten, Grundbesitzer und Fürsten, von allen möglichen bezahlten Agenten und Mitarbeitern getragen und von den Managern ihrer Firmen, von den Verwaltern der Fürsten usw. geleitet wurde, agitierten für viele Kandidaten des INK und der regionalen Parteien, ganz zu schweigen von den Kandidaten der K P I , ergebene Aktivisten und Anhänger dieser Parteien, die oft aus der Jugend kamen. Unter diesen Bedingungen erschienen die Wahlen von 1971 in einer Reihe von Orten als Kampf zwischen den Reichen und den Armen, was der Situation eine vorher nie dagewesene Schärfe und Gespanntheit verlieh. Dessenungeachtet h a t t e der Kampf der progressiven Kräfte bei den Wahlen faktisch hauptsächlich allgemeindemokratischen Charakter. Er richtete sich vor allem gerade gegen jene Oberschicht der besitzenden Klassen, des Großgrundbesitzertums, der Aristokratie und der Monopole, die am stärksten sowohl die Erhaltung des kolonialen und feudalen Erbes im Lande als auch die Entwicklung des Kapitalismus unter den Bedingungen einer lediglich schrittweisen Beseitigung dieses Erbes verkörperten. In einer Situation des Anwachsens der sozialen Forderungen und der demokratischen Bestrebungen der Volksmassen war die mit dem kolonialen und feudalen Erbe verbundene, sozusagen mit ihm verwurzelte, feudal-aristokratische und in nicht geringerem Maße auch monopolistische Oberschicht der besitzenden Klassen politisch getrennt von den breiteren Schichten der Bourgeoisie, die hauptsächlich gerade im Verlaufe der unabhängigen nationalen Entwicklung entstanden waren, was vor allem durch das Wachstum des staatlichen Sektors gewährleistet wurde. Daher gelang es den rechten politischen Gruppierungen und Vereinigungen nicht, die Staatsmacht an sich zu reißen, sie befanden sich in starkem Maße in der Isolation, wobei das Überwiegen von zahlreichen Vertretern der überlebten kolonialen und feudalen Struktur in diesen Gruppierungen und Vereinigungen ebenfalls ihre oben angeführten verschiedenartigen Schwächen im parteiorganisatorischen Bereich bedingten. Zuerst wurde die rechte Gruppierung des „Syndikats" innerhalb der herrschenden Partei selbst, dem Nationalkongreß, isoliert und erlitt eine Niederlage. Im weiteren geriet die Allianz der Rechtsparteien in die Isolierung und wurde zerschlagen, obwohl diese Parteien erstmalig versuchten, ihre Kräfte zu vereinigen.

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Der Nationalkongreß, der nach der Spaltung von 1969 an der Macht geblieben war und seinen politischen Kurs in progressiver Richtung modifiziert hatte, errang bei den Parlamentswahlen einen großen Sieg. Er erhielt 350 Sitze in der Lok Sabha gegenüber 228 Sitzen, über die er gegen Ende 1970 verfügt hatte, und gegenüber 279 Sitzen, die die herrschende Partei 1967 insgesamt, d. h. vor ihrer Spaltung, erhalten hatte. Indessen wuchs der Anteil der für den INK abgegebenen Wählerstimmen nur wenig: von 40,7 Prozent (59 Mill.) im Jahre 1967 auf 43,6 Prozent (63 Mill.) 1971; er war sogar geringer als 1957 und 1962, als der Kongreß 47,8 und 44,8 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Jedoch durch das Vorhandensein von Wahlvereinbarungen zwischen dem INK und einigen anderen Parteien und unter den Bedingungen des Mehrheitswahlsystems erwies sich dies als ausreichend, um der Kongreßpartei mehr als zwei Drittel (68 Prozent) der Gesamtzahl der Abgeordnetensitze in der Lok Sabha zu sichern. Eine solche Mehrheit ist für die Annahme von Verfassungsänderungen notwendig. Allerdings war der Anteil der Abgeordnetensitze des INK im Parlament im Vergleich zu 1957 und 1962 etwas niedriger. Sie hatte damals entsprechend 75 und 73 Prozent der Sitze erhalten. Es kann sein, daß bei den Wahlen von 1971 ein gewisser Teil der traditionell für den Nationalkongreß stimmenden Wähler sein Votum dem Organisationskongreß gegeben hat. Jedoch machte der Nationalkongreß diesen Verlust vollauf wieder gut. Die progressive Modifizierung des Kurses der herrschenden Partei ermöglichte es ihr, 1971 jene Wähler zurückzugewinnen, die ihr 1967 die Unterstützung versagt hatten, sowie, wie indische Beobachter feststellen, neue Wähler auf ihre Seite zu ziehen, insbesondere unter der Jugend und den Frauen. Die Kongreßpartei gewann ohne Zweifel die Stimmen vieler Wähler zurück, die 1967 für die regionalen Parteien gestimmt hatten, vor allem für jene Parteien, die seinerzeit als Ergebnis von Spaltungen in den Staatenorganisationen des INK entstanden waren, sowie für die Vereinigte Sozialistische Partei und die Volkssozialistische Partei, für einige unabhängige Abgeordnete und teilweise augenscheinlich sogar Stimmen von Wählern, die vordem für die Rechtsparteien gestimmt hatten. Neben den einfachen Menschen unterstützte den INK jetzt erneut ein bedeutender Teil jener bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten, die 1967 für eine Reihe von Oppositionsparteien, insbesondere regionale Parteien, die S S P und die P S P und in gewissem Maße auch rechte Parteien, eingetreten waren. Alle diese Umstände führten zu einem Mißerfolg für die meisten Oppositionsparteien, obwohl einige von ihnen trotzdem bedeutende Positionen in bestimmten Staaten beibehielten. Die Rechtsparteien erlitten eine schwere Niederlage. Die Gesamtvertretung der drei Rechtsparteien in der Lok Sabha ging auf ein Drittel zurück: von 131 Sitzen auf 46 Sitze (beim Organisationskongreß von 65 auf 16, bei der Swatantra von 44 auf 8 und beim J a n a Sangh von 36 auf 22). In ihrer Mehrheit wurden die ehemaligen Fürsten und Großkapitalisten, die bei den Wahlen als Kandidaten der Rechtsparteien auftraten bzw. diese unterstützten, wie auch fast alle führenden Köpfe der Rechtsparteien geschlagen. Bedeutend ging der Stimmenanteil der zwei Rechtsparteien zurück, die bereits an den Wahlen von 1967 teilgenommen hatten, und zwar

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beim Jana Sangh von 9,4 Prozent (14 Mill.) auf 7,5 Prozent (11 Mill.) und bei der Swatantra von 8,7 Prozent (13 Mill.) auf 3,0 Prozent (4 Mill.). Der Anteil dieser beiden Parteien zusammengenommen fiel von 18 Prozent (27 Mill.) auf 11 Prozent (14 Mill.). Der Organisationskongreß erhielt 10,6 Prozent (15 Mill.) der Stimmen. Diese Partei hatte mehr Kandidaten (239) als die Swantantra (58) und der Jana Sangh (154) zusammengenommen aufgestellt, jedoch lediglich 16 Sitze im Parlament gewonnen. Die drei Rechtsparteien bekamen gemeinsam ungefähr 30 Mill. (21 Prozent) Wählerstimmen, d. h. lediglich ungefähr die Hälfte der Stimmenzahl, die die Kongreßpartei auf sich vereinigte. Wenn der Cong-0 auch einen gewissen Teil der Wähler, die traditionell für den Nationalkongreß gestimmt hatten, auf seine Seite gezogen haben sollte, ist dessenungeachtet offensichtlich, daß er in erheblich größerem Maße jene Wähler für sich gewann, die früher ihre Stimme den äußerst rechten Parteien gegeben hatten, besonders der Swantantra sowie regionalen rechten Gruppierungen und unabhängigen rechten Kandidaten. Neben der Kongreßpartei brachten regionale und kleine Parteien, die sowohl mit der herrschenden Partei zusammenarbeiteten als auch außerhalb der Hauptgruppierungen der Parteien standen, einen gewissen Teil der demokratisch gesinnten Wähler hinter sich. Im Vergleich zu den Wahlen von 1967 wuchs der Stimmenanteil der verschiedenen regionalen bzw. kleinen Parteien von 10,1 Prozent (15 Mill.) auf 13,6 Prozent (20 Mill.), während sich ihre Gesamtvertretung im Parlament von 44 auf 53 Abgeordnete erhöhte. Jedoch hatte dies im Unterschied zu den Wahlen von 1967 auf das politische Hauptergebnis der Wahlen von 1971 keinen Einfluß. Um so mehr, als einige dieser Parteien, die bei den Wahlen von 1971 die Steigerung des gesamten Stimmenanteils und der Sitze der regionalen bzw. kleinen Parteien im Vergleich zu 1967 bewirkten, bald fast ganz von der Bildfläche verschwanden. Unter den regionalen und kleinen Parteien konnten jene Parteien ihre Vertretung im Parlament behalten bzw. etwas verbessern, die mit der Kongreßpartei zusammenarbeiteten, wie dieDMK, derKerala-Kongreß, die Muslim-Liga u. a. Gleichzeitig erlitten die anderen regionalen Parteien, besonders jene, die im Ergebnis von Spaltungen der Staatenorganisationen des INK um 1967 herum entstanden waren und bei den Wahlen von 1971 der herrschenden Partei den Kampf angesagt hatten, in der Regel in dem einen oder anderen Maße eine Niederlage (insbesondere der Akali Dal, der BKD, der Bangla-Kongreß und die Partei Vishai Haryana). In den Kongreß zurück kehrten, bereits nach den Wahlen, viele Führer und Anhänger solcher Parteien wie der Bangla-Kongreß und die Telengana Praja Samiti. Letztere hatte erstmals an den Wahlen von 1971 teilgenommen und 10 Sitze in der Lok Sabha erhalten. Gemäß der Größe ihrer Fraktion nahm sie den zweiten Platz unter den regionalen Parteien nach der DMK ein, die 24 Sitze bekommen hatte. Eine besonders ernste Niederlage erlitten die Vereinigte Sozialistische Partei und die Volkssozialistische Partei. Der Stimmenanteil der SSP, die ein Bündnis mit den Rechtsparteien eingegangen war, ging von 4,9 Prozent (6,1 Mill.) auf 2,4 Prozent (3,5 Mill.) und der der PSP, die hauptsächlich außerhalb der Hauptgruppierungen der Parteien aufgetreten war, von 3,1 Prozent (4,5 Mill.) auf 1,0 Prozent (1,4 Mill.)

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zurück. Noch stärker verringerte sich die Vertretung dieser Parteien in der Lok Sabha: bei der SSP von 23 im Jahre 1967 auf 3 Sitze und bei der PSP von 13 auf 2 Sitze. Nach den Wahlen unternahmen die SSP und die PSP einen ihrer üblichen Versuche zur Vereinigung, in dessen Ergebnis die Sozialistische Partei gegründet wurde. Bald jedoch lehnten einige Führer der SSP eine Vereinigung mit der PSP ab, ihre Gruppierung tritt weiterhin unter dem Namen der SSP auf. Als widersprüchlich erwiesen sich die Wahlergebnisse für die KPI(M), die eine Stärkung des regionalen Charakters dieser Partei zeigten. Sie vermehrte ihre Vertretung in der Lok Sabha, indem sie 25 Sitze gegenüber ihren bisherigen 19 Sitzen erhielt und auch mehr Stimmen bekam: 7,2 Mill. (5 Prozent) gegenüber 6,5 Mill. (4,5 Prozent) im Jahre 1967. Die Vergrößerung der Fraktion der KPI(M) in der Volkskammer vollzog sich jedoch ausschließlich über eine vergrößerte Vertretung dieser Partei aus dem Staat Westbengalen und dem von Bengalen besiedelten Unionsterritorium Tripura. In diesen Gebieten wurden 22 der 25 Abgeordneten der KPI(M) gewählt. Indessen verringerte sich die Vertretung der KPI(M) aus den anderen Staaten von 14 auf 3 Abgeordnete und ihre Fraktion im Parlament nahm einen vorwiegend regionalen Charakter an. 62 Prozent aller Wähler, die ihre Stimme für die KPI(M) abgegeben hatten, waren in Westbengalen konzentriert und weitere 22 Prozent in Kerala. Jedoch wurden in Kerala nur 2 Abgeordnete dieser Partei gegenüber 9 im Jahre 1967 gewählt. Während sich dabei die von der KPI(M) erhaltene Stimmenzahl in Westbengalen im Vergleich zu 1967 um mehr als das Doppelte von 2 Mill. (16 Prozent) auf 4,5 Mill. (35 Prozent) stark erhöhte und auch in Kerala um einiges anwuchs, von 1,5 Mill. auf 1,6 Mill. (22 Prozent), ging die Stimmenzahl dieser Partei in den übrigen Staaten im Vergleich zu 1967 stark zurück: insgesamt von 3 Mill. auf 1,1 Mill., d. h. auf wenig mehr als ein Drittel. Der Erfolg der KPI(M) bei den Wahlen von 1971 in Westbengalen veränderte die Lage sogar in diesem Staate nicht grundsätzlich und festigte die Positionen der KPI(M) nicht. Im Gegenteil, ihre Lage hatte sich im Vergleich zu jener Zeit deutlich verschlechtert, als zu Beginn des Jahres 1969 in Westbengalen eine Koalitionsregierung der linken und demokratischen Parteien gebildet worden war. Im Ergebnis der Wahlen zur Gesetzgebenden Versammlung des Staates Westbengalen, die 1971 gleichzeitig mit den Wahlen zur Lok Sabha stattfanden, erhöhte die KPI(M) ihre Vertretung in der Versammlung des Staates. Sie konnte jedoch nicht die Mehrheit der Sitze erringen und keine Staatenregierung bilden, da sie nicht die Unterstützung einer Reihe anderer Linksparteien erhielt. Der Generalsekretär der KPI, Rajeswara Rao, erklärte dazu, daß man zweifellos der KPI(M), „wenn man diese Partei in die Lage der regierenden Partei bringt, bevor sie ihre Politik korrigiert hat, bei der Ausnutzung des Staatsapparates zu den gleichen Zwecken helfen würde, zu denen sie ihn 1969 auszunutzen begonnen hat." 18 Bei den Wahlen zur Gesetzgebenden Versammlung von Westbengalen im Jahre 1972 erlitt die KPI(M) schwere Verluste; sie bekam insgesamt 14 Sitze gegenüber 80 Sitzen im Jahre 1969 und 112 Sitzen im Jahre 1971. Letztendlich geschah das, « New Age v. 4. 4. 1971.

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weil sie sich gegenüber den anderen progressiven Kräften in eine Selbstisolierung begab und eine sich selbst diskreditierende Politik durchführte, die dem objektiven Erfordernis nach einer Zusammenarbeit dieser Kräfte widersprach. Daher erwies sich die Stärkung dieser Partei selbst in Westbengalen und Kerala als labil und wurde durch eine Niederlage abgelöst, ganz zu schweigen von ihrer Niederlage in den anderen Staaten. Während im Ergebnis der Wahlen von 1971 fast alle mehr oder weniger großen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien außer dem INK in dem einen oder anderen Maße, zumeist jedoch sehr wesentlich, geschwächt wurden, konnte die Kommunistische Partei Indiens ihre Positionen gerade als gesamtindische Partei halten, obwohl der Grad ihres Einflusses in den verschiedenen Staaten schwankte. Die KPI erhielt genau wie vorher 23 Sitze im Parlament. Außerdem wurde ein unabhängiger Kandidat mit ihrer Unterstützung gewählt. Für die KPI stimmten 7059000 Wähler gegenüber 7151000 im Jahre 1967. Der Stimmenanteil der KPI erhöhte sich sogar leicht von 4,85 Prozent auf 4,89 Prozent. Es ist wichtig, daß die KPI fast die gleiche Anzahl von Stimmen erhielt wie 1967, obwohl sie weniger Kandidaten, 85 gegenüber 110, nominiert hatte. In 25 Wahlkreisen stellte die Kongreßpartei keine Kandidaten gegen die KPI auf, die ihrerseits die Wahl der Kandidaten des INK in einer ganzen Reihe von Kreisen unterstützte. Gleichzeitig wetteiferten die Kandidaten dieser beiden Parteien bei den Wahlen in 60 Kreisen miteinander. Im Durchschnitt erhielt jeder der 86 Kandidaten der KPI 83000 Wählerstimmen. Neben einem gleichen Durchschnittswert bei der KPI(M) (84000), den sie allerdings lediglich auf Kosten der zwei Staaten Westbengalen und Kerala bekam, ist dies ein erheblich höheres Votum als bei den anderen sich als gesamtindisch betrachtenden Parteien mit Ausnahme der Kongreßpartei, bei der für jeden ihrer Kandidaten durchschnittlich 114000 Wähler stimmten. Bei den Wahlen von 1971 brachte die KPI in acht Staaten Abgeordnete für die Lok Sabha durch. Insgesamt bestätigten die Wahlen von 1971, daß die KPI in den meisten Staaten über Positionen verfügt und als eine gesamtindische Partei von wachsendem Einfluß wirkt. Die politischen Ergebnisse der Wahlen zum Parlament im Jahre 1971 erfuhren ebenfalls bei den Wahlen zu den Gesetzgebenden Versammlungen von 16 Staaten und zwei Unionsterritorien im März 1972 ihre Bestätigung. Gewählt wurde in den Staaten Andhra, Assam, Bihar, Gudscharat, Dschammu und Kaschmir, Westbengalen, Madhja Pradesch, Maisur, Manipur (1972 gebildet), Maharaschtra, Meghalaja (1972 gebildet), Pandschab, Radschasthan, Tripura (1972 gebildet), Harjana, Himatschal Pradesch sowie in den Unionsterritorien Delhi und Goa, Daman und Diu. Die Kongreßpartei erhielt in den Versammlungen von 15 Staaten die Mehrheit, in den Versammlungen von 11 Staaten bekam sie mehr als zwei Drittel der Sitze. Zusammengenommen fielen auf den INK ungefähr 71 Prozent der Sitze, 1925 gegenüber 1382 Sitzen, die er vor den Wahlen innegehabt hatte. Der Kongreß erlangte lediglich in zwei kleinen neu gebildeten Staaten im Nordosten, in Meghalaja und Manipur, sowie im Unionsterritorium Goa, Daman und Diu keine Mehrheit der Sitze. Der Stimmenanteil des INK betrug 44,6 Prozent, d. h. mehr als bei den Parlamentswahlen

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von 1971 (43,6 Prozent), während die Kongreßpartei früher bei den Wahlen zu den Gesetzgebenden Versammlungen der Staaten immereinen etwas geringeren Stimmenanteil errungen hatte als bei den Pariamentswahlen. Der Sieg des INK von 1972 wurde zweifellos durch den Ausgang der Krise auf dem indischen Subkontinent, der zur Bildung von Bangladesch geführt hatte, begünstigt. Die Vertretung der Rechtsparteien in den Versammlungen ging stark zurück, von 399 Sitzen vor den Wahlen auf 247 Sitze. Davon beim Organisationskongreß von 207 auf 88 Sitze, bei der Swatantra von 54 auf 16 Sitze und beim J a n a Sangh von 176 auf 105 Sitze. Die Anzahl der Sitze der Sozialistischen Partei ging von 117 auf 58 und die der KPI(M) von 128 auf 34 zurück. Die einzige Partei, die neben der Kongreßpartei ihre Positionen verbessern konnte, war die Kommunistische Partei Indiens, die mit dem INK in 6 von 16 Staaten sowie in Delhi Wahlabkommen eingegangen war. DieKPI errang bei den Wahlen 114 Sitze gegenüber den bisherigen 76 Sitzen. Seit der Mitte des Jahres 1972 gab es in 16 Staaten Einparteienregierungen der Kongreßpartei. Im Staat Kerala wirkte eine Koalitionsregierung unter Beteiligung derKPI, der Kongreßpartei, der Muslim-Liga und einiger anderer Parteien, während Tamilnad eine Einparteienregierung der regionalen Partei DMK hatte. In drei kleinen Staaten im Nordosten existierten Regierungen der regionalen Parteien. In der zweiten Hälfte des Jahres 1972 kam es erstmals seit einigen Jahren in keinem Staat zur Einführung der Präsidialherrschaft. In einer Resolution des Zentralen Exekutivkomitees der KPI über den Ausgang der Wahlen von 1971 wurde festgestellt: 1 9 „Die Lage nach den Wahlen kommt nicht etwa einer Rückkehr zur Vergangenheit gleich, sondern bietet immense Möglichkeiten für einen Linksruck im politischen Leben des Landes, wenn die Einheit der progressiven Kräfte innerhalb und außerhalb der herrschenden Kongreßpartei verwirklicht und der Weg der Mobilisierung der Massen, der Massenkampagne und des Massenkampfes beschritten werden. Das indische Volk ist völlig erwacht, genug erwacht, um niemals eine Rückkehr zur Vergangenheit zuzulassen. Das ist die zentrale Lehre, die sich aus den Wahlen ergibt." In der Resolution wird ebenfalls hervorgehoben: „Während die reaktionären Parteien weiterhin ihren Druck von außen ausüben werden, wird die herrschende Kongreßpartei selbst zu einer Arena des Kampfes zwischen den reaktionären und den demokratischen Elementen. In einer solchen Situation besteht die Hauptaufgabe der linken und demokratischen Kräfte innerhalb und außerhalb der Kongreßpartei darin, gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen, um die Manöver der Reaktion zu bekämpfen und zum Scheitern zu bringen." « Ebenda, v. 28. 3. 1971.

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10. Die ökonomische Politik zu Beginn der siebziger J a h r e Die Ereignisse von 1969 bis 1972 führten zur Verstärkung der progressiven Tendenzen in der ökonomischen Politik. Wenn sich der staatliche Sektor früher fast ausschließlich über den Bau von neuen Betrieben durch den Staat ausdehnte, so vollzieht sich nun seine Entwicklung auch durch gezielte Nationalisierung, beginnend mit der Nationalisierung der 14 größten Privatbanken im Jahre 1969. Im Herbst 1971 wurde das Gesetz über den 25. Zusatz zur Verfassung angenommen: Parlament und Gesetzgebende Versammlungen der Staaten erhielten das Recht auf Nationalisierung von Privateigentum „zwecks Verwirklichung der Leitprinzipien der Verfassung", welche die Herstellung sozialer Gerechtigkeit vorsehen. Damals wurden auch nach dem Gesetz über den 24. Zusatz zur Verfassung die Pensionen („privy purses") und Privilegien der ehemaligen Fürsten abgeschafft. Von 1971 bis 1973 wurden die Kohlebergwerke nationalisiert. Diese Maßnahme ist äußerst aufschlußreich. Viele Jahre lang investierten die privaten Kohlegesellschaften, die oft mit Monopolen verflochten waren, so gut wie kein Kapital zur Entwicklung dieser Schlüsselindustrie, in welcher rund 400000 Menschen beschäftigt sind. Trotz des dringenden Bedarfs an Kohle nahm ihre Förderung nicht zu, sondern sogar ab - von 79 Mill. t im Jahre 1969 auf 76 Mill. t im Jahre 1970. Die Kohlegesellschaften lehnten faktisch den Vorschlag der Regierung über eine beträchtliche Erhöhung der Kohleförderung ab und verlangten, der Staat solle ihnen den größeren Teil der Mittel für die Modernisierung der Kohleindustrie zur Verfügung stellen. Als dann die Regierung den Beschluß über die Nationalisierung der Bergwerke faßte, betrieben die Besitzer Sabotage. Trotzdem stieg die Kohleförderung in den Jahren 1974—1975 auf 87 Mill. t oder um 11,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Nach der Nationalisierung wurden die Löhne erhöht, Überreste von sklavereiähnlichen Formen der Beschäftigung von Bergleuten, welche zu den am meisten ausgebeuteten Kategorien von Arbeitern zählten, wurden abgeschafft. 1972 kam die bislang größte Kupferproduktion an den Staat, sie war Eigentum einer britischen Kapitalgesellschaft, an der indische Monopolgruppen beteiligt waren. Nationalisiert wurde auch das Hüttenwerk „Indian Iron and Steel Company", ein großer Teil des Kapitals gehörte bereits dem Staat. 103 Textilfabriken, die zerrüttet waren, wurden über mehrere Jahre in staatliche Verwaltung genommen und 1974 nationalisiert. Das ist etwa ein Fünftel aller Betriebe dieses Zweiges. Unter staatliche Verwaltung kamen ebenso einige andere Betriebe der Leichtindustrie. Zugleich wurden neue staatliche Unternehmen in einigen Zweigen der Leichtindustrie gegründet; das bildet ein neues Element in der Entwicklung des staatlichen Sektors. 1972 brachten die staatlichen Betriebe insgesamt zum ersten Mal — und in den darauffolgenden Jahren fortgesetzt zunehmenden — Gewinn. In den Händen des Staates sind neue wichtige Hebel zur Mobilisierung von Finanzressourcen und Kreditmitteln konzentriert, die Monopole hingegen verlieren die

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Möglichkeit, willkürlich über diese zu verfügen. 1972 wurden 108 indische und ausländische Versicherungsgesellschaften unter staatliche Verwaltung gestellt; gleich den Privatbanken gehörten sie gewöhnlich Monopolvereinigungen. Nach der Nationalisierung der großen Privatbanken verdoppelten sich etwa, absolut gesehen, bis 1974 die Kredite für weniger große Unternehmen, und relativ gesehen stieg ihr Anteil an der Gesamtsumme der Kredite, die die staatlichen Banken zur Verfügung stellten, von 15 auf 25 Prozent. Allerdings erhielt das Großkapital von Kommerzbanken und anderen staatlichen Finanzinstituten weiterhin beträchtliche Kredite, und wie aus der indischen Presse verlautete, nutzten auch verschiedene spekulative Elemente staatliche Mittel. Es erhöhte sich die Rolle des Staates im Außen- und Binnenhandel. Die in den Jahren 1970 und 1971 verstärkte Kontrolle der Preise erstreckt sich über einen ziemlich weiten Kreis von Waren, welcher sowohl verschiedene Erzeugnisarten der Schwerindustrie als auch zahlreiche Konsumgüter umfaßt. 1973 wurde der Versuch unternommen, den Großhandel mit Weizen (der etwa 30 Prozent der gesamten Getreideproduktion ausmacht) zu nationalisieren. Allerdings wurde infolge ungenügender organisatorischer Vorbereitung dieser Maßnahme und vor allem infolge des erbitterten Widerstandes der Händler und Wucherer die Nationalisierung des Weizenhandels aufgehoben, und auch die früher vorgesehene Nationalisierung des Großhandels mit Reis, dem Hauptnahrungsmittel, konnte nicht realisiert werden. In den Jahren 1972 bis 1974 wurde in den meisten Staaten eine neue Gesetzgebung über die Agrarreform beschlossen. Sie sieht für eine fünfköpfige Familie eine Höchstgrenze an Landbesitz von 10—18 Acres (etwa 4—7,5 ha) ständig bewässerten Bodens, der zwei Ernten im J a h r ermöglicht, oder bis zu 54 Acres (etwa 22,5 ha) unbewässerten Bodens vor. Für indische Verhältnisse ist dieses Maximum durchaus nicht niedrig, und solch ein Besitz erlaubt eine recht intensive Bewirtschaftung. Trotzdem stieß diese dem Wesen nach antifeudale Maßnahme auf die heftige Opposition der großbäuerlichen und Gutsbesitzerkreise. In mehreren Staaten erzwangen sie gewisse Zugeständnisse und fanden Schlupflöcher in der neuen Agrargesetzgebung. Der Bodenanteil, der nach den neuen Gesetzen über die Höchstgrenze der Konfiskation unterliegt, ist nicht groß — rund 1,5 Mill. ha 2 0 , weniger als 1 Prozent der gesamten Anbaufläche (1969 — 161 Mill. ha). Aber selbst die Umverteilung dieses relativ wenigen Landes zerschlug sich. Bis März 1975 wurden insgesamt nur 7500 ha Boden verteilt. Sogar die größten Grundbesitzer, deren Besitzungen das Maximum um ein Mehrfaches überstiegen, behielten ihre Ländereien, auf denen oft noch in dieser oder jener Form traditionelle feudale Pachtverhältnisse in Kraft waren. In vielem anders stand es im Staat Kerala, wo eine von der Kongreßpartei, der K P I und anderen Parteien gebildete Koalitionsregierung unter dem Vorsitzenden der Staatenorganisation der K P I Achutha Menon wirkt. Hier wurde das Gesetz über die Agrarreform (schon 1970 von dieser Regierung erlassen) tatsächlich durchgeführt und der feudale Grundbesitz ziemlich radikal beseitigt. 2,5 Millionen Bauern erhielten für einen geringen, oft nur nominellen Kaufpreis das Recht auf Eigentum an dem 20

The Times of India v. 31. 7. 1973.

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von ihnen bestellten Land, d. h., sie wurden von der Bezahlung der Rente und von der feudalen Unterdrückung befreit. Außerdem wurden 122000 ha Brachland an 267000 Familien landarmer Bauern — vorwiegend Haridschans — verteilt. Allerdings betrug der Anteil, der nach der Gesetzgebung über die Höchstgrenze umverteilt wurde, bis März 1975 noch keine 1000 ha. Dennoch unternahm die Regierung auf anderen Wegen viel zur Erleichterung der Lage der landlosen Dorfarmut. 500000 Landarbeiterfamilien erhielten das Land, auf dem ihre Hütten stehen, zum Eigentum. 2 1 Diese Maßnahme trug zur Befreiung der Landarbeiter von der halbfeudalen Unterdrückung durch die Grundbesitzer bei, da diese ihr Recht auf jenes Land als zusätzliches Mittel zur Knechtung und Ausbeutung nutzten. Im selben Sinne wirkt ein in Kerala angenommenes Gesetz über die Landarbeiter, welches analogen Gesetzen in anderen Staaten weit voraus ist. Es regelt für fast zwei Millionen Landarbeiter, die bis vor kurzem noch von der Willkür der Brotherren, der dörflichen Oberschicht, abhängig waren, die Bedingungen der Einstellung, der Arbeit und den Lohn. Eine in der Wochenschrift „Times Weekly" veröffentlichte Reportage über das typische Kerala-Dorf 1973 legt ein beredtes Zeugnis von den antifeudalen Ergebnissen der Agrarpolitik der Regierung des Staates ab. „In vieler Hinsicht", schrieb der Verfasser, „hat die Reform die Lebensweise der Menschen radikal verändert. Noch vor fünf Jahren behandelten die Großgrundbesitzer die Bauern wie Sklaven. Es gab keinen mit dem Existenzminimum verbundenen Arbeitslohn, keinen geregelten Arbeitstag und kein ehrliches Verhalten (zu den Landarbeitern — E. K.). Die Bauern hungerten und waren in der Gewalt der reichen und mächtigen Großgrundbesitzer . . . J e t z t sind die Großgrundbesitzer und Brahmanen in diesem Dorf in ihre Schranken gewiesen, sie können nicht mehr bequem auf ihrem Ehrenplatz sitzen und auf Kosten der Erde leben." 2 2 Die Umgestaltungen in den Dörfern von Kerala wirkten sich auf die Agrarpolitik im gesamtindischen Maßstab aus, mit deren Realisierung später, ab 1975, begonnen wurde.

11. Die K o m p l i z i e r u n g der ökonomischen Lage Die von der Regierung I. Gandhi geplanten Schritte zur weiteren Ausmerzung des kolonial-feudalen Erbes stießen auf den hartnäckigen Widerstand jener sozialen Gruppen, deren Interessen sie schmälerten, und wurden häufig torpediert. Unter diesen Bedingungen schürzten sich die Widersprüche der bürgerlichen Entwicklung. Immer schwerer wurde es, ihrer Verschärfung mit den herkömmlichen Methoden zur Regelung der „gemischten Wirtschaft" Herr zu werden. Zu Beginn der siebziger J a h r e erlebte das Land ernsthafte ökonomische Schwierigkeiten, die in vieler Hinsicht schon in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre heran21 New Age v. 13. 10. 1974. 22 The Times Weekly v. 14. 10. 1973.

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gereift waren. Der Anteil der inneren Akkumulation am Nationaleinkommen, der zwischen 1950 und 1965 von 5,6 auf 11,1 Prozent gestiegen war, ging in den Jahren 1966 bis 1971 auf 8,4—8,6 Prozent zurück. Auch der Zufluß von außen, das von kapitalistischen Mächten als Wirtschaftshilfe zur Verfügung gestellte Kapital, verringerte sich. Wie in Reden von führenden Politikern und in der indischen Presse wiederholt erklärt wurde, war neben den Disproportionen, entstanden im Verlaufe der ökonomischen Entwicklung, und dem beträchtlichen Ansteigen der Preise für Importwaren (Erdöl, Düngemittel, Werkzeugmaschinen, Getreide usw.) die mangelhafte Mobilisierung der Ressourcen auf Kosten der wachsenden Einnahmen der besitzenden Klassen, vor allem der Oberschicht, ein wesentlicher Grund für das nachlassende Tempo der Akkumulation und des Wirtschaftswachstums. I. Gandhi verwies 1974 auf das Vorhandensein von „Sphären, in denen bis heute faktisch Steuerfreiheit herrscht", und erwähnte vor allem die „reichen Grundbesitzer, welche mehr als alle anderen aus unseren Plänen zur Entwicklung der Landwirtschaft Nutzen zogen" 23 . Zugleich vermerkte die indische Presse einen „Konsumtionsboom" bei den reichen Schichten, was gleichbedeutend war mit unproduktiver Verschwendung der begrenzten Mittel, die für den ökonomischen Aufschwung gebraucht werden. 24 Weithin breiteten sich Spekulantentum aller Art und der „Schwarze Markt" aus. Die ökonomische Lage im Lande wurde durch den Konflikt auf dem indischen Subkontinent im Jahre 1971 sowie durch Naturkatastrophen in mehreren Staaten, darunter vor allem die schwere Mißernte infolge von Dürre im Herbst 1972 und im F r ü h j a h r 1973, verschlimmert. Diese Ereignisse zwangen die Regierung zur Kürzung der Investitionen. Auch im Privatsektor wurden sie verringert. Unter anderem warteten die Kapitalbesitzer den Ausgang des sich Ende der sechziger, Anfang der siebziger J a h r e verschärfenden politischen Kampfes ab. Mehr noch, aus der indischen Presse und aus Äußerungen von Politikern — unter anderem aus der Regierungspartei — geht hervor, daß das Großkapital eine Art „Investitionsstreik" zu organisieren suchte, um damit auf die Regierung Druck auszuüben und sie zu Zugeständnissen zu zwingen. Gewisse Zugeständnisse wurden gemacht. Allerdings führte das nicht zu einem Aufschwung in der Produktion. So schrieb die „Times of India" in einem Leitartikel vom Oktober 1974: „Weder das rapide Ansteigen der Preise für Industrieerzeugnisse noch die zunehmende Vereinfachung der Lizenzerteilung (d. h. Zulassung von neuen Bauvorhaben) führten in den vergangenen zweieinhalb Jahren zum gewünschten Aufschwung der Industrieproduktion . . . Der Grad der Kapazitätsauslastung in der indischen Industrie sank von 73 Prozent 1968-1969 auf 70 Prozent 1973-1974. Ziemlich paradox wirkt, daß dieser Rückgang zur selben Zeit, da er in den Zweigen der Konsumgüterproduktion 18 Prozent ausmachte, in der Grundstoffindustrie und anderen Zweigen weniger stark zu spüren war, während die Produzenten von Aus23

Indian and Foreign Review v. 1. 8. 1974. 24 Indian Express v. 24. 1. 1975.

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rüstungen die Kennziffern verbessern konnten, wenn auch nur um ein wenig — 5 Prozent". 25 Somit arbeitete gerade die Leichtindustrie, die fast gänzlich zum Privatsektor gehörte, trotz des starken Mangels an Konsumgütern schlechter als die anderen Zweige. Zur gleichen Zeit verbesserte sich die Auslastung der Produktionskapazitäten im staatlichen Sektor. Dazu sagte Indira Gandhi im April 1975: „Dasselbe möchte ich gern im Privatsektor erleben. Bestimmte Firmen vergrößerten zweifellos die zugelassenen Kapazitäten in den profitabelsten Produktionen, jedoch in zahlreichen Zweigen in Privathand waren die Kapazitäten weniger als zu 50 Prozent ausgelastet." 2 6 Industrieminister T. A. Pai aber wies darauf hin, daß es Firmen gibt, welche die „Produktion einschränken, um die Preise und die Profite zu steigern". 2 7 Aus all diesen Gründen erwies sich das Wachstum der Industrie, das in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre nachzulassen begann, als äußerst instabil und wurde noch langsamer. So betrug es 1971 3 Prozent gegenüber 7,1 Prozent im Jahre 1969, 1972 stieg der Zuwachs wieder auf 7,1 Prozent, und 1973 sank er auf 0,7 Prozent. Für 1974 wird mit einem Zuwachs von 3,5 Prozent gerechnet. 28 In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre stiegen die Getreideerträge infolge der Maßnahmen der „grünen Revolution" von ungefähr 86 Mill. t auf 100 Mill. t ; im Erntejahr 1970 waren es 108 Mill. t. Das war eine merkliche Errungenschaft. Allerdings nahm die Getreideproduktion vor allem dank der größeren Weizenernten zu, die Produktion der wichtigsten Nahrungsmittelkultur — Reis — sowie die Produktion von technischen Kulturen wuchs nur unbedeutend. Wegen der Mißernte sanken 1972 die Getreideerträge auf 97 Mill. t, und von 1971 bis 1973 betrug die Durchschnittsernte etwa 101 Mill. t. Voraussichtlich wird die Getreideernte im Landwirtschaftsjahr 1974/1975 etwa 103—104 Mill. t einbringen. Bei diesem Sachverhalt bleibt die Ernährungssituation im Lande angespannt, zumal sich die Bevölkerung beträchtlich vermehrt. Der Rückgang des ökonomischen Wachstumstempos, die mangelhafte Mobilisierung der Ressourcen auf Kosten der besitzenden Klassen, was wesentlich zur Vergrößerung der Defizitfinanzierung beitrug, Spekulantentum unterschiedlicher Art, bedingt durch das privatkapitalistische Element, sowie die erhebliche Erhöhung der Preise für Importwaren — all das führte zu einer rapiden Verstärkung der Inflation. 1973 stiegen die Großhandelspreise um 19 Prozent und 1974 um 27 Prozent. 29 Die Preissteigerungen wirkten sich unheilvoll auf die Lebenslage der Hauptmasse der Stadtbevölkerung sowie auf die ärmsten Schichten der Landbevölkerung und vor allem auf die Landarbeiter aus, die „zwischen den Ernten ihre Nahrungsmittel auf dem Markt kaufen müssen". 3 0 23 The Times of India v. 19. 10. 1974. 20 The Times of India v. 4. 4. 1975. 27 New Age v. 4. 5. 1975. 28 The Times oi India v. 12. 11. 1974. 20 Economic Survey 1974—75, Government of India, New Delhi 1975, S. 3. so Ebenda, S. 4.

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Der Reallohn der Industriearbeiter, der von 1951 bis 1961 um 15 Prozent gestiegen war, sank in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre um 6 bis 9 Prozent und erreichte 1970 knapp das Niveau von 1961. 31 Dabei erhöhte sich von 1960 bis 1970 das Nationaleinkommen pro Kopf der Bevölkerung um 14 Prozent. Das ist ein weiterer Beweis für die Haltlosigkeit der bürgerlichen und der maoistischen Behauptungen, daß die Industriearbeiter „privilegiert" seien. Obgleich spätere Angaben über die Dynamik der Reallöhne vorläufig noch fehlen, ist anzunehmen, daß sich die rapiden Preissteigerungen zu Beginn der siebziger Jahre auf die Löhne auswirken mußten. Es gelang nicht, das Anwachsen der Arbeitslosigkeit zu verhindern. Die Zahl der auf den Arbeitsämtern registrierten Arbeitslosen, welche ein — bei weitem nicht vollständiges — Bild von der Arbeitslosigkeit in der Stadt gibt, stieg von 4,1 Mill. 1970 auf 8,3 Mill. gegen Ende 1974; darunter waren 4 Mill. Personen mit Oberschulund Hochschulbildung. Die Gesamtzahl der Arbeitslosen, einschließlich der auf die ländliche Übervölkerung zurückzuführenden Beschäftigungslosigkeit, wurde 1971 auf 19 Mill. gegenüber 9—10 Mill. im Jahre 1966 geschätzt. Die Komplizierung der ökonomischen Lage im Lande setzte mit neuem Nachdruck die Frage der weiteren ökonomischen Politik auf die Tagesordnung. 1974 wurden mehrere antiinflationäre Schritte unternommen, welche insbesondere Einschränkungen der Lohnerhöhungen (durch Zwangssparen) und der Verteilung der Dividenden zum Ziele hatten sowie die Erhöhung der Zinssätze und die Verringerung der Bankkredite vor allem für Händler zum Zwecke der Begrenzung des Spekulantentums. Infolgedessen ging einerseits die Zahlungsfähigkeit der Hauptmassen der Bevölkerung zurück und andererseits sank nach Angaben der Reservebank das Wachstumstempo der Preise etwas und betrug 1974/1975 17 Prozent. Von großer Bedeutung war die Beratung der führenden Mitglieder der Regierung und der Regierungspartei im November 1974 in Narora, wo man unter anderem übereinkam, die Verteilung von verschiedenen Grundnahrungsmitteln zu Festpreisen wesentlich auszudehnen. Dort wurden auch die Beschlüsse über die Übereignung des Landes, auf dem ihre Hütten stehen, an die Landarbeiter und an andere Dorfarme, über Kredite für diese sowie über deren Organisierung gefaßt, damit die „Dorfarmen Sicherheit und Kraft zum Kampf gegen die Ungerechtigkeiten gewinnen und sich schöpferisch bemühen, ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern". 32 Bei der Ausarbeitung des V. Fünfjahrplanes (1974/75—1978/79) wurde die weitere vorrangige Entwicklung des staatlichen Sektors festgelegt: er soll fast 70 Prozent aller geplanten Investitionen (534 Mrd. Rupien) erhalten. Vorgesehen war außerdem eine aktivere Mobilisierung der Ressourcen auf Kosten der besitzenden Klassen und eine bestimmte Umverteilung der Einkommen zugunsten der armen Schichten. Allein, infolge der Inflation verloren viele ökonomische Kennziffern des Planes rasch an Wirkung, und der Plan bedurfte, wie es hieß, weiterer Ausarbeitung. Die rechten Kräfte trachteten danach, diese zu bremsen, um die Planungsgrundlage der 31 Economic and Political Weekly v. 13. 10. 1973. 32 Socialist India v. 30. 11. 1974.

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ökonomischen Entwicklung zu schwächen. Sie nutzten die ökonomischen Schwierigkeiten aus u n d verstärkten ihren Druck auf die Politik der Regierung, ja, sie versuchten, eine Gegenoffensive zu starten.

12. E i n e n e u e V e r s c h ä r f u n g des p o l i t i s c h e n K a m p f e s Nach der Beseitigung der rechten Gruppierung im J a h r e 1969 und dem Sieg des I N K bei den Wahlen festigte sich auch in der Regierungspartei das Übergewicht der zentristischen K r ä f t e ; zugleich wuchs der Einfluß fortschrittlicher gesellschaftlicher Kreise; an bestimmte führende Stellen gelangten progressive KongreßPolitiker, darunter solche, die zu unterschiedlichen Zeiten aus der linken Bewegung zur Kongreßpartei gestoßen waren. Die Veränderungen in der Zusammensetzung der Regierungen der S t a a t e n und der Orts- und Provinzkomitees des I N K führten in einigen Staaten (aber keineswegs überall) zur Verdrängung der früher herrschenden sozialen und Kastengruppierungen, die m i t dem halbfeudalen Grundbesitz und der Großbourgeoisie liiert waren. Die Veränderungen der J a h r e 1969 bis 1972 widerspiegelten die Verbreiterung der sozialen Basis der Regierungspartei — vor allem infolge der Gewinnung jener Gruppen der nichtmonopolistischen Bourgeoisie und der Mittelschichten, die in den J a h r e n vor der Spaltung der Kongreßpartei zu ihr in Opposition traten. Es verstärkte sich die Unterstützung der Regierung durch die Massen. Allerdings ging die Umgestaltung der führenden Organe der Staaten im wesentlichen auf dem Wege des Kompromisses mit den rechten Elementen vonstatten, welche die Interessen monopolistischer Gruppen, der Großgrundbesitzer und Großbauern wahrnehmen. In mehreren S t a a t e n blieb ihnen auf diese oder jene Weise der vorherrschende Einfluß erhalten. Das wirkte sich auf die Situation in der Regierungspartei und ihre Politik, vor allem auf der Ebene der Staaten, aus. 1970—1971 wurde die Aufgabe gestellt, die Kongreßpartei „von oben bis u n t e n " zu reorganisieren, damit sie eine ; K a d e r p a r t e i ' werde, dazu berufen, sozialökonomische Umgestaltungen zu garantieren. Allerdings konnte dies nicht erreicht werden, und die Ministerpräsidentin Indira Gandhi vermerkte, daß der Kongreß „als Partei bei der Verwirklichung der vorgesehenen Programme nicht zu Hilfe kam". 3 3 Nachdem die rechten K r ä f t e im Kampf innerhalb des I N K 1969 und dann bei den Wahlen von 1971 und 1972 eine Niederlage erlitten hatten, versuchten sie, sich umzugruppieren, ihre Taktik u n d ihre Losungen an die neue Situation anzupassen, u m zum Gegenangriff überzugehen. Vor allem trachteten die rechten Kreise danach, ihre Positionen in der Regierungspartei zu halten u n d dann auch zu erweitern. Bald nach den Wahlen von 1971 strömten Überläufer, und häufig ganze Gruppen, aus den Rechtsparteien, vor allem aus dem Organisationskongreß sowie aus der Swatantra und sogar aus dem J a n a Sangh in die Staatenorganisationen des I N K . Bereits Ende 1971 stellte die Zeitung 33

Prime Minister's Press Conference v. 31. 12. 1973.

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„Patriot" fest, daß die „Vertreter der privilegierten Gruppen geschickt die T a k t i k änderten", daß sie „in den Kongreß einsickern" und „ihre Lieblingstaktik der Zurückdrängung der Aufgaben der Partei in den Hintergrund" verfolgen. 3 4 Unter diesen Bedingungen entbrannte in den Kongreßparteiorganisationen einiger Staaten ein heftiger Fraktionskampf. In hohem Maße wurde er hervorgerufen durch den Widerstand der rechten Elemente gegen die geplanten Umgestaltungen, obgleich auch verschiedenartige Gruppeninteressen und -ambitionen gewöhnlich keine geringe Rolle spielten. Bezeichnend ist dabei, daß der Fraktionskampf in den Parteiorganisationen der Staaten im Unterschied zur Lage in den sechziger J a h r e n nun keineswegs, so heftig er auch tobte, zum Austritt dieser oder jener kämpfenden Gruppierungen aus der Regierungspartei führte. Auf sozialökonomischem Gebiet strebten die rechten K r ä f t e an, die geplanten Umgestaltungen einzuschränken und zu hintertreiben. Gewisse monopolistische Kreise übten wachsenden Druck auf die Regierung aus und forderten nun nicht mehr nur, das Wachstum des staatlichen Sektors zu begrenzen, was sie j a bereits in den sechziger Jahren zu erreichen suchten, sondern die Privatisierung der staatlichen Betriebe. Symptomatisch sind in dieser Hinsicht die Reden von J . T a t a , dessen Konzern nach der Größe des Kapitals den ersten Platz unter den Monopolunternehmen Indiens einnimmt; er selbst wird als „Nestor der indischen Industriellen" bezeichnet. Bereits 1972 schlug Tata vor, die Aktien der staatlichen Betriebe zu verkaufen, und im April 1975 attackierte er die Regierungspolitik der Entwicklung des staatlichen Sektors und verkündete, daß der S t a a t , wenn es so weitergehe, bis 1980 „direkt oder indirekt bis zu 80 Prozent der Aktiva der Industrie kontrollieren" wird. Dabei verlangte Tata faktisch die Entfernung aller derjenigen, die er als „Marxisten" bezeichnete, aus der Regierung und setzte sich für die Begrenzung des staatlichen Sektors vor allem auf die Infrastruktur ein. 35 Diese Äußerungen stießen auf Ablehnung — auch in Kreisen der nichtmonopolistischen Bourgeoisie. So wurde auf einer Versammlung des Nationalen Verbandes junger Unternehmer erklärt, daß nicht, wie Tata behauptet, der staatliche Sektor eine Gefahr für ihre Unternehmen sei, sondern der „Druck der Monopole, die überall eindringen und Vorteile haben". 3 6 Zugleich vereinte sich die Opposition der Monopole gegen die weitere Entwicklung des staatlichen Sektors nun in mannigfaltiger Weise mit dem Widerstand gegen die geplanten antifeudalen Umgestaltungen und Maßnahmen zur verstärkten ökonomischen Regulierung, den mehrere Ausbeutergruppen leisteten, Gruppen, die zahlenmäßig relativ stärker waren als die monopolistische Oberschicht der Bourgeoisie und die ehemalige Feudal- und Grundbesitzeraristokratie. Das waren vor allem die Dorfelite der Großgrundbesitzer und Großbauern sowie eine Vielzahl von Händlern, Wucherern und Spekulanten, die mit der Dorfelite und auch mit dem Big Business verbunden waren und nicht selten mit ihnen ein einheitliches Ganzes « Patriot v. 21. 11. 1971. 35 The Times of India v. 18. 8. 1973. 3« The Times of India v. 5. 4. 1975. 5

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bildeten. Und schließlich weckte auch die geplante stärkere Mobilisierung der Ressourcen auf Kosten der gewachsenen Einkommen der besitzenden Klassen, darunter auch auf dem Lande, Widerstand. Offensichtlich war all das von nicht geringer Bedeutung dafür, daß einige regionale Parteien (der Staaten), die in den Jahren 1969 bis 1971 die Regierung der Kongreßpartei unterstützten, sich im weiteren mit den Rechtsparteien liierten. In einigen Staaten wurden auch „parteilose" Kastenorganisationen oder andere Organisationen der Rechten gegründet bzw. aktiviert, vor allem Organisationen der Grundbesitzer, welche, unabhängig von Parteizugehörigkeit, zur Gegenwehr gegen die Agrarreform und zum Kampf gegen die sich erhebende Dorfarmut mobilisiert wurden. In Grundbesitzerkreisen konnte man zum Beispiel sagen hören: „Wir leben vom Boden, wir geben unseren Söhnen ihre Ausbildung vom Boden, wir verheiraten unsere Töchter vom Boden. Sollten sie versuchen, eine Höchstgrenze von zehn Acres festzulegen, dann beginnt im Dorf das Blutvergießen." In den letzten J a h r e n berichtete die indische Presse immer wieder von Zusammenstößen in den Dörfern und davon, wie Gutsbesitzerbanden mit Pächtern und Landarbeitern (zumeist Haridschans) abrechneten. Der Widerstand der konservativen Kräfte gegen die geplanten Umgestaltungen und die weitere Verschärfung der sozialen Gegensätze führten angesichts der zunehmenden ökonomischen Schwierigkeiten in den Jahren 1973 und 1974 in etlichen Staaten zu erheblichen und langandauernden Unruhen. Ein bedeutender Teil der städtischen Mittelschichten, vor allem die Studentenschaft, wurden hineingezogen. Zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit wurden derartige Unruhen von den rechten Kräften inspiriert oder aktiv genutzt, um die örtlichen Verwaltungen zu lähmen und einzuschüchtern und eine Situation der Instabilität zu schaffen. Ernsthafte Störungen der öffentlichen Ordnung im S t a a t Andhra und dann in den Staaten Gudscharat und Bihar, bei denen es zu Überfällen auf staatliche Einrichtungen, Abgeordnete der gesetzgebenden Körperschaften, Zeitungsredaktionen, zu Brandstiftungen und Mord kam, lähmten für lange Zeit örtliche Verwaltungen und Kongreßparteiorganisationen. In diesen drei Staaten wurden Truppen und Polizeikräfte der Zentralregierung eingesetzt; Andhra und Gudscharat mußten der „Präsidialherrschaft" unterstellt werden, obgleich hier die Kongreßpartei über eine bedeutende Mehrheit in den Gesetzgebenden Versammlungen verfügte. Insgesamt wurde die Lage im Lande immer chaotischer. Die reaktionären Kräfte zogen ihren Vorteil aus der Verschlechterung der materiellen Lage eines beträchtlichen Teils der Mittelschichten durch Preissteigerungen und Arbeitslosigkeit. Nicht ohne Erfolg wußten sie auch den Fraktionskampf innerhalb der Organisationen des I N K zu nutzen, indem sie vor allem in jenen Staaten wie Gudscharat, wo sich nach der Spaltung der Kongreßpartei die Lage wenig geändert hatte und keine merkliche Verbreiterung der sozialen Basis durch die Mittelschichten eingetreten war, die Regierungen der Korruption und der Ineffektivität bezichtigten. Es ist kennzeichnend, daß der ehemalige Chefminister dieses Staates, dessen Ernennung im J a h r e 1973 durch die Kongreßpartei von Gudscharat von den rechten Parteien begrüßt

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worden war, nach seinem Ausschluß aus dem INK im Jahre 1974 eine regionale Partei der „reichen Farmer und feudalen Elemente" gründete. 37 Die von den Rechtskräften provozierten aufrührerischen Aktivitäten hatten faktisch zum Ziele, die geplanten Umgestaltungen zum Scheitern zu bringen. Zugleich hatten gewisse reaktionäre Kreise die Errichtung einer rechten Diktatur, ganz gleich welcher Form, im Sinne. Der bekannte rechte Politiker M. Masani, einer der Organisatoren der Swatantra Partei, erklärte unverblümt, daß eine Etappe angebrochen sei, „in der nichtkonstitutionelle Kräfte zeitweilig die Macht in ihre Hände nehmen", und daß er persönlich die Errichtung eines „Militärregimes, das eine pragmatische Wirtschaftspolitik betreibt", vorzöge. 38 In dieser Situation und auch im Zusammenhang mit den Ereignissen in Chile wies die Ministerpräsidentin Indira Gandhi speziell auf die Wühltätigkeit ausländischer imperialistischer Kreise hin. Anfang 1974 erklärte sie: „Jedesmal, wenn das Land seine Struktur ändern will, nutzen mächtige Kräfte im Inland und von außen ihren Einfluß und ihr Geld, um diese Bemühungen zu vereiteln. Unsere Lage ist umso schwieriger, da wir ein Kolonialland waren. Einige reiche Länder können sich nicht mit dem Gedanken abfinden, daß wir den Kopf erheben können." 39 Im selben Jahr, aber früher, stellte sie angesichts der Unruhen in Gudscharat fest: „Offenbar ist das, was in Gudscharat vorgeht, die Probe für das, was in viel größerem Ausmaß geplant ist." 4 0 In den letzten Jahren schössen verschiedenartige Pogromorganisationen der Reaktion, gewöhnlich unter religiösem Deckmantel, wie Pilze aus der Erde hervor. Sie waren bestrebt, unbemerkt zu bleiben. Wiederholt brachte die indische Presse zum Ausdruck, daß deren Tätigkeit von einer imperialistischen Agentur inspiriert wurde. Mancherorts wurden wieder kleine maoistische Gruppierungen aktiv. Sie hatten sich in den letzten Jahren wegen verschiedenartiger Widersprüche und Auseinandersetzungen ihrer Führer zersplittert, infolgedessen war etwa ein Dutzend derartiger Gruppierungen entstanden. Ihre marktschreierischen linksradikalen abenteuerlichen Losungen und Aktionen (erstere überwogen offenbar stark die letzteren) spielten faktisch der Reaktion in die Hände. Es ist recht aufschlußreich, daß an den Unruhen in Andhra, Gudscharat und Bihar die Massen der Arbeiter und Bauern nicht beteiligt waren. Und die Organisatoren derartiger „Bewegungen" wünschten offensichtlich deren Teilnahme gar nicht. Wenn es indessen einerseits zu Unruhen kam, organisiert von rechten Kräften, denen es gelungen war, einen Teil der Mittelschichten mitzureißen, so verstärke sich andererseits der Kampf der Hauptmassen der Werktätigen für ihre dringlichsten sozialen Forderungen und für Umgestaltungen. Dieser Kampf gewann zunehmend Einfluß auf die politische Lage im Lande. 37 The 38 Zit. 39 The «> The



Times of India v. nach New Age v. Times of India v. Times of India v.

2. 3. 1974. 14. 4. 1974. 10. 9. 1974. 3. 3. 1974.

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Die Streikbewegung, die in der zweiten Hälfte der sechziger J a h r e stark angewachsen war, nahm nicht etwa ab, sondern zu Beginn der siebziger J a h r e noch mehr zu. An ökonomischen Streiks beteiligten sich in den Jahren von 1970 bis 1972 im Jahresdurchschnitt rund 1860000 Streikende, und die Zahl der Streiktage betrug 19 Millionen; im Zeitraum von 1966 bis 1969 waren es entsprechend 1600000 und 17 Millionen. In den darauffolgenden zwei Jahren schwoll die Streikwoge noch stärker an, und nach vorläufigen Angaben wurden 1974 30 Millionen Streiktage gezählt. In der Gewerkschaftsbewegung brach sich die Tendenz zur Aktionseinheit Bahn. 1972 wurde der Nationale Gewerkschaftsrat gegründet, dem die drei wichtigsten Gewerkschaftsverbände INTUC, AITUC, HMS angehören. In den siebziger Jahren nahm der organisierte Kampf der Werktätigen, vor allem der Arbeiterbewegung, nicht mehr nur, wie das bisher war, Einfluß auf die Lage in einzelnen Industriezweigen, Großstädten oder Staaten, sondern auch auf die Lage im ganzen Lande. Ein Beispiel dafür war der Generalstreik der Eisenbahner im Mai 1974, an dem sich viele Hunderttausende beteiligten. Von Bedeutung ist ebenso, daß sich bei einer Meinungsumfrage in den vier größten Städten knapp die Hälfte aller Befragten für die Unterstützung der streikenden Eisenbahner und für einen eintägigen solidarischen Generalstreik aussprachen. 1974 und Anfang 1975 kam es gleichfalls zu mächtigen Streiks der Hafenarbeiter, der Arbeiter der J u t e i n d u s t r i e und anderer Zweige. Die streikenden Arbeiter der Juteindustrie forderten außer Lohnerhöhung auch die Nationalisierung dieses Zweiges. Neben den Streiks der Jahre 1972 bis 1974 wurden Massenkampagnen zur Unterstützung der Forderungen nach sozialökonomischen Umgestaltungen durchgeführt, organisiert von fortschrittlichen Kräften und vor allem der K P I . Die Verschärfung des politischen Kampfes widerspiegelte sich in verschiedenen neuen Versuchen und Plänen, die rechten Parteien zusammenzuschließen und die Sozialistische Partei sowie regionale Parteien (der Staaten) zur Zusammenarbeit mit ihnen zu veranlassen. Das wurde als Vereinigung der „nichtkommunistischen Opposition" bezeichnet. Im Grunde handelte es sich darum, etwas Effektiveres als die „Große Allianz" von 1971 zu schaffen. 1974 wurde unter dem Namen „Bharatiya Lok Dal" (BLD) oder Indische Volkspartei eine neue Partei gegründet. Ihr gehörten die regionalen Parteien Bharatiya Kranti Dal (BKD) in Uttar Pradesch und die „Fortschrittspartei" (Pragati Dal) in Orissa sowie Reste der Swatantra, ein Teil der ehemaligen S S P und vier weitere kleine Gruppierungen lokaler Bedeutung aus verschiedenen Staaten an. Die E r klärungen dieser Partei waren mehr oder weniger vom Geiste der S w a t a n t r a der sechziger Jahre durchdrungen. Unter anderem wurde die beschleunigte Industrialisierung abgelehnt und empfohlen, die ökonomische Rolle der „Zentralregierung", d. h. des staatlichen Sektors, „ausschließlich auf die Entwicklung der I n f r a s t r u k t u r " zu beschränken und „jedem Staat und Distrikt" die Möglichkeit zu geben, seine ökonomische Entwicklung selbst zu bestimmen 4 1 , mit anderen Worten — dem Privatkapital volle Freiheit zu geben. Dazu machte die Führung des BLD den Vorschlag, « Statesman v. 3. 7. 1974.

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die „nichtkommunistischen" Oppositionsparteien zu einer Partei zu vereinigen, die eine „Alternative" zum I N K abgeben könnte. Die Führung des J a n a Sangb lehnte den „Zusammenschluß" ab und setzte sich für die Bildung einer „föderativen Partei" ein. Obgleich derartige Pläne auf die traditionellen Unterschiede zwischen den Rechtsparteien selbst und auf die persönlichen Ambitionen ihrer Führer stießen, t r a t e n sie nun auf irgendeine Weise für „koordinierte" Aktionen in den gesetzgebenden Organen und außerhalb derselben sowie vor allem für Wahlabkommen ein. Ein besonderer Versuch des Zusammenschlusses der rechten Kräfte und ihrer Parteien, gegründet auf Verwendung von pseudorevolutionären Losungen und „Massenaktionen", waren das politische Programm und die Tätigkeit Jayaprakash Narayans. Seinerzeit, noch vor der Unabhängigkeit, war er ein bekannter Führer des Nationalkongresses und t r a t als Sozialist auf. In den fünfziger Jahren schien er sich von der Politik zurückzuziehen. Als die führenden Männer der „nichtkommunistischen Opposition" bei den Wahlen der Jahre 1971 und 1972 durchfielen, tauchte Jayaprakash Narayan wieder in der politischen Arena auf, nun bereits als „Volksführer", der zur „totalen Revolution" in Indien aufrief. Unter seiner Leitung wurde 1974 eine Kampagne zur Auflösung der gesetzgebenden Organe in Gudscharat und dann in Bihar gestartet. Man versuchte, diese Kampagne auf andere Staaten auszudehnen, und im Verlaufe der Zeit konzentrierte man das Feuer immer stärker auf die Zentralregierung und vor allem auf Ministerpräsidentin I. Gandhi. Jayaprakash Narayan appellierte an die Mittelschichten und vor allem an die Studentenschaft, wehklagte über steigende Preise und wachsende Arbeitslosigkeit, geißelte Korruption und Spekulation und griff die Schwächen des politischen Systems an. E r erklärte sich zum Revolutionär — zum Kämpfer für gesellschaftliche Umwälzungen und wenn schon, dann für „totale". In den sogenannten „Volksforderungen", vorgebracht im März 1975, als unter Narayans Ägide in Delhi eine große regierungsfeindliche Manifestation stattfand, ging es scheinbar um Maßnahmen, für welche sich die fortschrittlichen Kräfte einsetzen, sogar um die „Umverteilung des Bodens" und die Schaffung eines Systems der Verteilung der wichtigsten Waren zu festen Preisen. 42 Allein in diesen Forderungen wurden weder der staatliche Sektor noch das Verhältnis zu den Monopolen, noch die Organisation der Dorfarmut zur Verwirklichung der Bodenreform erwähnt. Indem man dazu schwieg, wollte man es den verschiedenen politischen Gruppierungen, die sich an der „Bewegung" Narayans beteiligten oder sie auf irgendeine Weise unterstützten, recht machen, und, was die Hauptsache ist, das entsprach auch dem Bestreben, die Umgestaltungen auf streng bürgerlichen Rahmen zu beschränken, was tatsächlich ihr Scheitern bedeutet hätte. Narayan selbst erklärte, sozusagen als persönliche Meinung, daß der „staatliche Sektor zur Produktion nichts beigetragen" habe. Zu einer derartigen Behauptung hätten sich nicht einmal die erbittertsten, aber weniger „revolutionären" Gegner des staatlichen Sektors aus den monopolistischen Kreisen erkühnt. Die Zeitung „Statesman" teilte im Bericht über diese Rede Narayans mit, daß „faktisch vorgeschlagen wurde, einige staatliche Betriebe in Privathände zu übergeben." 4 3 « Everyman's v. 9. 3. 1975.

« Statesman v. 16. 6. 1974.

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Flugblätter, verbreitet in Bihar von dem unter seiner Führung gegründeten „Studentischen Kampfkomitee", schmähten den staatlichen Sektor, die Nationalisierung der Kohlegruben und des Getreidegroßhandels und forderten, „im Drama um die landwirtschaftliche Höchstgrenze den Vorhang fallen zu lassen", d. h., sie lehnten die Bodenreform ab. 44 Dabei ließ sich Narayan natürlich nicht die Gelegenheit entgehen, über die Sowjetunion und die indischen Kommunisten herzufallen, Mao Tse-tung jedoch erklärte zu seinem „Guru" (Lehrer). 45 In der „Bewegung" Narayans wurden einige traditionelle indische Formen der Massenaktionen angewandt (ziviler Ungehorsam, Bandh usw.), allerdings beteiligten sich die Hauptmassen der Werktätigen nicht daran. „Das ist die Revolution der Mittelklassen, die von Jayaprakash Narayan geleitet wird, und ich bin froh, daß die Burschen von der Gewerkschaft nicht dabei sind" 4 6 , erklärte M. Masani. Die „Bewegung" Narayans wurde vor allem von den Rechtsparteien unterstützt. Die Presse brachte diese Bewegung vor allem mit dem J a n a Sangh und die sie begleitenden Unruhen mit solchen Organisationen wie R S S (Rashtriya Swayamsewak Sangh) und Ananda Marg (beides unter religiös-kulturellem Deckmantel operierende terroristische Organisationen der extremen Rechten mit offen profaschistischen Tendenzen) in Verbindung. All das hinderte die Führung der K P I (M) nicht daran, zu Narayan in Kontakt zu treten und zu verkünden, daß sich die K P I (M) für die „Radikalisierung" seiner „Bewegung" einsetze. Allerdings litt letztere kaum unter Mangel an „rechtem Radikalismus". Wie Narayan selbst begannen nun auch andere Führer der rechten Parteien unverblümt von der Notwendigkeit gewaltsamer Aktionen, vom „Ausweg auf die Straße" usw. zu sprechen. Narayans Zeitung „Everyman's" schrieb im Mai 1974, daß die „Unruhen und Pogrome keine Gewalt sind, sondern nur eine Aktion darstellen — ein Mittel der Reklame, um Aufmerksamkeit zu erregen". 47 Zugleich wandte sich Narayan mit Appellen an die Streitkräfte, die Polizei und die Beamten, Befehle und Anweisungen der Regierung, die sie für „ungesetzlich" hielten, nicht zu befolgen, außerdem rief er dazu auf, in Bihar eine „Parallelregierung" dieses Staates zu bilden. Das eigentliche Ziel der Kampagne Narayans bestand darin, die rechten Kräfte und Parteien zu vereinen, um der Regierung I. Gandhi eine Niederlage zu bereiten. Das eben war der wirkliche Sinn von Narayans Hauptlosung „Demokratie ohne Parteien". Dasselbe trifft auch auf die anderen Pläne der Vereinigung der „nichtkommunistischen" Opposition zu. Es war vorgesehen, daß die sogenannten „Kampfkomitees", die Narayan in Bihar und einigen anderen Staaten zu gründen begann, bei den Wahlen zu den gesetzgebenden Körperschaften unter „allgemeiner Zustimmung" ihrer Mitglieder „würdige" Menschen als „Volkskandidaten" aufstellen sollten, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit. 48 Die an der „Bewegung" NaraIndradeep Sinha, Real Face of J P ' s "Total Revolution", New Delhi 1974, S. 42. « Ebenda, S. 30. 4 6 K. Singh, Total Revolution, in: The Illustrated Weekly of India v. 6. 4. 1975. « Everyman's v. 25. 5. 1974. « Statesman v. 6. 7. 1974. The Times of India v. 15. 10. 1974. 44

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yans beteiligten Parteien waren mit seinem Plan in der Form, wie dieser verkündet wurde, nicht einverstanden. Der auf Drängen dieser Parteien zustande gekommene Beschluß, ihre Abgeordneten aus der Gesetzgebenden Versammlung von Bihar abzuberufen, verursachte die Spaltung ausnahmslos aller Fraktionen, darunter auch der Fraktion des J a n a Sangh. Trotzdem wurden unter Narayans Leitung 1974 ein allindisches Koordinierungskomitee der ihn unterstützenden Parteien gebildet sowie ein analoges „Kampfkomitee der Jugend und der Studenten" gegründet. Die Rechnung der Rechten, die durch die Vereinigung der wichtigsten bürgerlichen Oppositionsparteien und die Einbeziehung einiger ehemaliger regionaler Parteien und kleinbürgerlicher Gruppierungen, durch die Schaffung einer effektiveren Koalition als die „Große Allianz" von 1971 die Macht der Kongreßpartei brechen wollten, entbehrte nicht der Grundlage. Die soziale Differenzierung auch unter den besitzenden Klassen, bedingt durch das Wachstum der bürgerlichen Verhältnisse, sowie die Verschärfung des politischen Kampfes führten zu einer gewissen Weiterentwicklung der Oppositionsparteien, obgleich sie fast alle bei den Wahlen von 1971 und 1972 eine Niederlage erlitten hatten. Dieser Prozeß vollzog sich vor allem auf der Ebene der Staaten und erzeugte die Tendenz zur Herausbildung der oppositionellen Hauptpartei (seltener zwei Parteien) im jeweiligen Staat, während die Positionen der hier wirkenden weniger großen Parteien — mehr oder weniger unabhängig von ihrer Situation in der gesamtindischen Arena — schwächer wurden. Trotz der Niederlage fast aller Oppositionsparteien bei den Wahlen zu den Gesetzgebenden Versammlungen im Jahre 1972 war der Stimmenanteil der größten Oppositionspartei des betreffenden Staates häufig nicht geringer, sondern mitunter sogar höher als 1967 und in der Regel höher als in den fünfziger Jahren. Andererseits erzielte der INK gegenüber 1967 gewöhnlich einen höheren Stimmenanteil. Indessen war der Stimmenanteil der Parteien, deren Positionen im jeweiligen Staat nicht stark waren, sowie der unabhängigen Kandidaten in der Regel gesunken. In der Situation des verschärften politischen Kampfes kurz nach den Wahlen von 1971 und 1972 erwuchs der Macht des Kongresses infolge dieser Tendenz zunehmende Gefahr, vor allem, wenn sich die größten Parteien des jeweiligen Staates auf irgendeine Weise gegen den INK vereinigt hätten. Das zeigten die Wahlen zu den Gesetzgebenden Versammlungen der Staaten Uttar Pradesch und Orissa, der zwei kleinen Staaten Manipur und Nagaland und des Unionsterritoriums Ponditscherry im Februar 1974 und insbesondere die Wahl zur Gesetzgebenden Versammlung des Staates Gudscharat im Juni 1975. In Uttar Pradesch, Orissa und Manipur wurden vor den Wahlen zwischen dem INK und der KPI Teilabkommen getroffen. Zugleich brachten während der Wahlen in Uttar Pradesch (dem mit 80 Mill. Einwohnern größten Staat Indiens) die beiden wichtigsten Oppositionsparteien des Staates, BKD und J a n a Sangh, kein Wahlbündnis zustande, und sie führten den Kampf sowohl gegen Kongreß und KPI als auch untereinander. Allerdings liierte sich der BKD bereits mit zwei kleineren Parteien von lokaler Bedeutung. In Orissa trat eine rechte Vereinigung als Hauptrivale des INK in Erscheinung, die sich „Pragati Dal" (Fortschrittspartei) nannte. Zu ihr

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gehörten die regionale Partei „Utkal Kongreß", die 1970 infolge der Spaltung der Staatenorganisation des Kongresses entstanden war, und die Swatantra. Nach den Wahlen schlössen sich beide Parteien dem neugegründeten obenerwähnten B L D an. Obgleich der Kongreß im wichtigsten Staat, Uttar Pradesch, siegte, fielen die Wahlen von 1974 merklich schlechter für ihn aus als die Wahlen von 1971 und 1972. Der I N K erhielt 1974 alles in allem nur 304 von 660 Sitzen in den Versammlungen der vier Staaten und des Unionsterritoriums Ponditscherry. Ausgesprochene Erfolge erzielte die K P I . Sie konnte die Zahl ihrer Sitze von 15 auf 31 erhöhen. In Uttar Pradesch gewann der Kongreß 214 von 425 Sitzen in der Versammlung. Allerdings betrug sein Stimmenanteil nur 32 Prozent, d. h. ebensoviel wie 1967 und sogar weniger als 1969 (34 Prozent). 1972 fanden hier keine Wahlen für die Gesetzgebende Versammlung statt, der Kongreß konnte jedoch während der Parlamentswahlen von 1971 in diesem S t a a t 49 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. In Orissa dagegen, wo der I N K einen größeren Stimmenanteil erhielt — 37 Prozent gegenüber 27 Prozent im J a h r e 1971, als hier außerordentliche Wahlen zur Gesetzgebenden Versammlung des Staates stattfanden, konnte er 1974 trotzdem nicht die Mehrheit der Sitze in der Versammlung erringen. Das lag an der Vereinigung der wichtigsten Oppositionsparteien sowie am Fraktionskampf innerhalb der regionalen Organisation des I N K . Der Kongreß kam hier in der Versammlung auf 69 von 140 Sitzen, konnte aber mit Unterstützung der K P I die Regierung des Staates bilden. Unterdessen vermochten die rechten Parteien, vor allem diejenigen, die sich auf Wahlbündnisse orientiert hatten, ihre Positionen nach der Niederlage von 1971 wieder zu erringen und sogar etwas zu erweitern. In Uttar Pradesch erhielt der B K D , der mit der dörflichen Oberschicht liiert und hier die wichtigste Oppositionspartei ist, 1974 einen ebenso hohen Stimmenanteil wie 1969 — 21 Prozent, dabei eroberte er aber 106 Abgeordnetensitze gegenüber den vorherigen 98. Bei den Parlamentswahlen von 1971 wurden für den B K D insgesamt nur 13 Prozent der Stimmen abgegeben. Auch der J a n a Sangh erhielt 1974 mehr Sitze als 1969 — 61 gegenüber 49 — und fast ebensoviel Stimmen — 17 Prozent gegenüber 18 Prozent —, während bei den Parlamentswahlen von 1971 in diesem Staat nur 12 Prozent der Wähler für den J a n a Sangh gestimmt hatten. Der Organisationskongreß, der sich zum ersten Mal an den Wahlen für die Gesetzgebende Versammlung von Uttar Pradesch beteiligte, bekam 10 Sitze und ebensoviel Stimmen wie bei den Parlamentswahlen — 8 Prozent. In Orissa stieß unter den Oppositionsparteien die regionale bürgerliche Partei Utkal Kongreß nach vorn, die rechte Positionen vertrat. Sie sammelte 26 Prozent der Stimmen und 33 Sitze gegenüber 21 Prozent der Stimmen und 32 Sitzen bei den außerordentlichen Wahlen zur Gesetzgebenden Versammlung im J a h r e 1971. Die Swatantra, einst hier die wichtigste Oppositionspartei, erhielt 12 Prozent der Stimmen (1971 — 17 Prozent), die Anzahl ihrer Sitze in der Gesetzgebenden Versammlung ging von 36 auf 21 zurück (Darin kam zum Ausdruck, daß der politische Einfluß der feudalen Grundbesitzeraristokratie sinkt). Zugleich aber strebten ihre Führer aktiver die Blockbildung mit den politischen Vertretern jener relativ breiteren Gruppen der besitzenden Klassen in S t a d t und Land an, die die rechte Oppo-

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sition zum Kongreß unterstützten. Davon zeugte auch die Gründung des Pragati Dal in Orissa, der mit 38 Prozent etwa ebensoviel Stimmen erhielt wie die Kongreßpartei und nicht viel weniger Sitze (54 gegenüber 69). Wie schon erwähnt, gingen die beiden Parteien Utkal Kongreß und Swatantra nach den Wahlen in der neugebildeten Partei BLD auf. Bemerkenswert ist, daß bei den Wahlen in Uttar Pradesch der BKD, der Jana Sangh und der Organisationskongreß, die nicht nur die Regierungspartei, sondern auch einander bekämpften, zusammen etwa 46 Prozent der Stimmen und 177 Sitze erhielten, während der INK 32 Prozent der Stimmen und 214 Sitze bekam. Daraus ist ersichtlich, weshalb die reaktionären Kreise immer aktiver nach Zusammenarbeit der rechten und regionalen Parteien in verschiedenen Formen streben. Bei den Wahlen in Gudscharat im Juni 1975 gelang ihnen das in bedeutendem Maße. In diesem Staat wurde bereits unter dem Einfluß der Agitation Narayans und im Zusammenhang mit den Wahlen eine rechte Vereinigung unter dem hochtrabenden Namen „Volksfront" gegründet. Ihr schlössen sich neben dem Organisationskongreß, der wichtigsten Oppositionspartei in Gudscharat, der Jana Sangh, der BLD, die Sozialistische Partei und eine weitere kleine Gruppierung an. Diese Parteien — im wesentlichen dieselben, die 1971 die „Große Allianz" gebildet hatten — brachten sogar ein „gemeinsames Programm" zuwege, und was das Wichtigste ist, einigten sich völlig über die Aufstellung der Kandidaten, die sie „Volkskandidaten" nannten. Der merkliche Rückgang an Stimmen für den Kongreß einerseits, und das gemeinsame Auftreten der erwähnten Parteien, vor allem des Organisationskongresses und des Jana Sangh, andererseits, führten zur Niederlage der Regierungspartei. Obgleich der INK die größte Partei im Staat blieb, errang er die Mehrheit der Sitze in der Versammlung nicht und war außerstande, die Regierung zu bilden. Er erhielt 41 Prozent der Stimmen gegenüber 52 Prozent im Jahre 1972 und nur 75 von 182 Sitzen. Die Parteien der „Front" und die von ihnen unterstützten unabhängigen Kandidaten erhielten zusammen nur 34 Prozent der Stimmen — weniger als der Kongreß —, aber mehr Sitze — 87. Dabei entfielen auf die beiden Hauptparteien der „Front" — den Organisationskongreß und den Jana Sangh — etwa ebensoviel Stimmen wie 1972 — entsprechend 23 und 9 Prozent, sie konnten aber mit Hilfe von Wahlabsprachen untereinander und mit mehreren anderen Parteien ihre Vertretung vergrößern: der Organisationskongreß von 16 auf 56 Sitze und der Jana Sangh von 3 auf 18 Sitze. Trotzdem erhielt diese Vereinigung allein nicht die Mehrheit in der Versammlung. Sie konnten die Regierung nur mit Unterstützung der 13 Abgeordneten der regionalen Partei Pateis bilden. Dieser ehemalige Chefminister, den man aus dem Kongreß ausgeschlossen hatte, war dermaßen diskreditiert, daß sich selbst die Parteien der „Front" früher nicht entschließen konnten, seine Partei an ihrem Wahlabkommen zu beteiligen. Der Kongreß erlitt vor allem in den Städten, aber teilweise auch auf dem Lande Stimmenverluste. Indische Beobachter stellten fest, daß eine Ursache des Mißerfolges der Kongreßpartei bei den Wahlen in Gudscharat sowie des merklich schwindenden Einflusses an vielen anderen Orten die „Diskrepanz zwischen den

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Versprechungen und ihrer E r f ü l l u n g " war. In diesem Zusammenhang wies die „ T i m e s of I n d i a " auch auf folgende aufschlußreiche T a t s a c h e hin: In G u d s c h a r a t , wo der Einfluß der fortschrittlichen K r ä f t e gering ist, suchte der Kongreß „ d e n R a d i k a l i s m u s seiner Losungen dem regionalen politischen K l i m a entsprechend zu mildern, allein, das konnte die einflußreichen Grundbesitzer offensichtlich nicht überzeugen".49 N a c h den Wahlen in G u d s c h a r a t verkündeten die Parteien der „ F r o n t " , daß sie sich zu den nächsten Parlamentswahlen, die A n f a n g 1976 bevorstehen, in dieser oder jener F o r m „ i m nationalen M a ß s t a b " vereinigen und versuchen wollten, andere Parteien der „nichtkommunistischen Opposition" einzubeziehen. Die regionale Partei im P a n d s c h a b , der Akali Dal, schloß sich ihnen sofort an. Die H a u p t b e d e u t u n g dieser Manöver bestand in folgendem. In der entstandenen S i t u a t i o n konnte eine derartige Vereinigung in der T a t die Macht des Kongresses mehr oder weniger erheblich untergraben. Allerdings könnte erstens keinerlei Koalition von Oppositionsparteien (deren jede nur begrenzten Einfluß in wenigen S t a a t e n besitzt) einen einigermaßen entscheidenden Sieg über den Kongreß im gesamtindischen Maßstab erringen. Das zeigten sogar die Wahlen in G u d s c h a r a t auf ihre Weise, obwohl hier die politischen K r ä f t e der Rechten im Unterschied zur L a g e in einer ganzen Reihe von anderen S t a a t e n überwiegenden Einfluß besitzen. Zweitens könnte die von den Rechten gebildete Koalition keine echte stabile und effektive gesamtindische Alternative zur Macht des Kongresses bieten, allein schon wegen der tiefverwurzelten sozialen, regionalen und anderen Unterschiede und Gegensätze zwischen den beteiligten Parteien. So stellte die bekannte Zeitung „ S t a t e s m a n " , die einen rechten S t a n d p u n k t bezieht, bald nach den Wahlen in G u d s c h a r a t fest, daß die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedern der „ F r o n t " „so stark sind wie i m m e r " . Weiter schreibt die Zeitung in bezug auf die Pläne zur Bildung einer rechten Vereinigung im gesamtindischen M a ß s t a b : „ D i e Annahme, daß die Volksfront in der F o r m , wie sich sie bis zum heutigen T a g e herausgebildet hat, die beste Methode sei, die R e g i e r u n g s p a r t e i zu entmachten', ist ziemlich zweifelhaft. Eine Regierung wie jene, die Herr B a b u b h a i P a t e l (Patel — regionaler Führer des Organisationskongresses, der Chefminister von G u d s c h a r a t wurde — E . K . ) nicht ohne Mühe zusammengezimmert hat, wird wohl k a u m E i n d r u c k auf die Wähler m a c h e n . " 5 0 Obgleich also gewisse Exponenten der rechten Parteien, vor allem des B L D , die S c h a f f u n g eines Zweiparteiensystems in Indien zu ihrem erklärten Ziel m a c h t e n — und das imponierte bestimmten gesellschaftlichen Kreisen —, konnten die Bemühungen u m die Vereinigung der bürgerlichen Oppositionsparteien nichts einem Zweiparteiensystem Entsprechendes hervorbringen. F a k t i s c h führten diese B e m ü hungen zur „Destabilisierung" der politischen Macht im L a n d e . Während die inneren und äußeren reaktionären K r ä f t e auf diese Weise dabei waren, die Macht des Kongresses zu untergraben, rechneten sie in Wirklichkeit darauf, ihnen genehme 149 Dilip Murerjee, The Lessons of Gujerat, in: The Times of India v. 16. 6. 1975. so Statesman v. 26. 6. 1975.

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Veränderungen in der staatlichen Führung und in der Innen- und Außenpolitik der Kongreßregierung zu erzwingen. In diesem Fall hätten sie nichts dagegen einzuwenden, wenn der INK an der Macht bliebe, weil sie selbst sowieso begriffen haben, daß sie zum Kongreß als Regierungspartei keinerlei wirksame Alternative zu bieten haben. So teilte bereits im Juni 1974 die rechtsstehende Zeitung „Indian Express" mit, daß die Führung des J a n a Sangh „damit zufrieden wäre", wenn die Regierungspartei dazu gebracht wird, die „Notwendigkeit einer nationalen Zusammenarbeit aller Parteien für die Lösung der aktuellen Probleme des Landes anzuerkennen". Wenn die rechten Kräfte auf dem Gebiet der Wirtschaft bestrebt waren, die weitere Entwicklung des staatlichen Sektors zu verhindern sowie die Bodenreform faktisch zum Scheitern zu bringen, so zogen sie auf politischem Gebiet gegen die fortschrittlichen Politiker des Kongresses zu Felde und suchten die Einstellung der Zusammenarbeit der Regierungspartei mit der KPI zu erzwingen. Die Aktivierung der rechten Parteien und insbesondere die Kampagne unter Leitung Narayans stimulierten die Fraktionstätigkeit in der Regierungspartei. Unter anderem rief eine gewisse Gruppierung im Kongreß, darunter mehrere ehemalige Mitglieder der Volkssozialistischen Partei, die Führung scheinbar von links kritisierend, unverhohlen und entgegen den Parteibeschlüssen zum „Dialog" und zur Annäherung an die „Bewegung" Narayans auf und forderte den Bruch mit der KPI. 5 1 Narayan versprach seinerseits den Beteiligten an dieser Gruppierung rückhaltlose Unterstützung seitens seiner „Bewegung" bis hin zur Unterstützung bei den Wahlen zu den gesetzgebenden Körperschaften. Die regierungsfeindliche Kampagne, an der sich sowohl verkrachte Politiker bürgerlich-liberalen Schlages als auch faschistoide Dunkelmänner, Pseudosozialisten und maoistische Abenteurer beteiligten, richtete ihre Spitze gegen Ministerpräsidentin Indira Gandhi persönlich, weil mit ihrem Namen die neue Entwicklung des politischen Kurses verknüpft war. Schon 1973 stellte sie fest: „Einige von uns meinen, daß Indira Gandhi die größte Gefahr für das Land bildet. Es bleibt nur die Frage, wie weit sie gehen werden." 52 Die Kampagne gegen die Ministerpräsidentin zielte darauf ab, ein gemeinsames Vorgehen der Rechten sowohl außerhalb als auch innerhalb der Regierungspartei zu erreichen. Bestandteil dieser Kampagne war der Versuch, die Wahl I. Gandhis ins Parlament im Jahre 1971 vor Gericht anzufechten. Das arrangierte ihr Opponent bei den Wahlen — ein Führer der damaligen SSP, der eine vernichtende Niederlage hinnehmen mußte: Er erhielt nur halb so viel Stimmen wie I. Gandhi, obgleich ihn die rechten Parteien gemeinsam unterstützten. Das provokatorische Urteil des Richters in Allahabad vom 2. Juni 1975 wurde gleichzeitig mit der Veröffentlichung der Wahlergebnisse in Gudscharat gefällt. Es war das Signal, das so etwas wie eine politische Verschwörung auslöste — mit dem Ziel, die Ministerpräsidentin zu stürzen und den Kurs des Landes zu revidieren. Ohne erst auf die Entscheidung des Obersten Gerichts zu warten, an welches I. Gandhi appelliert hatte, erklärten 61 52

Blue Print of the Strategy of Congress Right, in: Mainstream v. 15. 2. 1975. The Times of India v. 16. 9. 1973.

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die Führer mehrerer rechter Parteien, daß sie I. Gandhi nicht mehr als Ministerpräsiden tin anerkennen und ihre Regierung für ungesetzlich halten. Dabei faßten die Führungen des Jana Sangh, des BLD, des Organisationskongresses, der Sozialistischen Partei und des Akali Dal auf ihrer gemeinsamen Beratung den Beschluß, im Landesmaßstab eine Kampagne des zivilen Ungehorsams zu organisieren, um die Regierung lahm zu legen, was Unruhen und Sabotageakte zur Folge gehabt hätte. Jayaprakash Narayan wandte sich wiederum an die bewaffneten Kräfte der Polizei und die staatlichen Angestellten mit dem Aufruf, die „ungesetzlichen" Befehle der Regierung nicht auszuführen. Dieser Aufruf blieb unbeantwortet. Die Kongreßregierungen der Staaten und die Regierungspartei im ganzen stellten sich hinter die Regierung I. Gandhi. Die KPI und die bedeutendsten Gewerkschaftsverbände des Landes erwiesen ihr entschlossen Beistand. Die stürmischen Ereignisse der zwei Wochen, die auf das Urteil des Gerichts von Allahabad folgten, zeigten deutlich die politische und organisatorische Überlegenheit der Kongreßregierung und der sie unterstützenden fortschrittlichen Kräfte über die Rechtsparteien und diejenigen innerhalb des INK, die ihnen so oder so Schützenhilfe leisteten.

13. Der Ausnahmezustand. Das Regierungsprogramm Der Beschluß der Rechtsparteien, die Regierung lahm zu legen, war der Grund für die Verhängung des Ausnahmezustandes am 26. Juni. So etwas ist in der indischen Verfassung für den Fall von „inneren Unruhen" vorgesehen. Die wichtigsten Führer der rechten Parteien und einige mit ihnen im Einverständnis vorgehende oppositionelle Kräfte innerhalb des Kongresses wurden verhaftet. Hinter Gitter kamen viele Terroristen, Provokateure und einfach Kriminelle. Anderthalbdutzend Pogromorganisationen der Reaktion, darunter der RSS und der Ananda Marg, sowie etwa ein Dutzend maoistischer Gruppierungen wurden verboten. Politische Parteien wurden nicht verboten. Aber der Ausnahmezustand und insbesondere die Pressezensur setzte diejenigen außer Gefecht, die Unruhen inszenieren wollten. Versuche, mancherorts Aktionen gegen die Ausrufung des Ausnahmezustandes zu organisieren, erhielten keine Massenunterstützung und erwiesen sich als wirkungslos. Die Hauptsache besteht darin, daß der Ausnahmezustand, wie Indira Gandhi sagte, „uns eine neue Möglichkeit gibt, bei der Lösung unserer ökonomischen Aufgaben voranzuschreiten". 53 Das von der Regierung verkündete 20-Punkte-Programm der sozialökonomischen Maßnahmen basiert auf früher gefaßten Beschlüssen und erlassenen Gesetzen, deren Realisierung vorher sabotiert wurde. Dieses Programm sieht vor allem die Bodenreform und andere Schritte zur Beseitigung der Überreste von halbfeudalen Verhältnissen im Dorf vor. In einigen Staaten wurden die Gesetze über die Maximalgrenze des Grundbesitzes korrigiert mit dem Ziel, Zugeständnisse 63 The Times of India v. 2. 7. 1975.

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und Schlupflöcher, die sich die Großgrundbesitzerelemente ehedem verschafft hatten, zu liquidieren. Von der beginnenden Enteignung des Bodens, der die festgelegte Höchstgrenze überschreitet, wurde berichtet. Das Programm der Zuteilung von Land, auf dem die Hütten der Landarbeiter stehen, wurde wesentlich erweitert. 14 Mill. Landarbeiter sollen nun derartiges Land erhalten, während vorher beabsichtigt war, bis Ende der siebziger Jahre nur an 4 Mill. Landarbeiter Boden zu verteilen. Dem selben Bestreben der Abschaffung der halbfeudalen Unterdrückung dienen die Stundung der Schulden der Landarbeiter, armen Bauern und Handwerker, das Verbot der Schuldknechtschaft, die geplante Einführung eines Mindestlohnes für Landarbeiter im ganzen Land sowie die Gewährung von Krediten für landarme Bauern durch die staatlichen Banken. Man erwartet, daß diese Maßnahmen im ganzen die Lage von etwa 50 Mill. Bauern und Landarbeitern erleichtern. Es ist beabsichtigt, die Investionen für den staatlichen Sektor zu vergrößern, vor allem für eine beträchtliche Erweiterung der Bewässerungsanlagen und der Energiebasis. Maßnahmen zur weiteren Steigerung der ökonomischen Effektivität der Betriebe werden unternommen, so unter anderem durch Erhöhung der Preise für eine Reihe von Erzeugnissen — Kohle, Stahl, Strom u. a., die früher zu herabgesetzten Preisen an Privatbetriebe geliefert wurden. Nach der Verhängung des Ausnahmezustandes kolpotierten gewisse Kreise Gerüchte über massenhafte Nationalisierung in der Industrie usw., womit offensichtlich bezweckt wurde, die Produktion zu desorganisieren und die politische Lage der Regierung zu erschweren. Die Ministerpräsidentin widerlegte diese Gerüchte und erklärte, daß die Regierung „keine derartigen Pläne" habe. Das Verfahren bei der Vergabe von Lizenzen für Investitionen im Privatsektor wird zur Erhöhung der Produktion erleichtert. Zugleich wies man offiziell darauf hin, daß die Regierung jene Privatbetriebe, deren Produktionskapazität von den Besitzern zu einem wesentlichen Teil nicht ausgelastet wird, übernimmt und „ohne zu zaudern" jeden Zweig nationalisiert, „wenn sich das für das Allgemeinwohl und den Aufschwung der Wirtschaft als notwendig erweist". 54 Im September 1975 wurde bekanntgegeben, daß die Nationalisierung von vier großen Maschinenbauunternehmen, die zum Teil ausländischem Kapital gehören, in Vorbereitung sei. Diese Firmen waren geschäftlich zerrüttet und unter staatliche Kontrolle genommen worden. Es wurde mitgeteilt, daß die Besitzer keine Kompensation erhielten. 55 Vor kurzem wurden weitere „unrentable" Maschinenbaubetriebe unter staatliche Kontrolle gestellt. Es wurden Maßnahmen getroffen, um Steuerhinterziehungen zu verhindern und zugleich die unterste Gruppe der Steuerzahler, an 600000 Personen, von der Einkommenssteuer befreit. Nach dem Ausnahmezustand ging man daran, die Disziplin im Verwaltungsapparat zu festigen und die Korruption zu unterbinden. Mitteilungen über Entlassung von korrupten und untätigen Beamten, über die Revision alter Gesetze und Bestimmungen, die es derartigen Elementen ermöglichten, sich im Staatsapparat " Patriot v. 5. 7. 1975. The Times of India v. 24. 9. 1975.

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festzusetzen und die Umgestaltungen zu sabotieren, wurden veröffentlicht. Der Vorsitzende des Indischen Nationalkongresses D. K . Barooah erklärte, daß „Konservative und Reaktionäre" aus dem Verwaltungsapparat „vertrieben werden müssen" und daß opportunistische Elemente im Kongreß, die seinem Programm feindlich gegenüberstehen, „unvermeidlich gehen müssen". 5 6 Die parlamentarische Prozedur, die es bisher gestattete, die Annahme von Gesetzen durch Verzögerung und Obstruktion zu verhindern, wird überprüft. Natürlich haben die rechten Elemente nicht aufgegeben, und die Lage im Lande ist voller Widersprüche. Einige der verbotenen Pogromorganisationen der Reaktion versuchen, aus dem Untergrund zu wirken. Es wird auch von ehemaligen Mitgliedern rechter Parteien berichtet, die sich wiederum bemühen, auf irgendeine Weise in den Kongreß einzudringen, vom lokalen Widerstand konservativer Elemente gegen die Umgestaltungen auf dem Lande. Die K P I und die wichtigsten Gewerkschaftsverbände verurteilten den Beschluß der Regierungsorgane, den verbrieften Zuschlag zum Lohn der Arbeiter und Angestellten (Bonus) in den privaten und staatlichen Betrieben zu senken, ein Beschluß, gefaßt in einem Moment, da wegen des Ausnahmezustandes das Streikrecht aufgehoben war. Andererseits kommt die Zusammenarbeit der fortschrittlichen und demokratischen Kräfte in Gang, wodurch die Realisierung des von der Regierung verkündeten Programms der Reformen gesichert werden soll. In einigen Staaten arbeiten die Organisationen des I N K und der K P I unter diesem Aspekt zusammen, entwickelt sich die Zusammenarbeit der wichtigsten Gewerkschaftsverbände des Landes. Noch ein wichtiger Umstand ist zu erwähnen. Die Festigung der Macht des Kongresses als Regierungspartei im gesamtindischen Maßstab infolge des Sieges bei den Wahlen von 1971 und 1972 sowie der Einführung des Ausnahmezustandes im Jahre 1975 ist offensichtlich in vieler Hinsicht mit den Prozessen der Entwicklung Indiens als einheitlicher multinationaler Staat verknüpft. Im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand sprach I. Gandhi wiederholt davon, daß die Aktionen und Pläne der rechten Parteien eine Bedrohung für die Einheit Indiens darstellten. In einem Land, wo unterschiedliche Stadien der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise miteinander verbunden sind, gibt es und wirken auch gleichzeitig wichtige Elemente der beiden seinerzeit von W. I. Lenin erwähnten historischen Tendenzen des sich entwickelnden Kapitalismus in der nationalen Frage. Die erste Tendenz, die, wie Lenin darlegte, zu Beginn der kapitalistischen Entwicklung überwiegt, kommt vor allem im Erwachen des nationalen Lebens zum Ausdruck, die zweite in der Entwicklung und Aktivierung der Beziehungen zwischen den Nationen, in der Schaffung der Einheit des wirtschaftlichen Lebens und der Politik. W. I. Lenin wies darauf hin, daß die zweite Tendenz „den reifen, seiner Umwandlung in die sozialistische Gesellschaft entgegengehenden Kapitalismus" charakterisiert. 57 Gerade diese Vereinigungstendenz garantiert die Einheit des riesigen multinationalen Indien. 56 Current v. 23. 7. 1975. 5 7 W. I. Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, in: Werke, B d . 20, Berlin 1961, S. 12.

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Zugleich kommt es im Land gesetzmäßig zum Erwachen des nationalen Lebens der verschiedenen Völker und zur weiteren nationalen Konsolidierung jedes einzelnen von ihnen, was vor allem mit einer früheren historischen Etappe in Zusammenhang steht. Unter den in Indien vorhandenen Voraussetzungen erweist sich, daß die privatkapitalistische Großproduktion als solche die Vereinigungstendenzen nicht realisieren kann. Im Gegenteil, schon die Ereignisse der sechziger Jahre im ganzen und die mit ihnen einhergehenden nationalen und Sprachprobleme zeigten ganz deutlich, daß die wachsende ökonomische Macht und der zunehmende politische Einfluß der monopolistischen Oberschicht der Bourgeoisie sehr gefährlich für die Einheit des Landes sind. In Indien hat sich das private Großkapital das kleine und mittlere Unternehmertum, das zugleich mit der Großproduktion wächst, bei weitem noch nicht subordiniert. Hinzukommt, daß die monopolistische Oberschicht der Bourgeoisie vornehmlich zu besonderen abgeschlossen religiösen Gruppen und Kasten gehört und gegenüber den meisten Völkern des Landes, bei denen sich erst einmal in unterschiedlichem Grade vor allem die untere und teilweise die mittlere Bourgeoisie formiert hat, sozusagen „supranational" ist. Die Großbourgeoisie entfaltet ihre ökonomische Tätigkeit im gesamtindischen Maßstab und müßte deshalb eigentlich, wie es scheint, an der Einheit des Landes interessiert sein. Allein, der unvermeidliche Druck der Monopole auf das kleine Unternehmertum (vor allem bei dem oligarchischen Charakter der Macht, wie das in einigen Staaten der Fall war) erweckt den Widerstand breiterer Schichten der Bourgeoisie. In einem multinationalen Land kann dies zu wachsendem regionalen Nationalismus und Separatismus führen, den die unterschiedlichsten reaktionären Kräfte, Vertreter der Monopolbourgeoisie selbst eingeschlossen, gern ihren Zwecken dienstbar machen. Andererseits beschränkt sich die privatunternehmerische Tätigkeit der unteren und der relativ kleinen mittleren Gruppen der Bourgeoisie auf die entsprechenden nationalen Regionen (Staaten). Daher kann das kleine und mittlere Unternehmertum an sich nicht genügend ökonomische und soziale Voraussetzungen für eine stabile Einheit des riesigen multinationalen Landes schaffen. Dies kommt in den extremen autonomistischen Tendenzen in einigen regionalen Parteien und Gruppierungen (DMK, B L D u. a.) zum Ausdruck, die in Separatismus umschlagen und von reaktionären politischen Kräften ausgenutzt werden. Letztere unterstützen auch anarchische, vom Besitzstreben inspirierte Ambitionen der unteren Bourgeoisie, den Widerstand der Oberschicht des Dorfes gegen die Agrarreform sowie alte Vorurteile und schlagen daraus politisches Kapital. So paßt die Tatsache, daß der B L D , eine Vereinigung regionaler Parteien, dafür eintritt, die Vollmachten des Zentrums auf ein Minimum zu reduzieren, lückenlos in sein konservatives sozialökonomischesKonzept. Das ist der Grund, weshalb der wachsende staatliche Sektor, wenn er von der Unterwerfung unter die Monopole befreit ist, gesetzmäßig zur führenden ökonomischen Kraft der Einheit des multinationalen Indien und des Fortschritts in diesem Lande überhaupt wird. Die sozialen und politischen Kräfte, die diese Einheit fördern, sind gerade jene Klassen und Schichten, die an einer Entwicklung des-

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staatlichen Sektors, frei von Unterordnung unter die Monopole, interessiert sind. Das sind vor allem die werktätigen Massen, insbesondere die Arbeiterklasse, sowie in unterschiedlichem Maße die nichtmonopolistischen Schichten der Bourgeoisie, insofern diese ein Interesse an der Entwicklung des staatlichen Sektors haben. Es ist anzunehmen, daß die obenerwähnten Umstände eine nicht unwesentliche Rolle bei der Festigung der Position des INK als Regierungspartei im gesamtindischen Rahmen nach der progressiven Modifizierung seines Kurses in den Jahren von 1969 bis 1972 sowie bei der Zunahme des Einflusses der K P I als gesamtindische Partei gespielt haben, während der vorwiegend regionale Charakter der übrigen Parteien erhalten blieb oder sich sogar verstärkte. Dies bedeutet keineswegs, daß das ziemlich komplizierte Problem der „Beziehungen zwischen dem Zentrum und den Staaten" nicht mehr besteht. I m Indien von heute ist das die hauptsächliche, wenn auch nicht einzige Ausdrucksform der nationalen Frage. Fortschrittliche Kreise der Gesellschaft machen darauf aufmerksam, daß die Teilung der Funktionen und Vollmachten zwischen der Zentralregierung und den Regierungen der Staaten einer Verbesserung bedarf, damit die Festigung der ökonomischen und politischen Einheit des Landes bei einer entsprechenden Entwicklung der Rechte und Vollmachten der Staaten im Interesse der Entfaltung einer schöpferischen Initiative für den Aufschwung der Wirtschaft und der Kultur gesichert wird. Es sind nicht wenige unterschiedliche Kräfte und Gruppierungen vorhanden, bereit, jeden Widerspruch zu nutzen und zu fördern, der sich aus den Beziehungen zwischen dem Zentrum und den Staaten sowie aus den nationalen und regionalen Wechselbeziehungen überhaupt ergibt. Die Vermeidung oder Lösung dieser Widersprüche und somit die weitere Festigung der Einheit oder, wie man in Indien sagt, die „nationale Integration" hängen schließlich davon ab, daß das Land auf dem Wege des sozialen Fortschritts vorankommt. Das bezeugt die ganze Entwicklung des politischen Kampfes in Indien. Die Wandlungen, die sich 1975 vollzogen, und das Regierungsprogramm an sich sprengen keineswegs den Rahmen der bürgerlichen Entwicklung. „Die Grundstruktur der Nation", erklärte I. Gandhi, „hat sich in keiner Weise geändert." 5 8 Sie sagte zudem, daß der eingeschlagene politische Kurs ein „im weitesten Sinne des Wortes zentristischer" ist. 59 Zugleich brachten die Ereignisse der letzten J a h r e stärker als je die verschärften Widersprüche der bürgerlichen Entwicklung, ihre Krise an den Tag. Darauf wird in der Entschließung des Zentralen Exekutivkomitees der K P I vom 2. Juli 1975 hingewiesen. Unter anderem auf die präzedenzlose Zuspitzung der „politischen Differenzierung und des Konfliktes innerhalb der indischen Bourgeoisie" eingehend, stellte das Z E K d e r K P I fest, daß „die, die die antiimperialistischen, demokratischen Schichten der Bourgeoisie repräsentieren, gezwungen waren, die Unterdrückungsorgane der Staatsmacht gegen jene einzusetzen, die die proimperialistischen und reaktionärsten Schichten vertreten". Weiter heißt es in der Entschließung, daß die 68 88

Indian and Foreign Review v. 15. 7. 1975. Indian and Foreign Review v. 1. 8. 1975.

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entstandene Situation äußerst günstige Möglichkeiten für die „Einheitsfront der Arbeiterklasse, der Bauernschaft und der anderen Werktätigen mit der antiimperialistischen demokratischen nationalen Bourgeoisie" und für progressive Veränderungen „in Bichtung auf eine nationale Demokratie" eröffnet und daß dies eine „realistische und elastische Taktik seitens unserer Partei" erfordert. 60 Somit entstehen neue Voraussetzungen und Möglichkeiten für die weitere Überwindung des kolonialen Erbes, für den Aufschwung der nationalen Wirtschaft und für den sozialen Fortschritt. Diese historischen Aufgaben werden heute immer aktueller und dringender, und man kann sie in unserer Zeit nicht mit Erfolg lösen, trifft man nicht Maßnahmen, die, um mit Lenins Worten zu sprechen, „Schritte zum Sozialismus" sind. 61 Gesetzmäßige Ergebnisse der unabhängigen nationalen und der sozialen Entwicklung Indiens waren die Festigung seiner positiven Bolle im internationalen Leben und das Wachstum der fruchtbaren Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern. Im Jahre 1971 wurde der Vertrag über Frieden, Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und Indien abgeschlossen. In den folgenden Jahren stellte Indien in vollem Umfang diplomatische Beziehungen zur Deutschen Demokratischen Bepublik und zur Demokratischen Republik Vietnam her. Der Sowjetisch-Indische Vertrag besiegelte die schon Tradition gewordenen freundschaftlichen Verbindungen zwischen beiden Ländern. Gleichzeitig eröffnete er neue Perspektiven für die weitere Entwicklung der sowjetisch-indischen Zusammenarbeit, die in wachsendem Maße die Lösung großer Aufgaben im Interesse beider Länder, im Interesse des Friedens und der Sicherheit fördert. ' Der Vertrag wurde sogleich zu einem wichtigen Glied der gegenwärtigen internationalen Beziehungen in Asien und in der ganzen Welt. Es ist wohl bekannt, daß es die sowjetisch-indische Zusammenarbeit erlaubte, während der gefährlichen Krise, die 1971 auf dem indischen Subkontinent entstanden war, die Einmischung feindlicher äußerer Kräfte zu verhüten und daß sie zur Verwirklichung der nationalen Bechte des Volkes von Bangladesch beitrug. Dieser Sieg war ein entscheidender Schritt bei der Überwindung jenes erdrückenden Erbes in den Beziehungen zwischen den Völkern des indischen Subkontinents, das vom Kolonialismus hinterlassen worden war und von ausländischen imperialistischen Kreisen und in der Folgezeit auch von den Maoisten ausgenutzt wurde. Es entstanden neue, günstigere Bedingungen für die Herstellung normaler Beziehungen zwischen den Ländern des Subkontinents, für die Sache des Friedens und des Fortschritts in dieser Region. Die Weiterentwicklung der sowjetisch-indischen Beziehungen kam zum Ausdruck in der Gemeinsamen Sowjetisch-Indischen Erklärung und in einer Reihe von Vereinbarungen über die Zusammenarbeit während des offiziellen Freundschaftsbesuches 60 61

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National Emergency and Our Tasks, in: New Age v. 6. 7. 1975. W. I. Lenin, Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution, in: Werke, Bd. 24, Berlin 1959, S. 59. Politik in Indien

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des Generalsekretärs des Z K der K P d S U L. I. Breshnew in Indien im Jahre 1973. Die Vereinbarung über die weitere Entwicklung der Zusammenarbeit auf dem Gebiete der Wirtschaft und des Handels zwischen der U d S S R und Indien für 15 Jahre und die Vereinbarung über die Zusammenarbeit zwischen den Planungsorganen beider Länder sehen sowohl eine bedeutende Erweiterung der bestehenden ökonomischen Zusammenarbeit als auch die Entwicklung neuer Formen und Richtungen vor. Die Zusammenarbeit Indiens mit der Sowjetunion und den anderen Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft wird zweifellos auch in Zukunft eine prinzipiell wichtige Rolle bei der Festigung des internationalen Friedens und der Sicherheit, bei der weiteren Entwicklung der jetzigen positiven Tendenzen in der Weltpolitik zu spielen haben. In der Gemeinsamen Sowjetisch-Indischen Erklärung vom 29. Januar 1973 wird besonders darauf verwiesen, daß die Sowjetunion und Indien „der umfassenden Entwicklung der gegenseitig vorteilhaften Zusammenarbeit sowie der Festigung des Friedens und der Stabilität in Asien in gemeinsamen Bemühungen aller Staaten dieses größten und dichtbesiedeltsten Gebietes der Welt besondere Bedeutung beimessen." In der Erklärung heißt es, die Sowjetunion und Indien „treten konsequent für das Recht der Völker ein, frei über ihr Schicksal zu verfügen, ihre souveränen Rechte auszuüben und fortschrittliche sozialökonomische Umgestaltungen vorzunehmen". 62 Wie L. I. Breshnew in seiner Rede auf dem Massenmeeting in Neu-Delhi feststellte, sind die sowjetisch-indischen Beziehungen „eine der überzeugendsten Erscheinungsformen des großen Bündnisses zwischen der Welt des Sozialismus und der Welt, die von der nationalen Befreiungsbewegung hervorgebracht wurde". 63 Seit Erringung der Unabhängigkeit im Jahre 1947 festigte Indien seine nationale Souveränität und legte die Grundlagen einer Entwicklung in Richtung auf die ökonomische Selbständigkeit. Es spielte und spielt eine bedeutende positive Rolle im internationalen Leben. Jetzt tritt Indien in eine neue Etappe seiner Entwicklung auf dem Wege der Unabhängigkeit und des gesellschaftlichen Fortschritts ein. «2 Neue Zeit, Moskau, 49/1973. 6 3 L. I. Breshnew, Rede auf der Massenkundgebung in Neu-Delhi, in: Neues Deutschland v . 28. 11. 1973.

D. WEIDEMANN

Die Haltung des Indischen Nationalkongresses zu internationalen Fragen — entscheidende historische Quelle und Vorgeschichte der Außenpolitik des unabhängigen Indien

Die Republik Indien ist im Vierteljahrhundert seit der Unabhängigkeit zu einem bedeutenden internationalen Faktor geworden. Ihre Außenpolitik hat in solchen Grundfragen der Weltpolitik wie Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit, Kampf gegen Krieg, Aggression, Kolonialismus und Rassismus eine klare Position bezogen und damit positiv auf die Entwicklung wirklich weltweiter, gleichberechtigter internationaler Beziehungen eingewirkt. Über die Außenpolitik Indiens bzw. einzelne Aspekte und Perioden liegt daher eine relativ breite, von den unterschiedlichsten politischen und ideologischen Standorten aus geschriebene Literatur vor, wenngleich bis heute eine tatsächliche Gesamtdarstellung der indischen Außenpolitik noch aussteht. 1 Wenn hier der Versuch gemacht wird, die wesentlichsten historischen Quellen der Außenpolitik des unabhängigen Indien näher zu beleuchten, dann vor allem aus vier Gründen: Erstens, soll konkret die These erhärtet werden, daß man bei der Wertung der Entwicklung der national befreiten Staaten, ohne andere Grundkriterien zu vernachlässigen, niemals vergessen darf, daß sie unmittelbares Ergebnis des antikolonialen nationalen Befreiungskampfes sind. Zweitens, die Grundprinzipien und Hauptrichtungen der indischen Außenpolitik sind im Vergleich zu anderen afro-asiatischen Staaten in ungewöhnlich hohem Maße bereits in der Periode des antikolonialen Kampfes, noch vor der Erringung der Unabhängigkeit, geprägt worden. Das war die Grundlage für die 1958 getroffene Einschätzung Ajoy Ghosh's, daß „Indiens gegenwärtige Außenpolitik die Unterstützung der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung" habe und in der Lage sei, sie zu einigen, „da sie sich in Übereinstimmung mit unseren nationalen Interessen befindet" .2 Drittens, keine ernsthafte Einschätzung der gegenwärtigen indischen Außenpolitik kann darauf verzichten, die heutige Praxis mit dem Programm und den Zielen der nationalen Befreiungsbewegung auf internationalem Gebiet zu vergleichen. Hat doch die Kongreßpartei in ihrer außenpolitischen Resolution vom Dezember 1948 selbst mit allem Nachdruck erklärt: „Die Außenpolitik Indiens muß sich auf der 1 Nach Auffassung des Verfassers ist die marxistisch-leninistische Literatur zur indischen Außenpolitik im Verhältnis zu anderen Bereichen der Entwicklung Indiens nicht ausreichend und überdies lückenhaft. Daher sind künftig systematische und koordinierte Anstrengungen unumgänglich und vorliegende, z. T. sehr wertvolle Forschungsergebnisse müssen stärker als bisher veröffentlicht werden. 2 A. Ghosh, Articles and Speeches, Moscow 1962, S. 96.

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Grandlage jener Prinzipien entwickeln, die den Kongreß in den vergangenen J a h r e n geleitet haben . . ," 3 Viertens, ohne Zweifel wird in den kommenden Jahren die Erforschung der indischen Außenpolitik immer stärker ins Blickfeld der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften rücken. Als Beitrag dazu sollen an dieser Stelle einige wesentliche Aspekte der direkten Vorgeschichte der Außenpolitik Indiens zur Diskussion*gestellt werden. 4

1. Die wesentlichen historischen Quellen der A u ß e n p o l i t i k des u n a b h ä n g i g e n I n d i e n Die Quellen der Außenpolitik eines Landes sind sehr vielfältiger Natur, geht doch die konkrete Außenpolitik aus der gesamten historischen und politischen Entwicklung, den spezifischen inneren Machtverhältnissen und den äußeren Existenzbedingungen (einschließlich der geographischen Lage) eines Staates sowie der iD Zeit und Raum fixierten internationalen Lage hervor. Dabei ist es in der Praxis sehr schwierig, Quellen und Grundlagen einer gegebenen Außenpolitik voneinander zu trennen. In der folgenden Betrachtung wird daher versucht, die relevanten historischen Wurzeln bzw. Quellen der indischen Außenpolitik sichtbar zu machem. Historische Quellen der Außenpolitik Indiens sind nach meiner Auffassung vor allem: 1. Das aus der gesamten historischen Entwicklung resultierende Verhältnis zur Außenwelt. So ist z. B. nicht zu übersehen, daß bestimmte Aspekte der Beziehungen zu Nachbarstaaten aus der kolonialen Geschichte Indiens (Burma, Sri Lanka) und selbst aus der vorkolonialen Zeit (Afghanistan, Himalaya-Staaten, China, Südostasien) resultieren. 2. Die Widerspiegelung des antikolonialen und nationalen Befreiungskampfes in der Haltung zu internationalen Fragen bzw. in außenpolitischen Leitvorstellungen. In diesem Rahmen wirkten sehr viele und auch überaus unterschiedliche Faktoren. Die bedeutendsten waren das außenpolitische Programm der nationalen Bewegung, die Einstellung der breiten Volksmassen fremden Völkern gegenüber — insbesondere der Einfluß fremdenfeindlicher Auffassungen und ihre Verdrängung durch einen antikolonial determinierten Nationalismus, sowie der in Indien bemerkenswert starke Einfluß moralisch-ethischer Kategorien, die in der Folgezeit ein gewisses außenpolitisches Sendungsbewußtsein produzierten. 5 3 4

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All India Congress Committee, Resolutions on Foreign Policy, New Delhi 1957, S. 3. Dabei kann sich diese Studie auf Vorarbeiten zu einzelnen Aspekten stützen, die von E. Schaller sowie V. Arzig und J. Krause im Rahmen größerer, nichtveröffentlichter Untersuchungen vorgelegt wurden. Für die Periode des zweiten Weltkrieges wurden in größerem Maße Materialien aus der Dissertation des Verfassers herangezogen. So ist den theoretischen Begründungen der Nonalignment-Politik meist ein stark moralisierendes Element eigen.

Quellen der indischen Außenpolitik

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3. Die historisch gewachsene Weltsicht der wichtigsten Klassenkräfte und besonders der vor und nach der Erringung der Unabhängigkeit im inneren Klassenkräfteverhältnis dominierenden Elemente bzw. Gruppen. So ist die Gesamtentwicklung der Außenpolitik der indischen Nationalbewegung nicht von der Klassenstellung ihrer Führungskräfte, von den bedeutenden strategischen und taktischen Auseinandersetzungen im Indischen Nationalkongreß (INK) zwischen 1922 und 1947, von der Ausstrahlungskraft einer solchen Persönlichkeit wie Jawaharlal Nehru zu trennen. Im Falle Indiens bildeten diese drei Faktoren eine weitgehende Einheit, durchdrangen einander und verschmolzen schließlich faktisch. Daraus resultiert, daß die wichtigste historische Quelle der indischen Außenpolitik das außenpolitische Credo der nationalen Befreiungsbewegung und ihre Haltung zu internationalen Fragen waren. Über große Perioden hinweg war in Indien die organisierte nationale Befreiungsbewegung — was den politischen und sozialen Einzugsbereich, den effektiven Einfluß und die Stellung in der antikolonialen Front betrifft — in hohem Maße mit der Entwicklung und der Politik des INK verbunden. Daher konzentriert sich die Darstellung im folgenden durchaus legitim auf die Herausbildung, Entwicklung und endgültige Formierung der außenpolitischen Konzeption des Nationalkongresses, da diese vordergründig und primär die Richtung und den weltpolitischen Standort der indischen Außenpolitik bestimmt hat. Die Außenpolitik der anglo-indischen Regierung — die zweifellos Einfluß auf die Konzipierung der indischen Regionalpolitik nahm 6 — kann hier mit Fug und Recht ausgeklammert werden, da es sich um eine britische, nicht aber um indische Politik handelte. Es ist daher mehr als erstaunlich, daß die wirkliche Vorgeschichte der indischen Außenpolitik in der umfangreichen „Diplomatischen Geschichte des modernen Indien" von Charles A. Heimsath und Surjit Mansingh überhaupt nicht vorkommt, daß im Gegenteil der inhaltlich völlig untaugliche Versuch unternommen wird, die gegenwärtige indische Außenpolitik unter Hinweis auf Struktur, Stil und Definitionen organisch aus der Außenpolitik der anglo-indischen Regierung, also letztlich aus britischer Empirepolitik abzuleiten. 7

2. Die H a l t u n g des Indischen Nationalkongresses zu internationalen Fragen von 1885 bis 1917 Die Entstehung des Indischen Nationalkongresses war das Ergebnis grundlegender sozialer und politischer Entwicklungsprozesse im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts — vor allem der sich beschleunigenden Klassendifferenzierung und der allmählichen Formierung der indischen Bourgeoisie. 6

7

Vgl. u. a. B. Prasad, Our Foreign Policy Legacy. A Study of British Indian Foreign Policy, New Delhi 1965. Ch. A. Heimsath, S. Mansingh, A Diplomatie History of Modern India, Bombay 1971, S. 3.

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Die verstärkte kolonial-kapitalistische Ausbeutung Indiens und die zunehmende Rolle der seit 1858 vom britischen S t a a t geleiteten Administration bei der Sicherung kolonialer Überprofite erheischten, die einheimischen Oberschichten in den kolonialen Verwaltungsapparat einzubeziehen. E s entstanden eine „eingeborene" Bürokratie und mit der Ausbreitung kapitalistischer Verhältnisse und bürgerlicher Rechtsnormen eine einheimische Intelligenz, deren Gros bis zum Ende des ersten Weltkrieges vorzugsweise aus Juristen bestand. Bereits im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelte sich relativ rasch ein höheres Schulwesen nach britischem Muster in Indien, während seit dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts die Zahl der indischen Studenten an den europäischen, vornehmlich englischen Universitäten ständig zunahm. Gewisse Teile des produzierenden städtischen Gewerbes blieben erhalten und entwickelten sich, vor allem jene Zweige, die für die Stadtbevölkerung lebensnotwendige Waren erzeugten oder Luxusbedürfnisse befriedigten. Wenn sich einmal kapitalistische Verhältnisse zu entwickeln beginnen, ist die schließliche Konstituierung einer einheimischen Bourgeoisie unvermeidlich. In Indien entstand sie aus der Verschmelzung verschiedener Ausbeutergruppen — den wohlhabenden Händlern, Gewerbetreibenden und Manufakturisten, die der Konkurrenz der europäischen Industrie widerstanden hatten; der Oberschicht der freien Berufe, besonders reich gewordenen Advokaten; aufgestiegenen dörflichen und städtischen Wucherern sowie Teilen der Klasse der Grundherren. Die Restriktionsmaßnahmen der Kolonialmacht konnten diesen Prozeß lediglich verzögern, nicht aber seine Wirksamkeit aufheben. Die Formierung der Bourgeoisie in den Kolonien ist eine langwierige, komplizierte Entwicklung, die mannigfache Hindernisse überwinden mußte und häufige Rückschläge erlitt. Dennoch haben beispielsweise alle Anstrengungen der imperialistischen englischen Bourgeoisie und ihrer Unterdrükkungsmaschinerie in Indien nicht verhindern können, daß in diesem Lande die stärkste und bedeutendste einheimische Bourgeoisie im Gesamtbereich des imperialistischen Kolonialsystems entstand. Die Klassendifferenzierung erleichterte in entscheidendem Maße das Eindringen und die Aufnahme neuer ideologischer Konzeptionen, da sie die neuen sozialen Gruppen und Klassen schuf, an deren Existenz die Rezeption sowohl der bürgerlichen als auch der marxistischen Weltanschauung gebunden ist. Man kann daher durchaus nicht mit Auffassungen einverstanden sein, die die Ursachen für die Entwicklung von Nationalbewußtsein und Nationalbewegung weitgehend auf die Wirksamkeit geistiger Strömungen, auf ihre Evolution zurückführen und postulieren, daß die antikoloniale Bewegung eigentlich ein Produkt der westlichen Mächte sei und daß Unabhängigkeit für die Kolonialvölker nur bedeuten könne, das Werk der „Verwestlichung" fortzusetzen und zu vollenden. 8 E s liegt auf der Hand, daß man mit derlei, der Theorie von der „zivilisatorischen Mission" der Kolonialmächte ent8

D. G. E. Hall, The European impact on Southeast Asia, in: Nationalism and Progress in Free Asia, Baltimore 1956, S. 47; C. Schrenck-Notzing, Hundert Jahre Indien. Die politische Entwicklung 1857-1960, Stuttgart 1961, S. 34ff., 46ff.

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lehnten Konstruktionen den Ursachen und dem Wesen nationaler bzw. in nationalem Gewände auftretender sozialer Bewegungen und Prozesse nicht beikommt. Dagegen kann man voll E. Schaller zustimmen, wenn er schreibt: „Bourgeoisie und Intelligenz mußten unvermeidlich in ihrem britischen Homologen auf Konkurrenten stoßen, die ihren eigenen Fortschritt hemmten; und sie mußten daher zum Träger und Führer der ersten Schritte einer nationalen Bewegung im Lande werden." 9 Vor diesem Hintergrund muß die 1885 erfolgte Gründung des Indischen Nationalkongresses gesehen werden. Obgleich ursprünglich eine von britischer Seite initiierte Organisation, „die der britischen Herrschaft treu ergeben war" und eine Machtbeteiligung der sich entwickelnden einheimischen Bourgeoisie innerhalb des allgemeinen Systems der britischen Herrschaft erreichen wollte,10 wurde der INK dennoch bald und unvermeidlich zum Forum der nationalen Interessen, zum Zentrum organisierter antikolonialer Bestrebungen. Das „Erwachen eines indischen Nationalbewußtseins" drängte in der Folgezeit den Kongreß immer stärker zu einem von Großbritannien unabhängigen weltpolitischen Standort und fand in außenpolitischen Konzeptionen seinen Niederschlag. Es ist nur natürlich, daß die Evolution der allgemeinen politischen Haltung des Nationalkongresses und die sich durchsetzende Dominanz der liberalen Bourgeoisie entscheidende Wirkungsfaktoren für die weltpolitische Position des INK waren. Daher war die „Außenpolitik" des frühen Kongresses zunächst auch widersprüchlich, d. h. es existierten durchaus nicht nur antibritische Auffassungen. Dafür mag hier eine Stellungnahme Tilaks stehen. Selbst dieser kämpferische Antikolonialist war zeitweilig der Meinung, daß es eine der vordringlichsten Aufgaben Indiens sei, den Frieden in Asien und in der Welt und „die Stabilität des britischen Empire gegen alle Aggressoren und Friedensstörer sowohl in Asien als auch sonstwo zu erhalten". 11 Der INK war bis 1918 im allgemeinen loyal gegenüber dem Empire und bereit, „der Führung der britischen Regierung in wesentlichen Dingen zu folgen" t2 , und kritisierte Teilbereiche der Kolonialpolitik, wie die offensichtlichen Expansionsbestrebungen des britischen Imperialismus. Dabei spielte eine große Rolle, daß diese Politik weitgehend auf Kosten Indiens durchgeführt wurde. Horst Krüger stellt mit vollem Recht fest: „England benutzte Indien als Ausgangsbasis für weitere koloniale Eroberungen. Die Aggressionskriege im Sudan, in Ägypten, Abessinien, Afghanistan, Burma und China wurden mit indischen Soldaten geführt. Die KriegsE. Schaller, Indiens Politik in Süd- und Südostasien, Triebkräfte, Ziele und Methoden indischer Außenpolitik (1947-1962), Potsdam-Babelsberg 1967 ^(Dissertation), S. 4. Vgl. zu diesem Prozeß auch: H. Krüger, Zur Entwicklung der antiimperialistischen Ideologie in Indien zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Mitteilungen des Instituts für Orientforschung, Berlin, Bd. IX, Heft 213, 1963, S. 258 - 283. 1 0 B. Prasad, The Origins of Indian Foreign Policy. The Indian National Congress and World Affairs 1885-1947, Calcutta 1960, S. 27 ff. 1 1 Nach C. F. Andrews, G. K. Mookerjee, The Rise and Growth of Congress in India (1832-1920), Meerut 1967, S. 166. " B. Prasad, The Origins . . ., a. a. 0., S. 34. 9

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kosten wurden der indischen Bevölkerung aufgebürdet . . . Die Außenpolitik der britischen Kolonialregierung in Indien war stets aggressiv." 13 Diese Kritik, die später teilweise scharfe Formen annahm, hatte eine bedeutende psychologische Wirkung in Indien und trug spürbar zur Formierung des Weltbildes der gebildeten Schichten des Landes bei. Den Sicherheitsbedürfnissen Indiens und der emotionalen Solidarität mit den anderen asiatischen Völkern entsprechend, wandte sich der Kongreß frühzeitig gegen die annexionistische Empirepolitik in Süd- und Südostasien. In dem Maße, wie der I N K zur Vorhut der nationalen Bewegung wurde, wuchs die Erkenntnis, daß die äußere Politik der anglo-indischen Regierung vor allem auf die Festigung der Kolonialherrschaft und damit gegen die Grundinteressen des indischen Volkes gerichtet war. So schreibt J . C. Kundra: „Die Inder waren verzweifelt darüber, daß der britische Imperialismus im Namen der Verteidigung' Indiens seine Finger nach den Nachbarländern ausstreckte," 1 4 wobei jedoch zunächst der Gesichtspunkt, daß zynischerweise Indien auch noch die Kostender Kolonialfeldzüge tragen mußte, derauslösende Funke für diese Empörung war. Bereits auf der ersten Tagung des INK 1885 brachte P. M. Mehta eine Protestresolution gegen die Unterwerfung Ober-Burmas ein, die Großbritanniens Politik als ungerecht und unmoralisch verurteilte. 1 5 Im J a h r e 1891 unterstrich D. Wacha, daß Londons regionale Expansion vor allem zum Nutzen des britischen Kapitals erfolge. 16 Schließlich distanzierte sich der INK entschieden und erklärte, daß „die wahre indische Politik eine friedliche Politik ist. Indien hat wenig, wenn überhaupt etwas von Eroberungen zu erwarten." 1 7 Charakteristisch war auch die Haltung des Kongresses zur „Tibet-Expedition". Auf der Bombayer Tagung (1904) wurde der Vorstoß nach Tibet als „Akt offener Gewaltanwendung und Aggression" bezeichnet, und die Versammlung wandte sich gegen „die grausame Niedermetzelung des kaum bewaffneten tibetischen Volkes, dessen einziges Verbrechen darin bestand, sich einer Aggression von außen zu widersetzen." 1 8 In der Resolution hieß es u. a., daß die tibetische Expedition nur ein Teil der allgemeinen Vorwärtsstrategie Großbritanniens in Zentralasien sei, Indien in unerträglicher Weise in internationale Verwicklungen einbeziehe und sich letzten Endes als katastrophal für die besten Interessen des Landes erweise. 19 Auch später, 1908 gegenüber H. Krüger, Rezension zu P. C. M. S. Braun, Die Verteidigung Indiens 1800—1907. Das Problem der Vorwärtsstrategie, Köln-Graz 1968, in: Deutsche Literaturzeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft, Berlin, Jg. 93 Heft 2, Februar 1972, S. 142. 14 J . C. Kundra, Indian Foreign Policy, 1947—1954. A Study of Relations With the Western Bloc, Groningen-Bombay 1955, S. 34. 15 Proceedings of the First Indian National Congress, 2nd. Ed. Madras 1905, S. 74f. 16 Report of the Seventh Indian National Congress, Nagpur 1891, London 1892, S. 31 f. 17 Report of the Thirteenth Indian National Congress, Amraoti 1897, Bombay 1898, S. 28, zit. nach B. Prasad, The Origins . . ., a. a. O., S. 43. «ä Ebenda, S. 45. 19 Bombay Session 1904, Resolution X, in: All India Congress Committee, The Background of India's Foreign Policy. Edited by N. V. Rajkumar, New Delhi 1952, S. 37.

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der Türkei und Persien und 1912/13 während der Balkankriege unterstrich der INK diese Haltung zugunsten der Selbständigkeit der anderen asiatischen Staaten. Hinsichtlich der Gesamtpolitik Großbritanniens war der Kongreß in dieser Zeit jedoch wesentlich zurückhaltender. Noch 1889 befürwortete der Kongreßpräsident die Herrschaft des „freien und aufgeklärten England" über Indien und die erste, noch gemäßigte Resolution gegen die gesamte Außenpolitik der britischen Kolonialregierung wurde immerhin erst 1892 in Allahabad angenommen. 2 0 Das Zusammenwirken einer Reihe innerer und äußerer Faktoren führte seit 1904/05 zu neuen Zügen in der außenpolitischen Haltung des INK. Durch die wirtschaftliche Entwicklung Indiens und die damit verbundene Herausbildung einer jungen Industriebourgeoisie sowie neuer Mittelschichten begann sich die Zusammensetzung des Kongresses entscheidend zu verändern. Die Forderungen nach ungehinderter ökonomischer und politischer Entwicklung der indischen Bourgeoisie nahmen unter den Bedingungen der Kolonialherrschaft unvermeidlich die Form eines nationalen Aufbegehrens an und mündeten folgerichtig im nachdrücklich vorgetragenen Anspruch auf Selbstregierung. Gleichzeitig wirkten qualitativ neue Impulse von außen auf die indische Nationalbewegung ein. Der Sieg J a p a n s über das zaristische Rußland, eine Hochburg der internationalen Reaktion und des Kolonialismus, sowie die große internationale Ausstrahlungskraft der ersten russischen Revolution von 1905 lösten die erste Welle des bürgerlichen Nationalismus in Asien aus und hinterließen auch in Indien einen tiefen Eindruck. Es war durchaus kein Zufall, daß in diese Periode die erste politische Spaltung des Kongresses fiel, jene berühmte Fraktionsbildung der „Gemäßigten" um Gopal Krishna Gokhale und der „Extremisten" um Bai GangadharTilak. Sie markierte auch einen außenpolitischen Dissens, nämlich in der Grundhaltung zu Großbritannien und seiner asiatischen Politik. Die scharfe Verfolgung der „Extremisten" durch das Kolonialregime führte nach 1907/08 zu einer zeitweiligen Abschwächung der antibritischen Positionen. Im ersten Weltkrieg bezog die große Mehrheit des Kongresses eine loyale Haltung zum Kolonialregime. Eine Kongreßdelegation erklärte in einem Brief an den Staatssekretär für Indien, daß „die Fürsten und das Volk Indiens bereit und willig sein werden, nach besten Fähigkeiten zusammenzuarbeiten." 2 1 Auch der integre Patriot Tilak forderte 1916: „In einer solchen Krise ist es die Pflicht eines jeden Inders . . . die Regierung seiner Majestät mit allen Kräften zu unterstützen." 2 2 Die Unterstützung Großbritanniens im ersten Weltkrieg resultierte aus der Vorstellung, daß die Westmächte, wie die Londoner Regierung zu Beginn des Krieges in einer Grundsatzerklärung behauptete, für die Sache der Demokratie k ä m p f t e n : „Bis zu einem gewissen Grade war die Bourgeoisie auch von den wohltönenden Deklarationen der Alliierten über Demokratie, Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen düpiert worden. Man glaubte, diese Begriffe könnten auch auf Indien Anwendung finden und der Großbritannien in der Stunde der Not verliehene Beistand 20 Allahabad Session 1892, Resolution VII, in: Ebenda, S. 49. 21 Nach B. Prasad, The Origins . . ., a. a. O., S. 49. 22 Ebenda, S. 51.

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werde zu gegebener Zeit seine Belohnung finden." 2 3 Die Hoffnung, für bewiesene Loyalität Zugeständnisse in der nationalen Frage zu erhalten, zeigte sich deutlich in der Verbindung der probritischen Erklärungen mit der Forderung nach einem gleichberechtigten Status Indiens mit den weißen Dominien. 24 Die Zweckbetontheit dieses Verhaltens machte auch J . Nehru klar: „Trotz lauter Treuekundgebungen bestand wenig Sympathie für die Engländer. Gemäßigte und Extremisten hörten mit Befriedigung von den deutschen Siegen. Natürlich war dies nicht in der Liebe zu Deutschland, sondern im Wunsche begründet, unsere Herren erniedrigt zu sehen." 2 5 Nur eine Gruppe radikaler Nationalisten setzte jedoch direkt auf die Niederlage Großbritanniens und nahm daher Beziehungen zur deutschen Regierung auf. Diese indische Gruppe, aus der später das Zentralkomitee indischer Nationalisten in Europa hervorging, verpflichtete sich, Deutschland während des Krieges zu helfen, während die Reichsregierung „sich im Falle eines Sieges verpflichtete, die Befreiung Indiens durchzusetzen." 2 6 Ihre eigene Isoliertheit und der Ausgang des ersten Weltkrieges verurteilten sie jedoch zur Wirkungslosigkeit. Insgesamt gesehen, kann man für die Periode von 1885 bis 1917 das außenpolitische Grundverhalten des I N K wie folgt zusammenfassen: 1. Allmähliche Wandlung der mehr oder weniger probritischen Haltung zu einer deutlichen Distanzierung von der Empire-Politik. 2. Zunehmend klare Verurteilung des britischen Expansionismus gegenüber den Nachbarvölkern Indiens. 3. Emotionale Unterstützung nationaler und antikolonialer Befreiungsbewegungen in Asien. 4. Weitgehender Verzicht auf eine Position in Indien nicht berührenden Fragen der Weltpolitik bei Unterstützung Großbritanniens im ersten Weltkrieg, um Selbstregierung innerhalb des Britischen Empire zu erlangen.

3. Die außenpolitischen Leitvorstellungen des Nationalkongresses nach dem ersten Weltkrieg Die grundlegende Veränderung der internationalen Lage nach dem ersten Weltkrieg, bewirkt durch die Erschütterungen des Krieges, den welthistorischen Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Rußland sowie den offenen Ausbruch der allgemeinen Krise des Kapitalismus, hatte auch unmittelbare Konsequenzen für Indien. Die Entwicklung der internationalen Position des I N K wurde nach dem ersten Weltkrieg selbstverständlich in entscheidender Weise von der Entwicklung in Indien, vom Reifeprozeß der indischen nationalen Befreiungsbewegung und von der zunehmenden Erkenntnis der internationalen Rolle des Kolonialismus und des 23 24 25 26

J . Nehru, Weltgeschichtliche Betrachtungen. Briefe an Indira, Düsseldorf 1957, S. 779. Vgl. ebenda, S. 34 ff. J . Nehru, Indiens Weg zur Freiheit, Berlin 1957, S. 41. J . Nehru, Weltgeschichtliche Betrachtungen . . . , a. a. 0 . , S. 779.

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antikolonialen Kampfes bestimmt. An dieser Stelle muß jedoch nachdrücklich unterstrichen werden, daß die gesamte weitere Ausprägung der internationalen Haltung des I N K nur dann völlig verständlich wird, wenn man den gewaltigen politischen, ideologischen und psychologischen Eindruck berücksichtigt, den die siegreiche Oktoberrevolution, die antikoloniale und antiimperialistische Asienpolitik Sowjetrußlands und die historischen gesellschaftlichen Umwälzungen in Mittelasien auf breiteste Kreise in Indien machten. Dieser Problemkreis, zu dem bereits eine Reihe von Untersuchungen und Betrachtungen vorliegt 27 , bedarf einer gesonderten und detaillierten Analyse. Weit davon entfernt, seine vagen Versprechungen aus der Kriegszeit zu halten, zog Großbritannien die Zügel der Kolonialpolitik brutal an. Die intensivere Ausbeutung und die neuen, gegen die Nationalbewegung gerichteten Sondergesetze (Rowlatt Bill) führten im Zusammenwirken mit der Fortsetzung der unverhüllten britischen Expansionspolitik im Vorfeld Indiens (Afghanistan 1919) zu einer steigenden Erbitterung selbst bisher kooperationswilliger Kräfte. Die sich für breite Schichten verschlechternde soziale Lage einerseits sowie die deutliche ökonomische und klassenmäßige Stärkung der indischen Bourgeoisie andererseits bewirkten eine explosive Entwicklung des indischen Nationalismus, die zugleich bedeutende Teile der Mittelschichten an den I N K heranführte und seine Massenbasis sichtbar veränderte. 28 Auf der Grundlage des Wirkens neuer innerer und äußerer Faktoren kam es daher 1918 bis 1922 zur ersten allgemeinen Welle des politischen Massenkampfes in Indien, begann eine qualitativ neue Phase des antikolonialen Kampfes — die organisierte, von den Volksmassen getragene nationale Befreiungsbewegung. Die endgültige Herausbildung der indischen nationalen Befreiungsbewegung war identisch mit dem Beginn der Krise des imperialistischen Kolonialsystems in Indien. Unter diesen neuen Bedingungen konnte der I N K weder außenpolitische Abstinenz üben noch sich auf Reaktionen zu Ereignissen an den Grenzen bzw. im Vorfeld Indiens beschränken. Er mußte parallel zum Kampf um Selbstregierung ein außenpolitisches Programm entwickeln und angesichts der grundlegend veränderten Weltlage eine internationale Position beziehen. So forderte der Kongreß nach dem ersten Weltkrieg erstmalig „die Anerkennung Indiens durch das britische Parlament und durch die Friedenskonferenz als eine der progressiven Nationen, der die Prinzipien der Selbstbestimmung gewährt werden sollten". 29 Das neue Programm ist untrennbar mit der Person und den Auffassungen Mohandas Karamchand Gandhis verbunden, der unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg zur zentralen Figur der Kongreßbewegung geworden war. Er schrieb 1921: „Während wir unsere SwarajSiehe u. a. V. V. Balabushevich, B. Prasad, India and the Soviet Union. A Symposium, New Delhi 1969; A. Gupta (ed.), India and Lenin, New Delhi 1960; D. Kaushik, L. Mitrokhin; Lenin — His Image in India, New Delhi 1970; J . Nehru, Soviet Russia. Some Random Sketches and Impressions, Bombay 1929; S. G. Sardesai, India and the Russian Revolution, New Delhi 1967; Ch. Sehanavis, Lenin and India, Calkutta 1969. 2 8 J . Nehru, Weltgeschichtliche Betrachtungen . . ., a. a. 0 . , S. 884. 29 Nach B. Prasad, The Orgins . . ., a. a. 0 . , S. 63. 27

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Pläne reifen lassen, haben wir auch unsere Außenpolitik in Betracht zu ziehen und sie überhaupt erst zu definieren . . .'