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German Pages [341] Year 2020
L’Homme Schriften Reihe zur Feministischen Geschichtswissenschaft
Band 26
Herausgegeben von Caroline Arni/Basel, Gunda Barth-Scalmani/Innsbruck, Ingrid Bauer/Wien und Salzburg, Mineke Bosch/Groningen, Boz˙ena Chołuj/Warschau, Maria Fritsche/Trondheim, Christa Hämmerle/Wien, Gabriella Hauch/Wien, Almut Höfert/ Oldenburg, Anelia Kassabova/Sofia, Claudia Kraft/Wien, Ulrike Krampl/Tours, Margareth Lanzinger/Wien, Sandra Maß/ Bochum, Claudia Opitz-Belakhal/Basel, Regina Schulte/Berlin, Xenia von Tippelskirch/Berlin, Heidrun Zettelbauer/Graz
Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.
Ingrid Bauer / Christa Hämmerle / Claudia Opitz-Belakhal (Hg.)
Politik – Theorie – Erfahrung 30 Jahre feministische Geschichtswissenschaft im Gespräch
Mit 2 Abbildungen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung des Instituts fþr Geschichte der UniversitÐt Wien, der Wissenschafts- und Forschungsfçrderung der Kulturabteilung der Stadt Wien, der UniversitÐt Basel und des Wissenschaftsressorts des Landes Salzburg. 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Redaktion und Lektorat: Michaela Hafner Lektorat der englischen Texte: Christine Brocks Umschlagabbildung: Jþrgen Ehrmann Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2509-565X ISBN 978-3-7370-1087-0
Inhalt
Ingrid Bauer, Christa Hämmerle und Claudia Opitz-Belakhal 30 Jahre „L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft“ – einleitende Reflexionen . . . . . . . . . . . . .
9
1. Lebenswege – Forschungswege Olwen Hufton interviewed by Lotte van de Pol (2002) “The development of the gendered eye” . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
Karin Hausen im Gespräch mit Christa Hämmerle (2018) Von der ,großen‘ Geschichte des Alltäglichen . . . . . . . . . . . . . . . .
35
Gianna Pomata im Gespräch mit Xenia von Tippelskirch (2015) Eine Historikerin auf Reisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
Hans Medick im Gespräch mit Edith Saurer (1996) Von den Rändern der Geschichte her . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
Gerda Lerner im Gespräch mit Ingrid Bauer und Christa Hämmerle (2006) „Das Altern ist ein Tanz auf unebener Erde …“ . . . . . . . . . . . . . .
75
Ruth Beckermann im Gespräch mit Ruth Wodak (2001) Verdrängung und Erinnerung: Der Film „Jenseits des Krieges“ (1996) . .
85
2. Feminismen und Frauenbewegungen – national/global Michelle Perrot im Gespräch mit Alice Pechriggl (1993) Zur Entstehungsgeschichte der „Histoire des femmes en Occident“ . . . .
99
6 Ute Gerhard im Gespräch mit Ingrid Bauer (2009) „In diesem Sinne ist ,1968‘ auch Teil meiner Geschichte …“
Inhalt
. . . . . . . 111
Luisa Passerini im Gespräch mit Almut Höfert (2017) Politik, Geschichte und Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Mercedes Barquet Montané im Gespräch mit Teresa Frisch-Soto (2006) Feministische Bewegungen in Mexiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Svetlana Shakirova im Gespräch mit Susan Zimmermann (2005) „Nicht der letzte Waggon des Zuges“: Frauenbewegung und Geschlechterstudien in Kasachstan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
3. Neue Themenfelder – Methoden – Konzepte Natalie Zemon Davis im Gespräch mit Monika Bernold und Andrea Ellmeier (1992) Geschichte, Hoffnung und Selbstironie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Ute Frevert im Gespräch mit Ingrid Bauer und Christa Hämmerle (2013) Gefühle als geschichtsmächtige Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Susanna Burghartz im Gespräch mit Claudia Opitz-Belakhal und Monika Mommertz (2014) Epochengrenzen – Epochenbilanzen: Brüche und Persistenzen in der Geschlechtergeschichte der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . 175 Beate Wagner-Hasel im Gespräch mit Margareth Lanzinger (2016) Stoffgeschichten und andere Zuschnitte einer Ökonomie der Geschlechtergeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Margaret R. Higonnet interviewed by Christa Hämmerle (2018) “When is change not change?” Gender Relations and the First World War
193
4. Inter/Disziplinarität Judith Butler in Diskussion mit feministischen Forscherinnen in Wien (1995) Identifikation und Fantasie: Zur Konstruktion von Geschlechterdifferenz
205
Inhalt
7
Ruth Wodak im Gespräch mit Edith Saurer (2004) Sprache, Geschlecht, Vorurteile und die Kritische Diskursforschung . . . 225 Julia Watson im Gespräch mit Gabriele Jancke und Claudia Ulbrich (2013) Autobiographical Acts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Sigrid Ruby im Gespräch mit Inken Schmidt-Voges (2019) Räume, Blicke und Geschlechterbilder : Positionen der Kunstgeschichte . 245 Londa Schiebinger interviewed by Claudia Opitz-Belakhal and Sophie Ruppel (2018) On Gender, Knowledge and Academic Career . . . . . . . . . . . . . . . 255
5. Postkoloniale Blicke und Interventionen Ruth Roach Pierson im Gespräch mit Erna Appelt (1999) Über die Schwierigkeiten ,weißer‘ Frauen, ihre Beteiligung an imperialistischer und rassistischer Wissensproduktion zu erkennen . . . 265 Joan W. Scott interviewed by Dörte Lerp and Tobias Metzler (2003) After 9/11: Disturbances and Reverberations . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Michelle Booth interviewed by Antje Schuhmann (2005) “Seeing White” – Interrogating Whiteness . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Hanna Hacker im Gespräch mit Claudia Ulbrich (2012) Queer entwickeln: Globalisierungs- und Entwicklungskritik in Theorie und Praxis der Globalgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Karl Kaser im Gespräch mit Maria Fritsche und Anelia Kassabova (2015) Blickwechsel zwischen Orient und Okzident . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Osteuropa- und Geschlechterforscherinnen im Gespräch mit Boz˙ena Chołuj und Claudia Kraft (2017) Nach 1989: Ein virtueller Round Table . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
Ingrid Bauer, Christa Hämmerle und Claudia Opitz-Belakhal
30 Jahre „L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft“ – einleitende Reflexionen
1.
Drei Jahrzehnte feministische Geschichtswissenschaft
Dieser Sammelband erscheint anlässlich von dreißig Jahren „L’Homme. Z. F. G.“. Das ist ein beachtlicher Zeitraum, in dem die Zeitschrift, ihr sich immer wieder veränderndes Herausgeberinnenteam, ihre Redaktion und ihre Autor*innen verschiedene Phasen und Facetten der Selbstverortung feministischer Geschichtswissenschaft präsentiert und mitgestaltet haben. In den drei Jahrzehnten, in denen „L’Homme. Z. F. G.“ nun besteht, haben sich auch die jeweiligen (geschlechter-)politischen Kontexte gewandelt: Im ersten Editorial 1990 wurde die Zeitschrift mit ihren Anliegen klar und ganz emanzipatorisch im „Spannungsverhältnis zwischen politischer Bewegung und wissenschaftlicher Analyse“1 positioniert und feministische Geschichtswissenschaft als „historische Forschung am Leitfaden des Interesses an der Befreiung der Frau“ definiert.2 Darauf folgte eine Zeit, in der das neue Wissenschaftsfeld unter der gängiger gewordenen Bezeichnung Frauen- und Geschlechtergeschichte im akademischuniversitären Bereich erfolgreich etabliert werden konnte. Die feministischen Bewegungen und die damit verbundenen Definitionen von Feminismus hingegen stagnierten nach der Aufbruchsituation und den Kämpfen der 1970er- und 1980er-Jahre mehr oder weniger, oder sie verlagerten sich in eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Projekte und autonom organisierter Einrichtungen.3 Während die Gründung der von der Wiener Historikerin Edith Saurer initiierten Zeitschrift 1989/90 das dezidierte Ziel hatte, nach einer Phase der Interdisziplinarität 1 Editorial, in: L’Homme. Z. F. G., 1, 1 (1990): Religion, hg. von Edith Saurer u. Christa Hämmerle, 1–5, 3. 2 Herta Nagl-Docekal, Feministische Geschichtswissenschaft – ein unverzichtbares Projekt, in: L’Homme. Z. F. G., 1, 1 (1990), 7–18, 18. 3 Vgl. zu diesem Spannungsverhältnis etwa die Festrede von Ute Frevert, Ein Vierteljahrhundert „L’HOMME“ – Aufbruch aus und Ankommen in der Allgemeinen Geschichte, anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Zeitschrift 2014, unter : https://www.univie.ac.at/ Geschichte/LHOMME/cms/images/pdfs/25jahre-rede-frevert.pdf.
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Einleitende Reflexionen
einen Schritt zurück in die Disziplin zu setzen und Geschichte grundlegend so umzuschreiben, dass die so wirkmächtig tradierte Gleichsetzung von Mensch und Mann keine Gültigkeit mehr hat, kam es mit der Entstehung und der Ausgestaltung der Gender Studies zu einer neuen Form von akademischer Verankerung feministischer Positionen und Inhalte. Das geschah nun unter den Vorzeichen von Intersektionalität, Queer Theory sowie der Verflüssigung sämtlicher Geschlechterdefinitionen und -grenzen. Gleichzeitig muss konstatiert werden, dass das von der Frauengeschichte sehr früh geforderte ,Neuschreiben der Geschichte‘ keineswegs abgeschlossen, sondern work in progress ist. Damit hat auch das ,offene‘ Logo der Zeitschrift4 nach wie vor Gültigkeit, verfahren doch wichtige Teilbereiche der Geschichtswissenschaft vielfach noch immer ohne Integration der analytischen Kategorie Geschlecht und ihres Erkenntnispotenzials. Hinzu kommen jene Herausforderungen, denen sich besonders im vergangenen Jahrzehnt nicht nur die Frauen- und Geschlechtergeschichte, sondern die feministische Forschung generell zu stellen hatte (und weiterhin hat) – nämlich das Erstarken rechter, nationalistischer und maskulinistischer Strömungen in der Politik, zu deren erklärten Zielen es gehört, dem angeblichen „GenderUnsinn“ oder gar „Gender-Wahn“ ein Ende zu setzen.5 Im Zuge der stark anwachsenden antiintellektuellen und antiwissenschaftlichen Interventionen werden auch die Erkenntnisse und Überzeugungen der Frauen- und Geschlechterforschung massiv in Frage gestellt. Ein sogenanntes gender bashing setzte ein, das bis in seriöse Medien hineinreicht und auch im wissenschaftlichen Diskurs Wurzeln schlagen konnte – nicht zuletzt in den life sciences. Hier lassen sich seit längerem vor allem in der Soziobiologie vehemente Gegenpositionen zur Skepsis finden, die inzwischen in vielen Wissenschaftszweigen gegenüber feststehenden und unveränderlichen, angeblich ,natürlichen‘ Ausformungen der Geschlechterdifferenz bestehen. Derart simplifizierenden Festschreibungen von Geschlechterdifferenz stehen weiterhin die Leistungen und Verdienste entgegen, die mit der Theoretisierung und empirischen Anwendung der Kategorie Geschlecht einhergehen. Sie wird heute übereinstimmend konzeptualisiert als Struktur-, Erfahrungs- und Analysekategorie und verknüpft mit anderen Faktoren wie Klasse, Ethnizität, sexuelle Orientierung oder Alter, wie das die US-amerikanische Historikerin Joan W. Scott schon Mitte der 1980er-Jahre im Sinne einer geschlechtergeschichtli4 Das vom Künstler Erwin Thorn (1930–2012) gestaltete Logo zeigt Leonordo da Vincis „homo quadratus“ ohne Mann/Mensch, der das Innere der Welt zusammenhält. So wird, im Sinne einer permanenten Provokation, die Notwendigkeit des Neuschreibens der Geschichte postuliert. 5 „L’Homme. Z. F. G.“ hat darauf früh reagiert und beginnend mit Heft 2/2012 eine Kommentarserie zum neuen Maskulinismus und Antifeminismus/Anti-Genderismus gestartet, die mittlerweile neun Beiträge enthält.
Ingrid Bauer, Christa Hämmerle und Claudia Opitz-Belakhal
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chen Öffnung der Frauengeschichte sowie einer paradigmatischen Erneuerung der Geschichtswissenschaft insgesamt postuliert hat.6 Mit ihrem Blick auf Verflechtungen von Gesellschaft und Geschlechterordnung versteht sich die Denkachse Gender zum einen „als kritisches Werkzeug der Intervention in die damit verbundenen Mechanismen und Prozesse“ und als eine – über die Emanzipation ,der Frau‘ hinausgehende – Strategie der Veränderung.7 Zum anderen verschiebt die konstruktivistische Geschlechterforschung den Fokus vom Warum zum Wie: Sie fragt danach, wie Geschlechter und ihre Verhältnisse hergestellt werden – oder, um es mit dem Soziologen Irving Goffman zu sagen: „Nicht die sozialen Konsequenzen der angeborenen Geschlechtsunterschiede bedürfen also einer Erklärung, sondern vielmehr wie diese Unterschiede als Garanten für unsere sozialen Arrangements geltend gemacht wurden (und werden) und, mehr noch, wie die institutionellen Mechanismen der Gesellschaft sicherstellen können, dass uns diese Erklärungen stichhaltig erscheinen.“8 Vor allem aber unterstreicht und verstärkt die Anwendung der Kategorie Gender das genuine Erkenntnispotenzial und die Notwendigkeit einer konsequenten Historisierung. Das gilt im Prinzip für jegliche Fragestellung und jegliche Epoche, wobei mit einem binäre Konstruktionen auflösenden Begriff von Geschlecht auch neue Erkenntnismöglichkeiten für zeitlich wie räumlich ferne und ,fremde‘ Kulturen und Gesellschaften und deren Geschlechtervorstellungen und -arrangements überhaupt erst sichtbar werden. Umgekehrt können aus solchen ferneren Vergangenheiten Theoriepotenziale und kritische Infragestellungen vermeintlicher Selbstverständlichkeiten für gegenwärtige Gesellschaften entstehen – was ebenso zu den unabdingbar notwendigen Prämissen der feministischen Geschichtswissenschaft gehört. Auch die Autor*innen von „L’Homme. Z. F. G.“ schrieben und schreiben sich in eine solche etablierte Tradition kritischer Wissenschaft ein. Sie folgen damit 6 Vgl. Joan W. Scott, Gender : A Useful Category of Historical Analysis, in: The American Historical Review, 91, 5 (1986), 1053–1075 (dt.: Gender : Eine nützliche Kategorie der historischen Analyse, in: Nancy Kaiser (Hg.), Selbst Bewußt. Frauen in den USA, Leipzig 1994, 27–75); dies., Von der Frauen- zur Geschlechtergeschichte, in: Hanna Schissler (Hg.), Geschlechterverhältnisse im historischen Wandel, Frankfurt a. M./New York 1993, 37–58. Zur Konzeptualisierung einer solchermaßen definierten (Frauen- und) Geschlechtergeschichte vgl. u. a. auch Claudia Opitz-Belakhal, Geschlechtergeschichte, 2. aktualis. Aufl., Frankfurt a. M. 2018; Ingrid Bauer, Frauengeschichte, Männergeschichte, geschlechtersensible Geschichtswissenschaft, in: dies. u. Julia Neissl (Hg.), Gender Studies. Denkachsen und Perspektiven der Geschlechterforschung, Innsbruck/Wien/München 2002, 35–52; sowie die „L’Homme“-Ausgabe zu „Geschlechtergeschichte, gegenwärtig“, 18, 2 (2007), hg. von Caroline Arni u. Susanna Burghartz. 7 Ingrid Bauer u. Julia Neissl, Weigerung, den Status Quo zu bedienen. Das kritische Potential der Gender Studies, in: dies., Gender Studies, wie Anm. 6, 7–15, 7. 8 Ervin Goffman, Interaktion und Geschlecht, Frankfurt a. M. 1994, 107.
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Einleitende Reflexionen
in vielerlei Hinsicht dem Prinzip, dass die Frauen- und Geschlechterforschung schon seit ihren Anfängen „die Reflexion ihrer eigenen Denkgewohnheiten, Kategorien und Konzepte in einer außerordentlich radikalen Weise betrieben“ und ihre zentrale Kategorie Geschlecht „in der griffigen Formel des doing gender verflüssigt“ hat, wodurch auch „die Verbindungen zwischen der Person und der Geschlechtszugehörigkeit gelockert oder aufgelöst“ wurden.9 Das brachte nicht nur intensive Debatten hervor, zu denen auch viele in „L’Homme. Z. F. G.“ publizierte Aufsätze beigetragen haben, sondern die Geschlechterforschung – und damit auch die feministische Geschichtswissenschaft – verpflichtet gleichzeitig dazu, immer wieder neu über mögliche Verfestigungen und ein Selbstverständlich-Werden von Kategorien und Denkfiguren zu reflektieren. Dass es dabei auch zu Rückgriffen auf ältere feministische Denktraditionen und Forschungsansätze kommen kann, hat erst neulich eine Kontroverse zwischen jüngeren und älteren Historikerinnen hinsichtlich der Differenzen und Konkurrenzen zwischen der Frauen- und der Geschlechtergeschichte deutlich gemacht, die in der Zeitschrift „L’Homme. Z. F. G.“ 2017 dokumentiert wurde.10 Mehr noch als das gender bashing machen solche innerwissenschaftlichen Auseinandersetzungen deutlich, wie wichtig die Reflexion von und vor allem das Wissen um die Herkunft und Geschichte der Kategorie Geschlecht und ihre Integration in die Geschichtswissenschaft ist. Dazu gehört die Aufarbeitung der (Irr-)Wege und Schwierigkeiten bei der institutionellen Verankerung in Universität und Forschung, die mittlerweile anhand vieler Beispiele und Kontexte dokumentiert ist.11 Auch der Rückblick auf die Entstehung und die über dreißigjährige Geschichte der einflussreichen Gender-Definition nach Joan W. Scott,12 der etwa ein Heft der renommierten US-amerikanischen Zeitschrift „The 9 Eva Breitenbach, Vom Subjekt zur Kategorie. Veränderte Denkfiguren, in: Jahrbuch Frauenund Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft, 1 (2005), 73–86, 77. 10 C8line Angehrn, Nicht erledigt. Die Herausforderungen der Frauengeschichte und der Geschlechtergeschichte und die Geschichten des Feminismus, in: L’Homme. Z. F. G., 28, 1 (2017): Nach 1989, hg. von Boz˙ena Chołuj u. Claudia Kraft, 115–122; Claudia Opitz-Belakhal, Gender in transit – oder am Abgrund? Ein Diskussionsbeitrag zu Stand und Perspektiven der Geschlechtergeschichte, in: ebd., 107–115. 11 Vgl. etwa zu Österreich: Christa Hämmerle u. Gabriella Hauch, „Auch die österreichische Frauenforschung sollte Wege der Beteiligung finden …“. Zur Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte an der Universität Wien, in: Karl Anton Fröschl, Gerd B. Müller, Thomas Olechowski u. Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.), Reflexive Innenansichten aus der Universität. Disziplinengeschichte zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik, Wien 2015, 97–110; Andrea Griesebner, Feministische Geschichtswissenschaft. Eine Einführung, Wien 22012, 61–74; Gertraud Seiser u. Eva Knollmeyer (Hg.), Von den Bemu¨ hungen der Frauen, in der Wissenschaft Fuß zu fassen, Wien 1994. Für die Bundesrepublik Deutschland vgl. Angelika Schaser u. Falko Schnicke, Der lange Marsch in die Institution. Zur Etablierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte an westdeutschen Universitäten (1970–1990), in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte, 16, 2013 [2015], 79–110. 12 Vgl. v. a. Scott, Gender, wie Anm. 6.
Ingrid Bauer, Christa Hämmerle und Claudia Opitz-Belakhal
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American Historical Review“ von 2008 sowie eine Bilanz zur zwanzigjährigen Geschichte der International Federation for Research in Women’s History13 gewidmet ist, gehört in diesen Zusammenhang. Die Ausgaben zum jeweiligen 25-jährigen Jubiläum der Zeitschriften „Gender and History“, „Women’s History Review“ und „L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft“14 werfen gleichfalls einen resümierenden und kritischen Blick zurück auf die intensiven Debatten der vergangenen drei Jahrzehnte und auf die wichtigen Erkenntnisse, die aus ihnen gewonnen werden konnten. Die aktuelle Historisierung der Kategorie Geschlecht und ihrer Rezeption geht im Übrigen einher mit einem Generationenwechsel bei den Akteur*innen historischer Frauen- und Geschlechterforschung im deutschsprachigen Raum, wo die Pionierinnen des frauengeschichtlichen Aufbruchs nun sukzessive emeritiert werden und auch selbst auf ihr Lebenswerk zurückschauen (können).15An ihren ,gesammelten Aufsätzen‘ und Zusammenschauen der Erkenntnisse jahrzehntelanger Forschungen zeigt sich, dass die zunächst als „Frauengeschichte“ oder „historische Frauenforschung“ angetretene feministische Geschichtswissenschaft schon sehr früh auch nach Geschlechterverhältnissen und Männlichkeitsnormen gefragt und überhaupt um wissenschaftliche Verfahren gerungen hat, die eine breite historische Perspektive ermöglichen. So konnte wesentlich dazu beigetragen werden, Frauen und deren Lebensverhältnisse und -erfahrungen eben gerade nicht in ein historisches ,Ghetto‘, in eine Sondergeschichte zu verbannen, sondern einer wirklich ,allgemeinen‘ Geschichte einzuschreiben und diese dadurch erst zu etablieren.16 13 Vgl. Karen Offen, Founding the International Federation for Research in Women’s History 1987–2007, in: Women’s History Review, 20, 4 (2011), 491–495. 14 Vgl. Lynn Abrams, Eleanor Gordon u. Alexandra Shepard, Twenty-five Years of Gender & History, in: Gender and History, 25, 1 (2013), 1–6; die Rückschau auf 25 Jahre feministische Geschichtswissenschaft von Miriam E. David, Feminism, activism and academe: a personal reflection, in: Women’s History Review, 25 (2016), 983–998, sowie die Jubiläumsausgabe von L’Homme. Z. F. G., 25, 2 (2014): Zeitenschwellen, hg. von Gabriella Hauch, Monika Mommertz u. Claudia Opitz-Belakhal. 15 Vgl. etwa Heide Wunder, Der andere Blick auf die Frühe Neuzeit. Forschungen 1974–1995, Königstein i. T. 1999; Karin Hausen, Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2013; Gisela Bock, Geschlechtergeschichte der Neuzeit: Ideen, Politik, Praxis, Göttingen 2014; Edith Saurer, Liebe und Arbeit. Geschlechterbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Margareth Lanzinger, Wien/Köln/Weimar 2014; Claudia Ulbrich, Verflochtene Geschichte(n). Ausgewählte Aufsätze zu Geschlecht, Macht und Religion in der Frühen Neuzeit, hg. von Andrea Griesebner, Annekathrin Helbig, Michaela Hohkamp u. a., Köln/Weimar/Wien 2014; Ute Gerhard, Für eine andere Gerechtigkeit. Dimensionen feministischer Rechtskritik, Frankfurt a. M. 2018. 16 Dazu gehört heute selbstverständlich auch die Integration einer theoretisch ebenfalls elaborierten historischen Männlichkeitsforschung. Vgl. dazu etwa die „L’Homme“-Hefte zum Thema „Krieg“, 3, 1 (1992), hg. vom Herausgeberinnenkollektiv ; zum Thema „Soldaten“, 12, 1 (2001), hg. von Susanna Burghartz u. Christa Hämmerle; und schließlich das Themenheft
14
2.
Einleitende Reflexionen
„Im Gespräch“
Die oben nur sehr komprimiert angesprochene Entwicklung der feministischen Geschichtswissenschaft – vom Pionierprojekt Frauengeschichte über seine Erweiterung zur Geschlechtergeschichte und die Neuformatierung des historischen Blicks insgesamt bis hin zu queeren Positionen und Zugängen – dokumentiert sich auf besonders eindrückliche Weise über jene Gespräche, die in den dreißig Jahren des Bestehens der Zeitschrift mit namhaften Forscher*innen geführt und in „L’Homme. Z. F. G.“ veröffentlicht wurden. Die 1992 eingeführte Rubrik „Im Gespräch“ ist seit Beginn ein wichtiger Erkenntnisraum, der in späteren Heften zunehmend häufiger genutzt wurde – was eindringlich illustriert, dass Wissenschaft, und die Frauen- und Geschlechterforschung im Besonderen, von ihrem Selbstverständnis her immer auch ein genuin kommunikatives Projekt ist. Forschende Erkenntnis präzisiert und erweitert sich in der lebendigen Diskussion und im kontinuierlichen Gespräch der Beteiligten, dem diese Rubrik gewidmet ist. Dabei geht sie als Interaktion über bloßes Fragen und Antworten hinaus, ist oft vielmehr Konversation, Unterredung, Denklaboratorium: Beide Seiten – Befragte wie Interviewer*innen – sind intensiv in den gemeinsamen Erkenntnisprozess involviert. So werden nicht nur neue Themenfelder, Methoden, Konzepte und theoretische Verortungen diskutiert, sondern auch deren Verknüpfung mit persönlichen Erfahrungen beleuchtet und außerwissenschaftliche Motivationen wie jene eines emanzipatorischen, geschlechterdemokratischen Elans angesprochen. Gerade das Sichtbarwerden der engen persönlichen Beziehung, die zwischen den Forscher*innen und ihrer wissenschaftlichen Arbeit besteht, und die Frage danach, welche Rolle dabei lebensgeschichtliche oder generationelle Erfahrungszusammenhänge spielten, machen die Gespräche auf eine besondere Weise spannend und erkenntnisreich – auch in Hinblick auf die strategischen Bemühungen um Anerkennung der sich kontinuierlich weiter entwickelnden Ansätze feministischer Forschung und ihre Integration in das wissenschaftliche Feld. Der Handlungs- und Wirkmächtigkeit der Protagonistinnen aus der Pionierinnen- und Gründerinnengeneration auf die Spur zu kommen, spielte in vielen der frühen Gespräche eine wichtige Rolle. In späteren Ausgaben von „L’Homme. Z. F. G.“ kam dieser Textform dann eher die Aufgabe zu, in gemeinsamen kommunikativen Erkundungen den inhaltlichen Heftschwerpunkt in seiner vollen konzeptionellen Breite auszuloten und zu vertiefen. Alles in allem entstand so in den vergangenen drei Jahrzehnten ein faszinierendes Kaleidoskop differenter Kontexte, Positionierungen und Akzente, mit dem „Krise(n) der Männlichkeit?“, 19, 2 (2008), hg. von Christa Hämmerle u. Claudia OpitzBelakhal.
Ingrid Bauer, Christa Hämmerle und Claudia Opitz-Belakhal
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das programmatische Selbstverständnis feministischer Geschichtswissenschaft, seine Entfaltung und sein Wandel facettenreich in den Blick kommen. Dabei werden Hürden bei der Verankerung der Frauen- und Geschlechterforschung ebenso deutlich wie das breite Spektrum der Themen und die Vielfalt der bereits erarbeiteten Ergebnisse sowie künftige Herausforderungen. Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass die zur Rubrik „Im Gespräch“ eingeladenen namhaften Historiker*innen, Kultur- und Sozialwissenschaftlerinnen, Philosophinnen und Künstlerinnen – sie kommen aus Europa, den USA, Kanada, Südafrika, Mexiko und Zentralasien – keine repräsentative Auswahl darstellen. Sie stehen aber stellvertretend für alle, die das Feld der historischen Frauen- und Geschlechterforschung beziehungsweise der feministischen Geschichtswissenschaft mit ihren Ideen, Initiativen und Forschungen aufbereitet und weiterentwickelt haben. Entstanden sind die Gespräche in unterschiedlichen Zusammenhängen: am Rande von Vortragsreisen, Tagungen oder Forschungsaufenthalten, in direkten persönlichen Begegnungen ebenso wie in Interviews, die in mehreren Schritten per E-Mail geführt wurden. Auch das Format eines virtuellen Round-TableGesprächs und die Verschriftlichung einer intensiv geführten Diskussion mit mehreren Forscherinnen sind darunter.
3.
Zum Inhalt
Als Herausgeberinnen des vorliegenden Bandes haben wir aus dreißig Jahren „L’Homme. Z. F. G.“ 27 der oben skizzierten Gespräche ausgewählt und bei allen Beteiligten die Zustimmung zur nochmaligen Veröffentlichung der Texte und zu ihrer redaktionellen Bearbeitung eingeholt. In den jeweiligen Einleitungen, in denen die Interviewten vorgestellt werden, waren die biografischen Informationen zu aktualisieren, in den Fußnoten ihre wichtigsten seit der Erstveröffentlichung des Gesprächs erschienenen Publikationen zu ergänzen. Auch die Interviewer*innen sind nunmehr mit kurzen CVs deutlicher fassbar. Alle Veränderungen – dazu gehören jeweils auch ein neuerliches sprachliches Lektorat und eine Vereinheitlichung der Texte sowie in manchen Fällen auch ihre Kürzung – werden jeweils in einer Fußnote ausgewiesen.17 In Hinblick auf die 17 Nicht vereinheitlicht haben wir die verschiedenen Formen geschlechtergerechter Sprache, die sich im Laufe der letzten drei Jahrzehnte gebildet haben: vom Schrägstrich (Autor/innen) und Binnen-I (AutorInnen), als Strategie, Frauen und Männer gleichermaßen sichtbar zu machen, zum Gender-Gap_Unterstrich (Autor_innen) und aktuell zum Gender-Asterix (Autor*innen) – beides Signale dafür, dass über ein binäres Denken hinaus alle Geschlechter und Geschlechtsidentitäten einbezogen sind. Diesen Wandel und die jeweilige Wahl der Gestalter*innen von „Im Gespräch“ wollten wir sichtbar lassen, daher gibt es im Band ein Nebeneinander der verschiedenen Versionen.
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Einleitende Reflexionen
nunmehrige Reihenfolge haben wir die ausgewählten Texte in einer Kombination aus inhaltlich-konzeptuellen sowie chronologischen Kriterien den fünf im Folgenden vorgestellten Schwerpunkten zugeordnet. Diese stehen einerseits für sich, sind aber andererseits auch durch eine Reihe von Querverbindungen verschränkt. Dabei werden die im Haupttitel des Buches angesprochenen Felder „Politik – Theorie – Erfahrung“ ganz unterschiedlich fokussiert und gewichtet, wobei sich zeigt, wie stark sich die feministische Forschung in der steten Reflexion und kritischen Hinterfragung dieser Felder entwickelt hat.
3.1
Lebenswege – Forschungswege
Der erste Schwerpunkt der hier versammelten Gespräche zeigt anhand von mehreren Lebens- und Forschungsverläufen exemplarisch deren Ineinandergreifen auf. Dabei geht es auch um biografische Erfahrungen im Kontext der sich ab den späten 1960er-Jahren entwickelnden neuen Paradigmen der (Geschichts-)Forschung, die sich verstärkt kritischen und emanzipatorischen Ansätzen verpflichtet sah. Sie sollten, so die Hoffnung der meist jungen Historiker*innen, auch zu einer demokratischeren, alle Gesellschaftsschichten und Männer wie Frauen integrierenden Geschichtswissenschaft führen. Man stellte nun tradierte historiografische Erklärungsmodelle und Narrative nachhaltig in Frage, während gleichzeitig eine große Bandbreite neuer Quellenbestände erschlossen wurde – sei es zum Beispiel zur Geschichte der Armut in der Frühen Neuzeit, wie sie in diesem Band durch die britische Historikerin Olwen Hufton vertreten wird, oder sei es zur Geschichte des Alltags und des Wirtschaftens im ,Kleinen‘, hier repräsentiert durch die deutschen Wissenschaftler*innen Karin Hausen und Hans Medick, oder zur Geschichte des Körpers, für die in diesem Abschnitt die italienische Historikerin Gianna Pomata steht. Um solche Ansätze in einem produktiven und anregenden Setting zu entwickeln und durchzusetzen, wurden auch bemerkenswert transnationale Wege oder Karrieren eingeschlagen – was die Gespräche des ersten Schwerpunkts ebenfalls veranschaulichen. Ein weiteres Interview steht hier auch für das, was nach einer akademischen Laufbahn kommt – nämlich das Alter(n) als neue biografische Herausforderung, worüber die 1938 aus Österreich vertriebene, in den USA nach 1945 zur „Godmother of Women’s History“ („New York Times“) avancierte Historikern Gerda Lerner reflektiert. Der Abschnitt schließt mit einer ,Reise‘ in die öffentliche Vermittlung kritischer Geschichtsaufklärung am Beispiel von Ruth Beckermann, die im Rahmen der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ in Wien 1995 den Dokumentarfilm „Jenseits des Krieges“ gedreht
Ingrid Bauer, Christa Hämmerle und Claudia Opitz-Belakhal
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hat – und aufgrund ihrer jüdischen Herkunft als von den Debatten, die es damals gab, besonders Betroffene erzählt.
3.2
Feminismen und Frauenbewegungen – national/global
Wie sehr Frauen- und Geschlechterforschung als Projekt am ,Leitfaden‘ der Emanzipation begriffen wurde, zeigt sich in vielen der 27 Gespräche. Ihre Pionierinnen standen in besonderem Maße unter dem Eindruck der Frauenbewegung, „in der wir alle engagiert waren – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, aber jedenfalls solidarisch mit den Bewegungen und Demonstrationen der 1970er-Jahre“, wie die französische Historikerin Michelle Perrot betont, die diesen Schwerpunkt eröffnet. Sie hat sich – mit einer Strahlkraft weit über Frankreich hinaus – vehement eingesetzt für eine histoire des femmes, das heißt dafür, Frauen in der Vielfalt ihrer Lebenszusammenhänge und Darstellungsweisen aufzusuchen. Ähnliches schildern Pionierinnen wie die deutsche Soziologin Ute Gerhard und die italienische Historikerin Luisa Passerini, die zudem die Verbindungen und Abgrenzungen zwischen den 68er-Bewegungen und der Zweiten Frauenbewegung thematisieren und wie sich daraus nicht nur die eigene Bewusstwerdung, sondern auch das wissenschaftliche Fragen nach den Frauen in der Geschichte und den Mechanismen der Geschlechterverhältnisse entwickelt hat. Deutlich werden im Vergleich der fünf Gespräche dieses Abschnitts zudem die Ungleichzeitigkeiten im Prozess der Etablierung von Frauenrechten und Gleichstellung in verschiedenen Teilen der Welt, ebenso wie Aspekte des Transfers von geschlechterdemokratischem Know-how und Elan. Zwischen der ersten UN-Weltfrauenkonferenz in Mexiko-Stadt 1975, von der die mexikanische Frauenforscherin Mercedes Barquet Montan8, aus der zweifachen Perspektive der Forscherin und der aktiven Feministin, unter anderem berichtet – und dem Interview mit der kasachischen, an einer Gleichstellung der Geschlechter ebenfalls aktiv beteiligten Sozialphilosophin Svetlana Shakirova über Frauenbewegung und Gender Studies in ihrem Land liegen dreißig Jahre.
3.3
Neue Themenfelder – Methoden – Konzepte
Ist schon die frühe Frauengeschichte eine wesentliche methodische und vor allem thematische Innovation gewesen, so gilt dies auch für viele weitere konzeptionelle Neuschöpfungen seit Beginn der 1980er-Jahre, an denen feministische Historikerinnen beteiligt waren. Ausgehend von Forschungen über Biografien (nicht nur von Frauen ,aus dem Volk‘), wie sie vor allem die FrühneuzeitHistorikerin Natalie Zemon Davies unternommen hat, die als eine Vordenkerin
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Einleitende Reflexionen
des Konzepts der agency gelten kann, über die Geschichte von Gefühlen, für die insbesondere Ute Frevert mit ihrer Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung steht, bis hin zur materiellen Kultur reicht der in diesem Abschnitt gespannte Bogen der Innovationen. Diese entstanden einerseits direkt aus feministischen Forschungsinteressen heraus, wie im Falle der Rekonstruktion ,weiblicher‘ Erfahrungen in der Vergangenheit, die in den 1990er-Jahren intensiv diskutiert wurden. Andererseits erhielten Themen durch die Anwendung im Bereich der Frauen- und Geschlechtergeschichte eine neue Breite und Relevanz, was im Gespräch mit der Althistorikerin Beate Wagner-Hasel über antike Textilproduktion und -handel erkennbar wird. Nicht zuletzt hatte sich, wie bereits erwähnt, die feministische Geschichtsforschung schon seit ihrer Genese das Umschreiben der Geschichte zum Ziel gesetzt. In den Interviews mit Susanna Burghartz und Margaret R. Higonnet wird deutlich, dass dafür auch ein konsequentes Hinterfragen von Epochengrenzen und ereignisgeschichtlichen Zusammenhängen und deren Deutung vonnöten ist. Das wiederum ist eng verbunden mit der Frage nach Formen und Richtungen des Wandels von Geschlechterbeziehungen und -ordnungen sowie mit der Erklärung von Persistenzen in Geschlechterhierarchien und -beziehungen in Zeiten des Umbruchs beziehungsweise des beschleunigten sozialen Wandels.
3.4
Inter/Disziplinarität
Zu den innovativen Bemühungen feministischer Historikerinnen trugen schon von Beginn an die engen Kontakte zu Forschenden aus angrenzenden Fächern bei. So ist etwa das wichtige Theoriepotenzial, das wir der in diesem Schwerpunkt zu Wort kommenden Philosophin und Gender-Theoretikerin Judith Butler verdanken, kaum hoch genug anzusetzen. Sie avancierte mit ihren Überlegungen zur Performativität geschlechtlicher und damit auch sexueller Identitäten zu einer Vordenkerin der Gender Studies ebenso wie der Queer Theory und wurde sehr rasch nach Erscheinen ihres Buches „Gender Trouble“ intensivst debattiert. Das belegt auch die hier veröffentlichte Diskussion von Judith Butler mit Ingvild Birkhan, Johanna Borek, Isabell Lorey, Maria Mesner, Herta Nagl-Docekal, Edith Saurer und Birgit Wagner. Auch Kunsthistoriker*innen sowie Sprach-, Medien- und Literaturwissenschaftler*innen haben mit ihren Vorschlägen zu einem gendersensiblen Umgang mit Bild- und Textquellen viel zur methodischen Erweiterung und Innovation in der Geschlechtergeschichte beigetragen, aber ihrerseits auch davon profitiert, wie die Gespräche mit Ruth Wodak, Julia Watson oder Sigrid Ruby in diesem Abschnitt zeigen. Last but not least unterstreicht Londa Schiebinger im Interview die große Bedeutung, die eine solche trans- und interdisziplinäre Zusam-
Ingrid Bauer, Christa Hämmerle und Claudia Opitz-Belakhal
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menarbeit für die Akzeptanz und Integration der Geschlechterforschung insgesamt, aber auch der feministischen Geschichtswissenschaft als deren Teilgebiet, in Universitäten und in den akademischen Betrieb hatte und weiterhin hat.
3.5
Postkoloniale Blicke und Interventionen
Im letzten Teil des vorliegenden Bandes geraten erneut politische Konstellationen (mit) in den Blick. Die hohe Anfälligkeit des ,Westens‘ und hier auch der ,weißen Frauen‘ für Rassismen, die Ruth Roach Pierson im Gespräch konstatiert hat, findet sich seit der Jahrtausendwende und den Ereignissen rund um 9/11 erweitert durch die scharfe Grenzziehung zwischen ,Orient‘ und ,Okzident‘, wie in einem weiteren Interview dieses Abschnitts durch Joan W. Scott argumentiert wurde. Inzwischen hat sich die Perspektive auf Rassismus und kulturelle Vorurteile grundlegend auch in der Geschlechterforschung verändert: Nun stehen eher „whiteness“ und die Selbstzuschreibungen und -erhöhungen des ,Westens‘ oder genauer: des Globalen Nordens im Fokus kritischer Forschung – was die südafrikanische Fotokünstlerin Michelle Booth in ihren Arbeiten und im Interview darüber ebenso unterstreicht wie die ehemalige „L’Homme“-Herausgeberin Hanna Hacker mit ihren globalisierungskritischen Überlegungen aus queerer Perspektive. Wie eng letztlich dieser Globale Norden konzipiert ist und welche Wege – gerade auch aus feministischer beziehungsweise geschlechtergeschichtlicher Sicht – aus dieser Enge herausführen (können), zeigen abschließend fünf aus mehreren Ländern kommende Osteuropa-Forscherinnen in einem virtuellen Round-Table: die Germanistin Barbara Einhorn, die Historikerinnen Daniela Koleva und Andrea Peto˝, die Soziologin Libora Oates-Indruchov# und die Philosophin Sławomira Walczewska. Damit sind hier höchst unterschiedliche Perspektiven auf die Geschichte Osteuropas und die dortige Geschlechterforschung „nach 1989“ versammelt – ein wahrer Blickwechsel und zudem ein Austausch zwischen Ost und West, wie ihn auch der österreichische Osteuropa-Historiker Karl Kaser in seinem in diesem Abschnitt ebenfalls veröffentlichten Gespräch gefordert hat.
4.
Vom Rückblick in die Zukunft
Dass in diesem Buch insbesondere Pionierinnen und namhafte Repräsentant*innen der Frauen- und Geschlechterforschung verschiedener akademischer Kulturen zu Wort kommen, hängt zum einen mit der Ausrichtung und Eigendynamik der „L’Homme“-Rubrik „Im Gespräch“ zusammen. Andererseits ist das der oben angesprochenen Historizität dieses Wissenschaftsfeldes geschuldet: Es gibt sie eben auch im historischen Rückblick einer Generation von
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Einleitende Reflexionen
Frauen, die einst aufgebrochen ist, um Universität und Wissenschaft geschlechtergerechter zu gestalten. Damit ist dieser Band nicht zuletzt all jenen gewidmet, die das Feld aufbereitet, gegen Widerstände mitgestaltet, erkämpft und etabliert haben. Das soll weniger im Sinne einer Konstruktion von Ausnahmefrauen oder einer heroisierenden Tendenz erfolgen, der gegenüber die Frauen- und Geschlechtergeschichte – zurecht – immer skeptisch eingestellt war. Wir hoffen aber, dass so auch einer jüngeren Generation von Wissenschaftler*innen – und insbesondere in der akademischen Lehre – anschaulich vermittelt werden kann, wie sich die Such- und Denkbewegungen zwischen den im Haupttitel des Buches angesprochenen Feldern „Politik – Theorie – Erfahrung“ in der Frauen- und Geschlechterforschung der letzten dreißig Jahre gestalteten und welche Ergebnisse und Erfolge dabei erzielt wurden. Hier können wir jedoch nicht einfach innehalten, weist doch ein Rückblick immer auch in die Zukunft. Das Gespräch und damit auch der Dialog über das, was feministische Geschichtswissenschaft war, ist und sein kann, sollte stetig geführt und kontinuierlich weiterentwickelt werden. Das scheint heute, da angesichts von #MeToo schon von einem Fourth Wave Feminism gesprochen wird, wichtiger denn je. Vor dem Hintergrund eines frauenbewegten Revivals und auch einer politischen Weiterentwicklung feministischer Positionen, wie dies zum Beispiel im Schweizer Frauenstreik von 2019 sichtbar geworden ist,18 sind solche Rückblicke ebenso spannend wie dringlich. Nicht zuletzt darauf wollen wir mit diesem Jubiläumsband das Augenmerk richten. An seiner Entstehung waren viele beteiligt, denen wir hiermit herzlich danken. Das richtet sich insbesondere an unsere Mitherausgeberinnen von „L’Homme. Z. F. G.“ und an Michaela Hafner, die das Buch als Redakteurin und Lektorin begleitet hat. Und ebenso natürlich an all jene Kolleg*innen, die am Zustandekommen der veröffentlichten Gespräche einst wie heute in verschiedenen Rollen mitgewirkt haben.
18 Dieser am 14. Juni 2019 in der ganzen Schweiz durchgeführte Frauenstreik mit hunderttausenden Teilnehmer*innen schloss an jenen aus 1991 an. Die Forderungen waren ebenso alt wie neu, sie reichten vom Recht auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf über gleichen Lohn für gleiche Arbeit bis hin zur Abschaffung der höheren Besteuerung von Tampons. Auch Historikerinnen waren beteiligt – nicht zuletzt als Expertinnen. Vgl. z. B. „Rechte werden immer erkämpft und erstritten, nie gegeben“: Caroline Arni im Interview, in: Solo thurner Zeitung, 10. 6. 2019; „Der Frauenstreik und die Geschichte der Frauenrechte in der Schweiz“. Brigitte Studer im Podcast des Historischen Instituts der Universität Bern, Juni 2019; https://www.infoclio.ch/de/historikerinnen-über-die-frauenstreiks-1991-und-2019.
1. Lebenswege – Forschungswege
Olwen Hufton interviewed by Lotte van de Pol (2002)*
“The development of the gendered eye”**
Olwen Hufton was born in the North of England in 1938. She studied history at Royal Holloway College, London, and graduated from the University of London with a PhD in 1962. She spent twenty years at the University of Reading, from 1974 as a professor. In 1987 she joined the History Department of Harvard University and became chair of the new Women’s Studies programme. From 1991 to 1997, she was Professor of Comparative Early Modern European History at the European University Institute in Florence, Italy ; from 1997 to 2002 she held the Leverhulme Personal Research Professorship at Merton College, Oxford. Olwen Hufton, who after her retirement in 2003 rejoined the History Department at Royal Holloway as a part-time Professorial Research Fellow, held many visiting professorships and was awarded two honorary degrees, and in 2003 she was appointed Dame of the British Empire. She has received prestigious awards and is a Fellow of the British Academy and of the Royal Historical Society. In 2006 she was presented with a Festschrift.1 Olwen Hufton published five books, three edited volumes2 and many articles. She is widely considered a pioneer of women’s history and one of the great living * Lotte van de Pol has worked at the Erasmus University Rotterdam, the University of Utrecht and the Free University of Berlin. She has written extensively on women, the life of the common people and criminality and culture in the Netherlands, which included for example topics about female transvestism and prostitution. Currently she is working on a biography of princess Wilhelmina of Prussia and Orange (1751–1820). She is an expert on ego-documents and biographical approaches, another important field of her research. Her work is translated into several languages. ** First published in L’Homme. Z. F. G., 13, 2 (2002): Geschlechterdebatten, edited by Mineke Bosch, Francisca de Haan and Claudia Ulbrich, 239–248. This version of the conversation has been slightly revised and abridged, and the introduction has been supplemented. 1 Ruth Harris and Lyndal Roper (eds.), The Art of Survival. Gender and History in Europe, 1450–2000. Essays in Honour of Olwen Hufton, Oxford 2006. 2 Her three edited collections are: “Historical Change and Human Rights” (New York 1995, with Patrick Collinson; German: Menschenrechte in der Geschichte, Frankfurt a. M. 1998); “Women in the Religious Life” (Firenze 1996); “Gender and the Use of Time” (Alphen aan den Rijn 1998, with Yota Kravaritou).
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Lebenswege – Forschungswege
historians of the early modern period. Hufton first made her mark with “The Poor of Eighteenth-Century France”,3 which in an imaginative way and in very vivid prose depicts the lives of the poor, and their struggle for survival in what she termed the “economy of makeshifts” or “the economy of expedients” – terms which have been widely adopted. This monograph has become a classic of twentieth century historical writing and is still one of the best books on the subject. It is also as much, if not more, about women than men since poverty is always predominantly a female phenomenon. Olwen Hufton’s following book “Europe: Privilege and Protest”4 is her contribution on the eighteenth century in a multi volume “History of Europe”, but her work as a whole is concerned with women’s lives, experiences and strategies in life, studying poverty, crime, the French Revolution and religious life. Her book “Women and the Limits of Citizenship in the French Revolution”5 explores the consequences for and actions by ordinary women in the French Revolution. All her qualities and research come together in “The Prospect before her”,6 a volume on the history of women in the Western world, 1500–1800. This book is built upon the question of what fate and choices in life awaited a female child born in early modern Europe. All in all, Olwen Hufton displays in her work a keen eye for meaningful details, a great compassion for the people she studies and a sharp insight into the material and cultural conditions of the choices in their daily lives. Her work is very evocative and well-written. The interview, conducted in Utrecht in August 2002, is about her development as a women’s historian, about her history of women in Western Europe, her stand in the typically British historical tradition of empiricism, her further book plans and her latest research project on Jesuits and the financing of the Counter Reformation, a subject that, with an inevitably gendered eye, turned out to be more on women than anyone would have foreseen. Due to a serious illness, Olwen Hufton could not finish these research projects and books during the following years. Lotte van de Pol: You started out as a general historian, at a time when women’s history did not exist. Could you tell me how your life as a women’s historian evolved?
3 Olwen Hufton, The Poor of Eighteenth-Century France, Oxford 1975. 4 Olwen Hufton, Europe: Privilege and Protest 1730–1789, Glasgow 1980 (new edition Oxford 2000; German: Aufstand und Reaktion. Europa von 1730–1789, München 1983). 5 Olwen Hufton, Women and the Limits of Citizenship in the French Revolution, Toronto 1991. 6 Olwen Hufton, The Prospect before her: A History of Women in Western Europe 1500–1800, London 1995 (German: Frauenleben. Eine europäische Geschichte 1500–1800, Frankfurt a. M. 1998). The book has been translated into many languages.
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Olwen Hufton: As a student in the early sixties, I did my doctoral thesis on French history under the distinguished historian of France, Alfred Cobban, and so became involved in the most dynamic historiographical approach of the period, that of the Annales school with its emphasis on “histoire s8rielle”, demography and material culture, and such themes as the distribution of wealth and the constraints on food production in traditional societies. Being British, I was also exposed to the “history from below” approach, about which I was very passionate, and Marxism. I was not a Marxist historian, but I thought the questions being asked about economic causation were absolutely fundamental to historical understanding. My initial work was on the town of Bayeux during the French Revolution7 and the informing questions were: what kind of people lived there, what was the basis of their livelihoods and how did the Revolution impact upon their lives? Although my eye was insufficiently gendered then to think of women as a category, I came across their predominance on poor lists and their opposition to state led religious change and bread shortage. In “The Poor”, my second book,8 I went further to explore how those too poor to pay taxes – and so escaped the net of the Annales school – constructed some kind of livelihood through charity, emigration, illegal activities such as smuggling and prostitution; I also looked into criminal records and phenomena such as child abandonment. I sought to reconstruct family economies and there I first began to use the phrase “the economy of expedients”: the way in which people put together small resources in different phases of their life cycle in order to survive. In looking at the poor, it was impossible not to encounter women on a major scale. I was therefore very well equipped to talk and think further about women when the changes of the late nineteen-sixties and seventies occurred, and the idea that women had somehow been denied a past became insistent. My first lecture specifically on women was given in 1968 in a student seminar in Oxford as part of a series of lectures on revolutions, which were the great preoccupation of the day. I was quite a young lecturer and immensely pleased to be on a list that included Edward Thompson and George Rud8. In putting this lecture together, I went back to my notes, and started thinking about where women might intrude on the big picture of the French Revolution. I looked at women and bread riots, riots that might turn political perhaps, and subsequently on women’s approaches to religious change which destroyed part of the sociability of religious structures and rituals as well as traditional welfare provisions. The lecture was published by the journal “Past and Present”9 and was quite significant in my developing career because it got letters from scholars like Natalie Zemon Davis who were putting 7 Olwen Hufton, Bayeux in the Late Eighteenth Century, Oxford 1967. 8 Hufton, The Poor of Eighteenth-century France, see note 3. 9 Olwen Hufton, Women in Revolution 1789–1796, in: Past and Present, 53, 1 (1971), 90–108.
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together the first significant bibliographies on women’s history. Women scholars networked a great deal at the beginning. In 1974 I went for the first time to the US, sponsored by a French History conference, and did a tour organised by Louise A. Tilly, Joan W. Scott and Natalie Zemon Davis. We were much slower in England than in the US to introduce women in the curriculum. However, students were interested. The journal “History Workshop” was very supportive, and in the late seventies and the early eighties I started teaching courses in women’s history at the University of Reading (where I became a professor), which were well attended. In 1987 I went to Harvard, to a position which included the brief to teach at least one course in women’s history. Before I got there, however, the Women’s Studies programme came into being as a recognised concentration, and I found myself the chair. Together with another British historian, Alexandra Owen, I taught the history of feminism from Mary Wollstonecraft to Mary Daly. It was quite a small programme, we were able to accept twenty students, all based in different disciplines. The budget allowed us to import guest scholars to deal with issues such as Black Feminism and slave narratives. It was very exciting and very different for me. I realised that I liked change. I was also a senior fellow of the Center for European Studies, which remains my idea of paradise. I began to become more interdisciplinary and much more comparative. Harvard was a real shot in the arm. In 1991 I published “Women and the Limits of Citizenship in the French Revolution”10 as my particular contribution to the bicentenary of the French Revolution. Soon afterwards, in 1991, I left Harvard for family reasons and went to the European University Institute in Florence. This institute was also productive of many new experiences. First, I became more visual, perhaps just because being in Italy makes one more conscious of art and artefacts. Second, I was ranging much more widely. My first clutch of students, for example, included three who were working on early modern nuns, and we held a nuns’ group seminar which I think was very innovative. Another big bonus in Florence itself, outside the European University Institute, was a group of very good women historians, organised and held together by Sara Matthews Grieco whom I admire enormously. It constituted a rich environment which gave a great deal of excitement to my time there. I found that the Mediterranean approach to the history of women was very different from the Northern European one. Women in Mediterranean society were held back from the labour force until well into the nineteenth and twentieth centuries. I learned how women existed in such systems in the early modern period, and how they gained self-consciousness and a promotion of self through, for example, the self-examination of the confessional. The structures of family life produced forms of problems and issues for women 10 Hufton, Women and the Limits, see note 5.
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that did not arise in Northwestern Europe. For example, in the fifteenth and sixteenth centuries, families of the upper classes married some of their daughters, whom they backed by large dowries in their early teens, to husbands who could be ten to fifteen years older than themselves. It was a system tailor-made to produce large numbers of widows as well as quantities of unhappy wives and recruits for the cloister. Would you agree that the situation of women in Northwestern Europe and Mediterranean Europe have been different from the time of the Roman Empire? Certainly from the early modern period you can see substantial differences. In Northwestern Europe women are much more actively engaged with the economy : for example young women going to towns to find work. In Mediterranean countries there is a great deal of dishonour involved when a woman leaves her own home. Whereas maidservants are to be found in Holland or Britain at least from the fifteenth century and the sector has virtually been feminised from the seventeenth century, it is not until the nineteenth century that service becomes more female in Mediterranean countries. In the North the custom of leaving home and engaging in economic pursuits and personal saving to add to the little bit that perhaps comes from one’s parents was becoming the norm for women. It was perhaps hard but it was also to a degree empowering. You have also much more in the way of communities of women outside the home that are not particularly religious based, like the neighbourhoods. If one thinks of works like Margaret Spufford’s “Contrasting Communities”11 where village women met in groups to learn to read the Bible and sects developed where women discussed the meaning of Scripture, one has a much more interactive experience than that for Mediterranean women. Also, countries of Roman Law were particularly hard on women. It was in Italy that you finished the first volume of the “History of Women in Europe”. Yes, and it was also at the European Institute that I gathered material for a planned second volume on the nineteenth and twentieth centuries. One experience which was very time consuming but in the long run very thought provoking was the set of conferences and workshops I ran with the Greek lawyer Yota Kravaritou on “Gender and the Use of Time”.12 It was concerned not only with 11 Margaret Spufford, Contrasting Communities: English Villagers in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, New York 1974. 12 Hufton/Kravaritou, Gender and the Use of Time, see note 2.
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how men and women spend time on family and work but also with ways in which time could be divided more fairly in respect of work, leisure and family. In 1993/ 94, when the conferences on these topics were held, we were somewhat more optimistic that the frantic life patterns of people in the labour market could be made to work more favourably and equitably between the sexes. We finished by receiving delegates and expressing our findings to representatives from the European Parliament, and we had much contact with the European Commission. I could not have done that anywhere else. Another year I ran seminars on women and saving in traditional societies: how women managed to save and what they saved for. In particular in a nineteenth-century context I wanted to understand how women’s savings contributed to changes, such as educational opportunities or the means to emigrate. Again, I had some wonderful students there. I later developed some of the work I did for this seminar programme for a commemorative lecture for the historian Raphael Samuel (1934–1996). I chose nineteenth-century Ireland and investigated means of buying the passage to America and women’s input through family saving. I looked at pig keeping – saving up little sums by fattening a pig was very common: the money box pig is not an arbitrary choice – and at lace making. Ireland is marked by the development of convent based small-scale lace industries in specific areas where local girls can go and be taught a skill. It takes a long time to learn, but after a few years the girls can be reasonable earners. Then they will perhaps buy a cow to get married. After marriage a woman might continue to work and save up a bit. All these little sums put together might buy one passage to America for the man, to go and try to set them up. And she might go on earning a little, and they might get a child over, and finally she may go to the poor law authorities and they will pay for the passage of herself and the remaining children to get them off the books. It is the kind of strategy which interests me for its transformational character. In 1997 I went to Merton College, Oxford. I was lucky to have a senior research professorship from the Leverhulme Trust for five years. For that, I chose a big project called “Funding the Counter Reformation”. It is a project about money, and again it starts with a question: who paid for the Counter Reformation? I became especially interested in who financed welfare and educational projects. I was inspired by work which was not produced by social and economic historians but by amongst others, architectural historians, who have worked on spending on big buildings. I have been for some time interested in the motives of donors and dissatisfied with any monocausal explanation as to the exchange involved in “the gift” and that philanthropy can be explained away by a fear of purgatory or by a concern to preserve oneself from social unrest. I agree that a donor seeks something in return for his or her money but I would wish to be open to more complex factors. I think one needs to look more closely at types of donors and the
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elections they make in placing their wealth, as in, for example, Jones’ and Underwood’s book on Margaret Beaufort, the wife of Henry VII.13 She – and some of her friends – founded a number of Cambridge colleges of which they considered themselves the mothers. All had survived the Wars of the Roses and saw education as a means of producing a disciplined society. You chose a subject which was totally new and had nothing to do with women, but inevitably you brought your gendered eye into the research of it. Did that lead you to a gendered view of the Jesuits? Inevitably. The Jesuits undertook the first big private schooling system in Europe, which expanded to 500 schools, some of which had several hundred pupils. These schools have left their mark on the landscape of many European cities. To build their colleges they had hoped to have as their major donors great men, clerics and so on. But what they discovered was that in fact in the early days this was not forthcoming, and they were getting lots of support from women, from widows in particular, who were in command of substantial resources and were prepared to invest in this kind of new schooling.14 The Jesuits, I think, were the first modern fundraisers, and among the elements of their mission statement was that they were offering a disciplined, rich and meaningful education (to boys alone at this stage, though they later were active promoters of some of the women’s teaching orders). They were offering the promise of a new man, as it were, one who was not a condottiere, who was not involved in war, who was gentler, more refined, principled and verbally eloquent. In looking at individual women who built colleges or churches for the Jesuits I came across a whole panoply of reasons for involvement. Some of the female donors were still happily married, and they gained perhaps most from involvement in a worthy enterprise. Others were very unhappily married and may have wished to leave money away from the families which had placed them in distasteful circumstances when very young. From their own experiences they might be attracted by the idea of a new man. The Jesuits also gave a great deal of emphasis to confessional practice: they were the first marriage counsellors. They cultivated an impassive neutral approach, which must have been very comforting for women locked in unhappy circumstances. Most sizeable women donors were childless or their children had died. A lot of them were very rich 13 Michael Jones and Malcolm Underwood, The King’s Mother : Lady Margaret Beaufort, Countess of Richmond and Derby, Cambridge 1992. 14 Olwen Hufton, The Widow’s Mite and Other Strategies: Funding the Catholic Reformation (The Prothero Lecture), in: Transactions of the Royal Historical Society, 8, Cambridge 1998, 117–137; Olwen Hufton, Altruism and reciprocity : the early Jesuits and their female patrons, in: Renaissance Studies, 15, 3 (2001), 328–253.
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since they had carried into matrimony resources from their families of origin. On widowhood they could re-appropriate these funds, and they were certainly open to suggestions as where to place it in ways which might lend meaning to their lives and those of others. When you started on the Jesuit project, did you expect women and gender issues to pop up like that? I don’t know whether it came as such a surprise. Ignatius Loyola’s letters to women have been published. I had encountered women in the foundation of uncloistered women’s religious orders in France. I knew the legislation introduced by Louis XIV under the pressure on families to stop women leaving so much away from the families. So I wasn’t totally unaware, but let us say I now know more about it and I think the prompt for this came from not supposing that men and women have the same motives, that there might be a gendered aspect. It seems to me that the great breakthrough of a historical concern with women has been just this and that of course the terms male and female can be further broken down into all sorts of sub-categories. Winding up your career : you are a year before official retirement? Yes, though of course you mean my university career. Academics don’t really retire, do they? Several publications are in progress, e. g. “Faith, Hope and Money” about funding the Catholic Reformation.15 I am also working on more articles which include the Jesuit material.16 Most of your work, with the possible exceptions of “Bayeux” and “Privilege and Protest”, is either on women or highly gendered; but the volume on the history of women in the Western world will, inevitably, be your claim to fame in women’s history. It has been a very long time project in your life. How and when did you embark on such a project? I think I was first asked for a book on European women by a publisher in 1976 – certainly by 1978. It was a rather intense period of my life. My second child was 15 Olwen Hufton, Faith, hope and money : the Jesuits and the genesis of fundraising for education, 1550–1650, in: Historical Research, 81, 214 (2008), 585–609. 16 Olwen Hufton, Every Tub on Its Own Bottom: Funding a Jesuit College in Early Modern Europe, in: John W. O’Malley et al. (eds.), The Jesuits II: Cultures, Sciences and the Arts, 1540–1773, Toronto 2006, 5–23; Olwen Hufton, Faith, hope and gender. Women’s religious experiences in the early modern period, in: M8langes de l’Pcole franÅaise de Rome. Italie et M8diterran8e modernes et contemporaines, 128, 2 (2016).
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born in 1976; by the early 1980s I had two growing children, an infirm mother and departmental responsibilities, so I did not want deadlines staring me in the face. But I knew I would write this book. Many books grow out of courses and lectures, and I gave many talks on women in the eighties, for example during three months as a visiting professor at the University of Melbourne. Little by little I was building up drafts of sections of a book. In 1986 I went to the College of All Souls, Oxford for a year and gained a great deal from Richard Smith on demographic issues. Then I went to Harvard, taking a rough text of the book with me. I was very busy at Harvard, but in 1991 my editor from “Privilege and Protest”, Stuart Proffitt, took me for a very good lunch and asked me where my next book was. I confessed to a script in the drawer, and I promised to get it out. It was in Italy that I came to grips with the book seriously and reflectively. I think the book bears the imprint of my stay in Florence, but really many experiences fed into the writing of “The Prospect”. It is very much concerned with continuities, and in the last chapter I conceive of a procession of women at the beginning of the early modern period and then another somewhere around 1800. You can see that there are more women who are literate, there are more women writers, more women in the labour force, but there are limits to the possibilities of change. Volume two has to be a book thinking about change and changes and about the pace and geographical differences in change. Obviously very rapid changes occurred over the twentieth century in the acquisition of political rights and educational opportunities, and with that the possibilities of doing better, to have control over one’s body and to be able to appropriate certain life patterns. However, changes are not evenly distributed over social groups or nationally and regionally. I do not want to lose sight of individual lives and life cycle experience changes as between generations. In my own life I have witnessed a lot of changes, some for the better, some for the worse. My own observations of the generation of my children teach me that the conditions in which they are operating are at one level much easier than the conditions that my generation operated in, in that people are more open to the idea that women have careers. But the actual hours of work now attached to certain jobs are horrendous. There exists a labour market in which the time patterns are essentially male time patterns rather than female time patterns. Balancing work and family is hardly easier than it was when I had my children. Childcare is still inadequately provided and discussed. Let’s go back to “The Prospect”. The second sentence of the book, in the acknowledgements, is: “There might have been a little more about sexuality, more about power, more gender theory, more big names, if someone else had been the writer. So be it.” What did you set up to defend yourself against in the first place?
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Am I defending myself ? My aim was to convey what sort of a book I was offering. It is a book about human experience. I did want to get people to come away from the book with an idea of what is it like to be born as a female child and to grow up within a particular framework of conditions. I wanted the evidence to speak, without my squeezing the material I had into any particular theoretical corset. Most theorising on women in the past has been about social constraints, but if you allow the constraints to compose the master narrative, you come up with a vision of women and their place in society, which is perforce very passive. I certainly assess the cultural constraints in the book, but I concentrated on the negotiations within that framework. I did not want to have one abstract woman to speak for all women, or to deal constantly with a concept of oppression. I wanted to be alert to the positive as well as the negative. I am an empiricist. I was trained that way ; I’ll always be that way. I like documents to speak for themselves in many respects, although I am perfectly prepared to criticise the implicit assumptions within them – you know from your own work that a prostitute in court is not going to tell the whole story but that the story she tells is historically interesting because it is the one her audience might wish to hear. No father confessor in a vie difiante intended to convey his penitent’s spiritual progress, is going to spend much time on the small print of ordinary everyday life, of her imperfections and mistakes as opposed to her piety. You have been called a positivist, criticised probably as a positivist, haven’t you? Yes, although not too severely. I have been told that some of my ex-colleagues in women’s studies in Harvard described me as “the acceptable face of positivism”. I’m quite happy to live with that; I am not going to apologise for how I write or think. There are many ways of writing history. And, in my view, diversity should rule. There is no one right way. It is not only the evidence that speaks. Even with subjects where women and gender aspects stand out in our eyes, it is possible for good and well-trained historians not to see them. You said that when working on the poor it was impossible to overlook the women. But it has been possible. Don’t you think that a paradigm change must occur and a “gendered eye” must be developed first? That is true. I think that the “history from below” approach helped to develop my “gendered eye”. But it still is true that even very good historians in the past simply overlooked things that to us are so obvious. I remember having a testy interchange with E. P. Thompson, who, when we began sometime in the sixties, clearly felt that in a sense the history of women seemed to detract from the
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history of the working classes. But he was still a great historian, and the few references to women in his work certainly give food for thought. I return again and again to the article he wrote on time, a piece on the introduction of the clock into the working man’s life and on regulation and regimentation which employers found suited factory production.17 His article is about resistance. Yet women appear as the enemy of the free wheeling artisan operating according to his own imperatives. He mentions them only twice. Once to show them prepared to connive with employers to get their husbands into work by the stipulated time because that means bigger wages for the family. The second reference suggests that women may remain pre-industrial because they have to get up at night with the babies and respond to the needs of others so that their lives don’t correspond to any chiming of the clock. Nevertheless, I find it a great piece of historical writing. What kind of theorising do we need as historians? I think theory offers some very interesting questions which any historian at the outset of approaching a new topic should have in mind. Marx gave economic causation. Foucault asked us to think about the world of constraints. Freud asked us to think about the subconscious as a motor for behaviour. I would however separate the questions from the answers. The answers in my view should depend on the evidence, not the theory. What I love in your work and has been taken up universally is the wonderful term of “economy of makeshifts” or “economy of expedients”; this concept in itself has become an important question. The term has made it even into economic textbooks. I actually found the phrase “vivre aux expedients” in the reports of a parish priest in the late eighteenth century. It has application to the ways in which a large proportion of the world still lives, and it certainly applied to the working classes of early modern Europe. I always enjoy finding instances of the obvious but sometimes ingenious ways in which this was done. I also like discerning patterns of circulation of money and goods. One of the fabulous things about your work on prostitution in Amsterdam, Lotte, are the relationships you discover between the wages of the sailors and the incomes of the whores and the retail traders.18 17 Cf. Edward P. Thompson, Time, Work-Discipline, and Industrial Capitalism, in: Past and Present, 38 (1967), 56–97. 18 Lotte van de Pol, Het Amsterdams Hoerdom. Prostitutie in de zeventiende en achttiende eeuw, Amsterdam 1996 (German: Der Bürger und die Hure. Das sündige Gewerbe im Am-
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Your work is an interaction between questions, sources and answers. Yes. I always begin with questions even when just writing a lecture. Otherwise I feel on any issue I intend to write about that I have just switched on the engine but not put the car into gear. Sources are obviously essential. I think if historians get away from the sources they are lost. You don’t necessarily have to go into an archive now: there are so many printed collections and archives on the web. One of the great joys of writing on the Jesuits is that they have produced so many printed records. On the other hand, the feel and smell of the page of the real report is hard to beat. A last word on women’s history? Women’s history has been important in sharpening the senses of the entire discipline. After women’s history came black history, gay history, the history of masculinity and so on. Everybody has now a right to their own history, it is regarded as a fundamental part of the identity construction. It also increased the consciousness of the need to question the assumptions underlying many texts. I think women’s history is simply one of the big contributions to historical developments in the twentieth century and that it has changed much of what we now read.
sterdam der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2006; English: The Burgher and the Whore. Prostitution in Early Modern Amsterdam, Oxford/New York 2011).
Karin Hausen im Gespräch mit Christa Hämmerle (2018)*
Von der ,großen‘ Geschichte des Alltäglichen**
Karin Hausen gehört zu den Pionierinnen der Frauen- und Geschlechtergeschichte im deutschsprachigen Raum. Nach ihrem Studium in Marburg, Münster, Berlin, Paris und Tübingen hat sie, nachdem sie 1978 als Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an die Technische Universität (TU) Berlin berufen wurde, verschiedene Vorreiterfunktionen ausgefüllt; das von ihr dort 1995 gegründete und bis 2003 geleitete Zentrum für Interdisziplinäre Frauenund Geschlechterforschung (ZIFG) wurde zur internationalen Drehscheibe in diesem Feld. Die Forschungsbeiträge von Karin Hausen, in denen sie – stets auch mit dem Blick auf Interdisziplinarität – mehrere Ansätze der neueren Geschichtswissenschaft miteinander verbindet, sind bis heute viel gelesen. Ihr 1976 erschienener Aufsatz „Die Polarisierung der ,Geschlechtscharaktere‘. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbsarbeit und Familienleben“1 gilt als der meistzitierte Beitrag der deutschsprachigen Frauen- und Geschlechtergeschichte und wird immer noch viel rezipiert. Für ihr umfassendes Werk und ihre engagierte breite Tätigkeit im Feld der Frauen- und Geschlechtergeschichte erhielt Karin Hausen mehrere Auszeich* Christa Hämmerle ist außerordentliche Professorin am Institut für Geschichte der Universität Wien, wo sie die Sammlung Frauennachlässe und die Redaktion von „L’Homme. Z. F. G.“ leitet. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte sind Forschungen zu Krieg, Militär und Gewalt, die Frauen- und Geschlechtergeschichte, die Geschichte der Gefühle (v. a. der Liebe) sowie die Auto-/Biografieforschung zum 19. und 20. Jahrhundert. Dem Herausgeberinnenkollektiv von „L’Homme“ gehört sie seit der Gründung der Zeitschrift im Jahr 1990 an. ** Die längere Originalfassung dieses Interviews ist auf Initiative von „L’Homme“-Mitherausgeberin Ulrike Krampl für die Online-Zeitschrift „Genre & Histoire“ entstanden. Sie wurde dort, ins Französische übersetzt von Lo"c Windels, im Januar 2019 veröffentlicht: https://jour nals.openedition.org/genrehistoire/3905. In einer leicht veränderten und gekürzten Version erschien die deutsche Fassung erstmals auf der „L’Homme“-Website, ebenfalls im Januar 2019: https://www.univie.ac.at/Geschichte/LHOMME/cms/images/pdfs/Interview_Karin_ Hausen.pdf. 1 Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbsarbeit und Familienleben, in: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, 363–393.
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nungen, darunter den Berliner Frauenpreis 1998 und den Ren8-Kuczynski-Preis 2012. Sie war Mitbegründerin der International Federation for Research in Women’s History sowie des Arbeitskreises historische Frauenforschung und gehörte über viele Jahre hindurch zu den Herausgeberinnenkollektiven von „L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft“ und der von ihr mitinitiierten Buchreihe „Geschichte und Geschlechter“ im Campus Verlag. Im Jahr 2012 ist unter dem treffenden Titel „Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte“ eine Zusammenstellung ihrer wichtigsten Forschungsbeiträge erschienen.2 Der folgende Text enthält Ausschnitte aus zwei langen Gesprächen mit Karin Hausen in ihrem Haus in Berlin-Dahlem, die im Februar 2018 aufgezeichnet wurden.3 Christa Hämmerle: Du hast mir erzählt, dass Du das, was Du geworden bist, durch Zufall geworden bist. Kannst Du das erläutern? Karin Hausen: Ich komme aus einer Familie mit vier Kindern, zwei Mädchen und zwei Buben. Meine Eltern hatten kein Abitur machen können, und es war ihr fester Entschluss, dass ihre Kinder die von ihnen gewünschte Ausbildung erhalten sollen. Es galt für uns: Autonomie, Selbstbestimmung, Eigenverantwortung. Es hieß immer : ,Karin, die Zensuren sind Deine Sache, aber wenn Du sitzen bleibst, musst Du von der Schule abgehen.‘ Das hat mich geprägt. Nach dem Abitur war ich ganz sicher, dass ich als Studienrätin an einem Gymnasium als Lehrerin arbeiten will, und hatte zunächst Deutsch und Biologie als Studienfächer gewählt. Sehr schnell habe ich dann gemerkt, dass ich diese Fächerkombination nicht studieren konnte, und habe deshalb für mein Studium neben Deutsch nach langem Zögern als zweites Schulfach schließlich Geschichte gewählt. So bin ich zur Geschichtswissenschaft gekommen, die mich dann, je länger, je mehr, so sehr beschäftigt und fasziniert hat, dass die Germanistik das Nachsehen hatte. Das ist also der erste Zufall in meinem Werdegang. Die Universität Marburg war mein erster Studienort. Die Erfahrung, dass ich wie auch andere Frauen in Lehrveranstaltungen im Vergleich zu den Männern kaum wahrgenommen und angehört wurde, erinnere ich als besonders kränkend, da ich in meinem Mädchengymnasium anderes gewohnt war. Zusätzlich 2 Karin Hausen, Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2012. 3 Kürzungen der Originalversion sind nicht ausgewiesen. Sie betreffen, von einzelnen Beispielen aus den Forschungen von Karin Hausen abgesehen, v. a. ihr wissenschafts- und hochschulpolitisches Engagement und Wirken im Kontext des ZIFG im Berlin der 1980er- und 1990er-Jahre bis zu ihrer Pensionierung 2003 sowie Bezüge zur französischen Geschichtswissenschaft.
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hat mich das unerträgliche maskuline und frauenfeindliche Gehabe der in Marburg dominanten schlagenden studentischen Burschenschaften erschüttert. Zum Wintersemester 1959 bin ich nach Westberlin an die Freie Universität (FU) gegangen. Dieser große befreiende Schritt war eine bewusste Entscheidung. Mir gefiel die erst im Dezember 1948 gegründete, demokratisch verfasste Universität und am historischen Seminar, dem Friedrich-Meinecke-Institut, der sehr freundliche Umgang miteinander. Ich kam auch mitten hinein in tägliche politische Auseinandersetzungen und Debatten vor der FU-Mensa zwischen den zur Agitation vom Osten ausgeschickten FDJ-Kadern und Westberliner Studenten. Westberlin war, wie 1948/49 die Blockade plus Luftbrücke gezeigt hatte, ein hochgradig gefährdeter, vom Hoheitsgebiet der DDR umgebener Ort. Die im August 1961 seitens der DDR erbaute Mauer bewirkte die physische Teilung der Stadt. Die Mauer bedeutete für Kommilitonen aus Ostberlin, die an der FU studierten, weil sie an der Humboldt-Universität nicht studieren durften, das abrupte Ende ihres Studiums. Ein westdeutscher Freund von uns war spurlos verschwunden; später erfuhren wir, dass er zusammen mit anderen Medizinstudenten versucht hatte, Kommilitonen noch in den Westen zu holen; sie wurden verraten, in der DDR verurteilt und in das berüchtigte Bautzener Gefängnis eingesperrt. Selbstverständlich demonstrierte auch ich als Studentin mit zehntausenden Menschen an jedem 1. Mai auf dem Platz vor den Ruinen des Reichstags für die Freiheit von Westberlin, während nebenan auf der östlichen Gegenseite die militärisch gerüsteten Maiparaden aufmarschierten. Sehr wichtig war für mich auch, dass ich im Herbst 1961 mit einem Auslandsstipendium ein Semester in Paris verbrachte. Es war die Zeit des seit 1954 anhaltenden, im März 1962 beendeten Algerienkrieges. Als ich in Paris eintraf, herrschte in der Stadt das Entsetzen über das Massaker vom 17. Oktober, bei dem demonstrierende Algerier in großer Zahl verprügelt, getötet und in die Seine geworfen worden waren. Es gab eine große Protestversammlung im Maison de la Mutualit8. Ich war dort und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Anders als die mir bekannten eher duckmäuserischen und apolitischen Professoren in Deutschland exponierten sich hier neben vielen anderen auch namhafte französische Professoren; sie kritisierten politisch engagiert in großer Schärfe lauthals die Regierung, die zu verantworten habe, dass die von den Franzosen erkämpften Revolutionsideale missachtet werden. In empathischen Reden wurde an das Wir und an die in Revolutionen geschaffene Nation appelliert, die jetzt handeln und sich zur Wehr setzen müsse. Diese Versammlung erlebte ich als Kontrastprogramm zu meinem Bild von Deutschland mit seiner für eine solche politische Mobilisierung völlig untauglichen Geschichte.
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Da wurdest Du in gewisser Weise auch politisiert? Ja, und zwar sehr heftig! Dazu gab es immer wieder neue Anlässe. In Paris lernte ich Menschen kennen, die zum Studium häufig aus überwiegend bereits ehemaligen französischen Kolonien in Indochina, Nordafrika, Zentralafrika, aber auch aus Lateinamerika kamen oder als Flüchtlinge aus Polen und der Tschechoslowakei eingereist waren. Erstmals in meinem Leben traf ich mit Juden zusammen, da ich einer koscheren Mensa zugeteilt war ; als Unwissende stolperte ich hinein in schwierige Debatten. In diese Mensa immer wieder hinzugehen, verlangte meinen ganzen Mut. Ich bewohnte im Quartier Latin ein winziges Dienstmädchenzimmer unter dem Dach mit Blick auf das CollHge de France. Mein Nachbar war ein Marokkaner. Ich, die ich bis dahin als gelehriges deutsches Nachkriegskind die Amerikaner nur als unsere Freunde kannte, wurde in Diskussionen mit Kritiken am Imperialismus der Amerikaner konfrontiert. Fasziniert haben mich auch die vielen Kurz-Demonstrationen gegen den Algerienkrieg zur Mittagszeit im Bereich Boulevard Saint-Germain, Boulevard SaintMichel, Panth8on, die sehr schlau den Rhythmus der Ampeln ausnutzten. Vieles, was in Paris auf mich zukam, war für mich neu, die Pariser Eindrücke haben bei mir einen Hebel umgelegt. Nach vollbrachtem Staatsexamen sagte ich mir, dass ich ja zunächst noch promovieren könnte, zwar nicht, um auf Dauer in der Wissenschaft, aber noch etwas länger an der Universität zu bleiben. Ich habe mir als Thema die deutsche Kolonialgeschichte ausgesucht, weil ich nach Afrika fahren wollte. Im Nachhinein finde ich bemerkenswert, dass zur gleichen Zeit in der Bundesrepublik weitere Dissertationen zur deutschen Kolonialgeschichte in Arbeit waren, wir aber nichts voneinander wussten. Ebenso aufschlussreich ist, dass mich während des Forschens vieles interessierte, was mit Ethnologie zu tun hatte, ich mich darauf aber nicht einließ, weil ich damals fest davon überzeugt war, dass das nicht zur Geschichtswissenschaft gehört. Mein Promotionsplan ist in einem entscheidenden Teil gescheitert. Ich habe die Kolonialgeschichte zwar erforscht, konnte aber nicht nach Kamerun in mein Untersuchungsgebiet fahren, weil ich an einer schweren, sehr langwierigen Hepatitis erkrankte und danach nicht mehr tropentauglich war. Also musste ich, ohne vor Ort recherchieren zu können, meine Dissertation aus hiesigen Quellenbeständen erarbeiten.4 Wenn Du zurückdenkst an die Zeit des Doktorats, hat es da schon viele Studentinnen gegeben, die auch ein Dissertationsstudium gemacht haben? Wie war das 4 Karin Hausen, Kolonialherrschaft in Afrika. Wirtschaftsinteressen und Kolonialverwaltung in Kamerun vor 1914, Zürich/Freiburg 1970.
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an den Unis zu dieser Zeit: Wie hat sich das als junge Frau angefühlt, auch geschlechterpolitisch gesehen? Es gab durchaus eine nennenswerte Zahl von Frauen, die promovierten. Denn es gab damals das Magisterexamen noch nicht. Wer das für den Schuldienst eingerichtete Staatsexamen nicht machen konnte oder wollte, war daher für einen anerkannten Studienabschluss auf die Promotion angewiesen. Allerdings hat mich schon damals geärgert, dass es unter denen, die Geschichtswissenschaft und Germanistik studierten, herausragend interessante und kluge Frauen mit Promotion gab, die für sich eine Wissenschaftskarriere überhaupt nicht in Betracht zogen, während einige in meinen Augen nicht sonderlich interessante Männer offenbar von Anfang an wussten, dass sie Professoren werden. Gehen wir den Weg weiter: Du hast Deine Dissertation 1969 abgeschlossen, noch immer mit der Option, danach Studienrätin zu werden? Und dann kam wieder der Zufall ins Spiel? Genau. Dann kam wieder der Zufall. Professor Thomas Nipperdey vom Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin fragte mich, ob ich bei ihm Assistentin werden will. Und ich habe gedacht: ,Na ja, das kann ich ja auch noch machen.‘ So kam ich wieder zurück nach Berlin, nachdem ich vorher zum Dissertationsstudium bei Gerhard A. Ritter, der dort eine Professur angenommen hatte, nach Münster/Westfalen gezogen war. Als Assistentin machte ich dann die Erfahrung, wie schwer es auszuhalten ist, in der damals exklusiv für Männer eingerichteten akademischen Kultur als einzige Frau unter vielen Männern gleichberechtigt sein zu wollen. Wären da nicht einige Kollegen gewesen, mit denen ich mich gut verstanden habe, wäre ich wahrscheinlich sehr schnell davongelaufen. Wann tritt die Neue Frauenbewegung in Dein Leben? War das noch während des Studiums oder danach? Wie bist Du dann, in dieser Zeit der sozialen Bewegungen, Deinen Weg weitergegangen, was war für Dich prägend? Das Studieren an der FU wurde für mich nach der Rückkehr aus Paris im Frühjahr 1962 auch politisch hochinteressant. Ich beteiligte mich auf dem Campus der FU an einer erfolgreichen Kampagne für eine Urabstimmung, die zum Ziel hatte, einen frisch gewählten ASTA-Vorsitzenden wieder abzusetzen, weil er Mitglied einer an der FU generell verbotenen schlagenden Verbindung war. Die Kampagne schärfte unter den Studierenden die Aufmerksamkeit und Bereitschaft für kritische Hochschulpolitik, unter anderem galt es durchzusetzen, dass auch linke Referenten offiziell zu Vorträgen eingeladen werden. Es war die Zeit des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). Die FU-Studie-
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renden politisierten sich mehr und mehr und die Bewegungen erreichten auch die anderen Westberliner Hochschulen. Die 68er-Studentenbewegung, die in Westberlin schon früher einsetzte und sich besonders heftig entwickelte, hat mich von Anfang an sehr fasziniert, auch wenn ich nach meinem langen Kranksein 1965/66 und selbst vorübergehend nicht in Berlin lebend weniger Akteurin als Beobachterin des Geschehens war. Das Provozieren von Ordnungsgefügen, die als unveränderlich galten, war mitreißend. Als sich die pauschalen Weltumwälzungsvorhaben breitmachten, habe ich mich aber nur noch gewundert. Erfreut haben mich hingegen die vielen, sehr kleinen gelebten Emanzipationen bei Menschen, die ich kannte, die etwas über Bord kippten, sich veränderten, befreiten. So vieles, vielleicht sogar alles radikal in Frage zu stellen, war überfällig und wichtig. Die dazu erforderliche Energie und Bereitschaft war in Berlin geballt vorhanden. Das kam hier den Autonomie einfordernden Frauenbewegungen zugute. Gehen wir damit zum Thema Frauenbewegung und Frauengeschichte. Du giltst im deutschen Raum und weit darüber hinaus als eine der wichtigsten Mitbegründerinnen der damaligen Frauengeschichte. Gab es dafür konkrete Anlässe, oder war das ebenfalls einfach die Atmosphäre der Zeit, die Erfahrung mit der autonomen Frauenbewegung außerhalb der Universitäten in den späten 1960er-, frühen 1970er-Jahren? Ich habe es in den 1970er-Jahren nicht Frauengeschichte genannt, sondern die relevanten Fragen über Familiengeschichte beantworten wollen, weil es mir wichtig war, in großer Breite die deutsche Kultur der Innerlichkeit, der Häuslichkeit, der vermeintlich angeborenen Arbeitsteilungen mit allem, was sonst noch dazu gehört, zu erforschen. Ich gehörte über Jahre einem rund um Michael Mitterauer in Wien entstandenen interdisziplinären Arbeitskreis zur Familiengeschichte an, und auch mein Aufsatz zur „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“, der Furore gemacht hat, war ein Beitrag zur Familiengeschichte. Er ist anlässlich einer Tagung entstanden, die indirekt beeinflusst war von der Kritik der Studentenbewegung an der Institution Familie, mit ihrem autoritären Charakter und allen Verklemmungen, die daraus resultieren. In diesen Kontext gehört die historische Familienforschung. Auf der Tagung, organisiert von Werner Conze vom Arbeitskreis Sozialgeschichte zusammen mit britischen Vertretern der Familiengeschichte aus der Cambridge Group for the History of Population and Social Structure, war die Überzeugung vorherrschend, Entscheidendes lasse sich anhand von Zahlen festmachen. Daher stand die Quantifizierung, völlig up to date, im Vordergrund. Auch mich beeindruckte, was man auf diesem Weg herausfinden kann. Dennoch habe ich, gleichsam als qualitatives Korrektiv, mein Referat zur „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“ gehalten.
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Aus dieser Vorstufe habe ich dann für die Veröffentlichung den Text zu einem ausführlichen Aufsatz weiterentwickelt. Bleiben wir zunächst noch beim Verhältnis Frauengeschichte – Familiengeschichte: Du würdest also eher zurückweisen, was ich gesagt habe, nämlich dass Du Mitbegründerin der Frauengeschichte bist? Das war, wenn ich es richtig verstanden habe, nicht so ein bewusster Akt, dass man sagt: ,Ok, wir stellen jetzt die Frauengeschichte ins Zentrum, wir suchen nach den Frauen in der Geschichte‘ – was ja der Titel eines ganz wichtigen Sammelbandes5 ist, den Du herausgegeben hast. War das, weil die Familiengeschichte Dir so klargemacht hat, dass Frauengeschichte notwendig ist? Ja, Du siehst das schon richtig. Wegen der Familiengeschichte geriet ich unter heftigen Beschuss durch die Historikerinnen der New Yorker Women’s History Group, die für den Fokus auf Frauengeschichte und Frauenbeziehungen eintraten. Meine Antworten waren: ,Ich will dieselben Fragen stellen, aber ich gehe davon aus, dass es auf der Suche nach Antworten ergiebiger ist, über die Familie als Institution und Gruppe zu forschen als über Beziehungen und Freundschaften zwischen Frauen.‘ Ich hatte dabei stets eine gesamtgesellschaftliche Strukturgeschichte im Kopf. In den 1970er-Jahren habe ich für die Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ einmal meine Vorstellungen über Familiengeschichte festgehalten6 und später, 1981, über die amerikanische Women’s History geschrieben.7 Dafür habe ich gelesen, gelesen und gelesen, und gestaunt, gestaunt und gestaunt; es ist mir wie Schuppen von den Augen gefallen, vor allem durch die Lektüre von Gerda Lerners frühen Beiträgen zur Frauengeschichte. Übrigens endete mein Artikel 1981 mit dem Hinweis, dass es sehr wichtig ist, über Frauen zu forschen; aber gleichzeitig muss auch über Männer geforscht werden, denn der gesellschaftliche Platz für Frauen hängt mit dem für Männer vorgesehenen Platz zusammen. Ohne Bezug auf Männer ist deshalb meines Erachtens historische Frauenforschung – ich halte diese Benennung für zutreffender als Frauengeschichte – gar nicht möglich. Die Zeit um 1980 war für mich eine Wende. 1978 wurde ich Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der TU Berlin. Die Frauenbewegung war in vielen Orten und auch in kleineren Universitätsstädten inzwischen aktiv. Die Zahl der Studentinnen, die etwas bewegen wollten, nahm deutlich zu. Noch war es mühselig, in den Köpfen Klarheit darüber herzustellen, worum es eigentlich 5 Karin Hausen (Hg.), Frauen suchen ihre Geschichte, München 1983. 6 Karin Hausen, Familie als Gegenstand historischer Sozialwissenschaft. Bemerkungen zu einer Forschungsstrategie, in: Geschichte und Gesellschaft, 1, 2/3 (1975), 171–209. 7 Karin Hausen, Women’s History in den Vereinigten Staaten, in: Geschichte und Gesellschaft, 7, 3/4 (1981), 347–363.
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gehen soll. Ich erinnere mich noch gut an den Schwung, mit dem Gisela Bock 1976 auf der ersten Frauenuniversität erklärte: „Wir heben alles aus den Angeln“. Aber dafür Programme zu formulieren, bedurfte einer großen Anstrengung. Ende der 1970er-Jahre klärte sich, wohin es sich bewegt … Du hast in diesen Jahren einen weiteren sehr wichtigen Sammelband publiziert, der auch während meines Studiums in Wien sehr viel gelesen und diskutiert wurde: „Wie männlich ist die Wissenschaft?“, herausgegeben gemeinsam mit Helga Nowotny.8 Wie ist er entstanden, was war die Motivation dafür? Dieses Buch ist eigentlich aus Zorn entstanden. Helga Nowotny war als eine der ganz wenigen Wissenschaftlerinnen an das Berliner Wissenschaftskolleg eingeladen worden. Dort hatte ich mir ihren Abendvortrag „Wie männlich ist die Wissenschaft?“ angehört und war sehr beeindruckt. Wochen später veröffentlichte der Berliner „Tagesspiegel“ zu diesem Vortrag einen bösartigen Artikel voller Empörung über Steuergelder für angeblichen Schwachsinn. Daraufhin schrieb ich Helga Nowotny, wir kannten uns nicht persönlich, und meinte, es sei an der Zeit für Gegenwehr. Wir trafen uns und dachten uns zum Thema eine Tagung aus; zu dieser luden wir Wissenschaftlerinnen aus verschiedenen Fächern zu Vorträgen ein, und fachkompetente Wissenschaftler für Kommentare zum jeweils Vorgetragenen. In der Summe entstand ein überraschend einheitliches Bild heftig kritisierter akademischer Männlichkeit. Als ,verkehrte Welt‘ hatten wir arrangiert, dass die Männer, für sie völlig ungewohnt, als Minderheit unter vielen Frauen an der Tagung teilnahmen. Die Männer fühlten sich in der ihnen zugewiesenen Rolle und der von Frauen dominierten Diskussion sichtlich unwohl. Dieses beobachtend, realisierten die Frauen ihrerseits, wie viel Energie und Selbstbewusstsein es sie stets kostete, wenn sie denn überhaupt als Frauen zu Tagungen eingeladen wurden; sie waren dann ja meistens nur als einzige oder zu zweit dort. Das aus der Tagung hervorgegangene Buch ist breit rezipiert worden. Kommen wir damit zu Deinen eigenen Forschungen. In diesen Forschungen hast Du klar gezeigt, wie scheinbar marginale Themen gewendet werden müssen, um auf gesellschaftlich zutiefst verankerte Strukturen zu verweisen und Machtbeziehungen aufzuzeigen. Das hast Du etwa am Beispiel von Themen wie der Geschichte der „Großen Wäsche“ im Kontext der Industrialisierung, der frühneuzeitlichen Holznot oder der Geschichte der Nähmaschine durchgespielt – und damit Alltags- mit Strukturgeschichte mit Gesellschaftsgeschichte verbunden. 8 Karin Hausen u. Helga Nowotny (Hg.), Wie männlich ist die Wissenschaft?, Frankfurt a. M. 1986.
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In Bezug auf meine Forschungsthemen ist es wichtig zu betonen, dass ich meine Kindheit in einem Dorf verbracht habe. Dort konnte ich noch genau beobachten, wie etwas getan wird: wie gesägt, gemäht, gedroschen wird, wie Kühe gemolken und Schuhe gesohlt werden, wie man sich aus dem Garten ernähren kann. Das waren für mich, die ich oft und viel geholfen habe, sehr konkrete Erfahrungen und Wissensbestände darüber, wie Alltag aussieht. Das hat meine späteren Nachforschungen stark beeinflusst. Mir liefen die wenigen Dinge, die ich beforscht habe, gewissermaßen über den Weg, und ich wusste im Voraus, was ein gutes Thema ist, um daran etwas zu erläutern. Mein Aufsatz zur Geschichte der Nähmaschine sowie jener zur „Großen Wäsche“ und zu Waschmaschinen,9 waren keine dezidiert feministischen Arbeiten. Mein Ziel war, die oft traditionell genannten Arbeiten von Frauen als Teil und Kontext allgemeiner gesellschaftlicher Transformationen darzustellen und zu beurteilen, ganz im Sinne meiner Vorstellung von historischer Frauenforschung. Wichtige Forschungsbeiträge von Dir – zur Geschichte von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert – hast Du aufgenommen in Dein schönes blaues Buch, das 2012 unter dem Titel „Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte“ erschienen ist.10 Ich möchte diese von Dir getroffene Auswahl nun heranziehen, um das Gespräch über Deine Forschungsarbeiten zu leiten. Was hat Dich motiviert, diese Sammlung vorzulegen? Ich wollte mit den Texten zwischen zwei Buchdeckeln zeigen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen meinen Forschungsbeiträgen, die ich an verschiedensten Stellen veröffentlicht hatte. In ihnen habe ich an ganz verschiedenen Beispielen durchgespielt, was geschieht, wenn ich der Frage nachgehe, wie Männer und Frauen und Geschlechterbeziehungen in der Geschichte vorkommen. Mit dieser Absicht suchte ich mir möglichst augenfällige und vertraute Beispiele aus der Alltagswelt und bemühte mich, diese anhand sehr verschiedenartiger Fragestellungen und möglichst entlang längerer Zeitphasen möglichst genau kennenzulernen, darzustellen und zu beurteilen. Die so entstandenen Aufsätze über Ehepaare, die Nähmaschine, den Muttertag, Arbeitsteilungen etc. gehören insofern zusammen, als sie mir ermöglichten, aus wechselnden Perspektiven historische Geschichten darüber zu erzählen, dass und wie Geschlecht gesamtgesellschaftlich stets außerordentlich wichtig und allenthalben präsent war. Außerdem repräsentieren die ausgewählten Beiträge auch einen Längsschnitt sowohl meines 9 Karin Hausen, Technischer Fortschritt und Frauenarbeit. Zur Sozialgeschichte der Nähmaschine, in: Geschichte und Gesellschaft, 4, 2 (1978), 148–169; dies., Große Wäsche. Technischer Fortschritt und sozialer Wandel in Deutschland vom 18. bis ins 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft, 13, 3 (1987), 273–303. 10 Hausen, Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, wie Anm. 2.
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eigenen Schreibens als auch von dem, was in der Zeit, in der sie erstmals veröffentlicht wurden, als Fragestellung und Ergebnis möglich war oder nicht möglich war. Als Beispiel daraus will ich zunächst die Geschichte des Muttertags nehmen. Meine Studie dazu begann damit, dass ich etwas zu einem Sammelband zur Geschichte der Freizeit beisteuern sollte. Da fiel mir der von mir ungeliebte Muttertag ein. Ich begann zu forschen, und je genauer ich mich damit beschäftigte, umso mehr erbosten mich die Fürchterlichkeiten, die mit dem Muttertagsprogramm – ,Ehret einmal im Jahr die nimmermüde, sich klaglos aufopfernde gute Mutter‘ – propagiert wurden. Der Muttertag entstand historisch im Zusammenspiel von Vertretern konservativer Sozialorientierung, die nach dem Ersten Weltkrieg den Zusammenbruch der Gesellschaft über die Mutter heilen wollten, mit Vertretern kruder wirtschaftlicher Interessen, allen voran der Blumengeschäftsinhaber, die daran verdienen wollten. Dieses Zusammenspiel zu erkennen, war für mich umso aufregender, als der Muttertag von Anfang an auch mithilfe von Kindergärten und Schulen über die Kinder in die Familien getragen werden sollte. Auch mich überraschte, dass der Muttertag schon ab 1923 propagiert und gefeiert wurde, also keine Erfindung der Nationalsozialisten ist. Als Gegenstück habe ich später den Volkstrauertag untersucht. Er wurde auf die gleiche Weise wie der Muttertag mit einem problematischen Feierprogramm und mit Unterstützung der Blumengeschäftsinhaber in der Öffentlichkeit verankert. Das massenhafte Töten und Verstümmeln von Männern im Ersten Weltkrieg belastete die deutsche Nachkriegsgesellschaft nachhaltig. Für öffentliche Gedenkfeierlichkeiten aber gab es in der neu gegründeten Weimarer Republik keine eindeutige, institutionell-staatliche Zuständigkeit. Auf dieses Defizit reagierte eine selbst ernannte Bewegung für den Volkstrauertag. Ihr gelang es, den an einem bestimmten Tag des Jahres überall in Deutschland gefeierten Volkstrauertag zu etablieren. Im Nationalsozialismus wurde der Volkstrauertag verstaatlicht und zum Heldengedenktag umbenannt. Muttertag und Volkstrauertag hatten also offenbar eine diffuse, aus Trauer, Belastung, Verzweiflung, Leiden an Ungerechtigkeiten, wirtschaftlicher Not und Aussichtslosigkeit zusammengesetzte Missstimmung in der Bevölkerung zur Voraussetzung. Diese Stimmung dürfte in der Weimarer Republik für völlig überforderte, sozial kaum unterstützte Mütter ebenso niederschmetternd gewesen sein wie für unzählige Familien mit verkrüppelten und psychisch gestörten Männern, getöteten Söhnen und Vätern. Die selbst ernannten ,Bewegungen‘ für den Muttertag und für den Volkstrauertag reagierten auf solche freischwebenden Emotionen und bedienten sich ihrer im öffentlichen Diskurs zur Durchsetzung der neuen Gedenktage. Diese bedienten gleichzeitig die politischen Interessen konservativer und reaktionärer Gruppierungen und die
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wirtschaftlichen Interessen von Einzelhandel und Produzenten mit den für die Feste empfohlenen marktgerechten Ausdrucksformen. Diese zwei Beispiele veranschaulichen schon sehr gut etwas, was sich durch Deine ganze Arbeit zieht: Immer verweist Du auf die Relevanz von wirtschaftlichen Dimensionen, holst diese in die Frauen- und Geschlechtergeschichte hinein und schreibst so – das sagt ja auch der Titel des Buches – eigentlich umfassende Gesellschaftsgeschichte. Damit hast Du früh begonnen, schon mit dem Thema Hausarbeit und den anderen bereits angesprochenen Themen. Und Du zeigst auch die Bezüge zur – ich sage es jetzt einmal unter Anführungszeichen – „großen Wirtschaft“, etwa im Beitrag „Wirtschaften mit der Geschlechterordnung“, der die Zeit der Industrialisierung und der damit einhergehenden geschlechtsspezifischen Segregation des Arbeitsmarktes in den Blick nimmt. Hier wird deutlich, dass man eine Geschichte der Industrialisierung, des Arbeitens im 19. und 20. Jahrhunderts, gar nicht schreiben kann, ohne auch auf Geschlechterbeziehungen, zeitgenössische Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen, die Dichotomie privat–öffentlich zu verweisen. Ja, mithilfe der Kategorie Geschlecht die Geschichte der Geschlechterverhältnisse und Geschlechterbeziehungen systematisch mit der Geschichte von Wirtschaft und Arbeit zu verschränken, das ist eine Herausforderung, die wir noch zu bewältigen haben. Es erweist sich heute als gravierendes Problem, dass es sehr schwierig und langwierig ist, Strukturen der Arbeitsteilungen nach Geschlechtern zurückzubauen und abzuschaffen, die seit vielen Jahrzehnten weiterentwickelt und in den gesellschaftlichen Einrichtungen und Köpfen der Menschen fest verankert worden sind. Könntest Du am Beispiel der Sozialgeschichte der Nähmaschine den Weg von etwas, was Frauen tun, hin zu wirtschaftlichen Gesamtzusammenhängen erläutern? Die Geschichtsschreibung zur Industrialisierung war mit dem Fokus auf die Dampfmaschine, Textilfabriken und später die Schwerindustrie stark fixiert auf die „große Industrie“ (Karl Marx). Demgegenüber betone ich, dass es auf allen Ebenen zu Veränderungen kam, wie es später auch die Forschungen zur Protoindustrialisierung herausgearbeitet haben. Für meine Geschichte der Nähmaschine ist dieser Ansatz entscheidend, denn die Geschichte der Industrialisierung hat nicht nur mit der Baumwollindustrie und der neuen Antriebskraft, das heißt der Maschinisierung der Produktion in den entstehenden Fabriken zu tun. Wie wurde mit den großen Mengen an so produzierten Baumwollstoffen umgegangen, wie hat man dafür eine Nachfrage erzeugt? Stellt man solche
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Fragen, wird zweierlei sichtbar : Erstens kann ein Baumwollstoff erst dann weiterverarbeitet werden, wenn er zumindest gewaschen und gefärbt ist. Es wurde sehr lange daran gearbeitet, diese Prozesse der Nachbearbeitung effizient ausführen zu können. Zweitens muss der Stoff, wenn er fix und fertig angeboten wird, in einem wiederum langwierigen Prozess vernäht werden. Hier beginnt die Geschichte der Nähmaschine, die über einen langen Zeitraum im 19. Jahrhundert allmählich entwickelt und schließlich am erfolgreichsten vom US-amerikanischen Singer-Konzern weltweit vermarktet wurde. Das Handnähen reichte nicht mehr aus für diese Stoffmassen, die jetzt attraktiv wurden. Die gesamte Nachfrage änderte sich. Aus dieser Perspektive erschließt sich die entstehende Konfektionsheimarbeit der Frauen als Parallelstück zur Erwerbsarbeit der Männer im Baugewerbe der schnell wachsenden Städte. Diese Frauen arbeiteten nicht in großen zentralen Fabriken, sondern als Heimarbeiterinnen in kleinen Wohnungen – das ist die viel beschworene Vereinbarkeit von Familie und Beruf in ihrer schlimmsten Variante. Arbeiterfrauen wurden zu Heimarbeiterinnen; sie hatten aus unternehmerischer Sicht den Vorteil, dass sie kostenfrei für den Unternehmer selbst für Arbeitsraum, Licht, Heizung und Nähmaschine aufkamen. Ihre Nähmaschine kauften sie in Form des Ratenkaufsystems. Erst nach der Beendigung meiner Forschungsarbeit habe ich erfahren, dass Heimarbeiterinnen sich mitunter der dringlich anstehenden nächsten Ratenzahlung, wenn sie Glück hatten auf Dauer, entziehen konnten, indem sie notfalls bei Nacht und Nebel, unter Mitnahme ihrer Nähmaschine, ohne Hinterlassen einer Adresse umzogen. Der Rateneintreiber findet seine Kundin nicht in der alten Wohnung, und selbstverständlich vermag in der Nachbarschaft, wie es die Solidarität unter Arbeiterfrauen verlangt, niemand zu sagen, wo die Frau hingezogen ist, selbst wenn sie nun bloß zwei Häuser weiter wohnt. Gehen wir auch nochmals zum so viel zitierten Schlüsseltext zur „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“ und seiner Rezeption, die Du in Deinem Band ebenfalls darlegst. Was war Dein Anliegen damals, als Du ihn verfasst hast, und was das Motiv, ihn in die Zusammenstellung aufzunehmen? Als ich diesen Text verfasste, war ich überzeugt, damit aus der Geschichtswissenschaft herauszufallen. Seine anhaltende glorreiche Karriere hatte ich überhaupt nicht vorausgesehen, und ich bin nach wie vor überrascht, dass der Text inhaltlich noch immer funktioniert. Ich habe ihn damals geschrieben als eine für mich persönlich wichtige Weise der Selbstverständigung. Ich entdeckte mit großem Erstaunen, dass Männer, die sich während meiner Studienzeit mit provozierender Selbstverständlichkeit gegenüber intellektuell interessierten Frauen abfällig verhielten, nichts Neues taten, sondern nur, wenngleich banali-
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sierend, einem schon um 1800 formulierten, sehr wirkmächtigen Programm der Geschlechterordnung folgten, ebenso wie ich auf der anderen Seite des Programms. Mich wundert, dass mein Aufsatz immer noch aufmerksam rezipiert wird, obwohl Studierende es heute mit Geschlechterbildern zu tun haben, die sich im Vergleich zu den in den 1950/60er-Jahren geltenden von Grund auf verändert haben. Ja, aber Geschichtestudierende schauen natürlich zurück, auf die ,Moderne‘, die damalige bürgerliche Gesellschaft, und da ist der Text sehr überzeugend, weil er die Geschlechterordnung der ,Moderne‘, auch mit vielen Bezügen zu heute, erklärt und historisiert. Darum denke ich schon, dass die Relevanz ungebrochen ist. Und auch die Quellen, die Du verwendest, das sind ja vor allem Lexika, Enzyklopädien … Ja, meine Hauptquelle sind bürgerliche Enzyklopädien. Bei der Rezeption meines Aufsatzes gibt es ein bemerkenswertes, für mich interessantes und irritierendes Defizit. Ich habe betont, dass die Polarisierung der Geschlechtscharaktere nicht nur ein asymmetrisches Machtgefüge zwischen Männern und Frauen gerechtfertigt hat, also ein Abwertungsprogramm war. Die Polarisierung lieferte mit dem eingeschriebenen Konzept der Ergänzung beider Geschlechter auch ein für die damalige Zeit durchaus attraktives Versöhnungsprogramm. Einen anderen Beitrag von Dir, nämlich „Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung“,11 hast Du ebenfalls in Dein Buch übernommen. Warum „Nicht-Einheit der Geschichte“, was meinst Du damit, und was ist demgegenüber deren „Einheit“? Kannst Du anhand dieses Begriffs noch einmal Deinen spezifischen historiografischen Ansatz erläutern? Mich hat immer die Frage beschäftigt, wie ich meine Art der Geschichtserzählung, also das Ergebnis meiner veränderten historischen Sicht und Herangehensweise, mit Bedeutung und Gewicht in das über zwei Jahrhunderte hindurch errichtete Geschichtsgebäude einfügen kann. Denn vereinheitlichende Narrative strukturieren dieses Gebäude, um die Vielfalt des Partikularen zu bändigen und eine so vereinheitlichte Geschichte schließlich im Gewand der Nationalgeschichte als eine stimmige Einheit der Geschichte auszugeben. Ich argumentiere nicht prinzipiell gegen eine Geschichtserzählung, die eine solche Einheit herstellt. Ich halte es aber für notwendig, dass der Preis, der bezahlt wird, um diese Einheit herzustellen, kritisch reflektiert wird. Für mich und meine Art zu for11 Karin Hausen, Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung, in: Ann-Charlott Trepp u. Hans Medick (Hg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte: Herausforderungen und Perspektiven, Göttingen 1998, 15–55.
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schen und über Geschichte zu schreiben, ist der gezahlte Preis für die Einheit der (National-)Geschichte zu hoch. Deshalb habe ich offengelegt, dass dieses Konzept auf Relevanzentscheidungen beruht, die verhindern, dass meine Geschichtserzählungen die ihnen zukommende Bedeutung erhalten. Es ist keineswegs plausibel, dass einer Konstruktion des Allgemeinen, zum Beispiel der Nationalgeschichte, dadurch sehr große Relevanz beigemessen wird, dass Öffentlichkeit als ein hochgradig relevantes Allgemeines gedacht wird und dem gegenüber das Private als irrelevanter Alltagskleinkram nicht der Rede wert erscheint. Diese noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominante Präsentation von Geschichte ist eine Geschichtsschreibung von zweifelhaftem Wert. Denn um einer fragwürdigen Einheit willen lässt sie unberücksichtigt, was sie zum irrelevanten Privaten erklärt hat. Für die ,große‘ Geschichte darüber, wie Menschen, die essen, trinken, schlafen, waschen, lieben, miteinander auskommen und Kinder großziehen müssen, von Tag zu Tag ihr Überleben bewältigen, muss neu verhandelt werden, ob und inwieweit Sortierverfahren, die in relevant und irrelevant, privat und öffentlich, Vielfalt und Einheit teilen, historiografisch hilfreich und sinnvoll sind. Schon 1975 habe ich in einem Aufsatz zur Notwendigkeit von Familiengeschichte danach gefragt,12 wie und warum es in der Geschichtswissenschaft überhaupt dazu kommt, die Sphäre des angeblich Privaten gar nicht wahrzunehmen. Das war ein erster Schritt hin zu derjenigen Argumentation, die ich später mit dem Aufsatz zur „Nicht-Einheit der Geschichte“ weiter ausgeführt habe. Könnte man dann Geschichtswissenschaft – wie das oft gemacht wird – mit einem großen Haus mit vielen Zimmern vergleichen? Und je nachdem, welches Zimmer man betritt, ergeben sich andere Perspektiven auf die Geschichte, sie zerfällt dadurch in verschiedene Felder. Das Bild hilft mir nicht für die Auseinandersetzung mit der Frage, wo die Geschlechtergeschichte hingehört. Gewiss würden alle sagen: ,Ja natürlich, die haben wir jetzt auch.‘ Und da würde ich sagen: ,Nein! Denn das Haus wäre ja von oben bis unten durchdrungen von Geschlecht als Alltagswissen und der tradierten Gewissheit, Geschlecht habe keine historische Relevanz.‘ Mir geht es aber darum nachzufragen, wem Geschlechternormen und Beziehungspraxen zwischen Männern und Frauen in der Geschichte zum Vorteil gerieten und wem zum Nachteil? Und wieso zeigte die Geschichtsschreibung lange Zeit überhaupt kein Interesse an solchen Fragestellungen? Ein geschärfter Blick auf die ,Moderne‘ des 19. Jahrhunderts entdeckt Unvereinbarkeiten: Man verabschiedete sich zwar von der Ständegesellschaft und sympathisierte mit allgemeinen Menschen12 Hausen, Familie als Gegenstand, wie Anm. 6.
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rechten; aber man sorgte gleichzeitig mit dem legitimierenden Rückgriff auf die ,Natur‘ der Frauen dafür, dass innerhalb der Familie die patriarchale Vormundschaft über erwachsene Frauen erhalten blieb und verweigerte Frauen in der Öffentlichkeit die gleichberechtigte Teilhabe an Ausbildung, Universitätsstudium, Berufstätigkeit, Mitgliedschaft in politischen Vereinen, Wahlrecht. Zu ihrer Zeit konnten derartige Benachteiligungen keineswegs immer ohne ausholende Erklärungen als selbstverständlich ausgegeben werden. Aber warum konnten solche Unvereinbarkeiten der bürgerlichen Gesellschaft jahrzehntelang der forschenden historischen Neugier späterer Generationen entgehen oder absichtlich unterschlagen werden?
Gianna Pomata im Gespräch mit Xenia von Tippelskirch (2015)*
Eine Historikerin auf Reisen**
Die italienische Historikerin Gianna Pomata, die sich intensiv mit Fragen der Frauen- und Geschlechtergeschichte auseinandersetzt, hat ein sehr vielfältiges Œuvre vorgelegt: Ihre originellen Publikationen zur frühneuzeitlichen Medizingeschichte stehen neben einer Reihe von inspirierenden Arbeiten zur Historiografiegeschichte. Dabei verfolgt sie wie einen roten Faden das Individuelle in der Allgemeinen Geschichte, schreibt Wissensgeschichte, die die Körperlichkeit der AkteurInnen nie aus den Augen verliert. Sie hat in Italien, England, Deutschland und den Vereinigten Staaten geforscht, in Bologna, Minnesota und Baltimore unterrichtet. Ihr wissenschaftliches und privates Leben spielte sich bis zu ihrer Emeritierung im Sommer 2019 im halbjährlichen Wechsel in den USA, wo sie zunächst in Minneapolis, ab 2007 am Department of the History of Medicine der Johns Hopkins University eine Professur innehatte, und Italien ab – mit Unterbrechungen, wenn sie sich an Forschungseinrichtungen in weiteren Ländern aufhielt. Es lag also nahe, sie zu den Umständen ihrer Reisen und zum Gebrauch unterschiedlicher Sprachen zu befragen. Das Gespräch wurde auf Italienisch geführt.1 Xenia von Tippelskirch: Wo hat die Reise begonnen? Wer hat Dich in den ersten Jahren Deines Forscherinnenlebens besonders beeindruckt?
* Xenia von Tippelskirch, seit 2013 Mitherausgeberin von „L’Homme. Z. F. G.“, ist Expertin für die Geschichte der Frühen Neuzeit, insbesondere der Renaissance. In ihren Forschungen beschäftigt sie sich mit der Geschichte von frühneuzeitlichen Frömmigkeitspraktiken und Wissenstransfer über sprachliche und konfessionelle Grenzen hinweg in Italien, Frankreich und dem Alten Reich sowie mit der Geschichte von religiösem Dissens. Sie promovierte 2003 am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz und habilitierte sich 2019 an der HumboldtUniversität zu Berlin, wo sie – unterbrochen durch Gast- und Vertretungsprofessuren an anderen europäischen Universitäten – seit 2013 als Juniorprofessorin tätig ist. ** Zuerst veröffentlicht in L’Homme. Z. F. G., 26, 1 (2015): mit Sprachen, hg. von Ulrike Krampl u. Xenia von Tippelskirch, 117–122. Erscheint hier mit aktualisierter Einleitung. 1 Die Übersetzung ins Deutsche wurde von Xenia von Tippelskirch erstellt.
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Gianna Pomata: Ich bin 1973/74 aus Florenz für ein Jahr nach Cambridge gegangen und habe dort angefangen, mich mit Geschichte zu beschäftigen. In Florenz war ich für Politikwissenschaften eingeschrieben, denn Geschichte, wie sie dort zu dieser Zeit unterrichtet wurde, fand ich äußerst langweilig. Das Jahr in England war für mich von einschneidender Bedeutung: Vor allem habe ich in Cambridge Frauen erlebt, die aus der Wissenschaft einen Beruf gemacht haben. Ein Leben lang als Wissenschaftlerin zu arbeiten, war in Sardinien, wo meine familiären Wurzeln liegen, nur sehr schwer vorstellbar. Betreut wurde ich während des Jahres von der Wissenschaftstheoretikerin Mary Hesse, die mir sehr imponiert hat. Natürlich bin ich auch zu feministischen Gruppen gegangen, denen junge Frauen in Blumenröcken angehörten. Die Atmosphäre in England war eine ganz andere als in der italienischen Studentenbewegung, wo die Beziehungen zwischen Männern und Frauen grauenhaft waren. Damals schon habe ich Freundschaft geschlossen mit einer wirklich eigenständigen Denkerin, Lorraine Daston, mit der ich ähnliche Forschungsinteressen teile, wir gehören der gleichen Generation an. Ich habe in Cambridge E. P. Thompson gelesen, mit ihm war ein marxistischer Zugang möglich, der nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch ausgerichtet war und mit einer tiefen Verehrung für Literatur verknüpft war. Und ich erinnere mich, dass ich damals einen sehr beeindruckenden Vortrag der Soziologin Sheila Rowbotham gehört habe: Es war das erste Mal, dass ich mit Frauengeschichte in Kontakt kam. Cambridge ist zu einer Art geistiger Heimat geworden, später habe ich dann entdeckt, dass das mit der Geschichte dieses Ortes zusammenhängt.2 Anschließend bin ich als Assistentin nach Italien zurückgekehrt, nach Bologna, wo mich Carlo Ginzburg für die Geschichte der Frühen Neuzeit begeistert hat. Von ihm habe ich mir mein erstes Buch von Natalie Zemon Davis ausgeliehen. Recht bald bin ich in die Redaktion der Zeitschrift „Quaderni storici“ eingetreten und habe mich im Umfeld von MikrohistorikerInnen und historischen AnthropologInnen bewegt. Insbesondere von Edoardo Grendi – der meine Faszination für die Ideengeschichte immer recht kritisch gesehen hat, der aber tief davon überzeugt war, dass Frauen zur Geschichte dazugehören – habe ich gelernt, dass man immer noch an anderen Stellen nach weiteren Erklärungen suchen muss. England ist ein wichtiger Bezugspunkt geblieben, dort habe ich auch deutsche HistorikerInnen kennengelernt, die einen anthropologischen Ansatz gewählt 2 Vgl. hierzu ihre Arbeiten zur Geschichte der englischen Historikerinnen und independent scholars: Gianna Pomata, Amateurs by Choice: Women and the Pursuit of Independent Scholarship in Twentieth-Century Historical Writing, in: Centaurus. An International Journal of the History of Science and its Cultural Aspects, 55, 2 (2013): Beyond the Academy : Histories of Gender and Knowledge, 196–219; dies., Rejoinder to Pygmalion: the Origins of Women’s History at the London School of Economics, in: History of Historiography, 46 (2004), 79–104.
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haben und der Belletristik große Aufmerksamkeit schenken. Zum Beispiel Regina Schulte, die in ihren präzisen Analysen theoretische Modelle nie überstrapaziert, und Hans Medick, der während der Konferenz, bei der ich ihn zum ersten Mal getroffen habe, das gleiche Buch wie ich las: „Nature, Culture and Genre“ von MacCormack und Strathern.3 Das hat sofort verbunden. Mich hat dieses Buch so inspiriert, dass ich daraufhin meinen ersten theoretischen Aufsatz zur Frauengeschichte verfasst habe.4 Du bist dann in die Vereinigten Staaten gezogen, wie hat sich das auf Deine akademische Karriere ausgewirkt? In den 1970er-Jahren waren für mich die selbstorganisierten Frauengruppen sehr wichtig, zuerst in Cambridge, dann in Bologna und in Amerika, ich fand dort sowohl intellektuelle als auch moralische Unterstützung. Ich bin nach Amerika gezogen um zu heiraten, und als ich in Minneapolis ankam, fand ich unmittelbar Unterstützung vonseiten der dortigen Historikerinnen, besonders durch Sara Evans. Ich sollte zunächst die Geschichte der Renaissance unterrichten, konnte dann aber durchsetzen, stattdessen einen Kurs zur Geschichte der Frauen in Europa anzubieten. Von Anfang an waren für mich in Amerika Frauen-Netzwerke wichtig, sie funktionierten tatsächlich, im Gegensatz zu Italien, wo die wenigen Frauen, die im System angekommen sind, sich nach wie vor nach den tonangebenden Männern ihrer Zunft richten, auch wenn sie es überhaupt nicht nötig haben. In Amerika wurden feministische Jahrestage gefeiert, es wurde eine weibliche Tradition gepflegt, gemeinsam gegen eine männlich dominierte Wissenschaft gekämpft. Das funktioniert nach wie vor, während in Italien ein solcher Aktivismus eher kritisch betrachtet wird, auf die Differenz gepocht wird und Angst besteht, den Männern zu ähnlich zu werden. In Italien ist es in den katastrophalen Jahren unter Berlusconi immer wichtiger geworden, sich gut verkaufen zu können. Der Klientelismus hat die Universität in Italien zugrunde gerichtet, da finde ich mich nicht mehr zurecht. Ich habe mich auch an italienischen Universitäten beworben, genommen wurde ich aber in den USA. Das war für mich die Rettung. Ich bekam – ohne mich akademischen Klientelsystemen verpflichten zu müssen – eine Professur erst in Minneapolis und dann an der Johns Hopkins University in Baltimore, wo mich niemand kannte. Ich hatte das Gefühl, nur dank meiner Kompetenzen ausgewählt worden zu sein, das scheint mir für eine Frau besonders wichtig, von der man sonst annehmen könnte, sie sei lediglich Schützling eines mächtigen Professors. 3 Carol MacCormack u. Marilyn Strathern (Hg.), Nature, Culture and Genre, Cambridge 1980. 4 Gianna Pomata, La storia delle donne: una questione di confine, in: Nicola Tranfaglia (Hg.), Il mondo contemporaneo: enciclopedia di storia e scienze sociali, X, 2, Firenze 1983, 1435–1469.
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Du bist zu einer bedeutenden Vermittlerin zwischen unterschiedlichen Wissenschaftskulturen geworden, hast die Rolle einer Go-Between angenommen. Für den deutschsprachigen Bereich waren etwa Deine Publikationen zur Partikulargeschichte in der Allgemeinen Geschichte5 wegweisend. Was hat das Reisen für Dich bewirkt? Ich reise von einem ,Zuhause‘ zu einem anderen ,Zuhause‘, ob ich dabei etwas mitbringe, weiß ich nicht, ich habe eher den Eindruck, dass ich selbst dabei empfange. Die beim Reisen notwendige Neuorientierung fordert eine ganz besondere Aufmerksamkeit, ich habe wie ein Schwamm alles Neue aufgesaugt. Das passt auch zu meiner Persönlichkeit als Forscherin. Isaiah Berlin hat in einem bekannten Essay Denker in Igel und Füchse unterteilt, erstere schlössen sich nach außen hin ab und gingen in die Tiefe, wohingegen die zweite Gruppe in sehr unterschiedlichen Gebieten unterwegs sei.6 Ich selbst zähle mich zu den Füchsen, denn ich gehe eher in die Breite als in die Tiefe, manchmal verzettele ich mich dabei auch. Beim Reisen spielt auch eine Rolle, dass man aus dem direkten Umfeld, aus den Diskussionen mit anderen viel aufnimmt, nicht nur aus Lektüren lernt. Reisen ist überlebenswichtig, damit man sich nicht verbiegen, der dominanten Kultur anpassen muss. Den HistorikerInnen mag es als Übung für das Reisen durch die Zeit dienen. Ich glaube, ich bin keine ,echte Italienerin‘, man gewöhnt sich an die Rolle der Außenseiterin. Mir wird in Italien zu verstehen gegeben, dass in den USA einiges anders sei, dass ich nicht mehr richtig dazugehöre. Ich bin immer wieder gebeten worden, über die Situation der amerikanischen Historikerinnen zu berichten. Ich muss auch gestehen, dass ich der Gründung der Vereinigung der italienischen Historikerinnen (Societ/ delle storiche italiane) zunächst eher skeptisch gegenüber stand und mich nicht wirklich als Teil dieses Unterfangens sah. Die Zusammenarbeit mit anderen Frauen und auch mit italienischen Historikerinnen ist für mich jedoch stets wichtig gewesen, zum Beispiel die mit Anna RossiDoria oder Gabriella Zarri, um nur zwei von vielen zu nennen.7
5 Gianna Pomata, Partikulargeschichte und Universalgeschichte, in: L’Homme. Z. F. G., 2, 1 (1991), 5–44; dies., „Close ups“ and „long shots“. Combining Particular and General in Writing the Histories of Women and Men, in: Hans Medick u. Anne-Charlott Trepp (Hg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte, Göttingen 1998, 101–124. 6 Isaiah Berlin, The Hedgehog and the Fox: An Essay on Tolstoy’s View of History, London 1953. 7 Gianna Pomata u. Gabriella Zarri (Hg.), I monasteri femminili come centri di cultura fra Rinascimento e Barocco, Roma 2005.
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Welche Rolle spielt Sprache bei Deiner Arbeit als Historikerin? Ein großer Teil meines Lebens spielt sich nun auf Englisch ab. Wenn man sich für ein Leben im Ausland entscheidet, muss man sich mit der Sprache auseinandersetzen, entweder man ertrinkt dann oder man lernt zu schwimmen. Ich habe einen Amerikaner geheiratet, meine Kinder sind AmerikanerInnen, mein Alltagsleben hat sich von da an auf Englisch abgespielt, alles Private wurde auf Englisch verhandelt. Inzwischen finde ich es leichter, auf Englisch zu schreiben. Das hängt auch damit zusammen, dass Wissenschaftsgeschichte sich nicht in Italien abspielt. Das Englische ist da zu einer Lingua franca geworden. Vieles, was ich geschrieben habe, existiert nur auf Englisch. Dazu kommt für mich persönlich, dass einige englische Schriftstellerinnen für meine Beziehung zur Sprache wichtig waren und sind, mehr als italienische Schriftstellerinnen, die es natürlich auch gegeben hat. Jane Austen ist sozusagen meine Cousine. Mein Mann – ein amerikanischer Soziologe – sagt mir, ich würde ein etwas manieriertes Englisch schreiben. Er hingegen hat nie gut Italienisch gelernt, das mag aber auch daran liegen, dass er anders kommuniziert, nicht nur verbal. Für mich ist Sprache sehr bedeutend und mir ist wichtig, dass ich in meine Texte auch andere Stimmen aufnehme, Stimmen der Vergangenheit. Gibt es für Dich auch so etwas wie unübersetzbare Kategorien? Nicht alle Begriffe reisen ohne Schwierigkeiten, so hat es auch der Begriff Gender schwer. Problematisch erscheint mir, wenn gewisse Kategorien den Blick auf lokale Differenzen verstellen. So etwa, wenn das Englische zur hegemonialen Sprache wird und die „political correctness“ Interpretationen vorgibt. So habe ich – trotz meines grundsätzlich sehr positiven Verhältnisses zur englischen Sprache – mit der Trias class, race, gender Schwierigkeiten, denn sie kann dazu führen, dass sich einzelne Geschichten nicht in diese Kategorien einfügen und damit aus dem Gedächtnis gelöscht werden. Übersetzen bedeutet für mich, Geschichte zu schreiben, ohne andere Stimmen zu übertönen oder gar zu unterdrücken. Die amerikanische Frauengeschichte unterliegt gelegentlich dieser Versuchung, etwa dann, wenn sie die „querelle des femmes“ protofeminism nennt, dabei geht viel verloren. Die politische Agenda darf nicht zu weit gehen, Quellen müssen aufgespürt und übersetzt werden, sodass sie Sinn ergeben, aber gleichzeitig muss man ihnen gegenüber Respekt beweisen. Die Arbeit einer Historikerin besteht in erster Linie in Übersetzungsarbeit.
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Welche Rolle spielt in diesem Kontext die Lehre? In den 1990er-Jahren habe ich in Bologna von der Zeithistorikerin Anna RossiDoria einen Kurs zur Frauengeschichte übernommen. Ich konnte dort Frauengeschichte in der longue dur8e unterrichten – von den Frauen im mittelalterlichen Florenz, die Christiane Klapisch-Zuber erforscht hat, bis zu den Feministinnen und den Menschenrechtsbewegungen im 20. Jahrhundert. Später habe ich dann in Minneapolis europäische Frauengeschichte unterrichtet, jetzt bin ich für Medizingeschichte zuständig, aber auch an der Johns Hopkins University kann man über Frauen als Patientinnen und als Heilerinnen sprechen. Inzwischen gibt es umfangreiches Quellenmaterial in Übersetzung.8 In der Lehre erlaubt die Frauengeschichte immer, einen Blick auf das Verborgene zu werfen, das zu entdecken, was sich hinter den Dingen versteckt, was Spuren hinterlassen hat, aber erst bemerkt werden muss. Die im Unterricht notwendige longue dur8e kommt mir sehr entgegen, sie hat mir auch erlaubt, neue Forschungsthemen aufzuspüren. So ist etwa meine Studie über die Historikerin und Autorin Iris Origo9 aus einem Kurs über Historikerinnen innerhalb und außerhalb akademischer Institutionen entstanden. An Origo lässt sich zeigen, wie verheerend sich das kleinliche Verhalten von männlichen Kollegen auf die Rezeption und das Schaffen von Historikerinnen ausgewirkt hat. Gerne würde ich eines Tages ein ganzes Buch über Historikerinnen, die sich außerhalb von akademischen Institutionen bewegt haben, schreiben – und dazu meine Studien über Iris Origo, Helen Waddell und andere independent scholars verwenden.10 Wie verknüpfen sich diese Interessen mit Deinen jüngsten Projekten? Meine Aufmerksamkeit kreist immer wieder um das Thema individualisierten Wissens beziehungsweise um die Frage, wie wir überhaupt Individualität erkennen. Auch wenn Verallgemeinerungen unumgänglich sind, habe ich mich immer für Individualisierungsprozesse interessiert und für das Wissen von und über Individuen. Es ist meiner Meinung nach ein zutiefst feministisches Projekt, über das Individuelle zu schreiben, viel eher als über Differenz nachzudenken. Im Italien der 1970er-Jahre wurde viel Luce Irigaray gelesen, aber damit konnte ich nie etwas anfangen. Ebenso wenig habe ich mir psychoanalytische Ansätze zu eigen gemacht. Mein Interesse für das Individuelle war grundlegend auch für meine Arbeit zum Band über die epistemische Gattung der „historia“. Das 8 U. a. auch von Gianna Pomata selbst: Oliva Sabuco de Nantes Barrera, The True Medicine, hg. u. übersetzt von Gianna Pomata, Toronto 2010. 9 Gianna Pomata, Dalla biografia alla storia e ritorno: Iris Origo tra Bloomsbury e Toscana, in: Genesis. Rivista della Societ/ Italiana delle Storiche, 6, 1 (2008), 117–157. 10 Vgl. Pomata, Amateurs by Choice, wie Anm. 2.
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Buchprojekt mit Nancy Siraisi ist übrigens auf Anregung von Lorraine Daston entstanden, die uns in der Küche, als sie gerade beim Pancake-Backen war, den Vorschlag gemacht hat, gemeinsam eine Tagung am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte zu organisieren.11 In meinem aktuellen Buchprojekt verfolge ich die Entwicklung der Gattung medizinischer Fallsammlungen.12 Mich interessiert der medizinische Fall als epistemische Gattung, nicht nur als narratives Element. Auch hier finde ich wieder viel Individuelles, auf Seiten der Ärzte lässt sich eine große Neugierde beobachten, sie suchten nach durchaus individuellen Therapien, auch wenn die Krankheit die gleiche war. So gab es große Unterschiede in der Behandlung von Frauen und Männern. Geschlecht ist auch hier eine wichtige Analysekategorie. Ich hoffe, ein Buch schreiben zu können, das zeigt, welche entscheidende Funktion im Laufe der Geschichte dem Wissen zukam, das auf Einzelfällen basiert. Die Fähigkeit zu individualisieren scheint mir ebenso wichtig wie die Fähigkeit zu generalisieren. Medizingeschichte ist für mich nicht nur die Geschichte einer Disziplin, ich verstehe sie als Teil der Allgemeinen Geschichte. Um sie als solche zu betreiben, sind Kenntnisse in Frauen- und Geschlechtergeschichte grundlegend.
11 Gianna Pomata u. Nancy G. Siraisi, Historia: Empiricism and Erudition in Early Modern Europe, Cambridge, MA 2005. 12 Vgl. hierzu bereits Gianna Pomata, Sharing Cases: the Observationes in Early Modern Medicine, in: Early Science and Medicine, 15, 3 (2010), 193–236; dies., Fälle mitteilen. Die Observationes in der Medizin der Frühen Neuzeit, in: Yvonne Wübben u. Carsten Zelle (Hg.), Krankheit schreiben. Aufzeichnungsverfahren in Medizin und Literatur, Göttingen 2013, 20–63; dies., The Medical Case Narrative. Distant Reading of an Epistemic Genre, in: Literature and Medicine, 32, 1 (2014), 1–23.
Hans Medick im Gespräch mit Edith Saurer (1996)*
Von den Rändern der Geschichte her**
Hans Medick gilt als einer der bekanntesten Protagonisten der Alltags- und Mikrogeschichte und der Historischen Anthropologie im deutschsprachigen Raum, deren methodisch-theoretische Prämissen er bis heute prägt. Er wirkte lange am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen und war zunächst Dozent, dann von 1997 bis 1999 außerplanmäßiger Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Göttingen sowie von 1999 bis zu seiner Emeritierung 2004 Professor für Neuere Geschichte und Historische Anthropologie an der Universität Erfurt. Daneben und bis 2011 hatte er zahlreiche Lehraufträge, Gastdozenturen und Gastprofessuren an deutschen und ausländischen Universitäten und wissenschaftlichen Institutionen in- und außerhalb Europas inne. Von 1993 bis 2008 war er Herausgeber der von ihm mitbegründeten Zeitschrift „Historische Anthropologie. Kultur – Gesellschaft – Alltag“ und von 2004 bis 2012 Mitglied und Bereichsleiter der an der Freien Universität Berlin angesiedelten DFG-Forschergruppe „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“. Während der Zeit am Max-Planck-Institut für Geschichte, in die das von Edith Saurer mit ihm geführte Interview fällt, baute Hans Medick mehrere Arbeitsgruppen mit auf: vor allem zur „Proto-Industrialisierung“, zum „Strukturwandel der Familie im Europäischen Vergleich“ und zu „History and Anthropology“. In seinen Forschungen beschäftigt er sich mit der Geschichte der po* Edith Saurer (1942–2011) gilt als Doyenne der Frauen- und Geschlechtergeschichte in Österreich. Sie hat die Zeitschrift „L’Homme. Z. F. G.“ 1990 initiiert und als Herausgeberin über viele Jahre maßgeblich geprägt. Seit 1992 war sie Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Wien, wo heute noch bestehende Schwerpunkte auf ihr Engagement zurückgehen. Ihre Forschungsfelder waren v. a. Sozialgeschichte, Historische Anthropologie inklusive der Geschichte materieller Kultur sowie Frauen- und Geschlechtergeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts. ** Zuerst veröffentlicht in L’Homme. Z. F. G., 7, 2 (1996): Gewalt, hg. von Andrea Griesebner u. Claudia Ulbrich, 70–86. Erscheint hier mit erweiterter und aktualisierter Einleitung, in einer gekürzten Version sowie mit manchen Konkretisierungen und geringfügiger sprachlicher Bearbeitung.
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litischen und sozialen Ideen und Theorien einerseits und den Vielschichtigkeiten frühneuzeitlicher kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Prozesse sowie den Konzepten und Wahrnehmungen von Person und Selbst in ihren kulturellen Ausdrucksformen und Praktiken andererseits, wozu er zahlreiche Publikationen erarbeitet hat. In den letzten beiden Jahrzehnten war seine Tätigkeit vor allem der Erforschung der Erfahrungen und Wahrnehmungen von Gewalt im Dreißigjährigen Krieg gewidmet. 2018 legte er hierzu eine Gesamtdarstellung vor, in der geschlechtergeschichtliche Dimensionen und die Auswirkungen des Kriegsalltags auf Haushalt und Familie eine zentrale Rolle spielen.1 Auch diese Arbeiten sind als Teil einer weiterreichenden inhaltlichen und methodischen Perspektive angelegt, die sich einer „Mikrogeschichte in der Erweiterung“ verpflichtet sieht und die es nicht zuletzt für notwendig erachtet, den globalgeschichtlichen turn der Geschichtsschreibung auf seine Grundlagen in der Vielfalt lokaler historischer Prozesse und menschlicher Handlungsweisen zu beziehen.2 Das folgende Gespräch zwischen Hans Medick und Edith Saurer thematisiert ausführlich seine damals gerade erst veröffentlichte und seitdem viel rezipierte Monografie „Weben und Überleben in Laichingen“, die in vieler Hinsicht als sein Hauptwerk anzusehen ist.3 In den Blick kommen dabei auch die geschlechtergeschichtlichen Aspekte dieses Buches sowie Ansätze der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Edith Saurer: In den letzten zwei Tagen haben wir beide, hier in Göttingen, an einer Tagung über „Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen, Perspektiven“ teilgenommen.4 Diese Tagung hast Du gemeinsam mit Anne-Charlott Trepp offensichtlich in Hinblick auf die Tatsache veranstaltet, 1 Hans Medick, Der Dreißigjährige Krieg. Zeugnisse vom Leben mit Gewalt, Göttingen 32019 (Orig. 2018); Hans Medick u. Benjamin Marschke, Experiencing the Thirty Years War. A Brief History with Documents, Boston 2013; Mitteldeutsche Selbstzeugnisse der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, hg. von Hans Medick u. Norbert Winnige, in Zusammenarbeit mit Andreas Bähr, Holger Berg, Thomas Rokahr, Bernd Warlich, Erstpublikation 2008, updates 2010: www.mdsz.thulb.uni-jena.de; Benigna von Krusenstjern u. Hans Medick (Hg.), Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe, Göttingen 1999. 2 Hans Medick, Turning Global? Microhistory in Extension, in: Historische Anthropologie, 24, 2 (2016), 241–252. 3 Hans Medick, Weben und Überleben in Laichingen 1650–1900. Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte, Göttingen 1996. Die auf diese Studie bezogenen Gesprächsteile wurden in der folgenden Fassung alle beibehalten, während die Teile zu anderen bis 1996 veröffentlichten Werken von Hans Medick und Passagen über sein Konzept der Historischen Anthropologie oder sein Verhältnis zur Ethnologie aus Platzgründen nicht übernommen werden konnten. 4 Fünftes der „Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft“: Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven. Göttingen, 26. und 27. Juli 1996. Vgl. dazu die spätere Publikation: Hans Medick u. Anne-Charlott Trepp (Hg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven, Göttingen 1998.
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dass die Frauen- und die Geschlechtergeschichte sich nach wie vor in einer Randposition befinden. Beide haben im akademischen Feld noch immer eine marginalisierte Position inne und werden als eine Besonderheit neben der Allgemeinen Geschichte gesehen. Zum Zeitpunkt der Tagung ist auch Dein Buch „Weben und Überleben in Laichingen 1650–1900“ erschienen, welchem Du den Untertitel „Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte“ gegeben hast. Könntest Du darauf eingehen, wie für Dich diese Beziehung von Partikulargeschichte zu Allgemeiner Geschichte aussieht und welche Zusammenhänge Du zwischen Geschlechtergeschichte und Allgemeiner Geschichte siehst? Hans Medick: Du bist von einer Parallele zwischen den Absichten meines Buches und denen der Geschlechtergeschichte ausgegangen, in Hinblick auf den Versuch, Fragestellungen der Allgemeinen Geschichte kritisch zu beleuchten und die Art und Weise, Allgemeine Geschichte zu betreiben, zu verändern. Man sollte die Parallele allerdings nicht überstrapazieren, denn bei der Geschlechtergeschichte handelt es sich um einen breit entfalteten interdisziplinären Diskurs, der in verschiedenen Ländern eine Vielzahl von kritischen Neuanstößen hervorgebracht hat. Eine Parallele zum Unternehmen meiner kleinen, eher bescheidenen Geschichtswerkstatt sehe ich insofern, als auch ich versuche, von einer Partikulargeschichte her, der Partikulargeschichte eines Ortes auf der Württembergischen Schwäbischen Alb im begrenzten Zeitraum vom 17. Jahrhundert bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, Interpretationen und Problematisierungen der Allgemeinen Geschichte aus meinem spezifischen Blickwinkel heraus kritisch zu hinterfragen. Ich verstehe mich als einen Historiker, der vom Rande der Geschichte ausgeht und arbeitet, und zwar im doppelten Sinne, vom Rande der Zunft, aber auch von den Rändern der Geschichte her. Es geht mir um ein Beispiel dessen, was ich als ,entlegene Geschichte‘ bezeichne: einen – im Wortsinne – entlegenen Ort, auf der Hochfläche der Schwäbischen Alb, fern von Metropolen und Ereignisorten, die allzu oft als Zentrum des historischen Geschehens betrachtet werden. Mir geht es also darum, eine dezentrierende Kritik an den Interpretationen und Denkannahmen der Allgemeinen Geschichtsschreibung, besonders zur Frühen Neuzeit, zu üben. Hierbei verstehe ich mich als Mikrohistoriker, das heißt als ein Historiker, der durch besonders genaues Hinsehen und Kontextualisierung, aber auch durch ein umfassendes namentliches Konstituieren seiner Quellenbasis einen schärferen Blick gewinnt und damit auch neue Interpretationen entwickeln kann. Lokalgeschichte ist in dieser Hinsicht mit einer mikrohistorischen Perspektive gleichzusetzen, von der ich meinen Blick auf die ,großen‘ Zusammenhänge der Allgemeinen Geschichte richte, als da sind: der Prozess der Industrialisierung, der seit dem 19. Jahrhundert als durchgreifender, welterschütternder Prozess angesehen wird; sowie der Prozess der Staatsbildung
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in der Frühen Neuzeit, der ebenfalls sehr häufig aus einer zentrierenden Perspektive wahrgenommen wird, als ob es die Staaten selbst sind, die gehandelt hätten, vor allem in Form ihrer bürokratischen Instanzen. Hier habe ich eine neue Perspektive riskiert und bin zu hoffentlich herausfordernden Befunden gekommen. Ich versuchte, gegen die herrschenden Paradigmen der Historiografie zum Staatsbildungsprozess und insbesondere auch zur Durchsetzungskraft merkantilistischer Vorstellungen der Reformbürokratie im 17. und 18. Jahrhundert zu zeigen, wie im realen Spannungsfeld der Akteure und Akteurinnen diese staatlichen Maximen vor Ort nicht zur Wirkung kamen, sondern im Gegenteil konterkariert wurden. Mein Buch könnte in dieser Hinsicht als Geschichte eines ökonomisch-politischen Dramas mit höchst ungleichen Akteuren und Akteurinnen gelesen werden. Es geht um die Auseinandersetzung des kleinen Ortes Laichingen auf der Schwäbischen Alb mit den Instanzen des großen Handelskapitals, aber auch des württembergischen Staates, die ihre Vorstellungen am Ort und darüber hinaus durchzusetzen versuchten. Hierbei handelt es sich um einen Konflikt, der vor Ort von den Bewohnerinnen und Bewohnern höchst widerständig und eigensinnig ausgefochten wurde. Er endete im Ausklang des 18. Jahrhunderts mit dem Ergebnis, dass dieser kleine Ort sich mit seinen für die Weberzunft zentralen Vorstellungen des „Freihandels“ gegen die Vorstellungen der herrschenden Bürokratie, aber auch der mächtigen handelskapitalistischen Unternehmer in der benachbarten Stadt Urach durchsetzte. Somit wurde Laichingen zu einer wichtigen ökonomischen Potenz im Land Württemberg. Ich versuchte diese Geschichte aber nicht als eine Geschichte abstrakter Größen zu schreiben, sondern als eine Geschichte einzelner Menschen, von Akteurinnen und Akteuren. Hier fallen doch einige Parallelen zur Frauen- und auch zur Geschlechtergeschichte auf, die ebenfalls auf dem Interesse am Konkreten und auch auf dem Interesse am Partikularen insistieren und einer mikroskopischen Betrachtung der Geschichte beziehungsweise einer Perspektive bedürfen, die sich von den traditionellen Zentren verabschiedet. Sonst würde das Leben von Frauen, würden die Geschlechterbeziehungen gar nicht wahrgenommen werden. Doch zurück zu Deinem Buch: Mir ist aufgefallen, dass Du darin Zusammenhänge mit einem Feld siehst, das von der deutschen Sozialgeschichte meistens übergangen wurde, nämlich Religion. Das fand ich sehr interessant und möchte Dich fragen, wie Du auf Religion und Frömmigkeit als Thema gestoßen bist und ob dieser Bereich für das Erkennen neuer Zusammenhänge für Dich von Bedeutung war? Das Interesse an der Frömmigkeitsgeschichte stand für mich nicht am Anfang meiner Untersuchungen. Zusammen mit meinen Kollegen Jürgen Schlumbohm
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und Peter Kriedte verfasste ich eine auch modelltheoretische Studie zur sogenannten Protoindustrialisierung, über die wir 1977 ein in mehrere Sprachen übersetztes Buch veröffentlicht haben.5 In diesem Buch wählten wir eine sozialund demografiegeschichtliche Perspektive auf ökonomische Zusammenhänge. Wir interessierten uns für die Ausbreitung der Hausindustrie innerhalb des Verlags- oder Kaufsystems in Europa und interpretierten diesen Prozess als „Industrialisierung vor der Industrialisierung“, da er in seinen wichtigsten Momenten bereits vor der industriellen Revolution abgelaufen ist und damit Grundlagen für die industrielle Revolution geschaffen hat, ohne freilich in der Schaffung dieser Grundlagen aufzugehen. Es handelt sich um einen Prozess, der lokal und regional in wie außerhalb von Europa in höchst unterschiedlicher Weise ablief, der aber für die frühneuzeitliche Übergangsphase vom 16. bis zum Ende des 18. oder gar bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts charakteristisch war. Auf die Wichtigkeit von Religion für die Zusammenhänge, die mich als Protoindustrialisierungsforscher interessierten, bin ich erst durch die intensive Religiosität der Laichinger und Laichingerinnen gestoßen, die ich bei meinen Besuchen selbst kennenlernte und die mich damals zunächst befremdete. In Laichingen ist bis in die Gegenwart eine intensive Form protestantisch-pietistischer Religiosität von zentraler Bedeutung. Diese manifestiert sich nicht nur im sonntäglichen Gottesdienst, sondern auch im Alltag. Im Verlauf meines Forschens, aber auch der Bekanntschaft mit den Menschen in diesem Ort habe ich diese Religiosität ernst zu nehmen gelernt. Sie ist zu einer wichtigen Untersuchungsperspektive geworden. Ich bin natürlich nicht nur Feldforscher vor Ort gewesen, ich war und bin auch Leser, auch der großen Theorien der soziologischen, politökonomischen Klassiker von Karl Marx bis zu Max Weber. In Max Webers Aufsätzen zu den Zusammenhängen von protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus dachte ich, eine Interpretationshilfe oder vielleicht gar Inspiration finden zu können. Ich begann also, in Laichingen nach den Zusammenhängen von protoindustriellem Kapitalismus und protestantischer Ethik zu suchen. Eines der paradoxen Ergebnisse meiner jahrelangen Arbeit an den Laichinger Texten und meiner Auseinandersetzung mit der Laichinger Geschichte könnte ich dahingehend zusammenfassen, dass ich am Ende meiner Untersuchung eine protestantische Ethik ohne kapitalistischen Geist fand. Ich entdeckte eine Form religiöser Mentalität, die von enormem Einfluss auf die Arbeitsethik und die 5 Vgl. Peter Kriedte, Hans Medick u. Jürgen Schlumbohm, Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1977; fremdsprachige Ausgaben zum Zeitpunkt des Gesprächs: dies., lndustrialization before lndustrialization. Rural lndustry in the Genesis of Capitalism, Cambridge u. a. 1981; dies., L’lndustrializzazione prima dell’industrializzazione, Bologna 1984; dies., lndustrializacion antes de la industrializaci6n, Barcelona 1986.
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Überlebenskultur dieser Menschen gewesen ist und die sich seit dem späten 17. Jahrhundert und vor allem im 18. und frühen 19. Jahrhundert zunehmend in den Lebenszusammenhängen dieser Menschen, bei Männern wie bei Frauen, bemerkbar machte. Diese Mentalität prägte Arbeitsverhalten und Lebensanschauungen, allerdings ohne die Konsequenzen, die Max Weber in seinen klassischen Studien postuliert beziehungsweise gesehen hat. Insofern könnte ich eines der Ergebnisse meines Buches so zusammenfassen: Mithilfe der präzisen Beobachtungen, die ich als Historiker vor Ort in Laichingen gewonnen habe, wurde es mir möglich, die ,große‘ Interpretation eines Sozialwissenschaftlers zwar durchaus als Anregungspotenzial zu nutzen, sie aber zugleich auch in Frage zu stellen. Ich habe das in meinem Buch auch als Kritik formuliert, als eine Kritik an herkömmlichen Interpretationsmustern der Geschichtsschreibung, vor allem denjenigen der historischen Sozialwissenschaft, die Max Webers theoretische Schriften in einer überidentifizierenden Weise heranzogen. Ich habe dieses Verfahren mit dem schönen Bild von Robert Merton6 als eine Praxis kritisiert, mit der sich die Zwerge gleichsam auf die Schultern von Riesen stellen und hierbei einer optischen Täuschung anheimfallen, indem sie, eben auf den Schultern der Riesen stehend, gleichsam zu der Auffassung kommen, weiter als die Riesen selbst zu sehen. Eine solche Sichtweise versuche ich jedenfalls in dem, was ich als Historiker tue und schreibe, bewusst zu vermeiden. Ich nehme zwar die Theorieentwürfe der Riesen durchaus zur Kenntnis, bemühe mich dann aber gezielt, von ihren Schultern herabzusteigen und mich, wenn ich so sagen darf, mit den Zwergen und Zwerginnen gemein zu machen, um aus ihrem Blickwinkel dann gleichsam argumentierend mit den Riesen wieder ins Gespräch zu kommen. Würdest Du die geschilderte Perspektive als eine Geschichte ,von unten‘ bezeichnen, mit der Du Dich ja auch theoretisch auseinandergesetzt hast, beziehungsweise als eine Geschichte, in der Männer und Frauen Spielräume und Möglichkeiten haben und in Anspruch nehmen – im Unterschied zu einer Strukturgeschichte, die eben Männer und Frauen in ihren Handlungsweisen allein als das Ergebnis von Strukturen sieht? Wenn ich auf Deine Auseinandersetzung mit verschiedenen Bereichen der Geschichtswissenschaft zurückblicke und dabei vor allem auch an die Alltagsgeschichte denke, wo ja auch schon eingefordert wurde, den Blick auf Erfahrungen und Wahrnehmungen von Menschen zu richten: Würdest Du sagen, dass das, was Du in Deinem Buch vorgestellt hast, als Ergebnis Deiner sehr langen Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichtswissenschaft zu sehen ist? Welche Einflüsse sind da für Dich wichtig gewesen? Ich 6 Vgl. Robert Merton, Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit, Frankfurt a. M. 1980 (Orig. 1965).
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denke auch an die Einflüsse aus England, vor allem an E. P. Thompson, dessen Arbeiten auch für die Frauen- und für die Geschlechtergeschichte von Bedeutung waren, sowohl im deutschsprachigen Raum als auch in Italien etc. Gibt es demnach Berührungspunkte in der historiografiegeschichtlichen Entwicklung zwischen der Alltagsgeschichte, dem Einfluss der englischen Sozialgeschichtsschreibung und der Frauen- und Geschlechtergeschichte? Du hast hier einen sehr wichtigen Ansatzpunkt meiner Arbeit angesprochen. Ich muss teilweise biografisch werden, um dies verständlich zu machen. Ich will an das vorhin skizzierte Bild des Herabsteigens von den Schultern der Riesen anknüpfen. Dieses Bild verdanke ich – und das fällt mir in diesem Moment ein – im tieferen Sinn eigentlich nicht Robert Merton, der die Formulierung geprägt hat, sondern E. P. Thompson, der am Ende seiner Einleitung zu „The Making of the English Working Class“ auf den armen Strumpfweber, den obsoleten Hausweber und die verblendeten Anhängerinnen und Anhänger von Joanna Southcott, einer englischen Prophetin vom Ende des 18. Jahrhunderts, zu sprechen kommt, die er alle „vor der ungeheuren Arroganz der Nachwelt zu retten“ versucht.7 Thompson nimmt hier einen ähnlichen ,Abstieg‘ vor und zeigt diesen in seinem Buch als produktiv auf. Er verabschiedet sich von der großen Theorie, aber auch von der bisherigen ,klassischen‘ Arbeitergeschichte und wählt einen Blick auf die Geschichte aus der Perspektive der Joanna Southcott, aber auch aus der Perspektive der vielen anderen Frauen und Männer, die sein „Making of the English Working Class“ bevölkern. Dies ist im tieferen Sinne eine große Anregung für mich gewesen. Ich verdanke sie meiner frühen Begegnung mit der englischen Geschichtswissenschaft, die im Grunde aus einer Frustration heraus geschah: Weil ich in den Arbeiten deutscher Historiker wenig Interessantes und Herausforderndes fand, wählte ich ein Dissertationsthema aus der englischen Geschichte8 und suchte die Begegnung mit englischen Historikern. Ich kam auch mit einer Vielzahl von ihnen in persönliche Berührung, so traf ich E. P. Thompson zum ersten Mal in den späten 1960er-Jahren im Reading Room des British Museum in London und verabredete mich zwanglos mit ihm zum Drink und Gespräch in der damals äußerst atmosphärereichen British Museum Tavern auf der anderen Seite der Straße. Es entstand zwar keine Freundschaft, aber doch ein Austausch, ein sehr lebendiger Austausch, der sich über eine ganze Reihe von Jahren erstreckte. Bei Thompson lernte ich Geschichte ,von unten‘ und Erfah7 Edward P. Thompson, The Making of the English Working Class, Harmondsworth 1968 (Orig. 1963), 13 (dt.: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1987, Bd. 1, 11). 8 Vgl. Hans Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith, Göttingen 1973, 21981.
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rungsgeschichte sowohl als Form der Geschichtsschreibung wie auch als eine arbeitsbezogene Form der Theoretisierung kennen, und zwar eine auf praktisches Arbeiten und Wirken bezogene Form der Theoretisierung.9 Der Einfluss von Thompson war nur eine der Anregungen, die ich in England erfahren habe. Begegnungen mit Eric Hobsbawm in seinem kleinen Arbeitszimmer im Birkbeck College zählten ebenso dazu wie jene mit Rodney Hilton. Eine ebenso wichtige andere Anregung erfuhr ich durch Peter Laslett, den Mitdirektor der Cambridge Group for the Study of the History of Population and Social Structure, den ich ebenfalls in der gleichen Zeit, in den späten 1960erJahren, aufsuchte. Ich lernte Peter Laslett zunächst nicht als Sozial- oder Alltagshistoriker kennen, sondern als einen Historiker, der sich für die Geschichte der politischen und sozialen Theorien interessierte, also dem Gegenstand meiner in Entstehung begriffenen Dissertation. Er setzte sich in seinem damals gerade erschienenen Buch „The World We Have Lost“10 aus einer struktur- und sozialgeschichtlichen Perspektive mit der englischen Vergangenheit auseinander, wie ich sie in Deutschland zu dieser Zeit (noch) nicht verwirklicht fand. In meiner Begegnung mit den englischen nonkonformistisch-marxistischen Sozialhistorikern auf der einen Seite – ich denke hier vor allem an E. P. Thompson, Eric Hobsbawm, Rodney Hilton, Christopher Hili und andere – und mit der Cambridge Group, vor allem mit Peter Laslett, auf der anderen Seite fand ich allerdings Erfahrungsgeschichte und soziale Strukturgeschichte unverbunden nebeneinander. Ja, die Historiker von der Cambridge Group und die anglomarxistischen Historiker befanden sich zum Teil miteinander im Konflikt. Ich fand mich in gewisser Weise zwischen den Fronten und konnte daher versuchen, die Einsichten beider Seiten in meiner eigenen Arbeit in einen Zusammenhang zu bringen. In meinem Aufsatz „Missionare im Ruderboot?“ habe ich dies theoretisch-methodologisch zu formulieren versucht in einem Satz, der meiner Meinung nach ein Schlüsselsatz beziehungsweise eine Schlüsselfrage ist: „Wie kann die Doppelkonstitution historischer Prozesse, die Gleichzeitigkeit von gegebenen und produzierten Verhältnissen, die komplexe wechselseitige Beziehung zwischen umfassenden Strukturen und der Praxis der ,Subjekte‘, zwischen Lebens-, Produktions- und Herrschaftsverhältnissen und den Erfah-
9 Vgl. Hans Medick, E. P. Thompson und sein „empirisches Idiom“. Bemerkungen zu Werk und Wirkung eines außergewöhnlichen Historikers, in: Josef Ehmer, Tamara Hareven u. Richard Wall, unter Mitarbeit von Markus Cerman u. Christa Hämmerle (Hg.), Historische Familienforschung. Ergebnisse und Kontroversen. Michael Mitterauer zum 70. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1997, 69–82. 10 Peter Laslett, The World We Have Lost, London 1965 (dt.: Verlorene Lebenswelten. Geschichte der vorindustriellen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1991).
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rungen und Verhaltensweisen der Betroffenen erfasst und dargestellt werden?“11 Mir fällt im Rückblick auf meine eigene Arbeit ein, dass ich im Grunde mein ganzes Bemühen als Sozialhistoriker, aber auch als historischer Anthropologe beziehungsweise als ein Historiker, der sich zunehmend im Spannungsfeld zwischen Geschichte und Anthropologie bewegt hat, auf die in dieser Frage implizierten Herausforderungen zurückführen könnte. Du hast auch nach Deinem ersten Buch, der schon erwähnten veröffentlichten Dissertation, die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft nicht verlassen. 1986 hast Du eine Übersetzung und Edition von Adam Fergusons „Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft“ (1767) herausgebracht.12 So hast Du sozusagen zwei parallele lnteressensfelder. Siehst Du eine Möglichkeit der Verbindung von Sozialgeschichte oder Historischer Anthropologie mit politischer Ideengeschichte? Ich frage das auch deshalb, weil in der gegenwärtigen Diskussion die Rolle des Diskurses stark betont wird und die Bedeutung des Textes im Vordergrund steht und es im Grunde genommen ja auch wünschenswert wäre, einen Zusammenhang zu setzen zwischen Ideengeschichte und Sozialgeschichte, was sich in der Praxis allerdings als schwierig erweist. Vielleicht sollte ich zunächst sagen, dass ich als Historiker vor Ort und als Mikrohistoriker gelernt habe, sehr viel bescheidener zu werden. Freilich habe ich mein Interesse an der politischen Ideengeschichte nicht verloren, und Spuren dieses Interesses finden sich auch in meinem Buch über Laichingen, in dem ich in wichtigen Passagen und Unterkapitel auf die Wirkungen oder auch Nichtwirkungen der Impulse politischer Ideen, etwa der Vorstellungen der merkantilistischen Theoretiker in der zeitgenössischen Gesellschaft Württembergs eingehe. Für mich war es eine große Überraschung, ,meine‘ schottischen Philosophen des 18. Jahrhunderts auch im Zusammenhang dieser Arbeit wiederzufinden, und zwar in Gestalt eines Konkurrenten und Rivalen von Adam Smith, James Stewart. Er kam als politischer Flüchtling um die Mitte des 18. Jahrhunderts nach Württemberg und hat dort als merkantilistischer Theoretiker am Ort seiner Emigration eine ganze Generation württembergischer Beamter ausgebildet und inspiriert. Deren Impulse wurden wiederum sehr wichtig für den Weg der politischen Ökonomie Württembergs im 18. und 19. Jahrhundert, denn sie versuchten dem gesellschaftlichen Prozess die Form zu geben, die bis heute im 11 Hans Medick, „Missionare im Ruderboot“? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft, 19 (1984), 295–319, 294; überarbeitete Fassung in: Alf Lüdtke (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a. M./New York 1989, 48–84. 12 Vgl. Adam Ferguson, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Übersetzt von Hans Medick, eingeleitet von Zwi Batscha u. Hans Medick, Frankfurt a. M. 1986.
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Grunde eine Leitvorstellung württembergischen Selbstverständnisses ist. Es ist eine Vorstellung, welche die gesellschaftliche Entwicklung vor allem auf der Basis kleinen Landeigentums, von Hausbesitz und kleinen Vermögen als Grundlage des politischen wie ökonomischen Prozesses sieht. Und dieses Leitbild des grundbesitzenden Landbewohners, der zugleich Handwerker – oder später auch Facharbeiter – und Kleinbauer ist, hat das ökonomisch-politische Denken und Wirken der Eliten in Württemberg lange ganz entscheidend geprägt. Auch auf diese Zusammenhänge komme ich in meinem Buch zu sprechen, gewissermaßen als Flashlights, die die longue dur8e von Mentalitäten, Ideen, aber auch von Strukturen zeigen. Sie entstanden in der frühneuzeitlichen Übergangsphase im 17. und 18. Jahrhundert, haben aber bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts weitergewirkt. Die Auseinandersetzungen der Frühneuzeit-Historiker haben, wenn wir an Arbeiten wie die von Carlo Ginzburg oder Giovanni Levi denken, die Geschichtswissenschaft insgesamt, also auch die der Späten Neuzeit, sehr beeinflusst. Das betrifft einerseits die Mikrogeschichte, aber auch bestimmte Quellen, zum Beispiel die Gerichtsakten, und andererseits auch eine bestimmte Darstellungsweise. Wie siehst Du das für den deutschsprachigen Raum? Gibt es auch im deutschsprachigen Raum diese Herausforderungen der Historiker und Historikerinnen der Frühen Neuzeit an die der Späteren Neuzeit? Ich sehe hier bisher keine solchen Herausforderungen, wie wir sie in Italien, aber auch in Frankreich und England haben. Aber ich sehe unter einer ganzen Reihe von Perspektiven durchaus potenzielle Herausforderungen. Die deutsche Geschichte ist mindestens ebenso wie die italienische Geschichte in der Frühen Neuzeit eine Geschichte enormer lokaler und regionaler Vielfalt. Vorstellungen eines deutschen Sonderwegs in der Geschichte und deren Projizierung in die Frühe Neuzeit werden sich im ,Säurebad‘ – so würde ich sagen – einer kontextualisierenden mikroanalytischen Betrachtung frühneuzeitlicher historischer Prozesse bald als abstrakte, um nicht zu sagen fiktive Konstruktionen auflösen. Hier sehe ich eine sehr wichtige Form kritischer Infragestellung von Arbeiten zum 19. und 20. Jahrhundert aus einer frühneuzeitlichen Perspektive, ein Anregungs- und Kritikpotenzial, das mir noch keineswegs erschöpft scheint. Vielleicht beginnt es gegenwärtig erst an Relevanz zu gewinnen. Das hat sich etwa im vergangenen Jahr auf der Gießener Tagung zur Geschichte der Frühen Neuzeit gezeigt. Hier gab es einen erfreulich kontroversen und vielfältigen Diskussionszusammenhang, vor allem was die Resistenz einer Mehrheit der teilnehmenden Historiker gegen Neuansätze von Seiten der Frauen- und der Geschlechtergeschichte betraf. Eine Kollegin hat ihre Erfahrung der Gießener Tagung in dieser Hinsicht als Alptraum beschrieben, aber gleich-
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wohl als sehr wichtig erwähnt. Eine ganze Generation jüngerer Forscherinnen und Forscher aus Österreich, der Schweiz und der Bundesrepublik mischte sich jedenfalls aktiv in die Diskussionen dieser Tagung ein und forderte die Berücksichtigung neuer Themen. Es zeigte sich, dass das Forschungsfeld der Frühen Neuzeit derzeit in einem meiner Meinung nach sehr interessanten und möglicherweise weitreichenden Umbruch begriffen ist.
Ähnliches lässt sich ja auch für die Frauen- und für die Geschlechtergeschichte sagen, die ursprünglich sehr stark auf das 19. und 20. Jahrhundert konzentriert war. Du hast Dich in Deinen Arbeiten ja nicht expressis verbis mit Frauen- und Geschlechtergeschichte auseinandergesetzt. Ich denke aber doch, dass das ein kontinuierliches Interesse von Dir ist und möchte in diesem Zusammenhang an Deinen Aufsatz über „Protoindustrielle Familienwirtschaft“ erinnern.13 Darin bist Du auf eine Form des Zusammenlebens und -arbeitens von Männern und Frauen unter hausindustriellen Produktionsverhältnissen eingegangen, in denen unter dem Druck einer schwierigen Überlebenssituation die Arbeitsrollen von Männern und Frauen, was ihre geschlechtliche Ausprägung betraf, besonders eng verschränkt, aber zugleich auch sehr flexibel waren. Ich glaube hier zu sehen, wie in der Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte die einzelnen Figuren, die die Familie darstellen, nämlich Männer und Frauen, an Konturen gewonnen haben, wie Du als Familienhistoriker, der Du ja dann auch geworden bist, sozusagen dafür einen schärferen Blick bekommen hast. In der Tat machte ich in meinen Untersuchungen zur protoindustriellen Familienwirtschaft die Entdeckung einer sehr großen Vielgestaltigkeit dessen, was man als geschlechtliche Arbeitsteilung bezeichnen könnte. Die Rollen bei der Arbeit, auch in der Hausarbeit, und ganz konkret beim Kochen, bei der Versorgung der häuslichen Ökonomie, waren in diesem Feld – und das heißt bei den Unterschichten – in ganz anderer Weise und häufig sehr viel flexibler verteilt, als das im bürgerlichen Modell der Geschlechterrollenverteilung festgelegt war. Das war für mich eine faszinierende Entdeckung, in der ich sozusagen meine 68erErfahrungen gewissermaßen historisch aufgehoben fand. Denn diese flexiblere Verteilung der Geschlechterrollen, die Umverteilung und Umgewichtung dieser Rollen, die Hausarbeit für Männer, der Gang der Frauen in neue Arbeitszusammenhänge, die ich hier in der Geschichte praktiziert fand, war und ist für mich zugleich ein Gegenwartsproblem. Insofern fühlte ich mich von diesen 13 Vgl. Hans Medick, Zur strukturellen Funktion von Haushalt und Familie im Übergang von der traditionellen Agrargesellschaft zum industriellen Kapitalismus: die protoindustrielle Familienwirtschaft, in: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, 254–282.
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Beobachtungen eines Historikers in den späten 1970er-Jahren her den Anfängen der Frauen- und Geschlechtergeschichte nahe. Ich begleite sie seither mit Sympathie und Interesse, auch wenn ich mich selbst nicht als Geschlechterhistoriker bezeichnen kann und möchte. Ich hoffe aber doch, dass sich meinen Leserinnen und Lesern die geschlechtergeschichtliche Perspektive in meinem Buch erschließt, auch wenn sie sich nicht als roter Faden durch die gesamte Darstellung zieht, an entscheidenden Stellen aber eine zentrale Rolle spielt. Diese Orientierung auf die Geschlechterproblematik, etwa im demografiegeschichtlichen Teil,14 hat dazu geführt, von abstrakten Fragestellungen der Demografie wegzukommen, konkret nach der Arbeitsbelastung der Frauen im schwierigen Alltag des Überlebens auf der Schwäbischen Alb zu fragen und die erschreckenden demografischen Befunde, die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit im 18. und 19. Jahrhundert, aus dieser Perspektive in den Blick zu nehmen. Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass die hohe Arbeitsbelastung der Ehefrauen ausschlaggebend für die Höhe der Säuglings- und Kindersterblichkeit war. Aber auch in anderen Zusammenhängen habe ich versucht, nach Unterschieden in den Verhaltensweisen und Wahrnehmungsweisen der Geschlechter zu fragen. Ich möchte nur auf mein Kapitel über die „Kultur des Ansehens“ verweisen, wo ich die unterschiedlichen Verhaltensweisen von Frauen und Männern in Bezug auf ihre Bekleidung oder in Bezug auf ihre Präferenz für bestimmte Farben zu einem Leitfaden meiner Untersuchung machte.15 Diese Perspektive ist auch im vielleicht wichtigsten Kapitel meines Buches, „Erbauliche Lektüre und lutherischer Pietismus“,16 von großer Wichtigkeit, wo ich ebenfalls soweit als möglich die Unterschiede in der religiösen Lektüre, aber auch in der religiösen Sensibilität von Männern und Frauen zum Gegenstand der Untersuchung machte – mit einem überraschenden Ergebnis zum württembergischen Gesangbuchstreik Ende des 18. Jahrhunderts,17 in dem es um die Abschaffung des pietistischen Gesangbuches ging. Dieses alte Gesangbuch sollte durch ein neues ersetzt werden, welches dem Geist der Aufklärung entstammte. Das lehnte die Laichinger Bevölkerung, Männer wie Frauen, auf sehr drastische Weise ab. Sie erschienen häufig nicht zur Kirche und verweigerten während zweier Jahre sogar den Kirchengesang. Es gab lautstarke Auftritte während des sonntäglichen Gottesdienstes. Nach den Berichten des Pfarrers schien nach zwei Jahren alles gelöst und vorbei zu sein. Meine Untersuchung der eher stummen Verhaltensweisen bei Männern und Frauen, die ich auf der Basis ihrer Bücherinventare machen konnte, brachte freilich ein überraschendes Ergebnis ge14 15 16 17
Vgl. Medick, Weben und Überleben, wie Anm. 3, Kap. 4, 295–377. Vgl. Medick, Weben und Überleben, wie Anm. 3, Kap. 5, 379–397. Vgl. Medick, Weben und Überleben, wie Anm. 3, Kap. 6, 447–560. Vgl. Medick, Weben und Überleben, wie Anm. 3, 494–498.
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schlechtlich differenzierter Verhaltensweisen zutage: Männer schienen nach dieser Zeit des offenen Protests das neu eingeführte Gesangbuch recht bald zu akzeptieren; Frauen hingegen weigerten sich auch noch viele Jahre nach dem offiziellen Ende des Gesangbuchstreiks und des Getöses in der Kirche, dieses neue Gesangbuch mit in die Ehe zu bringen. Sie weigerten sich also, es auch im Gottesdienst zu benutzen. Der „Text“ und das „Schreiben der Geschichte“ sind gegenwärtig verstärkt in Diskussion. Quantitative Methoden werden in den Hintergrund gedrängt, die Forschung konzentriert sich auf qualitative Methoden. Was mir an Deiner Arbeit so bemerkenswert scheint, ist, dass sie quantitative und qualitative Methoden miteinander verbindet. Du hast ganz Recht, dies ist ein Ziel meiner Untersuchung und meines Schreibens gewesen. Ich bin mir freilich selbst nicht ganz sicher, ob ich dieses Ziel in befriedigender Weise erreicht habe. Mein Buch ist ein komplexes Buch und sicherlich kein Produkt des narrative oder linguistic turn. Ich sehe die Kritikerinnen und Kritiker schon vor mir, die sagen könnten, dass ich zwar als Mikrohistoriker theoretisiere, am Ende aber das, was herausgekommen ist, doch mehr der Historischen Sozialwissenschaft verpflichtet ist. Dies ist keineswegs zu hundert Prozent unrichtig. Ich bekenne mich in der Einleitung meines Buches neben aller Kritik an der Historischen Sozialwissenschaft durchaus zu wichtigen Anregungen, die ich von dieser Seite erfahren habe.18 Dazu gehört etwa eine starke Aufmerksamkeit für Fragen von sozialer Ungleichheit, aber auch für die Dimension politischer Herrschaft, die ich freilich anders zu untersuchen versuche als sie. Und ich habe statistische Informationen durchaus auch als ein wichtiges Darstellungsmoment verwendet, dabei jedoch stets versucht, diese Statistiken zu kontextualisieren, und das heißt, sie auf die Verhaltensweisen, die Vorstellungsweisen, das Handeln der einzelnen Menschen zu beziehen. Sicherlich wird man generell sagen können, dass man historische Demografie nicht ohne differenzierte und subtile Statistik betreiben kann – eine Statistik allerdings, die nach meiner Meinung immer auch ihre Quellen offenlegt und in der Darstellung offen bleiben sollte für andere Interpretationen. Das ist in meinem Buch ein durchgängiges Darstellungsprinzip: Ich wollte absehen von der Geste des souverän und einsinnig interpretierenden Historikers und durch die Offenheit der Präsentation meiner Informationen und meines Materials immer auch Spielräume schaffen für abweichende und andere Interpretationen.
18 Vgl. Medick, Weben und Überleben, wie Anm. 3, 14 (Fußnote 3) u. 33.
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Caroline Walker Bynum hat sich in ihrem Vortrag auf der Göttinger Tagung, über die wir anfänglich gesprochen haben, gegen die master narratives gewandt und von der Vielfalt von Perspektiven gesprochen, die notwendig wären, um eine wissenschaftliche Arbeit zu schreiben. Könntest Du Dich damit anfreunden? Das ist das Ideal einer Darstellungs- und Interpretationsweise, der ich als Historiker näherkommen möchte. Aber es ist auch kein lineares und in jedem Moment einzulösendes Ziel. Vielleicht lässt es sich im Zusammenhang einer komplexen historischen Darstellung leichter einlösen als in anderen Zusammenhängen. Ich darf hier auf ein Beispiel in meinem Buch verweisen, in dem ich meinen Vorstellungen von einem zugleich interpretierenden, aber auch argumentierenden Mikrohistoriker wohl am nächsten gekommen bin. Es betrifft eine meiner ausgesprochenen Lieblingsfiguren, Christoph Laichinger,19 einen armen Totengräber, Weber und Tagelöhner aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Er hinterlässt bei seinem Tod im Juni 1786 insgesamt 58 religiöse Bücher und äußert sich in seinem Testament an seine Söhne über seine Einstellung zu diesen Büchern. Sein Testament ist ein außerordentlich intensiver Text, er bezeichnet ihn selbst als seinen letzten Willen, sein Vermächtnis. Man spürt in diesem Selbstzeugnis, dass Christoph Laichinger die Essenz seiner Lebens- und auch seiner religiösen Erfahrung in diesen wenigen Zeilen zusammengefasst hat, die er an seine Kinder und Kindeskinder weitergeben möchte. Ich bringe diesen knappen Text in meiner Darstellung in einen, wie ich finde, paradoxen, vielleicht auch witzigen Zusammenhang mit den Einsichten, die der Philosoph HansGeorg Gadamer in seinem Werk „Wahrheit und Methode“ über pietistisches Interpretieren als einer Form des Interpretierens beschrieben hat, in der eine subtilitas intelligendi mit einer subtilitas explicandi und einer subtilitas applicandi in eins ging. Dieses Zusammenwirken von drei interpretatorischen Subtilitäten bezeichnet Gadamer als die Essenz der Vollzugsweise des Verstehens, das heißt der Hermeneutik. Ich finde als Historiker „vor Ort“ diese Essenz der philosophischen Hermeneutik in gleicher Weise von meinem Totengräber Christoph Laichinger auf den Begriff gebracht wie von Gadamer im genannten Werk. Das heißt, Du hast Christoph Laichinger zu einem Philosophen gemacht. So ist es. Einen Sinn zu wecken für ungewöhnliche Zusammenhänge, aber diese dann auch zum Vorschein zu bringen, und wenn es sein muss auf paradoxe Weise, das war ein Ziel beim Schreiben meiner Laichinger Geschichte. Ich darf nur auf das Paradox einer protestantischen Ethik ohne kapitalistischen Geist 19 Vgl. Medick, Weben und Überleben, wie Anm. 3, 472–474.
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verweisen, die gewissermaßen das zentrale problemgeschichtliche Narrativ meines Buches beschreibt. Ich möchte aber im gleichen Zusammenhang an zwei weiteren Punkten ein konkretes Moment historischen Darstellens und Interpretierens erläutern. Zum einen anhand eines Laichinger Rebellen, des Küfers Michael Gösele, der durch seine Form demonstrativ abweichenden Kleidertragens rebelliert und dadurch die amtlich am Ort geforderte Kleiderordnung bewusst durchbricht.20 Ich stelle das offensive Auftreten dieses Laichinger Küfers nicht als einen herausgehobenen Vorgang dar, sondern beziehe ihn auf umfassendere Zusammenhänge. Ja, an dieser kleinen Episode entwickelte ich sogar eine historiografische Kritik der Auffassungen E. P. Thompsons, der meiner Meinung nach zu undifferenziert und zu global von einer geschlossenen „moral community“ aller Widerständigen in den lokalen Gesellschaften Englands, aber auch Europas und der Welt ausgeht. Ich versuche stattdessen, die Vielfalt der Widerständigkeits- und Artikulationsformen in den Blick zu rücken, auch die der stummen Ausdrucksweisen, die ich als Mikrohistoriker besonders reizvoll finde. Über das widerständige Verhalten der Frauen beim Gesangbuchstreik habe ich bereits einiges gesagt. Ich fand es aber auch ausgesprochen reizvoll, bei meinen Untersuchungen für die Zeit der Französischen Revolution völlig überraschend auf eine Laichinger ,Marianne‘, Anna Riek-Autenrieth, zu stoßen. Sie war eine arme Tagelöhner-Frau, die augenscheinlich Wert auf soziale Distinktion legte. Denn sie verfügte über eine reichhaltige Sammlung seidener, halbseidener, „cottoner“ und „creppener“ Halstücher in den Farben der französischen Trikolore, ferner über ein Schnürmieder in ebendiesen Farben und eine auffällige „Pariser Haube“. Darüber hinaus hatte die wohl als Dienstmagd weit herumgekommene Frau in ihrem 1799 inventarisierten Besitz etliche Erinnerungsstücke an die Französische Revolution, unter anderem eine Gedenkmünze und ein französisches „Sechserle“.21 Es sind diese Momente der Rückkehr einzelner Menschen ans Licht der Geschichte – und das möchte ich betonen, nicht nur der kleinen Geschichte –, die mir als Historiker eines entlegenen Ortes besonderes Vergnügen und Genugtuung bereiten.
20 Medick, Weben und Überleben, wie Anm. 3, 392–397. Vgl. auch Hans Medick, Eine Kultur des Ansehens. Kleidung und Kleiderfarben in Laichingen 1750–1820, in: Historische Anthropologie, 2, 2 (1994), 193–212. 21 Vgl. Medick, Weben und Überleben, wie Anm. 3, Kap. 5, 428f.
Gerda Lerner im Gespräch mit Ingrid Bauer und Christa Hämmerle (2006)*
„Das Altern ist ein Tanz auf unebener Erde …“** „I’m quite well in myself. Nothing wrong with me. I can’t see very well, I can’t hear very well, and I can’t walk very well, but I’m perfectly well.“ (Valentine Vester, HoteliHre und „grande dame of Jerusalem“1)
Als Herausgeberinnen der „L’Homme“-Ausgabe zum Schwerpunkt Alter(n) war es uns ein Anliegen, neben historischen Analysen, Theorien und Diskursen beispielhaft auch die Dimension der persönlichen Erfahrung des Altwerdens und Altseins zu thematisieren. Mit der Historikerin Gerda Lerner, die 2005 ihren 85. Geburtstag feierte, fanden wir eine inspirierende Partnerin für unsere Idee. Wir haben die international bekannte, emeritierte Professorin für Geschichte der University of Wisconsin, Madison, gebeten, aus ihrem eigenen Erfahrungskontext heraus mit uns über Alter(n) zu reflektieren, was sie mit dem ihr eigenen Enthusiasmus aufgriff. Da es nicht möglich war, ein persönliches Gespräch zu arrangieren, haben wir eine Reihe von Impulsfragen entworfen und das Internet als Kommunikati* Ingrid Bauer, Zeit- und Kulturhistorikerin, war bis 2016 außerordentliche Professorin an der Universität Salzburg und ist aktuell als freischaffende Historikerin und Autorin in Wien tätig. Sie arbeitet und publiziert zur Frauen- und Geschlechtergeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Geschichte der Liebe und Sexualität, zu österreichischer Gesellschaftsgeschichte, sozialen Bewegungen und ArbeiterInnen-Kultur. Seit 2002 ist sie Mitherausgeberin von „L’Homme. Z. F. G.“. Christa Hämmerle ist außerordentliche Professorin am Institut für Geschichte der Universität Wien, wo sie die Sammlung Frauennachlässe und die Redaktion von „L’Homme. Z. F. G.“ leitet. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte sind Forschungen zu Krieg, Militär und Gewalt, die Frauen- und Geschlechtergeschichte, die Geschichte der Gefühle (v. a. der Liebe) sowie die Auto-/Biografieforschung zum 19. und 20. Jahrhundert. Dem Herausgeberinnenkollektiv von „L’Homme“ gehört sie seit der Gründung der Zeitschrift im Jahr 1990 an. ** Zuerst veröffentlicht in L’Homme. Z. F. G., 17, 1 (2006): Alter(n), hg. von Ingrid Bauer u. Christa Hämmerle, 93–100. Erscheint hier mit aktualisierter Einleitung und geringfügiger sprachlicher Bearbeitung. 1 Steven Erlanger, When life in Mideast was simpler, in: New York Times, 29. 10. 2005; unter : https://www.nytimes.com/2005/10/29/world/africa/when-life-in-mideast-was-simpler.html, Zugriff: 26. 9. 2019. Als die englische HoteliHre Valentine Vester, die mit ihren 93 Jahren eines der schönsten Jerusalemer Hotels, „The American Colony“, führte, für den Fotografen ein Abendkleid anziehen sollte, meinte sie: „What do they imagine, that I’m the grande dame of Jerusalem?“ Valentine Vester starb im Juni 2008.
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onsbrücke benützt, um den Dialog zu realisieren. Auf diesem Weg ist in zwei Frage- und Antwortrunden ein facettenreiches Dokument entstanden, das neben ganz individuellen Eindrücken und Erfahrungen auch gesellschaftspolitische und philosophische Überlegungen enthält und in manchen Passagen geradezu eine Poesie des Alters ist – etwa wenn Gerda Lerner das Bild vom Alter als „Tanz auf unebener Erde“ entwirft. „Man altert so, wie man gelebt hat“, formuliert sie an einer anderen Stelle unseres virtuellen Gesprächs. Deshalb möchten wir zur Einstimmung kurz die bisherigen Lebensstationen jener Frau skizzieren, die jüngst von der „New York Times“ als „godmother of women’s history“ tituliert wurde.2 Geboren wurde Gerda Lerner 1920 als Tochter des jüdischen Ehepaares Robert und Ilona Kronstein in Wien. Hier wuchs sie in wohlhabenden Verhältnissen mit einer Schwester, Nora, auf und war schon in ihren Jugendjahren politisch tätig. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Österreich wurde sie gemeinsam mit der Mutter – dem Vater war die Ausreise nach Liechtenstein gelungen – für einige Wochen inhaftiert. Danach konnten auch Mutter und Töchter flüchten, doch sollte die Familie nie mehr zusammenleben: Nur Gerda reiste mit einem Visum von Liechtenstein in die USA weiter, wo sie zunächst in verschiedenen schlecht bezahlten Jobs arbeitete. 1940 heiratete sie in zweiter Ehe den Filmemacher Carl Lerner, mit dem sie eine Tochter und einen Sohn hat. Mit ihm engagierte sie sich in der Nachkriegszeit ungeachtet aller Repressionen der damaligen McCarthy-Regierung als „American radical“ in der linksgerichteten Bürgerrechtsbewegung der USA und zeitweise in der kommunistischen Partei; sie begann verschiedenste Texte zu schreiben und zu veröffentlichen. Als Carl Lerner aufgrund seiner politischen Aktivitäten auf die „Hollywood Blacklist“ kam und dort keine Arbeit mehr fand, musste die Familie nach New York umziehen.3 Ab 1958, nach der Aufnahme eines Geschichtestudiums, begann rasch die bemerkenswerte Karriere Gerda Lerners als Historikerin. In kurzer Zeit absolvierte sie ihr BA-Studium an der New School for Social Research (1962) in New York, dann den MA und das Doktorat4 an der Columbia University (1966); schon seit 1963 unterrichtete sie überdies Kurse in Frauengeschichte. Im Jahr 1972 2 Der Verweis darauf findet sich in einer Würdigung Gerda Lerners anlässlich der Verleihung des Preises für Wissenschaft und Forschung der Stadt Salzburg, vgl. Silvia Kronberger, Pionierin der Frauengeschichte, in: Salzburger Nachrichten, 19. 7. 2003, 4. 3 Vor allem von dieser Zeit, konkret von ihrem Leben bis zur Aufnahme ihres Studiums, handelt Gerda Lerners Autobiografie: dies., Fireweed. A Political Autobiography, Philadelphia 2002. Vgl. auch die Rezension von Helga Embacher in: L’Homme. Z. F. G., 15, 2 (2004), 364–366; das Buch erschien auch in deutscher Übersetzung, an der Gerda Lerner selbst mitgearbeitet hat: dies., Feuerkraut. Eine politische Autobiographie, Wien 2009. 4 Gerda Lerner, The Grimk8 Sisters from South Carolina. Pioneers for Women’s Rights and Abolition. Revised and Expanded Edition, Chapel Hill/London 2014 (Orig. 1967).
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begründete Gerda Lerner den ersten akademischen Studiengang für Frauengeschichte am Sarah Lawrence College in Bronxville, New York, dem 1981 ein Doktoratsstudiengang in Frauengeschichte an der University of Wisonsin-Madison folgte. Im selben Jahr wurde sie als erste Frau seit fünfzig Jahren zur Präsidentin der Organization of American Historians gewählt. Ihre akademischen Aktivitäten – von der Unterstützung der Gründung der African American Women’s History bis hin zur Etablierung einer Women’s History Week – waren ebenso vielfältig und umfangreich wie es ihr Werk als Historikerin und als Schriftstellerin ist.5 Gerda Lerner erhielt zahlreiche Preise und Ehrendoktorate in den USA, in Europa und in Israel.6 Während der Arbeit an unserem ,Gespräch‘ im Herbst 2005 entdeckte Gerda Lerner in der „New York Times“ jenes Zitat der 93-jährigen Valentine Vester, das nunmehr am Beginn des gesamten Beitrags steht. Es sei, ließ sie uns wissen, ein treffliches Motto auch für ihre eigene gegenwärtige Lebensrealität.7 Ingrid Bauer und Christa Hämmerle: Wir freuen uns, dass wir Sie für diesen Dialog gewinnen konnten und möchten ihn mit einigen persönlichen Fragen beginnen: Wie erleben Sie Ihr eigenes LebensAlter und wie gehen Sie damit um? Gerda Lerner : Ich finde, das Altern ist eine Serie von neuen Ansprüchen und Anforderungen, die das Leben einem vorlegt. Es ist nicht ein Schritt, sondern ein langsamer Prozess, der in vielerlei Hinsicht schwieriger ist als alles, was vorher kam. Wenn man jünger ist, muss man ständig auf neue Anregungen und wechselnde Bedingungen reagieren, aber man hofft doch immer auf ein gutes Resultat, auf plötzliches Glück und bessere Umstände. Aber wenn man alt ist, gibt es nur ein Endresultat, das ist der Tod, auf dem Weg dorthin muss man mehr 5 Gerda Lerner (Hg.), Black Women in White America: A Documentary History, New York 1972; dies. (Hg.), The Female Experience. An American Documentary, Indianapolis 1977; A Death of One’s Own, New York 1978 (dt.: Ein eigener Tod. Der Schlüssel zum Leben, Düsseldorf 1979); The Majority Finds Its Past. Placing Women in History, New York 1979 (dt.: Frauen finden ihre Vergangenheit. Grundlagen der Frauengeschichte, Frankfurt a. M. 1995); The Creation of Patriarchy, New York/Oxford 1986 (dt.: Die Entstehung des Patriarchats, Frankfurt a. M. 1991); The Creation of Feminist Consciousness: From the Middle Ages to Eighteen-seventy, New York/Oxford 1993 (dt.: Die Entstehung des feministischen Bewußtseins. Vom Mittelalter bis zur Ersten Frauenbewegung, Frankfurt a. M. 1993); Why History Matters. Life and Thought, Oxford/New York 1997 (dt.: Zukunft braucht Vergangenheit. Warum Geschichte uns angeht, Königstein i. T. 2002). 6 Vgl. z. B. Annette Kuhn, Worauf es in der Geschichte ankommt. Die Historikerin und Feministin Gerda Lerner, in: Beate Kortendiek u. A. Senganata Münst (Hg.), Lebenswerke. Porträts der Frauen- und Geschlechterforschung, Opladen 2005, 80–99. 7 Gerda Lerner ist Anfang Januar 2013 verstorben, vgl. Gabriella Hauch, „Es gibt keinen Abschied …“ Gerda Lerner (1920–2013) zum Gedenken, in: L’Homme. Z. F. G., 24, 1 (2013), 137–139.
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und mehr von dem, was man sich erworben hat, was man geleistet hat und was einem wertvoll ist, aufgeben. Das Altwerden zwingt einen auf jeder Etappe vorwärts, etwas für immer aufzugeben. Man muss also lernen, mit Würde und ohne Verzweiflung das aufzugeben, was aufgegeben werden muss. Im Alter hat man nicht mehr den Luxus, gut zu wählen, sondern man muss oft zwischen zwei schlechten Möglichkeiten das kleinere Übel wählen. Man entwickelt neue Beziehungen zu seinem Körper, der nicht mehr der Alte ist, und an dessen Schwäche und Beschränkungen man sich gewöhnen muss. Schmerzen und körperliche Behinderungen werden unsere treuesten Begleiter. Wir gewöhnen uns an sie, respektieren sie und passen uns, so gut wie möglich, an sie an. Ohne Schmerzen und Behinderungen würde wohl niemand zum Sterben bereit sein. Ich betrachte das Altern als einen natürlichen Prozess, unsere letzte große Lebensanforderung, das Vorspiel zum Sterben. Es ist eine Art von Reinigungsprozess: Man gibt unnötige Erwartungen auf und plagt sich nicht mehr mit alten Streitigkeiten und Anschuldigungen; man macht Frieden mit seinem Leben und der Art und Weise, wie man es gelebt hat; man lernt jeden Tag und das, was er mit sich bringt, zu schätzen. Man genießt alte Freundschaften und bekannte, geliebte Plätze, und doch versucht man noch immer, neue Beziehungen zu knüpfen, um im Leben verankert zu bleiben. Wenn man diesen Prozess bewusst mitmacht, dann findet man eine neue Art von Befriedigung, eine unerwartet ruhevolle Zufriedenheit. Was mich selbst anbelangt, so gebe ich mir jetzt viel mehr Zeit für stille Betrachtungen, für einfache häusliche Beschäftigungen und fürs Nachdenken. Ich habe gelernt, mit großer Befriedigung allein zu leben, und ich erfreue mich eines lebhaften intellektuellen und gesellschaftlichen Austausches. Wohl war ich mein Leben lang stark, athletisch und geschwind, und jetzt bin ich peinlich langsam, unbeholfen und mehr ans Haus gebunden, als ich es wünsche; aber ich erwarte nicht mehr so viel von mir, wie ich es früher tat, und kann mich deshalb an dem freuen, was ich immer noch tun kann. Ich habe einen großen Vorteil, nämlich dass ich Historikerin bin und dadurch meine intellektuelle Verbindung mit der Vergangenheit aufrechterhalten kann, was es einem ja leichter macht, die Gegenwart zu ertragen. Ich habe auch noch den großen Vorteil, eine aktive Schriftstellerin zu sein.8 Schöpferisches Werken und die Praxis der sprachlichen Formgebung sind wertvolle Gaben im Erleben des Alterns. 8 Posthum ist eine Neuauflage ihres 1954 erstmals unter dem Pseudonym Margarete Rainer veröffentlichten autobiografischen Romans mit dem Titel „Es gibt keinen Abschied“ (Wien 2017) erschienen. Ein Essayband von Gerda Lerner, der auch bis dahin noch unveröffentlichte, eigens für diesen Band verfasste Texte enthält, wurde erstmals 2009 publiziert: Gerda Lerner, Living with History / Making Social Change, Chapel Hill 2009.
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Ihre Biografie ist eine ,ungewöhnliche‘, eine mit vielen Brüchen und immer wieder der Notwendigkeit, aber auch der Entscheidung zum Neuanfang: von der Vertreibung aus Österreich in die USA bis hin zu Ihrem späten Start einer wissenschaftlichen Karriere, in einem Alter, in dem auf dem akademischen Arbeitsmarkt Europas ein erster Einstieg nicht mehr denkbar ist. Verändert so ein wechselvoller Lebensweg auch die eigene Einstellung zum Altwerden/Altsein? Mein unkonventioneller Lebensweg, mit den vielen Unterbrechungen und den erzwungenen Neuanfängen, war anscheinend eine gute Vorbereitung auf den Prozess des Altwerdens. Im Alter muss man sich ständig neuen Umständen anpassen: wenn der Körper nicht mehr richtig funktioniert; wenn alte Freundinnen und Freunde wegziehen oder sterben; wenn man in eine kleinere Wohnung umziehen muss; wenn man Beschäftigungen oder Interessen, die man geliebt und geschätzt hat, aufgeben muss. Dann braucht man mehr Anpassungsvermögen als je zuvor im Leben. Besonders stark ist Ihr Lebensweg auch von Ihrer Identität als Feministin und Aktivistin der (akademischen) Frauenbewegung geprägt. Wie hat das Ihre Bilder vom ,Alter‘, von ,alten Frauen‘ und ,alten Männern‘ beziehungsweise Ihr eigenes Altwerden beeinflusst? Mein Lebenswerk als Feministin und als ein organisatorisch aktiver, radikal eingestellter Mensch hat meine Lebensjahre unendlich bereichert und mich in vielen Netzwerken von Kolleginnen und Kollegen und Gleichgesinnten verankert. Ich kann mit Zufriedenheit auf meine vielen Jahre der politischen Aktivität zurückschauen, obwohl es da ja auch neben Erfolgen viele Enttäuschungen gab. Dass ich auf zwei Kontinenten tätig sein konnte, war auch ein großer Vorteil für mich. Mein Wissen als Historikerin hat mich umso deutlicher erkennen lassen, dass ,Alter‘ vielfach auch eine Markierung gesellschaftlicher Differenz bedeutet, indem man alten Menschen negative Attribute zuschreibt und sie als Mitglieder einer minderwertigen Gruppe charakterisiert. Man verallgemeinert und verliert das Individuum aus dem Blick. In dieser Hinsicht gibt es auch scharfe Geschlechtsunterschiede: Alte Männer sind sozial akzeptiert; man lädt sie gerne zu Gesellschaften ein und findet sie interessant. Alte Frauen sind oft unerwünscht; sie gelten als langweilig, deprimierend und hilfsbedürftig. Alte Männer finden es leichter, persönliche Beziehungen zu knüpfen als alte Frauen. Witwer finden ziemlich schnell neue Ehepartnerinnen, oftmals viel jüngere Frauen. Für Witwen sind die statistischen Chancen für eine Wiederheirat ganz schlecht; gleichaltrige Männer interessieren sich für jüngere Frauen, und jüngere Männer schauen bei alten Frauen weg. Es gibt da natürlich Ausnahmen, aber in der Regel ist es so.
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Neuerdings haben einige Witwen in lesbischen Beziehungen Liebe und Freundschaft gefunden. Für mich persönlich als heterosexuelle Witwe ist die Tatsache, dass ich als Feministin viele gute Freundinnen habe und Frauenbeziehungen hoch schätze, eine große Unterstützung jetzt im Alter. Wir haben bis jetzt vor allem Ihren persönlichen Erfahrungskontext im Zusammenhang mit Alter ausgelotet. Welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen fördern oder behindern Ihrer Einschätzung nach ein ,gutes Altwerden‘? Welche Tabus gibt es im Zusammenhang mit Alter? Meine Generation erlebt eine bahnbrechende Umwälzung in Bezug auf das Alter. Als ich ein Kind war und eine der alten Damen aus dem Kreis meiner Großmutter im Alter von 73 Jahren starb, da hieß es allgemein, die hätte doch ein schönes, volles Alter erlebt. Die Erwartung war also, dass man in etwa im achten Jahrzehnt sterben würde. Nun hat sich aber die Demografie so verändert, dass eine Frau in den USA eine durchschnittliche Lebenserwartung von 86 Jahren hat. Da das, wie gesagt, ein Durchschnittswert ist, bedeutet es, dass sich für viele Frauen die Lebensphase des Alters um 15 bis 20 Jahre verlängert hat. Für Männer beträgt die Lebensdauer im Durchschnitt 80 Jahre. Verheiratete Frauen können daher damit rechnen, dass sie sechs oder mehr Jahre als Witwe leben werden. Die Gesellschaft hat auf diese demografische Veränderung bisher fast gar nicht und wenn, meistens negativ reagiert. Es gibt keine gesellschaftlichen Modelle für das ,gute Altern‘ in der heutigen modernen Form. Es hat sich nicht nur die Lebensdauer verändert, sondern auch die Gesundheit der älteren Menschen. Meine Generation ist die erste in der Weltgeschichte, die darauf zählen kann und muss, dass sie nicht nur 20 Jahre länger lebt, sondern das auch in besserem Gesundheitszustand, sodass sie noch Jahrzehnte lang arbeitsfähig bleibt – obwohl man erwartet, dass diese Menschen sich im Alter von 65 Jahren pensionieren lassen. Es gibt aber für sie keine gesellschaftlich nützliche Rolle. Die Familien leben geografisch weit voneinander entfernt und es ist in der Praxis schwer, die alten Familienmitglieder einzubeziehen. Man sieht sich also an großen Feiertagen und zu besonderen Anlässen, aber für den Alltag erwartet man, dass die ältere Generation sich unabhängig macht. Sollte das wegen schlechtem Gesundheitszustand nicht mehr möglich sein, dann braucht man bezahlte Hilfe (wenn man sich das leisten kann). Die bevorzugte Lösung des Problems der älteren Menschen ist, dass sie sich freiwillig in eine retirement community (Senioren-Residenz) zurückziehen. Sie sollen also vorzugsweise mit anderen alten Menschen zusammenleben. Gerade in einem Lebensabschnitt, in dem ältere Menschen die Hilfe von Jüngeren am meisten brauchen und durch nahen Kontakt mit jüngeren Menschen und mit Kindern neuen Schwung zum Weiterleben bekommen könnten,
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werden sie demnach gesellschaftlich abgesondert. Die Jugend meint es ja ganz gut mit den Alten und ist ihnen freundlich gesonnen, aber nur, solange diese nicht zu viele Ansprüche an sie stellen. Also: Auf ins Altersheim, und wir kommen alle paar Monate zu Besuch. Die Markierung der Alten als deviant und wertlos ist nicht lebensbejahend; sie ist ein Exzess der patriarchalen Gesellschaft, eine Absonderung der Menschen von der Natur und natürlichen Prozessen. In den USA haben die am schlechtesten bezahlten Jobs diejenigen, die sich um Kinder und alte Menschen kümmern. Diese Jobs sind als Frauenarbeit kategorisiert und es sind – ganz typisch für eine durch Rassismus deformierte Gesellschaft – Jobs für Frauen aus Minoritätsgruppen oder für neue Immigrantinnen. Alles, was ich hier aussage, gilt für die USA, und innerhalb dieses Staates gilt vieles davon auch nur für wohlhabende Menschen und Angehörige der Mittelschicht. Und außerdem nur für Weiße. Die Armen haben da weniger Wahlmöglichkeiten und können sich retirement communities gar nicht leisten. In den verschiedenen ethnischen Gruppen gibt es auch eine andere Einstellung zum Altwerden. Da wohnen oft zwei oder drei Generationen in einem Haus oder in einer Wohnung, was für sie sowohl finanziell als auch emotionell vorteilhaft ist. Sie leben in den USA und haben natürlich zunächst einmal vor allem über Kulturen des Alter(n)s berichtet, die hier entwickelt worden sind. (Worin) Sehen und erleben Sie in dieser Frage Unterschiede – positive wie negative – zwischen den USA und Europa? Ich habe auf meinen Reisen beobachtet, dass ältere Menschen in Europa viel besser leben als in den USA. Der Wohlfahrtsstaat und ausreichende Pensionen machen das Leben leichter, und viele Familien haben die Großeltern am selben Wohnort. Dadurch, dass es fast überall in Europa gute und billige öffentliche Verkehrsmittel wie Autobusse, Straßenbahnen und U-Bahnen gibt, können alte Menschen in Restaurants, Kaffeehäuser und Kinos gehen und sind normalerweise auf öffentlichen Plätzen sichtbar und integriert. In den USA ist das nicht möglich. Solange man selbst Auto fahren kann, geht es im Alter noch ganz gut und man kann bei vielem mitmachen. Aber wenn das Chauffieren nicht mehr geht, sind alte Menschen wirklich isoliert. Sie haben vorhin davon gesprochen, dass sich die Phase des Alters um viele Jahre verlängert hat. Nicht selten macht der sogenannte „Herbst des Lebens“ heute oft eine längere Zeitspanne aus, als früher ein ganzes Leben umfasste. Haben Sie Ideen, wie man dieses verlängerte Alter besser und sinnvoller für Menschen und Gesellschaft gestalten könnte?
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Man müsste mehr in die Lebensphase ,Alter‘ investieren: gute öffentliche Verkehrsmittel, damit alte Menschen mehr Zugang zur Gesellschaft haben; größere Wohnungen für jüngere Familien, damit sie alte Familienmitglieder bei sich unterbringen können; ausreichende Pensionen und Krankenversicherungen, sodass alten Menschen ein bescheidener Unterhalt gesichert ist; keine Zentren für Seniorinnen und Senioren, Altersheime oder retirement communities ohne einen gewissen Prozentsatz von jungen Menschen und Kindern. Alte Menschen können viel zur Gesellschaft beitragen: durch ihr Wissen und ihre Lebenserfahrung, durch ehrenamtliche Arbeit, durch ihre Geduld und Friedlichkeit. Und auch die Kranken und Behinderten unter ihnen können jüngeren Menschen dadurch helfen, dass sie diese lehren, wie man Hilfe annimmt. In unserer Wettbewerbsgesellschaft trainiert man die Menschen darauf, unabhängig und ,self-made‘ zu sein. Aber man muss auch wissen, wie man anderen helfen kann und wie man Hilfe annehmen kann, ohne sich geringer zu fühlen. Dadurch, dass die moderne Gesellschaft alte Menschen aussondert und das Sterben tabuisiert, sind die Lebenden und Gesunden mit Angst vor dem Alter erfüllt und auf das Altern überhaupt nicht vorbereitet. Kommen wir noch einmal auf den Ausgangspunkt unseres Gesprächs, nämlich die persönliche Erfahrung des Altwerdens, zurück. Simone de Beauvoir hat sich in ihrem Buch „La Vieillesse“, das erstmals 1970 erschienen ist – sie war damals 62 Jahre alt –, auf die ihr eigene philosophisch-essayistische Art mit dem Lebensabschnitt ,Alter‘ auseinandergesetzt und festgehalten: „Wollen wir vermeiden, dass das Alter zu einer spöttischen Parodie unserer früheren Existenz wird, so gibt es nur eine einzige Lösung, nämlich weiterhin Ziele zu verfolgen, die unserem Leben Sinn verleihen: das hingebungsvolle Tätigsein für einzelne, für Gruppen oder für eine Sache, Sozialarbeit, politische, geistige oder schöpferische Arbeit. Im Gegensatz zu den Empfehlungen der Moralisten muß man sich wünschen, auch im hohen Alter noch starke Leidenschaften zu haben, die es uns ersparen, daß wir uns nur mit uns selbst beschäftigen. Das Leben behält seinen Wert, solange man durch Liebe, Freundschaft, Empörung oder Mitgefühl am Leben der anderen teilnimmt. Dann bleiben auch Gründe, zu handeln und zu sprechen.“9
Können Sie sich dieser Vision anschließen? Und: Worin bestehen die weiterhin verfolgten oder auch neuen leidenschaftlichen Engagements und Ziele der Gerda Lerner? Ich stimme mit de Beauvoir überein, dass hingebungsvolles Tätigsein für andere oder Sozialarbeit einem das Alter verbessern kann. Aber ich glaube nicht, dass es 9 Simone de Beauvoir, Das Alter. Essay, Reinbek bei Hamburg 1977, 464 (Orig. La Vieillesse, Paris 1970).
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eine ,einzige Lösung‘ für das Altsein gibt. Wie ich vorhin schon gesagt habe, sehe ich das Alter als einen natürlichen Lebensprozess, nicht als eine Katastrophe an. Es gibt so viele Arten des Altwerdens, wie es Menschen gibt. Man altert so, wie man gelebt hat. Für manche bedeutet es eine intensive Konzentration auf ,gute‘ Ziele, Engagement für andere Menschen, Flucht in soziale Tätigkeit. Für andere bedeutet es geistige und schöpferische Arbeit. Manche finden Zufriedenheit durch neue Interessen: Gärtnerei, Handarbeit, Basteln, Handwerk und sogar Sport. Für diejenigen, die das Alter mit körperlichen Schmerzen und Behinderungen erleben müssen, ist der ständige Kampf um Unabhängigkeit und Kompetenz eine allumfassende Aufgabe. Sie müssen um Geduld und innere Ruhe ringen und doch noch genug Interesse am Leben aufbringen, um gute Tage und Stunden haben zu können. Aber es gibt viele Menschen, die das Altwerden dazu benützen, sich mehr und mehr nach innen zu wenden, ihr eigenes Leben oder das ihrer Familie zu überprüfen und besser zu verstehen. Sie wollen nicht nur tätig sein, sondern auch Verstehen und Weisheit erlangen. Sie wollen verstehen, was dieser letzte Lebensabschnitt bedeutet, und sehen das Altern als eine Anforderung an, der man sich stellen muss. Da gibt es also keine einzig gültige Lösung. Das Altern ist ein Tanz auf unebener Erde, den man mit geschwächten Gliedern unternimmt, in dem man mal diese, mal jene Schritte versucht und in dem man doch ab und zu in Schwung kommt und einfach das Tanzen erlebt – so wie es früher war und, noch besser, so wie es jetzt ist. Denn das Altsein ist ja überhaupt auf das Jetzt-Erleben angewiesen. Wir sind so weit gekommen und was jetzt da ist, ist alles, was je da sein wird. Und so tanzt man weiter, so gut es eben geht. Ich liebe und schätze den ständigen Mut alter Menschen, ihre Geduld, ihren Optimismus und ihre kindliche Bereitschaft, spontane Freude zu empfinden.
Ruth Beckermann im Gespräch mit Ruth Wodak (2001)*
Verdrängung und Erinnerung: Der Film „Jenseits des Krieges“ (1996)**
Das folgende Interview beschäftigt sich mit einem sehr eindringlichen Dokumentarfilm, der im Kontext der erst in den 1990er-Jahren einsetzenden breiteren Aufarbeitung der Rolle der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg entstanden ist. „Jenseits des Krieges“ wurde von der Filmemacherin Ruth Beckermann im Oktober und November 1995 in der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ in Wien gedreht, wo sie vor laufender Kamera zahlreiche Besucherinnen und Besucher interviewt hat; ein guter Teil der so in den Fokus genommenen älteren Männer war selbst einst Wehrmachtssoldat gewesen. Das damals aufgenommene, sehr umfangreiche Videomaterial diente einerseits als Grundlage für Ruth Beckermanns Dokumentarfilm und wurde andererseits von Ruth Wodak ab 1999 im Rahmen ihres durch den Wittgenstein-Preis 1996 finanzierten Forschungszentrums „Diskurs, Politik, Identität“ analysiert. So konnte ein Gespräch entstehen, in das sie beide als Expertinnen – und aufgrund ihrer jüdischen Herkunft als vom Wissen um den deutschen „Vernichtungskrieg“ und seine Folgen auch besonders Betroffene – involviert waren. Die vom Hamburger Institut für Sozialforschung konzipierte Wanderausstellung zur Beteiligung von Wehrmachtssoldaten an den Kriegsverbrechen der NS-Zeit war zuerst vom 5. März bis zum 14. April 1995 in Hamburg zu sehen, ging dann weiter nach Berlin, Potsdam und Stuttgart und – über Wien (19. Oktober bis 22. November 1995) – nach Innsbruck. Im Jahr 1996 wurde sie * Ruth Wodak ist Sprachwissenschaftlerin und als solche eine der bekanntesten Vertreterinnen der Kritischen Diskursanalyse. Für ihr umfangreiches Œuvre hat sie zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Sie beschäftigt sich, auch in historischer Perspektive, v. a. mit Vorurteilsforschung, Rassismus und Rechtspopulismus sowie nationalen, transnationalen und europäischen Identitätspolitiken. Ab 1991 war sie Universitätsprofessorin für Angewandte Sprachwissenschaft an der Universität Wien und von 2004 bis 2014 Professorin an der Lancaster University in Großbritannien, dazwischen liegen mehrere Gastprofessuren. ** Zuerst veröffentlicht in L’Homme. Z. F. G., 12, 1 (2001): Soldaten, hg. von Susanna Burghartz u. Christa Hämmerle, 124–133. Erscheint hier mit erweiterter und aktualisierter Einleitung und in geringfügiger sprachlicher Bearbeitung.
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in Freiburg, Mönchengladbach, Essen, Erfurt, Regensburg, Klagenfurt, Nürnberg und Linz gezeigt; 1997 in Karlsruhe, München, Frankfurt, Bremen, Marburg, Konstanz und Graz; 1998 in Dresden, Salzburg, Aachen, Kassel, Koblenz, Münster, Bonn und Hannover. 1999 kam die Ausstellung nach Kiel, Saarbrücken, Köln, Hamburg und Osnabrück, stand dann ab dem 4. November 1999 aufgrund von Fälschungsvorwürfen unter einem Moratorium und wurde von einer wissenschaftlichen Kommission begutachtet. Der am 15. November 2000 präsentierte Abschlussbericht der Kommission rehabilitierte die Ausstellung, die daraufhin – in überarbeiteter und stark erweiterter Form – bis 2004 erneut an vielen Orten, darunter wiederum auch in Wien (9. April bis 26. Mai 2002), präsentiert wurde. Ruth Beckermann hat in Wien und Tel Aviv Publizistik und Kunstgeschichte und danach an der School of Visual Arts in New York Fotografie studiert. Sie war Redakteurin bei diversen Zeitschriften und arbeitet seit 1985 als freie Autorin und Filmschaffende. Zu ihren bekanntesten Kino- und Dokumentarfilmen, die sich der Aufarbeitung oder Verdrängung des Holocaust widmen, gehörten bis zum Start von „Jenseits des Krieges“ (1996) vor allem „Wien retour“ (1984), „Die papierene Brücke“ (1987), „Nach Jerusalem“ (1991), „Ein flüchtiger Zug nach dem Orient“ (1999) und „homemad(e)“ (2001).1 Ruth Beckermann hat außerdem mehrere Bücher publiziert, unter anderem „Die Mazzesinsel. Juden in der Wiener Leopoldstadt 1918–38“ (1984) und „Unzugehörig: Österreicher und Juden nach 1945“ (1989).2 Für ihr Werk war sie schon zum Zeitpunkt des folgenden Gesprächs mehrfach ausgezeichnet worden: unter anderem mit dem Österreichischen Würdigungspreis für Filmkunst (für „Die papierene Brücke“), dem Wiener Filmpreis und dem Prix special du jury (Cin8ma du r8el) für „Jenseits des Krieges“. Ruth Wodak: Als ich Deinen Film „Jenseits des Krieges“ bei der zweiten großen Aufführung im Wiener Votiv Kino gesehen habe, habe ich einen Kollegen aus England mitgenommen, der lange in Australien gelebt hat und dessen Eltern aus Deutschland ausgewandert sind. Er wusste nie warum und ist während dieses Films verfallen. Ich bin dann bis drei Uhr Früh mit ihm in einem Kaffeehaus gesessen, und er hat erzählt, wie es bei ihm zu Hause war : Über bestimmte Dinge wurde einfach nie gesprochen, er hat aber immer gefühlt: Etwas war da los. Es war ein tabuisiertes Thema. Mich hingegen hat der Film sehr berührt, und meine spontane Reaktion war : Ich muss damit etwas machen. Ich möchte die Ge1 Hinzu kamen später beispielsweise die Filme „American Passages“ (2011), „Die Geträumten“ (2016) und zuletzt – mehrfach preisgekrönt – „Waldheims Walzer“ (2018). 2 Es folgte eine Buchausgabe von „Jenseits des Krieges. Ehemalige Wehrmachtssoldaten erinnern sich“, Wien 1998, sowie „europamemoria – Erinnerungen Europas“, Wien 2003 (mit Stefan Grissemann).
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schichten, die diese Leute erzählen, irgendwie genauer verstehen und daher analysieren.3 In diesem Zusammenhang würde ich gerne wissen, wie Du dazu gekommen bist, Dich an der Wehrmachtsausstellung in dieser Form zu beteiligen, und warum Du Dich dafür entschieden hast, tatsächlich in die Ausstellung zu gehen. Ruth Beckermann: Da muss ich ein wenig ausholen. Ich habe mich fast zehn Jahre lang sehr mit jüdischer Geschichte und mit der Seite der Opfer, der Überlebenden, der Toten beschäftigt: in meinem Film „Die papierene Brücke“, aber auch in „Wien retour“, dem Dokumentarfilm über den jüdischen Kommunisten Franz West, und in dem Buch „Die Mazzesinsel“. Das war ein Themenkomplex, der mich acht Jahre lang intensiv beschäftigt hat. Vor allem nach der Waldheim-Affäre, ab 1986, gab es viele Projekte zu jüdischen Themen, und es kamen sehr viele junge Leute und befragten mich immer wieder über Emigration oder über jüdische Themen. Immer wenn so jemand kam, habe ich die Frage gestellt: „Warum machen Sie etwas über Juden und nicht über die andere Seite – die Täterseite, die Mitläuferseite?“ Meistens bekam ich einen erstaunten Augenaufschlag zurück und habe gemerkt, dass das anscheinend nicht möglich ist. Es gibt ja auch viel mehr Projekte über die Opferseite als über die Täterseite – es werden Ausstellungen gemacht, es werden Bücher geschrieben über überlebende Juden und Widerständler. Es ist im Grunde auch ganz verständlich, dass junge Leute sich eine Art Ersatzgroßeltern suchen und dass es einfacher ist, sich mit sympathischen Juden zu identifizieren als sich dieser nicht so sympathischen Seite zu stellen. Über diesen Umweg – „Warum machen Sie es nicht?“ – habe ich mich selbst immer mehr dafür zu interessieren begonnen. Ich dachte mir, dass diese Geschichten sonst verloren gehen. Diese Leute schweigen, bis sie sterben – und eigentlich möchte ich gerne wissen, wie sie damit leben, mit dieser Geschichte. Als ich dann hörte, dass die Wehrmachtsausstellung auch nach Wien kommt, habe ich mich ganz spontan – ungefähr drei Wochen, bevor sie eröffnet wurde – 3 Daraus entstand 1999 das interdisziplinäre Wittgenstein-Projekt „Confrontation with a Taboo – History in the Making. Discursive Construction of the Subjective Recollection of the Wehrmacht’s War of Annihilation / Konfrontation mit einem Tabu – Diskursive Konstruktion der subjektiven Erinnerung an den Vernichtungskrieg der Wehrmacht“ an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Es analysierte die Debatte um die Wehrmachtsausstellung mit dem zentralen Anliegen, so den gesellschaftlichen, öffentlichen „Kampf um Geschichtsbilder“ (um das Bild der Wehrmacht) sichtbar zu machen. Publiziert wurden ein Buch und eine Vielzahl von Aufsätzen: Hannes Heer, Walter Manoschek, Alexander Pollak u. Ruth Wodak (Hg.), Wie Geschichte gemacht wird. Zur Konstruktion von Erinnerungen an Wehrmacht und Zweiten Weltkrieg, Wien 2003 (engl.: Hannes Heer u. a. (Hg.), The Discursive Construction of History. Remembering the Wehrmacht’s War of Annihilation, Basingstoke 2008).
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dazu entschlossen, dort zu drehen. Ich hatte kein langfristiges Projekt und keine Finanzierung dafür. Ich fragte einen Freund, den Kameramann Peter Roehsler, ob er mitmacht, und er hat zugesagt. Wir haben einen Computer gegen eine geeignete Kamera eingetauscht, uns ein Mikrofon und ein Stativ besorgt und in der Ausstellung gedreht, und zwar vom ersten Tag an, auch die Eröffnung, und dann jeden Tag zirka vier Stunden lang. Hast Du nur in Österreich gedreht oder auch in Deutschland? Wir haben nur in Wien gedreht, 48 Stunden Material. Nach diesen fünf Wochen habe ich das Material einmal drei Monate liegen lassen, und dann haben wir es uns zu zweit, Peter Roehsler und ich, das erste Mal angeschaut, 48 Stunden durchgehend, das ist nicht ohne. Nach dieser ersten Sichtung habe ich mir nur jene Stellen aufgeschrieben, die besonders wichtig für mich waren. Ich habe das Filmmaterial dann wieder drei Monate liegen lassen, und erst ein halbes Jahr später, im Frühjahr – die Ausstellung war im Herbst davor – habe ich eine Auswahl von zehn Stunden gemacht und den Film dann, so wie er ist, seltsamer Weise in sehr, sehr kurzer Zeit geschnitten. Was mich fasziniert hat im Film, waren die Gesichter, diese ganz unterschiedlichen Gesichter, die teilweise sehr starr sind, teilweise aber auch sehr emotional geworden sind. Es haben manche der ehemaligen Soldaten dort auch geweint. Besonders beeindruckt hat mich – und ich glaube, das war für mich der wichtigste Satz im ganzen Film – der eine überzeugte Sozialdemokrat, der gesagt hat: „Wissen Sie, ich weiß nicht mehr, wohin ich mich schämen soll.“ Mit diesem Satz bin ich aus dem Film hinausgegangen, weil er für mich gezeigt hat, dass es doch Menschen gibt, die nicht nur aggressiv reagieren, sondern für die das ein ganz, ganz tiefes Trauma gewesen ist, und die solche Gefühle sozusagen auch zugelassen haben. Wie hast Du diese ganze Palette an Gefühlen von diesen Männern erlebt? Na ja, da gab es eine bestimmte Entwicklung. In der ersten Woche der Ausstellung, die medial sehr präsent war, ging es sehr bewegt zu. Die meisten Diskussionen, die man im Film sieht, fanden in der ersten Woche statt. Die Leute, die Männer – meistens kamen zwei Männer gemeinsam, es waren viel mehr Männer als Frauen und sehr wenige Paare in der Ausstellung – kamen herein und haben sehr schnell auch mit anderen Männern zu diskutieren begonnen. Auch ich habe in dieser ersten Woche viel argumentiert. Ich habe mich viel mehr eingemischt und selbst diskutiert und mich dabei natürlich aufgeregt. Aber schon nach ein paar Tagen habe ich gemerkt, dass das der falsche Weg ist, nichts mehr bringt, einfach zu spät ist, und dass es weder für den Film noch für mich persönlich irgendeinen Sinn hat, hier Überzeugungsarbeit leisten zu wollen. Ich habe mich
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dann innerlich einige Schritte zurückbegeben, um den Besuchern sehr distanziert zuzuschauen. Aber in der ersten Woche war es sehr bewegt, und wir waren auch stets in Bewegung, mit der Kamera auf der Schulter in der Ausstellung unterwegs. Nach einer Woche habe ich dann gesagt: „Jetzt möchte ich einen Tisch aufstellen.“ Es gibt daher eine zweite Situation im Film, die sitzende, um auch eine andere Gesprächsatmosphäre zu haben. Es ist ein sehr großer Unterschied, ob man auf jemanden mit der Kamera zugeht – wir haben ja überhaupt keine Vorgespräche geführt, sondern sind direkt mit der Kamera zu jemandem hingegangen und haben gefragt, ob wir was fragen dürfen und haben dann sofort gesprochen – oder ob man jemanden bittet, sich hinzusetzen, und erst dann zu reden beginnt. Ich wollte diese doch ruhigere Situation auch im Film haben. Die erste Woche war anders. Als ich dann so weit war, mich selbst zurückzuhalten und zu beobachten, war ich schon sehr, sehr erstaunt. Ich habe in meinem Leben bis dahin selten so viel über die Vielfalt an Möglichkeiten gelernt, in einer schwierigen Situation doch noch als freies Individuum zu entscheiden und zu reagieren. Das heißt, für Dich hat sich diese ganze Argumentation, dass man einfach nicht anders konnte und es Pflicht war, das zu tun, dass man nur Befehlsausführer war und so weiter, irgendwie aufgelöst? Das hat sich aufgefächert. Also ich meine, diese Sicht stimmt natürlich auch. Dieser Sozialist, den Du erwähnt hast, der sagt es ja: „Was hätte man tun sollen als Soldat irgendwo in Russland, wo man die Sprache nicht kann? Wenn man desertiert, bringen einen die anderen wahrscheinlich um. Wo soll man hin?“ Das kann ich nachvollziehen und das kann ich verstehen, aber trotz dieser Situation gab es noch sehr viele Möglichkeiten, sich als Einzelner zu verhalten. Und darum geht es auch in der Ausstellung, würde ich sagen. Es ist letztlich immer eine Frage von Zivilcourage, nicht? Die stellt sich heute natürlich ganz anders und viel einfacher und war damals, unter den Umständen eines Krieges, viel schwieriger, weil man eben erschossen werden konnte. Die zentrale Frage in Bezug auf das Soldatsein ist doch immer : Kann man sich in irgendeiner Form distanzieren und findet man so einen anderen Weg? Inwieweit führen Soldaten Befehle aus und inwieweit behalten sie doch noch irgendwie ihren eigenen Handlungsspielraum und ihre Autonomie? Ja, natürlich, Du hast ganz Recht – wobei ich aber schon glaube, dass Krieg eine gesellschaftliche Situation und Krieg nicht gleich Krieg ist. Das hat auch Jan Philipp Reemtsma in seiner Eröffnungsrede zur Ausstellung gesagt. Im Zweiten
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Weltkrieg waren eben die Verbrechen ein Teil des Krieges und wurden als Befehle auch ausgegeben. Die Juden und Slawen und sonstige Leute umzubringen, gehörte zu den Befehlen. Das heißt, dass es auch in einem Krieg – im Sinne einer gesellschaftlichen Situation – Grenzen gibt, und die sind in jedem Krieg anders. Aber in diesem Zweiten Weltkrieg, und vor allem an der Ostfront, waren die Grenzen eben grenzenlos, wenn man so will. Das ist auch das Thema, das dann aufgebrochen wurde, nicht? Was ist ein ,normaler‘ Krieg und was bedeutet die Vernichtung von Juden, Roma, Sinti, russischen Kriegsgefangenen und anderen? Wir haben ja für unser Projekt schon einige Deiner Videos analysiert, und zwar die ungeschnittenen, da zeigt sich, dass viele versuchen, dies für sich voneinander abzuspalten. Auf der einen Seite sagen sie: „Gut, das eine war der ,normale‘ Krieg, es ging ums Überleben, wir haben überhaupt keine Zeit gehabt, über irgendetwas anderes nachzudenken. Wissen Sie überhaupt, wie das ist, wenn man im Schützengraben liegt?“ Und so weiter. Und das andere sind die Juden, und die gehören irgendwie nicht zum Krieg: „Das ist natürlich etwas Anderes, das war schon schrecklich, aber … Also reden wir über den Krieg.“ Mir ist stark aufgefallen, dass versucht wird, den ,normalen‘ Krieg von der Shoah zu trennen, so als wären dies zwei unterschiedliche Ereignisse gewesen. Das zweite Ereignis, die Judenvernichtung, fand woanders statt, und andere waren schuld, und sie, die Soldaten, haben sozusagen den ,normalen‘ Krieg gemacht. Natürlich stimmt das so nicht, aber es gibt nur ganz wenige Männer in diesem Film und auch auf den Videos, die wir uns bisher angeschaut haben, die es sich doch eingestehen, dass das eben gleichzeitig passiert ist, miteinander und vernetzt. Aufgefallen ist mir auch, dass die nachfolgenden Generationen diese Abspaltungsgeschichte ganz bewusst weiterführen; wir haben sehr gezielt unsere Generation und auch Jugendliche, Gruppen von Schülern zum Beispiel und Studenten, aus Deinen Aufnahmen herausgesucht. Auch von ihnen hört man immer : „Ja, also der Krieg ist so und so, und das andere war schrecklich. Dazu wollen wir eigentlich gar nichts sagen, das wissen wir ohnehin, dass das schrecklich war …“ Und ich frage mich, ob man diese ganz starre Abwehr durch die Ausstellung aufbrechen konnte. Das sind jetzt verschiedene Themen in einem. Ich glaube, wir sind auch schon beim zentralen Thema des Films, und das ist nicht der Krieg, sondern die Erinnerung. Die Erinnerung ist auch das, was mich interessiert hat, nämlich die Konstruktion der eigenen Lebensgeschichte und damit der eigenen Lebenslüge; denn jeder von uns erzählt sich natürlich sein eigenes Leben so, wie es ihm passt. Mich hat vor allem die Frage interessiert: Wie kann man damit leben, wie baut man sich das zusammen? Und da gibt es eben diesen breiten Fächer von ver-
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schiedenen, mehr oder weniger starren oder durchlässigen Lebenskonstruktionen. Es stimmt, es ist ganz selten, dass jemand einen Perspektivenwechsel schafft. Ich glaube im Film sind es drei Männer, die nicht nur von sich als damaligem Soldaten reden, sondern sich irgendwann auch überlegt haben: Wie haben mich die anderen gesehen? Das ist der Mann mit diesem österreichischen Steirerhut, den man am Anfang ganz anders einschätzt. Aber er entpuppt sich dann als einer, der ganz scharf sagt, dass er irgendwo in Polen in einer Kirche war, und da hat man ihn angeschaut, als wäre er der letzte Dreck: „Und eigentlich haben sie Recht gehabt.“ Und es ist dieser kleine Herr B., der bei der Erinnerung an russische Kriegsgefangene am Bahnhof in Minsk, die in einem Waggon eingesperrt nach Wasser schrien, weint. Er sagt auch: „Mein Freund ganz in der Nähe hat es nicht gesehen und gehört.“ Warum hat es der eine gesehen und der andere nicht? Und da ist der vorher erwähnte Sozialist, der am Schluss sagt: „Nach allem, was wir dem russischen Volk angetan haben, wundert es mich ja, dass sie nicht ganz Österreich und Deutschland zerstört haben.“ Das sind die drei, und ich glaube nicht, dass es im restlichen Material noch mehr gibt. Also diese Fähigkeit, sich in die anderen hinein zu versetzen und irgendwann einmal, später oder auch gleich am Ort des Geschehens, einen Perspektivenwechsel zu vollziehen, die ist nicht vorhanden. Ich habe mich während der Dreharbeiten immer wieder gefragt: Was sind das für Väter? Was haben die ihren Kindern mitgegeben? Ich glaube, dieser Mangel an Empathie, an der Möglichkeit, überhaupt ein Gefühl für die damaligen Opfer zu entwickeln, macht diese unglaubliche Starre aus, die einem so entgegenschlägt, wenn man diese Männer sieht. Nicht nur jetzt im Film, sondern auch in der Ausstellung war es für mich so: diese unglaubliche Abgeschlossenheit und Fremdheit, bei denen, die immer wieder die gleichen ritualisierten, eingeübten Sätze, eben „Krieg ist Krieg“ und „Krieg ist schrecklich“ wiederholen müssen, sich selbst wiederholen müssen. Sie tun das nicht, um mir jetzt irgendetwas zu beweisen, sondern für sich selbst, und damit machen sie eigentlich zu, es ist wie eine undurchlässige Wand. Eines der beeindruckendsten Erlebnisse war, in der Ausstellung als Frau diesen Männern gegenüber zu sitzen. Außer einem Juden hat mich niemand als Jüdin identifiziert. Das war schon erstaunlich. Peter Roehsler hat dann – sehr richtig, wie ich glaube – gesagt: „Weißt du, das ist doch ganz klar, für die sind Juden solche, die sie dort in Polen im Stetl gesehen haben, oder Stürmerjuden, und so schaust Du nicht aus.“ Das war schon beeindruckend, dass mich fast niemand etwas gefragt hat; dabei wollte ich immer erklären, wofür und für wen ich diesen Film mache. Die Leute wollten das gar nicht wissen, sie wollten reden. Es war so eine Art Beichtsituation. Viele wollten vom Krieg reden und von sich selbst als Opfer. Das war eine Fluchtmöglichkeit, die ich aber immer sehr schnell abgebrochen habe. Was mich auch sehr getroffen hat und was es manchmal
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unerträglich gemacht hat, war diese männlich-soldatische Gewalt, die da mitschwingt. Das hat mich auch sehr betroffen gemacht, als ich Deine Interviews angeschaut habe, nämlich die Akzeptanz der ,Normalität‘ des Krieges beziehungsweise die akzeptierte ,Normalität‘ von Gewalt, ohne dies in irgendeiner Form in Frage zu stellen – ganz abgesehen von den Verbrechen. Wie Du aber sagst, es ist schwierig, die Grenze zu ziehen, und in jedem Krieg werden die Grenzen auch anders gezogen. Insofern stellt sich für mich bei den Videos und bei der Beschäftigung mit diesem Thema die Frage, was ein ,normaler‘ Krieg überhaupt ist. Wenn ich diesen Männern zuhöre, wie sie alle für sich auf irgendeine Weise eine ,Normalität‘ definieren und sagen: „Das gehört zum Krieg, da ist eben auch Gewalt dabei, da muss man schießen und da tötet man auch, und es gibt dann eben auch unterschiedliche Formen des Tötens. Manche darf man töten, andere soll man nicht töten …“ Also der Rationalismus dieser Männer, der hat mich von Zeit zu Zeit halb wahnsinnig gemacht, und ich musste manchmal das Videogerät abdrehen. Ich habe es kaum ausgehalten. Wie bist Du mit Deiner Wut umgegangen? Am Anfang habe ich sie noch in Diskussion umgesetzt, aber dann habe ich mir einen sehr kalten Blick zugelegt und mir gedacht: „Redet nur. Redet nur, ich will das aufnehmen.“ Dazu muss ich etwas Wichtiges sagen: Diese Männer sind alt. Viele von ihnen haben, bevor sie in die Ausstellung gegangen sind, einen oder mehrere gehoben. Und komisch für mich war, dass sie Kindheitserinnerungen ausgelöst haben: Sie schauten aus wie die grauen hässlichen Männer meiner Kindheit in Wien. In Wirklichkeit hatten wir inzwischen die 1990er-Jahre und großen Wohlstand – und sie haben gewirkt wie arme Leute, obwohl sie aus den verschiedensten Schichten waren, und wenig artikuliert, irgendwie gebrochen, alt. Ich habe gespürt, dass ich ihnen allein schon wegen meiner Möglichkeiten, durch mein Alter und die Macht der Kamera überlegen bin. Ich wollte diese Überlegenheit nicht ausnutzen, das wäre leicht gewesen. Das Schwierigste war, eine Form zu finden, die sie weder denunziert noch lächerlich macht. Ich wollte mich aber auch nicht mit ihnen verbünden, was sonst bei einem Interview häufig geschieht. Meistens machen wir ja Dokumentarfilme über Opfer, über Schwarze, überlebende Juden oder andere uns eher sympathische Menschen. Und gerade bei einem Interview mit Kamera, wo man in kurzer Zeit viel erfahren will, geht es vor allem darum, eine sehr intensive Situation herzustellen. Ich sage immer, das ist so was wie eine Verliebtheit. Man muss diese Person plötzlich lieben und als Interviewerin eine Kraft und Intensität entwickeln, dass sie sich auch öffnet. Ein solches Gefühl konnte ich natürlich in dieser Situation nicht aufbringen, das wollte ich auch nicht. Ich wollte keine falsche
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Komplizenschaft mit diesen Männern eingehen. Das heißt, ich habe fast nichts gesagt. Ich habe genickt, ich habe immer wieder ermunternd gelächelt und nichts von meinen Gefühlen gezeigt. Zum Glück hatte ich Peter Roehsler, der eine große Hilfe war, mit dem ich immer wieder zwischendurch darüber reden konnte. Und ich habe ein Drehtagebuch geschrieben – das auch im Buch enthalten ist4 –, in das ich meine Gefühle während der Arbeit hineingeschrieben habe. Ich habe dort in der Ausstellung beinahe täglich irgendetwas geschrieben, um es loszuwerden. Aber wirklich unerträglich war ein Interview, das auch als Ganzes im Buch abgedruckt ist, mit diesem Nazi. Das war noch immer ein echter Nazi, der im Film über die Frauenbataillone redet. Dieser Mann sagt auch, wie dreckig die im Stetl in Polen waren, und überall seien die kleinen Judenjungen herumgestanden und hätten zu den Soldaten gesagt: „Ficki, ficki“, und wollten ihre Schwestern verkaufen, und … – eins nach dem anderen an solchen Dingen. Eineinhalb Stunden Interview habe ich, glaube ich, mit diesem Mann gemacht. Und als das zu Ende war, habe ich zu Peter Roehsler gesagt: „So, jetzt brauche ich einen Schnaps.“ Dann sind wir einen Schnaps trinken gegangen. Das war auch deshalb so unerträglich, weil er so über die Frauen geredet hat. Das war mir komischerweise vorstellbarer und unerträglicher als die Art, wie er über die Juden geredet hat. Weil mit den Frauen auch ein physischer Kontakt möglich war, die haben sie auch vergewaltigt. Da gab es wirklich einen körperlichen Kontakt, der aber auch mit so einer Gewalt aufgeladen war, und die war mir dann plötzlich so nah und gegenüber. Das war das Unerträglichste, das hätte ich nicht erwartet, dass mich die Geschichten über die Frauen mehr treffen als die über die Juden – vielleicht, weil wir diese schon so gut kennen. Und weil Du vorher von dieser Abspaltung der Shoah gesprochen hast: Eine ganz wichtige Erfahrung war auch, dass wirklich fast alle gemeint haben: „Wie schrecklich, Auschwitz und so weiter …“ – was auch schon so ein Stehsatz ist. Indem man das sagt, kann man wieder alles andere entschuldigen, die Partisanengeschichten, die Ermordung der Roma und Sinti und was immer sonst Schreckliches war. Wenn man sagt: „Auschwitz war schrecklich“, ist alles andere schon wieder in Ordnung. Diese Umkehrung – dass man das auch wieder benutzen kann, um anderes zu entschuldigen – war dort auch sehr präsent. Ich bin schon sehr resignativ oder skeptisch, ob es überhaupt gelingen kann, sinnvoll über die Vergangenheiten zu reden. Weil eben klar werden muss, dass Auschwitz nur ein Schritt in einer ganzen Kette von Schritten ist, eine Station auf diesem ganzen Weg der Judenvernichtung und der Vernichtung der Roma und anderer darstellt. Im Vergleich zu diesem schrecklichen Video, das man in der 4 Vgl. Beckermann, Jenseits des Krieges, wie Anm. 2.
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Ausstellung sieht, wo die russischen Kriegsgefangenen zu Tausenden verhungern, im Vergleich zu den vielen Bildern der Gehängten, der brennenden Kirchen – das sind alles unterschiedliche Manifestationen von Vernichtung – ist Auschwitz natürlich … … ist die industrielle Massenvernichtung schon eine Spezialität. Ich war in New York bei der Tagung, in deren Rahmen die Ausstellung hätte eröffnet werden sollen, aber eben nicht eröffnet wurde.5 Saul Friedländer hat dort einen großartigen Vortrag gehalten. Friedländer hat in einer Distanziertheit – man hat gespürt, dass sehr viel Emotion da ist, aber er hat das eben nicht pathetisch und nicht anklagend oder aggressiv gemacht – anhand von vielen Dokumenten und Tagebüchern nachvollzogen, wie es in einem Dorf in der Ukraine zur Entscheidung gekommen ist, 80 jüdische Kinder zu erschießen, deren Eltern schon vorher umgebracht worden waren. Er hat diesen Entscheidungsprozess so dokumentiert, dass klar wurde: Das war bewusst durchgeplant, da gab es Telegramme, Telefonate und Absprachen, die hin- und hergingen, von den beteiligten Priestern bis in den Generalstab und zurück zum ausführenden Wehrmachtssoldaten. Letztlich wurden diese 80 Kinder – etwa im Alter von drei bis sieben Jahren – erschossen. Und das hat den ganzen Versuch der Argumentation, der damals in der Luft gelegen ist, nämlich dass die Wehrmacht doch nicht an den Verbrechen beteiligt war, oder wenn, dann nur als Ausführende, eindeutig widerlegt. In diesem Sinn wollte ich eben auch zu Auschwitz, zur industriellen Vernichtung sagen, dass das sozusagen vom Schreibtisch aus organisiert war. Auch dort handelte es sich um völlig bewusste Entscheidungsmechanismen, das geschah nicht unter Druck, etwa um zu überleben. Man spricht zwar immer gegen das Verdrängen an, aber ich glaube, ohne Verdrängen kann man gar nicht leben; Verdrängen ist nicht unbedingt immer schlecht. Ich bin der Meinung, dass es nicht richtig war, in dieser ganzen Aufklärungsgeschichte immer Auschwitz zu betonen, vorrangig über Auschwitz zu sprechen. Wichtiger ist es – und das sehen wir in der jetzigen politischen Situation –, bereits über die 1920er- und 1930er-Jahre in Deutschland zu sprechen; darüber zu sprechen, wie die Nazis zum Beispiel in Thüringen an die Macht kamen, nämlich über einen Mechanismus der bürgerlichen Parteien, in einer 5 Die Tagung „International Symposium on Military War Crimes: History and Memory“ und das Filmprogramm, in dessen Rahmen auch Ruth Beckermanns Film gezeigt wurde, fanden vom 3. bis 6. Dezember 1999 statt und waren als Begleitprogramm zur ursprünglich für den 2. Dezember geplanten Ausstellungseröffnung konzipiert. Der Ausstellungstermin in New York war als einer der ersten von jenem im Vorspann schon genannten Moratorium betroffen, unter dem die Ausstellung wegen später widerlegter Fälschungsvorwürfe stand.
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Koalition mit den Bürgerlichen – das war im Jahr 1930.6 Es ginge darum, über die Anfänge zu sprechen und über Massenphänomene, über Widerstand, über Zivilcourage und all das. Denn Auschwitz ist unvorstellbar – für jeden von uns. Zum Glück ist das unvorstellbar. Und aus Auschwitz kann man auch nichts lernen. Das ist wirklich anus mundi, was soll man daraus lernen? Ich wollte auch noch etwas über das Verdrängen sagen. Es gibt ein sehr interessantes Buch von Michael Ignatieff, „Die Zivilisierung des Krieges“7, in dem er über die heutige Form von Kriegen und den heutigen Umgang mit Opfern schreibt. Ein Fazit ist: Nicht immer und vielleicht nicht in allen Gesellschaften ist es das Richtige, die Vergangenheit aufzuarbeiten und durchzuarbeiten, zu wiederholen und wieder durchzuarbeiten im Freud’schen Sinn. Es gibt vielleicht auch andere Möglichkeiten, wie in Südafrika zum Beispiel oder in Südamerika. Gesellschaften gehen verschieden mit ihrer Geschichte um. Aber der wesentliche Unterschied zwischen Südafrika oder Chile und hier ist, dass die betroffenen Menschen dort leben, dass die Opfer dort leben. Hier leben ja die Opfer nicht mehr. Hier hat man die Opfer umgebracht oder vertrieben. Es gibt in Österreich vielleicht noch 10.000 Juden. Mit wem soll denn so eine Auseinandersetzung stattfinden? Es gibt uns hier eigentlich nicht. Auch wenn die Juden noch so gequält und versklavt worden wären; wenn sie überlebt hätten, wäre eine ganz andere, wirklich eine gesellschaftliche, öffentliche Auseinandersetzung möglich gewesen, es hätte mehr Widerstand gegeben. Aber es waren fast nur noch die Täter hier. Die anderen waren weg, ganz wenige waren nur noch hier, und die waren selbst gebrochen von diesem Ausmaß des Leides und der Toten, und damit beschäftigt. Ich glaube, die wesentliche Voraussetzung für eine Aussöhnung (reconciliation) ist, dass es die Opfer noch gibt. Aber die Opfer der Shoah gibt es nicht mehr. Ich würde jetzt zum Abschluss noch gerne auf ein Video von Dir aus der Ausstellung zurückkommen. Du hast es im Film nicht verwendet, weil es die Frau, eine alte Frau aus Kärnten, nicht wollte. Diese Frau hat mich unendlich beeindruckt. Sie ist – kurz rekapituliert – eine sehr einfache Frau, eine Bäuerin, so weit ich mich erinnere, mit drei oder vier Söhnen, und sie war auch mit zweien davon in der Ausstellung. Sie sagt, sie will, dass sie das sehen. Ihr Mann war bei der Wehrmacht und offensichtlich an Kriegsverbrechen in Frankreich beteiligt, also nicht an der Ostfront. Er hat sich an einem Weihnachtsabend zwei Jahre nach Kriegsende umgebracht, weil er es nicht ausgehalten hat. Was mich bei dieser Frau 6 Nach den Landtagswahlen vom Dezember 1929 kam es im Januar 1930 in Thüringen zur ersten Landesregierung mit nationalsozialistischer Beteiligung, Wilhelm Frick war erster NSDAPMinister, zuständig für Inneres und Volksbildung. 7 Michael Ignatieff, Die Zivilisierung des Krieges. Ethnische Konflikte, Menschenrechte, Medien, Hamburg 2000.
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so beeindruckt hat, war erstens, dass sie ihm verziehen hat. Sie hat gesagt: „Das muss sowieso so schrecklich für ihn gewesen sein, denn sonst hätte er sich ja nicht aus Schuldgefühlen umgebracht.“ Sie wusste zwar nie ganz genau, was er getan hatte, aber es muss eben schrecklich gewesen sein. Und das Zweite war, dass sie ihre Kinder auf diese Weise erzogen hat, dass sie gesagt hat: „Die müssen sich das anschauen, die müssen alles wissen.“ Und das Dritte, was mich dann wieder erschüttert hat, war, dass sie gesagt hat, sie will nicht in dem Film vorkommen, weil wer weiß, was ihren Kindern dann passieren könnte. Man muss die Söhne schützen, denn die wollen ja eine Arbeit haben in Kärnten und so weiter. Das war für mich so eine ganz, ganz beeindruckende Erscheinung in Deinen Interviews. Und es ist sicher kein Zufall, dass das eine Frau ist, die eine solche Kraft ausgestrahlt hat; sie muss arm gewesen sein, als sie nach dem Krieg ihre Söhne großzog, alles allein bewältigt hat. Ich habe zum Glück schon viele solcher Menschen kennengelernt, immer wieder. Also dieser Herr B., der weint und was erzählt … Auch diese schöne Frau, die ziemlich am Ende des Films vorkommt und erzählt, dass sie als Zwölfjährige gesehen hat, wie ein französischer Kriegsgefangener flüchtete, und dass sie sich ihr Leben lang gefragt hat, ob er durchgekommen ist. Das war auch eine, die in dieser Gesellschaft nie zu Wort gekommen ist, weil die anderen immer so laut schreien.
2. Feminismen und Frauenbewegungen – national/global
Michelle Perrot im Gespräch mit Alice Pechriggl (1993)*
Zur Entstehungsgeschichte der „Histoire des femmes en Occident“**
Nachdem in Frankreich – im medialen Schatten von Metaphysik und ,Poetik der Weiblichkeit‘ – eine Gruppe von Historikerinnen und anderen Geisteswissenschaftlerinnen über Jahre hinweg ihre Auffassung von Frauengeschichte diskutiert und erarbeitet hatte, ist 1990 mit „Storia delle donne“1, 1991 mit „Histoire des femmes en Occident“2 eine vorläufige Bilanz dieser Arbeiten zustande gekommen. Dieses Werk hat nicht zuletzt einen Einbruch oder zumindest eine Unterbrechung des „dogmatischen Schlummers“, in dem sich der französische Feminismus zu befinden schien, herbeigeführt. Nicht mehr zur metaphorischen Entität „Anderes = Weiblichkeit“ versammelt, sollten Frauen ebenso wenig zum bloßen Objekt einer kategorialisierenden Forschung gemacht werden. Vielmehr wurden sie in der Vielfalt ihrer Darstellungs- und Seinsweisen aufgesucht: als von Männern vorgestellte, verschwiegene, idealisierte und stereotypisierte einerseits; als sich selbst inszenierende, Unterdrückung erleidende, gemeinsam aufbegehrende – mit einem Wort als wirkliche(re) Frauen andererseits. Kein Zweifel, dieses Werk trägt dem Rechnung, was bisweilen zu wenig Beachtung fand: dem gesellschaftlichen Imaginären als einem männlich geprägten, das nicht nur den ökonomisch, technisch oder materiell bestimmten Regeln einer Unterdrückerfunktionalität gehorcht, sondern ebenso der Unberechenbarkeit der Fantasie. * Alice Pechriggl, Philosophin und Gruppenpsychoanalytikerin, ist seit 2003 Universitätsprofessorin am Institut für Philosophie der Universität Klagenfurt. Ihre Forschungs- und Publikationsschwerpunkte sind antike griechische und Gegenwartsphilosophie, philosophische Geschlechteranthropologie und Philosophie der Politik. Das Gespräch mit Michelle Perrot wurde im Frühjahr 1993 in Paris geführt, in französischer Sprache; Alice Pechriggl absolvierte dort – nachdem sie 1990 an der Universität Wien promoviert wurde – gerade ein PhD-Studium an der Pcole des hautes 8tudes en sciences sociales. ** Zuerst veröffentlicht in L’Homme. Z. F. G., 4, 2 (1993): Offenes Heft, hg. von Christa Hämmerle u. Bärbel Kuhn, 100–106. Erscheint hier mit erweiterter und aktualisierter Einleitung und geringfügiger sprachlicher Bearbeitung. 1 Georges Duby u. Michelle Perrot (Hg.), Storia delle donne, I–V, Roma/Bari 1990. 2 Georges Duby u. Michelle Perrot (Hg.), Histoire des femmes en Occident, I–V, Paris 1991.
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Feminismen und Frauenbewegungen – national/global
Als Mitbegründerin der erwähnten Gruppe gilt Michelle Perrot als eine der Pionierinnen der Frauengeschichte. Gemeinsam mit Georges Duby zeichnet sie hauptverantwortlich für die fünf Bände der „Histoire des femmes en Occident“. Das Gesamtwerk wurde von einem Herausgeberinnenkollektiv erarbeitet, wobei jeweils eine oder zwei Historikerinnen für einen Band zuständig war/en: Pauline Schmitt Pantel für Band I über die Antike, Christiane Klapisch-Zuber für Band II über das Mittelalter, Natalie Zemon Davis und Arlette Farge für Band III, welcher den Zeitraum vom 16. bis zum 18. Jahrhundert behandelt, GeneviHve Fraisse und Michelle Perrot für Band IV über das 19. Jahrhundert und FranÅoise Th8baud für Band V über das 20. Jahrhundert. Und doch ist es vor allem der Name Perrots, der auch international für dieses historische Mammutwerk steht – ebenso wie für andere, teilweise damit verbundene neue Strömungen der französischen Historiografie: der Geschichte des Alltags, des privaten Lebens3 oder der „Ego-Histoire“.4 Sie wurde maßgeblich beeinflusst von Michel Foucault,5 mit dessen Werk sie sich intensiv auseinandersetzte, und verfasste eine umfangreiche Studie über die Geschichte der französischen Arbeiterbewegung, der Gewerkschaften und der Streiks im 19. Jahrhundert.6 Neben Forschungen zur Geschichte der Frauen im 19. Jahrhundert7 veröffentlichte Perrot auch immer wieder theoretische Reflexionen dazu und fungierte als Koordinatorin bedeutender feministischer Wissenschaftstagungen und Herausgeberin von Sammelwerken8 – 1991 eben der „Histoire des femmes en Occident“.9 Viel beachtete weitere frauen- und ge3 Michelle Perrot ist Herausgeberin des vierten Bandes der Geschichte des privaten Lebens: Philippe AriHs u. Georges Duby (Hg.), Histoire de la vie priv8e, I–IV, Paris 1985–1987; IV: De la r8volution / la grande guerre, Paris 1987 (dt.: Geschichte des privaten Lebens, I–IV, Frankfurt a. M. 1988–1992; IV: Von der Revolution zum Großen Krieg, Frankfurt a. M. 1992). 4 In ihrer „Ego-Histoire“ hat Michelle Perrot – beginnend mit der Kindheit – ihren Werdegang zur Professorin der Geschichte dargelegt: Pierre Chaunu, Georges Duby, Jacques le Goff and Michelle Perrot, Essais d’ego-histoire, Paris 1987 (dt.: Leben mit der Geschichte. Vier Selbstbeschreibungen, Frankfurt a. M. 1989). 5 Vgl. z. B. Michelle Perrot (Hg.), L’impossible prison. Recherches sur le systeme penitentiaire au XIXe siHcle. Debat avec Michel Foucault, Paris 1980. 6 Michelle Perrot, Les ouvriers en grHve. France 1871–1890, Paris/La Haye 1974. 7 Auf Deutsch ist etwa erschienen: Michelle Perrot, Rebellische Weiber. Die Frau in der französischen Stadt des 19. Jahrhunderts, in: Claudia Honegger u. Bettina Heintz (Hg.), Listen der Ohnmacht. Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen, Frankfurt a. M. 1981, 71–98. 8 Vgl. Michelle Perrot (Hg.), Une histoire des femmes est-elle possible?, Paris 1984 (dt.: Geschlecht und Geschichte. Ist eine weibliche Geschichtsschreibung möglich?, Frankfurt a. M. 1989). 9 „Histoire des femmes en Occident“ (wie Anm. 2) ist in den Sprachen Italienisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Brasilianisch, Deutsch, Niederländisch und Englisch erschienen. In der deutschen Ausgabe wurden die fünf Bände als „Geschichte der Frauen“ veröffentlicht: Georges Duby u. Michelle Perrot (Hg.), Geschichte der Frauen, I–V, Frankfurt a. M./New York
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schlechtergeschichtliche Publikationen Perrots folgten;10 darunter die 2009 mit dem Prix Femina Essai ausgezeichnete „Histoire de chambres“, eine 2018 auch ins Englische übersetzte intime Geschichte des Schlafzimmers, als Ort, an dem nicht nur Liebe und Sexualität, sondern auch Krankheit und Gesundheit, Körper und Geist, Religion und Macht miteinander verwoben und zudem mit Geschlechterfragen verbunden sind.11 Geboren wurde Michelle Perrot im Jahr 1928. Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte sie Geschichte an der Sorbonne in Paris, unter anderem bei Ernest Labrousse. Ab 1951 war sie zuerst als Lehrerin in einem Mädchengymnasium in Caen tätig, kehrte aber nach einigen Jahren nach Paris zurück und wurde Assistentin an der Sorbonne, schließlich Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Jussieu, heute Denis Diderot (Paris VII), an der die einflussreiche Vertreterin der französischen Sozialgeschichte und Pionierin der Frauengeschichte auch emeritierte. 2014 erhielt Michelle Perrot den Prix Simone de Beauvoir, der seit 2008 an Persönlichkeiten vergeben wird, die sich in ihrem Wirken und Werk für la libert8 des femmes einsetzen. Das folgende Gespräch mit Michelle Perrot thematisiert über die Entstehungsgeschichte der „Histoire de femmes en Occident“ hinaus den Stand der französischen Frauen- und Geschlechtergeschichtsforschung in den frühen 1990er-Jahren und das der Neuen Frauenbewegung verbundene Selbstverständnis der beteiligten Historikerinnen. Alice Pechriggl: Könnten Sie die Geschichte der Gruppe feministischer Historikerinnen skizzieren, die sich vor mehr als zwanzig Jahren konstituiert hat und die nun hinter der Produktion von „Histoire des femmes“ steht? Michelle Perrot: Wir haben in Frankreich zu Beginn der 1970er-Jahre begonnen, uns wirklich für die Geschichte der Frauen zu interessieren. Zum Beispiel haben wir 1973 in Jussieu eine Vorlesung für Student/inn/en aus dem ersten und zweiten Studienjahr gehalten, die den Titel trug „Les femmes ont-elles une histoire?“. Ich hielt diese Vorlesung mit zwei Kolleginnen, von denen die eine – 1993–1995; Bd. I: Antike, editorische Bearbeitung der deutschen Ausgabe Beate WagnerHasel, 1993; Bd. II: Mittelalter, editorische Betreuung der deutschen Ausgabe Claudia Opitz, 1993; Bd. III: Frühe Neuzeit, editorische Betreuung der deutschen Ausgabe Heide Wunder und Rebekka Habermas, 1994; Bd. IV: 19. Jahrhundert, editorische Betreuung der deutschen Ausgabe Karin Hausen, 1994; Bd. V: 20. Jahrhundert, editorische Betreuung der deutschen Ausgabe Gisela Bock, 1995. Alle fünf Bände der deutschen Ausgabe sind inzwischen seit vielen Jahren vergriffen. 10 Vgl. u. a. Michelle Perrot, Les femmes ou les silences de l’histoire, Paris 1998; dies., Mon histoire des femmes, Paris 2006. 11 Michelle Perrot, Histoire de chambres, Paris 2009 (engl.: The Bedroom. An Intimate History, Yale 2018).
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Pauline Schmitt – die Herausgabe des ersten Bandes der „Histoire des femmes“ u¨ ber die Antike besorgte. Die andere Kollegin ist diesen Weg nicht weitergegangen. Zur gleichen Zeit haben sich kleine Arbeitsgruppen gebildet, die sich nicht nur aus Historikerinnen zusammensetzten; so wurde beispielsweise im gleichen Jahr eine Gruppe für feministische Studien gegründet, der viele Historikerinnen angehörten, aber ebenso Anglistinnen, Literaturwissenschaftlerinnen usw. Danach gab es eine andere Gruppe, die sich mehr auf die Geschichtsforschung bezog; das war die Gruppe an der ðcole des hautes 8tudes en sciences sociales in Paris. Hier finden wir bereits die ganze Herausgeberinnengruppe von „Histoire des femmes“: Pauline Schmitt, Christiane Klapisch-Zuber, die Mediävistin an der Pcole des hautes 8tudes en sciences sociales ist, Arlette Farge, die Mitglied des CNRS12 ist, aber stark an der Arbeit dieser Gruppe beteiligt war, GeneviHve Fraisse, die Philosophin am CNRS ist und auch stark daran beteiligt war, ich und andere, die in den fünf Bänden ebenfalls etwas geschrieben haben. Es ging also von Jussieu und der Pcole des hautes 8tudes en sciences sociales aus. Als wir 1979 die Zeitschrift „P8n8lope“ gegründet haben, geschah dies auch in Zusammenarbeit zwischen Jussieu und der Pcole des hautes 8tudes en sciences sociales: Die erwähnte Gruppe erarbeitete die Beiträge, und die Infrastruktur für den Druck stand uns in Jussieu zur Verfügung. Dieselben Frauen finden wir wieder in einem Buch „L’Histoire sans qualit8s“, das 1977 erschien.13 Auch 1983 bei dem Symposium „Une histoire des femmes est-elle possible?“14 trafen sich alle wieder. Wenn es auch vor allem die Pariser Gruppe von Jussieu und der Pcole des hautes 8tudes en sciences sociales war, welche die Frauengeschichte in Frankreich entwickelt hat, so war es doch nicht ausschließlich sie: Es gab auch andere, insbesondere die Gruppe um Yvonne Knibiehler, die in Aix-Marseille eine Professorinnenstelle erhielt. Sie hat in Aix-Marseille viel zur Frauengeschichte beigetragen. Dort fand 1977 auch eines der ersten Symposien zum Thema „Frauen und Geisteswissenschaften“ statt. Die Frauen dieser sehr aktiven Gruppe gaben ein Bulletin heraus, das „BIEF“, und veranstalteten unter anderem ein Symposium zum Thema „Frauen und Stadt“. Wie kam es, dass der Verlag dieses Werk produzierte? Ist er zuerst an Georges Duby herangetreten oder an Sie? 12 Centre National de Recherches Scientifiques: eine Forschungsinstitution, in deren einzelnen Zentren und Projekten über ganz Frankreich verteilt staatlich bezahlte Wissenschaftler/ innen auf einer Vielzahl von Gebieten forschen. 13 Christiane Dufrancatel u. a. (Hg.), L’Histoire sans qualit8s, Paris 1979. 14 Vgl. Perrot, Une histoire des femmes, wie Anm. 8.
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An Georges Duby, und zwar aus ganz einfachen Gründen: Es war der Verlag Laterza, der die „Histoire de la vie privee“15 auf Italienisch übersetzen ließ und publizierte. Duby und Philippe AriHs haben dieses Werk herausgegeben, und ich hatte die Leitung des Bandes zum 19. Jahrhundert übernommen. Ich selbst hatte keinen Kontakt zu Laterza. Aber die erfolgreiche Herausgabe der „Geschichte des privaten Lebens“ brachte die Verleger auf die Idee, eine Geschichte der Frauen herauszugeben. Ursprünglich wollten sie eine Geschichte der Frau – Storia della donna. Sie haben Duby davon erzählt, und dieser fand, dass es sich um eine sehr gute Idee handle und dass er sich gerne darum kümmern würde, allerdings nicht alleine, weil er die Arbeiten der Frauen nicht gut genug kenne. Er sagte, dass er mich fragen würde, weil er wusste, dass ich seit einiger Zeit mit diesem Thema befasst war. Duby machte also seine Mitarbeit von meiner Zusage abhängig, was dazu führte, dass die Verleger an mich herantraten. Das war Ende 1987, und ich hatte erst sechs Monate zuvor die wirklich schwierige und langwierige Arbeit an der „Geschichte des privaten Lebens“ abgeschlossen. Ich hatte mir gesagt, dass ich nun genug hätte von den Kollektivwerken und keine mehr machen wollte. So lehnte ich zuerst ab. Dann sagten mir die von Laterza, dass fu¨ r Duby alles von mir abhänge. Ich begann zu zweifeln und nachzudenken, weil ich irgendwie Gewissensbisse bekam: Vielleicht würde es sich um eine einmalige Gelegenheit handeln, die bereits zahlreich, aber verstreut vorhandenen Nachforschungen teilweise zusammentragen zu können. So könnte die Frauengeschichte, die wir seit Jahren zu entwickeln suchten, sichtbar gemacht werden und neue Impulse erhalten. Nach einem Monat erzählte ich meinen Freundinnen davon – was so viel hieß wie, dass ich begonnen hatte, die Sache zu akzeptieren. Ich sprach mit den schon erwähnten Frauen, mit Pauline Schmitt, Christiane Klapisch, GeneviHve Fraisse, Arlette Farge und FranÅoise Th8baud, die eine meiner Schülerinnen ist. Nachdem ich ihnen den Vorschlag, der uns gemacht worden war, unterbreitet hatte, trafen wir uns mehrmals, um daru¨ ber zu diskutieren. 1988 gaben wir unsere Zustimmung. 1990 erschien der erste Band in ltalien. Markiert dieses Monumentalwerk das Ende der zweiten Phase Ihrer gemeinsamen Arbeit zur Frauengeschichte, oder handelt es sich eher um die Eröffnung einer dritten Phase? Die erste Phase wäre jene, welche die dichotomische Geschichte der Beherrschung und Unterwerfung der Frauen bezeichnet. Die zweite Phase wäre jene von einer gewissen Erbaulichkeit geprägte Geschichte der impliziten Macht der Frauen hinter den Kulissen der politischen Weltgeschichte. Die nun begonnene dritte Phase, so würde ich meinen, ist jene, die den Blick auf die Heteronomie der Frauen im und gegenüber dem männlich dominierten gesell15 Vgl. AriHs/Duby, Histoire de la vie priv8e, wie Anm. 3.
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schaftlichen Imaginären eröffnet. Diese Problematik scheint jedenfalls einen zentralen Reflexionspunkt des Werkes auszumachen. Würden Sie dem zustimmen? Ja, ich denke schon. Sehen wir zuerst, wie alles organisiert war. Die Herausgeberinnengruppe hat immer gemeinsam funktioniert, als Gruppe der Frauen. Georges Duby haben wir von Zeit zu Zeit gesehen. Er war sehr solidarisch, aber irgendwie außerhalb, weil es doch unsere eigene Arbeit war. Wir sahen uns sehr oft, um unsere Standpunkte zu vergleichen, um zu sehen, wie weit jede war. Jede Herausgeberin eines Bandes hatte die Aufgabe, für ihren Band eine eigene Gruppe zusammenzustellen, wobei ihre Vorschläge der Herausgeberinnengruppe mitgeteilt und von ihr diskutiert wurden. Eine der Ideen, die wir alle teilten, war das Bestreben, über den Begriff des Imaginären nachzudenken. Das ging so weit, dass uns zuweilen auch vorgeworfen wurde, es u¨ berzubewerten. Es ging also darum, dieses Imaginäre, in dem die Frauen gezeigt werden, zu begreifen; die Diskurse, in denen über Frauen gesprochen wird, die Strategien, mit denen das Geschlecht der Frauen gebildet, formiert wird, all das war für uns sehr wichtig und ist deshalb in den fünf Bänden sehr stark präsent. Andererseits gab es auch ein Einverständnis daru¨ ber, dass wir uns sehr wohl unter männlicher Herrschaft befinden. Soweit wir unseren Blick in die Geschichte zurückwenden, sehen wir nur männlich beherrschte Gesellschaften. Das heißt selbstverständlich nicht, dass die Frauen überhaupt keine Macht haben, aber diese Macht ist immer Gegenmacht, Gegenstrategie oder in einem Herrschaftssystem angesiedelte Zustimmung. Schließlich wollten wir eine Geschichte der Geschlechterverhältnisse machen oder dieser zumindest als einer Perspektive, die hinter der Frauengeschichte steht, Rechnung tragen. Es ging nicht darum, die Frauen isoliert zu sehen, sondern stets darum, sie immer wieder innerhalb der Geschlechterverhältnisse anzusiedeln. Denn von dem Moment an, wo es sich um ein gesellschaftlich und kulturell konstruiertes Verhältnis zwischen Männern und Frauen handelt, gibt es klarerweise keine ,weibliche Natur‘ und ebenso wenig eine männliche. Um auf die kollektive Arbeit zuru¨ ckzukommen: Steht diese Art Ihrer gemeinschaftlichen oder gemeinsamen Erarbeitung in einem Zusammenhang mit der anfangs beschriebenen Geschichte dieser Gruppe? Gibt es hierin nicht auch einen politischen Aspekt? Gemeinsam. Gemeinschaftlich ist wohl etwas übertrieben. Aber die Gruppe, welche „Histoire des femmes“ herausgegeben hat, ist eine Gruppe von Freundinnen, die sich schon lange kennen. Das gilt natürlich nicht für alle siebzig
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Personen, die in diesen Bänden etwas geschrieben haben. Denn sobald jede Herausgeberin eines Bandes sich überlegte, wer die beste Historikerin – oder der beste Historiker – für diese oder jene Frage ist, von diesem Moment an waren es wissenschaftliche Kriterien, welche die Auswahl der Autor/inn/en bestimmten. Haben Sie sich die Frage nach der Mitarbeit der Männer gestellt oder war diese selbstverständlich? Die Teilnahme der Männer war selbstverständlich, sie wurde nicht einmal diskutiert. Bestimmt gab es auch seitens der Männer ein implizites Einverständnis mit der grundsätzlicheren Ausrichtung des Werkes, zum Beispiel mit der Idee männlicher Herrschaft als Paradigma der Geschichte der Gesellschaften – diese Idee ist u¨ brigens sowohl in der Ethnologie als auch in der Geschichte kaum bestritten. Doch es ist selbstverständlich, dass wir von niemandem – Mann oder Frau – das Einlenken auf eine derartige Linie verlangt haben. Dass die Frauengeschichte zum Gegenstand der Nachforschungen genommen wird und die Geschlechterverhältnisse als fundamentale Gegebenheit in der Geschichte akzeptiert werden, war ausreichend. Wenn insgesamt nur wenige Männer – es sind kaum mehr als 15 Prozent – mitgearbeitet haben, dann deshalb, weil sich wenige männliche Historiker fu¨ r diese Zugangsweise interessieren. Im Zuge der Frauenbewegung waren es die Frauen – innerhalb und außerhalb der Universitäten –, die u¨ ber ihre Geschichte nachdenken wollten und diese Forschungen unternahmen. Dies ist de facto so, nicht de jure – es ist eine faktische Gegebenheit, keine normative. Es wäre gefährlich, diesen oder jenen Bereich der Geschichte denjenigen vorzubehalten, die ihm angehören: den Arbeitern und Arbeiterinnen ihre Geschichte, den Schwarzen die Geschichte der Schwarzen, den Frauen die Frauengeschichte etc. Dieser kommunitaristische Standpunkt wäre gefährlich und wider den Universalismus; jeder und jede kann die Geschichte aller und von allem schreiben. Dies scheint mir die einzige befreiende, vernu¨ nftige und wissenschaftliche Haltung zu sein. Hatten Sie Schwierigkeiten mit den italienischen Verlegern bezu¨ glich der Organisation des Werkes, der Tatsache, dass Sie keine chronologische Abfolge oder Erzählung anbieten, sondern dass es sich vielmehr um verschiedene Zugangsweisen und Gesichtspunkte handelt, die keinem eindeutigen geschichtsphilosophischen Standpunkt zuzuordnen sind? Das war kein Problem. Sie haben uns völlige Freiheit gelassen, bis auf einige Vorgaben zu Beginn. So einigten wir uns darauf, dass es fu¨ nf Bände geben wu¨ rde, dass diese jeweils 600 Seiten haben würden und einem möglichst großen Pu-
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blikum gewidmet sein sollten, welches u¨ ber eine gewisse Bildung verfu¨ gt. Denn zuweilen neigen die Texte doch dazu, schwer verständlich zu sein. Wir sollten also versuchen, populär zu schreiben, ohne zu viele Fußnoten, also halbwegs synthetisch und klar. Die andere Sache war eine Auflage bezüglich der Bilder, weil die Verleger die Bände nicht teuer verkaufen wollten. Das schließt einen Vierfarbendruck aus. Die Bilder sollten also in schwarz-weiß sein, und es sollten nicht zu viele sein. Sie wurden in einer Art „Bildheft“ in der Mitte eines jeden Bandes zusammengestellt. Dadurch waren wir gezwungen, die Bilder nicht zur Illustration zu verwenden, sondern diese Bildhefte als Reflexionsinstrument zu konzipieren. Sie sollten also zur Antwort auf die Frage beitragen, welche die in der jeweiligen Periode vorherrschenden – oder marginalen, auf jeden Fall bedeutungsvollen – Vorstellungen waren. Das hat uns motiviert, uns nicht an lllustrator/inn/en zu wenden, sondern an Spezialist/inn/en fu¨ r die frauenbezogene Ikonografie, was sich als ganz und gar interessanter Aspekt herausstellte. All diese Anforderungen wurden allerdings von den Verlagen der anderen Länder nicht übernommen. Zum Beispiel wollte der französische Verlag mehr Bilder. Und in Spanien, wo eine sehr luxuriöse Ausgabe gemacht wurde, die mit den Ausgaben in Frankreich oder in Italien nichts mehr zu tun hat, wollten die Verleger für alles Bilder haben. Sie haben sich selbst darum gekümmert. Manchmal waren die Herausgeberinnen der Bände dann auch unzufrieden mit deren Auswahl. Pauline Schmitt zum Beispiel sagt, dass Bilder ausgewählt wurden, die in Widerspruch stehen zu dem, was sie geschrieben hat. In den Texten, die in Frankreich zur Frauengeschichte veröffentlicht wurden, ist oft eine Spannung zwischen der Betonung, dass diese neue Geschichtsschreibung untrennbar mit der Frauenbewegung verbunden, ja, dass sie feministisch sei, einerseits und einer Distanzierung von feministischer Dogmatik andererseits zu bemerken. Wie sehen Sie diese Spannung? Sie haben vollkommen recht. Die Frauengeschichte ist gebunden an die Frauenbewegung, in der wir alle engagiert waren – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, aber jedenfalls solidarisch mit den Bewegungen und Demonstrationen der 1970er-Jahre. Wir nehmen also klar Stellung und diesbezüglich eine Position ein. Andererseits besteht unser Beitrag, unsere Teilnahme an der Frauenbewegung, insofern wir Intellektuelle sind, darin, Frauengeschichte zu machen. Das heißt: Wir sind Historikerinnen, und die Historiker sprechen im Allgemeinen nicht von Frauengeschichte. Und wir werden versuchen, unser feministisches Engagement und unsere Arbeit dadurch in Einklang zu bringen, dass wir Frauengeschichte machen.
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Es stimmt natürlich, dass es innerhalb des Feminismus mehrere Familien gibt. So gibt es eine, die differentialistisch genannt werden könnte, essentialistisch, die an das Weibliche glaubt – an ein Weibliches, das ein strukturierendes Prinzip sei, eine weibliche Schrift erkläre, eine weibliche Andersheit ausmache, die sogar Trägerin eines alternativen Gesellschaftsentwurfes sein könne. Ich würde sagen, dass diese Position in Frankreich von der Strömung Psychoanalyse et Politique vertreten wurde, rund um den Verlag Pdition des Femmes.16 Wir waren niemals dieser Ansicht, wohl auch, weil wir Historikerinnen sind. Denn für uns als Historikerinnen ist diese Position völlig unmöglich. Wir glauben nicht wirklich an Unveränderlichkeiten oder stellen diese irgendwohin, ohne zu wissen, was damit anzufangen wäre. Für eine/n Historiker/in ist die Tatsache, dass das Weibliche und das Männliche konstruiert sind, vollkommen befriedigend. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen war es nicht einmal so sehr eine Wahl, sondern es traf sich, dass eine bestimmte Form des Feminismus mit der Eigenschaft, Historikerin zu sein, gut zusammenging. Steht diese Distanzierung von simplifizierenden Sichtweisen in einem Zusammenhang mit der Erfahrung dessen, was Gramsci – allerdings unkritisch – den organischen Intellektuellen der Arbeiterklasse nannte? Und spielt darin – neben dem Berufs- und Forschungsethos einer Historikerin – nicht auch etwas anderes eine Rolle: nämlich eine verinnerlichte Zensur des französischen Akademismus? Ich denke beispielsweise an Arlette Farge, bei der mir die Wiederholung dieser Distanznahme auffiel.17 Sie erschien mir geradezu überflüssig angesichts der Tatsache, dass die Differenziertheit der Sichtweisen, der Zugänge und der Abwägungen in den Arbeiten zur Frauengeschichte ohnehin augenscheinlich ist. Es ist wahrscheinlich, dass wir bewusst oder unbewusst – da es einmal ein Unbewusstes gibt – alle einerseits in Richtung Frauen schauten und andererseits gleichzeitig einen Blick auf die akademische Zunft warfen. Das ist klar. Für – wenn auch in unterschiedlichem Maße – professionelle Historikerinnen, die bestimmte Positionen erlangt und, um mit Bourdieu zu sprechen, ein symbolisches Kapital angehäuft haben, das in manchen Fällen beträchtlich ist, geht es 16 Dieser Strömung gehörten in den 1970er-Jahren v. a. Antoinette Fouque, H8lHne Cixous, Julia Kristeva und Luce lrigaray an. Als die Gruppe das Zeichen der französischen Frauenbewegung MLF (Mouvement de lib8ration des femmes), eine Faust im Kreis des Frauenzeichens, zum Firmenemblem des Verlags Pdition des Femmes machte, war der Bruch zwischen der Gruppe und den anderen Feministinnen, der zuvor hauptsächlich inhaltlich begründet war, institutionalisiert. 17 Vgl. Arlette Farge, Dix ans d’histoire des femmes, in: Le Debat, 23 (1983), 161–170; dies., Pratique et effets de l’histoire des femmes, in: Perrot, Une histoire des femmes, wie Anm. 8, 18–35.
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selbstverständlich darum, nicht irgendetwas zu sagen: Es ist wahrscheinlich, dass dies im Sinne einer gewissen Respektabilität eine Rolle gespielt hat und auch zu diesen wiederholten Distanznahmen beigetragen hat. Ich denke, dass eines der Dinge, welche für uns am klarsten auf dem Spiel stehen, der Einzug der Frauengeschichte in die Disziplin Geschichte ist. Das impliziert, dass wir uns an eine überwiegend männliche Welt richten, denn die Geschichte bleibt in Frankreich sehr männlich, vor allem in den Machtpositionen. Denken Sie sich, dass es hier an der Universität – allgemein – nur neun Prozent Frauen gibt, und in der Geschichtswissenschaft sind es noch weniger. Die Geschichte ist eine viel männlichere Disziplin, als es beispielsweise die Disziplinen der Fremdsprachen oder der Literatur sind, wo der Frauenanteil ziemlich hoch ist. Das hat mehrere Gründe. Zum einen ist die Geschichtswissenschaft in Frankreich eine prestigereiche Disziplin. Die französische politische Kultur ist sehr historisch. „Lieux de m8moire“18 von Pierre Nora, mit seinen Überlegungen zur Rolle, welche die Geschichte in der Konzeption der Nation spielt, ist ganz typisch dafür. Am Institut für Politikwissenschaften oder an der ENA, der Pcole Nationale d’Administration, in der die zukünftigen Staatsverwalter herangebildet werden, stellt Geschichte einen Schwerpunkt dar. Das heißt, dass die französische nationale Identität über eine Geschichtskultur vermittelt wird. Das hat eine politische Bedeutung, es bedeutet Macht, und sobald dies so ist, haben wir die Männer da. All das erklärt, warum die Geschichte eine so stark männlich besetzte Disziplin ist. Zum anderen war die Geschichte innerhalb der Geisteswissenschaften in Frankreich eine der glänzendsten Disziplinen. Sie ist es vielleicht etwas weniger, darüber müsste diskutiert werden. Aber die Erneuerung, die Dank der Pcole des Annales mit Historikern wie Bloch, Febvre, dann Braudel, Labrousse usw. stattgefunden hat, hat auch der Disziplin ein starkes symbolisches Kapital verschafft. Für Frauen ist es hier also sehr mühsam, sich einen Platz zu schaffen. Die Anerkennung der Frauengeschichte wird daher schwierig sein, und wir werden unser ganzes Gewicht und unsere ganze Qualität darauf verwenden müssen. Arlette Farge schreibt: „Die Frauengeschichte ist nur deshalb eine Geschichte für sich, weil sie stets absichtlich verkannt wurde, und vielleicht ist sie bereits durch den Namen, der ihr verliehen wurde, in einer Falle.“19 Was hat es mit dieser Benennung auf sich? Es schien klar, dass „Geschichte der Frau“ nicht in Frage kommt.
18 Pierre Nora, Lieux de m8moire, Paris 1993. 19 Farge, Dix ans, wie Anm. 17, 167.
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Ja, da haben wir alle protestiert, als die Verleger uns diesen Titel vorschlugen. Ansonsten wüsste ich nicht, wie es anders zu nennen wäre: „Geschichte der Geschlechterverhältnisse“? Ich bin davon überzeugt, dass es innerhalb der Geschlechterverhältnisse um die Ebene der Frauen geht. Gianna Pomata, eine Historikerin, die sehr interessante Kritiken gemacht hat, hat beanstandet, dass wir nie damit aufhören würden zu sagen, dass wir eine Geschichte der Geschlechterverhältnisse machen. Das würde ihr auf die Nerven gehen, denn es gehe sehr wohl um die Frauen. Und eine Beschränkung auf eine Geschichte der Geschlechterverhältnisse würde zugleich eine Beschränkung auf das Denken der Männer bedeuten: auf das, was die Männer über die Frauen sagen, denken usw. Es muss also darauf beharrt werden, dass wir eine Frauengeschichte machen. Und wo ziehen Sie die Trennungslinie? Die Falle ist dort, wo wir zu den intellektuellen und symbolischen Herrschaftsverhältnissen in unserer Gesellschaft kommen, die alles, was mit ,Frau‘ konnotiert ist, entwerten. Trotz allem sind wir damit noch keineswegs am Ende. Und schließlich bleibt es etwas, das als ausgegrenzt empfunden wird und die Männer kaum interessiert. Das spüre ich ständig, auch wenn das Werk Erfolg gehabt hat. Besteht nicht die Gefahr, dass „Histoire des femmes“, in der Einzahl, auf das abstrakt Allgemeine verweist? Wir haben niemals das abstrakt Allgemeine intendiert. Es ging stets um die außergewöhnliche Vielfalt der historischen Situationen, der gesellschaftlichen Situationen, der ethnischen Situationen, auch wenn letztere leider nicht ausreichend repräsentiert sind. Wir haben das Werk ja nicht „L’ (die) histoire des femmes“ genannt. Christiane Klapisch hätte „Une (eine) histoire des femmes“ vorgezogen, um zu unterstreichen, dass wir keineswegs den Anspruch erheben, die Geschichte der Frauen zu erzählen, sondern eine. Ich denke, dass sie recht hat: Es wird hoffentlich andere geben. Diese „Histoire des femmes“ ist eine in einer bestimmten Zeit entstandene.
Ute Gerhard im Gespräch mit Ingrid Bauer (2009)*
„In diesem Sinne ist ,1968‘ auch Teil meiner Geschichte …“**
Ute Gerhard gehört zu den Wegbereiterinnen der feministischen Wissenschaften in Deutschland und war die erste Inhaberin eines Lehrstuhls für Frauen- und Geschlechterforschung an einer deutschen Universität. Als Professorin für Soziologie am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main war sie dort bis zu ihrer Emeritierung im Jahr 2004 auch Direktorin des interdisziplinär ausgerichteten Cornelia Goethe Centrums für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse, das 1997 mit ihrer Beteiligung eingerichtet worden war. Sie ist zudem Mitgründerin der Zeitschrift „Feministische Studien“ und war von 1995 bis 2012 Mitherausgeberin von „L’Homme. Z. F. G.“, dem wissenschaftlichen Beirat gehört sie in beiden Zeitschriften weiterhin an. In ihren umfangreichen Forschungen und Publikationen thematisiert die Soziologin, die auch Rechts- und Geschichtswissenschaften studiert hat, mit vielschichtigem Blick die Geschichte der Frauenbewegungen – unter Einbeziehung aktueller Fragen –, Theorien des Feminismus, Frauen und Recht, Geschlechtergerechtigkeit und feministische Rechtskritik.1 Ihr jüngstes Buch setzt * Ingrid Bauer, Zeit- und Kulturhistorikerin, war bis 2016 außerordentliche Professorin an der Universität Salzburg und ist aktuell als freischaffende Historikerin und Autorin in Wien tätig. Sie arbeitet und publiziert zur Frauen- und Geschlechtergeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Geschichte der Liebe und Sexualität, zu österreichischer Gesellschaftsgeschichte, sozialen Bewegungen und ArbeiterInnen-Kultur. Seit 2002 ist sie Mitherausgeberin von „L’Homme. Z. F. G.“. ** Zuerst veröffentlicht in L’Homme. Z. F. G., 20, 2 (2009): Gender & 1968, hg. von Ingrid Bauer u. Hana Havelkov#, 105–115. Erscheint hier mit erweiterter und aktualisierter Einleitung und geringfügiger sprachlicher Bearbeitung. 1 Vgl. etwa Ute Gerhard, Gleichheit ohne Angleichung: Frauen im Recht, München 1990 (engl.: Debating Women’s Equality : Toward a Feminist Theory of Law from a European Perspective, New Brunswick, NJ/London 2001); dies., Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung, Reinbek 1990; dies., Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997; dies., Atempause. Feminismus als demokratisches Projekt, Frankfurt a. M. 1999; dies., Frauenbewegungen und Feminismus. Eine Geschichte seit 1989, München 2009; vgl. auch die Herausgeberwerke: dies., Petra Pommerenke u. Ulla Wischer-
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sich mit Möglichkeiten und Grenzen des Rechts als Strategie politischer Einmischung und gesellschaftlicher Veränderung auseinander und zeigt das am Beispiel der Geschichte der Frauenrechte in Europa seit dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart.2 Im nachstehenden Gespräch, das für das „L’Homme“-Heft zu „Gender & 1968“ geführt wurde, reflektiert Ute Gerhard als Zeitgenossin und Forscherin über den gesellschaftlichen Wandel der 1960er-Jahre, den demokratischen Aufbruch von „1968“ sowie die Anfänge der Neuen Frauenbewegung in Deutschland. Mit dieser zweifachen Denkbewegung – der Erinnerung an subjektiv Erfahrenes und einer gleichzeitigen analytischen Distanz – unterläuft sie jene Narrative, welche die Emanzipation von Frauen linear dem Erbe von 1968 zurechnen, ohne zu differenzieren, dass die 68er-Freiheitsideen nicht automatisch das geschlechterdemokratische Anliegen mit einschlossen, sondern dass es dazu der Selbstermächtigung und der Mobilisierung der Frauen bedurfte. Ingrid Bauer : Ich beginne unser Gespräch mit einer Beobachtung des österreichischen Soziologen Heinz Steinert3 im Zusammenhang mit der Erinnerungskultur in Deutschland zu „1968“, die 40 Jahre danach, also im Jahr 2008, überaus betriebsam war. Nirgendwo sonst sei dazu so viel Literatur erschienen und habe es einen so großen „Kulturindustrie-Rummel“ gegeben. Aber die Frauenbewegung habe sich davon „nicht zu größeren Beiträgen provozieren“ lassen.4 Wie siehst Du das und wie lässt sich diese Zurückhaltung erklären? Ute Gerhard: Warum die Frauen sich dazu nicht bekannt haben, liegt meines Erachtens daran, dass „68“ für die Frauenbewegung wohl eine Wegmarke war, aber nicht unmittelbar unsere Tradition – nicht das, was man als Auslöser für die Neue Frauenbewegung ansehen kann, jedenfalls nicht so punktuell. Natürlich hat die Studentenbewegung als soziale Bewegung die Bürgerrechtsbewegungen
mann (Hg.), Klassikerinnen feministischer Theorie: Grundlagentexte, Bd. 1: 1789–1919, Königstein i. T. 2008; dies. u. Susanne Rausche (Hg.), Klassikerinnen feministischer Theorie: Grundlagentexte, Bd. 2: 1920–1985, Königstein i. T. 2010. 2 Ute Gerhard, Für eine andere Gerechtigkeit. Dimensionen feministischer Rechtskritik, Frankfurt a. M./New York 2018. 3 Der österreichische Soziologe Heinz Steinert (1942–2011) – er hatte bis 2007 an der GoetheUniversität Frankfurt am Main eine Professur mit den Schwerpunkten „Devianz“ und „Soziale Ausschließung“ inne – war Mitbegründer der Online-Initiative „folks-uni. Hier reden wir : Die Gesellschaft beschreibt sich selbst“. In diesem Rahmen organisierte sich 2008 eine Studiengruppe, die damals neue Veröffentlichungen zu „1968“ sichtete und bewertete; unter : http:// www.folks-uni.org, Link 1968; Zugriff: 6. 5. 2008, aktuell nicht mehr zugänglich. 4 Heinz Steinert, „1968“ im Rückspiegel von 2008, unter : http://www.folks-uni.org/index.php, Link: 1968; Zugriff: 6. 5. 2008, aktuell nicht mehr zugänglich.
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in Gang gebracht – die Frauenbewegung ist eine davon –, aber das ist nicht allein an das Jahr 1968 gebunden. „Unsere“ Tradition: Welche Traditionslinien ziehst Du da selbst, zum einen als Forscherin zur Geschichte von Frauenbewegung und Feminismus, zum anderen aber auch von Deinen persönlichen Erfahrungen her, als Zeitgenossin? Vor allem würde ich sagen: Es ging darum, den bisherigen Stand der Gleichberechtigung kritisch zu befragen – dieser Prozess setzt schon mit dem Beginn der 60er-Jahre ein. Für mich ist ein wichtiges Datum 1966, als es in Deutschland eine erste große Expertise, einen Bericht der Bundesregierung über die Stellung der Frau in Gesellschaft, Beruf und Politik gab.5 Und in diesem großen Bericht – an dem ich dann später auch in meinen soziologischen Forschungen entlang gearbeitet habe – kamen alle Defizite der Gleichberechtigung der Frauen zutage. Da haben zum ersten Mal über hundert Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Auftrag der Bundesregierung eine Enquete erarbeitet und haben die „halbierte Moderne“ und die notwendige weitere Modernisierung der Geschlechterverhältnisse angemahnt. Wir hatten zwar seit 1949 den Artikel 3 im Grundgesetz,6 und die damaligen Frauenverbände waren der Meinung gewesen, jetzt sind wir am Ziel, jetzt haben wir alles erreicht, aber es stellte sich heraus, dass die Gleichberechtigung absolut nicht gegriffen hat. Außerdem hatten uns internationale Lektüren angeregt, zum Beispiel das Buch von Alva Myrdal und Viola Klein über „Die Doppelrolle der Frauen in Familie und Beruf“. Dieses Buch ist 1961 auf Deutsch erschienen.7 Der Band von Betty Friedan über das, was sie das „Problem ohne Namen“8 nannte, wurde ebenfalls gelesen, und ebenso Simone de Beauvoir, dieses schmale Bändchen aus „rowohlts deutscher enzyklopädie“, ein Auszug aus ihrem umfangreichen Werk
5 Bericht der Bundesregierung über die Situation der Frauen in Beruf, Familie und Gesellschaft, Bonn 1966. 6 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Fassung vom 23. Mai 1949, Artikel 3: „(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt werden.“ 7 Alva Myrdal u. Viola Klein, Die Doppelrolle der Frau in Familie und Beruf, Köln 1961 (Orig.: Women’s Two Roles: Home and Work, London 1956). 8 Die deutsche Erstausgabe war 1966 unter „Der Weiblichkeitswahn oder die Mystifizierung der Frau. Ein vehementer Protest gegen das Wunschbild von der Frau“ im Rowohlt Verlag erschienen; ab 1970 gab es Taschenbuchausgaben mit dem leicht veränderten Titel „Der Weiblichkeitswahn oder Die Selbstbefreiung der Frau. Ein Emanzipationskonzept“. Der Titel der amerikanischen Originalausgabe (1963) lautete „The Feminine Mystique“.
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„Das andere Geschlecht“.9 Da ist – wie in allen diesen Editionen – ein hochinteressantes ,enzyklopädisches Stichwort‘ drin, das die reservierte Haltung der deutschen Herausgeberin zu den Folgen der ,Frauenemanzipation‘ kennzeichnet. Auf der anderen Seite wird endlich – wenn auch recht lückenhaft – über ,Daten zur Frauenbewegung‘ informiert, von Feminismus wird nicht gesprochen. Das waren drei Bücher, durch die zumindest meiner Generation vieles bewusst wurde. Ich habe Anfang der 1960er-Jahre mein erstes juristisches Staatsexamen gemacht und ging in den Beruf und hatte dieses Wissen im Hintergrund – so kann es nicht weitergehen. Für mich persönlich kann ich also sagen: Mich hat die Frauenfrage schon einige Zeit beschäftigt, bevor es die 68er-Bewegung gab. Du hast gerade von „Deiner Generation“ gesprochen. Das ist eine Kategorie, die immer wieder auch im Zusammenhang mit der Erklärung des Phänomens „1968“ herangezogen wird; wobei da von einer sehr breiten, wahrscheinlich zu breiten Kohorte der 1938 bis 1948 Geborenen ausgegangen wird – da stehen wohl sehr unterschiedliche Erfahrungen dahinter. Du selbst bist Jahrgang 1939. Ich bin doch fünf oder sechs Jahre älter als jene, die als Studentinnen die Studentenbewegung mitgemacht haben. In meiner Kohorte, also bei meinen Klassenkameradinnen, war noch ein sehr traditionelles Frauenleben vorherrschend. Ich war erschüttert, als ich zwanzig Jahre nach dem Abitur zum ersten Mal zu einem Klassentreffen kam. Obwohl alle angefangen hatten zu studieren, waren in der Regel ihre Lebensverläufe und Lebensentwürfe durch einen Bruch gekennzeichnet, sie hatten ihr Studium oder die Berufstätigkeit unterbrochen und waren in der Familie ,gelandet‘, einige auch in einer gescheiterten Ehe … Bei der Kohorte fünf Jahre später war das schon anders. Das hat auch eine soziologische Studie über ,Frauen im mittleren Lebensalter‘10 ergeben, die vom Wissenschaftlichen Beirat für Frauenpolitik erarbeitet wurde.11 Unter anderem wurde bei der Untersuchung der Geburtskohorten von 1935 bis 1950, nun auch im Vergleich der alten und neuen Bundesländer deutlich, dass es fünf oder sechs
9 Die deutsche Erstübersetzung war 1951 erschienen: Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Hamburg (Orig.: Le deuxiHme sexe, Paris 1949). 10 Bundesministerium für Frauen und Jugend (Hg.), Frauen im mittleren Alter. Lebenslagen der Geburtskohorten von 1935 bis 1950 in den alten und neuen Bundesländern, Stuttgart/Berlin/ Köln 1993. 11 Dieser Beirat des Bundesministeriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (bzw. Frauen und Jugend) existierte von 1989 bis 1993. Rosemarie Nave-Herz war Vorsitzende, Ute Gerhard war Mitglied des Beirats.
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Jahre sein können, die ganz andere Lebenserfahrungen und Lebenslagen ausmachen. Ich selbst habe den Krieg erlebt und schon bewusst die Nachkriegszeit, das hat natürlich geprägt. Aber eigentlich falle ich aus meiner Kohorte etwas heraus, das liegt an den persönlichen Lebensumständen, aus denen ich gekommen bin. Was hat Dich von diesen persönlichen Lebensumständen her stärker als andere prädestiniert für einen kritischen Weg? Ich hatte eine Mutter, die vom Berlin der 1920er-Jahre geprägt war, auch einen Beruf hatte – sie war das, was man heute Sozialpädagogin nennt. Diesen Beruf musste sie damals aber wegen des Beamtinnen-Zölibats aufgeben, als sie geheiratet hat. Dann, nach 1945, als Kriegerwitwe – wie das damals hieß, ein schreckliches Wort – hat sie uns vier Kinder allein großgezogen. In dem niedersächsischen Dorf, in dem wir als Flüchtlinge lebten, hat sie neben einem bereits pensionierten evangelischen Pfarrer die ganze Gemeindearbeit gemacht mit Frauen- und Mädchenkreisen, Kinderfesten etc. Dadurch hatten wir auch eine anerkannte Stellung in dem Dorf, weil sie sehr beliebt war und neue Ideen mitbrachte. Als dann 1950 ein neuer Pfarrer in die Gemeinde kam, hat er sie sofort entlassen – ein typisches Frauenschicksal in jener Zeit. Kennst Du das Buch von Peter Handke, „Wunschloses Unglück“,12 über seine Mutter? – da findet sich Ähnliches wie bei meiner Mutter. Meine Mutter hat mir also schon das Wissen um eine frühere Frauenbewegung vermittelt. Das wurde nicht unbedingt Frauenbewegung genannt, sondern das waren Frauenrechtlerinnen – das Thema war Frauenrechte und was eigentlich alles dazugehört, um wirklich gleichberechtigt zu sein. Im Wissen um eine Vorgeschichte hatte ich mich damals, Anfang der 60erJahre, schon einer Gruppe des Deutschen Frauenrings – der ist 1950 gegründet worden und wollte die Tradition der Alten Frauenbewegung wieder aufnehmen – angeschlossen und habe den alten Damen anhand der gerade erschienenen Lebenserinnerungen von Marie Elisabeth-Lüders13 etwas über Helene Lange und Gertrud Bäumer erzählt. Auch zusammen mit afrikanischen Frauen aus verschiedenen Ländern, deren Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit mich beeindruckt haben, habe ich für den Frauenring Veranstaltungen gemacht. Damals habe ich, um meine geplante Dissertation zu finanzieren, für einige Zeit als Journalistin, unter anderem in der Afrika-Redaktion der „Deutschen Welle“, gearbeitet. Bei der Ortsgruppe des Frauenrings in Köln wurde ich so ein bisschen 12 Peter Handke, Wunschloses Unglück. Erzählung, Salzburg 1972. 13 Marie-Elisabeth Lüders, Fürchte dich nicht! Persönliches und Politisches aus mehr als 80 Jahren, Köln/Opladen 1963.
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als junges enfant terrible herumgereicht, denn sie suchten dringend junge Frauen für diesen Verein – die Mitglieder waren damals alle mindestens 60 und ich war Anfang 20. Dann habe ich mich aber doch enttäuscht und frustriert abgewendet. Ich war auf einem der Bundeskongresse des Frauenrings, 1962 oder 1963, das werde ich nie vergessen: Da war der Film „Das Schweigen“ von Ingmar Bergmann gerade in die Kinos gekommen, und die Damen – alle hatten Knoten, ganz streng – regten sich über diesen Film auf und verabschiedeten eine Resolution für ein Verbot. Da war dann klar, das war nicht mehr meine Welt, auch diese Prüderie in Bezug auf Sexualität – da wusste ich, sie lebten in einer anderen Zeit. Also: Ein Frauenbewusstsein habe ich praktisch schon mit der Muttermilch eingesogen, zumal ich ohne Vater mit drei großen Brüdern aufgewachsen bin. Und dann kamen eben die politischen Entwicklungen und die Bewusstwerdung über die politischen Verhältnisse hinzu. Da gibt es also doch auch für Dich einen Link zu „1968“? Ja, ich muss zugeben, ich habe ein brennendes Interesse an der Studentenbewegung gehabt. Ich hatte damals meine erste Universitätsausbildung schon hinter mir und war ganz der Meinung dieser Studierenden, dass sich die Universität ändern muss. Ich hatte ja genau diese Massenuniversität, diese Autoritäten erlebt, die aus dem Nationalsozialismus herüberkommend noch weiter unterrichtet haben. Unter meinen Lehrern, den Juristen in Köln, waren mindestens drei, die später als Nazi-Juristen entlarvt wurden. Und diese akademischen Lehrer haben wir als sehr unangenehm, als sehr autoritär erlebt. Im Grunde war man als Studentin nie zu Wort gekommen, man war als Störung des Normalbetriebs abgefertigt worden. Mein Jurastudium war eine ausgesprochen unbefriedigende Erfahrung. Darum habe ich mich gleichzeitig in der Soziologie schadlos gehalten. Ich habe bei Ren8 König studiert, der Frauen sehr ernst genommen hat, auch als Wissenschaftlerinnen, er hat sie alle zitiert – die Familiensoziologin Hilde Turnwald14 zum Beispiel. Er ist Emigrant gewesen, der aus der Schweiz kommend tatsächlich nicht diesen Zivilisationsbruch in der Geschichte zu verdrängen hatte wie die meisten Deutschen jener Zeit, die auch die ausländische Literatur nicht gelesen hatten. Ren8 König hat viele Schülerinnen gehabt, die später in der Soziologie reüssiert haben.
14 Hilde Thurnwald hat in Berlin eine erste familiensoziologische Erhebung nach dem Krieg durchgeführt: Hilde Thurnwald, Gegenwartsprobleme Berliner Familien. Eine soziologische Untersuchung an 498 Familien, Berlin 1948.
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Diese ganz anderen Rahmenbedingungen hast Du als Rückenwind erlebt? Ja, es waren ganz andere Autoren, von denen König berichtete, an denen man sich orientieren konnte, hinzu kam ein selbstverständlicher Umgang mit der Geschlechterfrage. Noch etwas anderes ist interessant: Die Kölner und die Frankfurter Soziologischen Schulen haben immer konkurriert in jener Zeit, also Adorno und Horkheimer auf der einen Seite und König auf der anderen Seite. Aber das wissen alle, die in Frankfurt studiert haben und sonst die Frankfurter Schule, die Kritische Theorie sehr schätzen, so wie ich auch, dass die konkreten Personen einen patriarchalen Habitus hatten, also sich sehr viel weniger geschlechterbewusst geäußert haben. In Horkheimers Ausführungen zu ,Autorität und Familie‘15 etwa – das hat die feministische Forschung inzwischen gründlich bearbeitet16 – wird das asymmetrische Geschlechterverhältnis festgeschrieben und zugleich idealisiert. Ren8 König war da viel offener, auch für die amerikanische Soziologie, die einen pragmatischeren empirischen Zugang hatte. Ich hatte von ihm und Ulrich Klug, dem Rechtsphilosophen, der sich nicht scheute, mit Soziologen zusammenzuarbeiten, auch ein Doktorthema erhalten. Zur Ausarbeitung bin ich dann aber nicht gekommen wegen meiner ,typisch weiblichen‘ Karriere als Mutter, mit ,plötzlich‘ drei Kindern: 1967 kam meine erste Tochter auf die Welt, 1969 dann die Zwillingsmädchen. Kinder und Studium, Kinder und politisches Engagement: Wie beides gemeinsam zu denken wäre und im Alltag neu gestaltet werden könnte – das hatte in der Studentenbewegung und in der Neuen Linken, das ist vielfältig dokumentiert und diskutiert, den Status des sogenannten Nebenwiderspruchs beziehungsweise wurde das ganz traditionell in der sozialistischen Tradition als ,Frauenfrage‘ gesehen, als etwas, von dem sich die Genossen selbst nicht betroffen wähnten. Und auch praktisch sind die Frauen sitzen gelassen worden, sie haben den Kaffee gekocht und ihre Kinder gehütet, obwohl sie auch Studentinnen waren und an dieser Bewegung teilhatten. Die Kinderladenbewegung war vermutlich die einzige 68er-Initiative, in der über diese Geschlechterverhältnisse auch debattiert wurde und praktische Lösungen gesucht wurden. Aber alle Frauen, die es miterlebt haben, erzählen, dass sie nichts erreicht haben, was als wirklicher Auf15 Max Horkheimer, Autorität und Familie, in: ders., Gesammelte Schriften, 19 Bde., Bd. 3: Schriften 1931–1936, Frankfurt a. M. 1988, 336–417. 16 Vgl. Mechthild Rumpf, Spuren des Mütterlichen. Die widersprüchliche Bedeutung der Mutterrolle für die männliche Identitätsbildung in Kritischer Theorie und feministischer Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1989.
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bruch auch unter den Studenten zu bezeichnen wäre.17 Also insofern war es ein Dilemma, dass wir einerseits politisch mit der Studentenbewegung d’accord waren, auf der anderen Seite genau diese Geschlechterfrage wieder ausgeschlossen blieb. Es war wie im 19. Jahrhundert, als Louise Otto, die Begründerin der deutschen Frauenbewegung, ,ihre‘ Frauen im Vorfeld der Revolution von 1848/49 zusammenrief: Aus allen Richtungen wurden gleiche Geschichten erzählt. Frauen machten überall dieselbe Erfahrung, dass die Revolutionäre und sogenannten Demokraten sie nicht ernst nahmen, „an sie zu denken vergaßen“, wie Louise Otto etwas umständlich immer wieder formulierte. Und so ist es uns noch einmal 120 Jahre später ergangen, in der Studentenbewegung, das war deprimierend. Welche Modelle hattest Du selbst damals für Ehe, Familie, Beziehungen? Ich wundere mich heute darüber, dass ich so naiv war zu meinen, beides schaffen zu können, Familie und berufliche Herausforderung. Das liegt vielleicht daran, dass mir meine Mutter nur das Glück, Kinder zu haben, vermittelt hat, aber nie, welche ,Plackerei‘ es auch ist, dass man also tatsächlich voll beansprucht ist. Sie war noch die Generation der Mütter, für die Kinder alles waren, die sich in ihren Kindern fortsetzten. Das war für uns anders geworden. Kinder bringen einen zunächst einmal von sich weg, das ist ja auch gut, dass man sich ganz auf sie einstellen und für sie da sein kann. Aber wenn man danach keine Perspektive hat, wie komme ich wieder zu mir selbst? Das hielt ich damals für mich für eine ziemlich ausweglose Situation. Die von den gesellschaftlichen Strukturen noch verstärkt wurde. Ja, das war es, was uns als Frauenbewegung so mobilisiert hat, warum das Private politisch wurde. Dass wir nicht einfach alles mit uns geschehen lassen, dass wir etwas tun wollten, um die Verhältnisse zu ändern. Das war der mobilisierende Faktor in den Selbsterfahrungsgruppen Anfang der 1970er-Jahre, wo alle ihre Geschichte erzählt haben – und sie war immer ähnlich. Immer die gleiche Geschichte davon, dass man nicht mehr zu sich selber kam, sein Ich abgab. Es waren dann viele Frauen in meinem Alter in der Frauenbewegung. Die Gruppen, die sich da trafen, waren zum großen Teil ,Hausfrauen‘, die wieder ins Studium einsteigen, wieder in den Beruf hineinkommen oder einen Abschluss machen wollten. 17 Vgl. die Rede von Helke Sander auf dem Kongress des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) in Frankfurt 1968; unter : http://www.boell-bw.de/fileadmin/HeinrichBoell-Stiftung/2008/68er/Helke_Sander_SDS_Rede.pdf; Zugriff: 5. 8. 2009.
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Gerade als die SPD Ende der 1960er-Jahre an die Regierung kam, gab es – das muss man festhalten – in der BRD eine Reformpolitik unter anderem auch zur Wiedereingliederung von Frauen in den Beruf. Die in dem bereits erwähnten Buch von Alva Myrdal und Viola Klein entwickelte „Drei-Phasen-Theorie“ war der Hintergrund. Danach bestand das Frauenleben aus drei Phasen: einer Ausbildungsphase, einer Familienphase und dann, wohlgemerkt, wenn die Kinder groß genug wären, der Wiedereintritt in den Beruf. Dass das dann in der Realität ganz anders, viel komplizierter war, das war die Erfahrung, die ich und viele Frauen machen mussten. Ich dachte, ich kann das beides so bewältigen. Aber dass man zum Beispiel als Wissenschaftlerin, als Journalistin oder als Juristin, nicht ohne weiteres wieder nach fünf Jahren sagen kann: „Hier bin ich …“ Da gab es auch noch wenig Erfahrungswerte … … ja, und es war auch keine Bereitschaft da. Frau blieb zu Hause! Als ich mit drei Kindern im Rücken in Bremen wieder an die Uni ging, ein paar Stunden am Tag, zwei Mal in der Woche, da habe ich gar nicht erzählt, dass ich Kinder habe. Und wenn ich es erzählt habe, dann hieß es: „Ja muss es denn unbedingt eine Doktorarbeit sein?“ Das war vollkommen jenseits des Weltbildes, dass man seine drei kleinen Kinder zu Hause ließ und sie einmal für ein paar Stunden an jemanden abgab. Ich bin, als ich schließlich eine Mitarbeiterstelle hatte, immer nach Hause gehetzt, um das Mittagessen zu kochen und die Kinder aus der Schule aufzufangen. Aber ich hatte die Rückendeckung meines Mannes. Ihm war klar, dass ich nicht als Hausfrau enden konnte. Das heißt, ich habe das Glück gehabt, dass der Partner mitspielte. Es gab aber auch andere, die das alleine bewältigen mussten. Jedenfalls gab es an der [1971] neu gegründeten Universität Bremen damals viele wieder einsteigende Studentinnen, die sich durch die Universitätsreform ermutigt fühlten. Und wir waren so aufmüpfig und haben bereits im zweiten Semester den Gastprofessor, der immerhin einen ersten Kurs zur Geschichte der Frauenbewegung anbot, nach wenigen Seminarstunden abgesetzt und gesagt, das machen wir alleine. Das war 1972, das war kein besonderes Verdienst, sondern das war Selbsterhaltungstrieb. Man musste aus der Rolle fallen, um irgendetwas in Bewegung zu setzen gegen die vielen Gewohnheiten und gesellschaftlichen Strukturen, die uns behinderten. Schließlich gab es in anderen Ländern schon eine Frauenbewegung, über die wir aus den Medien erfuhren, in den USA zum Beispiel, wo Frauen 1968 öffentlich ihre Büstenhalter verbrannt haben. Alle diese Dinge habe ich mit Genugtuung verfolgt, das hat mir den Rücken gestärkt, und ich habe die ersten
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Bücher über Feminismus gelesen – zum Beispiel Germaine Greer18 und Shulamith Firestone.19 Das war alles eine Bestätigung dafür, was man selbst schon erfahren, erlebt, gewusst – und mitunter auch nur geahnt – hat: dass da irgendetwas nicht stimmt. Die Frauenbewegung war ein Zusammenhalt, in dem ich endlich zu Hause war, wo ich angekommen war. Es war ein wunderbarer Emanzipationsprozess, den ich dann auch für andere mit anleiten konnte. Denn ich habe auch sehr bald Lehraufträge an der Fachhochschule für Sozialarbeit und an der Uni gehabt und vor allem auch eine Frauengruppe, bestehend hauptsächlich aus Lehrerinnen. Wir haben Volkshochschulkurse angeboten über Mutterschaft und Mütterlichkeit, über Eherecht. Es hat mich erschüttert, was ich da an Geschichten erfahren habe, über/von Frauen, die beispielsweise schon zwanzig Jahre in einer Ehe lebten, in der sie geschlagen wurden und sich schlagen ließen. Das waren Erfahrungen, die sehr anschaulich machten, wie viel für Frauen zu tun war. Wurde das weiterhin als Frauenfrage gesehen oder schon als Geschlechterfrage debattiert? Die Sache als Geschlechterfrage zu sehen, ist aufgekommen, als uns klar wurde, dass es nicht ein persönliches Problem ist, sondern dass es auch darum geht: Die Männer müssen sich ändern. Der Austausch unserer Erfahrungen in den Frauengruppen endete ja in einer Männerkritik, in einer Kritik am Patriarchat. Diesen Begriff habe ich übrigens nie geliebt, ich fand ihn immer zu plakativ, zu unhistorisch, zu undifferenziert – als etwas zu Festgefügtes, und das dann auch noch für eine Zeit von 2000 Jahren; da war ich von Anfang an äußerst kritisch. Dabei kam mir zu Hilfe, dass ich als Studentin bei Ren8 König schon etwas darüber gehört hatte, über den „Patriarchalismus im Gegenstoß“. König hatte in seiner Vorlesung zur Soziologie der Familie und ihrer Geschichte schon von dieser reaktionären Wende in der Familie in den 1850er-Jahren berichtet – der Zeit, in der mit Wilhelm Heinrich Riehl und Ferdinand Le Play die Familiensoziologie begründet wurde. Und da wurde deutlich, dass das eigentlich ein ganz spezifischer Patriarchalismus war, der über die bürgerliche Gesellschaft und die bürgerliche Kultur eingeführt worden war. Also diese Differenzierung war mir immer wichtig als historisch denkende Person – zum Beispiel in Auseinandersetzung mit dem Buch von Marielouise Janssen-Jurreit „Über die Abtreibung der
18 Germaine Greer, The Female Eunuch, London 1970 (dt.: Der weibliche Eunuch. Aufruf zur Befreiung der Frau, München 1971). 19 Shulamith Firestone, The Dialectic of Sex, London 1970 (dt.: Frauenbefreiung und sexuelle Revolution, Frankfurt a. M. 1975).
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Frauenfrage“.20 Das war eines der Bücher, die in den 70er-Jahren von sich reden machten, ein tolles Buch, aber es kam halt immer „das Patriarchat“ heraus. Ich lasse jetzt noch einmal unser bisheriges Gespräch Revue passieren, das mit der Beobachtung begonnen hat, dass sich die Frauenbewegung nur wenig in den 1968-Jubiläums-Diskurs des Jahres 2008 eingemischt hat. „Das war nicht unmittelbar unsere Tradition“, war Deine Replik darauf, die wir nunmehr in vielen Facetten für Deutschland besprochen haben. Gleichzeitig hast Du von Deinem „brennenden Interesse“ an der Studentenbewegung erzählt, und dass Du die Ereignisse engagiert verfolgt hast; hauptsächlich aus den Medien, weil Du damals mit drei kleinen Kindern gerade in einem Berg Babywindeln versunken bist. Welches Resümee ziehst Du? Ist das, was man mit der Chiffre „1968“ verbindet, nachhaltig spürbar geworden für Dich? Ja, als Aufbruch zu einer anderen Politik, zu einer demokratischen Politik – das war das Ziel. Und die Gesellschaft hat sich geändert: Was wir heute Zivilgesellschaft nennen, wäre ohne die „68er“ und die Bewegungen um sie herum nicht denkbar – dass wir uns über alle Dinge des öffentlichen Lebens austauschen, dass wir andere Formen entwickeln, in denen wir darüber debattieren, dass wir uns nicht abfinden mit etwas, das irgendjemand beschlossen hat, sondern dass wir protestieren und das auch laut sagen. Das war die Ermutigung, auch in der Frauensache etwas zu sagen, weil das zur Demokratie dazu gehört. In diesem Sinne ist „1968“ auch Teil meiner Geschichte. Das war der eine Teil, die politische Kultur, die unbedingt verändert werden musste, und dass die Herren nicht an uns Frauen dachten, das ist wirklich deren Blindheit gewesen. Das mussten wir dann selbst in die Hand nehmen. Es ist schon richtig, dass wir einerseits durch die Studentenbewegung und die „Weiberräte“, die in diesem Umfeld entstanden, durch den „Tomatenwurf“21 und durch die Texte, die wir international plötzlich verfügbar hatten, angestoßen wurden, Unterstützung hatten. Aber dann, 1971, wurde durch die Selbstbe20 Marielouise Janssen-Jurreit, Sexismus. Über die Abtreibung der Frauenfrage, München 1976. 21 Dieses Stichwort bezieht sich auf die berühmt gewordene und folgenreiche Aktion von Frauen auf der Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, der im September 1968 in Frankfurt a. M. abgehalten wurde: Helke Sander hielt eine leidenschaftliche Rede zur ungelösten Geschlechterfrage auch im SDS und kritisierte die in dieser Hinsicht große Kluft zwischen revolutionären Parolen und tatsächlicher Praxis. Ihre Rede wurde später vielfach als „Geburtsstunde der Neuen Frauenbewegung“ bezeichnet, gemeinsam mit dem Tomatenwurf der hochschwangeren Romanistikstudentin Sigrid Rüger, mit dem die Frauen quittierten, dass die männlichen ,Chefdenker‘ auf dem Podium nach dieser Rede ohne Diskussion einfach zur Tagesordnung übergehen wollten. Die Protestaktion und ihre mediale Verbreitung wurden zum Auslöser dafür, dass sich vermehrt separate Frauengruppen zu bilden begannen.
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zichtigungskampagne „Wir haben abgetrieben“, nach meiner Meinung, die Wahrnehmung der Probleme über das akademische Milieu hinaus erweitert. Damit waren alle Frauen angesprochen, und zwar mit einer Alltagserfahrung, die man plötzlich artikulieren konnte als Unrecht, als etwas, das nicht richtig ist. Das zur Sprache bringen von Unrechtserfahrungen ist notwendiger Motor aller Bewegungen. Ich selbst hatte zwar nicht diese Erfahrung gemacht, aber ich habe verstanden, warum wir gegen die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen mobilisieren müssen. Das hat eben aus allen Ecken der Gesellschaft Frauen angelockt; gerade auch ärmere Frauen, die nicht so gut situiert waren, waren auch von dieser Problematik betroffen. Was mich dann sehr gewundert hat, war, dass die Neue Frauenbewegung, obwohl sie mit dieser Rechtskampagne ihren Anfang nahm – und das ist vielleicht wieder typisch deutsch, westdeutsch –, sich dann nicht weiter um Gleichberechtigung gekümmert hat. Sondern die Zielsetzung dieser Frauenbewegung war Autonomie, Unabhängigkeit – vom Mann, von gesellschaftlich vorgefertigten Entwürfen, Autonomie auch im politischen Sinne. Aber Gleichberechtigung war für sie ein falsches Instrument, das war diskreditiert durch das Scheitern formal juristischer Gleichberechtigung, von dem wir eingangs gesprochen haben. Das ist zum Beispiel sehr deutlich geworden in dem Buch von Jutta Menschik, „Gleichberechtigung oder Emanzipation“,22 das damals ein ganz wichtiges Buch war. Sie hat die Erfahrungen einer linken Studentin artikuliert, hat die Geschichte der Arbeiterinnenbewegung rekapituliert, Clara Zetkin aufgegriffen und im Kontext der Linken begründet, warum die Frauenfrage nicht mehr ein Nebenwiderspruch sein könne. Gleichzeitig polemisiert sie gegen ein bürgerliches reformistisches Gleichberechtigungskonzept, Emanzipation sei das Ziel, das mehr meint als rechtliche Gleichstellung in der bestehenden kapitalistischen Gesellschaft, vielmehr Befreiung und die Beseitigung aller sozialen Abhängigkeiten und Ungerechtigkeiten. Das ist ja auch die lange Debatte in den 1970er-Jahren gewesen: Müssen wir nun zuerst den Kapitalismus beseitigen oder das Patriarchat, diese beiden Komponenten, die dann als „Klassenfrage oder Geschlechterfrage“ theoretisiert wurden. Das war eine große, auch international geführte Debatte über das Verhältnis von Feminismus und Sozialismus, in der die Frauen aber zunehmend zur Einsicht kamen: Wir können nicht warten, bis die klassenlose Gesellschaft uns möglicherweise die Freiheit der Frauen bringt. Es ist interessant, dass sich diese Kontroverse auch in die frühe Frauenforschung hinein verlängert hat, indem diese zuerst die Arbeiterinnenbewegung, die Proletarierinnen erforscht hat und dann erst die ,alte‘, die bürgerliche 22 Jutta Menschik, Gleichberechtigung oder Emanzipation? Die Frau im Erwerbsleben der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 1971.
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Frauenbewegung. Das hatte natürlich mit der Auffassung zu tun, dass es vor allem auch um gesellschaftliche Ungleichheit und deren Aufhebung ging. Ich fand aber auch wichtig, was uns „die Radikalen“ in der bürgerlichen Frauenbewegung, Helene Stöcker zum Beispiel, beigebracht haben, nämlich die Revolution in Hinblick auf Familie und Sexualität. Von denen wusste man am allerwenigsten, weil sie durch ihre Emigration nicht präsent waren – deren Kämpfe waren uns nicht überliefert. Ich weiß noch gut: Als wir dann die „Feministischen Studien“23 herausgegeben haben, das war Anfang der 1980er-Jahre, habe ich zusammen mit Heide Schlüpmann bei einem der ersten Hefte darum gekämpft, die „Radikalen“ in der Alten Frauenbewegung zum Themenschwerpunkt zu machen.24 Alle wussten zu wenig über sie. „Etwas so Bürgerliches in unserer feministischen Zeitschrift“, hat es da kritisch geheißen. Links zu sein war unter Feministinnen das Selbstverständlichere.
23 Die Zeitschrift wurde 1982 als interdisziplinäres Forum für Frauen- und Geschlechterforschung gegründet. 24 Feministische Studien, 1 (1984): Die Radikalen in der alten Frauenbewegung, hg. von Ute Gerhard u. Heide Schlüpmann.
Luisa Passerini im Gespräch mit Almut Höfert (2017)*
Politik, Geschichte und Subjektivität**
Luisa Passerini ist eine der facettenreichsten Historiker_innen unserer Zeit, die international für ihre Arbeiten über Erinnerung und Geschichte der Subjektivität bekannt geworden ist. Sie ist emeritierte Professorin für Geschichte am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz, war lange an der Universität Turin tätig und hat unter anderem in Sydney, Paris, New York, Berlin, Berkeley und Utrecht geforscht und gelehrt. Luisa Passerini war politisch in den afrikanischen Befreiungsbewegungen und den Bewegungen der langen 1960er-Jahre in Italien tätig und hat als Pionierin der Oral History 1984 eine völlig neue Perspektive auf die Geschichte des Faschismus vorgelegt.1 Sie hat die Kritik am Eurozentrismus auf ein überraschendes Feld, die Diskurse über Europa und Liebe in der Zwischenkriegszeit, übertragen.2 In ihrem von 2013 bis 2018 laufenden Projekt des European Research Council „Bodies Across Borders. Oral and Visual Memory in Europe and Beyond“ befasste sie sich mit heutigen interkulturellen Verbindungen zwischen in Europa geborenen und eingewanderten Europäer_innen und hat sich dabei auch visuellen Erinnerungen und Quellen zugewandt. Passerinis tief greifende Arbeit, Erinnerung und Subjektivität als Zugänge zur Geschichte zu erschließen,3 greift über das herkömmliche Genre geschichtswis* Almut Höfert ist Historikerin und Islamwissenschaftlerin und seit 2014 Mitherausgeberin von „L’Homme. Z. F. G.“. Sie wurde 2017 auf die Professur für Geschichte des Mittelalters an der Universität Oldenburg berufen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte von Religion und Herrschaft, Geschlechtergeschichte, Methoden der transkulturellen Geschichte und Globalgeschichte, Reiseberichte und die christliche Wahrnehmung des Islams. ** Zuerst veröffentlicht in L’Homme. Z. F. G., 28, 2 (2017): Schwesterfiguren, hg. von Almut Höfert, Michaela Hohkamp u. Claudia Ulbrich, 91–99. Erscheint hier mit aktualisierter Einleitung. 1 Luisa Passerini, Fascism in Popular Memory. The Cultural Experience of the Turin Working Class, Cambridge 1987 (ital. Orig. Roma 1984). 2 Vgl. z. B. Luisa Passerini, Europe in Love, Love in Europe. Imagination and Politics in Britain between the Wars, London 1999. 3 Vgl. z. B. Luisa Passerini, Memory and Utopia. The Primacy of Intersubjectivity, London 2007; dies., Women and Men in Love: European Identities in the Twentieth Century, Oxford/New York 2012.
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senschaftlicher Forschungen hinaus: In ihrem Buch „Autobiography of a Generation“ (1988) und in ihrem Roman „La fontana della giovinezza“ (1999) reflektiert sie ihre eigene Subjektivität als Angehörige ihrer Generation. Ich habe Luisa Passerini in Florenz während meiner Zeit als Doktorandin kennengelernt und nun, fast zwanzig Jahre später, Fragen von einer Generation zur anderen gestellt. Das Gespräch haben wir auf Englisch geführt.4 Almut Höfert: Das „L’Homme“-Heft, für das wir dieses Gespräch führen, ist dem Themenfeld „Schwesterfiguren“ gewidmet. Auch im Feminismus wurde auf Schwesternschaft Bezug genommen. Wie war das bei Dir? War Schwesternschaft (sisterhood) ein Konzept, das Du in Deiner politischen und akademischen Arbeit verwendet hast? Luisa Passerini: Das Konzept von Schwesternschaft war ein wichtiges Zentrum von Polemiken innerhalb des Feminismus. Ich gehörte zum italienischen radikalen Feminismus. Wir waren absolut gegen dieses Konzept, weil es metaphorisch Familienbande und biologische Beziehungen implizierte. ,Schwesternschaft‘ hing zudem mit Müttern und Töchtern sowie der Vorstellung, dass Frauen zur Mutterschaft bestimmt sind, zusammen. Wir glaubten hingegen an Beziehungen, die nicht auf Familie, sondern auf Wahl beruhten. Das gehörte zu unserem Bestreben, vollständige Subjekte zu werden – vor allem in der Beziehung untereinander. Im radikalen Feminismus ging es nicht so sehr um Gleichheit zwischen Männern und Frauen, sondern vor allem um die Beziehungen unter Frauen, die solidarisch, aber auch konfliktbehaftet sein konnten. Um ein vollständiges Subjekt zu werden, müssen in einer zivilisierten Weise auch Konflikte ausgefochten werden. Die Gleichheit zu Männern war für uns zweitrangig, es ging uns darum, untereinander Solidarität, aber auch das Recht zu entwickeln, einander zu widersprechen. Andere Feministinnen haben hingegen von sisterhood gesprochen, beispielsweise Ursula Hirschmann,5 die 1975 in Brüssel die Vereinigung Femmes pour l’Europe gründete und die in anderen Punkten ein wichtiges Vorbild für uns war. Sie sprach davon, dass ihre Gruppe solidarisch „mit unseren Schwestern in der Vierten Welt“ sei. Wir stimmten zwar diesem Grundsatz, nicht jedoch dieser Begrifflichkeit und ihren Implikationen zu. Ab den 1970er-Jahren kritisierten 4 Die Übersetzung ins Deutsche wurde von Almut Höfert erstellt. Ein zentraler Begriff in den Arbeiten von Luisa Passerini ist „memory/memories“, der hier überwiegend mit „Erinnerung(en)“, gelegentlich jedoch auch mit „Gedächtnis“ übersetzt wurde. 5 Ursula Hirschmann (1913–1991) war eine deutsche – im italienischen Widerstand engagierte – Antifaschistin und gehörte 1943 zu den Gründer_innen der Europäischen Föderalistischen Bewegung, vgl. https://europa.eu/european-union/sites/europaeu/files/foundingfathers-ursu lahirschmann-de-hd.pdf, Zugriff: 25. 7. 2019.
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afroamerikanische Feministinnen das Konzept der Schwesternschaft noch stärker, als wir es getan hatten – wie bell hooks in ihrem Buch „Ain’t I a Woman?“.6 bell hooks hielt die Vorstellung einer allgemeinen Unterdrückung von Frauen und einer von vornherein geeinten Schwesternschaft, in der Unterschiede in Bezug auf Klasse, Hautfarbe oder Alter nivelliert werden, für falsch und korrumpiert. Robin Morgan veröffentlichte hingegen 1970 eine berühmte Anthologie unter dem Titel „Sisterhood is powerful“, die zu einem weltweiten Bestseller und in viele Sprachen übersetzt wurde.7 In den für den Feminismus einflussreichen USA wurden weitere Bücher über sisterhood publiziert. Sisterhood wurde dabei jeweils unterschiedlich aufgefasst. Für uns war der wichtigste Leitbegriff die Parole, dass das Persönliche politisch ist. Die Ambivalenz, dass das Persönliche in der politischen Sphäre relevant wird und alles Persönliche auch politisch ist, galt auch für die Frage der Schwesternschaft. Wir nannten andere Frauen nicht Schwester, weil dieser Begriff ambivalent und terminologisch mit den Erinnerungen der Vergangenheit beladen war. Die Gender Studies haben kontinuierlich Ideen aus der Frauenbewegung in die Forschung „transponiert“.8 In meinen Forschungen rede ich niemals von Schwesternschaft, weil ich meine ursprüngliche Abneigung gegenüber dieser wohlwollend-paternalistischen Haltung „wir sind alle Schwestern, wir haben die gleichen Probleme und den gleichen Körper“ nicht geändert habe. Körper sind sehr komplex. Zu behaupten, dass Frauen auf der Grundlage ihrer Biologie vereinigt seien und dass arme Frauen in Indien und reiche Frauen in New York in Schwesternschaft vereinigt seien, ist einfach grotesk. Wie verwendest Du die Kategorien ,Frau‘ und ,Geschlecht‘? Hat sich das im Verlauf Deines Lebens und Deiner Forschungen verändert? ,Frau‘ ist eine taktische Kategorie, ,Frauen‘ eine strategische Kategorie. Die Trennung zwischen Männern und Frauen – in separaten feministischen Gruppen, an denen nur Frauen beteiligt waren, oder etwa in Buchreihen für Autorinnen – war für uns eine Taktik, aber keine Strategie. Das ist wichtig in Hinblick auf Kategorien. Ich war immer gegen die essentialistische Annahme, dass ,Frau‘ eine universale Kategorie mit einer femininen Essenz sei. Vor der 68er-Bewegung gab es in Italien hier und da schon feministische Ansätze, aber der Feminismus entwickelte sich erst nach 1968. Die 68er-Bewegung wurde von vielen Frauen getragen, aber es gab damals noch kein Bewusstsein für die Bedeutung von 6 bell hooks, Ain’t I a Woman? Black Women and Feminism, Boston 1981. 7 Robin Morgan (Hg.), Sisterhood is powerful. An anthology of writings from the Women’s Liberation Movement, New York 1970. 8 Rosi Braidotti, Transpositions. On Nomadic Ethics, Cambridge 2006.
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Geschlecht. Sexuelle Befreiung wurde männlich aufgefasst: Jeder hat das Recht, mit allen Sex zu haben, und viele von uns teilten diese Idee von freiem Sex tatsächlich. Erst nach einigen Jahren begannen die meisten Frauen, die die feministische Bewegung begründeten, eine Kritik an den Beziehungen zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Frauen und Frauen zu entwickeln. Die Beziehungen zwischen Frauen waren 1968 noch recht traditionell, das heißt entweder warst du die einzige Frau unter Männern etwa in hochrangigen politischen Komitees oder in wissenschaftlichen Zeitschriften, also die AusnahmeFrau, oder du standest zu anderen Frauen in Konkurrenz. Erst nach 1968 veränderte sich das: Dann war das wichtigste Gegenüber im Gespräch nicht mehr ein Mann, sondern eine Frau. Aber die 68er-Bewegung war der Auslöser für Subjektivität und das Bestreben, ein vollständiges Subjekt zu werden. Die feministische Bewegung verdankt vieles der Erfahrung von Frauen, in der 68erBewegung gewesen zu sein, die Frauen allerdings nicht als vollständige Subjekte anerkannte. Das heißt nicht, dass Frauen 1968 am Rand waren, im Gegenteil, sie standen im Zentrum – aber das wurde nicht anerkannt. Hat sich die Art und Weise, wie Du analytische Kategorien verwendest, bei Dir verändert? Ich denke, dass mir heute klarer als damals ist, dass Geschlecht als Kategorie nicht isoliert von anderen Differenzkategorien verwendet werden kann. Kathy Davis hat dieses Prinzip Intersektionalität genannt.9 Du kannst heute beispielsweise nicht über Frauen in Europa sprechen, ohne auch über Migrantinnen oder Frauen, die den Schleier tragen, zu reden – eben weil es immer auch um Körper geht. Implizit habe ich Geschlecht aber schon immer in Beziehung zu anderen Kategorien verwendet. Für mein Buch „Fascism in Popular Memory“ habe ich ja auch Zeugnisse (testimonies) von Frauen, nicht nur von Männern, aus der Arbeiterklasse unter dem faschistischen Regime gesammelt. Die Aussagen von Frauen wiesen Gemeinsamkeiten auf, aber ich habe diese Gemeinsamkeiten nicht als weibliche Erinnerung, sondern eher als mündliche Tradition, die von einer Generation an die nächste weitergegeben wurde, interpretiert: nicht als feststehende Essenz, sondern als Konstrukt. Das Bild der Frau als Rebellin ist jahrhundertealt, ein Bild in einem Diskurs, nicht in einer Situation. Viele der Frauen, die ich interviewte, begannen ihr Zeugnis mit der Aussage: „Ich war schon immer eine Rebellin.“ Dann hat sich im Verlauf des Interviews herausgestellt, dass sie stets fürsorgliche Mütter und Ehefrauen gewesen sind. Ich möchte damit sagen, dass sich ihr Selbstbild von ihrer Erfahrung unterschied. 9 Vgl. Kathy Davis, Intersectionality as buzzword. A sociology of science perspective on what makes a feminist theory successful, in: Feminist Theory, 9, 1 (2008), 67–85.
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Das hat mit kultureller Tradition zu tun, wie sie Bakhtin als Umkehrung von Hierarchien im Karneval traditioneller ländlicher Kulturen analysiert hat.10 Während des Karnevals sind Machtbeziehungen in ihr Gegenteil, die Welt von oben nach unten gekehrt. Diese Umkehrung geht jedoch auf einer symbolischen Ebene vor sich und hebt das existierende Machtsystem nur für einen kurzen Moment auf. Die erzählten Selbstbilder hoben die Erzählung der Erfahrung, die in den anderen Teilen der Interviews erschien, auf eine ähnliche Art auf. Ich meine damit, dass du also sagen könntest: Ja, das ist die Erinnerung von Frauen – aber diese muss historisch, als eine narrative Tradition, nicht von Natur aus gegeben, verstanden werden. Heute ist mir auf der theoretischen Ebene klarer, dass auch das Konzept der Erinnerung essentialistisch verwendet werden kann, obgleich Erinnerung fast gänzlich ein historisches Phänomen ist. Erinnerung muss stets in ihrem konkreten Kontext interpretiert werden, also als die Erinnerung von Frauen, die diese mit der Vergangenheit von Generationen von Frauen verbindet. Erinnerung ist auch geschlechtlich geprägt, ja, aber im spezifischen Sinn, an Zeit und Ort gebunden. Das habe ich damals praktiziert, aber noch nicht theoretisch ausgedrückt. In meinen späteren Arbeiten und in meiner Sammlung von Essays „Storie di donne“ habe ich das dann getan.11 Es sind die Diskurstraditionen von Frauen, die Erinnerungen konstituieren, und um das zu verstehen, muss Geschlecht intersektional verwendet und berücksichtigt werden, dass es sich dabei – in meinem Beispiel – um Frauen aus der Arbeiterklasse handelt. Wie würdest Du denn Deinen Ansatz beschreiben? Ist Erinnerung eine analytische Kategorie für Dich? Ich habe Erinnerung immer als eine Form von Subjektivität angesehen. Subjektivität bedeutet agency, aber auch Vorstellungskraft und Denken sowie die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und Beziehungen zu haben. All dies konstituiert das Subjekt, und das Subjekt beruht auf Erinnern und darauf, Gegenwart und Vergangenheit in die Zukunft zu projizieren. Mir ist klar geworden, dass ich Subjektivität sehr betont habe, um Erinnerung zu interpretieren. Wenn du nicht anerkennst, dass Erinnerung subjektiv ist, verstehst du sie einfach nicht. Denn deine Interviewpartner_innen berichten ja keine Fakten, sondern die Art und Weise, wie sie etwas gesehen haben, wie sie etwas durchlebt haben. Du konstruierst damit also wirklich eine Geschichte der Subjektivität. Deshalb waren die traditionellen Historiker_innen auch so sehr gegen unser Projekt, Oral 10 Mikhail Bakthin, Rabelais and his world, Bloomington 1941. 11 Luisa Passerini, Storie di donne e femministe, Turin 1991 (ungarische Übersetzung Budapest 2003).
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History zu betreiben. Sie haben gesagt, dass Oral History sogar als Begriff ein Widerspruch in sich selbst sei, weil Geschichte niemals ausschließlich mündlich sein könne. Und natürlich kann Geschichte nicht nur mündlich sein. Aber Zeugnissen von heute Relevanz zu verleihen, war ein Weg um anzuerkennen, wie wichtig die Geschichte der Subjektivität ist. Das war alles am Ende der 1970er- und während der 1980er-Jahre.12 In den 1990ern erweiterte ich dann meinen Blickwinkel dank der Erfahrung, Seminare über Erinnerung zu halten – an der New York University, der University of California, Berkeley und vor allem am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz, wo ich von 1994 bis 2001 lehrte. Als ich mich darum bemühte, die Bedeutung von Erinnerung, die als Form von Subjektivität verstanden wird, in meinen Seminaren zu vermitteln, wurde mir klar, dass es keine Subjektivität ohne Intersubjektivät geben kann.13 Ohne eine Beziehung kannst du nicht zum vollständigen Subjekt werden. Intersubjektivität ist die wichtigste Kategorie. Erinnerung findet stets innerhalb von Beziehungen statt. Maurice Halbwachs hat ja zur kollektiven Erinnerung gearbeitet, aber die extreme Position vertreten, dass Erinnerung nur kollektiv sein kann.14 Wörtlich genommen ist das natürlich übertrieben. Aber wir können uns nur in Beziehungen, im Austausch erinnern. Augustinus hat gesagt, dass man sich daran erinnern muss, sich zu erinnern, sonst vergisst man. Das ist das Paradox von Erinnerung: Wir können nicht nach etwas Verlorenem suchen, ohne dass wir uns zumindest teilweise daran erinnern. Das heißt aber auch, dass es bei Erinnerung um einen Dialog in einem selbst geht – und bei Augustinus besteht der grundlegende Dialog in der Beziehung mit Gott.15 Für Augustinus beruht Erinnerung also auf der ganzen Dialektik des Individuums und der Beziehung zum anderen. Ein zentrales Element ist dabei die Beziehung zwischen verschiedenen Generationen, weil es um soziales Gedächtnis geht.16 Als Mediävistin mit einem Schwerpunkt auf Europa und dem Nahen Osten arbeite ich in einer anderen Epoche und mit einem anderen geografischen Horizont als Du. In meiner transkulturellen Forschung stehen mir vor allem die oft es12 Luisa Passerini, Storia e soggettivit/. Le fonti orali, la memoria, Scandicci 1988. 13 Luisa Passerini, Memory and Utopia. The Primacy of Intersubjectivity, London 2007 (ital. Orig. 2003). 14 Vgl. Maurice Halbwachs, On Collective Memory, Chicago 1992. 15 Augustinus, Bekenntnisse, Buch 10, übers. und hg. von Kurt Flasch u. Burkhard Mojsisch, Stuttgart 2009. 16 Luisa Passerini, Shareable Narratives? Intersubjectivity, Life Stories and Reinterpreting the Past, unter : bancroft.berkeley.edu/ROHO/education/docs/shareablenarratives.doc, Zugriff: 16. August 2002 (aktuell nicht mehr zugänglich); vgl. die polnische Übersetzung: dies., Shareable Narratives? Intersubiektywnos´c´, historie z˙ycia i reinterpretowanie przeszłos´ci, in: Kornelia Kon´czal (Hg.), (Kon)texsty Pamieci Antologia, Warschau 2014, 191–204.
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sentialistischen Begriffe und Kategorien des 19. Jahrhunderts im Wege, die ich erst einmal dekonstruieren muss, um sie transkulturell verwenden zu können. Zudem kann ich meine Quellenbasis nicht so erweitern, wie Du es getan hast, indem Du Interviews führst. Das ist eine andere Ausgangsbasis, um sich mit Subjektivität zu befassen und meinen analytischen Zugang zu reflektieren. Ich denke, da bist Du in der Geschichtswissenschaft als Mediävistin in einer guten Position. In Italien war die Zeitgeschichte eine große Gegnerin von Oral History. Wir haben von den Mediävist_innen, die sich vor allem in Frankreich mit mentalen Prozessen befassten, viel gelernt. In der Zeitgeschichte ging es hingegen um politische, soziale und wirtschaftliche Fakten. Subjekte – kollektiv oder individuell – spielten hier keine Rolle, niemand befasste sich mit Subjektivität. Einige der britischen Sozialhistoriker_innen waren da schon weiter. Edward P. Thompson redete zwar nicht von Subjektivität, aber die Arbeiterklasse, die er untersuchte, war eine Arbeiterklasse mit Ideen, Entscheidungen, agency und Vorstellungen. Am Ursprung der Oral History stand die Illusion, Leuten eine Stimme zu geben, die bisher in der Geschichte nicht gehört worden waren, die Illusion, entdecken zu können, was bisher der Geschichte ,verborgen‘ geblieben war. Die Buchtitel aus dieser Zeit drücken das aus – „The Voice of the Past“ von Paul Thompson, „Hidden from History“ von Sheila Rowbotham.17 Aber die Konzepte des Subjekts und der Subjektivität in die Oral History einzuführen, bedeutet eigentlich genau das Gegenteil – nämlich eine Absage an das Programm der traditionellen Historiker_innen. Denn damit sagten wir : ,Wir konstruieren unsere Quellen, aber eure Quellen sind auch alle konstruiert, ob von der Polizei, dem Staat oder anderen.‘ Das heißt, dass ,unsere Quellen‘ Quellen zur Geschichte der Subjektivität sind, aber dass die herkömmlichen Quellen der traditionellen Geschichtswissenschaft genauso subjektiv sind. Geschichte ist immer ein Konstrukt, niemals ein ,objektiver‘ Bericht darüber, wie es ,eigentlich gewesen‘ ist. Du hast Dein Geschichts- und Philosophiestudium in Turin mit einer Arbeit über das 18. Jahrhundert abgeschlossen … In dieser Arbeit, die ich 1965 verteidigt habe, ging es um das Konzept der historischen Krise bei Henri de St. Simon und Auguste Comte. Das war weit von Geschlechtergeschichte entfernt, es war eine Ideengeschichte über sozialistische Utopien und sehr philosophisch. Als ich zur Oral History wechselte, war das ein 17 Paul Thompson, The Voice of the Past. Oral history, Oxford 1978; Sheila Rowbotham, Hidden from History. Rediscovering Women in History from the 17th Century to the Present, New York 1974.
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ziemlicher Sprung zum 20. Jahrhundert – ein Sprung, der durch die politischen Bewegungen der 1960er-Jahre möglich wurde. Warum fragst Du mich das? Weil ich mich frage, ob es ein Zufall ist, dass Du Dich in Deinen Forschungen aus dem 18. Jahrhundert vorwärts ins 20. Jahrhundert und nicht rückwärts ins 17. Jahrhundert oder noch weiter zurück bis zum Römischen Reich bewegt hast. Hättest Du das, was Du getan hast, auch anhand des 15. Jahrhunderts tun können? Nicht mit dem Römischen Reich, glaube ich, aber vielleicht mit einer späteren Epoche … Ich weiß es nicht, ich habe nie darüber nachgedacht. Das, was wir taten, war sehr direkt. Wir haben die alten Arbeiter_innen von Fiat interviewt, die unserer Auffassung nach weiterhin die Subjekte der Revolution waren. Es war ein Weg, um unsere Erfahrung mit den sozialen Bewegungen in der politischen Welt in die Forschungsarbeit zu übertragen. Oral History, wie wir sie praktizierten, entstand aus der Niederlage in den späten 1970ern. Wir hatten politisch eine Niederlage erlitten, also gingen wir in die Geschichtswissenschaft, in die Welt der Forschung. Die harte, schwierige Arbeit, um Erinnerung und Subjektivität zu verstehen, kam erst später. Aber die 68er haben doch viel verändert … Das ist richtig, aber es hat uns nicht viel bedeutet, weil wir verloren hatten. Alle waren damals ziemlich deprimiert. Aus dieser Niederlage ist auch der Terrorismus stärker geworden – meiner Auffassung nach aus Verzweiflung und Verlust. Zu welchem Zeitpunkt fand für euch diese Niederlage statt? Ich denke, das war 1973, als in Turin die große Besetzung von Mirafiori, der wichtigsten Fiat-Fabrik, schlimm endete, weil die Arbeiter_innen, die bei der Besetzung mitmachten, die Vereinbarung, die die Gewerkschaften mit dem Management von Fiat abgeschlossen hatten, nicht akzeptierten. Damit hatten die Arbeiter_innen ihre Legitimierung verloren und die Bewegung der radikalen Linken war zum Scheitern verurteilt. Und das betraf auch uns Feministinnen, die wir so radikal gewesen waren. Es war klar, dass sich der Feminismus nun ändern musste, und es veränderte sich überhaupt vieles. Wir wurden als radikale Bewegung als erste ,Welle‘ angesehen, aber dann kam die zweite ,Welle‘ und eigentlich eine Reihe von ,Wellen‘: In der zweiten Hälfte der 1970er wurden Frauen in den neuen linken Bewegungen zu Feministinnen – und spalteten die radikalen Gruppen –, danach wurden die Gewerkschaftlerinnen Feministinnen und so
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weiter. Wir sagten, dass es ,viele Anfänge‘ gab. Feminismus ist ein weites und heterogenes Konzept, keine feststehende Größe. Warum hast Du Europa als wichtigen Bezugspunkt Deiner Forschungen gewählt? Ich bin nun mal als Europäerin geboren und sehe es als meine intellektuelle Aufgabe, Europa von innen zu kritisieren und den Eurozentrismus aufzubrechen. Heute ist es noch klarer als damals, dass Europa ein großes Problem damit hat, Menschen von außerhalb aufzunehmen. Die Leute, die in Europa regieren, scheinen dieses Problem zu ignorieren. Ich bin entsetzt darüber, wie machtlos und unwillig die Politiker_innen im Europäischen Parlament sind. Als Intellektuelle arbeite ich an dieser Aufgabe auf meinem Gebiet. Ich habe den Eindruck, dass ich diese Aufgabe nicht gewählt, sondern geerbt und erhalten habe – was auch immer intellektuelle Tätigkeit hier gesellschaftspolitisch bewirken mag. In den populistischen Bewegungen und Regierungen der letzten Jahre sind zentrale Konzepte, die ab den 1980er/90er-Jahren in den Kulturwissenschaften geprägt und diskutiert worden waren – wie Identität/Alterität, Geschlecht/Gender und das Aufbrechen des alten essentialistischen Tatsachenbegriffs –, übernommen und pervertiert worden: Es gibt Bewegungen von Identitären, die AntiGenderismusdebatte und nun auch noch die „alternative facts“ in der TrumpRegierung. Haben wir als Kulturwissenschaftler_innen etwas falsch gemacht? Nein, ich denke, wir hatten recht – und gerade weil wir recht hatten, wurden diese Leitbegriffe aufgenommen und gegen uns verwendet. Es gibt eine wunderbare Interpretation der 68er-Bewegung von Luc Boltanski und Eve Chiapello in ihrem Buch „Le nouvel esprit du capitalisme“ (1999).18 Sie sagen, dass die Forderungen und Leitbegriffe der 68er-Bewegung aufgenommen und umgedeutet wurden. Die sexuelle Befreiung wurde zum Sex, der in Werbung und Politik – wie in Italien beispielsweise von Berlusconi – verkauft wurde. Aus der Forderung nach Freiheit am Arbeitsplatz wurde der Druck zur globalen Flexibilisierung von Arbeit, was prekäre Arbeitsverhältnisse vor allem für die Jungen bedeutete. Die Forderung nach sexueller Befreiung wurde zum freien Markt von Sex umgewandelt, ein Kommerz, der alle Felder einschließlich der Politik durchdringt. Die Leitbegriffe der 68er wurden unwirksam, weil sie pervertiert in die Praxis umgesetzt wurden. Ein weiteres Beispiel ist der Kampf gegen die „Festung Europa“, den einige von uns intellektuell und politisch geführt haben. Nun gibt es in Deutschland Bewegungen wie Pegida, die verkünden, dass wir die „Festung Europa“ brauchen. 18 Luc Boltanski u. ðve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003.
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Wir müssen dagegen etwas Neues setzen und vielleicht gleichzeitig auch nochmal einige Schritte zurückgehen – etwa einige Werke von Marx neu lesen und einige Strömungen radikalen Denkens wiederbeleben. Ich lese gerade die Arbeiten von Henri Lefebvre aus den 1970ern für meine Arbeiten über Raum, Erinnerungen und Raum von Migrant_innen wieder. Lefebvre hatte schon viele Dinge gesagt, die wir versuchen, heute zu sagen. Und wir müssen einige Aspekte des radikalen Feminismus wiederbeleben, in der Theorie wie auch in der Praxis. Wir müssen versuchen, einige politische Interpretationen dessen, was wir erforscht haben, neu zu erfinden. Aber wir müssen dabei bleiben, dass es nicht die eine historische Wahrheit gibt. In der Politik mag das Konzept der einen Wahrheit Sinn machen, aber für Historiker_innen kann das nicht funktionieren.
Mercedes Barquet Montané im Gespräch mit Teresa Frisch-Soto (2006)*
Feministische Bewegungen in Mexiko**
Mercedes Barquet Montan8 (1947–2012), die in Mexiko und an der Princeton University in den USA Anthropologie und Soziologie studiert hat, widmete einen großen Teil ihres Lebens der Erforschung, Lehre und Verbreitung von Feminismus und Frauenrechten. Sie war Dozentin an verschiedenen akademischen Institutionen in Mexiko, lehrte auch an Universitäten in Bolivien, den USA und den Niederlanden und war Mitglied im Editorial Board des „Journal of Women, Politics & Policy“. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehörten unter anderem feministische Theorie, Frauenbewegungen und deren Einbindung in staatliche Strukturen, Gender Mainstreaming und Politik sowie Demokratiefragen. In Anerkennung ihres Engagements für die Menschenrechte von Frauen wurde sie 2011 als Vertreterin der beiden Amerikas zum Mitglied der fünfköpfigen UNArbeitsgruppe gegen die Diskriminierung von Frauen ernannt.1 Das in spanischer Sprache geführte Interview2 mit Mercedes Barquet Montan8 entstand im Rahmen des XV. internationalen Sommerkurses für Genderforschung, der vom Programa Interdisciplinario de Estudios de la Mujer (PIEM), einem Programm für interdisziplinäre Frauenforschung am Colegio de M8xico, im Juni und Juli 2005 abgehalten wurde. An der internationalen Veranstaltung in Mexiko-Stadt nahmen Expertinnen und Experten aus allen Kontinenten teil.
* Teresa Frisch-Soto war langjährige Mitarbeiterin am Lateinamerika-Lehrstuhl des Instituts für Geschichte der Universität Wien und als Lektorin für die Geschichte Lateinamerikas tätig. Sie hat u. a. über die Alianza Popular Revolucionaria Americana (APRA), den Protestantismus in Lateinamerika bzw. Peru vom 16. bis zum 19. Jahrhundert und über die politische Geschichte sowie Frauen und Politik in Lateinamerika geforscht und publiziert. ** Zuerst veröffentlicht in L’Homme. Z. F. G., 17, 2 (2006): Mediterrane Märkte, hg. von Margareth Lanzinger u. Edith Saurer, 99–105. Erscheint hier mit erweiterter und aktualisierter Einleitung sowie mit manchen Konkretisierungen und geringfügiger sprachlicher Bearbeitung. 1 Vgl. die Nachrufe auf Mercedes Barquet Montan8, etwa unter : www.heroinas.net/2012/12/mer cedes-barquet-una-vida-academica-en.html, Zugriff: 26. 7. 2019. 2 Das Gespräch wurde von Teresa Frisch-Soto ins Deutsche übersetzt.
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Mercedes Barquet Montan8, seit 1988 Dozentin am PIEM, gibt im Interview einen Einblick in die Situation der mexikanischen Frauen ab den 1970er-Jahren. Sie analysiert darüber hinaus die Bedeutung von NGOs für das Land sowie die mexikanischen feministischen Bewegungen vor dem Hintergrund der soziopolitischen Veränderungen des Landes und beschreibt dabei auch Probleme, mit denen die mexikanische Gesellschaft zum Interviewzeitpunkt konfrontiert war. Teresa Frisch-Soto: Welche Momente sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten in der Geschichte der feministischen Bewegungen in Mexiko? Mercedes Barquet Montan8: Ich gehe ein wenig zurück, in die Zeit der sogenannten „Zweiten Welle des Feminismus“ in den 1970er-Jahren. Damals wurde eine wichtige Grundlage geschaffen, denn die erste Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen fand 1975 in Mexiko-Stadt statt. Sie hat hier große Aufmerksamkeit erregt, zumal das, was damals in den USA geschah, auch Auswirkungen in Mexiko hatte: Die Bürgerrechtsbewegungen und der Protest gegen den Vietnamkrieg beeinflussten die mexikanische Studentenbewegung. Ein öffentlicher, politischer Raum war also bereits vorhanden, der die Verbreitung neuer Ideen und eine politische Partizipation ermöglichte. Der gewaltige Protest der Studenten von 1968 erschütterte das politische System Mexikos nachhaltig. Dessen Legitimität, also die Einparteienherrschaft, der autoritäre und fast diktatorische Führungsstil wurden in Frage gestellt. Die Weltfrauenkonferenz popularisierte diesen Bruch, die Lebensbedingungen der Frauen wurden sichtbar gemacht und die Frauen begannen, sich offen an Politik zu beteiligen. In den 1970er- und 1980er-Jahren ging es vor allem darum, erste Initiativen ins Leben zu rufen, Selbstverortungen vorzunehmen, Öffentlichkeit und eine Atmosphäre zu schaffen, die Bewusstseinsbildung erlauben würde; es ging um das Ausloten von Möglichkeiten und Zielgruppen sowie um das Herstellen von Kontakten zwischen kritischen Frauengruppen untereinander. Eine sehr wichtige Rolle spielte dabei Elena Urrutia, die Gründerin des PIEM, die im Jahr 1976 auch die Zeitschrift „Fem“3 gründete – als erstes lateinamerikanisches Medium, das sich dezidiert Frauenthemen widmete. „Fem“ ist zu einem wichtigen Forum für die feministischen Bewegungen und den Kampf um Menschenrechte geworden. Zentrale Themen sind die Situation der Frauen in der Arbeitswelt, Abtreibung, Mutterschaft, die Rolle von Frauen in der Politik und ihr Beitrag zu Kunst und Kultur. 3 Nähere Informationen zu dieser Zeitschrift, die bis 2005 bestand, unter : https://en.wikipedia. org/wiki/Fem_(magazine), Zugriff: 28. 10. 2019.
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Zahlreich waren bereits damals die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in Mexiko vertreten; sie hatten damit begonnen, Probleme von Frauen zu erheben, um deren Lage zu verbessern. Ihr Einsatz war aufgrund der Krise des Staates notwendig geworden, der seine Aufgaben gegenüber der Gesellschaft nicht mehr im ausreichenden Maß wahrnahm. Die kleinen Frauenorganisationen, die als Teil der Zivilgesellschaft nahe an den Problemherden agierten, suchten national und international größere Aufmerksamkeit zu erreichen. Infolgedessen nahmen die NGOs sowohl zahlenmäßig als auch in ihrer Bedeutung zu und ihre finanziellen Ressourcen wuchsen. Bald darauf führte der Fall der Berliner Mauer jedoch zu einer schwierigen Situation. Die europäischen Ressourcen wurden nun – zum Nachteil von Lateinamerika – hauptsächlich für den ehemaligen Ostblock aufgewendet. Ich sollte auch erwähnen, dass die 1980er- und 1990er-Jahre von Autonomie und starken Vorbehalten der feministischen Bewegungen gegenüber dem Staat gekennzeichnet waren. Zugleich suchte der mexikanische Staat – im Sinne einer Überlebensstrategie – die Zusammenarbeit mit den feministischen Bewegungen und machte sich zum Sprecher ihrer Interessen. So wurden zum Beispiel Posten in Ministerien mit führenden Mitgliedern dieser Bewegungen besetzt, gewisse Frauenorganisationen wurden finanziell unterstützt oder ihre Zusammenarbeit mit staatlichen Instanzen gefördert. Ende der 1990er-Jahre folgte eine Phase der Neuetablierung. Bereits existierende feministische Organisationen wurden vom Staat wieder ausreichend finanziert und konnten vielen Frauen eine bezahlte Beschäftigung bieten. Sie engagierten sich für diverse Interessenslagen der Frauen – das heißt, Frauen mit politischen und sozialen Anliegen aus dem Umfeld der Kirche, aber auch aus den linken Parteien strebten nach Transformation. Die sozialen und politischen Aktivitäten boten ihnen Handlungsräume; sie konnten als Teil der Gesellschaft jenseits (staats-)politischer Instrumentalisierung ihre Stimmen erheben. Diese Möglichkeit hatten sie vorher nicht, weder in den Parteien noch in der Kirche. In den 1990er-Jahren kam es zu einer verstärkten Institutionalisierung, ein Trend, der bis heute anhält. Auf der UN-Weltfrauenkonferenz 1975 hatten alle Staaten die Einrichtung eines nationalen Frauenbüros beschlossen, was in Mexiko nicht konsequent umgesetzt wurde. Der Interessenslage der jeweiligen Regierung entsprechend, änderten sich die frauenspezifischen Programme alle sechs Jahre. Es gab keine Kontinuität, bis die Regierung unter Ernesto Zedillo 1995 ein Nationales Frauenprogramm verabschiedete, aus dem bald darauf eine Nationale Kommission für Frauenfragen hervorging, an der sich mehrere Regierungsstellen und Teile der öffentlichen Bundesverwaltung beteiligten. Gleich 1975 war das Frauenbüro in den Nationalen Rat für Bevölkerungsfragen und damit in ein Ministerium der Regierung verlagert worden. Dieser Nationale Rat für Bevölkerungsfragen hatte 1974 mit Programmen zur Gebur-
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tenkontrolle begonnen. Die Bevölkerung wuchs enorm, und man sah in den Frauen das wesentliche Element der Bevölkerungspolitik. Meiner Meinung nach ging es dabei vor allem um eine Instrumentalisierung der Frauen zur Steuerung des Bevölkerungswachstums. Viele der Frauenprogramme hatten einen solchen Charakter : In erster Linie sollten staatliche Interessen durchgesetzt werden, und diese mussten sich überhaupt nicht mit jenen der Frauen decken. Die Politik der Geburtenkontrolle war typisch für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht nur in Mexiko. Einen weiteren Meilenstein bedeutete Ende der 1990er-Jahre die Gründung eines Frauenprogramms in der Hauptstadt und die Etablierung der Kommission für Gleichstellung und Geschlechterfragen in der Abgeordnetenkammer. Darüber hinaus begann man, Frauenprogramme in verschiedenen Bundesstaaten zu organisieren. Welche sind die wichtigsten Frauengruppen in Mexiko, und wie lassen sich ihre Anliegen und Programme beschreiben? Die Plattform Feministische Bewegung ist seit den 1970er-Jahren eine der wichtigsten Gruppen, besonders im Hauptstadtdistrikt, also in Mexiko-Stadt. Nachdem Mexiko ein sehr zentralistisches Land ist, hat das, was im Hauptstadtdistrikt geschieht, auch Auswirkungen auf den Rest des Landes. Dort befinden sich die Universitäten und dort ist der Schwerpunkt des intellektuellen, politischen und kulturellen Lebens insgesamt. Rund um das Jahr 1975 hatte die Feministische Bewegung besonders im kulturellen Bereich – am Theater und in der Literatur – eine gewisse Präsenz, aber auch in den Medien, wo Fragen der Geschlechterpolitik und Ähnliches erörtert wurden. Heute gibt es ein viel breiteres Spektrum an Bewegungen, darunter sehr aktive Gruppen – nicht nur im Zentrum, sondern auch in Michoac#n oder im Südosten und im Norden des Landes: etwa die Frauenorganisation Emas (Equipo Mujeres en Accijn Solidaria) oder die NGO K’inal Antzetik (Welt der Frauen) in Chiapas und Mexiko-Stadt. Die Gruppe Feministische Bewegung war in den 1980er-Jahren als Plattform organisiert und verfolgte drei sehr konkrete Anliegen: die sexuelle Selbstbestimmung, die freie und freiwillige Mutterschaft und das Recht auf Abtreibung. Dieses Thema ist in Mexiko besonders heikel, da es eine neue Selbstsicht der Frauen bedeutet. Später, mit dem Prozess der Institutionalisierung auf staatlicher Ebene, wurden die Forderungen der Frauen teilweise erfüllt. Durch diese Institutionalisierung verlor die Feministische Bewegung jedoch an Glaubwürdigkeit, und die mexikanische Gesellschaft begann nicht nur das Staatswesen zu hinterfragen, sondern die Feministische Bewegung selbst als Monolithen zu bezeichnen, welcher der Pluralität der Anliegen der Frauen nicht gerecht werde.
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Aktuell beobachte ich eine Phase der Anpassung; genau genommen begann diese mit der Einrichtung des Nationalen Instituts für Frauenangelegenheiten (Instituto Nacional de las Mujeres) im Jahr 2000. Dieses kooperiert mit allen Ministerien und Ämtern der öffentlichen Verwaltung. Die Feministinnen fühlen sich in diesem Institut jedoch nicht vertreten. Den Frauen der extremen Rechten ist es nicht weit genug rechts positioniert, jene der politischen Mitte sehen sich nicht repräsentiert und so weiter. Pluralität ist ein wesentlicher Zug der mexikanischen Gesellschaft, schon deshalb, weil sie aus verschiedenen ethnischen Gruppen zusammengesetzt ist. Der Übergang zu demokratischen Verhältnissen und zu einem Mehrparteiensystem ist zwar erfolgt, doch haben die Parteien ihr Prestige verloren, und auch allen übrigen Institutionen wird wenig Vertrauen entgegengebracht. Die Medien spielten und spielen bei all dem eine höchst verantwortungslose Rolle; sie kolportierten ständig irgendwelche Dinge, die kaum zu belegen sind. Die 71 Jahre der Einparteienregierung haben nicht die Voraussetzungen zur Entwicklung eines staatsbürgerlichen Denkens geboten. Mit dem Paternalismus war unter anderem die politische Unterdrückung der Pressefreiheit verbunden gewesen. Im Augenblick der politischen Öffnung fehlten uns daher die Instrumente zum Dialog, zum Verhandeln und um Allianzen zu bilden. Da die autonomen Gewerkschaften von den Regierungen4 ausgeschlossen waren, entstand keine Tradition, soziale Anliegen in die öffentliche Verantwortung einzubinden. Besteht die Gefahr, dass die Frauenorganisationen durch das Nationale Institut für Frauenfragen vereinnahmt werden? Unter der letzten Regierung von Vicente Fox Quesada (bürgerlich-konservativer Präsident Mexikos 2000–2006) schien die Gefahr der Vereinnahmung geringer, er konnte sich auf keine einschlägigen Traditionen stützen, er war ein politischer Neuling. Er hatte nicht die Netzwerke, über die die Partido Revolucionario Institucional (PRI) weiterhin verfügt, auch wenn diese nicht mehr an der Regierung ist. Ich glaube, es gibt Versuche, das Nationale Institut für Frauenfragen in zwei völlig verschiedene Richtungen zu ziehen: in eine sehr konservative und in eine, die radikalere Anliegen vertritt. Die Aktionen des Instituts folgten bislang einem Mittelweg, keine der beiden Positionen erreichte eine Vormachtstellung. Das finde ich sehr klug.
4 Gemeint sind die Regierungen seit der Gründung (1929) der PRI (Partido Revolucionario Institucional, „Institutionalisierte Revolutionspartei“), die bis 2000 de facto eine Einheitspartei war.
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Die Frauenorganisationen hinterfragen auch ihre eigenen Aktivitäten. Es wird beispielsweise diskutiert, ob man ihnen den Diskurs ,geraubt‘ hat, was meiner Meinung nach in dem Sinn zu verstehen ist, dass jede Institutionalisierung eine Bewegung neutralisiert. Die feministischen Bewegungen forderten lange eine eigene Instanz in der Regierung und ein Programm für Frauenangelegenheiten. Mit deren Realisierung entstanden neue Diskussionen, vor allem um die verloren gegangene Radikalität. Wer erst einmal an der Regierung ist, muss für alle regieren und steht unter dem Druck aller. Ein Beispiel: Die Gruppen der extremen Rechten kämpfen gegen die Antibabypille und gegen das Recht auf Abtreibung. Darauf begann die Präsidentin des Instituts für Frauenfragen, Patricia Espinosa, eine Debatte zur „Pille danach“. Sie empfahl über die Presse deren Anwendung als Maßnahme der öffentlichen Gesundheit, die ein laizistischer mexikanischer Staat im Rahmen der Gesundheitspolitik setzen sollte. Das führte zu einem Diskussionsprozess am Obersten Gerichtshof, der schließlich diese Pille als Maßnahme der öffentlichen Gesundheitspolitik befürwortete; die Kontroverse freilich geht weiter. Aufgrund der Bedeutung der katholischen Kirche muss das Thema Abtreibung in Mexiko sehr vorsichtig behandelt werden. In diesem Zusammenhang geht es auch um Programme der Sexualerziehung, nicht zuletzt um Abtreibungen durch breite Information über Sexualität und Gesundheit etc. vorzubeugen. Und für den Fall, dass alle Vorsorgemaßnahmen scheitern, vor allem in Notfällen, bei Vergewaltigungen etwa, sollten Frauen das Recht auf Freiheit über ihren eigenen Körper haben. Wir Feministinnen fordern daher die Straffreiheit für den Abortus. Es gibt zwar gesetzliche Regelungen für die Vorgangsweise im Falle von Vergewaltigungen, die werden aber in jedem Bundesstaat anders gehandhabt. Doch können wir das nicht als gesamtgesellschaftliches Anliegen betrachten. Die Ärzte und Ärztinnen beispielsweise sind in dieser Angelegenheit geteilter Meinung. Was gehört für Sie zu den wichtigsten Erfolgen der Frauen, welche ihrer Forderungen haben sie bereits durchgesetzt? Für die letzten Jahre würde ich die kulturelle Präsenz von Frauen, eine veränderte Einstellung und Sensibilisierung der Gesellschaft gegenüber den Problemen der Frauen als zentrale Erfolge nennen. Hier wiederum haben die Medien eine positive Rolle gespielt: Sie brachten verstärkt frauenbezogene Themen an die Öffentlichkeit. Schon allein dadurch wurde der traditionelle Machismo der mexikanischen Männer offen hinterfragt. Die Männer müssen etwa zur Kenntnis nehmen, dass sie Frauen nicht misshandeln dürfen. Gewalt in der Familie ist immer noch ein gravierendes Problem – ich glaube, nicht nur hier in Mexiko. Durch die Berichterstattung und durch die Information der Öffentlichkeit wurde
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erreicht, dass innerfamiliäre Gewaltakte vermehrt angezeigt werden. Es gibt einschlägige Gesetze und damit ist Gewalt in der Familie keine unentrinnbare Sache mehr. Frauenbilder, die Frauen mit ,sozialem Abfall‘ gleichsetzen und damit quasi gewalttätige Beziehungen legitimieren, verschwinden langsam. Es ist ein langwieriger Prozess, aber dank der Arbeit der Frauenbewegungen schreitet er voran. Was sagen Sie zu den massenhaften Morden an Frauen in der nordmexikanischen Grenzstadt Ciudad Ju#rez? Dieses Problem ist international bekannt und vermittelt ein sehr negatives Bild unseres Landes. Etwa 400 Frauen wurden bisher ermordet oder sind verschwunden. Es handelt sich um ausschließlich geschlechtsspezifische Gewalt. Die verstümmelten Körper brutal vergewaltigter Frauen werden auf Müllhalden oder in die Wüste geworfen. Diese Grausamkeiten begannen bereits Anfang der 1990er-Jahre – sämtliche Untersuchungen kamen bislang zu keinem Ergebnis. In Ciudad Ju#rez befinden sich Maquilas,5 dort leben junge Frauen alleine, häufig sind sie vor ihren Familien oder vor der Armut in ihren Dörfern davongelaufen. Diese Frauen suchen sich irgendeine billige Unterkunft und landen in Stadtteilen, die weder Infrastruktur noch Sicherheit bieten. Andererseits sind die Frauen dort autonom, sie arbeiten und haben ihre Freiheiten. Viele Männer fühlen sich durch diese jungen Frauen, die machen, was sie wollen, die abends ausgehen und auch Bars besuchen, ausgegrenzt und provoziert. Es könnte sich um eine Form der Bestrafung für diese Selbstständigkeit handeln. Denn das ideologische Konzept, dass Frauen in allem zu gehorchen hätten, dass man sie gebrauchen und dann wegwerfen dürfe, ist immer noch sehr präsent. Man muss auch über die Komplizenschaften der Autoritäten sprechen, und zwar sowohl auf staatlicher als auch auf bundesstaatlicher und kommunaler Ebene, sowie über die Polizei und die Justiz. Alle sind mit allen verstrickt, es gibt Seilschaften und niemand wird zur Verantwortung gezogen. Für keinen der Morde hat man Täter, es gibt zwar ein paar Verdächtige, aber niemand kann sagen, ob es sich nicht nur um vorgeschobene Sündenböcke handelt. Diese Situation ist sehr ernst, und leider handelt es sich nicht um einen Einzelfall; auch in anderen Orten in Lateinamerika sind die Verhältnisse ähnlich, in Guatemala etwa.
5 Als Maquila oder Maquiladora werden Montagebetriebe im Norden Mexikos und in Mittelamerika bezeichnet, in denen importierte Einzelteile oder Halbfertigware zu Dreiviertel- oder Fertigware für den Export zusammengesetzt werden. Sie sind das Ziel zahlreicher Migrantinnen und Migranten und ein stark wachsender Wirtschaftszweig in Niedriglohngebieten.
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Die Frauenorganisationen können sich nicht auf eine gemeinsame Strategie einigen, um etwas dagegen zu tun. Es gibt internationalen Druck durch die UNMenschenrechtskommission; es war auch schon eine Abgesandte hier, und bei zahlreichen Gelegenheiten kam es auf Regierungsebene zu Empfehlungen und Maßnahmen. Bislang blieb das allerdings ohne Erfolg. Es scheint keinen Weg zu geben, die Schuldigen zu finden – diese Art von Morden bleibt eine Herausforderung für den Rechtsstaat.
Svetlana Shakirova im Gespräch mit Susan Zimmermann (2005)*
„Nicht der letzte Waggon des Zuges“: Frauenbewegung und Geschlechterstudien in Kasachstan**
Svetlana Shakirova war in Kasachstan Frauenrechtsaktivistin der ersten Stunde und hat seit den 1990er-Jahren in ihrem Land vieles in Bewegung gebracht. Die Sozialphilosophin, die 1996 an der Al-Farabi Kazakh National University über „Feminism as philosophical problem“ dissertierte, war 1995 Mitbegründerin der NGO Feministische Liga (Feministskaya Liga) und wurde später deren Präsidentin. 1998 hat sie in Almaty ein Zentrum für Geschlechterstudien (Centr Gendernykh Issledovaniy) mitbegründet, das sie bis 2011 leitete. Seither wirkt sie als Direktorin des Research Departments an der Almaty Management University und forscht zu Frauenbewegungen und Feminismus in Zentralasien, Gender-Dimensionen des nation-building-Prozesses in Kasachstan sowie zu aktuellen Fragen von Gleichstellung und Geschlechterpolitik in ihrem Land. Durch zahlreiche englischsprachige Tagungspapers und Publikationen ist Svetlana Shakirova auch international bestens vernetzt.1 Das Interview wurde für das „L’Homme“-Schwerpunktheft „Übergänge OstWest-Feminismen“ 2005 in Almaty geführt – in englischer Sprache.2 Es thematisiert die kasachische Frauenbewegung der postsowjetischen Ära und auf welche Weise bei den Gleichstellungskampagnen lokale/nationale AkteurInnen und transnationale Initiativen, etwa das United Nations Development Programme * Die Historikerin Susan Zimmermann ist Professorin an der Central European University, Budapest/Wien, und seit 2014 Präsidentin der ITH – International Conference of Labour and Social History, die ihren Sitz in Wien hat. Die Schwerpunkte ihrer Forschung und Publikationen sind die transnationale Geschichte von Arbeits- und Sozialpolitik, die Geschichte von Frauenbewegungen und internationalen Frauenorganisationen sowie Internationalismen und globale Ungleichheit. ** Zuerst veröffentlicht in L’Homme. Z. F. G., 16, 1 (2005): Übergänge Ost-West-Feminismen, hg. von Ute Gerhard u. Krassimira Daskalov#, 89–96. Erscheint hier mit neuer Einleitung und geringfügiger sprachlicher Überarbeitung. 1 Vgl. etwa Svetlana Shakirova, Gender Equality Policy in Kazakhstan and the Role of International Actors in its Institutionalization, in: Yulia Gradskova u. Sara Sanders (Hg.), Institutionalizing Gender Equality. Historical and Global Perspectives, Lanham, MD 2015, 209–224. 2 Die Übersetzung ins Deutsche wurde von Susan Zimmermann erstellt.
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mit seinem „Gender in Development“-Fokus, zusammenwirkten.3 Zudem kommen die Anfänge der Gender Studies, der Stand ihrer Institutionalisierung in den 2000er-Jahren und die Schwierigkeiten bei der akademischen Etablierung geschlechterbezogener Lehre und Forschung in den Blick. Susan Zimmermann: Frau Shakirova, eine der großen, alten NGOs in Kasachstan, die Feministskaya Liga (Feministische Liga), feierte im vergangenen Jahr ihr zehnjähriges Bestehen. Sie sind Gründungsmitglied. Svetlana Shakirova: Für mich fing alles mit einer internationalen Konferenz über „Women and Society“ im Jahr 1993 in Almaty an. Dieses Großereignis war mit Unterstützung von USAID (US Agency for International Development), der offiziellen US-amerikanischen Entwicklungshilfeorganisation, zustande gekommen. Vor versammeltem Plenum ergriff der Physiker Yuri Zaitsev das Mikrophon und erklärte, er sei der Herausgeber der einzigen feministischen Zeitschrift in Kasachstan, des Mädchenblattes „Malvina“. Seit damals begreife ich mich bewusst als Feministin und nicht mehr nur als intellektuell interessierter Mensch. Und innerhalb eines Jahres hatten Yuri, ich und andere gemeinsam die Feministische Liga gegründet. Und davor? Schließlich wird man nicht von heute auf morgen Feministin … Als junge Frau, in der Zeit der Perestroika, habe ich wahnsinnig viel gelesen und diskutiert. Das reichte vom „Kapital“ von Karl Marx – mit 16 Jahren – bis zu all den interessanten intellektuellen Magazinen jener Jahre. Nach Abschluss der Schule habe ich dann Philosophie studiert. Und da ist mir ins Auge gestochen, dass sehr viele Frauen Philosophie unterrichten, während nur ganz wenige philosophische Werke oder überhaupt Publikationen in diesem Fachbereich von Frauen stammen. Das gab eigentlich den Anstoß, meine Dissertation über feministische Epistemologie zu schreiben – mit wenig Literatur und fast ganz ohne intellektuelles Umfeld, aber ich habe die Arbeit doch geschrieben. Hatte die Feministische Liga dann auch eher ein akademisches Profil? Nein, überhaupt nicht. Bei der Gründung hat keine einzige Person von einer Universität mitgewirkt, eher JournalistInnen, SchriftstellerInnen, KünstlerInnen, junge Leute, die die Universität gerade abgeschlossen hatten. Als erste 3 Vgl. dazu auch den Beitrag von Susan Zimmermann, Frauen- und Geschlechterstudien im höheren Bildungswesen in Zentraleuropa und im postsowjetischen Raum. Teil 2: AkteurInnen und Interessen im Prozess der Institutionalisierung, in: L’Homme. Z. F. G., 16, 1 (2005), 63–88.
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Präsidentin haben wir – und das war ein sehr bewusster politischer Schritt – eine Kasachin gewählt, Assiya Khairullina, noch dazu Tochter eines berühmten Malers aus der Tradition des Sozialistischen Realismus. War es von Anfang an klar, womit die Liga sich beschäftigen würde, welche Probleme sie angehen würde? Wir wollten tatsächlich schlicht und einfach etwas, ja, so viel wie möglich tun. Wir haben uns in der Gesellschaft umgesehen, wenn möglich Anlässe gesucht und uns in verschiedene Aktionen gestürzt. 1996 zum Beispiel haben wir einen kompletten Gesetzentwurf zur Durchsetzung von Geschlechtergleichheit verfasst – wir nahmen einfach das norwegische Gesetz her und adaptierten es. Allein der Kontrast zur kasachischen Realität war erhellend. Ich bin dann persönlich zum Parlament gelaufen und habe dafür gesorgt, dass jeder Abgeordnete eine Kopie erhält, mit unserer Bitte, diesen Gesetzentwurf zur Vorlage zu bringen. Insgesamt zwei Abgeordnete haben reagiert – mit Erstaunen und einem gewissen Interesse, wer wir denn seien. Und beide meinten, die geforderte Frauenquote für die gesetzgebenden Körperschaften von vierzig Prozent sei zu hoch. Wenn es nur zwanzig Prozent oder so wären, dann könne man über die Sache nachdenken. Doch wir waren ganz streng: Vierzig und genau vierzig Prozent müssten es sein … Und nichts geschah. Haben sich die Medien für diese Aktion interessiert? Für diese nicht. Aber 1998 starteten wir eine neue Kampagne. Gemeinsam mit anderen Frauengruppen hielten wir eine Pressekonferenz ab, auf der wir unsere Forderung vorstellten, dass eine Frau sich um das Präsidentenamt bewerben solle. Und die Vorsitzende der Vereinigung der Unternehmerinnen sagte: „Warum nicht? Ich stelle mich zur Verfügung.“ Da gab es plötzlich ein lautes Rauschen im Medienwald. Dies waren spannende Zeiten für uns. Die Blütezeit der Feministischen Liga? Das würde ich so nicht sagen. Aber 1997/98 waren wichtige Jahre für uns und für die Neue Frauenbewegung in Kasachstan überhaupt. Dies hing vor allem damit zusammen, dass in dieser Zeit ausländische beziehungsweise internationale Geldgeber und Organisationen sehr aktiv wurden. Von besonderer Bedeutung war, dass das UNDP (United Nations Development Programme) zum Thema GID (Gender in Development) in Almaty sehr aktiv wurde. Die Leiterin, Galiya Khassanova, arbeitete mit vielen Gruppen zusammen, ohne einzelne zu bevorzugen; und sie wirkte sehr erfolgreich auf die Gründung neuer Frauen-NGOs
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hin. Eine wichtige Aktion war der „Frauen-März“. Während des ganzen Monats lief eine Kampagne gegen Gewalt gegen Frauen, eine Konferenz wurde abgehalten etc. Zur gleichen Zeit wurde, mit finanzieller Hilfe aus den USA und Holland sowie durch die Soros-Stiftung, das erste Krisenzentrum für Frauen und ihre Kinder eröffnet. Heute gibt es zwanzig davon im ganzen Land, einige wenige werden vom Staat erhalten. Wie kommt es, dass Sie sich nach den Anfängen als Philosophie-Doktorandin in den letzten Jahren wieder auf die Wissenschaften besonnen haben? Ich begann zu verstehen, dass es Fragen gab, die durch die praktische Arbeit bestenfalls generiert, aber nicht beantwortet werden konnten, und auch solche, die mit der praktischen Arbeit gar nicht direkt in Zusammenhang stehen. Ich wollte mehr Wissen und auch mehr Information. Zum Beispiel führte ich eine kleine Meinungsumfrage über Gewalt gegen Frauen durch, finanziell unterstützt von der Central European University in Budapest. Und ich begann zu fragen: Wie lassen sich die Erfahrungen der Frauen eigentlich interpretieren? Warum denken die Menschen so über dieses Thema, wie sie eben denken? Und ich versuchte, auf diese Fragen eine ein wenig wissenschaftliche Antwort zu geben. Die Zahlen und Daten aus dieser Minierhebung von 1997 werden im Übrigen immer noch zitiert und häufig verwendet. Und dann kam, Anfang 1998, UNDP auf mich und meine Kollegin Mara Seitova zu, die als wissenschaftliche Sekretärin des Instituts für Strategische Studien unter dem Präsidenten der Republik Kasachstan, Nursultan Nasarbajew, eine wichtige Position im akademischen Management innehatte. Das UNDPBüro für Zentralasien in der usbekischen Hauptstadt Taschkent initiierte ein Projekt zur Einführung von Geschlechterstudien in allen Ländern der Region, und wir wurden gebeten, die Abhaltung eines ersten Kurses an einer kasachischen Universität vorzubereiten und zu organisieren. Die UNDP-Initiative hing zweifellos damit zusammen, dass zur gleichen Zeit die international standardisierten Sets geschlechtsspezifischer Indikatoren in die Erhebungen der nationalen statistischen Büros der einzelnen Länder Zentralasiens eingeführt wurden. Und Sie haben dann von heute auf morgen den ersten Kurs für Geschlechterstudien abgehalten? Nein. Die Direktive aus Taschkent, die eindeutig auf effizientes Management setzte, war klar : Wir sollten sehr rasch ein kurzes Intensivtraining für eine ganze Anzahl von Lehrenden der ausgewählten staatlichen Universität auf die Beine stellen, ohne grundsätzliche und langwierige theoretische Vorarbeiten, wie es
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unserer beziehungsweise der sowjetischen Tradition entspricht. Mara Seitova und ich sollten in erster Linie Organisatorinnen und Managerinnen des Kurses sein, weil, so die UNDP-Vertreterin Shahrbanou Tadjbakhsh aus Taschkent, wir nicht die Arbeit der angestellten Lehrenden verrichten sollten. Und so kam es auch. Schnell war die Staatsuniversität von Almaty als Trägerinstitution identifiziert, nicht zuletzt, weil wir gute Kontakte mit der Prorektorin der Fakultät für Internationale Beziehungen hatten. UNDP Kasachstan und der Rektor der Universität unterzeichneten eine Absichtserklärung. Gemeinsam mit einigen Lehrenden der staatlichen Universität reisten wir im Jänner 1999 nach St. Petersburg, wo wir an der European University, einer Elite-Privatuniversität, fünf Tage lang von morgens bis abends mit Vorträgen bombardiert wurden und zusätzlich jede Menge Zeit hinter dem Kopierer verbrachten. Und im Februar 1999 lief der Kurs „Geschlechtertheorien“ (der Titel stammte von uns) an der Universität Almaty an, und zwar als Pflichtlehrveranstaltung für 180 StudentInnen der Fakultät für Internationale Beziehungen. Wir fühlten uns als echte Abenteurerinnen und wussten genau, dass dies ein waghalsiges Unternehmen war. Rückblickend glaube ich, es wäre besser gewesen, wenn eine oder zwei Personen gut ausgebildet worden wären und wenn wesentlich weniger StudentInnen teilgenommen hätten. Und doch war dies der Beginn der Geschlechterstudien in Kasachstan. Und auch der Take-off ? Das würde ich so nicht sagen. Es war der erste Schritt auf einem steinigen Weg, dessen erste Etappe bis heute noch nicht abgeschlossen ist. Der Dekan der Fakultät für Internationale Beziehungen war zufrieden. Dennoch wollte er seine Fakultät, wie er sagte, nicht zum „Experimentierfeld für alles Neue“ werden lassen. Zugleich begann, noch im selben Jahr, an der prestigeträchtigen Nationalen Universität von Kasachstan die Soziologin Nazum Shedenova aus eigener Initiative, einen Kurs zur Geschlechtersoziologie zu halten. Und Mara Seitova und ich hatten unsere Aktivitäten rund um den UNDP-Kurs unmittelbar mit der Gründung unseres Centr Gendernykh Issledovaniy (Zentrum für Geschlechterstudien) verbunden. Das Zentrum entstand 1998 und ist seit 2001 formal registriert. 1999/2000 konnten wir dann mit finanzieller Unterstützung der Central European University ein dreistufiges Seminar über Geschlechterforschung abhalten, das in erster Linie für Lehrende und DoktorandInnen gedacht war. Es gab Vorträge und Round-Table-Diskussionen zu den Themengebieten „Theorien des Geschlechts“, „Die geschlechtsspezifische Dimension in den Strukturen der sozialen Ungleichheit“ und „Geschlecht in der kulturellen Dimension“. Ein Teil der Texte unserer Gastvortragenden ist unter dem Titel „Das Geschlecht der Frauen“ erschienen, Mara Seitova und ich haben die Einleitung
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verfasst. Gleichzeitig gab das Institut für Philosophie an der kasachischen Akademie der Wissenschaften das Textbuch „Einführung in die Geschlechterstudien“ heraus. Die letztere Initiative war wiederum von UNDP Almaty ausgegangen. Aber weder das eine noch das andere Buch sind, aus heutiger Sicht, wirklich brauchbar, wenn es darum geht, StudentInnen an das komplexe Feld der Geschlechterstudien heranzuführen. Nach diesen vorbereitenden Schritten kam unser Kampf allerdings ins Stocken. Unser Zentrum für Geschlechterstudien ist letztlich nur eine NGO, und wir stehen beim Versuch, Geschlechterstudien zu institutionalisieren, den extrem bürokratischen und hierarchischen Universitätsstrukturen ziemlich hilf- und einflusslos gegenüber. Ich selbst bin hin und wieder Gastlektorin an verschiedenen Hochschulen. Die an den Universitäten fest verankerten Kolleginnen können auch nicht mehr tun, als in ihren eigenen Lehrveranstaltungen die Geschlechterdimension zu berücksichtigen. Ein zentrales Hindernis für jede weitergehende Institutionalisierung ist die Struktur der Lehrpläne, die wir noch aus Sowjetzeiten ererbt haben. In den ersten drei Studienjahren gibt es fast nur Pflichtlehrveranstaltungen, und der Spielraum der StudentInnen zur Entfaltung eigener Interessen ist minimal. Was tun Sie, um neue Dynamik in die Entwicklung der Geschlechterstudien hineinzutragen? Einerseits setzen wir unsere Bemühungen zur ,Verbreitung des Gedankens‘ fort. So haben wir zum Beispiel eine StudentInnen-Konferenz organisiert, weil wir uns dachten: Wenn wir die Universitäten nicht erreichen können, dann versuchen wir, die Studierenden zu erreichen. Aus purer Eigeninitiative der einzelnen BewerberInnen beziehungsweise TeilnehmerInnen wurden sehr gute Beiträge eingereicht und vorgestellt. Im Sommer 2002 organisierten wir die erste Summer School für Geschlechterstudien in Zentralasien, die Unterrichtenden kamen wiederum vor allem von der European University in St. Petersburg sowie vom Centre for Gender Studies an der European Humanities University in Minsk, Weißrussland. Von der UNDP trug Shahrbanou Tadjbakhsh vor, die mittlerweile nicht mehr in Taschkent, sondern in New York tätig ist. Sind Ihnen diese Ideen ganz von alleine gekommen? Nein, insbesondere die US-Geldgeber und die Soros-Stiftung fördern die StudentInnen-Konferenzen und die Summer Schools immer wieder. Auch wir haben für unsere Konferenz Unterstützung von USIS (United States Information Service), für die Sommer School von HESP, dem Higher Education Support Program der Soros-Stiftung, bekommen.
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Ein zweiter Fokus unserer Bemühungen war und ist es, in systematischerer und theoretisch anspruchsvoller Form Forschungsprojekte durchzuführen und die Ergebnisse zu publizieren. Aber hier stoßen wir, ebenso wie in der Frage der universitären Institutionalisierung der Geschlechterstudien, auf grundsätzliche Hindernisse. Nationale und lokale Forschungsgelder gibt es in Kasachstan so gut wie nicht. Die internationalen Geldgeber verfolgen stets ihre eigenen Ziele, die sich auch in den Titeln ihrer Programme ausdrücken. So konnten eine Kollegin und ich im Rahmen des „Small Grants for Democracy“-Programms von USIS ein interessantes Projekt zum Thema „Women’s Dimension of Human Rights in Kazakhstan“ durchführen. Es war sehr lehrreich, Frauen in verschiedenen kleineren Orten als Interviewerinnen zu schulen und einen Teil der Interviews in Buchform zu edieren. Aber das Ganze beruhte eben, typischerweise, auf einem „Small Grant“ und das heißt, dass nur der materielle Aufwand erstattet und die Schulungsarbeit bezahlt wurde. Viele der internationalen Programme ermöglichen keine echte Forschungsarbeit, verbrauchen aber eine Menge Zeit und Arbeit – und wir sind finanziell auf sie angewiesen. Wo stehen Sie in Sachen Institutionalisierung der Geschlechterstudien heute? Ich habe mich in den vergangenen Jahren diesbezüglich immer wieder an die UNESCO gewandt, und das war jüngst von Erfolg gekrönt. Ich arbeite gemeinsam mit Dina Mukhamedkhan an einem systematischen Evaluierungsauftrag mit dem Ziel, die Einrichtung eines Zentrums für Geschlechterstudien an einer der staatlichen Hochschulen in Almaty vorzubereiten. Dina Mukhamedkhan hat in den USA in International Education promoviert und lange Zeit für USAID gearbeitet, genauer gesagt im EdNet (Education Network Program), in dem, neben Korruptionsbekämpfung und Konfliktlösung, Geschlecht eine der drei grundsätzlichen Komponenten darstellt. EdNet bemüht sich dementsprechend schon seit Jahren mit Konferenzen etc. um die Einführung der Geschlechterstudien in Zentralasien. Das Evaluationsprojekt ist auf zwei Jahre angelegt. Vor einiger Zeit habe ich bei der UNESCO vorsichtig angefragt, ob es danach finanzielle Unterstützung für das eigentliche Zentrum für Geschlechterstudien geben wird. Die Antwort war : „Nein. Dafür gibt es nur den ehrwürdigen Namen der UNESCO.“ Wie sehen Sie insgesamt das Verhältnis zwischen dem Enthusiasmus der Aktivistinnen, den lokalen Fraueninitiativen einerseits und den Strategien und Interessen der verschiedensten internationalen Geldgeber und Stiftungen andererseits?
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Meine persönliche Strategie ist, wo und wann immer möglich, um Geld anzuklopfen. Mir ist es ziemlich unwichtig, von welchem der seriösen Geldgeber die finanzielle Unterstützung letztlich kommt. Klar ist, dass Geschlechterforschung als akademisches und intellektuelles Unternehmen für die meisten dieser Geldgeber letztlich irrelevant ist. Nicht die StudentInnen, sondern weibliche Entscheidungsträger, die weibliche Bevölkerung und Politiker sind die zentralen Zielgruppen von deren geschlechtsspezifischen Programmen. Konflikte gibt es in der Regel nicht, auch wenn unsere Projekte natürlich nicht immer bewilligt werden. So konnten wir zum Beispiel das Projekt Summer School nicht fortsetzen. Einmal wurde seitens der Soros-Stiftung bemängelt, dass wir nur russische Lehrkräfte vorgesehen hätten. Beim zweiten Versuch gab das Fehlen einer eigenen Forschungskomponente den Ausschlag. Aus meiner Sicht ist es sehr wichtig, Zentralasien nicht als den letzten Waggon des Zuges der Geschlechterstudien im Gebiet der früheren Sowjetunion zu behandeln. Der Staat scheint bei all den geschlechterbezogenen NGO-, Lehr- und Forschungsaktivitäten schlicht und einfach abwesend zu sein. Auf dem Papier tut der Staat eine ganze Menge. 1998 hat Kasachstan die CEDAWKonvention (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women) ratifiziert. Schon der erste diesbezügliche „Nationale Aktionsplan für die Verbesserung der Stellung der Frauen in der Republik Kasachstan“ von 1999 sah dann ganz konkret die Integration der Geschlechterstudien in die universitären Curricula vor. Dies sollte auf Anordnung des zuständigen Ministers bis zum Jahr 2000 geschehen. Bezüglich der finanziellen Deckung fallen die Formulierungen in diesem zentralen Dokument allerdings bedeutend vorsichtiger aus. Das Geld soll „auf Kosten und innerhalb der Beschränkungen der nationalen und lokalen Budgets“ sowie durch „Unterstützungen und Investitionen internationaler Organisationen“ locker gemacht werden. Dementsprechend ist bis heute nichts geschehen. Das Problem mit dem Staat ist unter anderem, dass in Kasachstan Gesetze sehr häufig einfach nicht exekutiert und bestehende Regelungen ohne jede Konsequenz verletzt werden. Dies wird auch von Studien über das politische System des Landes immer wieder bestätigt. Und wie gestaltet sich das Verhältnis der Frauengruppen und NGOs zu den staatlichen Institutionen? Nach den ersten Anfängen, als der Staat keinerlei Interesse an den neuen Aktivitäten zeigte, hat das Verhältnis zunächst einmal eine recht konflikthafte Phase durchlaufen. Mittlerweile sind wir aber, so wie ich es sehe, im Stadium der Kooperation angelangt.
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Und doch befasst sich die Feministische Liga gerade dieser Tage wieder einmal mit der Abfassung ihres Alternativreports über die Lage der Frauen in Kasachstan, der die Daten und Fakten des offiziellen Reports zum Teil scharf kritisiert und auf wesentliche, dort nicht behandelte Probleme hinweist. Nun ja, auf einer Konferenz über den „Dritten Sektor“ in unserer neuen Hauptstadt Astana sagte Präsident Nursultan Nazarbajew jüngst, dass die kasachische Regierung nicht an einem Kampf um Einfluss oder um die Verteilung von Geldern interessiert sei. Allerdings werde man sich von den internationalen Organisationen umgekehrt auch nicht diktieren lassen, wie wir hier in Kasachstan zu leben haben. Dies sei eine interne Angelegenheit unseres Landes selbst. Mittlerweile haben Sie über Ihr Zentrum für Geschlechterstudien auch ein elektronisches Netzwerk und Diskussionsforum, das Central Asian Network for Gender Studies,4 gegründet. Wo sehen Sie sich und die Geschlechterstudien in Kasachstan in fünf Jahren? Am Central Asian Network for Gender Studies beteiligen sich vor allem AkademikerInnen, die Geschlechterstudien unterrichten oder sich darauf vorbereiten. Wir wollen von den unmittelbar politik-orientierten Agenden der verschiedenen Geldgeber unabhängig werden. In fünf Jahren? Da möchte ich voll involviert sein in ein gut funktionierendes, universitäres Zentrum für Geschlechterstudien, das multidisziplinär ausgerichtet ist, an dem WissenschaftlerInnen der verschiedensten Fakultäten teilnehmen und das eine bedeutende Forschungs- und Publikationstätigkeit entfaltet. In dieser Vision hätten wir bereits ein eigenes Masterprogramm, und die staatliche Qualifikationskommission für akademische Angelegenheiten hätte die Geschlechterstudien in die Liste der anerkannten Doktorate aufgenommen. Frau Shakirova, ich danke Ihnen für das Interview. Ich drücke Ihnen und Ihren KollegInnen ganz fest die Daumen!
4 Heute abrufbar unter : https://www.eldis.org/organisation/A7780, Zugriff: 10. 10. 2019.
3. Neue Themenfelder – Methoden – Konzepte
Natalie Zemon Davis im Gespräch mit Monika Bernold und Andrea Ellmeier (1992)*
Geschichte, Hoffnung und Selbstironie**
„Geschichte der Möglichkeiten“ hat Carlo Ginzburg die historische Arbeitsweise von Natalie Zemon Davis genannt. Tatsächlich ist es die Sensibilität in der Haltung gegenüber der Vergangenheit und das Beharren auf der Vorläufigkeit unseres Wissens, die das Werk von Natalie Zemon Davis auszeichnen, ein Werk, in dem Geschichte nicht als Modell, sondern als Potenzial für die Zukunft verstanden wird. Ihr Name ist mit der Sozialgeschichte des frühneuzeitlichen Europas und mit den Paradigmen von Alltags- und Mentalitätsgeschichte verbunden. „Society and Culture in Early Modern France“, ihr vielleicht wichtigstes Buch, erschien 1975.1 Natalie Davis lehrte an den Universitäten von Toronto und Berkeley, an der Pcole des hautes 8tudes en sciences sociales in Paris und war dann bis zur ihrer Emeritierung im Jahr 1996 Professorin für Geschichte an der Princeton University. Die American Historical Association hat in ihrer mehr als hundertjährigen Geschichte Davis 1987 als zweite Frau (nach Nellie Neilson 1943) zur Präsidentin * Monika Bernold ist Dozentin für Medien- und Zeitgeschichte am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Sie publiziert und forscht zur Geschichte und Theorie visueller Kulturen, zu sozialen Bewegungen, Konsum- und Geschlechtergeschichte sowie zu feministischer Auto/Biografieforschung. Andrea Ellmeier ist promovierte Historikerin und Leiterin der Stabstelle Gleichstellung, Gender Studies und Diversität an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Zu ihren Arbeits- und Forschungsinteressen gehören u. a. Aspekte von (Geschlechter-)Demokratie und Sprache, Arbeitsverhältnisse im Kunst- und Kulturbereich, europäische Kulturund Medienpolitiken sowie genderkritische Geschichtsschreibung von Musik und darstellender Kunst. ** Zuerst veröffentlicht in L’Homme. Z. F. G., 3, 2 (1992): Minderheiten, hg. von Waltraud Heindl u. Jana Starek, 98–113. Erscheint hier mit aktualisierter Einleitung und geringfügiger sprachlicher Bearbeitung. Vgl. auch Heroes, Heroines, Protagonists. Natalie Zemon Davis im Gespräch mit Gabriele Jancke und Claudia Ulbrich, in: L’Homme. Z. F. G., 12, 2 (2001): HeldInnen, hg. von Waltraud Heindl u. Claudia Ulbrich, 322–328. 1 Natalie Zemon Davis, Society and Culture in Early Modern France. Eight Essays, Stanford 1975 (dt.: Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich, Frankfurt a. M. 1987).
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Neue Themenfelder – Methoden – Konzepte
gewählt. Dennoch begann die Rezeption ihres Werks im deutschsprachigen Raum relativ spät. Das Buch, das sie international bekannt gemacht hat, ist die Geschichte eines südfranzösischen Bauern aus dem Languedoc des 16. Jahrhunderts, der seine Familie verlässt, in den Krieg zieht und nach Jahren als ein anderer zurückkehrt. „Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre“2 ist ein Stück Geschichtsschreibung, das sich der zentralen Frage der Identität stellt. Das Spannungsverhältnis von Fiktivem und Faktischem wird hier mit ,mikrogeschichtlicher‘ Genauigkeit anhand eines historischen ,Falls‘ rekonstruiert. In sieben Sprachen übersetzt und 1982 von Daniel Vigne verfilmt, zählt die „Wiederkehr des Martin Guerre“ heute zu den bemerkenswertesten Versuchen in der Geschichtswissenschaft, die Möglichkeiten und Grenzen des Narrativen in der Historie darzustellen. Die Amerikanerin Davis, 1928 in Detroit geboren, lebte und lehrte großteils in den USA und in Kanada. Insbesondere ihre frühen Forschungen haben sich über lange Jahre hinweg auf die Region Lyon im Südosten Frankreichs konzentriert. Ihre Texte erzählen von Handwerkern und Bauern, von rebellischen Frauen und Narren, von Ritualen der Gewalt, vom Karneval und religiösen Volksbräuchen. Es ist das existentielle Interesse an den Menschen, an ihren Handlungsspielräumen, den realisierten oder nicht realisierbaren Wünschen, das die Fragestellungen und die Methode von Natalie Zemon Davis bestimmt. Als Forschende, vor allem aber auch als Lehrende betreibt Natalie Zemon Davis Geschichtsschreibung als Kommunikation, gewissermaßen in und nach zwei Richtungen. Ihr Schreiben ist geprägt von handwerklicher Präzision. Ihre Rede ist Verausgabung und auch Theater, Überredung im besten Sinne, nicht ohne Selbstironie. Wenn es eine Verwandtschaft von Rhetorik, Geschichte und Poetik gibt, dann verkörpert sich diese in der Person und dem Werk von Natalie Zemon Davis in einer Form, die jenseits akademischer Eitelkeiten liegt. Zum Zeitpunkt des Gesprächs arbeitete Natalie Zemon Davis an einem Buch über die Lebensgeschichten von drei sehr unterschiedlichen Frauen aus dem 17. Jahrhundert mit dem Titel „Women on the Margins“.3 Auch in der Folge hat die mit zahlreichen Preisen geehrte Historikerin der Historischen Frauenforschung und der Kulturanthropologie mit ihren Forschungsarbeiten und Publikationen wesentliche Impulse gegeben.4 Das Gespräch mit Natalie Zemon Davis 2 Natalie Zemon Davis, The Return of Martin Guerre, Cambridge, MA/London 1983 (dt.: Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre, München 1984; Neuauflage Berlin 2004). 3 Natalie Zemon Davis, Women on the Margins. Three Seventeenth-Century Lives, Cambridge, MA 1995 (dt.: Drei Frauenleben. Glikl, Marie de l’Incarnation, Maria Sybilla Merian, Berlin 1996). 4 Folgende Bücher veröffentlichte Natalie Zemon Davis seit dem Gespräch u. a.: The Gift in Sixteenth-Century France, Wisconsin 2000 (dt.: Die schenkende Gesellschaft. Zur Kultur der
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wurde während der Konferenz „Fictions and Facts in History“ an der Universität Utrecht im Juni 1992 geführt.5 Monika Bernold und Andrea Ellmeier : In „Die zwei Körper der Geschichte“6 haben Sie die Beziehung der Geschichte als Disziplin und ihrer Verkörperung im Leben und Werk von Historiker/inne/n untersucht. Wie würden Sie die Doppelstruktur dieser Figur der zwei Körper der Geschichte in Bezug auf ihre eigene Arbeit als Historikerin beschreiben? Natalie Zemon Davis: Ich versuche einiges von dem, was ich während dieser Arbeit erfahren habe, selbst umzusetzen. Ich habe von denen gelernt, über die ich geschrieben habe und die selbst in drei ganz unterschiedlichen historischen Epochen gearbeitet haben. Ich habe im ersten Teil des Artikels mit einem Mann begonnen, einem Historiker und seiner Muse. Er hat davon gesprochen, dass die Geschichte als eine Art Geschenk zu begreifen sei, um das Verhältnis zur Vergangenheit und vor allem zum eigenen Werk von den Kategorien Besitz und Eigentum zu befreien. Das ist nicht so einfach, denn wir sind alle zutiefst mit dem verbunden, was wir tun. Wir suchen nach Anerkennung. Ich verstehe meine Arbeit als eine Form des Entdeckens, als etwas, das durch mich hindurchgeht; ja, es geht darum zu spüren, dass die Vergangenheit durch mich hindurchgeht. So produziere ich und gebe es dann wieder an andere weiter. Was das zweite Paar, über das ich in diesem Text geschrieben habe, angeht, fühle ich mich eigentlich eher mit dem schottischen Philosophen David Hume als mit der Frauenrechtlerin Catherine Macaulay verwandt, da ich, so wie David Hume, die Selbstironie sehr schätze. Andererseits ist meine Arbeit, so wie die Macaulays, einem Anliegen verpflichtet. So wie sie sich der Freiheit verpflichtet fühlte, widme ich meine Arbeit den Zielen der Emanzipation. Ich möchte keine politische Arbeit machen, auch sie wollte das nicht. Sie hat versucht, gute Geschichte zu schreiben, das hat sie auch getan und mit dem Anspruch auf Freiheit verknüpft. Auch ich versuche, gute Geschichte zu schreiben, um damit die Möglichkeit zu verbinden, die Geschichte zu öffnen, gewissermaßen aufzuschließen für eine Kommunikation zwischen den Menschen, um offene Situationen zu schaffen. Ja, in diesem Sinn arbeite ich, wie sie, für die Befreiung von Herrschaft. französischen Renaissance, München 2002); Slaves on Screen: Film and Historical Vision, Cambridge, MA 2002; Trickster Travels, New York 2006 (dt.: Leo Africanus. Ein Reisender zwischen Orient und Okzident, Berlin 2008); A Passion for History. Conversations with Denis Crouzet, Kirksville, MO 2010 (frz. Orig. 2004). 5 Das auf Englisch geführte Gespräch wurde von Monika Bernold ins Deutsche übersetzt. 6 Natalie Zemon Davis, Die zwei Körper der Geschichte, in: Fernand Braudel u. a. (Hg.), Der Historiker als Menschenfresser. Über den Beruf des Geschichtsschreibers, Berlin 1990, 46–84.
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Zum dritten identifiziere ich mich wirklich sehr stark mit der Wirtschaftshistorikerin Eileen Power. Ich denke, die geschlechtsspezifische Differenz im Arbeitsstil von Eileen Power und Marc Bloch war wirklich enorm. Sein Zugang war primär durch Vater-Sohn-Beziehungen, durch Formen akademischer Brüderlichkeit bestimmt. Er benützte all diese Metaphern in seiner Arbeit, und er sah dann gewissermaßen die Söhne heranwachsen, die ihm folgten. An Eileen Power schätze ich die Vielfältigkeit, dass sie beides hatte, ihre Frauen-Welt, die sie bis zum Schluss liebte, in der sie lebte, und dass sie gleichzeitig sehr gut mit Männern zusammenarbeitete, nicht nur mit Männern als Kollegen, sondern auch mit männlichen Studenten. Sowohl Frauen wie Männer studierten bei ihr. Das eröffnete ihr eine strategische Möglichkeit, nämlich Wissen an die nächste Generation weiterzugeben. Ich denke, dass ich wie Eileen Power arbeiten möchte, nicht im Sinne der Nachahmung ihrer Person, sondern im Sinne einer Identifikation mit ihrer Arbeitsweise. Im Fall von Hume und Macaulay hingegen identifiziere ich mich eigentlich mehr mit dem Mann als mit der Frau. Meine Lust, diesen Text zu schreiben, war zunächst davon bestimmt, mit diesen beiden Körpern zu beginnen, dem Körper des Historikers und dem Körper der Geschichte. Ich wollte diese zwei Körper, gerade was das Geschlecht angeht, dann im Laufe des Artikels neu definieren, ich wollte die Geschichte entsexualisieren. Wenn wir uns am Anfang die Muse der Geschichte als Frau und den Historiker als Mann vorstellen, so verändert sich dieses Bild durch den Blick auf die Frauen, die Geschichte geschrieben haben. Am Ende – das ist es, was ich wollte – sehen wir zwei Körper, zwei menschliche Körper, männlich und weiblich, die das Feld der Geschichte teilen und damit die Geschichte selbst zu einem offenen Feld werden lassen, was das Geschlecht betrifft. Ihre Arbeit ist sehr häufig durch eine dialogische Erzählweise bestimmt. Das gilt nicht nur für die „Zwei Körper der Geschichte“, sondern auch für ihr jüngstes Buch über das Leben von drei sehr unterschiedlichen Frauen im 17. Jahrhundert. Im Prolog dieses Buches lassen sie diese drei Frauen sozusagen „zurücksprechen“, sie geben diesen Frauen fiktive Stimmen, die sich an Sie als Historikerin richten und die zu dem Stellung beziehen, was Sie aus ihrem Leben und Schreiben in Ihrem Buch gemacht haben. Was bedeutet diese dialogische Form des Schreibens für die Konstruktion der Geschichte und speziell für einen feministischen Ansatz in der Geschichtsschreibung? Ich denke, es ist eine Form, die zwei Möglichkeiten bietet. Zum einen geht es darum, eine Form des Schreibens zu entwickeln, die klarstellt, dass wir das, worüber wir arbeiten, nicht mit unseren Projektionen füllen dürfen. Natürlich können Sie sagen, wir sind es aber auch, die diese Form bestimmen – das bedeutet aber nur, dass wir diese Form mit einer großen Verantwortung zu wählen
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haben. Natürlich könnten Sie sagen, wenn Sie ihnen eine Stimme geben, dann ist diese Stimme eben eine, die Sie ihnen gegeben haben; aber trotzdem wird das Anliegen dadurch klarer. Zum anderen denke ich, ist es eine schöne Form, diese dialogische Form, die zum Ausdruck bringt, dass viele Dinge erst in Zukunft zu lösen sind, dass ich noch nicht alles geklärt habe. Und dann geht es ja um die Vielheit der Stimmen, um die Vielfältigkeit des Lebens von Frauen. Frau heißt nicht ,die‘ Frau, ein Stil, eine Essenz. Wir wissen das, aber das ist eine Form, wie wir dieses Wissen in unserem Schreiben sichtbar machen können. Geschichte schreiben definiert auch immer die Beziehung zum Tod. Ich denke, es gibt zwei Möglichkeiten, das Verhältnis von Tod und Geschichte zu bestimmen, oder vielleicht gibt es auch mehrere. Wir können Geschichte schreiben, mit einer Perspektive der letztlichen Überwindung des Todes, oder, wie Walter Benjamins Engel, zurückblicken und nichts sehen als das Grauen, das den Tod (in) der Zukunft quasi vorwegnimmt. Wenn wir jetzt, 1992, zurück und nach vorne schauen, stellt sich die Frage, von welcher Position aus wir heute schreiben und sprechen wollen beziehungsweise können. Es geht uns also um Ihr Verständnis von der Postmoderne und darum, wie ein Selbstbild feministischer Historikerinnen organisiert sein könnte, angesichts einer Situation, in der sich alle Positionen einer kritischen Rede aufzulösen scheinen. Ja, das ist sehr interessant. Lassen Sie mich zunächst selbst, oder uns alle drei, als Walter Benjamins Engel der Geschichte positionieren. Ich denke, dass ich, wenn ich in die Vergangenheit blicke, nicht nur das Grauen sehe. Ich sehe viel Schrecken, aber ich sehe auch Figuren, wie diese drei Frauen,7 deren Leben sehr bunt ist. In diesem Fall sehe ich die enorme Kreativität von Frauen, mit deren Zielen wir vielleicht nicht immer übereinstimmen, aber die für sich Wege gefunden und sehr interessante Dinge gelebt haben. In diesem Sinne gibt es ein Erbe aus der Vergangenheit, sodass wir den Blick mit dem Engel aus der Vergangenheit in die Zukunft wenden wollen. Wenn Sie also sagen, dass es in der postmodernen Welt nichts mehr gibt, wofür wir eintreten können, dass da nichts ist, woran wir glauben könnten, würde ich sagen: In Wirklichkeit ist es mit dem Glauben so, dass er immer einen gewissen Zweifel miteinschließt, sodass die Hoffnung auf die Zukunft immer mit Unsicherheit verbunden bleibt. Schon in der Bibel steht, der Glaube beginnt mit dem Zweifel, er entsteht nicht automatisch. Was jetzt passiert mit der großen Macht des Kulturrelativismus, des ethischen und geistigen Relativismus und den scheinbar neuen Argumenten, da 7 Davis bezieht sich hier auf das damals gerade entstehende Buch „Women on the Margins“ über Glikl, Marie de l’Incarnation und Maria Sybilla Merian, wie Anm. 3.
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müssen wir sehen, dass es alte Argumente sind; der Kulturrelativismus ist nichts Neues, aber er hat jetzt einen neuen Boden, wenn Sie so wollen. Einen neuen Boden, speziell in unserer Generation? Ja, ich denke, Sie spüren es ganz akut, weil der Relativismus zu einer Zeit kam, wo sich viele Dinge als Trugbilder erwiesen haben. Die weltweite Rezession, die transformierenden Revolutionen, die sozialistische Revolution entpuppte sich als Katastrophe, und jetzt stellt sich das Scheitern der Perestroika heraus – so viel in Bezug auf die politischen Hoffnungen. Dann die Probleme in unseren eigenen Ländern, die urbanen Probleme in Amerika, die ökonomischen Probleme in Amerika, und es wird schlimmer und schlimmer. Der einzige Platz, wo es im Moment etwas hoffnungsvoller aussieht, ist Südafrika. Nicht, dass es dort keine gravierenden Probleme gibt, aber dort ist es sozusagen weniger postmodern – in diesem Sinn. Ich denke, dass sich derzeit die Idee des Kulturrelativismus mit einer sehr schwierigen Situation an vielen Fronten verbindet. Aber dennoch, auch in Zeiten, in denen es den Menschen leichter fiel, an etwas zu glauben, gab es ein großes Maß an Unsicherheit – das ist die Lektion. Wir sollten versuchen, eine Formulierung zu finden, die eine gewisse Hoffnung erlaubt. Wir sollten uns auf eine Grundlage verpflichten – aber Grundlage ist vielleicht das falsche Wort, weil ich eine nicht statische, sondern Bewegung ausdrückende Konnotation suche – eine Verpflichtung, oder lassen Sie uns das Bild des Vertrags verwenden: Wir sollten eine Art Verbindlichkeit schaffen, ein Versprechen, das erfüllt wird. Ja, es ginge um die Hoffnung und das Versprechen, das eingelöst wird. Diejenigen, die davon sprechen, dass es nichts mehr gibt, woran wir glauben können, nehmen eigentlich eine atomistische Position ein. Waren es nicht immer die Frauen, denen Versprechungen gemacht wurden, mit denen eine Politik des Versprechens betrieben wurde, um ihre Wünsche zu kanalisieren? Insofern scheint mir der Begriff des Versprechens sehr problematisch, gerade als Programm. Das ist interessant, warum sagen Sie das, an welche Versprechen denken Sie? Es gibt eine lange Tradition der Politik des Versprechens, die das Geschlechterverhältnis strukturiert, ich denke im Bereich des Privaten an das Eheversprechen, im politischen Bereich an die Versprechungen der Teilhabe an der politischen Partizipation, an die Versprechungen der Konsumindustrie und vieler anderer Bereiche, in denen das Versprechen als Neutralisierung der Forderungen oder als Vereinnahmung der Wünsche von Frauen funktioniert.
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Also, was sagen Sie dann zu dem Begriff „Vertrag mit gegenseitiger Verpflichtung“? Dieser Vertrag ist einer, der viele Chancen birgt. Im Umgang mit der Vergangenheit, mit der Quelle, heißt das zum Beispiel: Du hast mir die Fakten deines Lebens gegeben, dafür werde ich versuchen, das Beste daraus zu machen, sie so respektvoll zu behandeln, wie ich kann. Auch wenn ich weiß, dass jedes einzelne Wort, das ich verwende, problematisch ist, gibt es einen pragmatischen Umgang damit. Das heißt für die Interpretation, dass ich versuchen werde, jene Bedeutung zu rekonstruieren, die dich am ehesten trifft. Wenn wir nicht versuchen, uns in diesem Sinn gegenseitig zu achten, wird alles beliebig austauschbar, beliebig offen. Ich habe vor kurzem einen Artikel8 geschrieben, der genau damit zu tun hat, worüber wir gerade sprechen. Es hat damit begonnen, dass ich fühlte, dass es unbedingt notwendig ist, etwas zu finden, das die ewige Wiederholung der postmodernen Rede stoppt. Wenn wir zum Beispiel an Orte gehen, die nicht in Westeuropa oder Amerika liegen – so wie ich an Orte gehe, wo Menschen über die postkolonialen Gesellschaften arbeiten –, dann sehen wir, dass dort nach der Wahrheit gesucht wird. Auch in jenen Ländern, die sich gerade vom sowjetischen Einfluss befreit haben, fragt man nach der Wahrheit über die Gefangenenlager. Sie könnten ihnen sagen, was Sie wollen, wie zum Beispiel „Sehen Sie nicht, dass diese Information nur eine bedingte Wahrheit ist, nichts ist gesichert aussagbar“ – sie aber wollen wissen. Sie wollen die Wahrheit über die Gefangenenlager, sie wollen wissen, was mit ihren Ressourcen während der Kolonialherrschaft passiert ist, sie wollen wissen, wer verantwortlich war. Nun, wir könnten zu ihnen sagen – und wir hätten recht damit: „Fragt nicht in einer so rigiden Form, die Antworten, die ihr auf diese Fragen bekommen werdet, werden falsche Antworten sein.“ Was aber, wenn wir sagen würden: „Es ist nicht wichtig, diese Fragen zu stellen, es ist nicht wichtig zu denken, es gibt eine Antwort, eine richtige Antwort, auch wenn wir sie nicht finden.“ Was würde es bedeuten, wenn wir sagen, dass es nicht wichtig ist zu fragen, wer verantwortlich ist. Sehen Sie, was ich zu sagen versuche? Wir sollten über die Situationen nachdenken, in denen es den Hunger gibt, etwas ganz definitiv zu wissen. Aber Tatsache ist, dass das nicht „unser“ Hunger ist. Aber es gibt diesen Hunger, und vielleicht würde uns ein bisschen davon ganz guttun. Ich möchte keinen Hunger nach Wissen, der mich philosophisch auf naive, positivistische Positionen zurückwirft. Es geht darum, neue Wege zu finden, wie wir über die Frage der Evidenz nachdenken können. Was würde eine 8 Natalie Zemon Davis, Stories and the Hunger to Know, in: The Yale Journal, 5, 2 (1992), 159–163.
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überzeugendere Position in der Geschichte sein? Wir müssen das tun, denn sonst werden alle Geschichten, auch die Frauengeschichte, gleich sein, wie würden Sie sie dann noch unterscheiden können? Wir müssen neue Wege suchen, nicht nur, wie wir Geschichte schreiben, sondern auch, wie wir uns der Evidenz versichern, wie wir unsere unterschiedlichen Analysen absichern. Im Davis Center, das ich in Princeton leite und das ich das Non-Natalie Davis Center nenne, haben wir die letzten zwei Jahre an einem Projekt zu Kolonialismus, Imperialismus und postkolonialem Erbe gearbeitet, das jetzt abgeschlossen ist. Das neue Thema heißt: Beweis und Überzeugung. Der Grund, dass wir dieses Thema gewählt haben – und das Forschungsteam besteht nicht nur aus Frauen, auch nicht nur aus Feministinnen, sondern aus Mitgliedern des gesamten Departments –, ist genau jene Frage, auf die Sie mich angesprochen haben. Es geht darum, was es, um in Ihrem Bild zu bleiben, angesichts einer Zukunft zu tun gilt, die den Tod scheinbar nicht überwindet. Zu diesem Zweck haben wir die Frage des Wissens und der Erkenntnis neu zu überdenken, das werden wir in den nächsten beiden Jahren tun. Ich hoffe, dass wir mit einer Reihe interessanter Detailstudien aus unterschiedlichen Forschungsfeldern abschließen werden. Wir wollen die Geschichte des Wissens in diesen unterschiedlichen Feldern, die Geschichte der Evidenz, des Beweises und der Überzeugung mit den Wissensstrategien von heute kontrastieren. Wir haben Mitarbeiter/innen mit sehr unterschiedlichen Positionen in diesem Projekt. Eine Feministin, Bonnie Smith, arbeitet zum Beispiel zur Geschichte der amerikanischen Historikerinnen vor dem Hintergrund der Etablierung der Geschichte als Wissenschaft. Wir werden das also machen, aber ich bin nicht sicher, ob wir am Ende wirklich überzeugende Antworten finden werden. Sie haben von Bonnie Smiths Arbeiten gesprochen, aber auch in Ihren eigenen Forschungen9 spielt die Geschichte geschichtsschreibender Frauen immer wieder eine zentrale Rolle. Worin liegt die Relevanz dieser Fragestellung für die Perspektive feministischer Geschichtsforschung insgesamt? Es wäre faszinierend, noch viel mehr Studien, ethnografische Studien, wie ich sage, zum akademischen, institutionellen und intellektuellen Umfeld von Historikerinnen zu betreiben. Wir zum Beispiel haben im Verlauf dieses Gesprächs entdeckt, dass Sie und ich zur gleichen Zeit an sehr ähnlichen Fragestellungen interessiert sind. Aber wir arbeiten in ganz unterschiedlichen akademischen Umgebungen. Das heißt, es gibt trotz der gleichen Fragen sehr große Differenzen 9 Vgl. etwa Natalie Zemon Davis, Gender and Genre. Women as Historical Writers, 1400–1820, in: Patricia Labalme (Hg.), Beyond their Sex: Learned Women of the European Past, New York 1980, 153–182.
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in den unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Gerade für die Frauenforschung wäre es interessant, diese Unterschiede näher zu untersuchen, zu fragen, wie die gleichen Ziele mit unterschiedlichen Strategien verfolgt werden. Ich finde also, wir sollten uns die Debatten ansehen. Ich sage immer, das Interessanteste an einer Epoche sind nicht ihre Ideen, sondern ihre Debatten. – Zurück zum Dialogischen. Schauen Sie sich an, was an Ungelöstem in einer Epoche bleibt, schauen Sie sich die Diskussionen an, die ungelösten Fragen, die sich oft über eine sehr lange Zeit hinziehen. Die Frage der ,weiblichen‘ Natur etwa ist in gewissem Sinn so etwas. Manchmal sage ich zu meinen Student/inn/en, wenn ihr diese ungelösten Fragen gelöst vorfindet, so ist das vielleicht das Zeichen für das Ende einer Epoche. Es geht um den Blick für diese andauernden, sozusagen überbleibenden Fragen. Für die Frauenforschung wäre es eine der zentralen Notwendigkeiten, sich die verschiedenartigen Debatten im Kontext der unterschiedlichen Frauenforschungsprogramme, Kulturen und Regionen anzusehen. Die Fragen sind vielleicht ähnlich, die Debatten zumeist sehr verschieden. Zum Beispiel wie die Frage der Lesben diskutiert wird, wie die Debatte um den Separatismus in manchen Ländern das zentrale Thema ist und in anderen die Diskussion Marxismus versus Kulturalismus überwiegt. Dies alles müssen wir wahrnehmen. Sie haben über Catherine Macaulay geschrieben, die sich selbst als Clio, als Muse der Geschichte, porträtierte. Zum Abschluss wollen wir Sie fragen, wie das Bild aussehen würde, das Ihr eigenes Verhältnis zur Geschichte darstellt. Es wäre ein Kreis, ich denke ein Kreis, ja, ein offener Kreis von Menschen, die miteinander sprechen.
Ute Frevert im Gespräch mit Ingrid Bauer und Christa Hämmerle (2013)*
Gefühle als geschichtsmächtige Kategorie**
Eine so produktive und internationale Laufbahn, wie die deutsche Historikerin Ute Frevert sie vorweisen kann, bildet einen spannenden Hintergrund für ein „L’Homme“-Gespräch – umso mehr, als sich frauen- und geschlechtergeschichtliche Themen seit den 1970er-Jahren durch ihr reichhaltiges Œuvre ziehen und Ute Frevert dieses Feld immer wieder maßgeblich mitgeprägt hat. Seit 2008 ist sie Direktorin des neu eingerichteten Forschungsbereichs „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, wo wir im Februar 2012 das folgende Interview geführt haben. Ute Frevert arbeitet hier mit einem großen Team zu verschiedenen Themen in diesem stark expandierenden Forschungsfeld, wobei auch eine Kontrastierung europäisch-westlicher und südasiatischer Gesellschaften im Zentrum steht und gefühlsprägende Institutionen wie Familie, Recht, Religion, Militär oder Staat in den Blick genommen werden.1 Dabei werden inhaltliche Trends abgesteckt und neue Paradigmen eröffnet, auch in Hinblick auf Grundlagenforschung und Interdisziplinarität,2 * Ingrid Bauer, Zeit- und Kulturhistorikerin, war bis 2016 außerordentliche Professorin an der Universität Salzburg und ist aktuell als freischaffende Historikerin und Autorin in Wien tätig. Sie arbeitet und publiziert zur Frauen- und Geschlechtergeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Geschichte der Liebe und Sexualität, zu österreichischer Gesellschaftsgeschichte, sozialen Bewegungen und ArbeiterInnen-Kultur. Seit 2002 ist sie Mitherausgeberin von „L’Homme. Z. F. G.“. Christa Hämmerle ist außerordentliche Professorin am Institut für Geschichte der Universität Wien, wo sie die Sammlung Frauennachlässe und die Redaktion von „L’Homme. Z. F. G.“ leitet. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte sind Forschungen zu Krieg, Militär und Gewalt, die Frauen- und Geschlechtergeschichte, die Geschichte der Gefühle (v. a. der Liebe) sowie die Auto-/Biografieforschung zum 19. und 20. Jahrhundert. Dem Herausgeberinnenkollektiv von „L’Homme“ gehört sie seit der Gründung der Zeitschrift im Jahr 1990 an. ** Zuerst veröffentlicht in L’Homme. Z. F. G., 24, 1 (2013): Romantische Liebe, hg. von Ingrid Bauer u. Christa Hämmerle, 109–117. Erscheint hier mit aktualisierter Einleitung und geringfügiger sprachlicher Bearbeitung. 1 Vgl. http://www.mpib-berlin.mpg.de/de/forschung/geschichte-der-gefuehle. 2 Vgl. dazu etwa das in gemeinsamer Arbeit von Ute Frevert mit Monique Scheer, Anne Schmidt, Pascal Eitler, Bettina Hitzer, Nina Verheyen, Benno Gammerl, Christian Bailey und Margrit Pernau entstandene, rasch zum Standardwerk der Emotionsforschung avancierte Buch: Ge-
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die Ute Frevert ebenso konsequent verfolgt, wie sie weitere Schneisen in genuin historiografische Themen schlägt – neuerdings etwa zur Macht der Gefühle in der politischen Kommunikation ab dem 18. Jahrhundert, oder indem sie Ehre und Scham als soziale Gefühle und politische Praktiken im 20. Jahrhundert untersucht.3 Die Kategorie Geschlecht ist ihr dabei eine stete Denkachse geblieben, auch im Sinne von Wissenschaftskritik und einer konsequent betriebenen Stärkung und Förderung jüngerer Historikerinnen. Ute Frevert hat von 1971 bis 1977 Geschichte und Sozialwissenschaften an den Universitäten Münster und Bielefeld und an der London School of Economics studiert. Sie promovierte und habilitierte sich in Bielefeld, wo sie von 1997 bis 2003 eine Professur für Allgemeine Geschichte mit besonderer Berücksichtigung des 19. und 20. Jahrhunderts innehatte. Davor war sie Professorin an der Freien Universität Berlin (1991/92) und in Konstanz (1992–1997), danach in Yale/USA (2003–2007). Heute unterrichtet sie als Honorarprofessorin wiederum auch an der FU Berlin. Dazwischen liegen zahlreiche Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte, etwa an der Hebrew University of Jerusalem (1997), am Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences in Stanford (2000/01), am Dartmouth College in New Hampshire (2002), am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien (2003), an der Maison de Sciences de l’Homme in Paris (2003) und am Wissenschaftskolleg zu Berlin (1989/90, 2004/05). Für ihre Publikationen zur Sozial-, Kultur- und Politikgeschichte der Moderne, zur Emotionsgeschichte und Frauen- und Geschlechtergeschichte wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem 1998 mit dem Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis und 2016 mit dem Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland. Ingrid Bauer und Christa Hämmerle: Du giltst heute als international führende Proponentin einer „Geschichte der Gefühle“. Unser Eindruck ist, dass Du Dich indirekt eigentlich schon sehr lange mit Gefühlen beschäftigst. In Deinem wissenschaftlichen Lebenslauf, in einigen Deiner Bücher – über Krankheit als politisches Problem,4 das Duell,5 Militär und Gesellschaft,6 Geschlechterverhältnisse
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fühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt a. M. 2011 (engl.: dies., Emotional Lexicons. Continuity and Change in the Vocabulary of Feeling 1700–2000, Oxford 2014). Zum Thema Scham ist in den letzten Jahren u. a. erschienen: Ute Frevert, Die Politik der Demütigung: Schauplätze von Macht und Ohnmacht, Frankfurt a. M. 2017. Ute Frevert, Krankheit als politisches Problem 1770–1880. Soziale Unterschichten in Preußen zwischen medizinischer Polizei und staatlicher Sozialversicherung, Göttingen 1984. Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991. Ute Frevert (Hg.), Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997; dies., Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001.
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im bürgerlichen Zeitalter7 – scheint es, obwohl das sehr verschiedene Themen sind, Linien und Spuren zu geben, die Dich zu dem geführt haben, was Du jetzt machst. Ute Frevert: Ja, aus der Retrospektive erkennt man diese Linien viel besser als vom Start aus. Als ich im Jahr 2007 an der Yale University zusammen mit Jay Winter ein Doktorandenseminar zum Thema „Memory and Emotions“ organisiert habe, machte Jay den Vorschlag, ich solle in einer Sitzung mein Buch über das Duell vorstellen und diskutieren lassen. Und ich dachte: Wieso, das hat doch mit ,emotions‘ gar nichts zu tun. Dann habe ich es nochmals diagonal gelesen – und war unglaublich überrascht. Das Buch war 1991 herausgekommen, es lagen also 16 Jahre dazwischen. Und trotzdem waren die Spuren gelegt, ganz explizit ist von Gefühlen die Rede. Dennoch habe ich damals das Konstrukt der Ehre nicht als Emotion verstanden, sondern mit Bourdieu als Habitus, letztendlich als Teil der Mentalitätsgeschichte, die wir von den französischen Historikerinnen und Historikern geerbt haben. Insoweit gibt es eine aus dieser Mentalitätsgeschichte herkommende Bahn, die zur Emotionengeschichte führt. Etwas später, 1996, habe ich Gefühle ausdrücklich und konzeptionell zum Thema gemacht, aus einem doppelten Widerstandsgeist heraus. Es war bei der Verabschiedung von Hans-Ulrich Wehler, bei seiner Emeritierung. Ich sollte – natürlich – einen Vortrag über Gender halten, aber ich wollte diese Erwartungen nicht bedienen und dachte: Mach einmal etwas anderes, was diese alten Herren vielleicht genauso anstachelt oder aufmischt oder ärgert. Und ich habe dann einen Vortrag gehalten, der hieß „Wer hat Angst vor Gefühlen?“.8 In der Tat gab es darüber einen Eklat, an den ich mich ungern erinnere. Wenig später dann freundete ich mich mit dem Thema Vertrauen9 an, in das ich die Gelder des Leibniz-Preises investierte. Und was war für Dich der Auslöser, der Kontext, dass Du Gefühle nun in den Mittelpunkt Deines wissenschaftlichen Interesses stellst? Hat es mit diesem Gefühlsboom zu tun, der sich in den Neurowissenschaften abzuzeichnen begann?
7 Ute Frevert, Mann und Weib und Weib und Mann. Geschlechterdifferenzen in der Moderne, München 1995. 8 Vgl. die spätere Veröffentlichung als: Ute Frevert, Angst vor Gefühlen? Die Geschichtsmächtigkeit von Emotionen im 20. Jahrhundert, in: Paul Nolte, Manfred Hettling, FrankMichael Kuhlemann u. a. (Hg.), Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte, München 2000, 95–111. 9 Ute Frevert (Hg.), Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003; dies., Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne, München 2013.
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Diesen Gefühlsboom habe ich erst viel später zur Kenntnis genommen, ich habe damals eigentlich wirklich nur von der Geschichtswissenschaft her gedacht. Dass andere Wissenschaften auch so etwas wie einen emotional turn haben, davon und dazu habe ich erst später gelesen. Mich hat – und da wirkten die Erfahrungen auf dem Wehler-Symposium sehr einschneidend nach – dieser massive Widerstand meiner Kollegen gegen das Thema Emotionen gestört. Der resultierte auch aus dem Missverstehen der Generation, die da gerade abtrat und offenbar meinte: Oh, da kommt jetzt jemand und sagt uns, dass man mit einem emotionalen Blick auf Geschichte schauen muss. Genau das aber habe ich ja nicht gesagt und schon gar nicht gemeint. Aber die haben mir gar nicht zugehört, die haben nur das Wort Emotionen gehört, und gleich war das rote Tuch da. Dieser Widerstand hat mich gereizt. Der Geschichte der Gefühle wird oft angelastet, dass sie eine ,weiche‘ Form der Geschichtswissenschaft sei, die die wesentlichen Triebkräfte von Veränderung – Wirtschaft, Recht, Politik – außer Acht lässt und sich nur für Nischen interessiert. Aber genau das ist es nicht, was ihr hier am Forschungsbereich macht und was Du vertrittst; und wenn man Deine zuletzt erschienenen Bücher anschaut, geht es ja gerade um diese Verquickung von Politik und Emotion oder aber auch um eine Ökonomie der Gefühle. Ein Vorbehalt gegenüber der Emotionengeschichte war auch immer, dass sie nur mit dem Individuum zu tun hat. Klar, Emotionen wurzeln erst mal in der Person, es sind einzelne Menschen, die fühlen und empfinden. Den daraus gezogenen Schluss jedoch, eine Geschichte der Emotionen könne sich auch nur mit einzelnen Menschen, mit Ego-Dokumenten und mit etwas beschäftigen, dessen Verallgemeinerungswert fraglich sei, den teile ich nicht. Gefühle werden schließlich geteilt, kommuniziert, sie strukturieren Beziehungen zwischen Menschen und stiften ,Gemeinschaft‘, zum Teil auch ,Gesellschaft‘, im Positiven wie im Negativen. Vor allem sind Emotionen handlungsleitend. Es ist nicht nur so, wie Max Weber sagt, dass Menschen durch Interessen und durch Weltbilder geleitet werden. Sie werden auch geleitet durch Gefühle, die zu den stärksten Triebkräften menschlichen Handelns gehören, das wusste man im 18. Jahrhundert teilweise besser als heute. Leidenschaften sind das, was Menschen bewegt, im wahrsten Sinne des Wortes von einem Ort zum anderen treibt. Sehnsüchte, Begierden, aber auch verletzte Gefühle – das sind Motivatoren von Handeln und Nichthandeln. Angst zum Beispiel ist ein Grund, etwas nicht zu tun, was man eigentlich gerne machen möchte. Solche Leidenschaften und Gefühle in ihren individuellen Ausprägungen, aber auch in ihren kollektiven Verbreitungen und zeitlich-räumlichen Konjunkturen zu untersuchen, geht absolut an den
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Nerv einer Geschichtsschreibung, die sich ebenso als historische Anthropologie wie als historische Sozialwissenschaft situiert. Kürzlich ist Dein Buch über Friedrich den Großen erschienen,10 über die Gefühlspolitik, die er machte, die er auch benutzte, um zu regieren – wie passt das zu diesem Konzept? Könntest Du noch ein wenig ausführen, wie sich dieses Buch im Feld der Geschichte der Emotionen positioniert? Dazu kann ich eine kleine Geschichte erzählen: Als ich mit dem Thema anfing und mal einen Vortrag hielt oder einen kürzeren Text schrieb, erwarteten alle, ich würde mich mit den Gefühlen Friedrichs II. beschäftigen. Das hat bei Kollegen ein sarkastisches, bemitleidendes Lächeln hervorgerufen, bei Laien dagegen große Begeisterung: Endlich erfahren wir einmal etwas über die wirklichen Gefühle eines Königs, der doch immer als sehr zurückhaltend und gefühlskalt galt. Und ich musste immer groß ausholen und erklären, dass es darum gar nicht geht. Mir geht es nicht um eine Emotionalisierung und Vermenschlichung von Friedrich II., sondern darum, wie er Gefühle genutzt hat, um Politik zu machen, wie er Gefühle benutzt hat, um eine Beziehung zu seinen Untertanen herzustellen und in eine bestimmte Richtung zu steuern – in eine Richtung, von der er meinte, dass sie seinem Herrschaftsverständnis und seiner Politik entgegenkäme. Man könnte das auch – wir kommen später noch ausführlicher auf dieses Thema – als Teil einer Geschichte der Liebe sehen. Denn es geht um die Instrumentalisierung von Liebe zum Zwecke der Stabilisierung, der Durchsetzung von Herrschaft. Ganz genau. Wenn man Liebe nicht nur als eine mehr oder weniger romantische Beziehung zwischen Mann und Frau oder auch Mann und Mann oder Frau und Frau versteht, sondern als ein viel breiter und differenzierter angelegtes Gefühl, das das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ebenso umgreift wie das zwischen Freunden oder auch zwischen Vaterland und Bürgern, Monarchen und Untertanen, dann entdecken wir Liebe als ein großes, weit in die politische Geschichte hineinragendes Thema, das eng mit Machtdiskursen und -strategien verknüpft ist. Bevor wir zur Liebe im engeren Sinne kommen, möchten wir noch ein weiteres kürzlich erschienenes Buch von Dir ansprechen – „Emotions in History – Lost and Found“11 –, weil es uns für eine Geschichte der Gefühle konzeptionell wichtig 10 Ute Frevert, Gefühlspolitik. Friedrich II. als Herr über die Herzen?, Göttingen 2011. 11 Ute Frevert, Emotions in History – Lost and Found, Budapest 2011.
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scheint. Es verdeutlicht die Historizität von Gefühlskonzepten, Gefühlsdefinitionen, Gefühlswissen. Könntest Du dazu noch etwas sagen? Vielleicht verbinde ich damit die Frage, die ihr vorhin kurz angesprochen habt, nach dem emotional turn. Diesen gibt es ja nicht nur in den Kulturwissenschaften, sondern auch in der Psychologie und vor allen Dingen in den Neurowissenschaften. Der Unterschied zwischen dem, was wir hier machen, zu dem, was die Neurowissenschaften machen – und das ist mir sehr wichtig –, ist, dass die Gefühle bei uns gewissermaßen aus jener Naturalisierung herausgehoben werden, die ihnen die Neurowissenschaftler in ihren Experimenten unterlegen – eine Naturalisierung nach dem Motto, da gibt es etwas wie Emotionen, die sich in bestimmten Gehirnregionen abbilden und auf bestimmte Reize und kognitive Fähigkeiten verweisen. Untersucht werden einzelne Probanden, die von ihren sozialen, politischen, ökonomischen Kontexten isoliert gedacht sind. Unsere Forschungsstrategie ist genau umgekehrt – ohne dass ich damit den Sinn und Zweck dieser neurowissenschaftlichen Forschung in Abrede stellen will. Die Wissenschaftswelt ist groß und hat Platz für viele verschiedene Fragestellungen. Unsere ist in der Hinsicht eine ganz andere und auch eine bewusst kontrastive insofern, als wir davon ausgehen, dass Emotionen eine Historizität haben, die an die Kontexte gebunden ist. Selbst wenn es sie als genetisches Programm in jedem Menschen gäbe, wäre die Aktivierung dieses Programms hoch kontingent. Ob etwa eine Anlage zu Zorn, Liebe, Sehnsucht, Ekel usw. realisiert wird und wie sie realisiert wird, das ist je nach Zeit, je nach Gesellschaft, je nach Subsystem in einer Gesellschaft verschieden. Genau um diese Verschiedenheit geht es uns. Aber bei der Behauptung von Verschiedenheit bleiben wir nicht stehen. Das reicht nicht, um Psychologen und Neurowissenschaftler zu beeindrucken. Das wissen die auch selbst – auch wenn sie es in ihren Experimenten nicht nachstellen (können oder wollen). Nein, unser Argument ist radikaler. Dass wir so viel Wert auf das Framing, die Einrahmung des Fühlens durch Kultur und Gesellschaft legen, hat mit der Hypothese zu tun, dass der Kontext die Empfindung, das Fühlen unmittelbar tangiert. Es geht also nicht nur um die ewig gleichen biochemischen und neuronalen Vorgänge bei der ,Liebe auf den ersten Blick‘, sondern darum, dass solche Vorgänge und ihre kognitiv-emotionale Verarbeitung eng an soziokulturelle Vorgaben und Orientierungen gebunden sind. Liebe ist ein schönes Beispiel – wer sich verliebt, wird ja nicht einfach nur vom neuronalen Blitz getroffen oder schüttet Glückshormone aus, sondern erlebt dies alles in einer Kultur, die solche Erfahrungen entweder tabuisiert oder, wie die westliche Moderne, zur Basiserwartung jedes Menschen erhebt. Nachdem uns eine Unzahl von Romanen, Ratgebern und Filmen auf dieses Erlebnis ,konditioniert‘ hat, folgen wir der Suchanweisung, voller Ungeduld und hochgestimmter Sehnsucht, immer in Gefahr, enttäuscht zu werden und mit umso
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größerer Hoffnung neu zu beginnen. Dass solche hohen Erwartungen an die Liebe die Art und Weise, wie wir Liebe fühlen, beeinflussen und prägen, ist unschwer nachzuvollziehen. Es geht also nicht darum, dass ein immer gleiches Gefühl sich, je nach Kontext, verschieden ausdrückt. Es geht, viel grundsätzlicher, darum, dass der Kontext das Gefühl ,macht‘. Wie schätzt Du, als Gefühlsforscherin wie als Zeitgenossin, die gesellschaftliche Bedeutung von romantischer Liebe nach 1968 und nach den Diskursbrüchen dieser Zeit hin zu einer skeptischen Liebe ein? Und daran schließt die zweite Frage an: Ist von einem Bedeutungsverlust zu sprechen? Ist sie noch Bezugspunkt in neuen Spielarten oder ein Code unter vielen? Dieses kritische Fragen taucht auf mit dem Feminismus, der die These in den Raum stellt, dass Liebe als Selbstaufgabe für Frauen letztendlich eine Art von Wirtschaftssklaverei bedeutet. Das war eine harte und radikale Absage an eine Geschlechterordnung, die in der Liebe die weibliche Bestimmung par excellence gesehen und Generationen von Frauen darauf eingeschworen hatte. In der Realität aber war von der angeblichen Macht der Frauen, durch Liebe zu herrschen, wenig übriggeblieben, und dagegen revoltierten Feministinnen. In ihrer Optik bedeutete Liebe Entmachtung und Ohnmacht, und diese Analyse war nicht völlig falsch. Aber sie verfehlte natürlich das, was sich Leute wie Friedrich Schlegel einst ausgedacht hatten. Das romantische Liebeskonzept des späten 18., frühen 19. Jahrhunderts hatte ja durchaus für beide Geschlechter etwas mit Selbstaufgabe und Grenzüberschreitung zu tun. Das fand ich immer reizvoll, und das passte auch in die 1960er- und 1970er-Jahre mit ihrem modernen Emanzipationsversprechen: Du kommst aus deinem ,Geschlechtscharakter‘ heraus, transzendierst ihn in Richtung ,sanfter Männlichkeit‘ beziehungsweise ,selbstständiger Weiblichkeit‘. Das bleibt attraktiv, bis in unsere Tage hinein. Dass es die Neue Frauenbewegung – oder Teile davon – damals nicht so sehr mit der Transzendenz hatte, sondern den alten Geschlechterverhältnissen erst einmal den Kampf ansagen wollte, war wohl wichtig und notwendig. Liebe macht nicht nur stark, sondern auch schwach und verwundbar, und diese Schwäche war nicht angesagt. Man entwickelte eine große Sensibilität für Hierarchien und Machtasymmetrien – daher die skeptische Haltung, die aber nicht von Dauer war. Denn erstens gibt es diese Sehnsucht nach Einheit, nach Überschreitung der eigenen Grenzen, und sie wird von unserer Kultur immer wieder genährt. Und zweitens machen wir Fortschritte im Umgang miteinander und mit der Liebe. Frauen sind selbstständiger und kritischer geworden, Männer sanfter und selbstkritischer, und das hat der Liebe – als Konzept und als Praxis – gutgetan.
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Aber es ist für Dich noch immer ein Konzept, das auch die romantische Liebe inkludiert? Trotz aller Coolness und ungeachtet aller polyamorösen Experimente gibt es auch in der jüngeren Generation die Sehnsucht nach dieser entgrenzten und entgrenzenden Liebeserfahrung – die ja zwei Versprechen enthält: einerseits Einheit, Verschmelzung, höchste Vertrautheit und Nähe; andererseits die Anerkennung des anderen als anders, als nicht-identisch, als für-sich-sein. Die romantische Liebe hat beides im Gepäck, sie ist ein flexibles Konzept, und gerade die Flexibilität garantiert ihre Langlebigkeit. Umgekehrt ist unsere Generation natürlich auch aufgewachsen mit Simone de Beauvoir, mit dem programmatischen Text von Gisela Bock und Barbara Duden „Liebe als Arbeit – Arbeit aus Liebe“.12 Das hat die feministische Forschung sicher geprägt in ihrem langen Nicht-Thematisieren von Liebe als Emotion – im Sinne eines emotionsgeschichtlichen Konzepts – oder Geschlechterliebe, Liebe zwischen Mann und Frau, Paarliebe. Oder könntest Du, wenn Du rückblickend schaust, welche wissenschaftlichen Bücher Dich besonders beeinflusst haben, sagen, ob da auch eines dabei war, das Liebe, Liebesbeziehungen ins Zentrum gestellt hätte? Ich erinnere mich, abgesehen von der feministischen Literatur, an spätere Publikationen, vor allem an das Buch von Anne-Charlott Trepp,13 das nicht zufällig das Schlegel-Zitat im Titel hat. Trepp untersucht, vorwiegend auf der Basis von Ego-Dokumenten aus dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, bürgerliche Paare auf ihr Liebeskonzept, aber auch auf ihre Liebespraktiken hin. Sicher, das Buch lässt manches außer Acht, zum Beispiel den kriegerischen Kontext dieser Zeit, der Männer auf ganz andere Fährten lockte. Trotzdem hat mich der Nachweis, wie zentral das Liebesbegehren für bürgerliche Frauen und Männer damals war, sehr beeindruckt. Peter Gay14 hat, finde ich, ein ähnlich starkes Argument gebracht dafür, wie unverzichtbar diese Liebeserfahrung für die Identität von Personen wird – und nicht nur die Empfindung, das Gefühl, sondern auch die Arbeit an der Beziehung, wie er sie mit Hilfe von sehr ergiebigen Briefwechseln rekonstruieren kann. Bei ihm werden auch die Ambivalenzen eines Liebeskonzepts, das einerseits auf Gleichheit der Seelen getrimmt ist, zu12 Gisela Bock u. Barbara Duden, Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus, in: Gruppe Berliner Dozentinnen (Hg.), Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Berlin 1976, 118–199. 13 Anne-Charlott Trepp, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840, Göttingen 1996. 14 Peter Gay, The Tender Passion, New York 1986 (dt.: Die zarte Leidenschaft. Liebe im bürgerlichen Zeitalter, München 1987).
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gleich aber mit massiver Ungleichheit umgehen muss, deutlich ausbuchstabiert. Um noch einmal auf ,meinen‘ Feminismus der 1970er- und 1980er-Jahre zurückzukommen: Wir wollten die Grundhypothese der Ungleichheit (Männer sind so, Frauen sind anders) aushebeln und durch eine der Gleichheit ersetzen, wir wollten Gleichheit – der beruflichen Interessen, der Interessen an Kindern, an der Intensität einer Zweierbeziehung, an Freunden und Freundschaften – voraussetzen, um dann zu schauen, was an Differenz eigentlich überbleibt. Und das war meistens eine individuelle Differenz, aber nicht unbedingt eine, die an Geschlechterrollen klebte. Und es zeigte sich natürlich, dass auch im 19. Jahrhundert, mit der damals vorherrschenden bürgerlichen Gefühls- und Geschlechterkultur, viel mehr Dynamik möglich war, als der Blick auf die normative Ebene oder die hegemoniale Geschlechterordnung vermuten lässt. Dazu muss man sich ja nur die Populärkultur anschauen, diese vielen Geschichten über Frauen, die ihre Männer betrügen, Männer, die ihre Frauen und Geliebten hintergehen, dieses Spiel mit Eifersucht und Verführung … Da bekommt man schnell eine Vorstellung davon, dass die präskriptiven Texte, von denen wir immer ausgehen und die Frauen als rein, schamhaft, zurückhaltend beschreiben, nur einen bestimmten Ausschnitt des Denk- und Sagbaren abbilden. Solche Normen waren auch damals schon, wenn auch begrenzter als heute, Verhandlungssache und sind immer dann, wenn sie den Bedürfnissen der Menschen massiv widersprochen haben, nach Kräften unterlaufen worden. Wenn Du nun als Gefühlsforscherin auch auf die Geschichte der Liebe schaust – und da gibt es, wie schon besprochen, ganz unterschiedliche Dimensionen von der herrschaftssicherenden Liebe eines Friedrich II. bis zur romantischen Liebe: Welche besonders wichtigen Forschungsperspektiven und -herausforderungen siehst Du da? Was überall und immer unter den Nägeln brennt, ist die kulturübergreifende Perspektive. Romantische Liebe als Modell, das in einer bestimmten Zeit und Gesellschaft entsteht, das sich sozial verbreitet, aber auch an Grenzen stößt, ist häufig untersucht worden – für die eigene, die europäische, deutsche, englische, österreichische Kultur/Gesellschaft eben. Wir wissen viel über die Bürgerlichkeit des Konzepts und über die Probleme, die es Paaren aus Unterschichten, aus bäuerlichen Schichten, schwer gemacht haben, dieses Konzept zu leben. Genau diese Grenzen, nicht nur die sozialen und materiellen, sondern auch die kulturellen Grenzen, sind das Spannende. In einer Gesellschaft wie Indien, die mit anderen Familienformen und anderen Traditionen von Liebe arbeitet, wird das
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westliche Modell gleichzeitig durch moderne Medien wie Filme und Werbung hineingespült. Hier sind Anpassungs- und Aneignungsprozesse, aber auch Konflikte und Abstoßungen am Werk, über die wir viel mehr wissen müssten. Noch ein letzter Punkt, der uns ins 18. Jahrhundert und zu Deinen eigenen Arbeiten zurückführt. Bei der Lektüre Deiner Bücher wächst der Eindruck, dass dieses Jahrhundert besonders wichtig für Dich ist. Auch diese Phase der Empfindsamkeit, das Zeitalter der Empfindsamkeit – darauf kommst Du immer wieder zurück, bringst Beispiele. Hast Du je darüber nachgedacht warum? Es gibt tatsächlich eine Passion für, man kann auch sagen Obsession mit jener Zeit, die Reinhart Koselleck „Sattelzeit“ genannt hat. Ich mag sie, weil ich hier die Keime des Neuen zu entdecken meine, das noch unsere Gegenwart prägt. Im 18. Jahrhundert beginnt ganz viel von dem, was uns bis heute beschäftigt und uns geschäftig hält; dieses Nebeneinander eines Zeitalters der Vernunft, wie man früher sagte, und der Empfindsamkeit, das finde ich hochspannend. Daran knüpfen wir, ohne um diese historischen Vorläufer und Dimensionen zu wissen, heute wieder an, wenn wir Wahrnehmung als kognitiven und emotionalen Prozess begreifen, oder wenn wir auf die emotionale Grundierung des Urteilens und Bewertens verweisen. Dieses Ineinandergreifen von Gefühl und Verstand, von schnellem Entschluss und langfristig planendem Kalkül, ist etwas, das heute wieder stark zusammengedacht wird – genauso, wie es im 18. Jahrhundert zusammengedacht worden ist.
Susanna Burghartz im Gespräch mit Claudia Opitz-Belakhal und Monika Mommertz (2014)*
Epochengrenzen – Epochenbilanzen: Brüche und Persistenzen in der Geschlechtergeschichte der Renaissance**
Susanna Burghartz, seit 2005 Ordentliche Professorin für Geschichte der Renaissance und der Frühen Neuzeit an der Universität Basel, war von 1995 bis 2013 Mitherausgeberin von „L’Homme“ und ist seitdem Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift. Sie ist eine Frauen- und Geschlechterhistorikerin der ersten Stunde und habilitierte sich 1997 mit einer Arbeit zum Thema „Ehe und Sexualität in Basel während der Frühen Neuzeit“, in der es unter anderem auch um die sozialen Umwälzungen und Neuordnungen der Geschlechterverhältnisse in der und durch die Reformation geht.1 Sie hat sich auch weiterhin mit Ehe- und Sexualitätsgeschichte der Frühen Neuzeit beschäftigt – und zum Beispiel bei der „L’Homme“-Tagung 2013 in Basel einen anregenden Vortrag zum Thema „Renaissance oder Reformation? Sexualität im 16. Jahrhundert zwischen Faszination und Obsession“ gehalten.2 Gleichzeitig hat sie in den letzten Jahren ihre * Claudia Opitz-Belakhal ist Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Basel und seit 2011 Mitherausgeberin von „L’Homme. Z. F. G.“. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit, der historischen Männlichkeitsforschung, der Historischen Anthropologie und der Geschichte der Emotionen. Monika Mommertz ist Habilitandin am Departement Geschichte der Universität Basel; in ihren Forschungen beschäftigt sie sich mit der Religions-, Gewalt- und Konfliktforschung und vor allem mit der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit sowie der Methodologie der Geschichtswissenschaft. ** Zuerst veröffentlicht in L’Homme. Z. F. G., 25, 2 (2014): Zeitenschwellen, hg. von Gabriella Hauch, Monika Mommertz u. Claudia Opitz-Belakhal, 121–127. Erscheint hier mit aktualisierter Einleitung und geringfügiger sprachlicher Bearbeitung. 1 Susanna Burghartz, Zeiten der Reinheit – Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der Frühen Neuzeit, Paderborn 1999. Auch in jüngerer Zeit hat sie weiterhin zu diesem Thema geforscht, vgl. u. a. Susanna Burghartz, Competing Logics of Public Order: Matrimony and the Fight against Illicit Sexuality in Germany and Switzerland from the Sixteenth to the Eighteenth Century, in: Silvana Seidel Menchi (Hg.), Marriage in Europe, 1400–1800, Toronto 2016, 176–200; dies., Die „durchgehende“ Reformation – Basler Mandate von 1529 bis 1780, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde, 116 (2016), 89–111. 2 Der Vortrag ist mittlerweile in französischer Sprache erschienen: Susanna Burghartz, La sexualit8 au XVIe siHcle entre fascination et obsession, in: Olivier Christin u. Yves Krum-
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Aufmerksamkeit verstärkt auf die europäische Expansions- und Verflechtungsgeschichte gerichtet und ihre mediale Be- und Verarbeitung in Europa sowie ihre Bedeutung für die Genese einer europäischen Identität untersucht.3 Wichtige theoretisch-methodische Ansätze sind für sie deshalb neben der Geschlechtergeschichte auch Konzepte wie die Verflechtungsgeschichte und die frühe Globalisierung – also die Zirkulation von Ideen, Menschen und Waren –, aber auch die materielle Kultur, die sie besonders aus der Sicht der Geschichte der Renaissance und der Frühen Neuzeit nutzt und dabei kritisch reflektiert.4 Diese Ansätze fließen auch in das folgende Gespräch ein, mit seinem Nachdenken über Geschlecht und Epoche(n) am Beispiel der Renaissance. Claudia Opitz-Belakhal und Monika Mommertz: Du hast Dich seit vielen Jahren intensiv mit Reformation und Renaissance beschäftigt und dabei die Epochengrenze zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit sozusagen von beiden Seiten beleuchtet. Bezüglich des „Wandels der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit“5 in Reformation und Renaissance ging etwa Heide Wunder eher von einem langsamen Wandel als von einem Bruch beziehungsweise einer abrupten Änderung in der und durch die Reformation aus. Auch Du selbst hast Dich vor vielen Jahren zu diesem Thema geäußert und dabei die Gleichzeitigkeit von Wandel und Persistenz umschrieben und betont.6 Wie siehst Du das heute, nach vielen Jahren der intensiven Forschung über Reformation und Renaissance? Susanna Burghartz: Die Historiografie hat Renaissance und Reformation lange als zentrale Erneuerungs- oder Aufbruchsbewegungen der europäischen Geschichte erzählt, die wesentliche ,Fundamente der Moderne‘ gelegt haben. Dieser
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menacker (Hg.), Les Prostestants / l’8poque moderne. Une approche anthropologique, Rennes 2017, 451–466. Vgl. z. B. Susanna Burghartz (Hg.), Inszenierte Welten/Staging New Worlds. Die west- und ostindischen Reisen der Verleger de Bry 1590–1630, Basel 2004; Maike Christadler, Susanna Burghartz u. Dorothea Nolde (Hg.), Berichten – Erzählen – Beherrschen. Wahrnehmung und Repräsentation in der frühen Kolonialgeschichte Europas, Frankfurt a. M. 2003; Susanne Burghartz, Lucas Burkart u. Christine Göttler, Introduction: „Sites of Mediation“ in Early Modern Europe and Beyond. A Working Perspective, in: dies. (Hg.), Sites of Mediation. Connected Histories of Places, Processes, and Objects in Europe and Beyond, 1450–1650, Leiden 2016. Susanna Burghartz, Covered Women? Veiling in Early Modern Europe, in: History Workshop Journal, 80, 1 (2015), 1–32; dies., The Fabric of Early Globalisation: Skin, Fur and Cloth in the De Bry Travel Accounts, 1590–1630, in: Beverly Lemire u. Giorgio Riello (Hg.), Dressing Global Bodies. The Political Power of Dress in World History, London/New York 2019. Heide Wunder u. Christina Vanja (Hg.), Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1991. Susanna Burghartz, Umordnung statt Unordnung? Ehe, Geschlecht und Reformationsgeschichte, in: Helmut Puff u. Christopher Wild (Hg.), Zwischen den Disziplinen? Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Göttingen 2003, 165–185.
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von den beiden Konzepten selbst intensiv behauptete Neubeginn wurde aber auch (schon lange) dezidiert in Frage gestellt: So hat zunächst die Mediävistik die Verteilung von hell und dunkel angegriffen, wie sie im Rückgriff auf die Antike schon von der Renaissance zulasten des Mittelalters behauptet wurde, etwa mit dem Hinweis auf Individualisierungskonzepte, die bereits im 12. Jahrhundert entwickelt wurden, und auf die vielen Kontinuitäten und langfristigen Entwicklungsprozesse hingewiesen, die Spätmittelalter und Frühe Neuzeit verbinden. Diese kritische Perspektive hat die neuere Reformationsforschung mit dem Konzept der Reformation als Prozess „normativer Zentrierung“ (Bernd Hamm) bekräftigt und auch damit die These vom radikalen Bruch um 1500 in Frage gestellt. Noch deutlicher wurde der behauptete fortschrittsträchtige Modernisierungsschub durch die Frauengeschichte, die fortschrittskritische Postmoderne und die postkoloniale Kritik am Eurozentrismus problematisiert. Sie alle wiesen zu Recht auf die Kehrseiten und Kosten der traditionellen Sichtweise hin. Und zu diesen Kosten gehörte auch die unreflektierte Fortschrittsbehauptung für alle. Auf diese Weise hat man mithilfe des Epochenkonzepts eine ,Signatur‘ der Zeit oder eine Art Epochenbilanz formuliert und damit gegenläufige Entwicklungstendenzen und dark sides ignoriert oder vielmehr sogar verdeckt. All das ist mittlerweile hinlänglich bekannt. Dennoch stellt mich Eure Frage vor ein Problem. Kurz gesagt ist Persistenz, also Dauerhaftigkeit oder vielmehr das Überdauern bestimmter Strukturen und Verhältnisse, ein zentrales Thema der Geschlechtergeschichte, ebenso aber die Historisierung der Geschlechterverhältnisse und damit deren Wandel- und Veränderbarkeit. Zusammen gedacht oder aufeinander bezogen stellt uns das noch immer vor erhebliche analytische Probleme. Konkret auf Eure Frage bezogen, ob Reformation oder Renaissance einen Bruch in der Geschlechterordnung bedeuten, scheint mir nach einer Generation Geschlechterforschung kaum mehr eine einfache Antwort möglich. Sehr zu Recht hat Judith Bennett längst auf die enorme Stabilität der Lohnungleichheit zwischen den Geschlechtern jenseits der Epochengrenzen und Restrukturierungsversuche der Geschlechterordnung hingewiesen.7 Die Frage nach den Rechtsverhältnissen hat erhebliche Divergenzen zutage gefördert: So ist um 1500 die Besserstellung der bislang Unfreien im Eherecht gegen die Zurücksetzung von Frauen als Zeuginnen in Gerichtsverfahren, den Ausschluss von Frauen aus der dynastischen Erbfolge oder die Möglichkeit, als Klägerinnen vor Gericht in Ausnahmefällen erfolgreich die Scheidung durchzusetzen, zu verrechnen. Ebenso ambivalent erscheint mir aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive 7 Vgl. Judith Bennett, Confronting Continuity, in: Journal of Women’s History, 9, 3 (1997), 73–94.
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die Aufwertung ehelicher Sexualität durch die Reformation, führte sie doch gleichzeitig zu einer mittelfristig kaum zu bändigenden Unzuchtsgesetzgebung und im Zuge der Konfessionalisierung zu einer übersteigerten moralpolitischen Reinheitsideologie. Die damit aufs engste verknüpfte anthropologisch-theologische Neubewertung von Sexualität und Keuschheit mit ihrer Fundamentalkritik am Zölibat als Lebensform wirkt bis heute nach. Sie hat aber bis in die Gegenwart die Handlungsspielräume für Frauen keineswegs so eindeutig verbessert, wie immer wieder unterstellt wird. Hier könnte man die im Zuge der digitalen Medienrevolution nachgerade hemmungslose Entwicklung der – laut Lynn Hunt in der Renaissance erfundenen – Pornografie nennen; oder man könnte an die Geschichte der Frauenklöster als Orte weiblicher Macht, aber auch Unterdrückung oder als Orte spezifisch weiblicher Bildungschancen denken, die durch diese Kampagnen nachreformatorisch verloren gegangen sind.8 Besonders interessant scheint mir im Übrigen das Beispiel der sogenannten Schweizergeschichte. Dieses nationalgeschichtliche Narrativ feiert ja die Durchsetzung städtisch-republikanischer auf Kosten adeliger Herrschaft als grundlegenden Befreiungsakt. Für die Frauen im entsprechenden Herrschaftsraum war damit aber eindeutig der weitgehende Verlust an Zugangsmöglichkeiten zu formalisierten Machtpositionen verbunden. Die nicht mehr ganz neue Erkenntnis, welche die Frauengeschichte zu Aufklärung und Französischer Revolution herausgearbeitet hat, wonach Geschlecht und Stand beziehungsweise Klasse sich als Differenzkategorien keineswegs immer parallel, sondern durchaus auch komplementär zueinander entwickelt haben, lässt sich hier sehr deutlich fassen. Abstrakt formuliert, stellt das Phänomen der Interdependenz oder Relationalität der Kategorie Geschlecht die historische Forschung in Bezug auf die Analyse von historischem Wandel und Persistenz vor erhebliche Probleme. Auf einfache Nenner gebrachte „Epochenbilanzen“ sind zwar eingängig für das Verständnis grundlegender historischer Prozesse, aber gerade auch in der Geschlechtergeschichte aus den genannten Gründen wenig hilfreich. Die ältere feministische Geschichtsbetrachtung ging davon aus, dass nicht nur die Geschichtsschreibung ganz allgemein, sondern auch deren Zeit- und Epochenkonzepte frauen- und geschlechtergeschichtlich relevante Überlieferungen und Lebensbereiche vernachlässigten; sie galten als ein wesentliches Instrument zur Ausgrenzung von Frauen/Geschlechtlichkeit aus der Geschichte. Ganz manifest wird das bei Joan Kelly-Gadols Aufsatz „Hatten Frauen eine Renaissance?“.9 Du 8 Vgl. Lynn Hunt, Introduction, in: dies. (Hg.), The Invention of Pornography. Obscenity and the Origins of Modernity, 1500–1800, New York 1993, 9–48. 9 Joan Kelly-Gadol, Did Women Have a Renaissance?, in: Renate Bridenthal u. Claudia Koonz (Hg.), Becoming Visible: Women in European History, Boston, MA u. a. 1977, 175–201.
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hast Dich in den letzten Jahren sehr intensiv mit Renaissanceforschung beschäftigt. Wie würdest Du das Statement Kelly-Gadols, dass sich zwar viel ändert, aber zulasten der Frauen, heute einschätzen? Die Bündelungsfunktion von Epochenkonzepten ist immer wieder diskutiert worden. So hat etwa der Renaissancebegriff nicht zuletzt intensiv historische Individualisierungsprozesse als Modernisierungsvorgänge behauptet, deren ideologischer Überschuss von Joan Kelly-Gadol mit Blick auf die Frauen sehr zu Recht in Frage gestellt wurde. Gerade diejenige Gesellschaft, die als Prototyp der Bürgerrenaissance gilt, Florenz, war zutiefst durch patriarchale Konzepte, Ideale und Ideologien geprägt, die durch die Antikenrezeption verschärft wurden und ledigen Frauen und Ehefrauen kaum agency zugestand. Aber auch hier scheint mir eine ganz generelle Aussage nicht so einfach möglich, wie dies Joan KellyGadol in ihrer Kampfansage suggerierte. Die geschlechtergeschichtlichen Folgen der sogenannten Konsumrevolution scheinen mir noch wenig debattiert, die kulturellen Auswirkungen dessen, was wir Renaissance nennen, für Frauen durchaus ambivalent. Ebenso zweischneidig scheinen mir die Entwicklungen für Frauen im Kontext der entstehenden Höfischen Gesellschaften, die einerseits mit dem weitgehenden Ausschluss von Frauen aus der Erbfolge, andererseits mit der Entwicklung einer so spezifischen Machtposition wie jener der Mätresse verknüpft waren und laut Niklas Luhmann den historisch so folgenreichen Code der Liebe wesentlich vorbereitet haben.10 Wie schon bei der vorherigen Frage deutlich wurde, scheint mir eine eindeutig positive oder negative Bilanz in Bezug auf die Lage der Frauen oder die Transformation der Geschlechterverhältnisse kaum möglich und sinnvoll. Entsprechend scheint mir das Hauptproblem bei Epochenkonzepten generell darin zu bestehen, dass sie eine bestimmte Fokussierung – im Fall der Renaissance etwa auf den Prozess der Individualisierung – für einen ausgewählten Zeitraum, der künstlich auf einen Nenner gebracht wird, dominant setzen. Auf diese Weise werden divergente und zum Teil komplementäre oder zumindest widersprüchliche Entwicklungen homogenisiert, was Phänomene, die diesem Narrativ nicht entsprechen, unsichtbar werden lässt. Als heuristisches Instrument können Epochenbildungen dabei dennoch immer wieder erhellend sein, als strukturierendes Element unserer historischen Erzählungen sind sie dagegen paradoxerweise wohl ebenso unverzichtbar wie hinderlich, vor allem dann, wenn sie erfolgreich sind und entsprechend durch ihren permanent unkritischen Gebrauch quasi essenziellen Charakter erreichen. Hier sehe ich als einzig vernünftige Lösung die periodische Kritik an allzu unhinterfragten Fixierungsprozessen. Bemerkenswert ist auch, dass es der Frauen10 Vgl. Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M. 1982.
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und Geschlechtergeschichte bislang nicht gelungen ist, den Epochenkonzepten, die klassischerweise auf Politik-, Verfassungs- und Geistesgeschichte ausgerichtet sind und männliche Akteure im Blick haben, Versuche der Epochenbildung entgegenzusetzen, die zum Beispiel verschiedene Differenzbildungen entlang von Geschlecht in Kombination mit anderen Differenzkategorien wie ,Rasse‘, Alter etc. vornehmen. Inwiefern hierfür die transepochale Qualität von Geschlecht, als Signifikant von Macht (Joan Scott) zu dienen, verantwortlich ist, müsste man diskutieren. Die (fast) völlige Umstellung von historischen Erzählungen auf Räume statt Zeiten, wie das zum Beispiel Anderson und Zinsser in ihrem Überblick über die Geschichte von Frauen (und Männern) in Europa gemacht haben,11 hat sich ja historiografisch nicht wirklich durchgesetzt. Angesichts der neueren Favorisierung von Räumen und Räumlichkeit in der Geschichte könnte man das bedauern beziehungsweise ändern. Bist Du der Meinung, dass es sinnvoll wäre, gerade für die Darstellung von und das Denken über Geschlechter(-ordnungen) stärker auf solche räumlichen Aspekte Wert zu legen und diese eher in den Mittelpunkt von Darstellungen und „Narrativen“ zu stellen? Der spatial turn und mit ihm die Kategorie Raum haben in den letzten Jahren ohne Zweifel interessante historische Perspektiven eröffnet; das gilt auch und gerade für die Frage nach Gender-Codierungen von Räumen. Dennoch schiene mir eine einseitige räumliche Ausrichtung der geschlechtergeschichtlichen Narrative auf Kosten des Zeitaspekts kein wirklicher Gewinn. Vielmehr sehe ich hier eine mögliche „anthropologische Falle“, die möglicherweise zu einem räumlich organisierten Ordnungs- und Darstellungskonzept führen würde, das sich mit der Historisierung von Phänomenen nicht unbedingt leichttut und wenig dazu beitragen könnte, die Qualität von Zeitlichkeiten und Zeitregimen in den Blick zu nehmen. Das aber scheint mir für die Frage nach Wandel und Persistenz, die für die Geschlechtergeschichte besonders einschlägig und relevant ist, nicht wünschenswert. Im Zuge der wachsenden Bedeutung von Globalgeschichte haben Räume aber möglicherweise noch in anderer Hinsicht Bedeutung für die Geschlechtergeschichte. Es scheint sich abzuzeichnen, dass die klassische, lineare Zeit- und Fortschrittskonzeption der europäischen Geschichte nicht nur die Geschlechtergeschichte vor Schwierigkeiten gestellt hat, ihre Gegenstände adäquat zu fassen, sondern dass dies auch in Hinblick auf die Geschichte anderer Räume und Kulturen der Fall ist. Es wäre schön, wenn sich 11 Bonnie S. Anderson u. Judith P. Zinsser, Eine eigene Geschichte. Frauen in Europa, 2 Bde., Zürich 1992/93 (engl. Orig. 1988).
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hier verschiedene neuere historiografische Interessen (trotz aller Kämpfe um Relevanz und Aufmerksamkeit) gegenseitig weiterbringen könnten. Eine weitere Herausforderung im Umgang mit Zeitqualitäten und der Zeitdimension sehe ich für die Geschlechtergeschichte in Entwicklungen wie der deep history oder big history, die sich vehement der longue dur8e zuwenden. Hier könnte es doch darum gehen, Persistenzen zu thematisieren und analytisch fruchtbarer als bislang zu nutzen und zugleich die Gefahr einer erneuten Verortung in einer Art Universal- oder ,Naturgeschichte‘ der Menschheit (wie sie zu Beginn der modernen Wissenschaftsgeschichte für die historiografische Entwicklung um 1800 kennzeichnend war) zu vermeiden. Darüber hinaus sehe ich die Bedeutung der Geschlechtergeschichte und des ihr eigenen kritischen und damit zugleich gegenwartsbezogenen Potenzials auch künftig vor allem als umfassendes Historisierungsprojekt, das sich in besonderer Weise mit Fragen von Dauer, Bruch und Wiederholung – eben mit Wandel und Persistenz – auseinandersetzen sollte. Also eine Fokussierung, die angesichts der wachsenden Bedeutung von Oberflächen und Phänomenen des mashup, die Entfernungen und Distanzen sowohl räumlicher wie zeitlicher Art ,einebnen‘ oder zumindest rekonfigurieren, notwendiger denn je erscheint. Einen anderen Anknüpfungspunkt für das Nachdenken über Geschlecht und Epoche(n) bieten die von Gianna Pomata und Lynn Hunt vorgeschlagenen Orientierungen an etablierten „Narrativen“, die aber umgeschrieben werden müssen, um „Geschlecht“ zu integrieren (zum Beispiel „Aufklärung“, „Frühe Neuzeit“ und so weiter). Letztendlich geht es auch darum, anschlussfähig zu bleiben (oder zu werden) für die sogenannte Allgemeine Geschichte. Wie siehst Du diesen Zusammenhang von Allgemeiner und Geschlechtergeschichte bezüglich Narrativen und Zeit- beziehungsweise Epochenkonzepten?12 Ich teile die Einschätzung von Gianna Pomata und Lynn Hunt, dass die Geschlechtergeschichte sich in die großen Narrative einschreiben und diese zugleich umschreiben sollte. Ich halte diesen Prozess allerdings keineswegs für einfach und bin mir gerade in Bezug auf die Epochen überhaupt nicht sicher, ob dieses Ein- und Umschreiben so weit gelingt, dass deren Effekt, Geschlecht als Kategorie und historischen Faktor zu verdecken und unsichtbar erscheinen zu lassen, ausreichend untergraben wird. Allerdings glaube ich, dass auf die traditionellen Epochen des europäischen Narrativs im Zuge der Globalisierung große und interessante Herausforderungen zukommen. Und ich hoffe, dass sich damit im besseren Fall auch neue Chancen für eine sichtbare Integration von 12 Vgl. dazu die entsprechenden Beiträge in: Hans Medick u. Anne-Charlott Trepp (Hg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte, Göttingen 1998.
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Geschlecht in die Geschichtsschreibung bieten, sodass die problematische Unterscheidung von Allgemeiner Geschichte und Geschlechtergeschichte praktisch gegenstandslos wird. Wir haben jetzt vor allem über historiografische Darstellungsweisen von Forschungsergebnissen und über historische ,Narrative‘ gesprochen, aber letztlich sind Epochenkonzepte auch analytische Instrumentarien, wie man ja gerade auch an den Konzepten „Reformation“ und „Renaissance“ sehen kann. In beiden steckt dieses „Re-“ im Sinne von Verstärkung oder Wiederkehr. In der Zeit selbst wird ja kritisch auf ein ,Vorher‘ rekurriert, das verändert, verbessert oder wiederbelebt werden muss/soll. Wie wirkt sich das Deiner Meinung nach auf geschlechtergeschichtliche Forschung aus beziehungsweise sollte es sich auswirken? Retro-Bewegungen, welche die Rückkehr zu unverdorbenen Ursprüngen oder die Wiederaneignung früherer, besserer Zustände oder Welten versprechen, haben immer wieder auch mit Geschlechterverhältnissen und Geschlechterordnungen argumentiert und Geschlecht als Marker verwendet. Dennoch scheint mir die Geschlechtergeschichte die Chancen noch nicht abschließend ausgelotet zu haben, die in der Frage nach verschiedenen Umgangsweisen liegt, die Gesellschaften mit Vergangenheitsbeständen zur Bewältigung aktueller Fragen entwickelt haben. Hier liegen, wie ich denke, noch interessante Möglichkeiten nicht zuletzt auch für eine globaler ausgerichtete Geschlechtergeschichte. In diesem Zusammenhang nochmal ganz grundsätzlich zur Kategorie Geschlecht – im doppelten Sinn von sex und gender sozusagen. Ist es nicht vorstellbar, dass sich diese Grundkategorien der Geschlechtergeschichte selbst als „epochenspezifische“ Kategorien erweisen und dass sie eigentlich nur für die Moderne wirklich angemessen sind? Wir wissen das ja vom Konzept „Sexualität“ schon länger, und auch für (hegemoniale) Männlichkeit beziehungsweise ein dichotomisches Konzept von Männlich–Weiblich lassen sich ganz deutlich historische Momente (Jahrhunderte oder Epochen) benennen, in denen diese erstmalig so formuliert werden und auftreten. Gilt das letztlich nicht auch für die Kategorie Geschlecht? Also anders gefragt: Gab es „Geschlecht“ vor der Renaissance? Oder wie müsste die Kategorie so (um)definiert werden, dass auch vormoderne Gesellschaften und Diskurse dadurch mit erfasst werden können? Die Geschichte des Begriffs Geschlecht reicht ja in mancherlei Hinsicht (vor allem wenn wir an die Entwicklung der Sprachen denken) weit zurück. Als analytische Kategorie der Geistes- und Sozialwissenschaften dagegen ist Geschlecht/gender/genre immer noch sehr jung. Das scheint mir aber kein Grund
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zu sein, die analytische Reichweite dieser Kategorie historisch unnötig zu beschneiden. Hier würde ich vielmehr mit Caroline Arni für das Konzept des „kontrollierten Anachronismus“ plädieren, das es erlaubt, solche modernen Kategorien in reflektierter Weise zu nutzen, um Zeiten, die nicht in ihnen gedacht haben, in eine aktuelle, an der Gegenwart interessierte Geschichtserzählung mit historischer Tiefenschärfe einzubeziehen.13 Nur so, davon bin ich überzeugt, können wir die verschiedenen Dimensionen der analytischen Kategorie Geschlecht, die Joan Scott in ihrem mittlerweile zum Klassiker gewordenen Aufsatz paradigmatisch analysiert hat, auch wirklich erfassen und in ihrem kritischen Potenzial nutzen.14 Gerade die verschiedenen Formen von Dauerhaftigkeit und Überdauern, von Rückgriffen, Rückbezügen und Wiederaufnahmen bis hin zu Phänomen der Wiedergängerei (im Sinne von Derrida) sind nur fassbar, wenn wir die analytischen Kategorien nicht vorschnell zugunsten einer vermeintlich historisch-emischen Kategorienbildung aufgeben. Kurz: Ich sehe theoretisch kein Problem, Geschlecht als Kategorie weiterhin auch für vormoderne Gesellschaften wie diejenige der Renaissance anzuwenden.
13 Caroline Arni, Zeitlichkeit, Anachronismen und Anachronien. Gegenwart und Transformationen der Geschlechtergeschichte aus geschichtstheoretischer Perspektive, in: L’Homme. Z. F. G., 18, 2 (2007): Geschlechtergeschichte, gegenwärtig, hg. von Caroline Arni u. Susanna Burghartz, 53–76. 14 Joan W. Scott, Gender : Eine nützliche Kategorie der historischen Analyse, in: Nancy Kaiser (Hg.), Selbst bewusst. Frauen in den USA, Leipzig 1994, 27–75.
Beate Wagner-Hasel im Gespräch mit Margareth Lanzinger (2016)*
Stoffgeschichten und andere Zuschnitte einer Ökonomie der Geschlechtergeschichte**
Beate Wagner-Hasel, bis zu ihrer Emeritierung im Jahr 2018 Professorin für Alte Geschichte an der Leibniz Universität Hannover, Mitherausgeberin der Zeitschrift „Historische Anthropologie“ und der Buchreihe „Geschichte und Geschlechter“1, war eine der ersten, die Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Antike mit geschlechtergeschichtlichen Fragestellungen verknüpft hat. Beispielhaft ist ihre im Jahr 2000 veröffentlichte Arbeit „Der Stoff der Gaben. Kultur und Politik des Schenkens und Tauschens im archaischen Griechenland“.2 Diese Studie führte Wagner-Hasel weiter in den Bereich der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte: Sie hinterfragte Theoreme und gängige, gewissermaßen eingefrorene Interpretationen des eigenen Faches, stellte diese zur Diskussion und legte damit vor allem das situative, mitunter ideologisch gefärbte VerortetSein von Denkfiguren offen, um damit Raum für neue Sichtweisen auf Zusammenhänge zu schaffen. Als Inspiration und wichtiges Instrumentarium fungierten dabei insbesondere die Ethnologie, die Kultur- und die Sozialanthropologie.
* Margareth Lanzinger ist seit 2017 Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 16. bis 19. Jahrhunderts am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien und war von 2003 bis 2020 Mitherausgeberin von „L’Homme. Z. F. G.“. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen v. a. im Bereich der Historischen Anthropologie, Mikrogeschichte, Geschlechtergeschichte, in der Geschichte von Verwandtschaft und Familie, Heirat und Ehe sowie im Themenbereich Besitz und Vermögen, Erb- und Ehegüterpraxis. ** Zuerst veröffentlicht in L’Homme. Z. F. G., 27, 1 (2016): Ökonomien, hg. von Margareth Lanzinger, Sandra Maß u. Claudia Opitz-Belakhal, 105–110. Erscheint hier mit erweiterter und aktualisierter Einleitung und geringfügiger sprachlicher Bearbeitung. 1 Die 1992 von Gisela Bock, Karin Hausen und Heide Wunder begründete Buchreihe erscheint im Campus Verlag. 2 Beate Wagner-Hasel, Der Stoff der Gaben. Kultur und Politik des Schenkens und Tauschens im archaischen Griechenland, Frankfurt a. M./New York 2000. Eine englische Übersetzung des Buches unter dem Titel „The Fabric of Gifts“ ist derzeit in Vorbereitung.
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2011 hat sie eine Biografie über den Nationalökonomen Karl Bücher veröffentlicht.3 Dieser hatte Ende des 19. Jahrhunderts eine Debatte über den Charakter der antiken Wirtschaft angestoßen. Auch hier ist es ihr gelungen, die Geschlechterperspektive zu integrieren, indem sie auf der Grundlage der Briefe der Ehefrau Emilie, einer Enkelin des Paulskirchen-Abgeordneten Joseph Anton Mittermaier, das symbolische Kapital der Ehefrau für die Gelehrtenexistenz sichtbar machen konnte. Wagner-Hasels 2017 erschienenes Einführungsbuch „Antike Welten“4 wiederum behandelt das Problem der politischen Partizipation und Machtverteilung in antiken Kulturen selbstverständlich nicht nur aus männlicher Perspektive. Ihr Interesse am Stofflichen und Textilen in einer breit angelegten Perspektive hat durch den material turn in den Geschichtswissenschaften und in der Archäologie der letzten Jahre neue Impulse bekommen. Davon zeugt auch der Sammelband „Gaben, Waren und Tribute“ über „Stoffkreisläufe und antike Textilökonomie“, den sie mit ihrer langjährigen Kooperationspartnerin Marie-Louise Nosch, der Gründerin des Kopenhagener Centre for Textile Research, 2019 herausgebracht hat.5 Margareth Lanzinger : In Deiner im Jahr 2000 erschienenen Habilitationsschrift „Der Stoff der Gaben“ hast Du Dich mit dem Einfluss der ökonomischen Anthropologie, der Ethnologie, insbesondere mit der Gabentauschtheorie Marcel Mauss’scher Prägung, auseinandergesetzt. Gegenüber dem verbreiteten begriffsgeschichtlichen Zugang hast Du eine soziale Kontextualisierung, eine räumlich-zeitliche Verortung des Schenkens und Tauschens, eine Differenzierung ,der‘ Gabe je nach Botschaft, die damit in Beziehungen transportiert werden sollte, je nach konkretem Verwendungszusammenhang eingefordert und in Deiner Studie auch umgesetzt. Dadurch haben sich neue Blicke und Räume für Forschungsfragen und für das Perspektivieren von Zusammenhängen eröffnet. Zu welchen Ergebnissen kommt ein auf diese Weise konzipierter Ansatz? Beate Wagner-Hasel: Zunächst einmal hat sich für mich die Idee eines einheitlichen Konzepts der Gabe verflüchtigt, nachdem ich mich mit den nationalökonomischen und rechtshistorischen Debatten vor Erscheinen von Marcel Mauss’ „Essai sur le don“ von 1923/24 beschäftigt hatte. Das Konzept des Gabentausches stellt hier und auch bei Mauss ein Umkehrbild zum egoistisch imaginierten Tausch dar. Es ging Nationalökonomen wie Karl Bücher, die konkret an der Lösung der sozialen Frage arbeiteten, um die Infragestellung der 3 Beate Wagner-Hasel, Die Arbeit des Gelehrten. Der Nationalökonom Karl Bücher (1847–1930), Frankfurt a. M. 2011. 4 Beate Wagner-Hasel, Antike Welten. Kultur und Geschichte, Frankfurt a. M. 2017. 5 Beate Wagner-Hasel u. Marie-Louise B. Nosch (Hg.), Gaben, Waren und Tribute. Stoffkreisläufe und antike Textilökonomie, Stuttgart 2019.
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universellen Anwendbarkeit der liberalen Theorie von Adam Smith. Bei beiden Konzepten, beim Konzept des Homo oeconomicus, der in seinem Handeln der Nutzenoptimierung folgt, wie beim Konzept des – wie es heute heißt – Homo reciprocans, der auf gegenseitigen Ausgleich bedacht ist, handelt es sich um Konstrukte. Die historischen Befunde sind nicht so einfach in klare Schemata zu zwängen. Zu unterschiedlich sind nach meinen Erfahrungen mit antiken Quellen die einzelnen Praktiken. Ein für mich überraschendes Ergebnis war die enge Koppelung von Gegenständen und Akteuren an soziale Kontexte, Gastfreundschaft, Heirat, Krieg, Totenrituale. Viele Szenen, die als paradigmatisch für die Praxis der Gastfreundschaft gelten, eines der Kernelemente der Gabentauschkonzeptionen, sind es nach meinen Beobachtungen nicht. Das gilt zum Beispiel für den Waffentausch zwischen Glaukos und Diomedes. Er wird in den Epen Homers geschildert, unserer ältesten literarischen Quelle, die eine Art kulturellen Gedächtnisspeicher darstellt. Dieser Tausch der Waffen, mit dem die Helden vorgeben, an die Gastfreundschaftsbeziehung der Vorväter anzuknüpfen, wird mitten im Kampf vor Troia vollzogen. Für die meisten AlthistorikerInnen ist klar, dass der Waffentausch eine friedensstiftende Funktion hat. Aber wenn man den Gegenstand und den Kontext genauer betrachtet, gilt das nicht. Waffen sind im Epos stets Beutestücke, die den Ruhm des Kriegers visualisieren, sie werden nie als Gastgeschenke dargeboten. Typische Gastgeschenke sind Gegenstände des Symposions, Becher oder Mischkrüge, in denen Wasser und Wein gemischt wird. Sie beziehen sich auf das Ritual des gemeinsamen Essens, dem die eigentliche gemeinschaftsstiftende Funktion zukommt. Eigentlich zeigt die Waffentauschszene, wie mit dem Gastfreundschaftsideal getrickst wird. Denn es werden ungleichwertige Waffen getauscht, goldene gegen bronzene; einer der Tauschenden, Diomedes, erhält die besseren Waffen des Gegners – ganz ohne Kampf. Eben das will der Dichter zeigen und es ist nicht ganz klar, auf wessen Seite er steht, auf der des Betrogenen oder des Betrügers. Auch in anderen Überlieferungen scheint es vielfach weniger um die Darstellung idealen Verhaltens als vielmehr von Fehlverhalten zu gehen. Jedenfalls hat mich die genaue Beobachtung des Kontextes dazu gebracht, auch in anderen Zusammenhängen nach der Doppelbödigkeit von vermeintlich großzügigen und friedensstiftenden Geschenketauschaktionen zu fragen. Und inwieweit kommt Geschlecht als Kategorie dabei ins Spiel? Mir ist aufgefallen, dass es vielfach geschlechtsspezifische Zuordnungen von Gegenständen gibt. Bestimmte Gegenstände werden nur von Frauen gegeben, andere nur von Männern, manche Gegenstände zirkulieren zwischen den Geschlechtern. Die ältere Forschung hielt Frauen für Tauschobjekte; nach meinen
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Beobachtungen sind es die von ihnen hergestellten Produkte, nicht sie selbst. In den Blick geraten sind Gegenseitigkeitsstrukturen zwischen den Geschlechtern, die eine moderne Geschichtsschreibung, die fixiert ist auf das Dogma Patriarchat, gar nicht wahrgenommen hat. In der ethnologischen Forschung ist dies längst gesehen worden, während in der Altertumswissenschaft das L8viStrauss’sche Konzept vom universellen Frauentausch immer noch seine Anhänger findet. Nach diesen Gegenseitigkeitsmustern lässt sich in vielen anderen Zusammenhängen fragen, nicht nur im Zusammenhang mit den Praktiken des Schenkens in den Homerischen Epen. Solche Gegenseitigkeitsbeziehungen können symmetrisch oder asymmetrisch sein und sich mit hierarchischen Beziehungen mischen. Am meisten faszinieren mich die mythologischen Figuren der Gegenseitigkeit, die Chariten (griech.) beziehungsweise die Grazien (lat.), die für den Austausch von Gefälligkeiten auf ganz unterschiedlichen sozialen Ebenen stehen. In ihnen verdichten sich verschiedene Aspekte des Gebens, Nehmens und Wiedergebens: Kriegsdienste, Siegeslieder für erfolgreiche Athleten bei den panhellenischen Spielen, Liebesdienste – für all diese ,Gefälligkeiten‘ sind sie zuständig. Bei Homer bilden sie das Gefolge der Göttin Aphrodite, deren Kleider sie weben. Das ist ein Dienst, der in der Sphäre der Sterblichen von Frauen und ihrem zum Teil unfreien Gefolge geleistet wird. In Unteritalien hat man Webgewichte mit den Namen der Chariten gefunden. Gegenseitigkeit scheint im Zusammenhang der Fertigung von Textilien eine gewichtige Rolle zu spielen; neue Funde weisen darauf hin, dass Tempel zentrale Orte der Organisation der Textilproduktion waren. Zugleich finden wir in diesem Bereich aber auch das Gegenteil von Gegenseitigkeit, die Versklavung. Man hat sich gewundert, warum in den ältesten Quellen vorwiegend Frauen als Sklavinnen auftauchen und nicht etwa Männer. Das hat nichts mit körperlicher Unterlegenheit zu tun, wie gerne fantasiert wird, sondern mit dem Interesse an Spinnerinnen und Weberinnen; webkundige Frauen stellen nicht nur in den Epen ein begehrtes Beutegut dar, über das sich die Mütter der Helden sehr freuen. Wie Gegenseitigkeitsbeziehungen in Abhängigkeitsbeziehungen umschlagen, das ist für mich eine spannende Forschungsfrage. Der Blick von HistorikerInnen auf die Ökonomien vergangener Epochen ist ein Stück weit immer auch mitgeformt von Wahrnehmungen der jeweiligen Gegenwart. Erfahrungen des Krisenhaften, insbesondere das Unbehagen an der Moderne, haben, wie Du auch festgestellt hast, die Suche nach dem ,anderen‘ in der Geschichte befördert, was nahezu unweigerlich zu idealisierenden Bildern, aber auch zu moralisch gefärbten Bewertungen führte. Modernisierungsaffine (Wirtschafts-)HistorikerInnen hingegen machten sich auf die Suche nach dem ,Modernen‘, also dem ,Eigenen‘, auch in zeitlich fernen Gesellschaften. Sehr spannend erscheint mir in diesem Zusammenhang die Kontroverse Mitte der
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1890er-Jahre zwischen dem Nationalökonomen Karl Bücher (1847–1930), über den Du ein Buch geschrieben hast („Die Arbeit des Gelehrten“, 2011), und seinem Zeitgenossen, dem Althistoriker Eduard Meyer (1855–1930).6 Dabei ging es um zwei grundsätzlich unterschiedliche Konzeptionen der antiken Wirtschaft: Während Meyer von einem Fabriksystem und der Exportorientierung der antiken Wirtschaft sprach und damit begrifflich und hinsichtlich der Organisationsmodelle an die Moderne anschloss, charakterisierte Bücher diese als geschlossene Hauswirtschaft. Das erinnert an die in der Sozial-, Geschlechter- und Familiengeschichte geführten Diskussionen über das Haus in der Vorstellung eines Fr8d8ric Le Play, Wilhelm Heinrich Riehl oder Otto Brunner, die eine Generation vor Karl Bücher anzusetzen sind. Deren Haus-Vorstellung verwies auf eine vermeintlich bessere Vergangenheit des mehrgenerationalen Zusammenlebens unter einem Dach und unter väterlicher beziehungsweise ehemännlicher Autorität. Vor allem Brunner zeichnete es auch als ökonomisch weitgehend autark. In dieser Debatte sind die Koordinaten inzwischen eindeutig vermessen: Es handelt sich um Projektionen. Die geschlossene Hauswirtschaft des Karl Bücher gilt inzwischen ebenfalls als überholt. Doch ging auch forschungsheuristisches Potenzial davon aus – auch für eine Geschlechtergeschichte der Antike? Karl Bücher hat die weibliche Arbeit in den Blick genommen, vor allem in seinem Buch „Arbeit und Rhythmus“ von 1897, in dem er – verkürzt dargestellt – die These aufstellte, Musik sei aus weiblichen Arbeitsgesängen entstanden. Ein britischer Altphilologe, George Thomson, der sich der marxistischen Geschichtstheorie zuwandte, hat in Anlehnung an Bücher versucht nachzuweisen, dass die antike Dichtung noch Spuren solcher weiblichen Kulturarbeit enthält. Das war zu einer Zeit – 1949 –, als die Marxisten ein Matriarchat in einer Zeit der Vorproduktion ansiedelten, weil sie eine Ableitung von weiblicher Macht nur aus der Mutterrolle denken konnten, nicht aber aus der weiblichen Arbeitsrolle. Inzwischen gibt es viele Studien zu antiken Dichterinnen, zu Priesterinnen, zur Kulturbedeutsamkeit weiblicher Arbeit, die solche Vorstellungen obsolet erscheinen lassen. Anstelle der Idee eines Ausschlusses von Frauen aus der Wahrnehmung der Politik und Öffentlichkeit griechischer Städte ist das Konzept der weiblichen Kultbürgerschaft getreten. Und diejenigen, die sich mit dem Zusammenhang von matrilinearen Verwandtschaftsordnungen und Machtpositionen von Frauen beschäftigen, suchen diesen längst nicht mehr in der Biologie, sondern im Sozialen und Ökonomischen, in Kooperationsbeziehungen.7
6 Wagner-Hasel, Die Arbeit des Gelehrten, wie Anm. 3. 7 Vgl. auch Thomas Späth u. Beate Wagner-Hasel (Hg.), Frauenwelten in der Antike. Geschlechterordnung und weibliche Lebenspraxis, Stuttgart/Weimar 2000.
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Ein problematisches Erbe dieser alten Debatten über die Hauswirtschaft und über das ganze Haus ist die Subsumierung unter ein Hausvatermodell. Das passt auf antike Befunde nicht, obwohl das Modell von AlthistorikerInnen gerne benutzt wird. Den Begriff des Hausvaters, pater familias, gibt es zwar in der römischen Antike, an seiner Seite aber steht die mater familias. Die Macht des pater familias, seine patria potestas, die ein Tötungsrecht beinhaltet, entfaltet ihre Funktion im politischen Bereich. Die Eigenart der römischen Verhältnisse ist die enge Verwobenheit von häuslicher und politischer Macht; eine strikte Trennung in eine private und öffentliche Sphäre, wie wir sie seit dem 19. Jahrhundert kennen, gilt für die römische und auch griechische Antike nicht. In griechischen Hauswirtschaftslehren finden wir neben dem männlichen despotes eine weibliche despoina, die beide über die unfreien Mitglieder des Hauses herrschen. Eine ideale Hauswirtschaft ist in den Augen von Xenophon, der eine der ältesten Hauswirtschaftslehren verfasst hat, die, in der der Ehemann Diener der Hausherrin ist. Viele Kollegen gehen immer noch von einer Unterwerfung auch der freien Frauen unter ihre Männer aus und nehmen jede philosophische Sollaussage, die von der Unterordnung des Weiblichen unter das Männliche handelt, für gelebte Realität, Aussagen, die dagegen sprechen, für Fiktion. Je mehr ich mich mit dem antiken Hauswesen beschäftige, desto weniger eindeutig scheint mir die Autoritätsverteilung zwischen den Geschlechtern zu sein. Selbst in Gerichtsreden, eine eindeutig männliche Domäne, wird Frauen gelegentlich eine Kontrollfunktion über das richtige Urteil der Männer zugewiesen. Jedenfalls lohnt es sich, über die innerhäusliche Autoritätsverteilung neu nachzudenken, ohne dass ich irgendwelche modernen Gleichberechtigungsparadigmen bedienen möchte. In den letzten Jahren hast Du Dich verstärkt der materiellen Kultur mit Schwerpunkt auf Textilien gewidmet, unter anderem in Zusammenhang mit einem Kooperationsprojekt mit der Universität Kopenhagen. Das Geschlecht der Dinge war in der Sozial- und Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit und Moderne eher zu Beginn des material turn ein diskutierter Aspekt, der zugunsten offenerer Konzeptionen im Sinne von geschlechtsspezifischen Zuschreibungen, Codierungen und Gebrauchskontexten vom Objekt inzwischen wieder losgelöst wurde. In welche Richtung geht diesbezüglich die Textilforschung zur Antike? Wie verändert ein solcher Fokus die Sicht auf das Ökonomische? Es ist schon erstaunlich, wie bedeutend die Textilproduktion und der Textilhandel in antiken Ökonomien waren. In Wirtschafts- und Technikgeschichten finden sich viele Ausführungen über Getreidehandel oder Metallherstellung; erst langsam wird klar, dass Textilien beziehungsweise Wolle wichtige Handelsgüter waren und die Textilherstellung einen bedeutenden Wirtschaftszweig bildete. In den letzten Jahren fand eine Reihe von Tagungen zum Textilhandel statt, an
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denen Fachleute ganz unterschiedlicher altertumswissenschaftlicher Disziplinen wie Archäologie, Assyrologie, Ägyptologie teilnahmen. Im Juni 2016 veranstaltete ich mit der Kopenhagener Kollegin Marie-Louise Nosch in Hannover eine Tagung zur antiken Textilökonomie, auf der es uns unter anderem um Textilien als herrscherliche Abgabe und Tribut geht.8 Das Interesse von Herrschern am steten Fluss von textilen Gütern, das aus bisherigen Forschungen hervorgeht, hat mich überrascht. Bisher dominierte der Gegensatz hauswirtschaftliche Ökonomie versus Marktaustausch die Debatte um die antike Wirtschaft; Gabentauschpraktiken, soweit sie Berücksichtigung fanden, wurden der hauswirtschaftlichen Ökonomie zugeordnet. Es wird meines Erachtens Zeit, sich der Politischen Ökonomie zuzuwenden und andere Räume als das Haus und den Markt in den Blick zu nehmen, nämlich Häfen, Zollstationen, Tempel, Administrationszentren, um den Logiken dieses Flusses von textilen Gütern auf den Grund zu gehen. Wie sich die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern im Handel gestaltet, ist eine spannende Frage. Wir kennen aus Epigrammen arme Lohnspinnerinnen, aber auch reiche Stifterinnen. In Pompeji ist eine Patronin der Walker, Eumachia, inschriftlich belegt.
8 Die Beiträge zur Tagung sind erschienen in: Wagner-Hasel/Nosch, Gaben, Waren und Tribute, wie Anm. 5.
Margaret R. Higonnet interviewed by Christa Hämmerle (2018)*
“When is change not change?” Gender Relations and the First World War**
Margaret Randolph Higonnet is one of the feminist academics who have fundamentally shaped the field of women’s and gender history of World War One since the 1980s. She has published on a wide range of topics in this field, including women’s fiction, poetry and autobiographical accounts of war nurses and female soldiers, connecting these to experiences of trauma, colonial representations of the war, children’s books, etc.1 Trained in Comparative Literature, Higonnet combines critical methods of textual analysis and literary theories with historical approaches in interdisciplinary work. Higonnet’s distinguished career spans several decades beginning with studies in Tübingen, the University College in London and Yale. She received a number of international scholarships and has held many professional offices, including a full professorship at the University of Connecticut from 1981 to 2016, where she * Christa Hämmerle is Associate Professor at the Department of History, University of Vienna and head of the Collection of Women’s Personal Papers and the editorial board of “L’Homme. Z. F. G.”. Her research fields include topics related to war, military and violence, women’s and gender history, the history of emotions (esp. love) and auto/biographies of the nineteenth and twentieth centuries. She has been an editor of “L’Homme” since the foundation of the journal in 1990. ** First published in L’Homme. Z. F. G., 29, 2 (2018): 1914/18 – revisited, edited by Christa Hämmerle, Ingrid Sharp and Heidrun Zettelbauer, 117–126. 1 Some more recent examples include: Maternal Cosmopoetics: Käthe Kollwitz and European Women Poets of the First World War, in: Santanu Das and Kate McLaughlin (eds.), The First World War : Literature, Culture, Modernity, Oxford 2018, 197–222; Colonial Representation of the Great War and Code Switching, in: Douglas Higbee and Debra Lee Cohen (eds.), Teaching the Literature of World War I, New York 2017, 65–73; Les femmes au front, in: Anette Becker (ed.), La PremiHre Guerre Mondiale, vol. 3, Paris 2014, 143–174; Picturing War Trauma, in: Andrea Immel and Elizabeth Goodenough (eds.), Under Fire: Childhood in the Shadow of War, Detroit 2008, 115–128; Authenticity and Art in Trauma Narratives of World War I, in: Modernism/Modernity, 9 (2002), 91–107; Ellen La Motte and Mary Borden, a Nursing Couple, in: Annegret Heitmann, Sigrid Nieberle, Barbara Schaff and Sabine Schülting (eds.), BiTextualität: Inszenierungen eines Paares, Bielefeld 2001, 92–103; Nurses at the Front: Writing the Wounds of the Great War (ed.), Boston 2001; Lines of Fire: Women Writers of World War I (ed.), New York 1999.
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continues as Professor Emerita.2 Currently, she is president of the International Federation of Modern Languages and Literatures (FILLM). Essential for historiographical debates on women’s and gender history of the First World War has been Higonnet’s seminal co-edited volume “Behind the Lines: Gender and the Two World Wars”, published in 1987. This volume with contributions by leading international feminist historians such as Joan W. Scott, Michelle Perrot and Karin Hausen discusses in depth the need to reconceptualize the effects of these two totalized wars on the relations between women and men: Did war really trigger fundamental changes in these relations or the gender order, and help to emancipate women, as often claimed? Margaret and Patrice L.-R. Higonnet’s introduction uses the image of the “double helix” with its “structure of two intertwined strands” to deconstruct such an assumption, suggesting a more differentiated view. The two argue that “the changes in women’s activities during wartime did not improve their status” as “the female strand on the helix is opposed to the male strand, and position on the female strand is subordinate to position on the male strand”.3 In recent decades, the concept of the “double helix” has become extremely influential in the field of women’s and gender history of World War One and its aftermath, and is still much cited. Therefore, the following interview with Margaret R. Higonnet, conducted via e-mail, focuses on this topic. Christa Hämmerle: “When is change not change?” reads the first sentence of your introductory chapter in “Behind the Lines. Gender and the Two World Wars” (1987). Drawing on the case studies of the volume, this initial sentence questioned the traditional assumption that these wars radically changed women’s social and economic positions. How persistent is this view? In which historiographical contexts do you think such a pattern still plays an important role? Margaret R. Higonnet: The problem of the relationship between wars and social change is complicated: today historians recognize that the world wars’ impacts on gender varied across national wartime experiences and cultures. Historiographically, one context is the distinction between short-term and long-term change. The rise of diverse women’s movements before 1914 fostered women’s embrace of new roles during World War One, as well as their ability to sustain political consciousness following the war. The war became a platform on which those social changes would be performed; simultaneously, new wartime activities such as participation in an ambulance corps, replacing a conscripted mayor 2 Cf. https://english.uconn.edu/margaret-higonnet/, access: 10 June 2018. 3 Margaret R. Higonnet and Patrice L.-R. Higonnet, The Double Helix, in: Margaret R. Higonnet, Jane Jenson, Sonya Michel and Margaret Collins Weitz (eds.), Behind the Lines. Gender and the Two World Wars, New Haven/London 1987, 31–49, 34.
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or serving in local Russian parliaments, for example, generated new identities, and the deaths of men gave some women new responsibilities over the long term. Historians’ early assumption that the two world wars improved women’s social and economic positions over the long run, however, was implicitly optimistic, rather like the Pollyanna-ish observation that the “Great War” led to improvements in plastic surgery (setting aside the mutilations that occasioned such medical innovations). Today’s views are more nuanced, and the historiography of gender in both wars has become more egalitarian, changing the stories told in schoolbooks to include civilian as well as military experiences. Instead of the scandalous “emancipation” of mannish young women, the focus has shifted to the daily life of people often considered marginal to war or politics. During World War One, governments advocated women’s short-term employment as substitutes for men mobilised to fight. After the war, however, demobilisation drove hundreds of thousands of women out of their jobs, redirecting many to domestic labour, agriculture and service professions. In the long term, wars are destructive not only to soldiers in the military but to civilian life, where unanticipated economic costs impede post-war socio-economic redevelopment. The First World War thus unleashed vast movements of refugees on the Eastern Front, many of whom simply disappeared; it destroyed cities and villages, leaving unexploded munitions in the fields and ‘red zones’ in northeastern France that cannot be cultivated even in the twenty-first century. Encyclopedic studies of violence during two total wars of the twentieth century have amplified our knowledge of casualties and civilian deaths. Susan Grayzel’s textbook, after presenting analyses of women’s images, war work, sexuality and “gender disruption”, concludes, “it is difficult to evaluate the extent to which the political, social and cultural conditions of the immediate postwar years […] were due to the war. There may be no simple explanation for any of them.”4 The evidence for or against progress for women from 1919 onwards is contradictory and varies across classes and ethnicity as well as across nations. The most striking long-term advance for women in this period was access to the vote, and this too was achieved through sustained political demands starting before 1914. In addition to states such as Finland (1906) or New Zealand (1910) that granted women suffrage before or during the war, a dozen more countries from 1917 onwards introduced it as well. But this did not happen in all post-war countries. Generally, women have not achieved equal status even today, and paternalist laws specifically governing women’s bodies, maternity, sexuality, dress, and access to health care continue to hamper their civic equality a century later.
4 Suzan R. Grayzel, Women and the First World War, Oxford 2002, 117.
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The concept of the “double helix” helped explain why war-related shifts, e. g. in the field of industrial work at the home front, were largely temporary or resulted in a backlash after the war. The construction of the front/home front dichotomy was strongly advocated by state authorities and (male as well as female) agents of war propaganda. In turn, new self-perceptions may have arisen for some women postsuffrage. How do you judge the utility of the concept today, after more than thirty years of women’s and gender history of the Great War? The recent translation into Hungarian of our essay “The Double Helix” suggests that the questions raised persist, although more complex paradigms have also been proposed in the past thirty years. The volume “Behind the Lines” addressed the paradox that the two world wars brought dramatic, but temporary, statesupported changes in social roles for both men and women. The simple metaphor of a “double helix” aimed to make visible persistent social and gender hierarchies, not to support them. At the individual level, of course, new selfperceptions of both men and women became manifest after 1918 in many memoirs and other modes of self-expression. These new identities for women often stood in tension with the social conditions to which women returned after volunteering for wartime service (and even serving in the military in a few countries). Although the sexual division of labour changed temporarily in both wars, the three-volume “Cambridge History of the First World War” echoes our aphorism that “the more things change, the more they remain the same”. Editors John Horne and Jay Winter point out that World War One exacerbated the dichotomy between masculinity and femininity, while it also realigned these concepts: wartime exigencies assigned some feminine roles to men (e. g. as male nurses, orderlies or cooks) and masculine roles to women.5 Metaphorically militarized, the home front nonetheless remained highly gendered and ultimately left women on the sidelines. Lower status and pay were common for women replacing men in civilian and military positions. A second, related puzzle faced by the contributors to the volume “Behind the Lines” was the disparity in post-war experiences for men and women from nation to nation. Demobilization of men with injuries complicated post-war images of militarized masculinity as well as the ostensible restoration of ‘normal’ labour and social relations. While some women won the vote, others, including those young English and French women who had worked in munitions, did not. Were those differences framed by local experiences of defeat or victory, revolution, economic crises and specific cultural values? Post-war reconstruction of civil society returned most women to earlier disadvantages in the workplace. On 5 John Horne and Jay Winter, Introduction to Part II, in: Jay Winter and John Horne (eds.), The Cambridge History of the First World War, vol. 3, Cambridge 2014, 71.
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the positive side, the International Labour Organization established by the Treaty of Versailles under Albert Thomas proposed protection for women workers before and after childbirth and prohibited unhealthy work by women and children. Thomas believed that it “was the war” that would force governments to ‘abolish’ poverty, injustice and privations.6 Rather than war, changing views of human rights and individualism may have been responsible for such efforts. Through studies of veterans’ associations, we know more about the post-war consciousness of male veterans than about that of women. Accounts of individual women’s experiences of active participation as recorded in diaries and memoirs need to be compared with the group consciousness shared among ‘veteran’ ambulance drivers and nurses as well as with other associations that failed to build group consciousness through commemorative events. Because of the archives created at the Imperial War Museum in London, the British have done unusual work gathering evidence about women’s veterans groups, their wartime work for auxiliaries, their post-war memoirs and return to war-work during the Second World War. British oral histories have also contributed to our understanding of women’s changing self-consciousness. For France, Mary Louise Roberts takes a broad perspective on renewed social conservatism (and critique of the ‘flapper’ figure) that identified social ‘decay’ with issues such as the fall of the franc; she interprets the critique of gender changes as a way to mask political and economic changes.7 But many questions remain open: did the ‘double burden’ carried by women who were mothers foster a slippage from public activity back into a more highly gendered private sphere? Did the discursive distinction between public economic production, encoded by politicians and unions as a masculine terrain, and private reproduction, a feminine terrain, reinforce a sense of wartime crisis and foster post-war antifeminism? What did you mean by your call to both analyze the “double helix” and to break out of it? You stated that we “need to move beyond binary models of analysis” and to hear “the polyphony of historical experience”.8 How would you respond to critics who see the model of the “double helix” as focused exclusively on the social and ideological or discursive structures of the hegemonic gender order? Did the model underestimate experiences or agencies on the one hand, and ambivalences or ambiguities as well as war-related ‘gender troubles’ on the other? What models might fit current women’s and gender history of World War One? 6 Cited by Bruno Cabanes, 1919: Aftermath, in: Cambridge History, see note 5, vol. 1, 172–197, 189. 7 Mary Louise Roberts, Civilization without Sexes: Reconstructing Gender in Postwar France, 1917–1927, Chicago 1964, 8. 8 Higonnet/Higonnet, Double Helix, see note 3, 45.
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To recognize a social pattern may enable us to break out of it. One of the most significant changes over the last century has been the “troubling” of the concept of gender, as Judith Butler put it, both through new scientific understanding of genetics and through queer theory. Other factors such as the widespread access to contraception have also altered perceptions of biological determinants, as has the shift to remotely controlled means of warfare. Such developments demand interdisciplinary as well as multi-cultural approaches to gender today. To reinterpret men’s and women’s wartime experiences one hundred years ago depends on recognizing the intersectionality and malleability of their identities. Individuals speak in more than a single voice both in the moment and over time. Agency always lurked beneath a semblance of civilian passivity, a fact overlooked in the discursive binaries of earlier historians. Among many reasons for such invisibility were probably censorship or selfcensorship and the delay in autobiographical publications about the war, especially in the case of women’s stories. Historiographic changes inspired by the Annales school, by the linguistic turn and by feminists have brought to the foreground a significant new body of texts for us to study, including forgotten diaries, fiction from ‘minor’ literatures and unpublished manuscripts such as a memoir by Margaret Hall accompanied by her stunning photographs of the war zone.9 Agents of change since the 1980s include historians like FranÅoise Th8baud and literary critics like Claire Tylee.10 Your own work on mostly unpublished or self-published war accounts of Austro-Hungarian nurses has foregrounded Marianne Jarka who wrote her autobiography at the age of 72, explaining that in her post-war poverty, she traded her medals for milk since her war experience “no longer counted”.11 Such individual records or autobiographical narratives help deconstruct the rigid gendered dichotomy between private and public spheres and can help us see the shifting perceptions of war experience over the decades. The binary of male/female continues to be widely mobilized in political discourse, especially for militarist aggression, even as that binary is increasingly contested in issues like the military acceptance of transgender soldiers. Looking back today, despite significant economic and political shifts, we find some problems continue to plague women: disparity in wages, limited access to cer9 Letters and Photographs from the Battle Country, 1918–1919. The World War I Memoir of Margaret Hall, ed. by Margaret R. Higonnet with Susan Solomon, Boston 2014. 10 Cf. FranÅoise Th8baud, Les femmes au temps de la guerre de 14, Paris 22013; Claire Tylee, The Great War and Women’s Consciousness: Images of Militarism and Womanhood in Women’s Writings, 1914–64, Basingstoke 1990. 11 Christa Hämmerle, “Mentally Broken, Physically a Wreck …”: Violence in War Accounts of Nurses in Austro-Hungarian Service, in: Christa Hämmerle, Oswald Überegger and Birgitta Bader-Zaar (eds.), Gender and the First World War, Basingstoke/New York 2014, 89–107, 89.
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tain professions, the glass ceiling and the harassment to which the “MeToo” movement responds are continuing features of civil society. The functioning of gender in military recruitment and advancement has become more manifestly complex. In most national armies that now employ women in combat roles, however, they do not in practice serve in front lines, in part because war itself has been digitized and robotized. Since 1989, the history of masculinities has developed as well. Relevant studies of the First World War show that men’s roles and experiences in general, and that of soldiers in particular, were also quite diverse, for example in the sense that some groups of men were ‘feminised’ or marginalized as well – although the concept of militarized masculinity was hegemonic. How do such dimensions fit into the model of the “double helix”? One way to apply the metaphor to relationships among men would be to recognize the subordination of minority men as analogous to the subordination of women. In today’s more diverse landscape, the relationship of men to power structures in the military continues to be complicated by race and sexuality. Like the women who hoped to gain full citizenship and the vote by volunteering, so too Senegalese fighters and African Americans hoped to gain full citizenship rights and equality with white men in France or the USA. During World War One, while racial stereotypes persisted, military honours could be won. In the postwar demobilization, however, inequality in pension rights ruled. Moreover, false accusations of rape were lodged against African troops in the Rhineland. Similarly, African American soldiers were among the last to be sent home, after serving on burial crews; then on their return to the USA they faced lynch mobs. Mulk Raj Anand in his novel “Across the Black Waters” (1939) observed the official limits on heterosexual encounters across racial lines imposed by the British military. Rich scholarship has developed around homosexuality as well. A brilliant exploration of soldiers’ shifting norms of masculinity, conventional gender roles and sexuality was offered a few years ago by Santanu Das.12 Tellingly, his investigation of tactile contacts in the trenches across a continuum of relationships identifies a “double bind” in which the intensity of bonds was in tension with the brevity of physical bonding. The peculiar conditions of wartime enabled such developments and reconfigurations of masculinity in quasi-maternal roles, while also setting limits to their postwar continuation. At the individual level, the facial mutilation of soldiers and their loss of limbs deprived many of their former professions and social status; likewise, the impact of shell shock also often meant 12 Santanu Das, Touch and Intimacy in First World War Literature, Cambridge 2005.
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a post-war continuation of changes in the experience of gender. Another example of gender blurring is explored by Das in the case of sepoys’ laments recorded by German anthropologists on wax discs at the Wünsdorf P.O.W. camp.13 Some of these stemmed from women’s oral laments, in what Claudia Siebrecht calls “the moral economy of grief”.14 The soldier stripped of his combatant status as a prisoner of war was feminized by his captivity and traditional models of lament. So were conscientious objectors, some of whom undertook nursing (an ambiguously gendered role), while others were imprisoned. That demotion in status was not redeemed by national victory and a return to ‘gender normalcy’ after the war. One last question concerning the “double helix”: you made very clear that the concept should only be applied to total wars, i. e. the two world wars of the twentieth century. Why not use it to analyse other historical wars, such as the Napoleonic wars or armed conflicts today in which female soldiers fight as well? Which criteria do you believe should be present in an armed conflict for historians to analyse it fruitfully using the “double helix” model? Recent historians have begun to trace these topics back to antiquity, and their findings have been anchored in historical contexts.15 Some evidence indicates that more dramatic shifts in gender assignments may take place in civil wars, revolutions and conflicts on mobile fronts. By contrast, well-disciplined military forces on stable fronts resist the emergence of female leaders even when women are soldiers. Work by Djamila Amrane traces similar patterns of temporary change in the Algerian war.16 Amrane and others who have worked on revolutionary movements in Africa have found that the mobilisation of women in rebellion against colonial rulers was largely followed by the subsequent disappearance of many of those combatants from political view. Where firm military control and other institutional structures shape nursing, auxiliary services and other combat-related activities, women take on new roles within limits, whereas in regions where military and governmental structures are 13 Santanu Das, Reframing life/war ‘writing’: objects, letters and songs of Indian soldiers, 1914–1918, in: Textual Practice, 29, 7 (2015), 1265–1287. 14 Claudia Siebrecht, The Female Mourner: Gender and the Moral Economy of Grief During the First World War, in: Hämmerle/Überegger/Bader-Zaar, Gender and the First World War, see note 11, 144–162. 15 Cf. Philippe Nivet and Marion Trevisi (eds.), Les femmes et la guerre de l’Antiquit8 / nos jours, Paris 2010; Kate McLaughlin, Authoring War : The Literary Representation of War from the Iliad to Iraq, Cambridge 2011; Jean-Cl8ment Martin, La R8volte bris8e: Femmes dans la R8volution franÅaise et l’Empire, Paris 2008. 16 Djamila Amrane, Les combattantes de la guerre d’Alg8rie, in: Pers8e, 26 (1992), 58–62.
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more permeable, blurred lines of authority allow women greater autonomy. Modern revolutions obscure the formal outlines of ‘war’ itself. You use the term “trauma” in your works, and elaborate “traces” of traumatisation in (female) war experiences on the level of language as well as representation. Can you expand on this and look back at how research on war traumas has developed until now? You have also addressed the topics of war nurses and women who were stationed in frontline areas during World War One. What prompted you to do research on these many thousands of women? Trauma, of course, means injury, although it took on the more specific meaning of mental trauma over the twentieth century, especially following the work of the psychologist Robert J. Lifton with veterans of the American war in Vietnam, when it became known as post-traumatic stress disorder (PTSD). In Paris following the Franco-Prussian war, Jean-Martin Charcot (with whom Freud worked) already argued that “hysteria”, thought to be a female disease, could be a neurological symptom among men following sudden accidents or war injuries. During World War One, several terms were applied to PTSD, such as “war neurosis”, “soldier’s heart”, or “shell shock”. Considered malingerers, many patients were treated with electric shock or other punishments. The key triggers of war trauma, according to John MacCurdy, were extreme fatigue and stress, a soldier’s sense of impotence when confined in a trench, the sight or direct touch of “the mangled remains of his comrades” and sudden horror.17 W. H. R. Rivers was an early medical expert to implement a form of “talking cure”. Although it was recognised that soldiers might experience trauma without having been under attack by explosives, the phenomenon was explored by historians in the case of men rather than among women who served close to the frontlines or on hospital ships. Even feminists such as Elaine Showalter have linked trauma to a “crisis of masculinity” during the war.18 In his post-war review of statistics for long-term repercussions of “war neurosis”, the American doctor Norman Fenton found elevated rates among the medical corps. He speculated this might be due to medical staff witnessing “terrible sights of mutilation and disease both at the front and in hospitals behind the lines”.19 Fenton’s findings opened the possibility that not only men in the medical corps, but also women nursing close to the front might undergo traumatising experiences, and this is what drew me to the topic. For a literary 17 John T. MacCurdy, War Neuroses, Cambridge 1918, 9–12. 18 Elaine Showalter, The Female Malady. Women, Madness and English Culture, 1830–1980, New York 1985, 170. 19 Norman Fenton, Shell Shock and its Aftermath, Saint Louis 1926, 46.
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Neue Themenfelder – Methoden – Konzepte
critic like myself, ruptures in texts about trauma offer an interesting connection to Modernism, in which gaps or silences testify to what Walter Benjamin calls a loss of “communicable experience”.20 This approach led me to new ways of reading nursing texts. Let us finally turn to the centenary or to what has changed in our understanding of the First World War in recent years. You ended your article of 1987 with the hope that “words and actions which in a previous historiography had seemed marginal now move to the center of the stage”.21 Do you believe that women’s and gender history approaches have moved from their marginal position to centre stage within World War One research? In addition to the troubling of binary gender stereotypes, one of the most important changes in historiography bearing on the “double helix” thesis has been the extensive shift in perception of the chronology of World War One, with a shift of attention from strictly military matters to civil society, and from the politically defined event to the longue dur8e. At the centenary, many conferences have focused on the period from 1917 to 1923 when new configurations of states and identities impelled political struggles over economic reconstruction and social organisation. Works like Leila Fawaz’s study “A Land of Aching Hearts” develop our understanding of neglected fronts and regional conflicts as parts of larger and longer patterns of disruption, and draw on oral culture as well as official documents to expand our understanding to include illiterate women and men and place them under our spotlight.22 Comparative work complicates conclusions about gender, as in the experiences of Chinese women at the formation of the People’s Republic of China, when traditional domestic structures were overthrown. The centenary has also focused on a collective memory that stretches across gender and generations. The war culture addressed to children has become a fertile field of exploration, with interdisciplinary connections to pedagogy, propaganda and the study of creative word-image collaborations. Here too, the construction of gender is of central interest, and the time frame naturally is the longue dur8e. As the scale of analysis changes, with closer attention both to intimate relations and to the transmission of trauma across generations, we discover new ways to understand the complex history of gender amidst socially generated practices of violence. 20 Walter Benjamin, The Storyteller, in: Walter Benjamin, Illuminations. Essays and Reflections, ed. by Hannah Arendt, translated by Harry Zohn, New York 1969, 83. 21 Higonnet/Higonnet, Double Helix, see note 3, 47. 22 Leila Tarazi Fawaz, A Land of Aching Hearts. The Middle East in the Great War, Cambridge 2014.
4. Inter/Disziplinarität
Judith Butler in Diskussion mit feministischen Forscherinnen in Wien (1995)*
Identifikation und Fantasie: Zur Konstruktion von Geschlechterdifferenz**
Die einflussreiche US-amerikanische Philosophin Judith Butler gilt als eine der radikalsten Vertreterinnen des Paradigmenwechsels von der Frauenforschung zur Geschlechterforschung und zudem als Vordenkerin der Queer Theory. Ihr 1990 erschienenes, wenig später ins Deutsche übersetztes Buch „Gender Trouble. Feminism and The Subversion of Identity“1 machte sie auch einer breiteren deutschsprachigen Öffentlichkeit bekannt. Judith Butler, die 1984 an der Yale University über den Begriff der Begierde bei Hegel und seine Rezeption in der
* Es sind dies, in alphabetischer Reihenfolge: Ingvild Birkhan, Philosophin, war 1994 die erste Leiterin der Interuniversitären Koordinationsstelle für Frauenforschung Wien; Johanna Borek, Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin, zum Zeitpunkt des Gesprächs außerordentliche Professorin am Institut für Romanistik der Universität Wien; Isabell Lorey, politische Theoretikerin, aktuell Professorin für Queer Studies in Künsten und Wissenschaft an der Kunsthochschule für Medien Köln, promovierte 1996 an der Universität Tübingen mit einer Arbeit zu Judith Butler ; Maria Mesner, stellvertretende Institutsvorständin am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und Leiterin des Kreisky-Archivs, war Anfang der 1990er-Jahre Mitarbeiterin der historischen Abteilung des Karl-Renner-Instituts im Studien- und Forschungszentrum „Vorwärts“; Herta Nagl-Docekal, von 1985 bis 2009 Universitätsprofessorin am Institut für Philosophie der Universität Wien, gehört zu den Mitbegründerinnen der Zeitschrift „L’Homme. Z. F. G.“; Edith Saurer (1942–2011), Historikerin, seit 1992 Universitätsprofessorin für Neuere Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Wien, hat „L’Homme. Z. F. G.“ initiiert und gemeinsam mit Herta Nagl-Docekal die Veröffentlichung der Diskussion zu Judith Butler in der Zeitschrift betreut; Birgit Wagner, Romanistin, seit 1998 Universitätsprofessorin für Romanische Literaturwissenschaft der Universität Wien, wo sie u. a. die interfakultäre Arbeitsgruppe Kulturwissenschaften/Cultural Studies leitet. ** Zuerst veröffentlicht in L’Homme. Z. F. G., 6, 1 (1995): Handel, hg. von Erna Appelt u. Verena Pawlowsky, 82–97. Erscheint hier ohne den damaligen Vorspann, mit einer neuen Einleitung sowie geringfügiger sprachlicher Bearbeitung. 1 Judith Butler, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York 1990 (dt.: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991).
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Inter/Disziplinarität
französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts promoviert hatte,2 lehrte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung an der Johns Hopkins University in Baltimore. 1993 nahm sie eine Professur für Rhetorik an der University of California in Berkeley an und erhielt dort 1998 den Maxine-Elliot-Lehrstuhl am Department of Comparative Literature and the Program of Critical Theory. In dieser Position wirkt Judith Butler bis heute, wobei sie immer wieder auch internationale Gastprofessuren innehat, etwa 2016 die Albertus-Magnus-Professur an der Universität zu Köln. 2012 wurde der in der Tradition der Kritischen Theorie und des Poststrukturalismus stehenden queer-feministischen Philosophin der Theodor-W.-Adorno-Preis der Stadt Frankfurt verliehen. 2007 wurde Judith Butler in die American Philosophical Society aufgenommen, 2015 folgte die Aufnahme in die British Academy, 2019 jene in die American Academy of Arts and Sciences. In Frankreich erhielt sie 2011 Ehrendoktorate der Universit8 ParisDiderot und der Universit8 de Bordeaux. Neben ihren international breit rezipierten Arbeiten zur feministischen Theorie beziehungsweise zu geschlechtertheoretischen Themen3 hat sich Butler unter anderem auch mit Subjekttheorien und dem Verhältnis von Subjekt, Körper und Macht4 oder mit dem sexistischen und rassistischen Sprechen, der sogenannten hate speech,5 sowie Strategien der Gegenwehr beschäftigt. Mit ihren Reflexionen entwirft sie zudem eine kritische Philosophie des Politischen6 und macht ihre theoretischen Überlegungen zu Ethik und Moral immer wieder an aktuellen politischen Kontexten fest.7 Butlers schon genanntes Buch „Gender Trouble“ gilt als ihre bekannteste, auch über akademische Kreise hinaus rezipierte Schrift. Die darin formulierten pointierten Thesen und Infragestellungen haben beim Erscheinen heftige kontroversielle Debatten ausgelöst: vor allem in Bezug auf ihre radikal dekon2 Publiziert als Judith Butler, Subjects of Desire. Hegelian Reflections in Twentieth-Century France, New York 1987. 3 Vgl. u. a. Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 1995 (Orig.: Bodies That Matter. On the Discursive Limits of „Sex“, London/New York 1993); dies., Antigones Verlangen. Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, Frankfurt a. M. 2001 (Orig.: Antigone’s Claim: Kinship Between Life and Death, New York 2000); dies., Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt a. M. 2009 (Orig.: Undoing Gender, New York 2004). 4 Vgl. u. a. Judith Butler, The Psychic Life of Power. Theories in Subjection, Standford 1997 (dt.: Psyche und Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a. M. 2001). 5 Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998 (Orig.: Excitable Speech. A Politics of the Performative, New York/London 1997). 6 Vgl. Gerald Posselt u. Tatjana Schönwälder-Kuntze (Hg.), Judith Butlers Philosophie des Politischen. Kritische Lektüren. Mit zwei Beiträgen von Judith Butler, Bielefeld 2018. 7 Vgl. u. a. Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002, Frankfurt a. M. 2003; dies., Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a. M. 2005 (Orig.: Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence, London/New York 2004).
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struktivistischen Thesen zu Identität und Subjekt oder zur Materialität des Körpers; ihre Abgrenzung von einem einheitlichen feministischen ,Wir‘ und von Feminismus als Identitätspolitik; ihre Kritik an einem essentialistischen Verständnis von Weiblichkeit und Männlichkeit, dem sie ein performatives Modell von Geschlecht und die Aufforderung, die kulturell festgelegten Geschlechtergrenzen durch Maskerade und Parodie subversiv zu unterlaufen, entgegensetzt. Rückblickend betrachtet hat „Gender Trouble“, das 1993 auch in „L’Homme. Z. F. G.“ ausführlich rezensiert wurde,8 wichtige Neu-Perspektivierungen im Theoriefeld der Genderdebatten sowie produktive Herausforderungen für die Denkgewohnheiten, Kategorien und Konzepte der Geschlechterforschung gebracht.9 Im Mai 1994 folgte Judith Butler einer Vortragseinladung an die Universität Wien sowie an das damalige Studien- und Forschungszentrum „Vorwärts“ und stellte sich in zwei großen Veranstaltungen10 der Diskussion mit feministischen Forscherinnen.11 Butler hatte dabei auch ihr in den USA gerade erschienenes Buch „Bodies That Matter. On the Discursive Limits of Sex“12 sozusagen mit im Handgepäck, in dem sie auf die Kritik reagiert, die ihren in „Gender Trouble“ aufgestellten Thesen vielfach entgegengebracht wurde. Sie präzisiert darin vieles, stellt anderes klar und fährt gleichzeitig fort, auch in dieser Publikation „die philosophischen und politischen, die psychoanalytischen, sprachtheoretischen
8 Vgl. Herta Nagl-Docekal, Rezension zu: Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, in: L’Homme. Z. F. G., 4, 1 (1993), 141–148. 9 Vgl. dazu Hannelore Bublitz, Judith Butler zur Einführung, 5. erg. Aufl., Hamburg 2018; Eva von Redeker, Zur Aktualität von Judith Butler. Einleitung in ihr Werk, Wiesbaden 2011; Paula-Irene Villa, Judith Butler. Eine Einführung, 2. aktualis. Auflage, Frankfurt a. M. 2012. 10 Zu diesen Veranstaltungen am 17. und 18. Mai 1994, die unter der Thematik „Identifikation und Phantasie. Zur Konstruktion von Geschlechterdifferenz“ sowie „Körper – Identifikationen, Imaginationen, Repräsentationen“ standen, luden der Rektor der Universität Wien und das Karl-Renner-Institut sowie das Institut für Romanistik und die Arbeitsgruppe Frauengeschichte am Institut für Geschichte der Universität Wien, die Interuniversitäre Koordinationsstelle für Frauenforschung Wien und die Wiener Sozietät für Literaturtheorie. Vgl. dazu auch die kritische Betrachtung dieser Veranstaltungen und ihrer Inszenierungsstrategien: Anette Baldauf, Andrea Griesebner u. Maria Mesner, Zur Konstruktion eines Stars. Judith Butler in Wien, in: L’Homme. Z. F. G., 6, 1 (1995), 78–80. 11 Nur ein Teil der Diskussionsbeiträge beider Veranstaltungen sowie Judith Butlers von Karin Wördermann ins Deutsche übersetzte Antworten wurde damals für den Druck in „L’Homme. Z. F. G.“ verschriftlicht. An der Diskussion mit Judith Butler im Rahmen ihres Wienbesuchs beteiligt waren außerdem: Daniela Hammer-Tugendhat, feministische Kunsthistorikerin, bis 2012 außerordentliche Professorin an der Universität für angewandte Kunst Wien; Friederike Hassauer, ab 1991 Professorin für Romanische Philologie an der Universität Wien, die die Einladung an Judith Butler nach Wien initiiert hat; Cornelia Klinger, seit 2003 apl. Professorin am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen, Anfang der 1990er-Jahre u. a. Lektorin an der Universität Wien. 12 Vgl. Butler, Körper von Gewicht, wie Anm. 3.
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und literarischen Konsequenzen einer Weltordnung, die gleichzeitig immer schon Geschlechterordnung erzeugte“,13 zu dekonstruieren. Sind Subjekte allein in Relation zum Gesetz konstituiert? Isabell Lorey : Ich finde es sehr überzeugend, wie Judith Butler zeigt, dass bei Lacan die Konstitution der geschlechtlichen Subjekte nur mit der gleichzeitigen Verwerfung nicht nur des homosexuellen Begehrens stattfinden kann. Butler sagt, diese geschlechtlichen Subjekte sind konstituiert; sie entstehen durch und in einer beständigen Wiederholung der normativen Vorgaben im Symbolischen. In der Wiederholung von Normen findet die Annahme des „Sexes“ statt. Geschlechtliche Subjekte werden durch performative, Normen wiederholende Handlungen unterworfen und hervorgebracht. Das heißt, die Subjektkonstitution findet immer in Relation zum Gesetz, zu Normen statt. Dann sagt Butler, dass jeder performative Akt aber keine identische Wiederholung von Normen ist, sondern immer eine Interpretation, eine Verschiebung vielleicht. Ich verstehe Butler so, dass sie mit einem juridischen Machtmodell argumentiert14 – also einem Modell, in dem die Macht wesentlich mit dem Gesetz oder der Norm verbunden ist. Und sie sagt, dass gesellschaftliche Normen nicht nur repressiv und unterdrückend sind, sondern immer auch produktiv. Meine Frage ist nun: Ist es in diesem Konstitutionsprozess von Subjekten möglich, so etwas zu denken, was Foucault mit „Selbstverhältnis“ beschrieben hat? Dem Verhältnis zu sich, zu einem Selbst, das als authentisches und kohärentes immer ein imaginiertes Selbst ist. Bei „Selbstverhältnissen“ denke ich zum Beispiel an die Praktiken der Selbsterfahrung, die so wichtig waren für die Frauenbewegung. Diese Praktiken der Selbstkonstitution lassen sich begreifen als Verhältnis zu sich, zur eigenen Sexualität, zu anderen Frauen; sie waren/sind nicht das ganz andere, sondern – wie Butler sagt – eine unvorhergesehene Interpretation und ein „Wildwuchs des Symbolischen selbst“. Beispiele für andere Praktiken, in denen sich „Selbstverhältnisse“ und das Verhältnis zu anderen bilden, können sein: Diät, gesunde Ernährung; Erfahrungen der Sexualität; ethische Ansprüche im Umgang mit anderen, mit Freundinnen, Geliebten; spezifische kontext- und community-abhängige Weisen der Selbstproblematisierung etc. In der Frage nach dem „Selbstverhältnis“, nach dem aktiven Umgang von Subjekten mit sich, mit anderen und mit gesellschaftlichen Normen im Rahmen 13 Friederike Hassauer, Eine Einführung zu Judith Butler, in: L’Homme. Z. F. G., 6, 1 (1995), 81–82, 81. 14 Vgl. dazu Isabell Lorey, Immer Ärger mit dem Subjekt. Theoretische und politische Konsequenzen eines juridischen Machtmodells: Judith Butler, unveröffentlichte Dissertation, Universität Tübingen 1996.
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dieser normativen Vorgaben selbst steckt natürlich die Frage nach Reflexion. Wäre hier ein Anknüpfungspunkt zu dem, was Butler „Interpretation von Normen“ nennt? Oder anders formuliert: Wie können Praktiken der Selbstkonstitution innerhalb eines juridischen Machtmodells gedacht und problematisiert werden? Judith Butler : Die Frage danach, wie die Praktik der Konstituierung des Selbst im Rahmen des juridischen Modells gedacht und problematisiert werden kann, ist eine ganz wichtige Frage. Und lsabell Lorey hat recht, wenn sie vermutet, dass Begriffe wie beispielsweise „Selbstverhältnis“ oder „Praktiken der Selbsterfahrung“ innerhalb eines juridischen Modells nur schwer denkbar sind. Sie hat aber auch recht, wenn sie meint, es sei sehr wichtig, das juridische Gesetz nach Maßgabe seiner produktiven Wirkung neu zu denken. An diesem Punkt wird es erforderlich, das Lacan’sche Schema in Hinblick auf Foucaults Herausforderung der Psychoanalyse im ersten Band von „Sexualität und Wahrheit“ zu überdenken. Foucault selbst jedoch gelangte im dritten Band („Die Sorge um sich“) zu der Auffassung, dass es notwendig sei zu zeigen, wie die „Reflexivität“ des Subjekts hergestellt wird. Seine Bemühungen, sich über die Formen körperlicher Kultivierung des Selbst Klarheit zu verschaffen, stellen einen wichtigen Versuch dar, die Problematik des „Selbstverhältnisses“ in den Griff zu bekommen. Aber auch hier ist es wichtig zu beachten, dass Reflexivität nicht als eine Gegebenheit der Erfahrung, als ein Ausgangspunkt oder eine Grundlage des Selbst behandelt werden kann. Sie wird über die Zeit hinweg geschaffen, und sie erfolgt durch die Entfremdung des Begehrens über eine Reihe äußerlicher und konstituierender Normen. Offenbar bietet der Begriff der Norm eine weniger juridische Art und Weise, dieses Problem der Subjektkonstitution zu verstehen; zudem erlaubt er, die soziale Dimension wieder einzuführen (die auf dem Gebiet der Lacan’schen Terminologie nur allzu leicht dem Symbolischen angeglichen wird). Der Körper, der in Bezug auf eine Anzahl von Normen verfertigt oder kultiviert wird, existiert lediglich hypothetisch vor jenen Normen. Dennoch ist es entscheidend, daran zu erinnern, dass die Normen, die einen Körper konstituieren, nicht alle auf einen Schlag wirksam werden: Sie üben ihre Macht über die Zeit gestreckt vermittels einer ungleichmäßigen Wiederholung aus, und „der Körper vor dem Gesetz“ ist immer nur verhältnismäßig geregelt. In diesem Sinn weiß man von sich durch einige Normen, die nicht dem eigenen Zutun entspringen; sie stellen die Bedingung für „Reflexivität“ oder das „Selbstverhältnis“ dar, doch das Selbst, das sie „reflektieren“, ist niemals ganz das eigene. So gesehen gibt es feministische Praktiken der ,Selbsterfahrung‘, die uns lehren, wie die bestehenden Normen auf weniger unterdrückerische Weise kultiviert werden können; wir würden uns aber täuschen, wenn wir daraus schließen würden, dass sie uns unser eigenes Selbstgefühl zurückgeben könnten.
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Ist die Parodie, wie im Fall der Drag-Bälle, zwangsläufig subversiv, oder kann sie auch nichts weiter als die hyperbolische Bestätigung der Geschlechternormen sein? Maria Mesner : Wenn Wissenschaft eine Erzählung über die Welt ist, so mag ich die Erzählung von der performativen Entstehung des Geschlechts. Ich finde sie anregend, herausfordernd, auch befreiend, weil sie Möglichkeiten des Denkens aufzeigt, die andere essentialistischere, sich mehr an der ,Natur‘ orientierende Theorien verschließen, auch wenn sie sich als feministische verstehen. Gleichzeitig benennt sie die Ausschließungen und Nivellierungen, die feministische Politik, oft in unwillkürlicher Wiederholung der herrschenden Norm, ihrerseits vollführt. Nicht ganz folgen kann ich aber dem, wie Judith Butler die Auswege identifiziert, die dieses System der Konstruktion des Geschlechts jenen bietet, die sich den herrschenden Normen widersetzen. In „Gender Trouble“ behauptet sie, dass sich Travestie sowohl über das Ausdrucksmodell von Geschlecht als auch über die Vorstellung einer ,wahren‘ geschlechtlich bestimmten Identität lustig machen würde. In der Travestie, durch Kleidertausch und sexuelle Stilisierung der butch/femme-ldentitäten, würde die Vorstellung von einer ,wahren‘, ursprünglichen Identität parodiert und deutlich gemacht, dass diese ,wahre‘ geschlechtliche Identität ihrerseits eine Imitation ohne Original sei – eine Erkenntnis, die Gelächter, möglicherweise auch „subversives“ Gelächter provoziere. Butler räumt zwar ein, dass Parodie auch ein Verfahren zur Wiederherstellung und Festigung der Unterscheidung zwischen ,natürlicher‘ und ,abgeleiteter‘, nachahmender Geschlechteridentität sein könne, hält dem aber entgegen, dass das Scheitern, ,real‘ zu werden, allen Inszenierungen von Geschlechtsidentität immanent, also allgegenwärtig sei. Das subversive Gelächter entstehe dadurch, dass in der Parodie das Authentische und Reale als Effekt einer „subtilen und politisch erzwungenen Performanz“ dargestellt werde. Die Illusion der Tiefe und inneren Substanz werde zerstört, die naturalisierten, binären Geschlechternormen wären als solche verloren – ein Verlust, der viele Geschlechterkonfigurationen ermöglichen würde. In „Bodies That Matter“ nimmt Butler dieses Thema – wenn auch, wie mir scheint, weniger optimistisch – wieder auf: Das Gesetz, das Konformität erzwinge, ermögliche damit die Verweigerung in Form von parodistischer Konformität, von hyperbolischer Übertreibung der Konformität. Damit entstehe die Möglichkeit konsequenten Ungehorsams. Auch wenn Butler am Beispiel des Films „Paris is Burning“15 ausführt, warum und in welchem Ausmaß Travestie als Parodie, als Handlungsräume aufzeigende 15 Dieser US-amerikanische Dokumentarfilm aus dem Jahr 1990 (Regie: Jennie Livingston)
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Strategie scheitern kann (was sich in der diskutierten Dokumentation im Tod eines Mitglieds der Gemeinschaft, die im Zentrum des Films steht, tragisch manifestiert), wird – zumindest mir – nicht deutlich, wo denn der Raum für eine kritische Aneignung der normativen Geschlechteridentitäten liegt. Zwar wird durch die Reformulierung der Verwandtschaftsbeziehungen, die im Film dargestellt wird, die Naturhaftigkeit der normierten Familie bestritten. Ich denke, dass das keine entscheidende Subversion der Geschlechternormen sein kann. Es gibt zu viele historische und zeitgenössische Beispiele, wo sich Menschen in Gemeinschaften mit (emotional) verbindlichem Charakter gegenseitig beistanden, für einander sorgten etc., als dass durch die Reformulierung der Familie in den houses diese Norm tatsächlich destabilisiert werden könnte. Gerade in der Travestie und Transsexualität der schwulen Szene liegt zumindest eine wesentliche Ambivalenz. Zum einen wird durch die drag balls oder durch drag im Allgemeinen die hegemoniale Geschlechternorm tatsächlich entnaturalisiert. Dieser Entnaturalisierung, die die Nachahmung von Geschlechterstereotypen bewirkt, fehlt allerdings der subversive Charakter. Im Gegenteil, die Materialität der Körper, ihr ,natürliches Geschlecht‘, bekommt ein wesentliches, letztlich (zumindest in Bezug auf das vermutliche Motiv des Mordes an Venus Xtravaganza, einer Protagonist*in in „Paris is Burning“, sogar lebens-)entscheidendes Gewicht. Der Versuch der Schwulen, ,Frauen‘ oder Stereotypen von Frauen möglichst realitätsnahe nachzuahmen, ist nicht von dem zu unterscheiden, eine ,wirkliche Frau‘ zu werden. Der Versuch der Nachahmung offenbart daher aus meiner Sicht die Geschlechter nicht als ,Effekt‘ und löst damit möglicherweise parodistisches Gelächter aus, sondern akzeptiert den normativen Charakter der Geschlechteridentitäten und versucht, zumindest in vielen Fällen, dieser Norm bis in die eigene Fleischlichkeit gerecht zu werden. Dem Zwang des Gesetzes zu Uniformität und Konformität wird in der Travestie der Schwulen daher zwar möglicherweise eine hyperbolische Wiederholung, aber keine Verweigerung durch parodistische Konformität entgegengesetzt. In der Nachahmung, der Travestie, der sexuellen Stilisierung von butch und femme kann ich keine Satire entdecken, mit der die normierten Geschlechter parodiert und als „Kopie ohne Original“ demaskiert würden. Warum (oder anders gefragt wie) sollte also „subversives Gelächter“ provoziert werden? Judith Butler : Drag ist sicher nicht notwendigerweise subversiv, und dass ich in „Körper von Gewicht“ eine Interpretation von „Paris is Burning“ vorgelegt habe, zeigt die New Yorker ball oder drag culture und avancierte zu einem wichtigen Zeitzeugnis der dortigen Schwulen- und Transgenderszene sowie der afroamerikanischen und lateinamerikanischen community. Als balls wurden hier stattfindende, ins Humoristische gedrehte Laufsteg-Wettbewerbe um die schönste ,Verkleidung‘ (meist von Männern in Frauenkleidern) bezeichnet, die Dragqueen war die Gewinner*in derselben.
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hatte unter anderem den Grund, meine frühere Behauptung in „Das Unbehagen der Geschlechter“ näher zu qualifizieren und drag als eine ambivalente Beziehung zum normativen Geschlecht, der Kategorien Klasse und race zu erklären. Ich denke, die „Entnaturalisierung“ ist keine ausreichende Bedingung für die Subversion herrschender Normen. Aber ich meine, dass es eine kritische Perspektive auf solche Normen gibt, über die die Travestie verfügt. Es verhält sich nicht bloß so, dass uns drag eine hyperbolische Version der Geschlechtsnormen präsentiert, sondern drag deckt auf, dass derartige Normen genau aufgrund ihres eigenen naturalisierten Hyperbolismus wirksam sind. Mit anderen Worten: Ich glaube, „Paris is Burning“ zeigt uns im günstigsten Fall, dass die herrschenden Geschlechtsnormen selbst hyperbolisch sind und dass es keine normale oder gewöhnliche Wirkungsweise gibt, mit der sich eine hyperbolische kontrastieren ließe. In diesem Sinne könnte man den Schluss ziehen, dass das, was herrschende Normen dominant macht, ihre Fähigkeit ist, das Hyperbolische als das Gewöhnliche zu naturalisieren und dann eine falsche Unterscheidung aufzustellen zwischen einem weiteren Fall des Hyperbolischen, wie beispielsweise der Travestie, und – dem Gewöhnlichen selbst! Das ist natürlich ein Scherz, aber ein hinterhältiger, wie ich meine. Die Frage nach der politischen Seite des drag ließe sich vielleicht besser ausdrücken als die Beziehung zwischen Mimesis und Politik. Politische Normen verlangen, rekapituliert zu werden, wiederholt zu werden, und ihre regulierende Macht besteht in dem relativen Erfolg dieser rekapitulierenden Einschärfung. Das Gesetz, das eine Gesellschaft regiert, muss durchwegs in der gesamten Gesellschaft wiederholt werden, und wie dies vor sich geht, können wir in der banalsten Weise an den Fragen politischer Repräsentation sehen. In dem Maße, wie wir uns selbst den staatlich sanktionierten Normen entsprechend regulieren, wiederholen wir diese Einschärfung in unserem Fleisch, und zwar in dem Umfang, in dem gerade jene Normen unser Gefühl für Identität bedingen. In dem Maße, wie wir unser Gefühl für Identität aus jener Wiederholung regulierender Macht in unserem eigenen Fleisch und Begehren beziehen, sind wir die Wiederholung, von der ich spreche. Wenn die regulierende Macht den Körper instrumentalisieren muss, dann ist sie andererseits zu ihrer Selbstreplikation auf eben diesen Körper angewiesen, und das stattet den Körper mit Macht aus – mit der Macht, jene Macht entgleisen zu lassen, in Frage zu stellen, zu sabotieren und umzulenken, von der er gezwungen wird. Das macht den Körper zu einem Ort der Ambivalenz, und dieses Verhältnis von Ambivalenz und Handlungsfähigkeit ist möglicherweise wichtiger für mein jetziges Denken als die Beziehung zwischen Parodie und Subversion.
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Zurück zu (welcher) Natur? Johanna Borek: Wenn Stellungnahmen und Gegenstellungnahmen vor allem eines provozieren: nämlich ein profundes Gefühl des d8j/ entendu, scheint es angemessen, sich diesem offensichtlichen Wiederholungszwang zuzuwenden, und der Frage, was sich hier eigentlich wiederholt. Mir scheint der Grund dafür in der lmpenetrabilität eines Systems zu liegen, das nur geglaubt werden kann oder eben nicht, und an dem jede Kritik recht eigentlich abprallt und sich selbst ins Außen der Naivität oder der Zurückgebliebenheit verweist. Ein Präzedenzfall scheint mir der vor einigen Jahren en vogue gewesene sogenannte Diskurs des radikalen Konstruktivismus zu sein: Wer die Prämisse nicht teilte, bugsierte sich automatisch ins Eck des vorwissenschaftlichen Zeitalters. Ich möchte hier eine Philosophin zitieren, der man historische Obsoletheit nicht wird vorwerfen können, und zwar Herta Nagl-Docekal,16 die in einer Entgegnung auf Judith Butlers „Gender Trouble“17 auf folgende zwei Punkte hingewiesen hat. Einmal auf einen politischen: Auszugehen sei, so Nagl-Docekal, sehr wohl von einem Subjekt feministischer Politik, das sich allerdings nicht positiv setzt, sondern negativ bestimmt. Wo ein patriarchaler Unterdrückungszusammenhang sich prinzipiell darin äußert, dass ihm alle Draußengehaltenen gleich sind, hat das die normative Macht des Faktischen, von dem politisch auszugehen ist, ohne dass auf eine fragwürdige geteilte Leidenserfahrung rekurriert werden müsste. Solange von Frauen die Rede ist, könnte man im Sinne von Judith Butler sagen, so lange gibt es Frauen – so lange sind dann aber politische Forderungen auch unter diesem – aufgezwungenen – Etikett zu erkämpfen. Der zweite Punkt, auf den Nagl-Docekal aufmerksam macht, ist ein philosophischer. Auch wenn Butler sich vehement dagegen wehrt: Ihre Überlegungen schreiben sich ein in eine sehr alte Diskussion, in der Natur und Kultur, Geist und Materie als graue Eminenzen die gegnerischen Parts übernehmen. An dieser Diskussion kann man nicht schlicht entlang in ein angeblich ganz Neues denken, gerade weil sie wesentliche Energien aus ihrer geschlechtlichen Symbolik bezieht. Aber nicht nur deshalb, sondern auch, weil sie sich an einem Problem abarbeitet, das – ernst genommen – die Möglichkeit, das Andere des Denkens zu denken, überhaupt erst eröffnet – und letzten Endes, wie ich meine, auch die Möglichkeit, die sexuierenden Zuweisungen zu transzendieren.
16 Vgl. dazu auch weiter hinten das Statement von Herta Nagl-Docekal. 17 Nagl-Docekal, Rezension, wie Anm. 8; dies., Geschlechterparodie als Widerstandsform? Judith Butlers Kritik an der feministischen Politik beruht auf einem Trugschluß, in: Frankfurter Rundschau, 147 (29. 6. 1993), 12.
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Ich möchte auf einen Kontext hinweisen, der in der feministischen Kultur bis auf wenige Ausnahmen missachtet geblieben ist. Es ist der Kontext der „Dialektik der Aufklärung“. Was Adorno und Horkheimer hier betreiben, ist die Befragung einer Geschlechtersymbolik auf ihren realen Kern von Herrschaft. Wenn Odysseus, Geist usurpierend und Natur nonchalant der Prostituierten Circe und der Ehefrau Penelope zuweisend, Lust und Herrschaft einkassiert – wenn auch um den Preis konsequenter Unterdrückung eigener, innerer Natur –, dann ist dies schon die Geste, mit der neuzeitliche Wissenschaft in den Schoß der Natur eindringt, um dieser – nach Bacons Diktum – ihr Geheimnis zu entreißen und sie beherrschbar zu machen. Natur als der nach außen gestülpte eigene Wunsch, der den Namen Frau bekommt und den Namen der zu beherrschenden Außenwelt. „Gender Trouble“ formuliert harte Thesen. Die Diskussion, die Butler mit ihrem Buch ausgelöst hat, muss nicht im Sand verlaufen. Natur war den Frauen von jeher ein Aufgezwungenes. Jede Entlastung von diesem zu verwaltenden Ressort musste zunächst befreiend wirken, ähnlich wie es historisch die cartesianischen Entlastungsstrategien von Poullain de la Barre und Simone de Beauvoir leisten. Aber wir haben es mit einem Koordinatensystem zu tun, in das die Geschlechtersymbolik zwar unglücklich eingeschrieben ist, das in dieser Symbolik aber nicht aufgeht. Das Andere des Denkens im Denken abzuschaffen lief allemal auf die Selbstabschaffung des Denkens hinaus. Mir scheinen, tout court, die harten Butler’schen Thesen in „Gender Trouble“ angriffswürdig, aber fruchtbar. Weniger überzeugend scheint mir der mit „Bodies That Matter“ vorliegende Versuch, die harten Thesen zu haltbaren zu machen. Besser ein konsequenter Irrtum. Judith Butler : Es ist interessant, wenn die eigene Arbeit ein „konsequenter Irrtum“ genannt wird, denn da ich von Nietzsche beeinflusst bin, sehe ich alle Arbeiten als so etwas wie „Irrtümer“ an – als interpretative Wagnisse, die weder wahr noch falsch sind, sondern dem Denken und der Reflexion neue Möglichkeiten eröffnen. Ich vermute aber, dass nicht alle solchen „Irrtümer“ folgenschwer sind, und wenn mein „Irrtum“ Konsequenzen hat, dann kann ich mich in der Tat glücklich schätzen! Ich möchte klarstellen, dass ich meine laufenden Arbeiten nicht als Teil des „radikalen Konstruktivismus“ betrachte, obschon „Das Unbehagen der Geschlechter“ sicherlich als ein Manifest einer solchen Position gelesen werden kann. Ich denke nunmehr, dass dasjenige, was wir ,Natur‘ oder besser gesagt ,Materialität‘ nennen, mit den Worten, die wir verwenden, niemals völlig erfasst wird und in einem Spannungsverhältnis zur Sprache steht, von der es getragen wird. Ich meine damit, dass es ein Fehler wäre zu behaupten, der Körper werde in einem starken Sinne von der Sprache oder von der Kultur konstituiert. Gleich-
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wohl lässt sich der Körper nicht außerhalb seiner Begriffe verstehen. Das ist ein bleibendes Paradox oder eine dilemmatische Verlegenheit für das Denken. In dem Maße, wie Frauen mit der ,Natur‘ oder mit dem Naturwüchsigen identifiziert worden sind, wurden sie von ihren reproduktiven Funktionen eingeschränkt und beschränkt. Diese Naturalisierung von Frauen ist gleichzeitig deren Idealisierung gewesen, war Anlass für einen höchst restriktiven Begriff davon, was es wesentlich bedeutet, eine Frau zu sein. So gesehen ist der Anlass ihrer Naturalisierung auch Anlass ihrer Entnaturalisierung. Die Entnaturalisierung, von der ich spreche, ist eigentlich eine ,Entnormativierung‘ – die Entnaturalisierung eines Nicht-Natürlichen. Heterosexualität und Geschlechtsidentität im Licht der Homoerotik und patriarchaler Strukturierung Ingvild Birkhan: Um einen Paradigmenwechsel zu beleuchten, der durch Butlers Schriften an Konturen gewinnt, soll zu Beginn zweifach ein Bild umrisshaft aufscheinen. Zum einen: Auf die Bahn männlicher Dominanz, die als Patriarchat stigmatisiert wurde, versuchen Frauen vehement einen Stein des Anstoßes zu bringen, der es nicht zulässt, ihren Ruf nach öffentlich gesellschaftlicher Mitbestimmung zu umgehen. Zum anderen: weibliche und männliche Homosexualität, subversiver Geschlechtertausch, Travestie, Parodie, konfliktreiche und lustvolle Verwirrszenen um die Zwei des Menschseins. Butlers bedeutsame, viel diskutierte Texte18 evozieren vor allem das zweite Bild. Wenn nun einige Schlüsselmomente ihrer Begrifflichkeit andeutungsweise aufgerufen werden, dann in der Absicht, daraufhin Fragen zu formulieren. Als eine entscheidende Prämisse hat für die Autorin Geltung, dass die diskursive Machtinstanz nicht auf ihren Verbots- oder Repressionscharakter festzulegen ist, sondern gemäß Foucault als produktive, generative Macht in den Vordergrund tritt. Von diesem Ansatz her bildet die These von der diskursiven Konstruktion der Geschlechtsidentität einen Brennpunkt. Wiederholt werden philosophisch-feministische Theorien unter die Lupe genommen und abgewiesen, sofern sie vorgängige, prädiskursive oder gar authentisch weibliche Momente ins Spiel bringen wollen. Und weit über die bisher für die geschlechtliche Differentialität kritisch analysierten sozialen Genderaspekte hinaus wird der Körper, im Besonderen der geschlechtliche Körper, als Diskurseffekt eingeführt. Diese Akzentsetzung hat Debatten ausgelöst. Die Thematisierung einer bestimmten Problematik will ich als Frage sogleich hervorheben: Ist eine solche 18 Mein Augenmerk bezüglich Judith Butler liegt hier weniger auf „Bodies That Matter“ als auf „Gender Trouble“.
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radikale Lesart auf Machbarkeit von Lebewesen hin orientiert, wie uns etwa die Möglichkeit zu gen- und reproduktionstechnischen Eingriffen heute konkret vor Augen hält? Leistet diese Körpertheorie einer auf Manipulation hindrängenden Situation der Menschheit, die durchaus bedrohliche Seiten in sich birgt, letztlich Vorschub, ohne dies bewusst zu intendieren oder explizit zu reflektieren? Im nächsten Schritt stehen anders gelagerte, Unruhe stiftende Elemente zur Erörterung an. Butler erteilt sowohl dem Identitätswunsch innerhalb der Frauenbewegung als auch im Zusammenhang damit jedem Erklärungsmuster eine Absage, das den „Feind in einer Gestalt“ zu bündeln sucht, wofür sie in „Gender Trouble“ als Zeugnis noch den Ansatz von lrigaray heranzieht. Der Rede von einem umfassenden Patriarchat soll das Gewicht entzogen sein. Unsicherheit um ein „feministisches Wir“ ist entflammt. Vielfalt von Geschlechtsidentitäten, Anerkennung von Brüchen, Destabilisierung und Zerstreuung prägen als Postulate das theoretische Konzept. Methodologisch gesehen provoziert Butler für mich zunächst einen Ort der Unbestimmtheit, der Offenheit. Doch es zeigt sich im weiteren Verlauf, dass die Autorin in dieser Geste nicht verharrt, sondern die weitertreibende Position eines tiefen konkreten Interesses einnimmt. Da ich beide Momente im feministischen Suchprozess für wichtig erachte, war es für mich spannend zu sehen, dass Butler den Standort der Unbestimmtheit und die Rede von der Vielfalt der Erklärungsmodelle auch wieder durchbricht. Sie insistiert durchaus auf einem wesentlichen Erklärungsmuster als einer bestimmten Prämisse, die sie als Ausgangspunkt für Subversionen vorgibt. Dieser Nukleus, dessen traditional umfassende Gültigkeit für sie außer Zweifel zu stehen scheint, ist eine Heterosexualität, die als ,Natur‘ proklamiert werde und als zwanghafte und hierarchische Matrix des Begehrens funktioniere. Für eine Relativierung der stereotypen binären Opposition wird weder die Perspektive des Kulturenvergleichs noch die der Historizität der sexuellen Praktiken angesprochen. Um sich zu der erwähnten binären Fixierung des geschlechtlichen Begehrens auf Distanz zu bringen, erfolgt vorerst die Hinwendung zur psychoanalytischen Theoriebildung. Butler begibt sich mit Lacan an den Schnittpunkt der symbolischen/historischen und asymbolischen/ahistorischen Linien – also an den Punkt, wo das Gesetz des Vaters die Begründung abgibt für die Subjektposition und damit gleichzeitig für das ,Paar‘ in seiner dichotomen Heterosexualität, die auf einer Subjektspaltung ruht. Resignifizierende Verfahren hätten hier einzusetzen. Eingehend wird von Butler Homosexualität thematisiert, die solche Normen antaste, den Fesseln entgegenstehe und Freiräume eröffne. In aller Kürze soll für diesen Themenkomplex nun doch die – in „Gender Trouble“ so grundlegend ausgeblendete – historische Dimension angesprochen werden. Dies geschieht nicht, um einfach zum Ausdruck zu bringen, dass öf-
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fentlich gelebte und theoretisch aufgegriffene Homosexualität keineswegs ein neues Phänomen ist, sondern es knüpft sich an die historische Bezugnahme meinerseits eine weitergehende Überlegung. Diese möchte die Frage auf den Plan rufen, ob nicht gerade männlich homosexuell strukturierte Beziehungsraster ein bedeutsames Vorspiel des Androzentrismus unserer Kultur darstellen. Zu denken wäre dabei etwa an die einflussreiche griechische Epoche mit ihren signifikanten gesellschaftlich anerkannten mann-männlichen Liebesverstrickungen. Wo diese verbannt werden zugunsten einer sublimierten Homoerotik, zeitigt dieselbe erneut Konfigurationen eines männlichen Machtkonnexes von hoher Relevanz. Sexualität wird zwar primär an die Hetero-Konstellation gebunden, aber meines Erachtens ist durch die Homoerotik ein kaum zu überschätzender Rückhalt aufgebaut, der für den männlichen Vorrang ein Fundament abgibt und innerhalb des heterosexuellen Rahmens die männliche Hierarchieposition stützt. Wenn nun in der Gegenwart gemäß „Gender Trouble“ als subversives Potenzial freiere Kombinationen des Begehrens und im Besonderen Homosexualität für beide Geschlechter zur Diskussion stehen, stellt das ohne Zweifel einen Modus der Verstörung und Grenzüberschreitung dar. Könnte die Konzentration nicht nur auf die Artikulation der dichotomen heterosexuellen Fixierung, sondern zugleich auf die kulturelle Bedeutung, die maskuliner Homosexualität und homoerotischer Kohärenz einseitig verliehen war, die Akzente des Dekonstruktionsprozesses noch einmal verschieben? Darüber hinaus bleibt mir als Problemfaktor und Frage, wie tiefgreifend die bezeichneten Formen der Irritation der Begehrensmatrix auf die verschiedensten Ebenen der Machtverteilung einwirken können. Gemeint sind Machtebenen, wo Frauen in hohem Maß immer noch ausgeschlossen sind oder ihre produktive/reproduktive Arbeit beherrscht und enteignet wird und wo in vielschichtiger Weise die Spuren der Hegemonieverhältnisse zu erschüttern wären – durchaus noch im Sinn des ersten Bildes eines Steins auf dem Weg, der dem Zugriff patriarchaler Einschreibungen entgegensteht. Judith Butler : Es stimmt, dass in meiner Arbeit die geschichtliche Dimension fehlt, und das System der Zwangsheterosexualität, in dessen Rahmen ich arbeite, verdankt sich eher den theoretischen Fiktionen der strukturalistischen Anthropologie als der komplizierten Geschichte heterosexueller und homosexueller Beziehungen. In der Tat ist es durchaus möglich zu behaupten – und viele haben dahingehend argumentiert –, dass im politischen Leben des klassischen Griechenlands homoerotische Beziehungen zwischen Männern der Unterordnung von Frauen zuarbeiteten. Meiner Ansicht nach sollte allerdings zur Kenntnis genommen werden, dass in manchen feministischen Paradigmen diese Beziehung zwischen männlicher Homosexualität und der Bejahung patriar-
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chaler Macht zu einer strukturellen Voraussetzung geworden ist. Die männliche Homosexualität hing jedoch selbst im Falle des klassischen Griechenlands nicht immer mit der Verherrlichung des ,Mannes‘ im patriarchalen Sinne zusammen. Einige Wissenschaftler, so zum Beispiel David Halperin, haben festgestellt, dass solche sexuellen Beziehungen sehr wenig mit der sozialen Geschlechtsidentität zu tun haben.19 Es beunruhigt mich auch, dass feministische Bemühungen, die patriarchale Macht mit männlicher Homosexualität zu verknüpfen, durchaus eine gewisse Homosexuellenfeindlichkeit beinhalten können. Während es eindeutig so ist, dass mann-männliche homosexuelle Beziehungen im Dienst männlicher Vorherrschaft gestanden haben, ist ebenfalls klar, dass sie gleichzeitig gegen jene Vorherrschaft arbeiten, gerade weil sie das heterosexuelle Privileg opfern. Außerdem meine ich, dass es in den heutigen schwul-männlichen kulturellen Praktiken, von denen viele stark vom Feminismus beeinflusst sind, ernsthafte Anstrengungen gibt, eben diese Vorstellung von Männlichkeit umzuarbeiten. Das Beharren, patriarchale Beziehungen an die erste Stelle zu setzen, sie als die wichtigste Machtstruktur einzustufen, neigt meines Erachtens dazu, ,Männer‘ und ,Frauen‘ als grundlegende soziale Gruppierungen zu verdinglichen. In diesem Sinn hat die feministische Analyse die Binarität der Geschlechter unwissentlich wieder eingeschrieben, und sie hat die subversive Möglichkeit verloren, darüber nachzudenken, wie diese Binarität durchaus einer bedeutenden Verschiebung unterzogen werden könnte. Gibt es einen einheitlichen Diskurs der Heterosexualität? Überlegungen zu Epistemen von Judith Butler Edith Saurer : Ich spreche hier als Historikerin, die Butler gelesen und gehört hat. Ich möchte zunächst auf ihr Konzept eines Diskurses der Zwangsheterosexualität zu sprechen kommen, der für ihre Auseinandersetzung mit sex, Geschlechtsidentität, zentral ist. Dieser Diskurs stellt, so ihre Darlegungen, einen hermetisch geschlossenen Machtblock dar, der Ausschlüsse produziert. Wenn ich an der Produktion von Ausschlüssen auch gar nicht zweifeln kann, so scheint es mir doch wichtig, auf die differenzierten Instrumentarien uneinheitlicher Machtdiskurse zu verweisen. So kann ich einen einheitlichen Diskurs der Heterosexualität nicht feststellen. Das zeigt das Strafrecht. Das Strafgesetz Maria Theresias zum Beispiel, die Constitutio Criminalis Theresiana von 1768, hat heterosexuellen Geschlechtsverkehr mit „Andersgläubigen“ (d. h. Nichtkatholik/inn/en) mit Auspeitschung und Landesverweisung bestraft. Über Ehebruch wurde ebenso wie über Homosexualität die Todesstrafe verhängt. Vorehelicher 19 Vgl. David Halperin, One Hundred Years of Homosexuality, New York 1990.
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Geschlechtsverkehr und Konkubinat konnten mit Landesverweisung bestraft werden. Das 20. Jahrhundert hat Verbote des Geschlechtsverkehrs mit Andersgläubigen beziehungsweise Mitgliedern einer anderen ,Rasse‘ noch weit radikaler durchzusetzen gewusst. Das waren alles nicht nur strafrechtliche Bestimmungen, sondern das stellte auch gesellschaftliche Praxis dar, die Sozialverhalten und Gefühlsleben umfasste und umfasst, auch wenn es heute nicht so sehr ins Auge fällt. Der normativierende Diskurs der Heterosexualität, von dem Judith Butler spricht, ist daher kein einheitlicher Diskurs. Nicht Heterosexualität ist die Norm, sondern diese in einer spezifischen Realisierung. „Abjection“, Verworfenheit, die Butler als Produkt der Zwangsheterosexualität und als Konstituens der Homosexualität sieht, ist demnach auch für die Zwangsheterosexualität selbst von Geltung. Diese produziert genügend verworfene Heterosexuelle. Es gibt eine Form des idealen, legitimen heterosexuellen Paares. Und neben dieser gibt es die verbotenen, verfolgten und verworfenen Heterosexuellen, deren Geschlechtsidentität maßgeblich von diesem Umstand geprägt ist. Der Diskurs der Macht ist nicht nur uneinheitlich, er ist auch nicht nur ein Diskurs der Heterosexualität. Das Christentum, in seiner institutionalisierten Form Macht schlechthin, hat lange genug den Verzicht auf Sexualität als höchste Lebensform hochgehalten. Zölibat und Virginität galten als jeder heterosexuellen Existenz weit überlegen. Diese Form der Askese produzierte eine Identität, die zumindest vielfältig und fließend gewesen ist, wenn wir zum Beispiel an die Jungfrau von Orl8ans, den Ritter, denken. Virginität transformierte Frauen in einen Mann, während umgekehrt der zölibatäre und Askese übende Mann nicht als solcher wahrgenommen wurde. Michelet zum Beispiel war der Auffassung, der Priester sei kein Mann. Der Machtdiskurs ist demnach von vielfältigen Interessen geprägt und kein kohärenter Diskurs der Zwangsheterosexualität. Dass wir heute den Eindruck haben, er sei es, ist wesentlich auf die Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Sexualwissenschaften zurückzuführen, die mit einer Sexualreform auch eine wissenschaftlich begründete Normierung der Sexualität durchsetzen wollten. In Butlers Analyse der Herstellung von Geschlecht (sex) hebt sie das Verbot als Produzent der Identität hervor : „[…] an identification always takes place in relation to […] a prohibition“, schreibt sie, auch indem sie die Wiederholung hegemonialer Normen als ihren Konstituens bestimmt und unterstreicht, dass Identifikation kein Ereignis ist, sondern „an identification is the phantasmatic staging of the event“.20 In diesem dichotomischen Modell von hegemonialen Normen einerseits, der Wiederholung und Inszenierung dieser scheinbar unverändert übernommenen Normen andererseits, wird die Frage der Vermittlung nicht aufgeworfen. Der zentrale Begriff der Vermittlung ist Erfahrung. Er erfasst 20 Butler, Bodies That Matter, wie Anm. 3, 105.
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die Historizität, das Prozesshafte und die Unebenheiten und Brüchigkeiten bei der Aneignung von Normen. Es handelt sich um Erfahrung mit dem eigenen Körper, mit der Positionierung des eigenen Körpers in einem kulturellen und sozialen Kontext. Erfahrung bindet Normen in die Lebenspraxis, verändert und adaptiert sie. Erfahrung als ein Vermittlungsbegriff zwischen hegemonialen Normen, Verboten und der in diesem Machtkontext sich bildenden und agierenden Identitäten macht auch deutlich, dass kulturelle Hervorbringungen ohne Vermittlung nicht existieren können. Erfahrung ist aber auch der Garant der Veränderung des Machtdiskurses. Kulturelle, soziale und individuelle Erfahrungen stellen ein tiefgreifendes Moment geschichtlicher Bewegung und Veränderung dar. Das lässt mich zuletzt noch die Frage an Judith Butler stellen, warum die Historizität für sie keine Analysekategorie darstellt. Ist das eine Option gegen die Geschichte? Judith Butler : Zweifellos ist Macht vielfältig, und es wäre gewiss ein Fehler, würde man sich auf ein einziges oder monolithisches System der Zwangsheterosexualität beziehen. Dass ich eine solche Bezugnahme mache, sollte also nicht als ein deskriptiver Anspruch aufgefasst werden. Ich beziehe mich nicht auf ein System, das existiert, sondern auf einen imaginären Bereich, der einen symbolischen Charakter angenommen hat. Das System stellt sich hin, als wäre es allumfassend, aber das ist es nie; das System gibt sich den Anschein, als wäre es ein System, aber es ist kein System. Die Inkommensurabilität dieses Systems mit den Lebensvollzügen und den Körpern, die versuchen, in seinen Bestimmungen zu leben, ist ein Zeichen dafür, dass das System keineswegs systematisch ist: Es determiniert nicht vollkommen die Lebensvollzüge, die es zu regulieren trachtet. Eine solche Kluft, ein solches Fehlschlagen ist die Bedingung für Wiederholung, und Wiederholung birgt das Risiko des Unsystematischen – ein dauerndes Risiko. Ich zweifle nicht daran, dass die geschichtlichen Dimensionen von Heterosexualität und Homosexualität vielschichtig und vielseitig sind, dass sie ganz unterschiedliche institutionelle Formen annehmen, dass die Diskurse in sich nicht stimmig sind und dass sie verschiedenen Interessen dienen. Was ich aber nachzuzeichnen versuche, ist die imaginäre Wirkungsweise einer Reihe von Normen, so wie sie in den Sexualwissenschaften und in der zeitgenössischen Theorie codiert werden. Umgekehrt halte ich es für richtig, darauf hinzuweisen, dass eine Schwäche meines Ansatzes darin besteht, dass ich die Komplexität der historischen Verfasstheit von Heterosexualität und Homosexualität nicht berücksichtige. Ich lege es jedoch nicht darauf an zu wissen, „was sie sind“, sondern wie ihre normative Kraft zustande gekommen ist. Ich wüsste gern, was für eine historische Analyse uns bei dieser Frage weiterhelfen kann.
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Warum nicht ein anderes Imaginäres? Birgit Wagner : Ich möchte an jenen Punkt des Vortrags und der Diskussion anknüpfen, der Butlers Kritik an Lacan betrifft, die Kritik, die Butler über phantasmatische Identifikation formuliert hat. Edith Saurer hat an diesem Punkt eingesetzt und den Begriff Erfahrung eingeklagt, Erfahrung als Vermittlung zwischen Norm und Lebensvollzug, und Cornelia Klinger hat dafür plädiert, die Kritik an Lacan zu radikalisieren, indem durch einen programmatisch respektlosen Umgang mit seinem Text sein symbolisches Kapital als Meisterdenker angezapft, angebraucht werde. Ich möchte ein anderes Argument für eine solche Radikalisierung der Kritik vorschlagen. Vorausschicken will ich, dass mich Butlers dekonstruktive Lektüre, das präzise und zugleich freie Entlangdenken an dem Prä-Text, sehr überzeugen konnte. Butler kritisiert an Lacan die Setzung einer Prämisse, die er, wenn ich recht sehe, nicht philosophisch, sondern durch den Rekurs auf klinische Erfahrung legitimiert, und die das Gesetz des Vaters als gleichsam ewiges festschreibt. Durch dieses Gesetz des Vaters wird das Spiel der Identifikationen auf zwei erlaubte und zwei spiegelbildlich verbotene Positionen festgelegt, und zugleich werden die verworfenen Formen der Homosexualität als das Andere der Heterosexualität konstruiert. Lacan tut dies, indem er unter anderem die Unterscheidung zwischen dem Symbolischen und dem Imaginären einführt und dem Individuum, aber auch dem historischen Wandel, die Möglichkeit der Veränderung nur auf der transitorischen Ebene des Imaginären eröffnet, über der sich der strukturelle Zwang des Symbolischen wölbt. Ich frage nun, ob die feministische Theorie nicht daran interessiert sein sollte, auf andere, von vornherein als historisierbar gedachte Konzeptionen des Imaginären und Symbolischen zu rekurrieren. Solche Konzeptionen bietet zum Beispiel Cornelius Castoriadis in „Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie“,21 wo er das gesellschaftliche Imaginäre einerseits als Quelle der Entfremdung und andererseits als Wurzel alles Neuen einführt und auch die Ebene des Symbolischen als konventionelle, das heißt veränderbare ansetzt. Vergleichbare Konzeptionen bietet auf vielfältige Weise eine andere Disziplin, nämlich die Mentalitätengeschichte, vor allem unter dem Stichwort einer „Geschichte des Imaginären“. Meine Frage ist nun folgende: Wenn man die stillschweigende Unterstützung der Zwangsheterosexualität, die Lacans Theorie der Identifikation voraussetzt, aufbrechen will, wenn man ein freies Spiel von Identifikationen und Begehren nicht nur zulassen, sondern im gesellschaftlichen Imaginären neu verankern 21 Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt a. M. 1984.
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will, dann kann man es von innen tun, durch die Praxis eines dekonstruierenden close reading, wie es Butler vorgeführt hat. Warum sollte man es aber nicht von außen versuchen, indem man darauf hinweist, dass Lacan in einem von ihm als ahistorisch konstruierten Raum der Anthropologie operiert und durch diese Setzung den eigenen Diskurs als letztlich unüberholbaren Meisterdiskurs institutionalisieren will? Judith Butler : Vielleicht bleibe ich zu dicht am Text von Lacan mit meinem Versuch, seine Grundannahme zu kritisieren. Ich möchte jedoch darauf verweisen, dass es sich hierbei um eine ironische Strategie handelt, um einen Versuch, in seine Sprache einzudringen, sie nachzuahmen, sie sich anzueignen und damit aufzudecken, was in dieser Sprache mit ihren Begriffen nicht ausgesprochen werden kann. Ich glaube, das versteht lrigaray unter einer kritischen Mimesis. So schreibt sie: „Mimesis zu spielen bedeutet also für eine Frau den Versuch, den Ort ihrer Ausbeutung durch den Diskurs wiederzufinden, ohne sich darauf einfach reduzieren zu lassen. Es bedeutet – was die Seite des ,Sensiblen‘, der ,Materie‘ angeht –, sich wieder den ,Ideen‘, insbesondere der Idee von ihr, zu unterwerfen, so wie sie in/von einer ,männlichen‘ Logik ausgearbeitet wurden; aber, um durch einen Effekt spielerischer Wiederholung das ,erscheinen‘ zu lassen, was verborgen bleiben musste: die Verschüttung einer möglichen Operation des Weiblichen in der Sprache.“22
In der Mimesis steckt jedoch stets ein Risiko; das Risiko nämlich, von dem Diskurs, den man mimetisch nachstellt, wieder angeeignet zu werden und den „Meister-Status“ des Textes erneut aufzuwerten oder wieder zu festigen. Ich denke, lrigaray bietet uns eine andere Sicht des Imaginären und ich habe versucht, ihr so weit zu folgen, wie mir das möglich ist. Meiner Ansicht nach wird das Imaginäre nicht vom Symbolischen begrenzt, vielmehr ist das Symbolische nichts anderes als ein legitimiertes Imaginäres. Die theoretische Unterscheidung zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen hindert uns daran zu verstehen, wie bestimmte vorherrschende lmaginarien den Status des Symbolischen erwerben. Wie ist feministische Politik zu denken? Herta Nagl-Docekal: Judith Butler hat dargelegt, dass jeglicher Versuch, ,die Frau‘ und ,den Mann‘ in ihrer Geschlechtsidentität zu definieren, unzulässig ist. Ihre Argumentation ist überzeugend: Essentialistische Festschreibungen bedingen zum einen eine Unterdrückung des Heterogenen, zum anderen einen 22 Luce Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist, Berlin 1979, 78.
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Zwang zur Heterosexualität. Es erhebt sich nun die Frage, welche Konsequenzen sich für eine Theorie feministischer Politik ergeben. In Hinblick auf diese Frage sehe ich in den Überlegungen Judith Butlers einige Unschärfen. 1. Butler weist das „feministische Wir“ mit der Begründung zurück, dass es stets von der Annahme einer gemeinsamen weiblichen Identität ausgehe. Mir scheint dieser Einwand nicht zwingend. Zwar war feministisches Engagement in der Tat häufig eine auf „fundamentalistische Argumentation“ gegründete „Identitätspolitik“, dennoch ist im Grundsätzlichen festzuhalten: Das Problem einer Nivellierung von Differenzen zwischen Frauen kennzeichnet primär den patriarchalen Gestus, der Frauen unter der Perspektive des Geschlechts – und damit unterschiedslos – wahrnimmt und behandelt. Die eigentliche Pointe feministischer Politik liegt demnach darin, die zwangsweise Homogenisierung, die Frauen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit widerfährt, aufzubrechen. Das bedeutet: Feministische Politik ist durchaus mit einer konsequenten Essentialismuskritik vereinbar.23 2. Wenn sie Geschlechterparodie als subversiven Akt empfiehlt, hat Butler die Zielsetzung vor Augen, dem Begriff Frau „freies Spiel“ zu geben, ihn in einen „Schauplatz ständiger Offenheit und Umdeutbarkeit“ zu verwandeln. Unter diesem Gesichtspunkt fordert sie „eine dem demokratischen Protest […] verpflichtete Gesellschaftstheorie“. Dieses Anliegen ist einleuchtend. Doch bieten Butlers Überlegungen die theoretischen Mittel, um es einzulösen? Butler weist, unter Berufung auf postmodernes Denken, jede Form einer normativen Begründung von Handeln zurück.24 Damit gerät sie jedoch in einen Widerspruch. Indem sie für Demokratie plädiert, setzt sie indirekt sehr wohl eine Norm voraus, und zwar das Ideal, dass niemand aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ,Rasse‘, Klasse, ethnischen oder religiösen Gruppierung oder wegen seines Geschlechts ausgeschlossen werden darf. Das „freie Spiel“, das ihr vorschwebt, beruht auf dem Konzept einer gleichen Entfaltungschance für alle. Anders gesagt: Feministische Anliegen lassen sich nicht normfrei formulieren. 3. Wie sind subversive Akte möglich? Butler schließt sich zunächst der postmodernen Subjektkritik an und geht davon aus, dass das ,Ich‘ durch den Diskurs konstituiert ist. Das ,Ich‘ ist demzufolge ein Ort, ein Durchgangspunkt, an dem sich das „replay“ des Diskurses ereignet. Nun erfolgt aber in den eingespielten Diskursen gerade kein Hinterfragen des binären Codes. Wodurch kann ein Durchbrechen desselben bewirkt werden? Butler spricht auch davon, dass ,ich‘ die Möglichkeit habe, vorgegebene Bestimmungen subversiv zu zi23 Vgl. Nagl-Docekal, Rezension, wie Anm. 8. 24 Judith Butler, Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der „Postmoderne“, in: Seyla Benhabib, Judith Butler, Drucilla Cornell u. Nancy Fraser, Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1993, 31–58, 39.
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tieren beziehungsweise umzudeuten. Doch damit gerät sie in eine Ambivalenz: Die Fähigkeit der Einzelnen, Widerstand zu leisten, wird zugleich geleugnet und vorausgesetzt.25 Judith Butler : Es ist wichtig, danach zu fragen, ob es zutrifft, dass sich die männliche Hegemonie grundlegend in der Form einer „Homogenisierung“ des Menschen vollzieht, ob das Männliche die nicht gekennzeichnete Norm ist, mit der das Universale gedacht wird, und ob vom Weiblichen angenommen wird, es werde von jener insgeheim männlichen Universalität mitabgedeckt. Ist denn nicht wenigstens ebenso sehr wahr, dass die männliche Hegemonie funktioniert, indem sie nachdrücklich auf sexueller Differenz, auf den grundverschiedenen Interessen und Fähigkeiten von Frauen und Männern beharrt? Werden Feministinnen, sobald sie selbst diesen zweiten Standpunkt einnehmen, den Standpunkt, der einen grundlegenden und nicht aufhebbaren Unterschied verteidigt, deshalb mit geringerer Wahrscheinlichkeit den Zielen der männlichen Hegemonie assimiliert, als diejenigen, die weiterhin an einer Artikulation des Universellen festhalten? In meinem Verständnis gibt es keine reine Opposition zur männlichen Hegemonie; wir sind gezwungen, zu verschiedenen Momenten sowohl die Position des Universellen als auch die des Weiblichen und zudem vielleicht noch die des Männlichen einzunehmen. Nebenbei gesagt, ist es gar nicht möglich, sich gegen jede Norm zu stellen. Und ich meine, man beginge einen Fehler, wenn man unterstellt, dass die Postmoderne – was immer das heißen mag – gegen jedwede Norm ist, dass Butler eine Postmoderne ist und dass sich Butler gegen jede Norm ausspricht. Alle drei Schritte dieses Syllogismus sind falsch. Ich bin keine postmoderne Theoretikerin, und ich bin der Ansicht, dass man die Normen besetzen muss, von denen man eingeschränkt wird, und dass man ihnen zugunsten konkurrierender Normen eine andere Richtung geben muss. Normen gegeneinander antreten zu lassen, ist deshalb entscheidend für die Vorstellung von demokratischer Auseinandersetzung, die ich artikulieren möchte. Demokratie stellt für mich ein bleibendes normatives Ziel dar, und es ist ein gutes Ziel, eines, das ich verteidige. Aber seien wir uns nicht so sicher, dass wir wissen, was deren Bestimmungen sind oder wann Demokratie erreicht ist. Denn wenn wir eine theoretisch vorgefasste Meinung von Demokratie mitbringen, die wir nicht der demokratischen Auseinandersetzung aussetzen wollen, dann ist unsere theoretisch vorgefasste Meinung entschieden undemokratisch. Auseinandersetzung ist die Norm, jedoch nicht Auseinandersetzung um der Auseinandersetzung willen, sondern ganz im Gegenteil zu dem Zweck, die Grenzen dessen, was als ein Mensch, als Liebe, als Trauer, als Gemeinschaft gilt, zu erweitern. 25 Butler, Kontingente Grundlagen, wie Anm. 24.
Ruth Wodak im Gespräch mit Edith Saurer (2004)*
Sprache, Geschlecht, Vorurteile und die Kritische Diskursforschung**
Die Sprachwisssenschaftlerin Ruth Wodak zählt zu den MitbegründerInnen der Critical Discourse Studies. Ihre Analysen zu Rassismus, Antisemitismus, Frauendiskriminierung, Identitätspolitik und Fremdenfeindlichkeit insbesondere auch im Kontext politischer Kommunikation machten sie zu einer der exponiertesten Vertreterin dieses Ansatzes.1
* Edith Saurer (1942–2011) gilt als Doyenne der Frauen- und Geschlechtergeschichte in Österreich. Sie hat die Zeitschrift „L’Homme. Z. F. G.“ 1990 initiiert und als Herausgeberin über viele Jahre maßgeblich geprägt. Seit 1992 war sie Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Wien, wo heute noch bestehende Schwerpunkte auf ihr Engagement zurückgehen. Ihre Forschungsfelder waren v. a. Sozialgeschichte, Historische Anthropologie inklusive der Geschichte materieller Kultur sowie Frauen- und Geschlechtergeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts. ** Zuerst veröffentlicht in L’Homme. Z. F. G., 15, 2 (2004): Auf der Flucht, hg. von Erna Appelt u. Waltraud Heindl, 279–290. Erscheint hier in einer gekürzten Version, mit erweiterter und aktualisierter Einleitung und geringfügiger sprachlicher Bearbeitung. 1 Veröffentlichungen bis zum Zeitpunkt des Interviews u. a.: Ruth Wodak, Peter Nowak, Johanna Pelikan, Helmut Gruber, Rudolf de Cillia u. Richard Mitten, „Wir sind alle unschuldige Täter“. Diskurshistorische Studien zum Nachkriegsantisemitismus, Frankfurt a. M. 1990; Ruth Wodak u. Michael Meyer (Hg.), Methods of Critical Discourse Analysis, London 2001; Martin Reisigl u. Ruth Wodak, Discourse and Discrimination. Rhetorics of racism and antisemitism, London 2001; Hannes Heer, Walter Manoschek, Alexander Pollak u. Ruth Wodak, Wie Geschichte gemacht wird. Zur Konstruktion von Erinnerungen an Wehrmacht und Zweiten Weltkrieg, Wien 2003. In den letzten Jahren u. a. publiziert: Ruth Wodak, Integration and culture: From ,communicative competence‘ to ,competence in plurality‘, in: Rainer Bauböck u. Milena Tripkovic (Hg.), The Integration of Migrants and Refugees. An EUI Forum on Migration, Citizenship and Demography, Firenze 2017, 116–137; dies., The Politics of Fear. What Right-Wing Populist Discourse Mean, London 2015; dies., Die Normalisierung von Ausgrenzung, in: Thomas Köhler u. Christian Mertens (Hg.), Manifest. Zu Österreichs Dritter Republik, Wien 2017, 84–193; dies. u. Bernhard Forchtner (Hg.), The Handbook of Language and Politics, Abingdon/New York 2017; dies., Discourses about Nationalism, in: John Flowerdew u. John E. Richardson (Hg.), The Routledge Handbook of Critical Discourse Studies, Abingdon 2018, 403–418; dies., The Radical Right and Antisemitism, in: Jens Rydgren (Hg.), The Oxford Handbook of the Radical Right, New York 2018, 61–85; dies., „Driving on the right“: the
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1991 wurde Ruth Wodak als erste Ordinaria für Angewandte Sprachwissenschaften in Österreich an die Universität Wien berufen und lehrte dann zudem als Gastprofessorin in den USA, in Finnland, England und Schweden. In einer Reihe sprachwissenschaftlicher Zeitschriften wie „Discourse and Society“, „Language and Politics“, „Critical Discourse Studies“ war und ist sie als Mitherausgeberin engagiert. 1996 erhielt die Linguistin mit dem Ludwig-Wittgenstein-Preis die höchstdotierte österreichische Auszeichnung für Spitzenwissenschaft. In der Folge gründete sie ein Wittgenstein-Forschungszentrum für „Diskurs, Politik, Identität“, das sie als Direktorin leitete und in dem sie sich als Forschungsprofessorin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), gemeinsam mit einem interdisziplinären Team, ganz auf diskursanalytische Studien konzentrieren konnte. Nach dem Auslaufen des WittgensteinPreises und einem Konflikt mit der ÖAW – die Gründe dafür werden im Gespräch auch thematisiert – nahm Ruth Wodak 2004 einen Ruf an die Lancaster University in Großbritannien an. Dort konnte sie am Department of Linguistics and English Language ihre Forschungen weiterführen und war bis zu ihrer Emeritierung im Jahr 2014 als Distinguished Professor of Discourse Studies tätig. Ruth Wodaks ausgesprochen rege Publikationstätigkeit, mit der sie immer wieder auch antidemokratische Tendenzen oder rechtspopulistische und rechtsextreme (Sprach-)Politiken analysiert, ist sowohl in Österreich als auch international vielfach ausgezeichnet worden.2 Im folgenden Gespräch berichtet sie von ihren vielfältigen wissenschaftlichen und persönlichen Erfahrungen, auch von jenen als „Feministin der ersten Stunde“. Edith Saurer : Du bist Soziolinguistin, angewandte Sprachwissenschaftlerin, und setzt Dich mit (kritischer) Diskursanalyse auseinander. Und Du beschäftigst Dich mit Fragen und Problemen, die für die Geschichtswissenschaft von größter Aktualität sind, wie dies insbesondere für den methodischen Zugang der kritischen Diskursanalyse zutrifft, und mit Themen, die von Frauendiskriminierung bis hin zur europäischen Identität reichen. Daher zunächst zwei sehr allgemeine Fragen: Was bedeutet für Deine Forschungen die Kategorie Geschlecht und noch allgemeiner, was bedeutet für Dich Geschichte?
Austrian case, in: CARRYearbook (2018/19), 195–202; Pieter Bevelander u. dies. (Hg.), Europe at the Crossroads: Confronting Populist, Nationalist, and Global Challenges, Lund 2019. 2 Ruth Wodaks Buch „Politik mit der Angst: Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse“ (Wien 2016) wurde zum österreichischen Wissenschaftsbuch des Jahres 2017 im Bereich Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften gewählt. 2018 wurde die Sprachwissenschaftlerin mit dem vom österreichischen Frauenministerium vergebenen Lebenswerk-Preis ausgezeichnet. Sie ist Mitglied der Academia Europaea und der British Academy of Social Sciences.
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Ruth Wodak: Ich möchte unterscheiden zwischen einerseits den Erfahrungen, als Frau an der Universität Wien und auch innerhalb der international community zu forschen, und andererseits als Forscherin über Gender und Geschlechterforschung zu schreiben. Das sind zwei unterschiedliche Dimensionen, die zusammenhängen. Auf jeden Fall galt das für mich, als ich 1975 an der Universität Wien als Assistentin zu arbeiten begonnen habe. Damals stieg ich in die feministische Bewegung und in eine Gruppe feministischer Forscherinnen ein, die wir gegründet haben, weil wir alle sehr vereinzelt waren und uns auch an der Universität an den Rand gedrängt gefühlt haben. Das war ein wichtiger Zeitpunkt, lebensgeschichtlich gesehen, der mich und alle anderen Frauen in dieser Gruppe befähigt hat, uns mit den Männern an den jeweiligen Instituten gleichwertig zu fühlen – und uns gestärkt hat. Wenn man zurückschaut, ist aus allen diesen Frauen etwas Tolles geworden. Es haben sich alle habilitiert, und je nachdem, was sie machen wollten, haben sie sich gut durchgesetzt. Gleichzeitig ist ungefähr um diese Zeit herum Geschlecht zu einer wichtigen Kategorie in der sozialwissenschaftlichen Forschung geworden, daher auch in der Soziolinguistik. Geschlecht wurde als durchgängige Kategorie, die jede Forschung mitbestimmt, anerkannt. Dies führte zur feministischen Linguistik. Hat diese Kategorie eine große Bedeutung im Kontext der Sprachwissenschaft? Ja, sie wird unterrichtet und es wird geforscht. Es gibt auch praktische Anwendungen, beispielsweise in Richtlinien zur geschlechtergerechten Sprache.3 Meist handelt es sich allerdings um theoretische Forschung, wenn zum Beispiel DissertantInnen von mir über die Repräsentation von Frauen und Gewalt in den Medien schreiben. Den Begriff „Angewandte Sprachwissenschaft“ selbst halte ich insgesamt nicht für unbedingt sinnvoll. Es wäre viel sinnvoller, von „interdisziplinärer Linguistik“ zu sprechen oder von „text-orientierter Linguistik“, aber ersterer ist ein Name, der sich konventionell etabliert hat. Deine Habilitationsschrift hat sich mit therapeutischer Kommunikation beschäftigt. Welche Bedeutung kommt in ihr Gender zu? Meine Habilitationsschrift war über therapeutische Kommunikation in einer therapeutischen Gruppe.4 Damals war für mich Geschlecht schon eine ganz 3 Vgl. dazu die diesbezüglichen Publikationen von Ruth Wodak selbst: Richtlinien zur Vermeidung sexistischen Sprachgebrauchs, Wien 1987 (mit Ursula Doleschal, Gert Feistritzer u. Sylvia Moosmüller); dies., Kreatives Formulieren. Richtlinien zur Vermeidung sexistischen Sprachgebrauchs, Wien 1997 (mit Maria Kargl u. Karin Wetschanow). 4 Ruth Wodak, Das Wort in der Gruppe. Linguistische Studien zur therapeutischen Kommunikation, Wien 1981; dies., Language Behavior in Therapy Groups, Los Angeles 1986.
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wesentliche Kategorie. Ich habe von 1977 bis 1979 im Kriseninterventionszentrum in Wien gruppentherapeutische Gespräche auf Band aufgenommen, Interviews gemacht und war teilnehmende Beobachterin. Dabei habe ich eruiert, dass sowohl Geschlecht als auch soziale Schicht ganz wesentliche Kategorien im Sprachverhalten der PatientInnen und ÄrztInnen waren. Natürlich auch die jeweils individuelle Biografie. Frauen haben ganz anders über ihre Probleme gesprochen als Männer, und Mittelschichtfrauen wiederum ganz anders als Frauen aus der Unterschicht. Nach der Habilitationsschrift habe ich über die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern geforscht und das Buch „Hilflose Nähe“ geschrieben.5 Dies bezeichnet metaphorisch die schwierige Beziehung zwischen Müttern und Töchtern. Es war mir damals ein Anliegen, notwendige Differenzierungen in der Geschlechterforschung anzureißen: nämlich nicht immer Frauen und Männer als homogene Gruppen anzunehmen – in der feministischen Linguistik kamen solche Generalisierungen ständig vor. Mir ging es also darum zu prüfen, ob Mütter-Töchter-Beziehungen anders sind als Mütter-Söhne-, Väter-Töchter-, Väter-Söhne-Beziehungen. Es zeigte sich in dieser Studie, dass sich die Beziehung zu den Kindern je nach Zufriedenheit der Mütter mit ihrem eigenen Leben ganz unterschiedlich und typisch gestaltet. Du hast vorhin von den Unterschieden zwischen der Sprache der Männer und der Frauen in der therapeutischen Gruppe gesprochen. In der Frauengeschichte der 1970er- und 1980er-Jahre hatte die Diskussion um die Frauensprache eine große Bedeutung, während gegenwärtig wenig dazu geforscht wird. Wie ist der Forschungsstand in der Linguistik? Das ist immer noch ein wesentliches Gebiet der Linguistik. Zunächst wurden sehr generalisierende Behauptungen aufgestellt: etwa solche, dass Frauen schweigen und Männer sprechen; dass Frauen nicht unterbrechen, Männer schon; dass Männer die Themen setzen, Frauen nicht. Das waren vor allem dichotomisierende Behauptungen. Aus heutiger Sicht, meine ich, waren es wichtige Untersuchungen, weil sie ein Paradigma eröffnet und ein Bewusstsein dafür geschaffen haben, wie Frauen sich in Gesprächen besser darstellen können, hörbar und sichtbar werden. Diese Forschung war damals jedoch noch viel zu undifferenziert. Es gibt natürlich auch schüchterne Männer und dominante Frauen. Es unterbrechen auch Frauen, es kommt eben auf die Rolle an, die man jeweils im Gespräch hat. Wir haben viele TV-Sendungen, „Club 2“-Sendungen analysiert, wo es wichtig war, ob die Frau als Expertin oder als Betroffene ein5 Ruth Wodak, Hilflose Nähe? – Mütter und Töchter erzählen, Wien 1984; dies. u. Muriel Schulz, The Language of Love and Guilt. Mother-Daughter-Relationships from a Cross-Cultural Perspective, Amsterdam 1986.
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geladen ist oder ob sie moderiert. Und je nach Rolle haben Frauen ein anderes Gesprächsverhalten gezeigt. Dennoch gab und gibt es immer Unterschiede wie im Ansprechen männlicher oder weiblicher ExpertInnen; oder, wie männliche oder weibliche PolitikerInnen behandelt werden. Insofern ist dieses Thema noch immer hochaktuell. Bestimmte Phänomene wurden aber in der Forschung sehr vernachlässigt, etwa die Frage der Konkurrenz zwischen Frauen. Langsam nimmt sich die Forschung jetzt dieser Themen an. Interkulturelle Vergleiche werden ebenfalls immer wichtiger. Ich hatte eine Dissertantin aus Kenia, die über Managerinnen in Kenia geschrieben hat, darüber, wie sich in einer ganz traditionellen Gesellschaft Frauen langsam durchsetzen, wie das Gesprächsverhalten dort bei Meetings verläuft. Das sind wichtige Themen, die Einblick geben in die situierte und kontext-gebundene Organisation und Hierarchie der Geschlechter. Diese Probleme geschlechtsspezifischen Verhaltens und Sprechens, die in der Linguistik offenkundig sehr differenziert diskutiert werden, werden in den Gender Studies seit geraumer Zeit unter dem Stichwort „Essentialismus“ abgehandelt. „Am I That Name? Feminism and the Category of ,Women‘ in History“ (1988) hieß ein einflussreiches Buch von Denise Riley, in dem sie die Möglichkeiten des Frau-Seins in Frage stellte. Die Vorstellung von gemeinsamen Bedürfnissen und Interessen zerbröckelt. Ich denke, dass hier der soziale und politische Kontext ausgeklammert wird, der diese erst herstellt. Gibt es diese Diskussionen und den Kampf gegen den „Essentialismus“ auch in der feministischen Linguistik? In der feministischen Linguistik ist das schon seit einigen Jahren aufgegriffen worden. Judith Butler spielt in dieser Debatte mit ihrer Theorie zur Konstruktion/Performativität des Geschlechts eine große Rolle. Wobei Diskurs immer nur eine Ebene ist und die materielle Realität eine andere. Zwischen diesen zwei Dimensionen besteht eine wechselseitige Beziehung, weil Sprache auch Bewusstsein und Wirklichkeiten, die man wahrnimmt, schafft. Was nicht kommuniziert wird, ist zwar vielleicht gedacht, aber nicht in der Öffentlichkeit vorhanden. Andererseits kann man nicht übersehen, dass es manchmal auf das biologische Geschlecht ankommt, zum Beispiel, wenn Frauen für denselben Job weniger bezahlt bekommen als Männer. Du hast vorhin gesagt, Dir wäre es lieber, man würde die angewandte Sprachwissenschaft „interdisziplinäre Linguistik“ nennen, wie sieht es demnach aus mit Deinen Interessen an anderen Disziplinen, wobei mich vor allem jene an der Geschichtswissenschaft interessieren? Erst jüngst habe ich ein Buch von Dir in der
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Hand gehalten mit dem Titel „Wie Geschichte gemacht wird“.6 Was bedeutet für Dich Geschichte? Das ist ein riesiger Themenbereich, sowohl lebensgeschichtlich wie auch wissenschaftlich. Ich selbst kann Menschen und Gesellschaft nur als historisch begreifen, auch jeder einzelne Text ist letztlich historisch verankert. In diesem Zusammenhang ist der Begriff „Intertextualität“ zentral, der von französischen Strukturalisten eingebracht wurde. Es gibt also keine isoliert zu denkenden gesellschaftlichen Phänomene. Sie sind immer verwoben mit vorhergehenden und gleichzeitig stattfindenden und dann auch zukünftigen Phänomenen. Insofern ist für mich mein Leben nie ahistorisch gewesen, sicherlich sehr geprägt durch die Biografie meiner Eltern und meiner Familie im Exil, durch die Judenverfolgung etc. Andererseits aber auch wissenschaftlich. Die eigenen Forschungen dazu bewegen sich vor allem im Bereich „Sprache und Politik“, wobei natürlich „Mütter und Töchter“ als Studie über Generationen auch eine historische Dimension anreißen – von gesellschaftlichen Rollenbildern, die sich verändern. Seit ungefähr zwanzig Jahren forsche ich viel über Sprache und Politik, insbesondere über Österreich im Vergleich mit Deutschland und mit anderen europäischen Ländern. Es interessieren mich die Funktionen, die Tabus besitzen, beziehungsweise Schweigen, Tabuisierung, Verdrängen, wenn man psychologische Begriffe verwenden will, die ja nicht ganz passen. Diese Phänomene haben in der österreichischen Geschichte eine große Rolle gespielt, spielen sie noch immer. In den letzten Jahren setzten sich HistorikerInnen vermehrt mit der Literaturwissenschaft und mit Linguistik auseinander, wie zum Beispiel auch der Diskursanalyse. Nun zählst Du ja zu einer der GründerInnen der Kritischen Diskursanalyse. Kannst Du ausführen, was man darunter versteht? Diskursanalyse ist der Versuch, linguistisch systematisch Texte im Kontext zu analysieren, zu verstehen und zu erklären. Dieser Kontext kann eng oder weit gefasst sein, also Gesellschaft ganz allgemein, aber auch jeweils das spezifische Setting meinen, in dem ein Gespräch stattfindet. Das Gesprächsverhalten wie auch schriftliche Texte hängen stark von gesellschaftlichen Konventionen ab, von den TeilnehmerInnen des Gesprächs, von Ort und Zeit, aber auch von den Interessen, den ideologischen Befindlichkeiten und der Öffentlichkeit. Es existieren systematische grammatische/pragmatische Regeln in der Textproduktion. Wir nennen diese die Makrostrukturen des Textes (ein Genre), denn ein Formular besitzt beispielsweise eine andere Struktur als eine Rede. Die antike 6 Wodak u. a., Wie Geschichte gemacht wird, wie Anm. 1.
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Rhetorik hat sich dieser Strukturen natürlich schon bedient und Regeln formuliert. Rhetorik ist eine Wurzel der Diskursforschung, auch die Stilistik. Gleichzeitig geht es um das Verstehen und Erklären von Diskursen. Insofern spielen sowohl der linguistic wie der cultural turn eine große Rolle, weil die Texte historisch und kulturell situiert sind. Jetzt kommt noch der visual turn hinzu. Das heißt, für die Diskursanalyse gibt es ein Etwas außerhalb des Textes? Selbstverständlich, das betone ich ganz stark. Ich bin auch nicht eine Anhängerin von Michel Foucault in der Weise, dass es keine Subjekte gäbe, sondern nur den Diskurs. Obwohl ich die „Eigendynamik des Diskurses“ für ein sehr wichtiges Konzept halte, und damit auch Foucaults Annahmen zur Disziplinierung. Aber natürlich gibt es eine außersprachliche Realität. Können wir über Interdisziplinarität sprechen? Das Aufeinander-Zugehen braucht sehr viel Zeit. Diese hat man in der Projektforschung in den Geistes- und Kulturwissenschaften normalerweise nicht, weil die Förderung meist in Zweijahreszyklen abläuft. In der Hälfte des zweiten Jahres fängt man schon an, den Abschlussbericht und den neuen Projektantrag zu schreiben. Eigentlich hat man nur ein Jahr für die Forschung, und da können sich die wichtigen Differenzierungen nicht wirklich herauskristallisieren. Während der Zeit meines durch den Wittgenstein-Preis finanzierten Forschungsschwerpunkts, die sechs Jahre gedauert hat, haben wir sicherlich ein Jahr dafür verwendet, einander gegenseitig Expertenwissen zu vermitteln, etwa indem wir einen Aufsatz für die anderen zusammengefasst und die eigenen Grundlagen erklärt haben. Ich habe zum Beispiel zum ersten Mal Niklas Luhmanns Theorien verstanden, da uns ein Mitarbeiter, der Soziologe Gilbert Weiss, diese so gut erklären konnte. Wir hingegen haben den Nicht-LinguistInnen Grammatiktheorien oder Textanalysen erklärt; derart hat sich eine gemeinsame Wissensbasis hergestellt. Von dieser ausgehend konnte man dann gemeinsam forschen, schreiben, Fragen neu formulieren. Daher ist Zeit ein ganz wichtiger Faktor. Ich glaube, ein weiterer wichtiger Faktor ist Partnerschaft. Natürlich gibt es eine/n Projektvorsitzende/n oder Verantwortliche/n, daher eine Hierarchie. Dennoch muss man eine Projektöffentlichkeit herstellen, wo Kritik möglich ist. Daher muss das Team aus selbstständigen ForscherInnen bestehen. Bei uns war auch eine Supervision sehr konstruktiv. Ich denke, dies ist relevant, weil junge WissenschaftlerInnen sich manchmal einfach nicht trauen, Kritik zu äußern, sich aber doch – schweigend – ärgern. Und derart entstehen unnötige Konflikte. Vier Punkte – Neugier, Offenheit, Zeit
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und Partnerschaft – sind ganz wichtig. Der fünfte wesentliche Punkt ist dann natürlich Geld und die Offenheit der Institutionen für innovative Forschung. So wie Du das jetzt dargelegt hast, denke ich, wird klar, dass Interdisziplinarität nur sehr selten praktiziert werden kann, weil diese Voraussetzungen in den meisten Fällen nicht gegeben sind. Nun hattest Du ja den Wittgenstein-Preis 1996 bekommen. Du warst die erste Preisträgerin und hast sechs Jahre lang Themen wie europäische Identität oder EU-Diskurse über Arbeitslosigkeit untersucht und dazu publiziert. Welche Bedeutung kam hier den Geschlechtsunterschieden zu? In dieser Forschung hat sich die Gender-Thematik mehrfach gestellt, sowohl bei dem Thema „Wie Geschichte gemacht wird“ als auch bei den Projekten zur europäischen Identität. Bei Letzterem habe ich mich mit Parlamentarierinnen des Europäischen Parlaments beschäftigt und wie sich diese Politikerinnen durchsetzen können – wie sie ihre Rolle in der Politik definieren und wie sie ihre Rolle als Frau beschreiben. Auch national unterschiedliche? In jedem Fall waren sich die Frauen der Probleme sehr bewusst; sehr bewusst darüber, dass sie kämpferisch und selbstbewusst auftreten müssen. Sie haben sich unterschiedliche interaktive und diskursive Strategien zurechtgelegt. Nationale Unterschiede gibt es auch, weil zum Beispiel die Skandinavierinnen, bei denen fünfzig Prozent der Abgeordneten im Parlament Frauen sind, einen völlig anderen Stellenwert haben und sich anders verhalten als MEPs (Members of the European Parliament) von Italien, Griechenland und Portugal, wo es wesentlich weniger Frauen gibt (elf Prozent). Österreich und Deutschland haben circa ein Drittel Frauen. Da erweist sich die Wirkung der Quotenregelung. Die EU ist ja sehr bestrebt, Gender Mainstreaming zu implementieren. Es hat mich auch sehr interessiert, wie diese policies von Männern umgangen werden können. Es gibt beispielsweise Untersuchungen, nicht so sehr über die EU, aber über große Firmen, wo Topmanagerinnen angestellt sind; oder über Briefe für Frauen, die sich bewerben (reference letters). Es zeigt sich, dass man sich erfolgreicher wehren kann, je expliziter die Strukturen sind. Je versteckter sie sind, desto subtiler laufen Machtprozesse ab. Wobei ich insgesamt davon überzeugt bin, dass die Gleichbehandlungspolitik Frauen enorm viel gebracht hat. Aber dass dennoch Benachteiligungen bestehen, bleibt unbestritten. An dieser bestehen bleibenden Benachteiligung von Frauen können wir jetzt vielleicht anknüpfen. Du hast den Wittgenstein-Preis bekommen, und Du und Dein Team habt im Laufe dieser sechs Jahre, ich glaube, 43 Bücher und über 200
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Artikel in acht verschiedenen Sprachen in Peer-reviewed-Journals und Sammelbänden veröffentlicht. Ihr wart also ungemein produktiv. Und Du hast ein wunderbares Team aufgebaut und wolltest mit diesem Team an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) bleiben und dort eine eigene Forschungsabteilung einrichten. Tatsächlich ist das nicht geglückt, Du konntest mit diesem vorzüglichen Team nicht mehr weiterarbeiten und es ist nun in alle Welt verstreut. Kannst Du erläutern, wie es dazu gekommen ist. Was hat es mit Dir als Frau zu tun, oder hat es mit Dir als Frau nichts zu tun? Das betrifft mich als Person in mehrfacher Weise, sowohl was die Themen betrifft, über die wir geforscht haben, wie auch mich als Frau, mich als Exponentin sogenannten ,linken‘ Gedankenguts oder zumindest ,aufmüpfigen‘ Gedankenguts. Und es betrifft mich auch dadurch – das musste ich leider zu Kenntnis nehmen –, dass ich – zwar säkulare – Jüdin bin. Ich habe wahrscheinlich manchen alten Herren eine Projektionsfläche geboten für viele Vorurteile und Fantasien. Nun war der Versuch, eine Kommission zur Diskursforschung einzurichten, nicht meine Idee, sondern eine von der ÖAW. Nach Erhalt des Wittgenstein-Preises 1996 waren wir drei Jahre (1999–2002) als Gast an der ÖAW, wobei alles aus den Mitteln des Preises bezahlt wurde (Miete, Telefon usw.). Ich wurde dann im Herbst 2001 aufgefordert, ein Konzept auf Deutsch, Englisch und Französisch einzureichen, für die Weiterführung dieses Forschungsschwerpunkts, zwar auf kleinerer Basis, aber dennoch hätte es letztlich zwei ganze Stellen und eine Administratorin geben sollen. Das Team hätte derart weiter bestanden, wie auch die Kontinuität dieser Forschungsrichtung. Wie ich später vernommen habe, hat ein so aufwendiges Einreichungsverfahren nur bei mir stattgefunden. Da liegt natürlich die Annahme nahe, dass sich Frauen doppelt so viel anstrengen müssen, um dasselbe zu erreichen wie Männer. Eine Rolle gespielt hat wohl auch Unwissen über Diskursforschung. Auch wurde uns vorgeworfen, dass wir – zwar mit Unterstützung und vollem Wissen des Präsidiums der ÖAW – den Auftrag der Europäischen Beobachtungsstelle gegen Rassismus, Xenophobie und Antisemitismus (EUMC) als Austrian National Focal Point (NFP) angenommen hatten. Wir hatten im Jahr 2000 den Zuschlag für die Österreichische Beobachtungsstelle bekommen, gemeinsam mit dem Institut für Konfliktforschung (IKF) von Anton Pelinka und dem Ludwig-Boltzmann-Institut für Menschenrechte (BIM) von Hannes Tretter. Die NFPs sammeln im Auftrag des EUMC relevante Daten zu Diskriminierung und „good practices“ in den [damals] 15 Mitgliedstaaten der EU. Während der sogenannten EU-Sanktionen gegen die österreichische Regierung 2000 wurde ich dann in dieser Funktion als eine Person wahrgenommen, die Österreich ,vernadert‘, also Österreich schlecht machen will. Obwohl die NFPs von allen nationalen Regierungen explizit unterstützt werden und gerade die Verankerung
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an der ÖAW die Wissenschaftlichkeit der Aufgabenstellung und unseres Teams in Absprache mit dem Präsidium der ÖAW nach außen signalisieren sollte. Du hast vorhin gesagt, dass großes Unwissen über die Diskursanalyse herrschte. Hattest du denn keine Möglichkeiten, über Deine Arbeiten zu sprechen, zum Beispiel Vorträge zu halten? Ich habe an der ÖAW zwei Vorträge gehalten. Den ersten 1998, nachdem ich korrespondierendes Mitglied geworden war. Dies war ein Vortrag über unsere linguistischen Analysen in EU-Gremien, die wir auf Tonband aufgenommen hatten. Der Vortrag ist damals recht gut diskutiert worden. Das zweite Mal war ein traumatisches Erlebnis: der 13. Dezember 2000. Ich berichtete über unsere Forschung. Für einen solchen Bericht bekommt man genau zehn Minuten Zeit, und mir wurde empfohlen, ein Projekt vorzustellen. Ich habe daher in zehn Minuten das damals schon fertige Projekt über Entscheidungsmechanismen in der EU vorgestellt. Dann geschah etwas, das für mich als schon erfahrene Vortragende völlig unvorhersehbar war. Ein Mann nach dem anderen und dann auch eine einzige Frau standen auf und attackierten mich in einer völlig irrationalen Form, die ich bei wissenschaftlichen Diskussionen noch nie erlebt hatte. Das hing überhaupt nicht mit dem Thema zusammen und auch nicht mit dem Vortrag. Es war, wie mir ein Akademiemitglied am nächsten Tag sagte, eine „konzertierte Aktion“. Es war eine dreiviertel Stunde aggressiver unsachlicher Attacken. Mit welchem Inhalt? Etwa: „Warum schreiben Sie so viel auf Englisch?“, „Warum haben Sie so viele internationale Kontakte?“, „Diese Forschung ist primitiv“, „Warum verwenden Sie den Begriff ,Diskurs‘ und nicht ,Diskussion‘? Das kann man ja überhaupt nicht lesen“ usw. Nur der einzige anwesende Sprachwissenschaftler stellte eine interessante Frage, die mich zu mehr Erzählen auffordern sollte. Alle anderen schwiegen. Kein Mensch ist aufgestanden und hat gefragt, was spielt sich hier ab, das ist keine wissenschaftliche Debatte. Dann mussten wir gehen, weil wir bei der anschließenden Sitzung nicht teilnehmen durften. So eine unsachliche Debatte habe ich vorher und nachher nie mehr erlebt. Es wunderte mich auch, dass diejenigen, die einem scheinbar wohlgesinnt sind, mit zwei Ausnahmen nichts gesagt haben. Wie erklärst Du Dir die Aversionen gegen die Diskursanalyse? Hat es damit zu tun, dass sie eine neue Forschungsrichtung ist, dass man zu wenig über sie weiß? Dass sie sich potenziell mit allen Sprachen, wie jenen des Rassismus in Österreich,
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des Antisemitismus in Europa beschäftigt und daher als politisch bedrohlich eingestuft wird? Ich glaube, es waren, wie schon erwähnt, viele Faktoren: Einerseits darf man nicht vergessen, dass das nach der sogenannten „politischen Wende“ in Österreich stattfand und – wie mir eben gesagt wurde – eine „konzertierte Aktion“ gegen eine bekannte „Regierungsgegnerin“ war. Fast alle unangenehmen Fragesteller sind – so sagte man mir im Nachhinein ebenfalls – Mitglieder im Österreichischen Cartellverband (CV), und sie waren mir auch als Frau wahrscheinlich nicht wohlgesinnt. Ich hatte mich natürlich in deren Augen schriftlich exponiert, da ich seit vielen Jahren die Rhetorik der FPÖ analysiert hatte; dies ist übrigens ein Schwerpunkt des Instituts für Sprachwissenschaft der Universität Wien seit den 1990er-Jahren. Auch unsere Beteiligung am Austrian National Focal Point hat sehr wahrscheinlich eine Rolle gespielt. Dazu kommt, dass wir damals gerade mit dem Projekt über die „Debatten zur Wehrmachtsausstellung“ begonnen hatten.7 Es waren wahrscheinlich einige ältere Herren aus der ÖAW ehemalige Wehrmachtssoldaten. Das Thema war daher tabuisiert. Die irrationale Aggression hing wohl auch mit meinem Judentum zusammen, was mir immer wieder von ÖAW-Mitgliedern explizit gesagt wurde. Es ist also vornweg eine Kombination von Faktoren gewesen, von der Thematik, der konservativen Wende in Österreich, von vielen Vorurteilen gegenüber Juden und Frauen bis hin zur Angst vor Interdisziplinarität und einer relativ unbekannten Wissenschaft. Du hast erwähnt, dass es bei der Ablehnung der Weiterführung des Forschungsschwerpunkts und Deiner Person als Leiterin auch von Bedeutung war, dass Du Jüdin bist. Bewirkt dieses Ereignis für Dich eine Intensivierung von Erinnerung, an die Shoah, an die Emigration Deiner Eltern? Tritt die NS-Vergangenheit Österreichs machtvoll hervor, an deren Aufarbeitung Du wissenschaftlich beteiligt bist? Das ist eine sehr interessante Frage. Ich habe damals erlebt, wie individuelle Erinnerungen sich mit kollektiven mischen. Meine Mutter lag gerade zu jener Zeit, also zu Beginn des Jahres 2003, im Sterben und erzählte mir viel aus dem Exil und aus der Zeit des Anschlusses. Sie selbst war als Dissertantin am Chemischen Institut der Universität Wien als Jüdin sofort nach dem 11. März 1938 nicht mehr erwünscht gewesen und wurde mehrmals gezwungen, unter dem Zuschauen und Gejohle von Passanten und der Gestapo „die Straße zu waschen“. Sie konnte glücklicherweise nach England flüchten und arbeitete dort zunächst 7 Vgl. das Interview von Ruth Wodak mit der Filmemacherin Ruth Beckermann auf S. 85–96 in diesem „L’Homme“-Band.
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als Putzfrau. Später hat sie in Manchester in Chemie promoviert und mit Michael Polanyi und Chaim Weizman zusammen wissenschaftlich geforscht. Ihre Erzählungen über Demütigung und Ausschluss waren für mich, obwohl ich sie ja alle kannte, gerade zu der Zeit, als wir als Team ausgeschlossen wurden und ich als Jüdin, Frau und kritische Sozialwissenschaftlerin nicht akzeptiert wurde, in ganz anderer und neuer Weise erschreckend. Ich hatte das Gefühl, dass – würde das Rad der Geschichte zurückgedreht – immer wieder Ähnliches passieren könnte. Wiederum hatten ja viele zugeschaut und nichts gesagt. Wenn Du so willst, wurde ich hier stark mit der Biografie meiner Mutter konfrontiert und mit einer leider recht bekannten österreichischen Haltung der Harmoniebedürftigkeit, des Neides (vielleicht?) und der Scheu vor Auseinandersetzung, auch wenn offensichtlich Unrecht geschieht.
Julia Watson im Gespräch mit Gabriele Jancke und Claudia Ulbrich (2013)*
Autobiographical Acts**
Julia Watson, die bis 2014 als Professorin für komparatistische Studien an der Ohio State University/Columbus lehrte und dort bis heute als professor emerita wirkt, ist eine der wichtigen und international anerkannten WissenschaftlerInnen der Autobiografieforschung. Zentral ist für sie als komparatistische Literaturwissenschaftlerin der Begriff des life narrative. Ihre Forschungen konzentrieren sich auf feministische Perspektiven und beschäftigen sich mit Themen wie Menschenrechte, Fälschungen und neue Medien, wobei sie den Studien Material des 20. und 21. Jahrhunderts aus westlichen (meist englischsprachigen) Regionen zugrunde legt. Dabei sind zugleich wichtige theoretische Impulse entstanden, die weit über diese zeitlichen und regionalen Grenzen hinausreichen. Viele Publikationen hat Julia Watson mit Sidonie Smith zusammen verfasst oder herausgegeben, zum Beispiel „Reading Autobiography. A Guide for Interpreting Life Narratives“. Der 2001 in erster Auflage erschienene Band wurde in der Neuauflage 2010 erheblich erweitert, wobei vor allem neue Formen autobiografischen Schreibens wie autobiografische Comics (graphic memoirs) und
* Gabriele Jancke ist Privatdozentin für die Geschichte der Frühen Neuzeit am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Von 2004 bis 2012 war sie Mitglied der DFGForschergruppe „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“. Ihr besonderes Interesse gilt der Erforschung persönlicher sozialer Beziehungen (Patronage, Freundschaft, Nachbarschaft, Feindschaft), der Gastfreundschaft, der Gelehrtenkultur sowie den Raum- und Personkonzepten. Claudia Ulbrich ist Emerita am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, wo sie von 1994 bis 2015 eine Professur für Neuere Geschichte/Geschichte der Frühen Neuzeit und Geschlechtergeschichte innehatte. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte in diesen Feldern sind mikrogeschichtliche Studien zu Herrschaftsverhältnissen in ländlichen Gesellschaften sowie die transkulturelle Selbstzeugnisforschung und die Geschichte christlich-jüdischer Beziehungen. Von 1996 bis 2018 war Claudia Ulbrich Mitherausgeberin von „L’Homme. Z. F. G.“. ** Zuerst veröffentlicht in L’Homme. Z. F. G., (2013): Auto/Biographie, hg. von Claudia Ulbrich, Gabriele Jancke u. Mineke Bosch, 119–124. Erscheint hier mit aktualisierter Einleitung und geringfügiger sprachlicher Bearbeitung.
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neue Medien (z. B. Blogs) berücksichtigt wurden.1 „Reading Autobiography“ ist auch in interdisziplinärer Hinsicht ein unverzichtbares Standardwerk für die Arbeit mit autobiografischen Texten, das unter anderem „A Tool Kit: Twentyfour Strategies for Reading Life Narratives“ und einen Anhang zu „Sixty Genres of Life Narrative“ bietet. Weitere wichtige Bände von Julia Watson sind „Women, Autobiography, Theory : A Reader“ (1998) oder „Interfaces: Women, Autobiography, Image, Performance“ (2002).2 Julia Watson ist ferner Initiatorin und Mitherausgeberin der Zeitschriften „A/B: Auto/Biography Studies“ und „Women’s Studies Quarterly“. 1999 war sie an der Gründung der „International Auto/Biography Association“ (IABA) beteiligt, dem weltweiten Zusammenschluss von WissenschaftlerInnen in den Feldern von Autobiografie-, Biografie- und life writing-Forschung mit regelmäßigen Konferenzen, die alle zwei Jahre an wechselnden Orten stattfinden.3 Das Gespräch mit Julia Watson wurde auf Englisch geführt.4 Gabriele Jancke und Claudia Ulbrich: Seit einigen Jahrzehnten lässt sich vielerorts ein großes Interesse an der Autobiografietheorie beobachten, das dazu geführt hat, dass der enge Gattungsbegriff der Autobiografie als der geschlossenen Selbstdarstellung eines autonomen Subjekts durch offenere Konzepte ersetzt wurde, die der Vielfalt und Unterschiedlichkeit autobiografischen Schreibens besser gerecht werden. Im Angloamerikanischen haben sich Begriffe wie life writing und life narratives etabliert, für die es im Deutschen keine Entsprechung gibt. Dein Buch mit Sidonie Smith, „Reading Autobiography. A Guide for Interpreting Life Narratives“, das 2010 in einer neuen Auflage erschienen ist, stellt eine kritische Auseinandersetzung mit der Autobiografietheorie dar. Wir würden dieses Gespräch gerne nutzen, um etwas von Deinen eigenen Forschungen zu erfahren. In welchem Kontext entstand in den USA die Kritik an der Autobiografie? Julia Watson: Eigentlich begann die Entwicklung mit einer Kritik am Kanon. Die ,Meistererzählung‘ vom autonomen Selbst, das seine Autobiografie schrieb, schloss viele Texte, in denen Menschen ihr Leben erzählen, von vornherein aus: Die zahlreichen Lebensberichte von SklavInnen zum Beispiel (slave narratives), 1 Sidonie Smith u. Julia Watson, Reading Autobiography : A Guide to Interpreting Life Narratives, Minneapolis 22010. Vgl. auch Sidonie Smith u. Julia Watson, Life Writing in the Long Run: A Smith & Watson Autobiography Studies Reader, Michigan 2017. 2 Julia Watson u. Sidonie Smith (Hg.), Women, Autobiography, Theory : A Reader, Madison 1998; dies. (Hg.), Interfaces: Women, Autobiography, Image, Performance, Ann Arbor 2002. 3 Website unter : https://sites.google.com/a/ualberta.ca/iaba/home/about-iaba. Für die europäische Sektion – IABA Europe vgl. unter : http://iaba-europe.eu/. 4 Die Übersetzung ins Deutsche wurde von Claudia Ulbrich und Gabriele Jancke erstellt.
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die autobiografischen Schriften von Frauen oder auch Texte von MigrantInnen passten nicht in das enge Schema der Autobiografie. Ein anderer Ansatzpunkt, den engen Gattungsbegriff zu kritisieren, ging von der Frauenbewegung aus. Viele Frauen, die sich ihrer Diskriminierung bewusst wurden, aber noch nie etwas geschrieben hatten, begannen in den 1970er-Jahren, ihre Lebenserfahrungen zu erzählen. In diesem Zusammenhang wurden auch die Machtverhältnisse sichtbar, die im Konzept der Autobiografie eingeschrieben sind. Aus diesen Anfängen entfaltete sich in den USA im Kontext postkolonialer und postmoderner Studien eine intensive und zum Teil auch kritische Auseinandersetzung mit der Autobiografie. Trotzdem habt ihr im Titel eures Buches an „Autobiography“ festgehalten. Warum? Ich habe mit Sidonie Smith in den 1990er-Jahren mehrere Bücher zur Autobiografie herausgegeben.5 Irgendwann fragte uns eine Freundin, die Literaturwissenschaftlerin Mary Louise Pratt, warum wir die Texte, mit denen wir uns beschäftigen, als Autobiografien bezeichnen, obwohl die Autobiografietheorie viele Texte, viele AutorInnen und vor allem vieles, was autobiografisches Schreiben prägt und was uns interessiert, ausschließt. Sie hat den Anstoß gegeben, dass wir uns noch einmal kritisch mit unserem Konzept auseinandergesetzt haben. Es war uns von Anfang an klar, dass die Autobiografie nur eine von vielen Möglichkeiten ist, sein Leben zu erzählen. Wir haben Autobiografie nur aus strategischen Gründen im Titel unseres Buches behalten: Nur so konnten wir erreichen, dass unser kritischer Beitrag in der Autobiografieforschung wahrgenommen wurde. Unser Ziel war ein anderes. Wir wollten versuchen, das breite Spektrum der life narratives zu erfassen und zu systematisieren. Insgesamt haben wir fünfzig unterschiedliche Genres aufgezählt, die autobiografisch sind, aber nicht der engen Gattungsdefinition entsprechen. In der zweiten Auflage von 2010 sind es sogar sechzig. Dabei haben wir auch einige spielerische Formen aufgenommen wie oughta-biography in der ersten Auflage oder jockography in der zweiten. Damit wollten wir deutlich machen, dass unsere Liste nichts Endgültiges hat, dass sich autobiografisches Schreiben ständig verändert, an die jeweiligen Bedürfnisse angepasst oder neu erfunden wird. Unser „Tool Kit: Twenty-four Strategies for Reading Life Narratives“ soll den LeserInnen helfen, sich selbstständig mit autobiografischen Texten auseinanderzusetzen.
5 Sidonie Smith u. Julia Watson (Hg.), De/Colonizing the Subject: The Politics of Gender in Women’s Autobiography, Minneapolis 1992; dies. (Hg.), Getting a Life: Everyday Uses of Autobiography, Minneapolis 1996; dies., Women, Autobiography, wie Anm. 2; dies., Interfaces, wie Anm. 2.
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Eure Kritik an der Autobiografie bezieht sich nicht nur auf die Gattung und die impliziten Exklusionsmechanismen, ihr plädiert auch dafür, Autobiografie als performativen Akt zu verstehen. Kannst Du das etwas näher erläutern? Was versteht ihr unter autobiographical act? Die Vorstellung, dass Autobiografien in sich geschlossene Erzählungen sind, in denen ein kohärentes Selbst spricht, ist nichts anderes als ein Mythos. Wenn wir uns eingestehen, dass es kein festes, unveränderliches Selbst gibt, das man im Text finden kann, ist es besser, das autobiografische Erzählen als einen performativen Akt zu verstehen. Das ist keinesfalls eine neue Idee. Elizabeth Bruss hatte bereits in den 1970er-Jahren in kritischer Auseinandersetzung mit Philippe Lejeunes Überlegungen zum autobiografischen Pakt von der Autobiografie als literarischem Akt gesprochen.6 Dieser Zugang geht von der Situiertheit autobiografischen Erzählens aus und er bezieht sich auch auf die Praktiken der Kommunikation und auf die Materialität der Texte. Dazu gehören vor allem auch Fragen nach der Entstehung und Verbreitung von Texten. Könntest Du das an einem Beispiel erläutern? Nehmen wir etwa die Menschenrechtskampagnen. Im Rahmen dieser Bewegungen kam dem life writing im Sinne von „Zeugnis ablegen“ eine große Bedeutung zu. Es entstanden und zirkulierten Texte, in denen die ErzählerInnen darauf insistierten, dass sie bestimmte Dinge selbst erlebt haben und dass diese nun erzählt werden müssen. Dies ist ein sehr politisches Anliegen. Das Produzieren der human rights narratives ist ein autobiografischer Akt, bei dem verschiedene Elemente zusammenlaufen: die Interviewsituation, diejenigen, die dazu ermutigten, Zeugnis abzulegen (hier ist besonders auf diese Ermutigung, das coaxing, hinzuweisen), diejenigen, die ihre Geschichten erzählen, die nachträgliche Bearbeitung der Texte und nicht zuletzt der Leserbezug. Es wird eine spezifische Beziehung geschaffen zwischen den ErzählerInnen, den Geschichten und den HörerInnen oder LeserInnen, durch die eine bestimmte Wirkung erzielt werden soll. Durch die neuen Medien werden diese Texte weit verbreitet, was ihnen noch mehr Aufmerksamkeit einbringt. Welche Rolle spielt Gender in diesem Zusammenhang? Im Zusammenhang mit den Erzählungen, die im Umfeld der Menschenrechtskampagnen entstanden sind, haben wir eine sehr interessante Beobachtung 6 Elizabeth W. Bruss, Autobiographical Acts: The Changing Situation of a Literary Genre, Baltimore 1976.
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gemacht. Es entsteht der Eindruck, als seien in diesen Texten die Opfer feminisiert und die Täter maskulinisiert. Aber das ist nur eine erste Beobachtung, die weiter erforscht werden müsste. Was feminisiert und maskulinisiert ist, hängt auch mit den Geschlechtervorstellungen der VerlegerInnen und RezipientInnen zusammen. Ich habe dies zusammen mit Sidonie Smith in dem gerade erschienenen Artikel „Witness or False Witness“7 zur Diskussion gestellt. Die human rights narratives sind ein schönes Beispiel dafür, wie weit ihr den Begriff der life narratives gefasst habt. Ihr habt ihn auch medial geöffnet und neue Medien (wie das Internet) integriert. Das klingt sehr spannend und interessant. Aber kann man mit einem so offenen Konzept überhaupt noch arbeiten? Werden hier nicht doch sehr disparate Quellen zu einer Textsorte zusammengefasst, die lediglich einen gemeinsamen thematischen Bezugspunkt – das eigene Leben – haben? Genau deswegen haben wir versucht, die Genres zu identifizieren. Dabei sind wir, wie oben erwähnt, auf eine erstaunliche Vielfalt gestoßen. Interessant ist, dass in der Regel in einem Text schon verschiedene Genres vermischt werden. Um autobiografische Akte zu beschreiben und voneinander unterscheiden zu können, haben wir bestimmte Begriffe (identity, experience, memory, embodiment, agency) entwickelt und die Kommunikationszirkel in die Analyse einbezogen. Wichtig wurde für uns der von Christian Moser und Jörg Dünne eingeführte Begriff der Automedialität, mit dem neue medial und kulturell figurierte Praktiken der Subjektkonstitution erfasst werden. Dadurch wird die Arbeit mit Autobiografien noch schwieriger, als sie ohnehin ist. Wir wollten uns auch von einem Begriff von Autobiografie absetzen, dem zufolge diese eine transparente Selbstoffenbarung ist. In diesem Zusammenhang kommt Gender noch einmal in den Blick. Wie wir alle wissen, hängt die Frage, welche Texte als Autobiografie gelten und wie sie gelesen werden können oder müssen, sehr eng mit gender, race, nation zusammen. Man hat lange behauptet, dass es keine Autobiografien von Frauen gegeben habe, weil von Frauen nur Briefe, Tagebücher und autobiografische Kleinformen überliefert sind. Die Kanonbildung orientierte sich an den Texten ,großer Männer‘, die der westlichen Kultur angehören. Die Texte von Menschen aus anderen Kulturen und generell die Texte von Frauen wurden kaum berücksichtigt. 7 Sidonie Smith u. Julia Watson, Witness or False Witness: Metrics of Authenticity, Collective IFormations, and the Ethic of Verification in First-Person Testimony, in: Biography : An Interdisciplinary Quarterly, 35, 4 (2012), 590–626.
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Wo liegen Deine derzeitigen Forschungsschwerpunkte, welche neuen Forschungsfragen stellen sich der Autobiografieforschung? Es gibt viele neue Entwicklungen, die mit den neuen Medien entstanden sind. Online lives, die interaktive Selbstdarstellung im Internet, gehört dazu. Das ist eine ganz andere Kommunikationssituation als beim herkömmlichen Schreiben und Erzählen, vor allem zirkulieren die Texte anders. Da müssen ganz andere Fragen gestellt werden: Welche Aspekte von Identität finden wir auf diesen Seiten, welchem Ich begegnen wir überhaupt? Diese Frage stellt sich auch bei den celebrity narratives, die seit einiger Zeit nicht nur in den USA boomen: Berühmtheiten versuchen, ihr Leben schriftlich darzustellen, denn ihr Erfolg ist davon abhängig. Meist werden die Texte von einem Ghostwriter geschrieben. Nicht nur bei SportlerInnen und Filmstars, auch bei PolitikerInnen ist diese Art des self-fashioning ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Auch die neuen Formen autobiografischen Schreibens – zum Beispiel die autobiografischen Comics (graphic memoirs) und die visuellen Tagebücher (visual diaries) – verlangen neue Herangehensweisen, um die Wechselwirkung von Bild- und Textebene zu erfassen. Mit den celebrity narratives kommen wir an einen Punkt, wo sich Biografie und Autobiografie begegnen. Es geht eindeutig nicht darum, das Innere darzustellen und zu veröffentlichen, sondern darum, eine bestimmte Persona zu gestalten. Ja, in diesen Texten entsteht kein Bild vom Inneren eines Menschen, obwohl es Ausnahmen gibt wie bei Bob Dylan und Patti Smith. Ihre Funktion besteht vielmehr darin, das Bild eines ,Stars‘ zu verbreiten. Glaubst Du, dass die Biografieforschung sich von der Autobiografieforschung inspirieren lassen kann? Gibt es Deiner Meinung nach Gemeinsames? Es gibt manche, die versuchen, die Vielfalt des Autobiografischen ins Biografische hineinzubringen. Ich denke zum Beispiel an J. M. Coetzee, der in „Summertime“ (2009) sein Leben – nach seinem Tod – aus der Perspektive von fünf anderen Menschen erzählt. Jeder Erzähler erwähnt andere Details, jeder hat einen anderen Blick auf ihn, alle üben Kritik an ihm, keiner stellt ihn als Held dar. Dies ist ein interessantes literarisches Element. Ein anderes Beispiel ist Doris Lessings Buch „Alfred and Emily“ (2008). Sie hat die Geschichte ihrer Eltern zweimal dargestellt, einmal als idealtypisches Leben, wie es verlaufen wäre, hätte es den Ersten Weltkrieg nicht gegeben, und dann als gelebtes Leben mit all seinen Brüchen und bitteren Erfahrungen. Durch das kontrastierende Gegenüberstellen
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beider Lebenserzählungen wird eine Geschichte erzählt, die einen viel tieferen Sinn hat als eine Biografie, die einzig auf das Faktische abhebt. Umfasst der Begriff des life writing nicht auch die Biografie? Wie grenzt er sich von life narrative ab? Unter life writing verstehe ich im Grunde nur das Schreiben des eigenen Lebens (self-life writing). Für mich gibt es wesentliche Unterschiede zwischen dem autobiografischen und dem biografischen Schreiben, obwohl manche SchriftstellerInnen wie die eben genannten mit biografischen Mitteln eine neue Art von life writing entworfen haben. Life writing bezieht sich im Übrigen nur auf geschriebene Texte. Unser Ansatz der life narratives ist umfassender, er bezieht das Mediale mit ein und setzt am autobiografischen Akt an. Beide Begriffe sollen – in Abgrenzung zur westlichen Tradition der Autobiografie – darauf verweisen, dass das Schreiben des eigenen Lebens ein globales Projekt ist. Für Dich ist life writing also kein Oberbegriff für Auto/Biografie? Ich glaube, die Frage kann nicht einfach mit Ja oder Nein beantwortet werden. Eine Abteilung der Modern Language Association zum Beispiel heißt „Autobiography, Biography, and Life Writing“, hat aber ein Unterrichtshandbuch mit dem Titel „Teaching Life Writing Texts“8 herausgegeben. Darunter wird sowohl die Autobiografie als auch die Biografie verstanden. Man könnte auch auf ein Handbuch für AutorInnen verweisen, das den Titel „Life Writing. Writing Biography, Autobiography and Memoir“9 trägt. Ich gehe davon aus, dass das Biografische eine Subjekt-Objekt-Beziehung ist, das Autobiografische hingegen eine Subjekt-Subjekt-Beziehung, und dass der Anspruch auf Authentizität (truth claims) unterschiedlich ist. Aber es gibt natürlich Grenzgebiete und Überschneidungen. Daher kommt der Schrägstrich, Auto/Biography, der sich auch in der International Auto/Biography Association findet. Und die Zeitschrift „Biography“ umfasst alle Sorten von life narratives. Die meisten LiteraturwissenschaftlerInnen arbeiten allerdings mit dem einen oder dem anderen Genre, nicht mit beiden. Das mag in der Forschungspraxis so sein. Aber gibt es nicht doch noch mehr Gemeinsamkeiten?
8 Miriam Fuchs u. Craig Howes (Hg.), Teaching Life Writing Texts, New York 2008. 9 Sally Cline u. Carole Angier, Life Writing. Writing Biography, Autobiography and Memoir, London 2010.
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Die Hybridität von life writing/life narrative hat derzeit auch eine sehr produktive Seite. Diejenigen, die biografisch arbeiten, und diejenigen, die über oder mit Autobiografien forschen, erkennen in der Tat, dass es in der Praxis doch eine ganze Menge an Gemeinsamkeiten gibt. So finden Beziehungen zunehmend Beachtung, zum Beispiel im Konzept der relationality. Auf IABA- (und IABAEurope-) Konferenzen sind regelmäßig beide Bereiche vertreten. In den USA liegt der Fokus der auto/biografischen Forschung aktuell auf den memoirs, wobei es eine große Forschungsaufgabe ist, die Beziehung zwischen memoir und Autobiografie herauszuarbeiten. Eines der wichtigsten Plädoyers für diese Neufokussierung verdanken wir G. Thomas Couser, der in „Memoir : An Introduction“10 auf den engen Zusammenhang zwischen memoir und sozialem Wandel verweist und die Auffassung vertritt, dass dieses Genre, das bereits seit dem 18. Jahrhundert besteht, im letzten Jahrzehnt in den USA die autobiography in den Schatten gestellt hat.
10 G. Thomas Couser, Memoir : An Introduction, New York/London 2012.
Sigrid Ruby im Gespräch mit Inken Schmidt-Voges (2019)*
Räume, Blicke und Geschlechterbilder: Positionen der Kunstgeschichte**
Sigrid Ruby hat Kunstgeschichte, Amerikanistik und Volkswirtschaftslehre in Bonn, Frankfurt am Main und an der Harvard University in Cambridge (MA) studiert. Bereits im Studium setzte sie sich intensiv mit ästhetischen Strategien und räumlichen Ordnungen auseinander, mittels derer gesellschaftliche Hierarchien markiert und geschlechtsbezogen definiert werden. In der Magisterarbeit beschäftigte sie sich mit Diana von Poitiers, einer der mächtigsten Frauen am französischen Königshof, und ihren Handlungsräumen als Auftraggeberin von Architektur und bildender Kunst. Das Thema der sozialen Rolle und räumlichen Verortung der Favoritin am französischen Hof der Renaissancezeit griff sie in ihrer Habilitationsschrift auf und arbeitete die formative Beteiligung von Kunst, Architektur, Dichtung und Zeremoniell heraus.1 Aber auch vielfältige andere Bezüge zwischen Raum, Geschlecht und visueller Kultur finden sich in ihren Arbeiten: so etwa die Auseinandersetzung mit der (Un-)Sichtbarkeit alternder Körper, mit weiblicher Porträtkultur in der Frühen Neuzeit und mit imaginierten Räumen ganz eigener Art, den Traumwelten und Heimatkonzepten.2 * Inken Schmidt-Voges ist seit 2015 Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Philipps-Universität Marburg. In ihren Forschungen fokussiert sie mit Blick auf das frühneuzeitliche Europa Themen aus den Feldern politische Kultur und Kommunikation, Haus, Haushalt und Familie, Geschlechtergeschichte sowie Kulturkontakte und Transferprozesse. Ein weiterer Schwerpunkt ist die historische Friedensforschung, in der sie sich 2012 habilitierte. ** Zuerst veröffentlicht in L’Homme. Z. F. G., 30, 2 (2019): Innenräume – Außenräume, hg. von Maria Fritsche, Claudia Opitz-Belakhal u. Inken Schmidt-Voges, 111–118. 1 Sigrid Ruby, Mit Macht verbunden. Bilder der Favoritin im Frankreich der Renaissance, Heidelberg 22017. 2 Sigrid Ruby u. Simone Roggendorf (Hg.), (En)gendered. Frühneuzeitlicher Kunstdiskurs und weibliche Porträtkultur nördlich der Alpen, Marburg 2004; Sigrid Ruby u. Sabine Mehlmann (Hg.): „Für Dein Alter siehst Du gut aus!“ Zur Un/Sichtbarkeit des alternden Körpers am Horizont des demographischen Wandels, Bielefeld 2010; Sigrid Ruby u. Eva-Bettina Krems (Hg.). Das Porträt als kulturelle Praxis, Berlin 2016; Sigrid Ruby, Traum und Wirklichkeit in der bildenden Kunst: Modi einer Unterscheidung, in: Patricia Oster u. Janett Reinstädler
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Seit 2016 ist Sigrid Ruby Professorin für Kunstgeschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Im Sonderforschungsbereich „Dynamiken der Sicherheit“3 untersucht sie die ästhetischen Strategien und Techniken, die einer geschlechtsbezogenen Verortung und Rollenzuordnung von Männern und Frauen im Haus zuarbeiteten. Im Fokus der Auseinandersetzung mit italienischen und niederländischen Bildwerken und visueller Kultur vom 15. bis ins 18. Jahrhundert steht die ,Domestizierung‘ der Frau beziehungsweise des Weiblichen. Der Begriff zielt hier sowohl auf die beobachtbare Engführung von Haus und weiblichem Körper und auf die in der Regel zu sehen gegebene Zuordnung der Frau zum Innenraum als auch auf erzählerische und rezeptionsästhetische Bildraumgestaltungen, die mit der Architektur des Hauses und seinem Umraum arbeiten, um eine solche Engführung respektive Zuordnung zu erwirken. Von besonderem Interesse sind hier die vielfach ambivalenten Wertungen, welche die mit den Verortungen verbundenen Zuschreibungen von Hierarchie, Macht und Herrschaft in den Geschlechterbeziehungen als Kern und Teil gesellschaftlicher Ordnung präsentieren. Insbesondere in den vielfach thematisierten Grenzüberschreitungen lässt sich beobachten, dass die bildlichen Darstellungen einen ganz eigenen Beitrag zum Geschlechterdiskurs leisteten. Inken Schmidt-Voges: Wie würdest Du das Thema „Raum und Geschlecht“ in der Kunstgeschichte verankert sehen? Sigrid Ruby : Das Thema kam im Zuge der Zweiten Frauenbewegung und im Rahmen der feministischen Kunstgeschichte der 1970er/80er-Jahre auf den Plan. Ich würde drei kunstgeschichtliche Felder oder Diskursstränge benennen, bei denen „Raum und Geschlecht“ interessant in Relation gesetzt werden. Zum einen die Unterscheidung von Bildraum und Betrachterraum als geschlechtsspezifisch besetzt, im Sinne von der Frau als Bildgegenstand und einem männlichen Blick („gaze“) darauf.4 Meines Wissens hat Daniela Hammer-Tugendhat 1989 erstmals (Hg.), Traumwelten. Interferenzen zwischen Text, Bild, Musik, Film und Wissenschaft, Paderborn 2017, 79–108; Sigrid Ruby, Amalia Barboza u. Barbara Krug-Richter (Hg.), Heimat verhandeln? Kunst- und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Köln/Weimar/Wien 2019. 3 Das seit 2014 laufende Teilprojekt C03 „Das ,Haus‘ als Sicherheit und die (Un-)Sicherheit der Geschlechter“, geleitet von Sigrid Ruby und Inken Schmidt-Voges, untersucht den Zusammenhang der diskursiven Durchsetzung einer über das ,Haus‘ als Interaktionsraum vermittelten Geschlechterordnung mit gesellschaftlichen Versicherheitlichungsprozessen in der Frühen Neuzeit. Diese Fragestellung wird interdisziplinär in einem kunsthistorischen und einem historischen Arbeitsvorhaben bearbeitet und begreift sowohl die bildkünstlerische Auseinandersetzung mit einer hausbezogenen Geschlechterordnung als auch die präskriptiven Traktate von Theologen, Juristen und Philosophen als Teile eines übergeordneten Prozesses. Vgl. https://www.sfb138.de/forschung/teilprojekte/c03-2-de. 4 Vgl. Laura Mulvey, Visual Pleasure and Narrative Cinema, in: Screen, 16, 3 (1975), 6–18.
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diesen Zusammenhang beziehungsweise diese Entwicklung – also den historischen „Ausstieg des Mannes aus dem Bild“ im 15. Jahrhundert – pointiert dargelegt.5 Das zweite Analysefeld betrifft die geschlechtsspezifische Konnotation bestimmter Raumtypen – auch auf Grundlage sozialgeschichtlicher Formungen, die Raum und Geschlecht gleichermaßen betreffen. Hier waren sicher auch die Arbeiten von Karin Hausen inspirierend. Neben einschlägigen Publikationen meiner lange in Gießen wirkenden Kollegin Ellen Spickernagel, die sich in den 1980er-Jahren unter anderem mit dem häuslichen Frauenbild in der Romantik beschäftigt hat, möchte ich den wichtigen Aufsatz von Griselda Pollock „Modernity and the spaces of femininity“ von 1988 erwähnen.6 Darin zeigt Pollock, wie in Paris im späten 19. Jahrhundert die impressionistischen Malerinnen in ihren Bildern die ihnen qua Geschlecht zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten und Praktiken thematisieren und wie wir dadurch in die Lage versetzt werden, ein umfassenderes Bild von ,der Moderne‘, auch jenseits des Bordells und der Vari8t8-Theater, zu gewinnen und wertzuschätzen. Wenn wir nur wollen. Schlussendlich – und als dritte Perspektive – möchte ich die Kunstmuseen, also Institutionen der Kunstgeschichte, ansprechen. Seit den 1980er-Jahren prangern die Guerilla Girls, eine aktivistische Künstlerinnengruppe in den USA, an, dass in den großen und kleinen Museen der Welt zwar jede Menge Bilder von (nackten) Frauen gezeigt werden, aber kaum von Künstlerinnen geschaffene Werke. „Do women have to be naked to get into the Met. Museum?“ (1989) ist ihre bekannteste Arbeit übertitelt: ein Plakat, das Ingres’ Gemälde einer „Odaliske“ mit einem Gorillakopf zeigt (vgl. Abb. 1). Auch hier geht es meines Erachtens um Raum, der geschlechtsspezifisch verteilt, aber als solcher zu selten thematisiert wird, also um die Übermacht männlicher Akteure im Kunstbetrieb, um das Museum und seine Ein- und Ausschlussmechanismen etc. Vor allem in den 1980er-Jahren kam es zur Gründung einer Reihe von Frauenmuseen, die versuchten, dieser Problematik zu begegnen und der Kunst von Frauen einen Raum zu geben. Und bis heute Erfolg damit haben und weiterexistieren. Wenngleich die Trennung von Sammlungsbeständen und Exponaten nach Geschlechtszugehörigkeit mittlerweile auch einige Fragen aufwirft.
5 Daniela Hammer-Tugendhat, Jan van Eyck – Autonomisierung des Aktbildes und Geschlechterdifferenz, in: kritische berichte, 17, 3 (1989), 78–99. 6 Griselda Pollock, Modernity and the spaces of femininity, in: dies., Vision and Difference. Femininity, Feminism and the Histories of Art, London/New York 1988, 50–90.
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Abb. 1: Guerrilla Girls im Victoria and Albert Museum (London), 2014 T Eric Huybrecht, Wikimedia Commons
Das sind sehr zentrale Aspekte, die Du hier aufzeigst, da sie Kernaspekte der Gender Studies ansprechen: die Sichtbarkeit und die Sprechfähigkeit der Frauen (die hier vielleicht als „Blickfähigkeit“ zu interpretieren wäre). Wie zeigt sich in den Bildkünsten das Verhältnis von Sichtbarkeit/„zu sehen geben“ beziehungsweise „zu sehen gegeben werden“ und Geschlecht beziehungsweise der Geschlechterverortung im Raum? In Beantwortung dieser sehr großen Frage verweise ich auf einen Holzschnitt von Albrecht Dürer (vgl. Abb. 2). Hier sind geradezu aufdringlich stereotyp die beim Entstehen von Kunst zugewiesenen Rollen dargestellt. Das weibliche Modell gibt sich passiv dem aktiv blickenden und zeichnenden Künstler zu sehen. Es ist seine Aufgabe, die künstlerisch in Form gebrachte Materie in einem Bild sichtbar zu machen. Hier wäre auch auf die auf Aristoteles zurückgehende hylemorphistische Lehre zu verweisen, also die Trennung von Materie/Material und Formgebung, die in den kunsthistorischen Schöpfungsmythen (unter anderem Pygmalion) geschlechtsspezifisch besetzt ist. Im Motiv des Atelierbildes findet sich diese Anordnung von männlichem Künstler und weiblichem Modell immer wieder. Bilder von Frauen, zumal von weiblichen Akten, evozieren den Blick des (männlichen) Künstlers, erlauben also homosoziale Schulterschlüsse zwischen Betrachter und Künstler vor dem Bild beziehungsweise der „Frau als Bild“. Das spitzt sich noch zu im Medium Fotografie, wo der Moment einer leibhaftigen Begegnung von Fotograf und Modell im selben Raum festgehalten scheint.
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Abb. 2: Albrecht Dürer (1471–1528), Der Zeichner des liegenden Weibes, in: ders., Underweysung der messung mit dem zirckel un richtscheyt in Linien ebnen unnd gantzen corporen, 3. Ausgabe Nürnberg 1538. Holzschnitt, 75 x 215 mm, Entstehung zwischen 1515 und 1525 T Wikimedia Commons
Du sprichst von einer geschlechterspezifischen Konnotation bestimmter Raumtypen – was ist damit gemeint, könntest Du das an einem Beispiel erläutern? In unserem Projekt „Das ,Haus‘ als Sicherheit und die (Un-)Sicherheit der Geschlechter“ gehen wir davon aus, dass die diskursiv und bildmedial herbeigeführte beziehungsweise bekräftigte Zuordnung der Frau zum Haus und des Mannes zum öffentlichen oder Straßenraum eine wesentliche Komponente in der Herstellung und Absicherung sozialer Ordnung in der Frühen Neuzeit war. Das kunsthistorische Arbeitsvorhaben erforscht die ,Domestizierung‘ der Frau, das heißt ihre Verortung und Engführung – auch die Engführung ihres Körpers – mit dem „Haus“, also eine geschlechtsbezogene ,Verhäuslichung‘ mit kollektiv stabilisierender Wirkung. Wir analysieren das anhand von Genrebildern und grafischen Blättern, unter anderem zur Illustration von Traktatliteratur, aus dem italienischen und niederländischen Raum. Es zeigt sich und ist auch nicht verwunderlich, dass die christliche Ikonografie, zum Beispiel Bilder der Verkündigung an Maria oder der Mariengeburt, eine nachhaltige Wirkung bezüglich der Verortung der Geschlechter im häuslichen Raum und jenseits davon besitzt und selbst stark von solchen (gelebten? normativen?) Anordnungen geprägt ist. Vor allem das Schlafzimmer mit seinem Bett, Marias „thalamus virginis“, später dann das Boudoir, sind mit Weiblichkeit assoziierte und als solches auch zu sehen gegebene, private Räume, deren Öffnung für den Betrachterblick eine Grenzüberschreitung darstellt und insofern immer auch etwas Prekäres besitzt. Bilder solcher Innenräume machen diese zu – im Wortsinne – Schauplätzen von Intimität, die ambivalent sein und verunsichern können, auf rezeptionsästhetischer wie semantischer Ebene. Immer wieder wurde und wird in der Kunstgeschichte diskutiert, ob Bilder unbekleideter Frauen in einem Wohnraum oder Schlafgemach, wie etwa Tizians „Venus von Urbino“ (um 1538, Florenz, Uffizien)
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oder FranÅois Clouets „Dame im Bad“ (um 1571, Washington, D. C., National Gallery of Art), nicht ,eigentlich‘ als Darstellungen von Kurtisanen, Mätressen oder Huren angesehen werden müssen. Als wäre das die einzige Möglichkeit, mit diesen Bildern umzugehen, als hätte hier nur der moderne Freier-Blick eine Berechtigung. Ich habe angesichts dieser wiederkehrenden, auch ermüdenden, aber nach wie vor den Diskurs bestimmenden Debatten einmal von der „Ohnmacht des Privaten“ gesprochen,7 weil ich in diesen prunkvollen Interieurs auch eine machtvolle Repräsentation weiblicher Herrschaftsräume erkenne, was durch das beharrliche Rätseln über die ,Sittlichkeit‘ der zu sehen gegebenen Frauen nachgerade unsichtbar gemacht wird – und meines Erachtens auch werden soll. Spielt die Frage des von Dir so zentral gesetzten Dreiecks von Geschlecht – Raum – Sichtbarkeit/Blick eine Rolle für die Subjektkonstitution beziehungsweise könnte man von einer spezifischen visuellen Strategie der Objektivierung der Frau in der Kunst sprechen? Es ist nun mal eine historische Tatsache, dass bis in die Gegenwart hinein und auch in der Literatur vor allem Männer die gesellschaftlich erfolgreichen Werke machen und sich darin häufig auch mit dem anderen Geschlecht befassen. Es herrscht also schon quantitativ eine gewisse Übermacht männlicher Entwürfe von Frauenfiguren vor, und man könnte sagen, dass es sich hier um Objektivierungen aus geschlechtsspezifischer Warte handelt, um Darstellungen aus einer situierten Perspektive, die ein Set von Mustern hervorbringt und fortschreibt und insofern stereotypisierend wirkt. Die bildliche Darstellung des/der anderen hat immer etwas mit Aneignung und Zurichtung zu tun und bietet zugleich eine Möglichkeit der Subjektkonstitution – in dem Fall als männlich. Wir können dieses Setting mit Jacques Lacan psychoanalytisch erklären oder, und dazu neige ich eher, mit geschlechtsabhängigen Zugangs- und Ausschlussmechanismen durch Institutionen, Medien und Märkte. Als im März 2019 die amerikanische Malerin und Performancekünstlerin Carolee Schneemann (geb. 1939) starb und in Nachrufen gewürdigt wurde, ist mir noch einmal sehr bewusst geworden, dass es zumindest in den 1960er/70er-Jahren eine dezidiert feministische Ästhetik gab und geben musste, für die entscheidend war, dass die Künstlerin ihr eigenes Modell war, also volle Verfügungsmacht über ihren eigenen Körper und dessen Bild besaß und daraus eine starke Position als Subjekt generierte. Dieses Thema des visuellen Zugriffs und der Verfügbarkeit 7 Sigrid Ruby, Macht und Ohnmacht des Privaten: Die Gemälde der dames au bain, in: Kristina Deutsch, Claudia Echinger-Maurach u. Eva-Bettina Krems (Hg.), Höfische Bäder in der Frühen Neuzeit. Gestalt und Funktion, Berlin/Boston, MA 2017, 204–225.
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als Bild beschäftigt uns bis heute und ganz aktuell angesichts der Selfie-Kultur. Jede/r kann heute jederzeit Fotos von sich selbst nahezu global verbreiten, mithin sein oder ihr digitales Image selbst gestalten. Dass diese Selbstbilder oft einer normativen Ästhetik und Genderstereotypen folgen, ist zu erwarten. Das liegt aber interessanterweise auch daran, dass seitens Instagram diejenigen Fotos gelöscht werden, die konventionellen Geschlechterdarstellungen nicht entsprechen. Im Auftrag von Facebook sind tausende Zensorinnen und Zensoren, meist in Manila, Bombay und andernorts in Südasien, tätig, um vermeintlich anstößige Bilder zu löschen. Die beiden jungen Künstlerinnen und InstagramNutzerinnen Arvida Byström und Molly Soda haben 2016 mit ihrem Buch „Pics or It Didn’t Happen“ darauf aufmerksam gemacht. Der Band versammelt über 260 als gefährlich, unangemessen oder schädlich eingeschätzte und deshalb von Instagram-Konten gelöschte Fotografien, mehrheitlich Selfies. Muster der Selektion, des Ein- und Ausschlusses, des Bildwürdigen und Darstellbaren oder aber Nicht-Opportunen und Anstößigen werden so erkennbar – und sie gelten vor allem für weibliche Körperbilder.8 Eine eigene Brisanz der Thematik sprichst Du nicht nur den Bildthemen und künstlerischen Techniken zu, sondern auch den Sammlungen und Präsentationsformen von Kunst in Museen und Galerien. Wo liegen diese Ambivalenzen – in der Trennung der Räume oder in anderen Aspekten? Das Problem besteht meines Erachtens darin, dass wir mit der Gründung von Frauenmuseen die Sonder- beziehungsweise Ausnahmestellung der Künstlerin im System bekräftigen und verstetigen – statt Mechanismen von Ein- und Ausschluss zu untersuchen, kritisch zu reflektieren und möglichst auch einzudämmen. Die Kunstgeschichte der großen, durchweg männlichen Künstler ist natürlich ein historiografisches Konstrukt, dessen geschlechterdiskriminierende Grundannahmen und Konsequenzen für den Betrieb die US-amerikanische Kunsthistorikerin Linda Nochlin bereits 1971 gründlich herausgearbeitet hat. Viktoria Schmidt-Linsenhoff wiederum hat in den 1980er-Jahren, in Reaktion auf erste Künstlerinnen-Ausstellungen und die Gründung von Frauenmuseen in Deutschland, darauf hingewiesen, dass diese Unterfangen von einer „unsäglichen Bescheidenheit“ seien. Die „eigentliche Brisanz“ der Forderung nach Frauenmuseen läge „in der Skandalisierung der öffentlichen Museen als zutiefst 8 Arvida Byström u. Molly Soda (Hg.), Pics or It Didn’t Happen. Images Banned from Instagram, München/New York 2016; vgl. auch die Ausstellung „Virtual Normality – Netzkünstlerinnen 2.0/Women Net Artists 2.0“, die vom 12. Januar bis 21. Mai 2018 im Museum der bildenden Künste Leipzig zu sehen war, sowie den gleichnamigen Katalog, hg. von Alfred Weidinger u. Anika Meier, Wien 2018.
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sexistisch verfaßte Institutionen“.9 Ungeachtet dieser Kritik, die ich teile, geben die sogenannten Frauenmuseen bis heute vielen historischen ebenso wie zeitgenössischen Künstlerinnen Sichtbarkeit und die Möglichkeit zu einem ersten Auftritt. Die Ausstellung der Kunst von Lotte Laserstein (1898–1993) zuletzt im Städelmuseum in Frankfurt am Main zeigt aber auch, wie lange es unter Umständen dauert, bis eine Künstlerin den Sprung aus dem Kontext des ,verborgenen‘ beziehungsweise Frauenmuseums in das ,richtige‘ Museum schafft. Inwiefern beschäftigen Dich die angesprochenen Fragen in Deinen eigenen Forschungen und wie werden sie dort adressiert? In früheren Forschungsarbeiten habe ich mich mit Bildern der Favoritin des Königs in der französischen Renaissance beschäftigt. Dabei spielten auch Räume und Raumzuordnungen eine Rolle. Im französischen Schlossbau der Frühen Neuzeit, der zunehmend symmetrisch arrangierte Flügelarchitekturen entwickelte, standen dem Herrn/Fürsten und seinem Gefolge der eine, der Herrin/ Fürstin und ihrem Gefolge der andere, gegenüberliegende Flügel zu. Die Zuordnung des linken beziehungsweise rechten Flügels entsprach der Anordnung der Geschlechter auf dem Allianz- oder Ehewappen. Besonders klassisch ist das unter Ludwig XIV. beim Schloss Versailles gegeben, man findet das aber in den Grundzügen auch schon früher, im 16. Jahrhundert, auch bei den Residenzen des Adels. Diese Zuordnung reagiert flexibel auf einen jederzeit möglichen Besuch des Königs, dem dann das hierarchisch höherstehende Gemach, also Räumlichkeiten im Sektor des Hausherrn, zustand. Die Favoriten und Favoritinnen des Königs spielten in ihren eigenen Residenzen mit dieser räumlichen Anordnung und ihrer Semantik. Ganz im Sinne der Intersektionalität gibt es hier interessante Verschränkungen von gesellschaftlichem Stand beziehungsweise Status am königlichen Hofe einerseits und Geschlecht andererseits, die anhand der Raumdisposition und -zuordnung greifbar werden. Welche Perspektiven ergeben sich aus den aktuellen Forschungen und Studien für die Historiografie der Kunstgeschichte insgesamt – inwiefern kann die Konstellation von Raum und Geschlecht einen zentralen Aspekt auch für die Auseinandersetzung mit ästhetischen Fragen darstellen? Und welche Rolle spiel(t)en künstlerische Ausdrucksformen für die Konstruktion beziehungsweise Dekonstruktion von Geschlechterbildern in ihrer räumlichen Zuordnung?
9 Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Sexismus und Museum, in: kritische berichte, 13, 3 (1985), 42–50, 47.
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Im Grunde steckt eine Antwort schon in Deinen Fragen: Wir müssten noch genauer erforschen und tun das ja auch, welche Rolle die konkret gebauten Räume, aber auch Bilder und visuelle Anordnungen für die Ausbildung von Geschlechterrollen spielten und spielen. Das gehört wiederum in eine übergeordnete Forschungsagenda der historischen Bildwissenschaften und Visual Culture Studies. Denn wir wissen eigentlich noch immer viel zu wenig darüber, wie Räume, Bilder und das Visuelle als formative Kräfte in gesellschaftliche Prozesse aller Art eingebunden sind und dann auch – zum Beispiel diskursanalytisch – präzise untersucht und interpretiert werden können. Der sogenannte „iconic turn“ und all seine Varianten basieren ja auf der Annahme, dass mittlerweile und zumal im Zeitalter der Neuen Medien Sinn vor allem bildlich produziert wird. Im engeren Feld meiner aktuellen Forschungen interessiert mich insbesondere die notorische Geringschätzung des privaten Raums, der traditionell weiblich kodiert ist, aber auch geschlechts- und milieu- oder ständeübergreifend wichtig zu untersuchen ist10 – hinsichtlich seiner konkreten räumlichen Beschaffenheit und Ausstattung wie auch in seiner bildlichen Darstellung und multimedialen Inszenierung als ein Ort von Macht, die auch für uns Wissenschaftlerinnen nur sehr bedingt zugänglich war und ist.
10 Sigrid Ruby, Das Dorf in den Künsten, in: Werner Nell u. Marc Weiland (Hg.), Dorf. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2019, 243–256.
Londa Schiebinger interviewed by Claudia Opitz-Belakhal and Sophie Ruppel (2018)*
On Gender, Knowledge and Academic Career**
Londa Schiebinger ist eine der renommiertesten Historikerinnen an der Schnittstelle von Geschlechtergeschichte und Wissens- beziehungsweise Wissenschaftsforschung. Die vielfach ausgezeichnete Professorin an der Stanford University lehrt dort nicht nur History of Science, sondern ist auch Direktorin des internationalen Projektverbundes „Gendered Innovations in Science, Health and Medicine, Engineering and Environment“. Mit ihren Arbeiten – insbesondere zu Frauen und Geschlechterperspektiven in den frühen Naturwissenschaften – hat sie auch im deutschsprachigen Raum Generationen von Studierenden geprägt.1 Das von ihr 2014 herausgegebene monumentale, vierbändige Werk „Women and Gender in Science and Technology“2 behandelt nicht nur Fragen nach den sozialen Kontexten von Wissenschaftlerinnen oder den epochal unterschiedlichen medizinisch-gesellschaftlichen Definitionen von Geschlecht, sondern zeigt auch eine beeindruckende Fülle an Forscherinnen und Forschern, die im Feld von Geschlecht und Wissenschaft arbeiten. Vergangenheit und Gegenwart sind dabei gleichermaßen im Fokus. * Claudia Opitz-Belakhal ist Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Basel und seit 2011 Mitherausgeberin von „L’Homme. Z. F. G.“. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit, der historischen Männlichkeitsforschung, der Historischen Anthropologie und der Geschichte der Emotionen. Sophie Ruppel ist Privatdozentin und Lehrbeauftragte am Departement Geschichte der Universität Basel. Sie beschäftigt sich mit Briefforschung und Mediengeschichte, der Geschichte der Familie und Verwandtschaft, Historischer Anthropologie sowie Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, verbunden mit geschlechtergeschichtlichen Fragestellungen. ** Zuerst veröffentlicht in L’Homme. Z. F. G., 29, 1 (2018): Wissen schaffen, hg. von Claudia Opitz-Belakhal u. Sophie Ruppel, 119–125. Erscheint hier mit aktualisierter Einleitung. 1 Vgl. etwa Londa Schiebinger, The Mind Has No Sex? Women in the Origins of Modern Science, Cambridge, MA 1989 (dt.: Schöne Geister. Frauen in den Anfängen der modernen Wissenschaft, Stuttgart 1993); dies., Nature’s Body. Gender in the Making of Modern Science, Boston 1993 (dt.: Am Busen der Natur. Erkenntnis und Geschlecht in den Anfängen der Wissenschaft, Stuttgart 1995). 2 Londa Schiebinger (Hg.), Women and Gender in Science and Technology, 4 Bde., London 2014.
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Londa Schiebinger steht so für eine historische Geschlechterforschung, die wissenschaftliches Arbeiten mit politischen Anliegen verbindet und jüngere Kolleginnen und Kollegen maßgeblich inspiriert. Neben geschlechtergeschichtlichen Fragen befasst sie sich vor allem mit dem Spannungsfeld von Medizin, Botanik und Kolonialismus. In ihrer 2017 erschienenen Studie „Secret Cures of Slaves. Peoples, Plants and Medicine in the Eighteenth Century Atlantic World“ fragt sie nach verschiedenen Formen des Wissens und nach den unterschiedlichen (Ver-)Wertungen von Wissensbeständen.3 Claudia Opitz-Belakhal and Sophie Ruppel: First of all, thank you so much that you agreed to give this interview for our “L’Homme” issue on knowledge, science and gender! In your work, especially regarding the early modern period, you have illustrated that women have always been part of processes of the production of knowledge and that they have contributed to scientific developments. Why then is it especially in the eighteenth and nineteenth centuries that people were so eager to naturalise gender stereotypes in medical treatises, anatomical studies etc. and thereby to exclude women from scientific work, asserting that they were – by nature – not capable of theoretical/scientific thinking? Londa Schiebinger : Biological determinism, the notion that by nature women are incapable of doing great science, arose in the eighteenth century as an integral part of the new democratic orders in the US and France, and the rise of modern science. It is so difficult even today for us to shake off naturalised notions of gender because they were built deeply into the structure of modern society and science. The eighteenth-century “woman question” – the question of women’s proper role in modern society – was answered with science. With the waning of European corporate society, political theorists from John Locke to Jean-Jacques Rousseau came to identify the (mythic) individual endowed with inalienable natural rights as the foundation of the state. This new political order was grounded in Nature and natural law. Science, as the knower of nature, came to arbitrate social debates. Within this revolutionary liberal framework, an appeal to natural rights could be countered only by proof of natural inequalities. In other words, if social inequalities – the slavery of Africans in the US and the continued disenfranchisement of women – were to be justified, scientific evidence had to show 3 Londa Schiebinger, Secret Cures of Slaves. People, Plants, and Medicine in the EighteenthCentury Atlantic World, Stanford 2017; vgl. auch dies. u. Claudia Swan (Hg.), Colonial Botany. Science, Commerce, and Politics in the Early Modern World, Philadelphia 2005.
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that human nature is not uniform but differs according to race and sex. My book “The Mind Has No Sex? Women in the Origins of Modern Science”4 details the appearance of the first female skeletons in European anatomy. And it was these skeletons (or scientific representations of female “nature”) that came to define the position of women (especially white middle-class women) in European society at large and in science in particular. In the eighteenth century, great debate arose over the specific strengths and weakness of the female skeleton, focusing on depictions of the skull as a measure of intelligence and the pelvis as a measure of womanliness. These purportedly objective renderings of female nature showed that woman was destined to have children and to nourish them. Thus, women’s exclusion from science was rendered “natural” and just, something guaranteed by the claim of scientific objectivity. Even today (socio-)biological arguments determine the gender debate in many contexts and in public opinion, and people do not distinguish between sex as a biological marker and gender as a socially constructed set of behaviours, beliefs, etc. Again and again women are said to be more capable of one thing, men of the other etc. for example with brain research in view. In your opinion, why are these ideas about a female/male nature so long-lasting? Yes, I’ve heard that this is a problem in Germany. In the US, since Lawrence Summers was fired as the president of Harvard University (in 2006) for saying that women are intrinsically incapable of great science, we have not had such a problem. In fact, scholars – both liberal and conservative – now agree that women are as capable in maths as men. The turning point was a number of articles showing that girls outperform boys in maths in several countries around the world. If maths genuis is biological, boys should universally outperform girls. An interesting study by Jonathan Kane and Janet Mertz analysed Maths Olympiad winners from East and West Germany before 1989. Interestingly, they found girls from former East Germany among medallists but zero girls from former West Germany. Since these German populations are genetically similar (one might assume), we need to analyse cultural influences to account for this stark difference. Of course, the West has long had Barbie dolls; in 1992, Barbie informed her young owners that “maths class is tough”. So, we in the US have largely given up on the biological determinist argument. Now, the low numbers of women in maths, physics, and electrical engineering are explained by preference. Girls just aren’t interested. Of course, we need to analyse and understand how cultural norms shape individual preferences. Gender remains a primary social category of power and privilege in Western cultures. 4 Schiebinger, The Mind, wie Anm. 1.
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But because these structures of power were developed in the eighteenth century, these can also be rebuilt to advance equality in the twenty-first century. The title of our special “L’Homme” issue – “Wissen schaffen” – could best be translated as “Producing Knowledge”, as we want to stress that “knowledge” is not only produced within universities and scientific institutions. Our readers will be confronted with knowledge from inside the academic world as well as from their edges or from outsiders. Given the exclusion of women in institutionalisation and professionalisation processes of the nineteenth century and beyond – where and how can one search for the “hidden contributions” of women in modern history of knowledge and science? Women are now making visible contributions to human knowledge. While women were “invisible” scientific assistants in the past, we are now professors, often developing new perspectives, asking new questions, and opening new areas to research. These new questions often emerge from our social experiences and from what has long been considered women’s work in society. There is evidence to show that diversity in research teams can lead to diversity in research methods. Mathias Nielsen and I recently published findings in “Nature Human Behaviour”5 that established an empirical link between increasing the numbers of women in academic medicine and enhancing excellence in research by incorporating gender and sex analysis. We can also see that diversity in participation leads to diversity in research questions. Historical examples suggest that women’s headway into traditionally male-dominated disciplines has coincided with expanding research agendas. As I argued in “Has Feminism Changed Science?”, during the 1980s and 1990s, the proportion of women entering the US academic medicine sparked analysis of traditionally under-researched areas of women’s health, such as heart disease, breast cancer, urology and autoimmune diseases.6 Similarly, the rapid growth in women primatologists in the 1970s and 1980s sparked key scientific breakthroughs that debunked traditional sex-based stereotypes about non-human primate behaviour. And women, along with men drawn from diverse backgrounds, entering the humanities and social sciences over the past thirty years have initiated new research paradigms. History, for instance, has added won-
5 Mathias W. Nielsen, Londa Schiebinger et al., One and a half million medical papers reveal a link between author gender and attention to gender and sex analysis, in: Nature Human Behaviour, 1 (2017), 791–796. 6 Londa Schiebinger, Has Feminism Changed Science?, Cambridge, MA 1999.
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drously new research fields from women’s history to gender history and the history of the household to the history of sexuality, etc.7 In your work, the (post-)colonial perspective on the history of knowledge and science is crucial. Where do you see the methodological challenges of such an approach – and how to overcome them? Robert Proctor and I have developed a methodology – agnotology – important for all periods of history but of particular value for colonial history.8 In my “Plants and Empire: Colonial Bioprospecting in the Atlantic World”, I develop an instance of agnotology associated with abortifacients.9 Historians have rightly focused on the explosion of knowledge associated with the scientific revolution and global expansion, and the frantic transfer of trade goods and plants between Europe and its colonies. While much literature on colonial science has focused on how knowledge is made and moved between continents and heterodox traditions, in this book I explored an important instance of the non-transfer of important bodies of knowledge from the New World into Europe. This “agnotology”, or the study of culturally-induced ignorances, serves as a counterweight to more traditional concerns for epistemology. Agnotology refocuses questions about “how we know” to include questions about what we do not know, and why not. Ignorance is often not merely the absence of knowledge but an outcome of cultural and political struggle. Nature, after all, is infinitely rich and variable. What we know or do not know at any one time or place is shaped by particular histories, local and global priorities, funding patterns, institutional and disciplinary hierarchies, personal and professional myopia and much else as well. I am interested in understanding how bodies of knowledge were constructed, but more interested in analysing culturally produced ignorances of nature’s body.10 And I applied agnotology using Maria Sibylla Merian’s beautiful plant, the flos pavonis, to present not a history of a great man or a great woman, but of a great plant in order to understand how trade winds of prevailing opinion impeded knowledge of New World abortifacients from reaching Europe. The problem with the type of Atlantic World history I do is sources. Europeans have been the focus of colonial science and medicine because they wrote extensively about it (and in the languages many of us readily read). Amerindians 7 Londa Schiebinger, Frauen forschen anders. Wie männlich ist die Wissenschaft?, München 2000. 8 Robert N. Proctor u. Londa Schiebinger (Hg.), Agnotology. The Making and Unmaking of Ignorance, Stanford 2008. 9 Londa Schiebinger, Plants and Empire: Colonial Bioprospecting in the Atlantic World, Cambridge, MA 2004. 10 Schiebinger, Nature’s Body, wie Anm. 1.
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and African slaves by contrast, left no written documents in the eighteenth century detailing their use of plants and medicines in the Caribbean. This means that our access to their practices is filtered through European texts. While we can glean much from these sources, the many African and Amerindian naturalists active in these areas largely remain faceless and nameless – often referred to as a “slave doctor”, or a “Negro doctor”. Although we do not have accounts of African or Amerindian medical techniques from their own hands, we can glimpse their expertise in tropical medicines by probing and working in new ways with traditional sources. In “Secret Cures of Slaves: People, Plants, and Medicine in the Eighteenth-Century Atlantic World”, I shift focus from the “republic of lettered men” (or even women) to the “republic of plants”.11 What can the circulation of plants themselves tell us about the provenance of a cure? And about whose knowledge is embedded in a particular cure? I find using plants as historical actors interesting and potentially opening new questions for historians. For many academics of the younger generation today the issue of work-life balance has become a central issue. Female as well as male academics, who face parental responsibilities struggle to fulfil the demands of academia that include mobility, an immense workload and often precarious job situations. You and your husband Robert N. Proctor, who is a historian of science, have raised two children and nevertheless both of you have followed your academic interests. How do we have to deal with the issue of parenthood and science/academia in future times? Things have changed dramatically in this arena. When I had my children, now 28 years ago, I was careful to hide my pregnancies from my colleagues. I did not want that image of me “with child” imprinted on their minds. I was able to do that by having children on research leaves. Today, at least in the History Department at Stanford, we celebrate children. Our departmental chair – whether a man or a woman – will ask, how can we help? University policies are increasing geared to assist academics integrate their working and private lives. First, our national study of “Dual Career Academic Couples” (Stanford 2008) found that more women professors have academic and professional partners than men. Therefore, it is crucial that universities have mechanisms for considering a partner for hire. My husband and I have been together for nearly 40 years. We were a couple hire at the Pennsylvania State University and also at Stanford. This allowed us to work in the same place and then also manage to have children. Secondly, universities should implement a housework benefit. Our study found that women professor do much more housework than men professors. We 11 Schiebinger, Secret Cures of Slaves, wie Anm. 3.
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published a separate article recommending that US universities – which offer many benefits from healthcare to retirement – also offer a benefit to support housework. This would be important for equalising working conditions for men and women. At the same time, we were careful to work with an organisation of housekeepers to make sure that these jobs would be well paid with full benefits. So, universities, governments and corporations are crucial in providing employees with the conditions to support their professional work. Parental leaves, daycare supports, etc. are all necessary. Some companies, such as Google, have gone even further. They help with laundry, provide lots of food and generally attempt to fulfil the role of a traditional housewife – if I can put it that way. Throughout your academic work you have researched on the complex relations between gender and science. In 1999 the title of one of your books you already mentioned was “Has Feminism Changed Science?”. No doubt, many achievements have been made since then. The acceptance of research fields such as gender and science today is doubtlessly something we owe to your generation. Nevertheless, nowadays, nearly 20 years later and facing a political comeback of masculinities we had already thought to be dead, the question you asked in 1999 is still there: Has feminism really changed science? Or do we need a renewal of feminism even inside universities? There is no turning back. Gender analysis in research has made structural changes that will not be undone. As your readers know, diverse gender perspectives are becoming mainstream. Funding agencies, such as the European Commission and the US National Institutes of Health for example, ask applicants to explain how sex and gender analysis is relevant to their proposed research. Further, editorial boards of peer-reviewed journals, such as “The Lancet” and the International Committee of Medical Journal Editors, require sophisticated sex and gender analysis when selecting papers for publication. For biomedical and health research, it is now clear that sex must be considered as a biological variable. Even university curricula more often include gender. This is commonplace in the social sciences and humanities – a History Department would be remiss not to incorporate women’s and gender history in their offerings. Even in medical schools, this is becoming standard practice. The Charit8 Universitätsmedizin Berlin, for example, has successfully integrated gender medicine into their curriculum. And even industry, companies such as Google and Facebook, are increasingly aware that incorporating the smartest aspects of gender can open new markets, and that products that meet the needs of complex and diverse user groups are a win-win: these products are valued by consumers and enhance global competitiveness for corporations.
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Governments and universities in the US and Western Europe have taken three strategic approaches to gender equality over the past several decades. And I think that on all fronts there is no turning back. We have done much to “fix the numbers of women” in many fields (physics, philosophy, economics and parts of engineering being exceptions). We have done much to “fix the institutions” to promote gender equality in careers through structural change in research organisations. And, importantly, we are doing much to “fix the knowledge”, i. e. to stimulate excellence in science and technology by integrating sex and gender analysis into research. This is what I call “gendered innovations”, something that is catching fire globally. If we would really succeed in creating universities in which men and women hold the same number of professorships, leading positions or research projects in any field of science, how would science look like? How would it differ from todays’ academic world? Would not this be wonderful! What you suggest would be a bold experiment – and I look forward to the results!
5. Postkoloniale Blicke und Interventionen
Ruth Roach Pierson im Gespräch mit Erna Appelt (1999)*
Über die Schwierigkeiten ,weißer‘ Frauen, ihre Beteiligung an imperialistischer und rassistischer Wissensproduktion zu erkennen**
Ruth Roach Pierson, die an der Yale University in den USA promovierte, war bis zu ihrer Emeritierung 2001 Professorin für Geschichte am Ontario Institute for Studies in Education an der University of Toronto, Kanada. Sie lehrte dort women’s history und post colonial studies und erhielt für ihre Forschungen zahlreiche Preise und Ehrungen, unter anderem 1987 den Preis der Kanadischen Historikervereinigung und 1991 den Hilda Neatby Prize des Canadian Committee in Women’s History. Sie war 1989 Mitbegründerin und -herausgeberin der Zeitschrift „Gender & History“ und auch Mitherausgeberin der „Women’s History Review“. Pierson forschte und publizierte vor allem in den Themenbereichen der Historischen Soziologie und der Sozialgeschichte, der Frauengeschichte Kanadas während des Zweiten Weltkrieges sowie im Themenbereich Kolonialismus, Imperialismus und Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zu ihren wichtigsten Publikationen zählen das 1998 erschienene Werk „Nation, Empire, Colony : Historicizing Gender and Race“ sowie der Sammelband „Writing Women’s History : International Perspectives“, den sie 1991 zusammen mit Karen Offen und Jane Rendall herausgegeben hat. Seit den 1990er-Jahren ist Pierson auch literarisch tätig und hat für ihre Gedichte mehrere Preise erhalten. Im Rahmen einer Vortragsreise 1997/98 an mehrere deutschsprachige Universitätsstädte, die Ruth Roach Pierson auch nach Wien führte,1 hat sie einige * Erna Appelt war bis Ende 2016 Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck und setzte sich maßgebend für die Institutionalisierung der Gender Studies in Forschung und Lehre ein, u. a. als Mitbegründerin des Interfakultären Masterstudiums „Gender, Kultur und Sozialer Wandel“. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte liegen in der politikwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung, insbesondere der feministischen Staats- und Demokratietheorie, Gleichstellungspolitiken sowie Care Studies. Von 1990 bis 2005 war sie Mitherausgeberin von „L’Homme. Z. F. G.“. ** Zuerst veröffentlicht in L’Homme. Z. F. G., 10, 1 (1999): Citizenship, hg. von Erna Appelt, 101–109. Erscheint hier mit erweiterter und aktualisierter Einleitung und geringfügiger sprachlicher Bearbeitung. 1 Ruth Roach Pierson hielt im Januar 1998 an der Universität Wien einen Vortrag zum Thema „Die Beteiligung weißer Frauen an imperialistischer und rassistischer Wissensproduktion“.
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Postkoloniale Blicke und Interventionen
Thesen vorgetragen, mit denen sie auf das Fortbestehen von rassistischem und imperialistischem Denken im akademischen Bereich aufmerksam machen wollte. Dabei verwies sie besonders auch auf die Beteiligung ,weißer‘ Akademikerinnen an dieser imperialistischen und rassistischen Wissensproduktion. Pierson argumentiert, dass auch feministische Wissenschaftlerinnen keineswegs dagegen immun sind, sich an einer Wissensproduktion zu beteiligen, die imperialistisches und rassistisches Denken und Verhalten (re-)produziert. Erna Appelt: In Deinem Vortrag greifst Du die Kritik des Black Feminism und der Subaltern Studies auf, die sich vehement gegen eine undifferenzierte Verwendung eines einheitlichen Begriffs ,Frauen‘ zur Wehr setzen und die auf die fortbestehende Hegemonie des eurozentristischen Denkens hinweisen.2 Damit schließt Du Dich der Meinung an, dass rassistisches und imperialistisches Gedankengut auch heute tief im akademischen Lehrbetrieb der westlichen Welt verankert ist. Welche Entwicklungen hast Du diesbezüglich in den letzten Jahren beobachten können? Ruth Pierson: In den letzten Jahren konnten wir beobachten, dass die akademische Welt Nordamerikas zu einem Ort der Auseinandersetzungen über den zulässigen Kanon von Texten und Lehrbüchern geworden ist. Diese Auseinandersetzungen beinhalten immer auch Fragen der Repräsentation. Es geht also um die Fragen, welche Texte in den Literaturwissenschaften, in der Geschichtswissenschaft, in der Philosophie und Soziologie etc. zugelassen beziehungsweise welche Texte bis heute ausgeschlossen werden. Es wird die Frage aufgeworfen, um welche Werke dieser Kanon erweitert werden soll, aber auch, wer diese Fachliteratur unterrichten soll. Diese Auseinandersetzungen tangieren nun aber die Politik der Repräsentation in beiden Wortbedeutungen, nämlich im Sinn der ,Vertretung‘ und im Sinn der ,Darstellung‘.3 Tatsächlich hat sich im Bereich der Women’s Studies heute an Das vorliegende – als E-Mail-Interview geführte – Gespräch beruht auf einer nicht publizierten Fassung dieses Vortrags. Einige Passagen der Antworten sind dem Vortragsmanuskript entnommen und wurden von Pierson für das Interview autorisiert. 2 Vgl. Norma Alarcjn, The Theoretical Subject(s) of This Bridge Called My Back and AngloAmerican Feminism, in: Gloria Anzaldua (Hg.), Making Face, Making Soul. Hacienda Caras: Creative and Critical Perspektives by Women of Color, San Francisco 1990, 356–369; Dionne Brand, Bread Out of Stone, in: Libby Seheier u. a. (Hg.), Language in Her Eye: Writing and Gender, Toronto 1990, 45–53; Lee Maracle, Racism, Sexism and Patriarchy, in: Himani Bannerji (Hg.), Returning the Gaze: Essays on Racism, Feminism and Politics, Toronto 1993, 122–130; Chandra Talpade Mohanty, Under Western Eyes: Feminist Scholarship and Colonial Discourses, in: dies. u. a. (Hg.), Third World Women and the Politics of Feminism, Indianapolis 1991, 51–80. 3 Gayatri Chakravorty Spivak verknüpft den Unterschied zwischen „representation“ und „re-presentation“ mit jenem zwischen „a proxy and a portrait“ (einem Stellvertreter und einem Portrait). Die Autorin stützt diese Unterscheidung auf eine Interpretation von Karl
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einigen Universitäten und in einigen Verlagen eine Art Kanon etabliert. Der Bereich der Women’s Studies ist jedoch mittlerweile selbst ein Kampfplatz hinsichtlich der Frage der lnvolviertheit in imperialistisches und rassistisches Denken geworden. ,Nicht-weiße‘ feministische Theoretikerinnen werfen immer lauter die Frage auf, inwieweit Women’s Studies selbst an der Produktion imperialistischen und rassistischen Denkens mitbeteiligt sind. Zusätzlich sehen sich Vertreterinnen des White Feminism mit Herausforderungen konfrontiert, die aus der Perspektive der Subaltern Studies sowie aus postkolonialer Perspektive an sie gerichtet werden. Das gilt ganz besonders für die Kritik an der fortbestehenden neokolonialen Hegemonie des Eurozentrismus.4 In den letzten Jahren sind in den USA und in Kanada wichtige Aufsätze und Bücher erschienen, die dem Black Feminism, Lesbian Feminism oder den Subaltern Studies zuzurechnen sind. Auch in renommierten Zeitschriften wie „Signs“, „Feminist Studies“ etc. kommen diese Standpunkte in regelmäßigen Abständen zu Wort. Bist Du der Meinung, dass ein erheblicher Teil der Women’s Studies in den USA und in Kanada dies mehr oder minder ignoriert beziehungsweise große Schwierigkeiten hat, diese Erkenntnisse in die eigene Forschungs- und Lehrpraxis zu integrieren? Trotz dieser Herausforderungen der letzten Jahre lässt sich an unzähligen ganz alltäglichen Beispielen belegen, wie stark rassistisches Gedankengut im akademischen Betrieb und auch in der Frauen- und Geschlechterforschung verankert ist. Dies trifft auch für den Bereich der Women’s Studies zu, wo frau vermutlich erwartet hätte, ein gemeinsames Verständnis von Unterdrückung und somit eine größere Bereitschaft zur kritischen Selbstanalyse zu finden. Marx’ „The Eighteenth Brumaire of Louis Bonaparte“ und hebt hervor, dass diese zwei unterschiedlichen Bedeutungen im Deutschen durch zwei verschieden Begriffe repr äsentiert werden, nämlich ,vertreten‘ und ,darstellen‘. Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak ?, in : Cary Nelson and Lawrence Grossberg (eds.), Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana 1988, 275–280. 4 Vgl. Paul Gilroy, The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness, Cambridge, MA 1993; Werner Sollors u. Maria Diedrich (Hg.), The Black Columbiad: Defining Moments in African American Literature and Culture, Cambridge, MA/London 1994; Patrick Williams u. Laura Chrisman (Hg.), Colonial Discourse and Post-Colonial Theory : A Reader, New York 1994; Anne McClintock, Aamir Mufti u. Ella Shohat (Hg.), Dangerous Liaisons: Gender, Nation & Postcolonial Perspectives, Minneapolis 1997; Frederick Cooper u. Ann L. Stoler (Hg.), Tensions of Empire: Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley/Los Angeles/ London 1997; Deepika Bahri u. Mary Vasudeva (Hg.), Between the Lines: South Asians and Postcoloniality, Philadelphia 1996, 54–63; Edward W. Said, Culture and lmperialism, New York 1993; George J. Sefa Dei, Anti-Racism Education: Theory and Practice, Halifax 1996.
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Obwohl die Beispiele, mit denen ich mich beschäftige, eher eine ,Montage‘ als ein lineares Argument darstellen, glaube ich, dass wir anhand dieser heterogenen Beispiele ein gewisses Muster erkennen können, wie rassistisches und imperialistisches Denken aufrechterhalten wird. Dabei beziehe ich mich auf die Überlegungen von Philomena Essed, die betont hat, dass sich Alltagsrassismus immer aus einer Kette von Ereignissen zusammensetzt.5 Keine der von mir analysierten Begebenheiten passierte von selbst oder ohne eine längere Vor- und Nachgeschichte oder außerhalb eines verzweigten und unterstützenden Netzes von ähnlichen Beispielen und ihren Konsequenzen. Kannst Du beschreiben, wie Du Dich dieser Problematik genähert hast? Ich habe versucht, eine Art Eigen-Ethnografie (wie es Regina Schulte genannt hat) zu entwickeln. Die Fälle, die ich analysiert habe, stammen alle in irgendeiner Hinsicht aus meiner eigenen Erfahrung als ,weiße‘, heterosexuelle Mittelschichtfrau, als Geschichtswissenschaftlerin und Universitätsprofessorin. Nun betrachte ich mich selbst keineswegs als immun gegen Denkprozesse und intellektuelle Tendenzen, die ich hier ans Licht bringen möchte. Ganz im Gegenteil, gerade weil ich symbolisch und faktisch in den elitären Rassismus und Imperialismus der akademischen Welt verwickelt bin, weiß ich, worüber ich rede, und fühle mich verantwortlich, dies auch auszusprechen. Könntest Du das anhand von Beispielen etwas näher erläutern? Die Beispiele, in denen ich als Lehrende und als Wissenschaftlerin selbst zur Produktion rassistischen und imperialistischen Wissens beigetragen habe, würden vielleicht ein Buch füllen. Hier sei jedoch zur Illustration zunächst nur eines erwähnt: Seit Jahren entwickle und lehre ich Kurse über die Geschichte des Feminismus, zuerst an der Memorial University in Neufundland, ab 1980 am Ontario Institute for Studies in Education an der University of Toronto, meinem derzeitigen Arbeitsplatz. Noch bis in die späten 1980er-Jahre verwendete ich in meinen Kursen Texte von Charlotte Perkins Gilman (1860–1935), einer ,weißen‘ Amerikanerin, einer Nationalistin, Sozialistin und radikalen Feministin als ein Beispiel für eine Denkerin, deren Theorie über die Entwicklung der Geschlechterbeziehung auf Männer und Frauen anwendbar sei. Nun war mir zwar bewusst, dass Gilman ein gewisses Maß an Mittelschichtsprivilegien in ihrer Zuhörerschaft annahm und dass sie über Einwanderer und Einwanderinnen, die nicht angelsächsischer Herkunft waren, abschätzige Bemerkungen machte. Aber 5 Vgl. Philomena Essed, Understanding Everyday Racism: An Interdisciplinary Theory, New York 1991.
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erst in den späten 1980er-Jahren wurde mir durch einen einflussreichen Artikel von Susan Lanser6 klar, dass Gilmans berühmtes Werk „The Yellow Wallpaper“ (1892) von der rassistischen Angst vor der ,gelben Gefahr‘ geprägt war. Jedoch hatte ich mir damals noch nicht eingestanden, dass der Kern von Gilmans Theorie ein Zivilisationsdiskurs war, der den ,Weißen‘ eine Vorherrschaft einräumt. Ich übersah die Tatsache, dass ihre Theorie auf einer mutmaßlichen Rückständigkeit der afrikanischen Amerikaner/innen beruhte und sogar der Fortsetzung dieses Konzeptes dienlich war. Ich übersah schließlich auch die Tatsache, dass die ,Rasse‘, auf die sich Gilman bezog, nicht die ,menschliche Rasse‘ im Sinne des Menschengeschlechts, wie ich immer geglaubt hatte, sondern die ,weiße Rasse‘ war. Ich übersah die Tatsache, dass die Zivilisation, die Gilman fördern wollte, eine exklusiv,weiße‘ Zivilisation war und dass die Frauen, für die sie einen gleichen Zugang zu dieser Zivilisation verlangte, ,weiße‘ Frauen waren und zudem ,weiße‘ Frauen der Mittelschicht. Erst als ich Gail Bedermans „Manlines and Civilization“7 las, wurden mir die rassistischen Scheuklappen bewusst, die ich in meiner früheren Gilman-Lektüre und meinen Vorlesungen über sie getragen hatte. Erst als Bedermans Buch veröffentlicht wurde, war ich bereit, meine Meinung über Gilman zu revidieren. Was alles dazu beigetragen hat, dass ich schließlich bereit war, meine Meinung zu ändern, das ist wohl eine lange Geschichte, die ich hier nur sehr verkürzt wiedergeben kann. Eine besonders wichtige Rolle haben hierbei wohl meine Student/inn/en und Doktorand/inn/en gespielt, die mich sowohl innerhalb als auch außerhalb von Seminaren dazu herausgefordert haben, das enge eurozentrische Denken meiner eigenen Doktorandinnenzeit zu verlassen. Oft haben sie diese Herausforderungen mit Literaturhinweisen belegt, von denen ich sonst nicht erfahren hätte. In Deinem Vortrag hast Du betont, dass Du der Meinung bist, dass antirassistische Forschung und Politik nicht nur jenen überlassen werden sollte, die die volle Wucht von Rassismus und Kolonialismus zu spüren bekommen haben. Du weist gleichzeitig darauf hin, dass Du aufgrund Deiner langjährigen Zugehörigkeit zum akademischen Betrieb, aufgrund von Privilegien Deiner ,weißen Rasse‘ und Berufsposition Einsichten in Schachzüge und Vorgangsweisen bekommen hast, die hinter den Kulissen stattfinden.
6 Vgl. Susan S. Lanser, Feminist Criticism, „The Yellow Wallpaper“, and the Politics of Color in America, in: Feminist Studies, 15, 3 (1989), 415–441. 7 Gail Bederman, Manliness and Civilization: A Cultural History of Gender and Race in the United States, 1880–1917, Chicago 1995, 121–169.
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Ich möchte dies durch ein Beispiel in einer Berufungskommission belegen. Diese Kommissionen sind politische Kampfplätze, es sind Orte, wo Entscheidungen über die Repräsentation von benachteiligten Gruppen im Lehrbetrieb getroffen werden. In dem Beispiel, auf das ich mich beziehe, wurde eine Stelle für feministische Forschung ausgeschrieben. Dabei wurden Kandidatinnen gesucht, deren Lehre und Forschung sowohl von geschlechtertheoretischen als auch ,Rasse‘-kritischen Perspektiven durchdrungen sein sollte. Nun wurden in diesem Auswahlverfahren ausgerechnet an die einzige ,nicht-weiße‘ Kandidatin Anforderungen gestellt, die an die ,weißen‘ Kandidatinnen nicht gestellt wurden. Von der ,nicht-weißen‘ Kandidatin wurde verlangt, eine ihrer zentralen Kategorien, nämlich die Kategorie ,Rasse‘, zu erklären, wohingegen von den ,weißen‘ Kandidatinnen nicht verlangt wurde, ihre analytischen Kategorien, also ,Rasse‘, Gender oder Klasse usw. zu erklären. Mit dem Vorwurf gegen die einzige ,nichtweiße‘ Kandidatin, eine wichtige soziale Kategorie nicht definiert zu haben, und mit dem Unterlassen des gleichen Vorwurfs den anderen Kandidatinnen gegenüber legte die Berufungskommission an die einzige ,nicht-weiße‘ Kandidatin Maßstäbe an, von denen bei den anderen abgesehen wurde. Solch eine Aussonderung der einzigen ,Nicht-Weißen‘ für eine zusätzliche Befragung ist von Philomena Essed als rassistischer Mechanismus der ,Problematisierung‘ identifiziert worden.8 In meinem Beispiel wurde die Methodik der einzigen ,nicht-weißen‘ Kandidatin problematisiert, nicht jedoch die Methodik der anderen Kandidatinnen. Nun ist die Situation in Berufungskommissionen vor allem deswegen so heikel, weil die Spielregeln vorgegeben sind und oft nicht bewusst gemacht werden und weil sie sich sehr häufig gegen benachteiligte und ausgeschlossene Gruppen richten. Oft genug meinen auch wohlmeinende Kommissionsmitglieder, bestimmten Zwängen zu unterliegen, und wollen die Nach- oder Neubesetzung der wenigen heiß umkämpften Stellen nicht durch ein Hinterfragen der Spielregeln gefährden. Besonders schwierig ist es aber, solche Vorkommnisse an die Öffentlichkeit zu bringen, weil von Kommissionsmitgliedern absolute Vertraulichkeit erwartet und gefordert wird. Wissenschaftliche Tagungen und Konferenzen bezeichnest Du zu Recht als einen weiteren Ort der Auseinandersetzung um ausgegrenzte Wissensgebiete. Im Rahmen der Vorbereitung einer Konferenz über Gleichberechtigung, an der du beteiligt warst, wurde von der Konferenzorganisatorin der Titel eines Referates („Rasse, Geschlecht und Behinderung: Macht und das Überdauern von Beschränkungen der Chancengleichheit“) kritisiert. Könntest du etwas näher schildern, wie das vor sich gegangen ist? 8 Vgl. Essed, Understanding Everyday Racism, wie Anm. 5, 114.
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Ja, die Organisatorin der Konferenz, eine ,weiße‘ Feministin, sandte weit und breit Einladungen für eine Tagung über Gleichberechtigung aus. Doch angesichts der bestehenden Strukturen an unseren Universitäten meldeten sich meist Frauen aus etablierten Gruppen, hauptsächlich ,weiße‘ Frauen in abgesicherten Positionen. Ich selbst hatte mich verpflichtet, dafür zu sorgen, dass auch weniger etablierte Gruppen zu Wort und sogenannte Randthemen zur Sprache kommen würden. So gelang es mir, die Konferenzorganisatorin zu überzeugen, ein Gruppenreferat von vier Personen aufzunehmen, das sich mit der Problematik des Zugangs zu akademischen Positionen für Benachteiligte (ich spreche hier von Benachteiligungen aufgrund von ,Rasse‘, sozialer Schicht, Behinderung und sexueller Orientierung) beschäftigen sollte. Die verantwortliche Organisatorin teilte mir nun mit, dass sie „ein Problem“ mit der Formulierung des Themas des Gruppenreferats („Rasse, Geschlecht und Behinderung: Macht und das Überdauern von Beschränkungen der Chancengleichheit“) hätte. Ihrer Meinung nach „sollte der Titel nicht auf das unterdrückte Opfer hinweisen“, wie es die Formulierung „das Überdauern von Beschränkungen“ nahelegen würde. Sie hätte gehofft, „diese Art von Sprache hinter sich zu lassen“, da Wörter wie „Beschränkung, Macht usw. nach einem Jahrzehnt Gebrauch ziemlich abgedroschen“ seien. Wenn frau/man jedoch auf einer akademischen Tagung nicht klar über den fortdauernden Rassismus sprechen kann, wie können Rassismus und fortdauernder Imperialismus dann in der Forschung diskutiert werden? Das Leugnen von Rassismus und Imperialismus und damit das Versäumnis, die eigene Positionierung kritisch zu überdenken, kann zu erheblich verzerrten Darstellungen und zur widerspruchslosen Reproduktion von rassistischen und imperialistischen Perspektiven führen. Wir müssen uns also klarmachen, was es bedeutet, wenn eine ,weiße‘ Feministin, die nun gut etabliert ist, es nicht länger für nötig erachtet, von Beschränkungen und Macht zu sprechen, wenn sie nicht erkennt, welche Bedeutung diese Begriffe für nach wie vor benachteiligte Gruppen haben, und wenn sie vor allem ihre eigene Beteiligung an der Benachteiligung anderer Gruppen nicht erkennen kann oder will. In Deinem Vortrag gehst Du auch auf die problematische Art und Weise ein, wie die Kolonisierung und die damit verbundene Erniedrigung der Ureinwohner/ innen neuerdings zu einem Thema der kanadischen Nationalgeschichte gemacht wird. Dazu muss man wissen, dass in vielen Teilen Kanadas noch bis in die 1970erJahre ,indianische‘ Kinder zwangsweise ihren in Reservaten lebenden Familien entrissen und in Internate gesteckt worden waren, die von katholischen oder protestantischen Missionaren geleitet wurden. In diesen Schulen wurde den
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Kindern in ihrem ,eigenen besten Interesse‘ ein Assimilationsprogramm der grausamsten Art aufgezwungen. Es wurde ihnen zum Beispiel verboten, in ihrer Muttersprache zu sprechen, Geschwister wurden getrennt, um zu verhindern, dass sie in ihre eigene Sprache zurückfielen; den Kindern wurde verboten, Kulturbräuche oder Religionsvorstellungen ihrer Gemeinschaften aufrechtzuerhalten; es wurde ihnen gesagt, dass dies rückständige abergläubische Vorstellungen seien; sie wurden daran gehindert, die in der Welt ihrer Eltern und Großeltern geläufigen Fertigkeiten zu erlernen; der Schwerpunkt der Erziehung lag auf dem Erlernen westlicher, städtischer Fertigkeiten des industriellen Lebens; und einige dieser Kinder wurden körperlich und sexuell missbraucht.9 Das alles unter dem Vorwand, diese jungen Leute in gute Kanadier/innen zu verwandeln. In den letzten Jahren haben einige Überlebende dieser ,gut gemeinten‘ Assimilationsbemühungen autobiografische Berichte veröffentlicht, und einige ,weiße‘ Historiker/innen haben begonnen, diese Form des Imperialismus einzugestehen. Gleichzeitig konnten wir in den letzten Jahren verstärkt Tendenzen beobachten, die ich als „imperialistische Nostalgie“ bezeichnen möchte und die auch als ein „Aufessen des Anderen“ bezeichnet wurden. Darunter verstehe ich jene Auffassung, die zum Beispiel von einer Betreuerin einer Doktorarbeit vorgebracht wurde, die das Wiederbeleben ,indianischer‘ Folklore in einem positiven Licht sehen möchte, weil es ein Hinweis für den Respekt für die ,indianische‘ Kultur sei und dazu beitragen würde, eine ,kanadische‘ Identität hervorzubringen. Dem habe ich entgegengehalten, dass ich es keineswegs als eine positive Entwicklung ansehen könne, wenn ,weißen‘ euroamerikanischen Kindern beigebracht wurde, ,indianische‘ Tänze rund ums Lagerfeuer aufzuführen, Bohnen auf ,indianische‘ Art zu backen, die Namen von ,Indianerstämmen‘ für Zeltlager anzunehmen usw. Wie können wir dies als positive Entwicklung betrachten, wenn zur gleichen Zeit den Kindern der Urbevölkerung die letzten Überbleibsel ihrer Sprachen und Kulturen regelrecht hinausgeprügelt wurden? Sogar ihre Geburtsnamen wurden ihnen weggenommen. Wessen ,kanadischer‘ Identitätsbildung ist dies dienlich und was sagt es darüber aus, wenn die ,kanadische‘ Identität so gebildet wurde? Meine Kollegin, die sich für die Wiederbelebung der ,indianischen‘ Folklore stark gemacht hatte, war durchaus offen für meine Argumentation, da sie zu dieser Zeit gerade dabei war, die Leute in ihrer protestantischen Kirchengemeinde von der Notwendigkeit zu überzeugen, sich für das, was in den residential schools passiert ist beziehungsweise für die Assimilationspraktiken zu 9 Cilia Haig-Brown, Resistance and Renewal: Surviving the Indian Residential School, Vancouver 1986.
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entschuldigen. Einerseits war das Denken meiner Kollegin von der offiziellen Politik geprägt, die die Verletzungen, die den Ureinwohner/inne/n von der europäischen Siedlungspolitik und vom kanadischen Staat zugefügt wurden, als massives Unrecht eingesteht. Andererseits hatte ihre Denkweise zur gleichen Zeit dem Drang nachgegeben, etwas Erlösendes aus dieser schrecklichen Geschichte zu retten. Das häufige Vorkommen von ,indianischen‘ Bildern und Symbolen in der Alltagskultur und die Aneignung von religiösen Glaubensvorstellungen der ,Indianer‘ durch ,Nicht-Indianer‘, die in erster Linie der nordamerikanischen Konsumgesellschaft entfliehen wollen, sind Beispiele dafür, was bell hooks als „das Aufessen des Anderen“ bezeichnet hat oder was Renato Rosaldo „imperialistische Nostalgie“ nennt. Es sind scheinbar harmlose Handlungen, wenn frau/man Tomahawks sammelt, wenn frau/man Jugendlichen beibringt, wie ,Indianer‘ leise durch das Gebüsch im Wald zu kriechen. In Rosaldos Analyse unterstützen sie jedoch damit einen ,sentimentalen‘ Diskurs, in dem die Trauer „um das Dahinscheiden der traditionellen Gesellschaft“ sich mit dem Mythos „des aussterbenden Wilden“ verbindet und damit eine Nostalgie für „das Bezwungene“ hervorruft. „Imperialistische Nostalgie“ dient also als „Maske der Unschuld“ für diejenigen, die darin schwelgen, „um ihre Verwicklung in ihre Vorherrschaftsprozesse zu vertuschen“.10 Wie wurden Deine Thesen auf Deiner Vortragsreise durch Europa aufgenommen? Um ein Beispiel dafür zu geben, wie groß der Widerstand ist, rassistische und imperialistische Haltungen zu erkennen und einzugestehen, möchte ich eine Episode aus einer Diskussion nach einem meiner Vorträge erwähnen. In diesem Vortrag bin ich auf die erzwungene Assimilation der Kinder der Ureinwohner/ innen und auf die Rolle der christlichen Kirchen dabei eingegangen. Eine Zuhörerin, die selbst in der Frauenforschung tätig ist, stellte im Anschluss an den Vortrag die These auf, dass die Missionare im Grunde nichts anderes gemacht hätten als das, was Eltern mit ihren Kindern machen, wenn sie sie dazu zwingen, etwas zu lernen, was diese nicht lernen wollen. Aus dieser Wortmeldung ging hervor, dass sich diese Kollegin in einem imperialistischen und kolonialistischen Diskurs bewegt. Da sie die Voraussetzun10 „Imperialist nostalgia revolves a paradox: a person kills somebody and then mourns his or her victim. In more attenuated form, someone deliberately alters a form of life and then regrets that things have not remained as they were prior to his or her intervention. At one more remove, people destroy their environment and then worship nature. In any of its versions, imperialist nostalgia uses a pose of ,innocent yearning‘ both to capture people’s imaginations and to conceal its complicity with often brutal domination.“ Renato Rosaldo, Imperialist Nostalgia, in: Representations, 26 (1989), 107–122, 108.
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gen dieses Denkens nie in Frage gestellt hat, hält sie die Anwendung von Zwang im Rahmen eines imperialistischen und kolonialistischen Projekts für ,zivilisierend‘ und ,wohlmeinend‘. In diesem Sinn sieht sie nicht die Gewaltsamkeit dieses Unternehmens, wenn sie es mit der Disziplinierung der Kinder durch Eltern vergleicht. Dass sie Imperialisten mit Eltern vergleicht und die Betroffenen des imperialistischen Unternehmens mit Kindern, ist ein vielsprechendes Signal für ihre lnvolviertheit in den europäischen ,Zivilisationsdiskurs‘. Sie artikuliert damit ihren Glauben in den Prozess der Evolution, in dem die ,Zivilisation‘ der ,weißen‘ Europäer/innen und ihrer nordamerikanischen Nachkommen als überlegen und Imperialisten als Erwachsene, die eine weniger entwickelte Kultur ,zivilisieren‘, angesehen werden. Wenn eine Feministin so eine Frage stellt, dann bedeutet das, dass sie sich gänzlich ,unschuldig‘ hinsichtlich ihrer Beteiligung an diesem hegemonialen Diskurs fühlt. Welches Muster konntest Du aufgrund der Montage der von Dir beobachteten akademischen Praktiken erkennen? Wie interpretierst Du diese zahlreichen Beispiele von ,privilegierter‘ Blindheit gegenüber Rassismus und Imperialismus, gegenüber Ausgrenzung, gegenüber der Aneignung einzelner Elemente der Kultur der Kolonisierten, um die Herrschenden selbst zu ,erlösen‘? Mein Anliegen ist keineswegs, ein paar Missetaten aufzudecken oder Missetäterinnen zu entlarven. Ganz im Gegenteil: Die Beispiele, die ich hier gebracht habe, sind nicht isolierte unzusammenhängende Ereignisse. Es stimmt zwar, dass zumindest ein Faden, der diese scheinbar heterogenen Beispiele zusammenhält, meine ,Beteiligung‘ an allen in der Rolle der Mittäterin oder in der Rolle der Kritikerin ist. Aber obwohl erst meine Gegenwart diese Montage möglich gemacht hat, existieren die einzelnen Beispiele unabhängig von mir. Die Beispiele rassistischer und imperialistischer Wissensproduktion mögen zwar unterschiedlich aussehen, und die Schauplätze, an denen sie sich abspielen, mögen verschieden sein. Nichtsdestotrotz stehen sie weder isoliert noch abgesondert da, sondern wirken zusammen und sind Bindeglieder in einer langen, ununterbrochenen Kette und in einem verzweigten Netzwerk von vielen anderen ähnlichen Fällen. Anders ausgedrückt, sie sind Teil einer rassistischen und imperialistischen Wissensproduktion, die das ganze Gesellschaftssystem durchdringt. Rassistische und imperialistische Praktiken und Denkprozesse haben zumindest zwei Ziele: Erstens soll die Hierarchie beziehungsweise die dominante Stellung einer Gruppe gesichert und bewahrt werden, und zweitens soll diese Dominanz unangefochten bleiben. Meine Hoffnung ist unter anderem, dass diese Überlegungen dazu dienlich sein mögen, uns zum Denken anzuregen, zum Denken darüber, wie schwierig es ist, bei der Produktion jeglichen Wissens über
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uns selbst und andere Personen die Beteiligung an rassistisch-imperialistischen Gesellschaftssystemen aufzudecken, ohne den Anschein zu erwecken, dass die Leistungen und die Strapazen, die diese Personen auf sich genommen haben, angezweifelt werden sollen. Ich muss es anderen überlassen, die Unterschiedlichkeit der Reaktionen auf die hier formulierten Herausforderungen zu erklären. Sie reichen von Fehlerakzeptanz bis hin zu unbekümmerter Leugnung oder ausgeklügelter Abwehr. Mir selbst ist durchaus bewusst, dass die Demontage von rassistischen und imperialistischen Wissenssystemen für diejenigen von uns schwierig ist, die selbst Nutznießer/innen dieses Systems sind.
Joan W. Scott interviewed by Dörte Lerp and Tobias Metzler (2003)*
After 9/11: Disturbances and Reverberations**
Die mit vielen Auszeichnungen gewürdigte Historikerin und mittlerweile emeritierte Professorin an der School of Social Science am Institute for Advanced Study in Princeton, New Jersey, Joan Wallach Scott, ist Mitbegründerin der Geschlechtergeschichte1 und Autorin zahlreicher Bücher und Aufsätze zur Geschichte der Frauenbewegung und des Feminismus2 sowie zur postkolonialen Geschlechtergeschichte.3 Auch zu (demokratie-)politischen Fragen der Gegenwart nimmt Scott immer wieder Stellung.4
* Dörte Lerp arbeitet als Historikerin in Berlin. Sie forscht zur Geschichte des internationalen Tourismus und des europäischen Kolonialismus. In ihren Publikationen befasst sie sich zudem mit Fragen der Geschlechtergeschichte und der postkolonialen Erinnerungskultur. Tobias Metzler ist seit 2012 als Dozent für transnationale und globale Studien an der Thammasat University in Bangkok tätig und zudem Fellow des Parkes Institute for the Study of Jewish / non-Jewish Relations in Southampton. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen neben stadtgeschichtlichen Fragen Aspekte der neueren Kulturgeschichte sowie die Beschäftigung mit transnationalen Netzwerken und glokalen Identitätskonstruktionen. ** Zuerst veröffentlicht in L’Homme. Z. F. G., 14, 2 (2003): Leben texten, hg. von Susanna Burghartz u. Brigitte Schnegg, 366–374. Erscheint hier mit erweiterter und aktualisierter Einleitung und geringfügiger sprachlicher Bearbeitung. 1 Vgl. dazu ihren wichtigen und einflussreichen, das Paradigma der Geschlechtergeschichte begründenden Aufsatz: Joan W. Scott, Gender : A Useful Category of Historical Analysis, in: The American Historical Review, 91, 5 (1986), 1053–1075 (dt.: Gender: Eine nützliche Kategorie der historischen Analyse, in: Nancy Kaiser (Hg.), Selbst Bewußt. Frauen in den USA, Leipzig 1994, 27–75); vgl. auch dies., Die Zukunft von gender. Fantasien zur Jahrtausendwende, in: Claudia Honegger u. Caroline Arni (Hg.), Gender. Die Tücken einer Kategorie. Joan W. Scott, Geschichte und Politik, Zürich 2001, 39–63. 2 Joan W. Scott, Gender and the Politics of History, New York 1988 (überarb. Aufl. 1999 und 2018); dies., Only Paradoxes to Offer : French Feminists and the Rights of Man, Cambridge, MA u. a. 1996; dies., Feminism and History, Oxford/New York 1996; dies., The Fantasy of Feminist History, Durham 2011. 3 Joan W. Scott, The Politics of the Veil, Princeton/Oxford 2007; dies., Sex and Secularism, Princeton/Oxford 2017. 4 Vgl. dazu auch das jüngste Buch von Joan Wallach Scott, einen Band mit Aufsätzen: Knowledge, Power, and Academic Freedom, New York 2019.
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Auf der 12. „Berkshire Conference on the History of Women“, die von 6. bis 9. Juni 2002 an der University of Connecticut zum Thema „Local Knowledge – Global Knowledge“ stattfand, hielt sie unter dem Titel „Feminist Reverberations“ einen viel beachteten, aber auch heftig diskutierten Hauptvortrag. In diesem setzte sie sich mit den Erkenntnismöglichkeiten auseinander, die ihrer Meinung nach in der Geschlechterforschung für die Analyse der aktuellen politischen Lage – ein Dreivierteljahr nach den Anschlägen vom 11. September 2001 – liegen. Ihr Konferenzbeitrag ist auf Deutsch in „WerkstattGeschichte“ unter dem Titel „Feministische Echos und Nachbeben“ erschienen.5 Sie schreibt hier im Angesicht der „moralischen Mobilmachung“ durch die Bush-Administration nach 9/11: „Wir benötigen die feministische Analyse von Identitätskategorien nicht nur, um Machtverhältnisse aufzudecken, die durch vorgeblich zeitlose, natürliche und universale binäre Gegensätze konstruiert werden, sondern auch, um diese Kategorien zu kontextualisieren und zu historisieren. Die feministische Methodologie hat uns gelehrt, nach Abweichung, Differenz und Konflikten zu fragen, wenn uns allzu klar gefasste Einheiten präsentiert werden, nicht nur, wenn es sich um ,Mann‘ oder ,Frau‘ handelt. Auf der Grundlage unserer Methodologie sollten wir, selbst wenn wir keine Expertinnen auf diesem Gebiet sind, davon ausgehen, dass es weder einen uniformen Islam gibt noch einen einheitlichen Nahen Osten. Es handelt sich dabei um politisch bequeme Etiketten, die die Unterschiede von Staaten und Regimes und religiösen Bewegungen in der Region verdecken, darunter auch islamische feministische Bewegungen, die neue Interpretationen des Koran entwickeln, um Forderungen nach Veränderungen des Status der Frauen zu rechtfertigen. […] Wir haben gelernt – manchmal schmerzhaft –, diese sehr verschiedenen feministischen Konzepte anzuerkennen und zu akzeptieren, dass sich Feminismus auf eine Vielzahl von oft konfligierenden Bewegungen bezieht.“6
Im März 2003 hat Joan Scott einen weiteren wichtigen Vortrag zum Thema „Feminism’s History“ im Rahmen des Graduiertenkollegs „Wandel der Geschlechterkulturen“ am Interdisziplinären Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung (IZFG) der Universität Bern gehalten.7 Die damaligen Berliner StudentInnen Dörte Lerp und Tobias Metzler haben den Besuch von Joan Scott in der Schweiz genutzt, um am 7. März 2003 das folgende Interview über den Berkshire-Vortrag von Joan Scott und die sich daraus ergebenden Überlegungen zur damals aktuellen politischen Lage zu führen.
5 Joan W. Scott, Feministische Echos und Nachbeben, in: WerkstattGeschichte, 33 (2002), 59–77. 6 Scott, Feministische Echos, wie Anm. 5, 67f. 7 Vortrag in deutscher Übersetzung: Joan W. Scott, Geschichte der Feministinnen, in: L’Homme. Z. F. G., 14, 2 (2003), 313–336. Auf Englisch: dies., Feminism’s History, in: Journal of Women’s History, 16, 1 (2005), 10–29.
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Dörte Lerp and Tobias Metzler : You gave this paper as a keynote address at the Berkshire Conference entitled “Local Knowledge – Global Knowledge”. Why did you choose to talk about reverberations in this context? Joan W. Scott: Because I was looking for a way to avoid the simple opposition of global and local, the notion that there was a global set of events or processes and then local reactions to them or that there where local reactions that then affected the global. The notion that there was a clear opposition between the two seemed to me overly schematic in terms of representing the kinds of issues I wanted to do. Global local presumes some kind of large scale/small scale separation that I think is often less the case. What reverberations do is imply that things happening in one place set off reactions in other places. But it is never quite clear what the origins of the sound or the sensation are. What I was looking for was something that was more about interaction, intercausal effects and causes that were not as easily separated as local and global. To me reverberations seemed to do that in a useful way. To what extent was this paper directed at a specific audience of American women’s or gender historians? Well, there was a double agenda. The Berkshire Conference of women’s history is always an international conference and I knew that there would be a fairly sizeable international contingent of women’s historians there. What I wanted to do was suggest to them that there was a voice – it was not my voice only –, a position in American politics that was at odds with the prevailing image of a homogeneous, patriotic American national position. And I wanted the notion that there were dissenting voices to be heard. So, first, I knew that it was going to be an international audience and I wanted to speak to them. Secondly, I knew that there would be differences of opinions among Americans in the audience. At that moment, in the post-September 11 politics, there was still very little articulated opposition to the outpouring of patriotism that followed September 11. I felt it was time to have some articulation of opposition. Now, since the pressure for war on Iraq has been building in the last few months, it becomes evident that there are millions of people in the United States who do not agree with the foreign policy of the Bush administration. It was harder to see that last June and it felt to me imperative to say something about it. Tangled into this and not entirely separate from it was the increasingly clear position the Bush administration was taking on the Israel/Palestinian question. George W. Bush promised when he was running for office that he would find a negotiated settlement for the Middle East and that there would be a Palestinian
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State supported by America – and in fact there was a large Muslim vote for Bush because of that promise for and the commitment to a Palestinian state. Having seen that promise abandoned and American policy so clearly one-sided in favour of Israel and Sharon and the Bush administration equating all Palestinians with terrorists, I felt somebody had to say something about that. Particularly as a Jew who is profoundly critical of Israeli foreign policy, watching the discussion become a discussion in which criticism of Israel was always dismissed as antisemitism made me furious. So it felt particularly important for a Jewish voice – and I was not the only one, again, there were lots of people who signed petitions saying “as a Jew I can not support the policy of Israel” – but also in the context of this talk to make that a public statement. So that is what I was doing as well. How would you explain to European readers the specific problems critical scholars in the US have to face after September 11? Well, I think it has changed now, but in the immediate aftermath of September 11 people were just stunned. And I think partly they were stunned because, as you already know in Europe, Americans have a sense of complete invulnerability. War has never happened on our territory. The sense that there was some kind of clever organised attack on the tallest symbol of American capitalism, the financial capital of New York and of the world, was hugely symbolic but also horribly real. The destruction of thousands of lives was terrifying and initially nobody knew how to respond. You could not say as some Europeans did: “Well, the Americans had it coming. Finally they experience something that many of us have experienced for years.” You could not say this, given the powerful destruction of life that had happened. So it was very hard to find the right critical position. You could not say ‘we deserved it’. It was even difficult to say that American foreign policy had helped to sow the seeds of this hatred because that seemed to be justifying terrorism and this kind of terrorism is unacceptable to – I would say – most American Leftists. It was really difficult to find the place from which to articulate a critique that did not seem insensitive to what had happened or supportive of terror, a position subtly nuanced enough in its critique of American foreign policy to enter the conversation and to have some weight in some way or another. What I find frustrating is the Left’s inability in the United States to turn that sorrow and unhappiness and pain into an opposition to the war against Iraq. Some people are trying to do that. There are parents and families of people who died in the trade towers on September 11, who are as a group opposed to the war in Iraq on the grounds that they do not want to do that to anybody again. But the far more terrifying response is the way in which the Bush administration has turned that sense of fear and sorrow into a desire for revenge, first in Afghanistan and now in
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Iraq. There was a poll not long ago that said that something like forty percent of the American people right now think that it was Iraq that bombed the trade towers. That shows how successful the propaganda machine of the Bush administration has been. Do you see the events of September 11 and all that followed them as a setback for feminists and the situation of women around the world in general, and if so in what way? I do not think it was a setback. I think the Bush administration made calculated and cynical use of the feminist question to support a foreign policy that many feminists do not support; which was the notion that we were freeing the ‘poor women’ of Afghanistan from the tyranny of the Taliban. But aside from that, I don’t think the events of September 11 and after had a specific gender dimension. You talk in your paper about a model of interaction as an answer to worldwide political crisis. Do you think that such an approach has any chance against the division of the world into Good and Evil that has been postulated lately? It has to have a chance, otherwise we are lost. There is a very powerful ideological machine that we are working against. I think the only thing people who are ultimately scholars and intellectuals can do is keep poking at it, keep trying to offer different ways of thinking about it, of refusing the Good and Evil story and arguing instead that the story is always more complicated on both sides. What else can we do? I have a part in the Berkshire Conference paper about security regimes where I quote Iris Young. It seems to me that the United States is invoking security as a means of undermining democracy, not only domestically but on the world scale. The Bush administration says that they know what is best for everyone, and they do this in the name of security (we see how empty a promise that turns out to be now in Afghanistan and Iraq). The notion of negotiation, the old vision of internationalism, the notion that you negotiate strategically among different partners is rejected in favour of American unilateralism. When the demonstration happened on February 15, 2003, Bush said he was not going to be moved by a group of people expressing their opinion. They were just a focus group. He was the president, he was the leader, he knew what was good for this country and was going to do it despite what they say. That position flagrantly contradicts the idea that this is a country that is bringing democracy to the rest of the world. Where would you locate the roots of this? Do you think it is really a new quality in the attempt of the US administration to universalise the protection ideology?
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I think there is a sector of the political world in the United States and in the administration represented now by Cheney, Rumsfield and Wolfowitz. This group in the first Bush administration talked about the way in which American world hegemony could be secured now that the Cold War was over and there were no enemies to challenge the ultimate power of the United States. There was a plan for finding the way to guarantee American hegemony, and it involved the destruction of the institutions of internationalism: treaties, conventions, the UN, even NATO, all of those institutions that put limits on the power of the United States. I think they had their chance when the second Bush was elected. I do not think that the father Bush subscribed to this vision of the world. But when Dick Cheney became Vice President and George W. Bush was elected – or stole the election depending on how you see it – this group had its chance to put this into operation. And I think from the beginning you could see Bush doing that. He tore up the Kyoto Treaty. The crisis in North Korea is a result of their dropping the Clinton policy of engagement. They are dropping the notion of being an intermediary in the Middle East in favour of siding with Israel in the Palestinian crisis. They wreaked havoc in the UN over Iraq, which is what I think their strategy wants to do. We were talking about reverberations at the beginning and it is interesting that you prefer to talk about feminist reverberations instead of echoes. Why is that? First, because I wrote a paper where I was already working with the notion of echo8 as a way of thinking about the transmission of ideas and the transformation of them. What I loved about echo was that once an echo gets going you have no idea where it started. It calls into question an easy linear origin story where you started here and ended up there. There was a back and forth motion which is true also of reverberations. The reason that I use reverberation here was partly because of the sense of an earthquake. What I was talking about somehow needed something more material, more physically jarring, more frightening. An echo is fun. Children play with echoes. I remember the first time somebody taught me about what an echo meant. Going into a tunnel, my father said: “Why don’t you shout?” and my voice came back. There is something benign about echo. A reverberation felt more threatening, more dangerous, that there was more at stake. You could feel the sensation and that was why I chose the notion of an earthquake. There were consequences of a seismic kind that I did not feel was implied as strongly with the word echo. 8 Joan W. Scott, Fantasy Echo. History and the Construction of Identity, in: Critical Inquiry, 27, 2 (2001), 284–304.
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You mentioned your paper on “Fantasy Echo”. There you talk about echoes in the context of identity formation. Do you think that the same mechanisms are at work by talking about reverberations? Yes and no. Yes, because in the example that I use in this paper of the Women in Black there is clearly an identification being established. Women in Black know about each other. They know they are connected when they go out and protest as Women in Black even though what they are protesting is completely different in different situations. In the examples I give they are not all the same. So there is a fantasised identification with other women all over the world who are as women engaged in protest. I think there is that phenomenon I tried to describe in the “fantasy echo” paper. But here, maybe because the context is global local and because I am trying to break down that action and response notion and to argue that there is already a set of intersections that have to be explored, it feels that there is a different object. It is not so much the construction of identity as the transmission of ideas and the possibilities for action. So it is a different problematic in some ways. If we think in terms of reverberations or echoes in the realm of historiography we still ask for origins. But do those origins really exist? The sound has to come from somewhere or movement has to come from somewhere or is it that reverberations just produce other reverberations or echoes producing other echoes? I think if you are a historian, there is no real origin. There are reverberations producing other echoes and reverberations. We could say that September 11 was the start of something, but in fact September 11 was a reverberation of American foreign policy and of developments in the Islamic world and the Middle East crisis. To explain anything there is a long history of complicated events and processes that need to be brought together. Every event is over-determined already, and this is also true of an earthquake. An earthquake does not just happen. There are seismic shifts that are going on for years and years and suddenly make themselves felt in a powerful and destabilising way. If you are looking for the explanation, you do not start at the earthquake. They will tell you on the radio afterwards that tectonic plates were shifting for a long while before. I think I was looking for a way to complicate the question of origin and to suggest that there is not a clear place in which this begins. You always have to bring to bear a set of converging determinations that all have their origins, that all come from a set of converging determinations, so that you are never clear on the precise starting point, or you are arbitrary and say : “For the purposes of what I want to say we are starting here.” But you know that you are arbitrary even if you are doing that.
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Where would you place the idea of reverberations in the debate of cultural transfers? That is a good question because that is partly what I had in mind when I was thinking about the global/local stuff. Usually global local was thought about as a kind of authentic culture reacting to a set of global transformations or global influences. In fact, I think it is very hard to find an authentic culture that has not already been transformed in some way or another, and the whole notion of the preservation of an authentic culture is a way of resisting changes that have already taken place. So the reverberations in both directions are already there. The coloniser/colonised exchange is set up as a set of transformations, of behaviours, of conceptual reorientations that are in process already. And thinking of them in terms of reverberations is helpful. The model of the arrows pointing in each direction still posited some entities that were entirely separated from one another. What you want conceptually is the interconnection and the search for the interconnection. The notion of cultures resisting Western influence by arguing that feminism is a Western importation that will corrupt the families and tradition of a traditional society seems to me a political weapon rather than an accurate description of what is going on in the society. So the notion of reverberation carries with it the existence of back and forth influences rather than separated entities which meet and are forced together. You chose the Women in Black as an example of feminist reverberations. Do you think that these forms of mobilisation will be more dominant in feminism or do you think it is just one part of it? I think it is one part. I chose them although it was tricky to do because, as you can see in the article, there is a feminist essentialist reading that you could do of these Women in Black that makes me very uncomfortable. That is not my feminism. But it was such a powerful and good example of reverberations that I think happened in other ways among feminists. I think if you took the term gender and watch what happened to it as it made its little journeys around the world, it is another form of feminist reverberation and a very different one from the example of the Women in Black. But if you ask what are the social movements of the future going to look like: probably Women in Black is a better example than almost anything else you could give. Not so much because of its particular contents, but because of the reverberating form that it takes. In fact I think that is what terrorism is. I think in the aftermath of September 11 the rhetoric of the Bush administration organised all forms of violent protest under the umbrella of terrorism, but there are vast differences among these groups whose example nonetheless influences other
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groups. The possibility of this kind of violent unpredictable interruption of the functioning of the nation state was out there to be borrowed and imitated and put into effect. I really do not think there is the equivalent of a Communist International for terrorism. The imaginary of terrorism now is that there is an organisation called Al Quaida which is the equivalent of a nation state with someone like Bin Laden at the head, giving orders to the world. In fact I do not think that is the case. I think there are loosely organised groups with reverberations among them. This is not to deny the awfulness of terror and the similarities of the action. But I do not think that it is a coordinated centralised movement except in the imaginaries of post September 11 Western nation states. (Israel is part of “the West” for those purposes.) And it is convenient now for various governments to say : “We have terrorists, too. Come and help us to deal with our terrorists.” So I think to the extent you maybe would put terrorism on one side and Women in Black on the other, you have the emergence of disorganised or uncoordinated forms, partly imitated, partly inspired by one another. In the place of centralised organisation, there are reverberations. Although you draw a clear line between the actions of the English suffragists and contemporary suicide bombers, you suggest that those left outside the law are likely to behave unlawfully or even violently. Is physical violence the “right” of the “law-less”? No, but it may be the only recourse. The recourse of those who have no rights. I could see the utter frustration of the Palestinians leading to the kind of terrorist violence that is going on. I do not think they should be doing it, I wish they would stop, I think it is horrible, but when you are denied a voice in the life you are leading, when you are constantly subjected to humiliation, to exclusion, to having your land stolen, what do you do? Somebody said they saw a graffiti in Paris that said something like “Occupation is the infrastructure of terrorism”, and that may be the case in the Israeli/Palestinian conflict. I do not think it is the right of the group to exert this kind of violence, I think it is the utter incapacity to find another way of being seen as a group. That was the link to the English feminists. There too you had this exasperated sense of exclusion. The way to demonstrate the exclusion from the law was to act out. That acting out was a benign version – not always so benign, but compared to terrorist actions – of acting out by powerless people. First I thought of dropping this part. I was always very nervous about keeping it in because it does seem so horrific. And when I gave the talk, one woman got up and walked out at that point muttering to herself: “The idea that there is any similarity between Palestinian suicide bombers and the English feminists is ridiculous.” She was furious. Even after-
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wards I thought of dropping it, but then I thought ‘No’. Because the point is, what happens when you put people outside the law? You cannot expect them to behave lawfully. And whether, as was once the hope, you could have a single state in Israel or, as was then the notion, you could have two states, the recognition of the political autonomy of these people has been brutally denied and frustrated. Shortly after you gave this paper, it was translated into Arabic. This is not really surprising since you addressed the Middle East problem and talked about feminist movements in the Arab world. How do you think your ideas were perceived there? I think the main impulse to have it and to translate it was double. First, these were feminists at this conference and feminism has always had an ambiguous reputation in Middle Eastern countries, because of its connection to the West. It is the notion that I criticise in here, of Western feminism saving the poor benighted women of Afghanistan. That kind of condescending Western feminism is always resented and resisted both by leadership that says that feminism is antithetical to Islam and by Middle Eastern feminists who resent the presumed superiority of Western feminists in relation to Middle Eastern feminists or Islamic feminists. It is not surprising that this paper would be taken as an example of a different kind of feminism and therefore for the purposes of Middle Eastern feminism would be offered as an example not of Western superiority, but of a critical Western voice in relation to Western feminism and American policy. Secondly, it is an American voice breaking with the notion that there is only one American position, which is the pro-Israel position. It would be an example of the fact that there are voices, for their purposes feminist voices in the United States, who are on their side or at least more on their side than they had imagined the case to be. So it was not at all surprising to me that the Middle East would be the first place from which there was an eager attempt to have this paper, as an example of the fact that there could be another view point from the one that was presented or understood to be the dominant American one. Facing as you say with Clifford Geertz “a world in pieces”, should we direct our attention towards the writing of world histories? How could this be done with your concept? I think it is already being attempted. I might be inventing the term reverberations, but I am not inventing the notion that there are complex interconnections that have to be exposed, in place of a notion that there are disparate civilisations that clash or come into contact at a particular moment or are transformed one by the other. There is a lot of that already out there that suggests that you have to
Joan W. Scott (2003)
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rethink world history as a series of intersecting processes rather than of cause and effect, domination and resistance. So I think it is already being done. The political situation has changed a lot since you gave this paper. Would you give it the same way today as you did at the Berkshire Conference in 2002 or would you change anything? The situation has gotten worse, so I think that much of it still remains in a form or sense of things that I would still say, for example the notion of saving women from now it is not only the Taliban but any Muslim fundamentalism. The security regime is even more virulent today. You could extend my critique to more places in terms of what is happening domestically in the United States concerning surveillance, an attempt to bypass ordinary traditional processes, have special courts for traitors and torturing prisoners in the name of outlawing terrorism. More is evident than was evident in June 2002 of the dangers to democracy of a security state. And in fact more is evident internationally in terms of the American assumption of superior vision about what the world needs. And then you have all of the ironies that you could point out more fully now: the situation of Turkey for example where American policy tried to silence a parliamentary vote because the military and the leaders of the government felt it was more important to be on the American side than to listen on their own people. Exactly the opposite of what is supposed to happen is going to happen there. The notion of democracy is being squashed, and the necessity to cooperate with the United States is overriding the democratic expression of the will of the people or some version of the will of the people. So there are more things to be said and more ways to see it. I would have a sense of greater urgency about – as I was talking before – what it means to destroy the institutions of internationalism, and I might emphasise that more than I did in this paper because I did not realise quite what was going on. And I think that I would feel less like a lone voice out there calling attention to these issues than I did in June 2002 because now there are millions of people in the United States who have made it clear that they do not support this policy. They do not support the necessity of war, they are refusing to accept the superior vision of the security state, and they want to have a word about how they think politics should run. There might be more of an emphasis on the way in which the reverberations of dissent have emanated out, maybe on the way in which the internet has provided an extraordinary rapid mobilisation of opposition. You would have to factor in electronic technology into the notion of reverberation. I have not actually thought about that at all. That kind of instant communication the global forces rely on is paralleled by the instant communication available to those who resist
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or refuse to follow the orders that are being given. In those ways I think I would change it. But I think I would stand by what its basic impulses are. One motive was to talk about the ways in which a feminist methodology can address issues of power apart from the one’s that have immediately to do with women. For me this was a very important part of the beginning of this paper or a justification for talking about things that apparently did not have anything to do with them by extending the analysis of power to realms that are not obviously about gender although they are gendered. And the second was to take up the issue of reverberation as a notion that feminists could use to think about their own global/local connections and relationships, to offer an alternative to the simple global/local opposition with the notion of reverberation. Those two things I would stand by. I might have other examples of resistance to add to the Women in Black. There might be other ways of doing the specifics of the argument, but I think the argument by itself still stands.
Michelle Booth interviewed by Antje Schuhmann (2005)*
“Seeing White” – Interrogating Whiteness**
The South African photographer Michelle Booth exhibited her highly discussed show “Seeing White” in Cape Town (2003), Johannesburg (2004) and Sao Paulo, Brazil (2004). Having been involved in anti-apartheid politics since the late eighties, she continued to be active in politics after 1994, hence with a changing approach. Being involved in close personal relationships with Black people in* Antje Schuhmann is Associate Professor at the Political Studies Department at Witwatersrand University, Johannesburg (South Africa) and associated to the WITS Center for Diversity Studies. Her research interests include feminist theories and methodologies, critical diversity studies (special focus on intersections of race, gender, class, sexuality – politics of othering and normativity), body and identity politics including queer theory and sexuality studies, postcolonial theory and critical race theory. Since this text was published about 15 years ago the ways in which “race”, blackness, whiteness, black pain and white privilege and other related concepts as well as racialised realities became contested and partly reframed is remarkable. I therefore want to offer here my 2019 reflections (with Ashleigh Lopez) on the process of 25 years of what is called the “transformation” of South African society ; reflecting not only on the progress made with transformation since the Mandela-era consensus of tolerance and forgiveness at the advent of democracy but also the ruptures this consensus and its “colour-blind” or non-racial discourses faced over the last five years, especially since the protests of the 2015 and 2016 student movements, including the most recent legal challenges to display old symbols of white dominance: “The emergence of the #RhodesMustFall (#RMF) movement in 2015 and consequently the #FeesMustFall (#FMF) protests in South African institutions of higher learning publicly scrutinized the concept of transformation itself in the context of calls for decolonisation, the end of black tax, a critique of white hegemony, structural racism and everyday societal (micro) aggressions, and the expression of black pain. All of this reframed the conversations about race, racial identity and collective responsibility versus individual agency amongst black and white South Africans. It also lead to intergenerational controversies amongst black and amongst white people in relation to what happened; what should have happened – and more importantly what did not happen after the dawn of democracy.” Cf. Antje Schuhmann and Ashleigh Lopez, Building a Future on Toxic Legacies? Whiteness and violent iconographies: The apartheid flag and “Die Stem”, in: Transformation. Critical Perspectives on Southern Africa, 100 (2019), 103–128, 103. ** First published in L’Homme. Z. F. G., 16, 2 (2005): Whiteness, edited by Mineke Bosch and Hanna Hacker, 125–133. This version of the conversation has been slightly revised and the introduction has been updated.
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creased her awareness of the continuing everyday reality of racism in postapartheid South Africa.1 Michelle Booth chose the arts as her actual medium of commitment towards change by identifying dominant concepts of whiteness as still highly problematic. The persistent chance of not seeing whiteness, taking it as a given centre, provides a non-fractured comfort zone of hegemonial white self-identification. A kind of invisible white inner space for those included serving as a comfort zone/centre that is defined by surrounding ethicised and culturally ‘othered’ groups which are excluded from within. Michelle Booth is publicly interrogating whiteness, intending to take away white comfort zones by visualising them as such. “Seeing White” is a compilation of black and white photographs, showing white people within casual everyday situations. Like codes of whiteness are inscribed in collective cultural sign systems and global power relations, Booth irremovably sandblasted citations dealing with whiteness on the shiny glass surface protecting her photos. The spectators’ faces are mirroring in the glass, watching themselves while looking at the photos or reading the inscribed texts. This double, a direct and indirect gaze, creates a feeling of the uncanny, of unhomeliness in the sense of Homi Bhabha’s adaptation of Freud.2 The comments sandblasted on the glass surface of the framed pictures make it obvious that there is no unambiguous, genuine gaze available. Even seemingly harmless everyday situations are scarred by the ‘burden of race’. Antje Schuhmann: I attended a workshop in Cape Town (in 2004). A Black woman was speaking about Black people being collectively traumatised when a white man stood up, demanding that his trauma of having been captured in the golden cage of apartheid has to be acknowledged as well. He argued, as racialised identities were enforced upon all that he also was made a victim by being forced to be involved in something he disapproved. How do you conceptualise whiteness as a point of reference for social change in today’s South Africa? How do you situate
1 In this text I am using Black with capital B in accordance with various Black liberation struggles. Indicating that the category “black” is not referring to any form of perceived physiological difference but instead pointing out that race is a social construct, hence with the concrete manifestations of racism. In such an understanding, the capitalised term Black inevitably links a formerly phenomenological category with antiracist struggles. Meanwhile white is as well a social construct, there is till now no powerful critical reference system one could apply to. Additionally, as a critique of whiteness intends to strip it from its political, cultural, social and economic dominance – hence it makes simply sense to me to castrate it for now at least symbolically and write it with a small w. 2 Cf. Homi Bhabha, The Location of Culture, London/New York 1994. In this book, Bhabha suggests to find the “location of culture” in the marginal, “haunting”, “unhomely” and “hybride” spaces between dominant social formations.
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your artwork in the context of debates around an anti- or non- or post-racial society? Michelle Booth: In this work I want to confront the still assumed ‘normality’ of whiteness, hence why South Africa continues to be an abnormal society. Whiteness – as a system of power relations – remains invisible to those who are white, and consequently white privilege is largely taken for granted. There is no doubt in my mind that whites were also damaged by apartheid. Their humanity was distorted and they were denied the richness of sharing, creating and participating in a non-racial culture. Nevertheless white people need to be aware of their whiteness – not in the sense of being overwhelmed by guilt or of feeling powerless because they are trapped by forces of history bigger than themselves, but aware in the sense that they can take responsibility for the present and the future and not get stuck as ‘victims’ of the past. The victim mentality of being white in the sense “I did not choose to be positioned like that” means inevitably to take advantage of the privileges that whiteness bestows and call it normal, choosing not to see that this is a construct of power which “makes its presence felt in black life, most often as a terrorising imposition, as power that wounds, hurts, tortures”.3 To be aware of your own situatedness – as an individual and as part of a dominant collective even if it is not a chosen position – and to take responsibility is difficult. Even white liberals are so often angry and defensive when attention is drawn to their whiteness or when they are accused of being racist. “Often their rage erupts because they believe that all ways of looking that highlight difference subvert the liberal belief in a universal subjectivity (we are all just people) that they think will make racism disappear. They have a deep emotional investment in the myth of ‘sameness’, even as their actions reflect the primacy of whiteness as a sign informing who they are and how they think.”4 We have to make whiteness explicit in order to be able to strip it of its power to deconstruct itself as the un-interrogated norm. Melissa Steyn speaks about this explicit awareness-raising in a different way. She says that “by becoming conscious of the narratives that inform our identities, we empower ourselves not to continue acting them out”.5 As whites, I believe that we must be willing and able to face ourselves in the way people who are constructed as being not part of the white collective and its privileges perceive us. 3 bell hooks, Black Looks: Race and Representation, Boston 1992, 169. 4 hooks, Black Looks, see note 3, 167. 5 Melissa Steyn, White Identity in Context: A Personal Narrative, in: Thomas K. Nakayama and Judith N. Martin (eds.), Whiteness: The Communication of Social Identity, California 1999, 264–278, 266.
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Non-racialism is about being sensitive to and aware of the fact that because of centuries of slavery and colonialism and apartheid, Black people experience the world differently to those who have white skins. It is to develop what Chinua Achebe calls “imaginative identification”. Once you have begun to imaginatively experience how it might feel to be other than yourself, it is difficult to see the world in the same way. Non-racialism is then about deliberately and sensitively interacting with another person’s realities and to risk being changed by it. Mutual trust is imperative in order to deal with issues of power relations, and it has to be earned. Given the history of oppression, the abuse of power by whites in the past and the continuance of racism in the present, whites need to be specially genuine and self-reflective in their intention and committed in order to make it worthwhile for Blacks to risk making themselves vulnerable in establishing new forms of interaction with us. It is a risky business for both parties. In your conceptualisation of whiteness you stress individual critical self-reflection, but you also depersonalise the state of being white, arguing it is a historically grown, structurally inscribed social system of privilege. I wonder whether dominant concepts of whiteness studies are not intrinsically very ‘white’, reaffirming what they intend to challenge. Let me clarify myself: as whiteness studies are originally an US-American scholarly phenomenon one could argue that most concepts of how to do whiteness studies as a form of “cultural exploration and self-discovery among white Americans […] on the premise that knowledge of one’s own racial background and culture is essential when learning how to relate to people of other racial and cultural groups”6 are shaped by a typical American concept: individualism. The critique of whiteness within this framework has certain limitations: focusing primarily on white identity formations might lead to fade out other forms of violence. Forms of state organised racism like immigration and deportation policies for example or a class-based social stratification, responsible for socio-economic inequality. These are all forms of violence intersecting with racism much more on a structural rather than on an individual level. Keeping this in mind, how do you think we should radicalise – if possible – the critique of whiteness, white privileges and what could this mean in terms of aesthetic expressions? In a system that privileges whiteness, individuals loose their personal characteristics, their histories, relationships and choices. We can no longer “locate racism within the individual and not think institutionally or culturally about 6 Centre for the Study of White American Culture. A Multiracial Organization, at: www.euroamerican.org, access: 4 October 2005.
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racism”.7 This is why these images are not portraits. I am not interested in the individual that I have photographed. They just happen to appear at that place at that time. These individual whites have become signifiers of white people. In this sense I want to depersonalise racism. At the same time I am also interested in debunking the myth of individualism – that at some level we can just be individuals, that we can imagine ourselves as separate from the broader social construct in which we find ourselves and which has shaped our racial identities. I have on purpose not chosen images that also include Black people – I want people to see white people as racialised without the presence of the other. I don’t want to use the “non-white subject […] as a means for knowing the white self”.8 I want white people to be the object and not to have the attention drawn away by the inevitable focus on the relation between Black and white. I don’t want to perpetuate an “impression that whiteness is only white or only matters, when it is explicitly set against non-white”.9 The deliberate use of a plastic camera with very limited technical capabilities is an attempt to further suggest the ordinariness of the images – the ease with which images of whiteness can appear to be normal. I wanted images that portrayed the deliberate normality of every day scenes, which do not appear to have been interpreted by the artist. I want to present a familiar version of reality and then challenge it. My intention is to question ‘the reality’ which constitutes the set of assumptions of white South Africans. But to come back to the other part of your question, one of the interesting things about being white and identified with a struggle that has as its aims to liberate Black people is that at many levels you feel that you no longer identify with the views, hopes and fears of the majority of white people. To some extent one makes a conscious choice to disassociate oneself from the community where one has come from, and yet at another level one is always associated with a white community because at a visual, external level one is white, one has friends and family that still operate within that community, one has a personal history that links one in with a social, economic and political history. It is easy to keep benefiting, to slide back into the comfort zone of privilege. One has to make decisions about how to ensure that one’s complacency does not keep perpetuating a system that is implicit, insidious and seems to operate from some invisible decentred centre. The textual aspects of your work are citing mainly scholarly statements on whiteness. In your work you create a kind of intertextuality between the different 7 Alice McIntyre, Making Meaning of Whiteness, Albany 1997, 87. 8 Richard Dyer, White: Essays on Race and Culture, London 1996, 13. 9 Dyer, White, see note 8, 13.
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authors you are citing on each picture, reflecting your transnational theoretical approach. Next to these obvious theoretical references – do you refer to other artistic expressions in South Africa or internationally? How was your show received and what does this say about still dominant perceptions of whiteness? Several other South African artists, such as Lisa Brice, Brett Murray and the cartoonist Zapiro, deal with whiteness, working largely with humour in a way that allows whites to laugh and cringe at themselves, to feel guilt and to have their common experiences expressed with sensitivity and irony. However, I feel that this work is not challenging enough for whites to be awakened out of their comfort zones. I wanted to make it difficult for white viewers to find an easy way out of seeing that whether they like it or not, they are bound up with this system. I was interested in other artists who use images and words together, such as Duane Michals and Victor Burgin, among others, and I got the idea of using the technique of sandblasting words onto the glass from the work of South African artist Senzeni Marasela who uses text and photographs in her work. I used words to deliberately structure the viewing experience. The formal separation of the image from the text is significant for two reasons. Firstly, in some cases words already exist in the image, which then resonate with the text provided and create further layers of meaning. Secondly, the text is part of the framing of the image – how we view and understand the image. The words are embedded in the glass, a transparent medium that is made opaque by the words. Therefore the words serve to obstruct the transparency of the viewing; they serve to obstruct a reflexive understanding of the image. The framing speaks to how we ‘frame’ or understand and look at our world. It speaks to the lenses of race, class, gender, education, religion, etc. that we look through and understand what we experience. In a way, I am forcing the white viewers to see themselves through the words of people we constantly construct as other and to experience what it might be like to be looked at and to be ‘othered’. For many people this was an uncomfortable experience. Many of them projected their insecurity onto me, blamed people like me who are prepared to take these difficult issues head on for the widening gap between Black and white, and said that I was neurotic. One of the visitors at the Johannesburg opening of the exhibition felt that the exhibition was ten years too late, that we had moved on and she felt personally very angry to have to deal with all of this again. For me this represented that attitude I was trying to get across. Centuries of racial oppression cannot be wished away or dealt with once. We all wish we could “just be human”, but in reality it is my belief that it is only whites who have the luxury of dreaming of that possibility. Black people are made to bear the burden of race all the time.
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Your pictures show mainly public urban spaces as manifestations of whiteness, but the overall image of South African urban life is that public space in inner cities is dominated by the majority of non-middle-class Black people, while urban middle and upper-class white people are locking themselves up in shopping malls, gated communities and office towers. I think it is important to look at the intersections of race and class and how they structure access, for example in reference to urban public or semi-public or private spaces. Where did you take the pictures and what were your criteria for choosing the scenes, people and situations presented in your photographs? This exhibition grew out of my experience of living in Cape Town in the Western Cape Province, which has a very different spatial and social dynamic than other cities in South Africa. The Western Cape is the only province not to have elected an ANC government in the 1994 elections and has been most affected by a legacy of slavery and by the apartheid policy of divide and rule. It is also the only province where Black Africans are not in the majority. It is still socially and culturally very divided, and urban spaces are still dominated by whites, unlike the inner cities of Johannesburg and Durban which conform more to the stereotypical impression of South Africa cities. For some reason (which is the topic of many discussions among those for whom this is a problem) Black people feel unwelcome in many of Cape Town’s public spaces, except ironically some of the shopping malls, and do not feel that they are able to claim these spaces as theirs. This contributes to the sense of still living in a bit of a white bubble. Also from a practical point of view, I wanted to take pictures of people without them being aware of me. This would have been difficult in other kinds of spaces. I also wanted to explore the idea of private versus public identities, in other words, the identities which we construct for ourselves based on our experiences and choices and those identities that are imposed on us by others, those that are socially constructed. Despite the kinds of choices that I have made as a white person in South Africa – when I am walking down the street, I am experienced as white, as having benefited, as being part of the system that benefits whites and oppresses others. This is the burden of race that we have to learn how to bear. I believe that these socially constructed perceptions will only change when there are sufficient individuals who take action to change themselves, their interactions with others and the institutions that affect the society. In most of my works, there is something in the image that relates to the words. In the image where a woman walks out of a cafe next to a lotto stand, the words speak about how being white means that we have a choice of whether to do something about it, that mostly we can get away with not doing anything. Now the concept of the lotto is critical – we did not choose to be white or Black, the ‘universal lotto of life’ allocated us our skin colour. However, we do have a choice
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about what to do with it – to carry on perpetuating a system which continues to privilege us, or to look at how we can ensure that we help to eradicate racism. With reference to the image with the word “scar” in one of the photographs, I am asking us to reconsider what we think is normal about everyday white life. Especially in Cape Town, it is ‘normal’ to go out to a restaurant and there are no Black customers. It is ‘normal’ to go to the theatre and there might be a sprinkling of Black faces. It is ‘normal’ for there to be some Black kids in a mostly white school but not ‘normal’ for there to be a few white kids in a predominantly Black school. What we take for granted as a normal experience is actually a white experience, and it has been constructed by privileging whites and excluding Blacks. When we walk down the street, like this guy in the picture, we are having a normal everyday moment, one that we don’t think of as having anything to do with race. The word “scar” reminds us though that we are fooling ourselves if we think that we have not been affected, scarred by living in very divided society, where race determined everything about our lives – and still does. We are all scarred by apartheid and its legacies in various ways because we were all racialised, even if many whites were not aware of being racialised due to the normative and privileging effects of being constructed as white. Next to the psychological consequences I would like to explore a little bit more the materialised effects of racism, for example in terms of having or not having access to all kind of resources. For many people – as in most countries worldwide – the intersections of race, gender and class defines till today in manifold ways their access to spaces of representation as well as to physical spaces. In which spaces do you prefer to intervene when you exhibit your work: in public spaces or in the centres of cultural and economical white hegemony? Or to put it bluntly : do you choose street billboards or an established white cube/gallery – a centre of cultural and economic white hegemony? You raise some important issues. But in my situation it was my first exhibition, so to some extent I had little choice and took whatever possibilities that existed to show the work. It was important though at some level to be saying these things about whiteness in, as you put it, the centres of cultural and economic white hegemony. Perhaps with a reputation and more confidence and experience I would be able to think about choosing to explore some of the other options in terms of where and how to show my work. I was very conscious, however, of having access to the resources to produce the work as well as paying for it to be shown. I was shocked at how little risk the galleries actually take. Artists are expected to pay a rental to the gallery, pay for the production and postage of invitations and hand over a percentage of any sales. How is anyone with no access
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to resources ever to enter the art world? I did not really expect the work to sell, so it was my own investment in something that I believe is important. I wonder to which extend whiteness is a universal global but yet also a very local phenomenon. When I was travelling for the first time to South Africa, a society I perceived as being racist in very different ways than I was used to within a German context, I felt I needed to reconceptualise my understanding of being white to develop another antiracist approach. How context-bound are the reflections on whiteness you use and produce in your work? The majority of quotes that I used in the work come from British and UK contexts, as well as from a South African source, and made complete sense to me in the South African context, so I would argue that I have used a more universal analysis. Whiteness in South Africa exists in a global context. It has its roots in colonialism, which resulted in a particular set of power relations that I think is both similar and different to other colonised settings. Bizarrely, while white South Africans are aware of historically dominant forms of constantly racialising the surrounding, at the same time they live in denial about how this way of thinking could have possibly effected themselves, about how their own role in relation to the way that white power has and continues to exert itself. This is despite the fact that whites in different cities and provinces in South Africa will experience their whiteness in slightly different ways depending on the particular realignment of political and economic power in those places. In Europe, however, white hegemony exists in a different historical and cultural context but I think is still experienced to be hurtful, racist and discriminatory by those identified as Other. I think it is easier for whites in other countries where they are dominant culturally and politically to hide behind culture in a sense of ‘we [the members of a hegemonically white community] will tolerate you living here, but don’t challenge us, you must fit in with our way of doing and seeing things and don’t expect us to change [our white privilege]’; for societies with numerically as well as socially and culturally and politically white dominance it is easier to not see that they are part of a global set of power relations that perpetuate white western privilege. Global economic power relations, I also see whiteness globally linked to Western capitalism, contribute to and reflect global race relations. In South Africa, we are less able to avoid guilt and issues of responsibility. We cannot outsource the consequences of our privileges like Europe, the starkness of the economic contrast between the majority of Blacks and whites are right there.
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Gayatri Spivak says, “history is larger than personal goodwill and we must learn to be responsible as we must study to be political”.10 Having this in mind, in the context of whiteness creating self-awareness about being white must inevitably lead to take over responsibility – not only for my individual behaviour but also for the collective I am a part of. What could such a sense of broader responsibility indicate in terms of fighting the complex system of racial, social, economic (to name only a few) privileges we are part of ? I believe that we can’t escape history and the consequences of what has come before us. I don’t think that we can be choosy and say, I will accept those consequences because I like them and they benefit me, but I won’t accept these others because they make me feel uncomfortable. Also I believe that we are all interconnected and our futures are irrevocably interlinked. It is an attitude of splitting off our actions and beliefs from their broader consequences on others and the environment that contributes to the state of the world currently. My decision to allow something to continue, whether it is actively taken or passively in the sense of ignoring it or wishing it would go away, implicates me in the outcome. When we recognise that our personal is political, we are forced to take our personal choices and actions more seriously. It is individuals who can make choices about change and who impact on other people through relationships. When individuals come together with commitment, they can change larger situations. We all need to make an impact where we find ourselves, and I do recognise that we all have different levels of capacity. But for many white South Africans “seeing white” is a good place to start.
10 Gayatri Chakravorty Spivak, Cultural Talks in the Hot Peace. Revisiting the “Global Village”, in: Pheng Cheah and Bruce Robbins (eds.), Cosmopolitics: Thinking and Feeling beyond the Nation, Minneapolis 1998, 329–448.
Hanna Hacker im Gespräch mit Claudia Ulbrich (2012)*
Queer entwickeln: Globalisierungs- und Entwicklungskritik in Theorie und Praxis der Globalgeschichte**
Hanna Hacker, eine prominente Vertreterin queer-feministischer Ansätze der ersten Stunde, Soziologin und Historikerin, gehörte von 1991 bis 2012 zum Kreis der Herausgeberinnen von „L’Homme. Z. F. G.“. Ihre 1987 publizierte Dissertation über „Frauen und Freundinnen“ ist mittlerweile zum Klassiker der feministischen Geschichtsforschung geworden und wurde 2015 neu aufgelegt.1 Ebenso bemerkenswert ist ihre Studie über Gewalt und Geschlecht, die sie 1997 an der Universität Wien als Habilitationsschrift eingereicht hatte und 1998 publizierte.2 Von 2011 bis 2014 war Hanna Hacker Professorin für sozial- und kulturwissenschaftliche Entwicklungsforschung an der Universität Wien. Zu ihren Arbeits- und Forschungsschwerpunkten gehören postkoloniale Theorien in feministischer und queer-theoretischer Perspektive, Geschichte von Frauenbewegungen, sexuelle Subjektivität, Körperpolitiken, Sex/Gender-Transgressionen sowie kritische Entwicklungsforschung und Ansätze des Postdevelopment.
* Claudia Ulbrich ist Emerita am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, wo sie von 1994 bis 2015 eine Professur für Neuere Geschichte/Geschichte der Frühen Neuzeit und Geschlechtergeschichte innehatte. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte in diesen Feldern sind mikrogeschichtliche Studien zu Herrschaftsverhältnissen in ländlichen Gesellschaften sowie die transkulturelle Selbstzeugnisforschung und die Geschichte christlich-jüdischer Beziehungen. Von 1996 bis 2018 war Claudia Ulbrich Mitherausgeberin von „L’Homme. Z. F. G.“. ** Zuerst veröffentlicht in L’Homme. Z. F. G., 23, 2 (2012): Geschlechtergeschichte global, hg. von Almut Höfert, Claudia Opitz-Belakhal u. Claudia Ulbrich, 101–106. Erscheint hier mit erweiterter und aktualisierter Einleitung und geringfügiger sprachlicher Bearbeitung. 1 Hanna Hacker, Frauen und Freundinnen. Studien zur „weiblichen Homosexualität“ am Beispiel Österreich 1870–1938, Weinheim 1987; Neuauflage: Frauen* und Freund_innen. Lesarten „weiblicher Homosexualität“. Österreich, 1870–1938, Wien 2015. Vgl. auch dies., Erinnerungen an die Möglichkeit einer Historiografie lesbischer Frauen und die queere Notwendigkeit ihres Verlusts, in: L’Homme. Z. F. G., 28, 1 (2017), 71–88. 2 Hanna Hacker, Gewalt ist: keine Frau. Der Akteurin oder eine Geschichte der Transgressionen, Königstein i. T. 1998.
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Im März 2012 erschien ihr Buch „Queer entwickeln“.3 Mit diesem verfolgt sie das Ziel, einen Beitrag zur kritischen Reflexion globaler Ungleichheit zu leisten und Schlüsselkonzepte aus den Critical Whiteness Studies, Border Studies und der Kritischen Geografie daraufhin zu befragen, inwieweit mit ihrer Hilfe soziale Ungleichheitsverhältnisse besser verstanden werden können. Im Gespräch mit ihr geht es um den Versuch, das Anregungspotenzial ihrer Forschungen für eine geschlechtergeschichtlich orientierte Globalgeschichte herauszufiltern. Claudia Ulbrich: Unter Globalgeschichte wird in den aktuellen konzeptuellen Diskussionen Verschiedenes verstanden: Einerseits geht es um eine Geschichte der Globalisierung, andererseits um eine Form der Verflechtungs- und Beziehungsgeschichte, die nationale Grenzen überwindet und nicht eurozentristisch argumentiert. Wie passen Deine Forschungen zu Entwicklung in diesen Kontext, was überhaupt verstehst Du unter dem Titel „Queer entwickeln“? Hanna Hacker: Den Titel „Queer entwickeln“ verstehe ich in einem doppelten Sinne: Auf der einen Seite geht es um die Frage, inwieweit es wünschenswert ist, aus einer nicht nur feministischen, nicht nur politisch alternativen, nicht nur gendersensiblen, sondern im ganz spezifischen Sinne queeren Perspektive auf das zu schauen, was Entwicklung heißt, wenn von Entwicklungszusammenarbeit, Entwicklungspolitik oder Entwicklungshandeln die Rede ist. Auf der anderen Seite meine ich mit „Queer entwickeln“ auch die Notwendigkeit, dass queere Ansätze, Queer Studies, Queer Politics sich noch stärker als bisher darüber klar werden sollten, in welchem Maße „Entwicklung“ ein Macht-WissensSystem ist, das Ungleichheitsverhältnisse auf globaler Ebene bestimmt, durchzieht und repräsentiert. Queer Theories können nicht darauf verzichten, „Entwicklung“ kritisch zu betrachten und sich mit der Verbindung zwischen Kolonialismus, „Entwicklungs“-Vorstellungen und vor allem auch ihrer gegenwärtigen Wirkmacht zu befassen. Du vertrittst in Bezug auf die Queer Theory noch eine weitere Perspektive und forderst, dass die Queer Theory sich nicht nur auf das Entwicklungshandeln bezieht, sondern ständig ihre eigene Standortgebundenheit und ihren eigenen Eurozentrismus reflektieren müsse. Wo liegt das besondere Erklärungspotenzial der Queer Theory in Bezug auf „Entwicklungs“-Politik? Ein wichtiger Punkt ist der kritische Fokus auf „Normierung“, auf geschlechtliche und sexuelle Normativität, die mit „Entwicklungs“-Handeln transportiert wird. Erste Versuche, Entwicklungslogiken zu „queeren“, betonen sexuelle 3 Hanna Hacker, Queer Entwickeln. Feministische und postkoloniale Analysen, Wien 2012.
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Rechte als Menschenrechte und machen darauf aufmerksam, dass auch Menschen im globalen Süden als begehrende Subjekte wahrgenommen werden müssen, nicht allein als „Opfer“ von Hunger oder Armut. Erst queere Kritik verweist konsequent auf Heteronormativität als ideologisiertes Ordnungsprinzip, das im „Development“ mitkonstituiert wird. Und gerade im globalen Maßstab zeigt sich, dass die politische Voraussetzung von genau zwei Geschlechtern einfach nicht mit gesellschaftlichen Wirklichkeiten übereinstimmt. Welche anderen Theorien sind Dir für Deine Forschungen zu Ungleichheit und zu Entwicklung wichtig und wie verhalten sie sich zueinander? Ich bin Feministin, feministische Theoretikerin, feministische Sozialwissenschaftlerin, verstehe mich auch weiterhin als feministische Historikerin, selbst wenn Geschichtswissenschaft und Entwicklungsforschung ein ganz gewaltiges Spannungsverhältnis zueinander haben. Ohne feministisches Denken möchte ich nicht Wissenschaft machen und kann das auch gar nicht. Selbstverständlich erhebt sich die Frage, wie eurozentristisch feministische Theorie ist, wie ,westlich‘, und welche Bedeutung Stimmen und Positionen haben, die nicht aus den westlichen Zentren der Wissensproduktion stammen, aber sich ,ebenfalls‘ mit Gender und Feminismus befassen, sei es affirmativ oder kritisch. Du sagst, dass Geschichtswissenschaft und Entwicklungsforschung in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Wenn ich an die großen geschichtsphilosophischen Modelle des 19. und 20. Jahrhunderts denke, scheint mir das nicht evident. Insbesondere in der Modernisierungstheorie wurden die ,nichtentwickelten‘ Gesellschaften der „Dritten Welt“ der westlichen Moderne gegenübergestellt und an ihr gemessen. Auch wenn sich längst die Auffassung durchgesetzt hat, dass unsere Gegenwart nicht durch eine, sondern durch „multiple modernities“ geprägt ist, ist der Bezug zu Entwicklung noch vorhanden. Wie stellt sich dies aus der Perspektive der „Entwicklungs“-Forschung dar? Mein Begriff von Entwicklung, so wie ich „Entwicklung“ kritisiere, bezieht sich schon sehr deutlich und konkret auf einen Begriff internationaler Entwicklungspolitik, wie sie im Prinzip, wie manche sagen, im Januar 1949 bei der Antrittsrede von US-Präsident Truman als Element des Kalten Krieges erfunden wurde, und auf die Folgen, die das hat, mit den entsprechenden Theorien, den Institutionen, die sich danach gebildet haben, den Akteur_innen im Feld, den ökonomischen Strategiemaßnahmen. Kritiker_innen sagen immer „Development“ mit einem Unterton, in dem die kritischen Anführungszeichen und viele Kursivsetzungen schon drin sind. Ganz klassisch definiert sich „Development“ darüber, enorm unhistorisch zu sein. Unhistorisch, ohne Geschichtsbewusst-
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sein, ja geradezu geschichtsfeindlich wie jede Bürokratie, nur in noch folgenschwererem Maße, da dieses Denken in globaler Hinsicht gewaltige Konsequenzen für die Lebensfähigkeit von Menschen hat. „Development“ wollte sich mit historischen Voraussetzungen, mit politischen Zusammenhängen usw. sowie einer historischen Kritik de facto so gut wie nie auseinandersetzen. Umgekehrt ist Entwicklungspolitik ja auch im feministischen Sinn kein sexy Thema, und im feministisch-geschichtswissenschaftlichen schon gar nicht. „Postkolonialität“ klingt besser und ist theoretischer und spannender, und „Development“ selbst ist etwas, womit sich Historiker_innen nicht so rasend gerne beschäftigen. Gibt es also zwischen der Entwicklungsforschung und der Globalgeschichte keinerlei Berührungspunkte? Theoretisch gibt es sie natürlich, aber ich empfinde sie als gewaltig unter-erforscht und unter-theoretisiert. Eine Assoziation hierzu vielleicht noch: In der kritischen Entwicklungsforschung taucht gelegentlich die Frage auf, ob es zutrifft, dass das Deutungsmuster „Entwicklung“ von einem Deutungsmuster „Globalisierung“ abgelöst wurde. Das finde ich einen ganz spannenden Ansatz. „Development“-Kritiker_innen konnten noch Anfang der 1990er-Jahre sagen, „Entwicklung“ versus „Unterentwicklung“ sei ganz und gar die Art und Weise, wie auf der Welt internationale Verhältnisse gedacht und dargestellt werden. Hier liege gleichsam das Darstellungsmonopol, das Fantasiemonopol letztlich, wie die Welt geordnet ist. Das hat sich möglicherweise im Zuge der 1990er-Jahre so weit verschoben, dass als Umbrella-Term für alles, was internationale Verhältnisse betrifft, viel eher der Terminus Globalisierung gelten muss. Ein Schwerpunkt Deiner Forschungen ist die contact literature. Könntest Du diese Quellengruppe und Deine damit verbundenen Erkenntnisinteressen näher umschreiben? Inwiefern werden dort Ungleichheitsverhältnisse fortgeschrieben? Ich spreche etwas spezifischer von „Development-Kontaktliteratur“, weil „Development“ mein Referenzrahmen ist. Unter „Development-Kontaktliteratur“ fasse ich eine große Bandbreite an Quellen, das sind das gesamte Berichtswesen, Policy-Texte, Evaluierungen, die in der „Encounter Zone Development“ ständig geschrieben und ausgetauscht werden müssen. „Development-Kontaktliteratur“, mit der ich mich im Einzelnen konkreter befasse, besteht aus autobiografischen Erzählungen, Berichten, Geschichtchen oder auch breiteren Fiktionalisierungen aus dem „Feld“. Es scheint zum Entwicklungsarbeiter_in-Sein nahezu integrierend dazuzugehören, über die diesbezügliche Erfahrung kleinere Erzählungen und Erinnerungstexte zu verfassen, darüber zu schreiben, wie es „mir“ in dem Land beziehungsweise in dem Projekt, in dem „ich“ eingesetzt war,
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erging, wie „ich“ in diesem Programm gearbeitet und gehandelt habe. In diesem ganz eigenen Genre berichten Verfasser_innen, ob sie mit ihrer Familie dort waren, wie sie mit den Nachbar_innen ausgekommen sind und wie sie die schreckliche Mühsal, in dem Projekt etwas auf die Beine zu stellen, bewältigen konnten. Diese Erzählungen bieten Orientierung für „nachfolgende“ Entwicklungsarbeiter_innen, und sie ähneln kulturanthropologischen Erzählungen von Reisen zu „meinem Stamm“ – sie sind ein Beleg dafür, dass die schreibende Person, das schreibende „Ich“ Teil der Gemeinschaft von Entwicklungsexpert_innen geworden ist. Es sind Texte mit Exempelfunktion, an denen und mit denen auch ganz konkret gelernt wird, beispielsweise in der Vorbereitungs- und Einschulungszeit von Entwicklungsarbeiter_innen. Das ist im Übrigen auch meine eigene Erfahrung als „Entwicklungshelferin“ in den 1990er-Jahren. Welche Fragen stellst Du an diese Literatur, welche Ziele verfolgst Du mit ihrer Analyse? Ich lese solche Texte aus dem deutschsprachigen Raum und mittlerweile auch aus dem frankophonen europäischen Raum unter anderem entlang der Frage, wie der Kontakt mit dem Anderen, mit dem Fremden auch als ein körperlicher wahrgenommen und erzählt wird. Ich möchte wissen, wie Körper im transnationalen Raum hergestellt werden, wie sich gesellschaftliche und politische Ordnungen in die Subjekte „einkörpern“, wie sie von ihnen „verkörpert“ werden. Entwicklungsarbeiter_innen bringen ihr Körperverständnis mit ins „Feld“, ihr Begehren, ihre Grenzziehungen, ihre Übertretungen und ihr subjektstiftendes Embodiment. Es geht dabei immer auch um geschlechtliche Identitäten und Beziehungen und um ganz konkrete Gewaltverhältnisse. Das Projekt mit dem Arbeitstitel „Writing Bodies in Development. Körperrepräsentationen in auto/biografischen Texten der Development-Kontaktliteratur“ ist mit mir, sozusagen, selbst schon seit einiger Zeit auf transnationaler Reise, wir „travellen“ zwischen Bibliotheken und Archiven in verschiedenen europäischen Ländern, zwischen Gesprächen mit Kolleg_innen aus verschiedenen Disziplinen und kleineren Veröffentlichungen zum Thema, und ich hoffe, es wird eine kompakte Monografie daraus. Im Buch „Queer entwickeln“ gibt es einen Aufsatz, der direkt aus diesem Projekt entstanden ist4 – dass ich darin der Frage nach der Bedeutung von „Schweiß“ in den Erzählungen von Entwicklungsarbeiter_innen nachgehe, verdanke ich übrigens nicht zuletzt einem Gespräch mit Dir, Claudia: Du hast mal mit so vehementem und sehr unterstützendem Interesse mit mir über Körperflüssigkeiten in autobiografischen Texten gesprochen! 4 Hanna Hacker, Ausbruch in Schweiß. Erinnerungen an Körper in Entwicklungshelfer_innenMemoiren, in: Hacker, Queer Entwickeln, wie Anm. 3, 70–94.
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Auf den ersten Blick erscheinen solche Texte eher privat, manchmal schon banal. Aber ist das wirklich so? Geht von dieser Literatur nicht doch eine enorme Wirkung aus? Das scheint für mich evident zu sein. Es handelt sich um Texte, die ihre Öffentlichkeit bekommen, die sich einreihen in alle möglichen populären Erzählungen, in Soaps und TV-Serien und Boulevardpresseberichte über den Hunger, die Armut, das Elend … all diese Stereotypen also. Als handle es sich hier um Naturereignisse und nicht um Auswirkungen politischer Handlungen und Strukturen. Dabei werden Repräsentationen erzeugt, die wirkmächtig sind. Aber das sind Texte von Europäer_innen, die Du liest. Gibt es überhaupt eine Chance, die Anderen zum Sprechen zu bringen, oder sind diese in dem Moment, wo man sie zum Sprechen bringt, schon wieder so weit in Beziehung zum Eigenen, dass das Fremde als solches gar nicht zu fassen ist? In gewisser Hinsicht ist beides wahr. Das Fremde ist immer eine zentristische Konstruktion, die man nicht stehen lassen darf, weil sie eine Erfindung ist, die Macht- und Ohnmachtsverhältnisse fortschreibt, und zugleich ist es ganz und gar wahr. Natürlich gibt es eine „Dritte Welt“ und natürlich gibt es Armut und natürlich gibt es die Subalternen und natürlich gibt es die subalternen Frauen, die zwar sprechen, aber niemand hört ihnen zu, und natürlich gibt es mangelnden Zugang zu Bildung, zu Gesundheitsversorgung etc. In der Lehre ist dieser Gedanke oft besonders schwer zu vermitteln, weil gerade jüngere, engagierte Menschen entweder ganz auf der einen Seite stehen, die die Position vertritt, das sei ja alles nur kolonialistisches Konstrukt, oder auf der anderen Seite, die überzeugt ist, dass etwas getan werden muss für die Armen. Ich denke, es geht genau darum, mit dieser Polyvalenz zu leben. Kann es sein, dass Fiction manchmal besser geeignet ist, die Komplexität und Verwobenheit gesellschaftlicher Verhältnisse aufzuzeigen als unsere herkömmlichen wissenschaftlichen Analysen? Ich glaube unbedingt, dass Fiction etwas sagen kann über die Wirklichkeit, über Ungleichheitsverhältnisse, was akademisches Schreiben oder Denken nicht zu sagen imstande ist. Ich erinnere an Marie NDiayes großartigen Roman „Drei starke Frauen“ (2010), ein Werk, in dem im Verhältnis zwischen Frankreich und dem Senegal deutlich wird, was Migration für Menschen, für Frauen, bedeuten kann, was dies auch psychisch für sie bedeutet, schließlich, was die Imagination aus der Migration macht – und umgekehrt.
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Ist dieses Beispiel nicht ein Hinweis darauf, dass wir neue Formen der Vermittlung brauchen, wenn wir globalgeschichtlich arbeiten wollen? Sollte dem Fiktionalen, den Vorstellungen und Repräsentationen nicht ein größerer Stellenwert zugebilligt werden? Da bin ich sofort dabei. Meine Gegenfrage wäre dabei: Ist nicht auch das Imaginäre schon längst globalisiert? Ich denke, die Spannung zwischen dem Lokalen und dem Globalen ist immer da. Was ich wichtig finde in der Globalgeschichte, ist die Aufforderung, immer mitzudenken, dass Lokales sich stark aus globalen Beziehungen speist und vice versa. In diesem Kontext fand ich Deine Überlegung oder Forderung interessant, zu sagen, im Text müsse immer eine imaginäre Figur da sein, wobei mir nicht klar war, ob die imaginäre Figur wirklich schwarz sein muss oder ob die Idee der imaginären Figur eine Metapher für etwas anderes ist, gewissermaßen eine Aufforderung, sich verunsichern zu lassen und das eigene Denken permanent kritisch zu hinterfragen. Das Bild der Schwarzen Figur, die sich hinter dem Helden/der Heldin der ,weißen‘ Geschichte verbirgt, stammt ja wesentlich von Toni Morrison, die diese sogenannte „Africanist presence“ an konkreten US-amerikanischen Literaturen abhandelt. Dass ,weiße‘ Vorherrschaft sich historisch nur vor der Folie der Marginalisierung alles ,Nicht-Weißen‘ entfaltet hat und dass schließlich auch feministische ,Befreiung‘ kaum einem anderen Muster folgte, wissen wir im Prinzip. Ich würde gerne noch weit genauer und detaillierter herausarbeiten, was das für die feministische Praxis und Forschung bedeutet. Ich hoffe, Du hast die Zeit dazu und ich bin gespannt auf die Ergebnisse!
Karl Kaser im Gespräch mit Maria Fritsche und Anelia Kassabova (2015)*
Blickwechsel zwischen Orient und Okzident**
Das folgende Interview mit Karl Kaser, Professor für Südosteuropäische Geschichte und Anthroplogie an der Universität Graz, nimmt sein Buch „Andere Blicke. Religion und visuelle Kulturen auf dem Balkan und im Nahen Osten“ (2013)1 zum Ausgangspunkt, um über Blicktraditionen und -kulturen zu diskutieren. Kaser hat zahlreiche Werke zur Familiengeschichte auf dem Balkan publiziert, unter anderem „Hirten, Kämpfer, Stammeshelden. Ursprünge und Gegenwart des balkanischen Patriarchats“ (1992)2 und „Familie und Verwandtschaft auf dem Balkan. Analyse einer untergehenden Kultur“ (1995).3 In seiner jüngeren Forschung fokussierte er auf die vielseitigen Verbindungen und Verflechtungen zwischen Südosteuropa und dem Nahen Osten und die kulturellen Gemeinsamkeiten der postosmanischen Staatenwelt, für die er den Begriff * Maria Fritsche ist Professorin für moderne internationale Geschichte an der Norwegian University of Science and Technology NTNU in Trondheim. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Film-, Sozial-, Kultur- und Geschlechtergeschichte des 20. Jahrhunderts mit einem besonderen Schwerpunkt auf Männlichkeit/en. Sie ist seit 2016 Mitherausgeberin von „L’Homme. Z. F. G.“. Anelia Kassabova ist Associate Professor am Institut für Ethnologie und Folkloristik mit Ethnografischem Museum an der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Wissenschaftsgeschichte der Ethnologie, Familienforschung und visuelle historische Anthropologie, u.a. im Rahmen mehrerer Forschungsprojekte an der Universität Graz. Seit 2013 gehört sie zum Kreis der Herausgeberinnen von „L’Homme. Z. F. G.“. ** Zuerst veröffentlicht in L’Homme. Z. F. G., 26, 2 (2015): Visuelle Kulturen, hg. von Maria Fritsche u. Anelia Kassabova, 133–144. Erscheint hier in einer leicht gekürzten Version, mit erweiterter Einleitung und geringfügiger sprachlicher Bearbeitung. 1 Karl Kaser, Andere Blicke. Religion und visuelle Kulturen auf dem Balkan und im Nahen Osten, Wien/Köln/Weimar 2013. Vor kurzem ist ein weiteres Buch zu diesem Themenbereich erschienen: ders., Hollywood auf dem Balkan. Die visuelle Moderne an der europäischen Peripherie (1900–1970), Wien/Köln/Weimar 2018. 2 Karl Kaser, Hirten, Kämpfer, Stammeshelden. Ursprünge und Gegenwart des balkanischen Patriarchats, Wien/Köln/Weimar 1992. 3 Karl Kaser, Familie und Verwandtschaft auf dem Balkan. Analyse einer untergehenden Kultur, Wien/Köln/Weimar 1995; mit ähnlicher Thematik auch: ders., Macht und Erbe. Männerherrschaft, Besitz und Familie im östlichen Europa (1500–1900), Wien/Köln/Weimar 2000.
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„Kleineurasien“ geprägt und in mehreren Publikationen begründet hat, etwa in „Patriarchy after Patriarchy. Gender Relations in Turkey and in the Balkans, 1500–2000“ (2008)4 und „Balkan und Naher Osten. Einführung in eine gemeinsame Geschichte“ (2011).5 Ein weiterer Forschungsschwerpunkt sind visuelle Kulturen im südöstlichen Europa in historischer Perspektive, mit spezieller Berücksichtigung von Fotografie und Film als historische Quellen. Anelia Kassabova: Deine Publikationen verfolgen den Ansatz eines Vergleichs von großräumigen und zeitübergreifenden Modellen. Diesen Ansatz finde ich auch in „Andere Blicke“ führend – ab den Ursprüngen der Schriftreligionen bis ins 21. Jahrhundert in einem Großraum, der bei weitem nicht nur auf „Kleineurasien“ beschränkt bleibt. Großvergleiche haben einen hohen heuristischen Wert – sie helfen, einheitliche Kriterien herauszuarbeiten, bei Familienmodellen zum Beispiel Kriterien wie Heiratsalter, Haushalts- und Familienstrukturen. Wie würdest Du die Kriterien für eine vergleichende Untersuchung von visuellen Kulturen zusammenfassen, die eine Typologisierung des umfangreichen und unterschiedlichen Quellenmaterials erlauben? Karl Kaser : Während die historische Familienforschung, die sich mit Familienstrukturen beschäftigt, seit vielen Jahrzehnten institutionalisiert und international etabliert ist, hat die Erforschung visueller Kulturen keine lange Forschungstradition. Dieser noch junge Forschungsbereich ist bezogen auf den Balkan national und entlang der einzelnen visuellen Medien fragmentiert: griechische Fotogeschichte, türkische Filmgeschichte, bulgarische Fernsehgeschichte etc. Eine transmediale und transnationale Sicht auf visuelle Kulturen ist kaum gegeben. Wir stehen in theoretischer und komparativer Hinsicht noch in den Anfängen. Dies trifft sowohl auf die Forschung in als auch auf die Forschung über die Balkanländer zu. Es hat sich gezeigt, dass es sinnvoll ist, zwischen einem vorsäkularen und einem säkularen Bildverständnis zu unterscheiden. Eine säkulare Bildauffassung hat sich in der Region erst sukzessive von etwa der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eingestellt. Das wichtigste Kriterium für eine Typologisierung in der langen vorsäkularen Periode ist die Religionszugehörigkeit. Wir können ein bilderbejahendes orthodoxes Christentum von einem bilderskeptischen Islam und einem bilderfeindlichen Judentum unterscheiden. Die Säkularisierung der Haltung zum Bild in der Balkanregion geschah nicht aus innerreligiösen Überzeugungen und Entwicklungen heraus, sondern wurde eingeleitet 4 Karl Kaser, Patriarchy after Patriarchy. Gender Relations in Turkey and in the Balkans, 1500–2000, Wien/Berlin 2008. 5 Karl Kaser, Balkan und Naher Osten. Einführung in eine gemeinsame Geschichte, Wien 2011.
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durch und steht im Zeichen der westlichen Kultur. Die westliche Foto- und Filmkultur leitete also ein säkulares Bildverständnis in der Region ein. Somit sind wir wieder dort angelangt, wo wir bereits in der vergleichenden Familienforschung Probleme hatten: Der ,westliche‘ Entwicklungsstrang wird als idealtypisch eingestuft, balkanische Entwicklungsstränge werden als deviant und zusammengenommen als Defizitgeschichte verstanden. Die ,Defizite‘ werden offensichtlich, wenn wir zu zählen und zu vergleichen beginnen: Wie viele Filme wurden in den Balkanländern produziert, wie viele Fotostudios gab es, wie viele Kinos, wie viele impressionistische Maler im Vergleich mit westlichen Ländern? Wann konnten sich die ersten Frauen in diesen Bereichen durchsetzen? Kassabova: Du unterscheidest zwischen einem vorsäkularen und einem säkularen Bildverständnis und hebst die Bedeutung der Religion für die lange vorsäkulare Periode hervor. Könntest Du diesen innovativen Ansatz und Deine Thesen ein wenig ausführlicher vorstellen – auch in Hinblick auf die Kategorie Gender? Beschränken wir uns vorerst auf die vorsäkulare Zeit. Bilderbejahendes orthodoxes Christentum bedeutete nicht, dass sich die bildliche Darstellung frei entfalten hätte können. Genauso wie die heiligen Schriften als unveränderbar erachtet wurden, waren es auch die Bilder der Heiligen. Ihre Darstellung wurde etwa in Bezug auf Farbenwahl, Farbzusammensetzung, Gestik und Mimik kanonisiert und genau kontrolliert. Gemeinsam ist ihnen das Transzendente. Sie verweigern die irdische Erfahrung. Jüdische und islamische Buchmalerei etwa verweigerten nicht die Figürlichkeit als solche, sondern die Konkretheit, die einem lebenden oder verstorbenen Menschen ähnlich war. Vergleichbar war die Situation mit dem Theater : Im Islam war das Puppentheater ausdrücklich erlaubt, weil seine bemalten Figuren durchlocht waren und durch die Löcher Fäden liefen. Dadurch war ein klarer Abstand zu lebenden Menschen gezogen. Der entscheidende Punkt: Allen drei Religionsgemeinschaften war gemeinsam, dass sie konkrete, sinnlich erfahrbare Darstellungen vermieden. In diesem bildlichen Vakuum konnten sich westliche Fantasien und Imaginationen entfalten und festsetzen. Die nachhaltigsten waren die westlichen Männerfantasien über ,die Orientalin‘. Das Genre des Orientalismus in westlichen Maltraditionen ließ fantastische Bilder eines weiblichen Orients entstehen – ein Orient, der aus einem einzigen Harem zu bestehen schien, mit erotischen, lasziven, entblößten Frauen, die scheinbar beständig nur darauf warteten, vom Mann gerufen zu werden. Maria Fritsche: Die Erfindung und Verbreitung der Fotografie, und später des Films, spielten für die Säkularisierung der „kleineurasischen“ Kultur eine große
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Rolle. Diese visuelle Revolution, verknüpft mit einer nicht unbedingt zeitgleichen, aber doch zeitnahen Modernisierung und Westernisierung der Gesellschaften am Balkan und im Nahen Osten, läutete eine lange Phase eines intensivierten Kulturtransfers ein, dessen Richtung eindeutig von West nach Ost ging. Wir wissen aus der inzwischen sehr umfangreichen Kulturtransferforschung, dass solche Transfers nicht einseitig sind, auch wenn sie in der Regel eine deutliche ,Fließrichtung‘ haben, die oft mit einem politischen und wirtschaftlichen Machtgefälle zusammenhängt. Zudem wissen wir, dass kulturelle Exporte niemals eins zu eins übernommen, sondern von der ,Empfängerkultur‘ adaptiert, modifiziert oder auch zurückgewiesen werden. Wie und in welchem Zeitrahmen veränderte die Verbreitung der ,westlichen‘ Fotografie die Blicktraditionen und Darstellungsformen am Balkan und in den arabischen Staaten im Nahen Osten? Diese Frage ist beim gegenwärtigen Stand der Forschung kaum zu beantworten. Es geht ja dabei nicht nur um die passive Rezeption von Bildern, sondern auch um die Veränderung von Blicktraditionen – und zwar nicht (nur) um individuelle, sondern vor allem um kollektive. Der einzige Weg, den ich sehe, ist, dass wir Privatfotografien quantitativ umfassend daraufhin untersuchen. Wir haben im jüngsten Forschungsprojekt6 Fotos von Berufsfotografen aus Bulgarien, Bosnien und Herzegowina und Serbien analysiert. Die erste Generation von ihnen hat diese Profession ,im Westen‘ oder über westliche Fotografen erlernt und dieses Wissen dann an die nächste Generation weitergegeben. Die Frage ist, ab wann es auf dem Balkan und im Nahen Osten eine nennenswerte Zahl an PrivatfotografInnen und somit einen entsprechend großen Bilderpool gibt, mit dem wir arbeiten könnten. Die bisherige Forschung liefert uns zu dieser Frage nur wenige Anhaltspunkte. Um einige von ihnen zu nennen: Die serbische Vereinigung von (männlichen) Amateurfotografen hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur zwischen 100 und 150 Mitglieder. Im vorwiegend muslimischen Albanien gab es die Privat- oder Amateurfotografie bis zu den beginnenden 1990er-Jahren praktisch nicht, weil sich bis zur kommunistischen Machtübernahme die muslimische Bevölkerung dafür kaum interessierte und danach die Privatfotografie als ,bourgeois‘ und ,westlich dekadent‘ verpönt war. In Saudi-Arabien war die Privatfotografie bis vor wenigen Jahren offiziell verboten. Auf die Frage des Zeitrahmens, in dem sich die Fotografie in der breiten Bevölkerung durchzusetzen vermochte, kann ich nur allgemein antworten: in der Stadt früher als am Land, in der christlichen Bevölkerung früher als in der muslimischen und jüdischen. Unterm Strich würde ich die Fotografie als Mas6 FWF-Projekt „Visualizing Family, Gender Relations, and the Body : The Balkans, approx. 1860–1950“ (Laufzeit: 2010–2014), vgl. gams.uni-graz.at/context:vase.
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senphänomen keineswegs vor den 1960er-Jahren datieren. Diese Einschätzung würde dann mit der Entwicklung und Verbreitung des Kinos zusammenfallen. Damit ist allerdings noch nicht die Frage beantwortet, inwieweit und wann konkret die Verbreitung der ,westlichen Fotografie‘ Blicktraditionen und Darstellungsformen veränderte. In diesem Zusammenhang ist somit nicht von Jahren und Jahrzehnten die Rede, sondern wohl von zumindest einem Jahrhundert. Fritsche: Einen ungeheuren Einfluss für die Popularisierung westlicher Blickweisen hatte auch das Kino. Hollywood, aber auch verschiedene US-Regierungsinstitutionen waren nach dem Zweiten Weltkrieg ganz wesentliche Kulturexporteure. Der Filmtheoretiker Siegfried Kracauer erstellte 1952 im Auftrag des US State Departments eine wissenschaftliche Studie, welche unter anderem die Sehgewohnheiten der Bevölkerung in Griechenland, der Türkei und im Nahen Osten untersuchte, um herauszufinden, wie die Bevölkerung für die liberal-kapitalistische Ideologie zu gewinnen wäre. Dabei verwies Kracauer nicht nur auf die angeblich in der älteren Generation Griechenlands weit verbreiteten „kulturellen und religiösen Vorurteile gegen den Spielfilm“, sondern argumentierte, dass die Mehrheit der Bevölkerung im „kleineurasischen“ Raum die filmische Sprache nicht verstehe. So würden Rückblenden, Nahaufnahmen und Überblendungen Verwirrung auslösen, und die ZuschauerInnen würden oft durch Kleinigkeiten, welche sie an ihr Alltagsleben erinnerten, von der eigentlichen Erzählung abgelenkt. Diese Beobachtungen erinnern an die (angeblich) panischen Reaktionen des Pariser Publikums, das 1896 erstmals den Kurzfilm der LumiHre-Brüder sah, welcher die Einfahrt eines Zuges zeigte. Doch die Sehgewohnheiten der WesteuropäerInnen passten sich überraschend schnell an die neuen Visualisierungsformen an, wie ja der Siegeszug des Kinos beweist, der im ,Westen‘ bereits im frühen 20. Jahrhundert begann und sich, mit einiger Zeitverzögerung, im Südosten Europas fortsetzte. Das lässt vermuten, dass der Film deutlich stärker und umfassender noch als die Fotografie imstande war, Sehgewohnheiten zu ändern, weil es eben ein Medium war, das alle Sinne beanspruchte. Ich stimme Dir zu, dass auch meinen Recherchen zufolge das Kino eine größere Rolle in der Veränderung der Sehgewohnheiten auf dem Balkan und im Nahen Osten spielte als die Fotografie. Es gilt dabei allerdings zwei relativierende Fakten zu beachten: Erstens war es bis zum Ersten Weltkrieg nicht Hollywood, sondern die französische Produktions- und Distributionsfirma Path8, die weltweit, also auch auf dem Balkan und möglicherweise im Nahen Osten, den Markt beherrschte. Zweitens: Das Kino, obwohl es teilweise als ,Theater für die armen Leute‘ fungierte, erreichte bis in die 1950er- und 1960er-Jahre nur einen kleinen Ausschnitt der Bevölkerung, da es ein vorwiegend städtisches Phänomen war.
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Hollywood dominierte ab dem Ende des Ersten Weltkrieges zumindest in einigen Balkanländern das Filmgeschehen. Aber in den Ländern und Regionen mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit – also im Nahen Osten, im Kosovo, in Albanien oder in der Türkei – erschien die Hollywoodwelt allzu fremd. Das Problem mit dem Kino waren oftmals nicht so sehr die Filminhalte, sondern der Umstand, dass Männer und Frauen im abgedunkelten Kinosaal zusammensaßen, was breiten Kreisen inakzeptabel schien. In einigen Ländern improvisierte man mit gesonderten Frauenvorstellungen tagsüber oder mit nach Geschlechtern getrennten Kinosälen. Von der Türkei wissen wir, dass auch die importierten Hollywoodfilme von der Zwischenkriegszeit bis etwa in die 1960er-Jahre teilweise stark verändert wurden, bevor sie zur Aufführung kamen: Tanzszenen mit engem Körperkontakt wurden genauso herausgeschnitten wie die paar Zentimeter des weiblichen Oberschenkels oberhalb des Knies, vom Kinokuss gar nicht zu sprechen. Mitunter wurden originale Tanz- und Musiksequenzen durch türkische ersetzt … Hollywood veränderte die Blicktraditionen in primär christlichen Ländern wie Rumänien, Bulgarien, Griechenland und vielleicht auch Jugoslawien, in muslimischen Ländern allerdings wenig – zumindest bis in die 1950er-, 1960erJahre. Malerei und Grafik stufe ich für die Veränderung von Seh- und Blickkulturen als relativ irrelevant ein. Die Rolle der Fotografie ist, wie bereits betont, schwer einzuschätzen. Das seit den 1960ern immer stärker verbreitete Fernsehen spielte gewiss eine vergleichbar wesentlichere Rolle dabei, vor allem das in den 1990ern allmählich aufkommende Satellitenfernsehen. Fritsche: Wie sah es mit dem Kulturtransfer von Ost nach West beziehungsweise Südwest aus? Welchen Einfluss hatte die sowjetische Kinoindustrie – die ja gewissermaßen das Äquivalent Hollywoods hinter dem Eisernen Vorhang war – auf die Blicktraditionen und Sehgewohnheiten in den Balkanstaaten in der Zeit des Kalten Krieges? Siehst Du Anzeichen für die Etablierung spezifisch ,sozialistischer‘ Visualisierungsformen in Film und Fernsehen der Balkanländer im Ostblock? Oder handelt es sich bei diesen Veränderungen um eine Westernisierung auf Umwegen, da ja auch die spezifisch sowjetische Filmästhetik stark westlich geprägt war? Hier sind zwei Dimensionen zu unterscheiden: der Blick auf die Welt, also die ideologische Dimension, und die Inhalte, die Träume und Sehnsüchte zum Ausdruck brachten. Es ist richtig, dass der sowjetische Film in den verschiedenen Ländern unterschiedlich lang tonangebend war. Hinsichtlich der ideologischen Dimension veränderten sich die Blicktraditionen und Sehgewohnheiten dadurch natürlich deutlich. Ausgenommen ist Jugoslawien, das ab 1949 aus ideologischen Gründen nur mehr wenige sowjetische Filme einführte. Sowjetische
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Fachleute waren in allen sozialistischen Balkanstaaten für den Aufbau einer Filmindustrie maßgeblich. Die bedeutenden Regisseure hatten ihre Ausbildung an den Filmakademien in Moskau und Prag absolviert. Auch der Film gehorchte insbesondere bis zu Stalins Tod den Gesetzen des Sozialistischen Realismus: gut versus böse, Ost versus West, Kapitalismus oder Kommunismus, Klassenfeind und ,Neuer Mensch‘. Ich denke, dass viele dieser grobschlächtigen Sicht auf die Welt folgten – zumindest solange dieser Blick überzeugend war. Der Sozialistische Realismus weckte auch Träume und Sehnsüchte, etwa nach einer solidarischen Gesellschaft, Gleichberechtigung, Gleichheit. Aber das Problem war, dass die um einiges weniger perfekte Realität jeden Tag gelebt werden musste. Deshalb wurde der Klassenkampf zunehmend in historischen Themen verarbeitet. Viele Filme hatten belehrenden Charakter, aber die Menschen wollten nicht ständig belehrt werden. Das sowjetische Äquivalent büßte daher zunehmend an Attraktivität ein. Hollywood belehrt auch, aber sehr raffiniert. In den meisten sozialistischen Ländern, Jugoslawien und Polen ausgenommen, wurden nur wenige Hollywoodfilme eingeführt, die jedoch heiß ersehnt waren. Ich denke, dass Jugoslawien die beste Messlatte für die Beantwortung der Frage nach der Veränderung von Blicktraditionen und Sehgewohnheiten in sozialistischer Zeit darstellt, da es zwischen den beiden ideologischen Blöcken stand. Die jugoslawische Kinoindustrie wurde ja bereits ab den 1950er-Jahren auf sozialistischen Marktwettbewerb umgestellt. Die Vertriebsfirmen und Kinos mussten sich also auf die visuellen Bedürfnisse des Publikums einstellen. Das Ergebnis war eindeutig: Das Publikum wollte Hollywood und auch die damit verbundenen Werte – das Eigenheim mit Garten, das coole Auto in der Garage, eine hübsche Ehegattin und einen Ehemann, der locker so viel verdiente, dass die Gattin den Werktag vor dem Fernseher verbringen konnte. ,Im Osten‘ wurden sehr viele qualitätsvolle Filme produziert, die ,im Westen‘ aus kommerziellen Gründen nie hätten produziert werden können. Einen Kulturtransfer von Ost nach West kann ich jedoch kaum feststellen. Das hat weniger mit Qualität zu tun als mit der Vertriebsorganisation, die nahezu ausschließlich blockmäßig organisiert war. Es ist ja kein Zufall, dass Jugoslawien als beinahe einziges sozialistisches Land mit seinen Filmen ,im Westen‘ landen konnte. Es war blockfrei und hatte sich über viele Koproduktionen einen funktionierenden weltweiten Absatzmarkt aufbauen können. Wenn man allerdings die Zahlen genau studiert, dann sind es vor allem Filme von Emir Kusturica, die die westliche Vorstellungskraft vom Balkan befriedigten und sich in zu hinterfragender Weise ,im Westen‘ durchsetzen konnten. Kassabova: Was wäre, wenn wir die Perspektive änderten – können wir über langzeitige, schichten- und staatenübergreifende Blicktraditionen und Sehgewohnheiten ,des Westens‘ gegenüber „Kleineurasien“ sprechen?
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Ich bin überzeugt davon, dass es diese langzeitigen, schichten- und staatenübergreifenden Blicktraditionen und Sehgewohnheiten ,des Westens‘ gegenüber „Kleineurasien“ gibt. Natürlich waren und sind diese nicht homogen. ,Der Westen‘ ist ja genauso inhomogen wie ,der Osten‘ und „Kleineurasien“. Wie wir wissen, existieren westliche Diskurse über den Balkan und den Nahen Osten. Edward Said und die bulgarische Historikerin Maria Todorova haben mit ihren Arbeiten zum Orientalismus und Balkanismus bahnbrechende Anstöße für deren Erforschung auf textlicher Ebene gegeben. Wir wissen nicht genau, ob diese Diskurse primär ein Elitenphänomen darstellen, die irgendwie und irgendwann auf weitere Gesellschaftsschichten diffundierten. Hingegen sind die westlichen visuellen Diskurse – die „Viskurse“ – über den Balkan und den Nahen Osten noch weitgehend wissenschaftliches Brachland. Martina Baleva hat mit ihrer Dissertation7 Anstöße für den Balkan geliefert. Darüber hinaus gibt es gerade über den Nahen Osten viele Arbeiten, die Teilaspekte westlicher Viskurse freilegen. Bilder und Texte sind bekanntlich nicht voneinander zu trennen, und daher werden textliche und visuelle Diskurse nicht völlig auseinanderklaffen. Text und Bild unterscheiden sich jedoch in vielerlei Hinsicht und sprechen unterschiedliche kognitive Ebenen an. Viskurse sprechen viel eher die emotionale, Diskurse eher die rationale Ebene an. Viskurse sind daher meiner Meinung nach insgesamt wirksamer als die textlichen Diskurse. Jedoch mangelt es eklatant an systematischen Untersuchungen. Von der Privatfotografie und dem Problem, uns über sie einen Überblick zu verschaffen, haben wir bereits gesprochen. Eine ähnliche Problematik haben wir mit der Fotopostkarte, die ab Mitte der 1890erJahre in unglaublichen Massen hergestellt und in Umlauf gebracht wurde. Wie wollen wir ein repräsentatives Bild über deren Botschaften erhalten? Das gegenteilige Problem haben wir mit den frühen Filmstreifen, die in und über die beiden Regionen – also Balkan und Naher Osten – gedreht worden sind, einem Massenpublikum vorgestellt wurden, aber heute großteils nicht mehr existieren. Was ist mit den zahlreichen ethnografischen Berichten und Reiseberichten, die auf ihre visuellen Botschaften hin noch nicht ausgewertet sind? Was mit dem ,im Westen‘ produzierten geografischen Kartenmaterial, was ist mit der westlichen Pressefotografie über die beiden Regionen, die noch keineswegs systematisch ausgewertet ist? Gerade dieses Material würde zutage fördern, dass Balkan- und Orientbilder auch tagespolitischen Konjunkturen unterworfen waren. Ich sehe diesbezüglich noch ein gewaltiges Forschungsdefizit, aber auch -potenzial. Realistischerweise werden wir frühestens in einem halben Jahrhundert ein dif-
7 Martina Baleva, Bulgarien im Bild. Die Erfindung von Nationen auf dem Balkan in der Kunst des 19. Jahrhunderts, Wien/Köln/Weimar 2012.
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ferenziertes Bild über Bildtraditionen und Sehgewohnheiten ,des Westens‘ über „Kleineurasien“ haben. Kassabova: Ich teile die Meinung, dass Diskurse und Viskurse in Beziehung zueinander analysiert werden müssen. Aber Diskurse können meines Erachtens auch die emotionale Ebene ansprechen. Sie beruhen ja auf den gleichen mentalen Bildern wie die entsprechenden Viskurse. Dass Viskurse durch die ,Totalität des Bildes‘ eine schnellere und breitere Wirkung haben können – dem stimme ich völlig zu. Maria Todorova hat eine interessante verallgemeinernde Gender-Unterscheidung getroffen: Im (Text-)Diskurs des Orientalismus würde ,der Orient‘ vor allem als Verkörperung des Weiblichen (selbst-)präsentiert, während im Balkanismus das Barbarische, Männlich-(Machistisch-)Patriarchale als Verkörperung ,des Balkans‘ im Vordergrund stünde.8 Kann so eine These durch eine Viskurs-Analyse bestätigt oder relativiert oder differenziert werden? Na ja, da müssten wir das Ergebnis dieser Viskurs-Analyse bereits kennen, aber Hypothesenbildung ist ja auch erlaubt. Ich denke, dass Todorovas Beobachtung richtig ist, dass der Orientalismus den weiblichen Körper in den Vordergrund rückt und der Balkanismus den männlichen. Das ist überhaupt kein Widerspruch, da es sich in beiden Fällen um männliche Projektionen handelt. In beiden Situationen ist ,der Mann‘ des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts in seinen vornehmlichen Tugenden gefordert und inspiriert – in seinem sexuellen und militärischen Heldentum. Im visualisierten Orientalismus stehen der Harem und dessen Ableger im Mittelpunkt. Martina Baleva hat herausgearbeitet, dass Balkanvisualisierungen vornehmlich etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts aufkamen, in Kriegs- und Krisenzeiten, hervorgerufen von den gegen das Osmanische Reich um Freiheit kämpfenden Balkanvölkern.9 Kriege und Krisen waren primär männliche Angelegenheiten, wenngleich auch weibliche Heldinnen zum Zug kamen. Der um Freiheit kämpfende Balkanmann war ein aufrechter Held, ,der Osmane‘ hinterhältig und im Grunde genommen feige – dass darin auch religiöse Botschaften enthalten sind, ist evident. Dieses scheinbar aufrechte und wackere Hajdukentum, das keinen militärischen Drill durchlaufen hatte, aber dennoch mit der Waffe in der Hand für nationale Ideale einstand, konnte für westliche Männer durchaus attraktiv erscheinen. Kassabova: Blicktraditionen und Sehgewohnheiten entwickeln (und verändern) sich als Resultat bestimmter Politiken in konkreten historischen sozioökonomischen Rahmen. In meiner Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Foto8 Vgl. Maria Todorova, Imagining the Balkans, New York 1997/22009. 9 Vgl. Baleva, Bulgarien im Bild, wie Anm. 7.
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grafie in Bulgarien ist mir aufgefallen, dass in dem Moment, in dem Frauen vermehrt fotografierten, also ab den 1920er-, 1930er-Jahren, sich der Diskurs über die ,Natur der Geschlechter‘, über die unterschiedlichen ,Geschlechtscharaktere‘ und die Unvereinbarkeit Frau–Technik verschärfte. Auch zwischen Berufsfotografen und Amateurfotografen gab es einen starken Konkurrenzkampf. Ist der Grund für die von Dir angesprochene späte Entwicklung der Foto- und Filmindustrie in den postostmanischen Staaten nur im fehlenden Bedürfnis nach Neuem zu suchen? Oder waren diese Staaten Absatzmärke für große Foto- und Filmfirmen, was auch bestimmte Entwicklungen förderte – oder nicht förderte? Fotografie und Kino waren bis zum Ersten Weltkrieg, wahrscheinlich auch bis zum Zweiten Weltkrieg, beinahe ausschließlich urbane Phänomene. Dies bedeutet, dass rund achtzig Prozent der Bevölkerung von diesem visuellen Business entweder ausgeschlossen waren oder an diesem nicht teilhaben wollten. Dieses Ausgeschlossensein konnte unterschiedliche Ursachen haben: fehlende Infrastruktur für den Film (Strom, keine Kinos in der Nähe), relativ hohe Kosten der Fotografie. Die breite muslimische Bevölkerung hatte kaum Interesse an diesen Medien. Für den fotografischen Markt konnte der Tourismus relevant sein. Dies traf allerdings nur auf wenige Regionen im südöstlichen Europa zu. Soweit ich die Situation kenne, legten grafische Betriebe und Verlage, etwa aus Deutschland und Österreich-Ungarn, größere Fotopostkartenserien für diese neuralgischen Orte auf. Wahrscheinlich war deren Qualität besser als jene, die von lokalen Fotografen auf den Markt gebracht wurden, da es ihnen an teurer Ausrüstung mangelte. Eine gewisse Verdrängung lokaler Fotografen vom Markt durch große ausländische Firmen dürfte wohl stattgefunden haben. Spätestens ab der Zwischenkriegszeit gab es jedoch auch einen internen Verdrängungskampf durch finanzkräftigere Firmen in den Zentren. Was den Film anlangt, ist Folgendes zu bedenken: Die Anzahl der Kinos in den Balkanländern war gemessen an der Gesamtbevölkerung gering. Die Filmproduktion erforderte beträchtliche Investitionen, da ja die gesamte Ausrüstung aus dem Ausland eingeführt werden musste. Voll ausgerüstete Filmproduktionsfirmen gab es daher in den Balkanländern bis zum Zweiten Weltkrieg nur sehr wenige, es gab auch keine staatlichen Filmfördermaßnahmen. Filme zu produzieren, war eine Sache, aber diese auch noch zu vertreiben, war eine andere. Die Märkte in den Balkanländern waren viel zu klein, um ein Vertriebsnetzwerk aufzubauen. Fritsche: Obwohl ,der Westen‘ also zweifellos eine Vorreiterrolle in der Verbreitung von Blicktraditionen und Sehgewohnheiten gespielt hat, wissen wir auch, dass Aneignung nicht gleichbedeutend mit Anpassung ist. Die Beliebtheit des
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Bollywoodkinos, nicht nur in Asien, sondern auch im Nahen Osten und Teilen Südosteuropas, ist etwa ein Indiz dafür, dass von einem westlichen Vorsprung nicht mehr die Rede sein kann. Vielleicht, weil sich die kapitalistisch-neoliberalistischen Prinzipien beinahe auf der ganzen Welt durchgesetzt haben? Die Frage ist, ob das Resultat dieser Entwicklung wirklich eine Uniformität ist. Sind die offensichtlichen Unterschiede lediglich regionale Schattierungen einer vom ,Westen‘ ausgehenden Vereinheitlichung der Blickweisen und Visualisierungen? Ich finde erstens die Unterscheidung von Aneignung und Anpassung sehr wichtig und zweitens denke ich, dass wir unsere Aufmerksamkeit darauf lenken sollten, wie Globalisierungsprozesse – auch visuelle – lokal und regional verarbeitet werden. Wenn wir uns darauf konzentrieren, werden wir schnell zum Ergebnis kommen, dass nicht Uniformität von Blickgewohnheiten das Ergebnis ist, sondern eine permanente Erweiterung des Repertoires an Blickgewohnheiten. Ich finde TV-Seifenopern ein schönes Beispiel dafür. Diese Erweiterung ist allerdings auch nicht unendlich möglich. Ich denke nicht, dass beispielsweise türkische Seifenopern in Österreich oder Skandinavien bemerkenswerte Einschaltziffern erreichen würden, in den arabischen Ländern sind sie sehr beliebt, werden allerdings in der Regel zensuriert. Kassabova: Auch ich sehe keine Gefahr einer ,Uniformität‘, da ich eine Vereinheitlichung der Blickweisen und Visualisierungen als unmöglich erachte. Was ich jedoch als Gefahr empfinde, ist die Entwicklung von ,Gegen-Sichten‘, das heißt die Konfrontation der ,Zivilisationen‘, der Kulturen, der Religionen. Das führt mich zur Frage, was wir persönlich sehen und empfinden. Somit komme ich auf unsere Rolle und unsere Beweggründe als WissenschaftlerInnen. Wir stehen ja nicht ,über der Realität‘, sodass wir sie ,neutral‘ und ,objektiv‘ analysieren könnten, sondern sind selbst Teil der Realität, die wir erforschen. So teile ich die Sicht, dass wir uns auch selbst zum ,Forschungsobjekt‘ machen müssen. Ich meine, es wäre sehr produktiv, wenn die ,visuelle Wende‘ mit der sogenannten selbstreflexiven Wende verbunden würde. Ich bin Bulgarin, das heißt Bewohnerin des Balkans. Sicher prägt das meine Sicht und mein Unbehagen mit hierarchischen und asymmetrischen Gegenüberstellungen und Konstruktionen von einheitlichen Kulturräumen, bei denen explizit oder implizit wertende Dichotomien benutzt werden, da ,meine‘ Region zu den ,Modernisierungsverlierern‘ gezählt wird. Zugleich sehe ich in ,meiner‘ Region den zunehmenden Antiislamismus als Gefahr. Aus meiner Balkan-Sicht finde ich deshalb Deinen Ansatz, „Kleineurasien“ zu thematisieren, auf die gemeinsame Geschichte und die vielen Verflechtungen in der postosmanischen Welt hinzuweisen, gesellschaftspolitisch sehr wichtig!
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Einen zunehmenden Antiislamismus, eine Verschärfung der Gegenüberstellung und Konfrontation Islam–Christentum, den steigenden Nationalismus und wachsende Xenophobie sehe ich aber als weltweite Probleme und Gefahr. Es gibt genug Beispiele, wie leicht „aus dem ,Lob des kulturellen Unterschieds‘ […] das Verdikt der ,kulturellen Unvereinbarkeit‘“ (nach Wolfgang Kaschuba)10 instrumentalisiert wird. Ich möchte „Andere Blicke“ als (wissenschaftlich) neue Blicke auf die eine Welt verstehen. Es ist kein parteipolitischer, aber ein gesellschaftspolitischer Beweggrund. Doch gibt es eine unpolitische Wissenschaft? Natürlich gibt es keine unpolitische Wissenschaft! Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass eine Wissenschaftlerin, ein Wissenschaftler oder ein wissenschaftliches Fach, wenn es, sie oder er von sich behauptet, unpolitisch zu sein, am stärksten politisch im negativen Sinn ist. Und zwar einfach deshalb, weil in diesem Fall die kritische Selbstreflexion fehlt. Wir, die wir uns aus zentraleuropäischer oder allgemein ,westlicher‘ Perspektive mit dem Balkan befassen, sind permanent mit dem Analysieren von Differentem, von dem zu Differenzierenden und mit dem Vergleichen beschäftigt. Ich denke, dass wir den Vergleich brauchen – und wir benötigen vor allem die kritische wissenschaftliche Diskussion darüber. Das ist ein zeitaufwendiger, mühsamer und nicht immer angenehmer Prozess – für alle Seiten. Nur so kommen wir weiter – insbesondere unter dem Aspekt der Ver(kultur)wissenschaftlichung des Alltags. Und noch ein Letztes: Wenn wir bei antiislamischen, antisemitischen, nationalistischen etc. Tendenzen in unseren Gesellschaften, in denen wir leben, nicht auf die Barrikaden steigen und unsere Stimme erheben, sollten wir unsere aus Steuergeldern finanzierten Positionen freiwillig aufgeben. In meiner Interpretation unseres gesellschaftlichen Auftrags ist es eine unserer wichtigsten Aufgaben und sogar Pflichten, unsere Stimme gegen alle Formen von Ungerechtigkeit, (Geschlechter-)Diskriminierung und Menschenverachtung zu erheben. Wie wir dies jeweils tun, sollte uns überlassen bleiben, aber wegschauen ist dabei keine Option. Das ist ein schönes Schlusswort, das das Thema dieses Gesprächs – die Blicke auf die jeweils ,Anderen‘ und die diese Blicktraditionen prägenden Medienentwicklungen – gut auf den Punkt bringt und die Pflicht der WissenschaftlerInnen, (selbst-)kritisch hinzublicken, noch einmal deutlich unterstreicht.
10 Wolfgang Kaschuba, Kulturalismus: Vom Verschwinden des Sozialen im gesellschaftlichen Diskurs, in: ders. (Hg.), Kulturen – Identitäten – Diskurse. Perspektiven europäischer Ethnologie, Berlin 1995, 27–46, 18.
Osteuropa- und Geschlechterforscherinnen im Gespräch mit Boz˙ena Chołuj und Claudia Kraft (2017)*
Nach 1989: Ein virtueller Round Table**
Anstatt der üblichen Form eines Gesprächs haben wir im Rahmen eines „virtuellen Round Table“ fünf kultur- und sozialwissenschaftlich arbeitende Kolleginnen aus unterschiedlichen europäischen Ländern danach gefragt, wie sie den Umbruch von 1989 sowohl aus ihrer jeweiligen fachwissenschaftlichen Sicht als auch aus lebensweltlicher Perspektive wahrgenommen haben: Barbara Einhorn ist Germanistin und war bis zu ihrer Emeritierung Professorin für Soziologie an der University of Sussex. Ihre Forschungsthemen sind Geschlecht, Nation, Staatsbürgerschaft und Zivilgesellschaft – mit einem besonderen Fokus auf Mittel- und Osteuropa seit 1989. Daniela Koleva, Professorin für Geschichte und Kulturtheorie an der St. Kliment Ohridski Universität in Sofia, forscht zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte Bulgariens nach 1945 sowie zur Erinnerung an die Zeit des Staatssozialismus in Osteuropa und ist eine Expertin für Oral History. Libora Oates-Indruchov# ist Professorin für Geschlechtersoziologie an der Universität Graz. In ihren Forschungen nimmt sie die kulturelle Repräsentation von Geschlecht und den beschleunigten gesellschaftlichen Wandel vor allem in Mittel- und Osteuropa aus geschlechterge* Boz˙ena Chołuj ist Professorin am Institut für Germanistik der Universität Warschau und Professorin für Deutsch-Polnische Kultur- und Literaturbeziehungen und Gender Studies an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Stereotypenforschung, Interkulturalität; Körper, Politik und Gender ; textuelle Reproduktion von Machtverhältnissen der Geschlechter ; Frauenbewegung und Genderforschung in Polen (unter besonderer Berücksichtigung der Transformationsprozesse). Dem Herausgeberinnenkollektiv von „L’Homme. Z. F. G.“ gehört sie seit 2007 an. Claudia Kraft lehrte von 2005 bis 2011 an der Universität Erfurt Geschichte Ostmitteleuropas und danach an der Universität Siegen Europäische Zeitgeschichte seit 1945; seit 2018 ist sie Professorin für Kultur-, Wissens- und Geschlechtergeschichte am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind die Geschlechtergeschichte des Staatssozialismus, Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts in transnationaler Perspektive, Geschichte von Zwangsmigrationen im Umfeld des Zweiten Weltkrieges sowie die Geschichte und Zukunft der area studies. Sie ist seit 2014 Mitherausgeberin von „L’Homme. Z. F. G.“. ** Zuerst veröffentlicht in L’Homme, 28, 1 (2017): Nach 1989, hg. von Boz˙ena Chołuj u. Claudia Kraft, 123–138. Erscheint hier mit erweiterter Einleitung.
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schichtlicher Perspektive in den Blick. Andrea Peto˝ lehrt an der Central European University (CEU) in Budapest. Die Forschungsschwerpunkte der Professorin für Gender Studies sind die vergleichende europäische Geschlechtergeschichte, die Geschichte der Frauenbewegungen sowie die Geschichte des Holocaust. Sławomira Walczewska ist promovierte Philosophin und Publizistin sowie Gründerin und Leiterin der Frauenstiftung eFKa in Krakau. Sie forscht und publiziert zur Geschichte des Feminismus und zur Frauenbewegung in Polen. Uns interessierte bei diesem virtuellen Gespräch, was von „1989“ geblieben ist und wie eine Historisierung des Endes des Kalten Krieges sowie der sich daran anschließenden Entwicklungen aussehen könnte, ohne in das normative Narrativ der „Rückkehr nach Europa“ zu verfallen, beziehungsweise wie man über die sozialistische Epoche sprechen kann, ohne diese als glücklich überwundenen Totalitarismus zu verdammen oder (n)ostalgisch zu verklären. Wir haben an alle fünf Kolleginnen zwei Fragen gerichtet: Kann eine geschlechtersensible Perspektive auf den Umbruch von 1989 die gängigen Narrative der „Rückkehr nach Europa“ verändern, da sich ja Kontinuitäten und Brüche zwischen vorsozialistischer, sozialistischer und postsozialistischer Zeit in Bezug auf Geschlechterverhältnisse anders darstellen als in konventionellen Erzählungen? Wie verändern die Erfahrungen der postsozialistischen Zeit (Neuordnung/Re-Konfiguration der Geschlechterverhältnisse) unsere Perspektive auf den Staatssozialismus, wenn wir davon ausgehen, dass wir es nicht mit einer linearen Entwicklung hin zu ,universalen‘ Werten zu tun haben, sondern dass diese Werte in sozialistischer wie postsozialistischer Zeit immer geschlechtlich codiert waren und es bis heute sind? Der in der ersten Hälfte des Jahres 2016 entstandene Round Table steht ohne Zweifel unter dem Eindruck der jüngsten zeithistorischen Ereignisse, wie dem Brexit, dem anwachsenden Populismus in zahlreichen europäischen Staaten, der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und den andauernden Herausforderungen, die die Bedrohung durch den Terrorismus für die europäischen Gesellschaften bedeuten. Ein skeptischer Grundton durchzieht die Stellungnahmen unserer Diskutantinnen, der sich sowohl aus den aktuellen Entwicklungen als auch aus den vielfach nicht erfüllten Hoffnungen erklärt, die an den Umbruch von 1989 geknüpft waren. Gerade in Hinblick auf Phänomene wie Anti-Genderismus oder auch die Aneignung identitätspolitischer Diskurse durch konservative und reaktionäre politische Strömungen betonen aber alle, dass die Kategorie Geschlecht als Instrument zur Analyse gesellschaftlicher Dominanzverhältnisse wie auch Geschlechtergerechtigkeit als Indikator für die Qualität einer demokratischen politischen Kultur wichtiger denn je sind.
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Barbara Einhorn: The question which faces Europe most pressingly is not only whether there has been progress since 1989 on creating gender equal citizenship as a prerequisite for socially just societies, but more generally, how healthy democracy itself is today. The EU is weak and contested, especially after the disastrous Brexit vote, and it is still national governments which wield the power of inclusion and exclusion, as vividly demonstrated by the current intransigent stance of individual EU states such as Britain or Hungary towards the desperate plight of refugees fleeing war, conflict and poverty. The euphoria surrounding the fall of the Wall fostered great hopes of a new epoch of peaceful change towards material wellbeing as well as political freedom for the former state socialist countries, bringing about a convergence of East and West. In fact, the dominance of neoliberal ideology prioritised individual over social responsibility and set about shrinking the state in favour of a market-led economy which would, according to that ideology, suffice as social regulator. Today this ideology can be seen to have failed. Everywhere there is hugely increased social inequality, and gender equality has (as the EU Institute for Gender Equality reported in 2015) slowed almost to a halt since 2005. This both reflects a lack of political will and demonstrates the disproportionate burden borne by women, especially as a result of the 2008 recession. However, if neoliberalism is dead, someone has forgotten to inform national governments. Faced with the increasing power of global corporations and a perceived loss of sovereignty to the EU, individual countries are retreating into inward-looking, indeed xenophobic nationalisms. Governments continue to support the creed of individualism and have surrendered to the unbridled might of banks and financial markets. They now use the newly rediscovered virtue of state intervention, not to mitigate the effects of the economics of greed, by creating more jobs or supporting greater investment in health, education, social care and welfare support. Rather they deploy divisive populist rhetoric, identifying scapegoats on which to focus the anger of disaffected, neglected voters. In the current scenario, the concept of citizenship has been degraded to the right to vote. The fiasco of reducing complex questions to a simple ‘yes’ or ‘no’ vote renders referenda a very questionable democratic instrument, as the British case clearly illustrates. Citizenship as a package of rights and responsibilities within a context of social cohesion has disappeared in favour of a dog-eats-dog approach, in which economic success or failure is posited as a purely individual responsibility. Indeed the whole notion of social responsibility for a healthy political culture, for economic justice and social cohesion has disappeared. This has clear consequences for gender equality. I have long argued that gender equal and socially just societies require a framework of claimable entitlements. This requires public investment in infrastructure and social services. Such state intervention has long been recognised by economists as necessary for
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balanced, healthy economies and social welfare. Understandable as rejection of state intervention was in the immediate aftermath of the oppressive state socialist experience, it is important for feminists to reconsider the role of the state as enabler of the preconditions for making gender equal citizenship work. Are there fewer borders and barriers since the Berlin Wall fell in 1989? Above all, has the Wall in our heads fallen, leaving more openness and tolerance in place of prejudice and discrimination? Sadly, the opposite is true. European politics in 2016 is characterised by toxic and exclusionary discourses, fostering hatred of Others. These have created a climate in which people feel entitled to express openly their racism, homophobia and misogynistic behaviour. Sexual abuse and violence against women are far from being confined to distant countries dominated by ignorance, poverty or conflict; no, they are endemic within our supposedly civilised European countries. Scholars of gender have long argued that gender, or a gender perspective can be seen either as a lens or tool with which to understand better and measure more accurately the health of the social fabric. This is apt because gender characterises most social relations, as well as being constituent of all professions, all political and social structures. As a gender-sensitive approach is inherently cross-disciplinary, it is also an appropriate tool of analysis in all academic disciplines. I would argue that today gender is more than a perspective, a way of seeing, or a tool of measurement. In a bitter twist to the practice by which those on the right borrow, co-opt or steal the ideas or the political discourse of the left in order to appeal to the left’s traditional voters, feminist discourse is now being instrumentalised by ultra-conservative, populist and extreme right-wing politicians in support of nationalistic and authoritarian policies. There are many and proliferating examples of gender being used as alibi or figleaf for exclusionary nationalism, and in the process becoming a barometer of the shift to politically fomented intolerance, as well as of social unease in integrating Others into our increasingly multicultural societies. This applies to attempted prohibitions on women’s clothing, but also to expressions of concern for women’s rights used not as justification for human rights standards, but quite the opposite, as rationalisation for discriminatory practices. Even the first Muslim Mayor of London Saddiq Khan bowed to this pressure during his election campaign in 2016 by opposing veiling, suggesting that openness was necessary in a democratic society. Unfortunately no such demand for transparency applies to the business dealings of multinational companies which avoid paying national taxes, using fictitious companies and tax havens to mask or veil their inordinately huge profits. Anti-terrorist concerns were dismissed as false arguments by the French court which overturned the scandalous burkini ban in summer 2016. The multiple ironies in pictures of policemen standing over a woman on a French beach
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demanding that she undress in the name of public decency and security can scarcely be over-stated. Obviously the whole burkini fiasco had nothing to do with either concerns for gender equality or respect for women’s right to choose what they wear. Rather it revealed a country where understandable nervousness in the wake of terrorist attacks has fuelled resentment of the country’s large and discriminated Muslim population. When large numbers of women were sexually harassed or assaulted at a Cologne New Year celebration (2015/16), apparently by men of North African or Arabic appearance, rather than sexual abuse becoming the focus of discussion, the event was used to stoke outrage and opposition to Chancellor Angela Merkel’s 2015 open-door policy towards Syrian refugees. Subsequent regional electoral successes for the AfD, the so-called Alternative for Germany, bear out the success of this populist rhetoric. The Polish so-called War on Gender, or on ‘Genderism’ is a rather different example, in which gender is used as a weapon in an increasing rejection of liberal values of tolerance, democracy and individual choice. The Polish government’s back down from a total ban on abortion as a result of huge demonstrations by women all over the country is testament to the power of popular movements, even in the context of increasingly authoritarian governments. As many of the women involved recognised, however, this was merely the prelude to much-needed campaigning to liberalise the tightly restrictive existing abortion law. Indeed the ‘war’ on ‘gender madness’ declared in Poland and elsewhere encompasses multiple issues including intolerance of gays and opposition to sex education, derided by some Polish churchmen as worse than the Holocaust. In a variety of contexts, then, contested or conflicted political terrain is muddied and obscured (‘veiled’ and thereby mystified) by being ‘re-presented’ as a question of gender or of religion. While gender oppressions such as unequal pay, unequal political and professional representation, lack of childcare provision or violence against women continue unabated, feminism and gender equality are constructed as ‘the enemy’, standing in for, or distracting attention from dangerous and distorted socio-political tendencies. It is time for a feminist rethink. 2016 is not 1989, nor even 2009. The rejection of the entire state socialist experience as a form of Soviet colonialism was paralleled by the post-colonialist turn in Western European scholarship. Resulting emphasis on the differences between women, and between histories in East and West eclipsed the need to recognise the commonalities between feminists across Europe subjected to the individualistic bent of neoliberalism with its rejection of citizenship rights and social justice aspirations. While it was important at the time to stress the specificities of different experiences, it is all the more important now, while recognising and celebrating those differences and specificities, to work together in feminist solidarity for a more inclusive politics. Feminists in
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Eastern and Western Europe need to hear each other’s voices, acknowledge the located politics of their various situations, and yet act together against narrow nationalisms, closed borders and xenophobia, and for gender equal, socially just and inclusive societies. Only thus can we avoid conflicts and rescue the European project of cooperation between peaceful and tolerant democracies. Daniela Koleva: The question about the ‘Return to Europe’ narrative and its current situation has at least two aspects. One obviously refers to the present post-optimist atmosphere in the post-communist countries, triggered by the various crises in Europe and the world. The ‘return’ narrative is in crisis, as well as the ‘Europe’ project itself. (I am aware that I am skipping the question of what ‘Europe’ is.) The other aspect – less obvious but, to my mind, no less important – relates to the stories we tell about the recent past as contemporaries and researchers, to how we conceptualise and make sense of it. It is this question that I would like to tackle here. The first conundrum is that there are two concepts, ‘socialism’ and ‘communism’, each of them linked to a context. ‘Communism’ comes from the socalled ‘totalitarian’ paradigm, dating back to Cold-War Western theorising, especially in political science and political philosophy. The term ‘socialism’, coined by the regimes themselves (in the same Cold-War context) is associated with the more recent ‘revisionist’ paradigm, which takes up the ‘indigenous’ term reconceptualised in social anthropology, social history and the history of everyday life. Both paradigms have been criticised for privileging some aspects of the past and glossing over others, for being ‘demonising’ or ‘normalising’ in their approach. Furthermore, each term seems to refer not only to disciplinary but also to national contexts, national memory cultures and strategies of dealing with the past. In this frame of reference, the ‘return’ narrative singles out change, discontinuity and rupture, painting a picture of an aborted normality, a deviation, which is now being amended. Ironically however, in constructing the recent past as a halt in the ‘normal’ development, the ‘Return to Europe’ narrative tends to mirror the one of the communist regimes, according to which all positive achievements started from Day One of the revolution – a kind of a ‘big bang’. Thus, for instance, the Decree of 16 October 1944 granting equal rights to men and women in Bulgaria is widely known, while women’s struggles and achievements since the early twentieth century have remained mostly a matter of professional historical interest (e. g. the fact that married women already had voting rights since the late 1930s). Continuities across the dividing year 1944 can be observed in labour and family legislation. As far as maternity is concerned – a common theme in the discussions of socialism from a gender perspective – provisions were established by
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the 1917 Law of Hygiene and Safety : an eight-week leave before and after birth, during which mothers were to receive half of their wages. Women could not be fired during this period. Under the Social Security Law passed in 1924, the maternity leave increased to twelve weeks. (The Labour Code of 1951 added six days to it.) With 75 per cent rural population in 1944, working predominantly on their own farms, these provisions must have initially been of no immediate relevance for most Bulgarians. Maternity leave became an issue with women’s growing full-time employment (over 90 per cent by the mid-1970s) and with the steadily decreasing birth rates. If I may venture a hypothesis based on the Bulgarian case, it is noteworthy that after each coup d’8tat (i. e. 1923 and 1934) there followed a series of laws in the social sphere: social security laws, poor relief laws, laws dealing with unemployment, etc. My hypothesis is that the regimes, which came to power in an illegitimate, sometimes violent way sought to establish themselves and to gain support vis-/-vis a deficit of legitimacy. Furthermore, their authoritarian nature implied greater centralisation and efficiency in imposing care and control. The ‘big bang’ rhetoric aside, there are telling parallels with the regime that came as a result of the 1944 coup. Thus, my first point is that taking a deeper historical perspective free from ideological stereotypes can show interesting continuities in some respects. My second point is about the usefulness of comparison. Numerous studies have shown the adverse effects of the post-communist transition on women, including rising unemployment. Some authors have designated the period as ‘conservative revolutions’. At the transition’s end however, we see that the gender gap in employment rates is lowest in the post-communist countries Lithuania, Latvia and Bulgaria, followed by Estonia, Croatia and Slovenia (and with closely comparable rates in Finland, Portugal and Sweden).1 These results are quite compatible with the social expectations of women’s work in the public sector established during the communist-party rule in the countries of Central and Eastern Europe. However, when it comes to paid maternity leave and working time arrangements to meet family needs, the picture gets more diverse and precludes easy generalisations about the achievements and legacies of the communist rule.2
1 Full-time equivalent employment rates for 2014 according to OECD Family Database, Chart LMF 1.6.A., at: http://www.oecd.org/els/soc/LMF_1_6_Gender_differences_in_employment _outcomes.pdf, access: 26 September 2016. 2 OECD Family Database, Table PF2.1.A (data for 2015), at: http://www.oecd.org/els/soc/PF2_ 1_Parental_leave_systems.pdf, and OECD Family Database, Chart LMF 2.4.B (data for 2010), at: http://www.oecd.org/els/family/LMF_2-4-Family-friendly-workplace-practices.pdf, access: 26 September 2016.
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To conclude, the ‘Return to Europe’ was an optimistically sounding formula for a civilisational choice in the 1990s. The choice has to be respected and vindicated, but the formula does not seem particularly helpful in making sense of the recent past from a historical and social-science perspective. In this context, it is at best a clich8, and at worst, it introduces a normativity that is far from productive. Libora Oates-Indruchov#: In 1994, I interviewed ten Czech women of different generations for an international project led by Chris Corrin from Glasgow University on women’s experience of the transition from state socialism. When my team colleagues and I asked whether ‘1989’ was a turning point in their lives “as women”, several of the interviewees responded in the negative and pondered why the year should even be seen as a landmark. I was intrigued, for I took it for granted that everybody’s life must have changed as a consequence of the annus mirabilis, 1989. I took up the question of continuities and discontinuities from state socialism regarding discourses of gender in culture as my PhD project and have written on this issue at length. The thrust of my argument has been that traditional gender imagery lived on throughout state socialism and that it was even positioned as subversive to the official discourse, which hoisted it to a high moral ground after the demise of state socialism and opened the doors to cultural imagery disempowering for women and, by extension, anti-emancipatory political rhetoric. More recently, several studies in a team project on the gender culture of state socialism pointed to the deep-seated sexism in Czech culture.3 It should not be surprising then that the catch phrase ‘Return to Europe’, so overused in various political contexts in the years before the EU accession, was not referred to in the context of gender equality. Instead, a ‘return to traditional values’ was invoked, failing to specify to which social class and period of time these ‘traditions’ belonged. The list of issues on which politicians took a clear stance ‘away from’ rather than ‘back to’ Europe would go on for pages: starting with the fact that transition policies typically did not concern themselves with the equality of the sexes, to years of deafness to issues of domestic violence and trafficking in women, to the blatant refusal to promote women’s political participation. Reluctantly and with a good deal of formalism, Czech government had to ponder the equality of the sexes as part of the EU accession proceedings.4 The resistance to changes in this area re-emerged a few years later during the dis3 Cf. Hana Havelkov# and Libora Oates-Indruchov# (eds.), The Politics of Gender Culture under State Socialism: An Expropriated Voice, London/New York 2014. 4 Cf. Petr Pavl&k, A report on the state of equal opportunities in the Czech Republic: broken ˇ apkov# (ed.), Rocˇenka promises, window dressing and complicity, in: Blanka Knotkov#-C Katedry/Centra genderovy´ch studi& 2003–2004 [Yearbook of the Chair/Center for Gender Studies], Praha 2004, 158–171.
Libora Oates-Indruchová und Andrea Peto˝ (2017)
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cussions of the anti-discrimination Act, the Czech Republic being the last EU country to pass such a law. As to the second question that you are asking, state socialism was not such a social experiment as some would like to see it; however, its temporary existence and subsequent fall created an unprecedented social and cultural context that ought to excite social scientists. What can we learn, in this case, about gender from an environment with two generations of emancipation rhetoric and institutional measures and from which this rhetoric as good as disappeared, with institutional changes to follow? One example: gender and mathematics. If someone told me that I had to live another day under state socialism, I would run. Yet, I have to admit that in my entire schooling experience, it was never suggested to me by anybody that mathematics was a subject in which I was expected to do less well because I was a girl, nor did I notice a different attitude to me or to the subject by male or female teachers of mathematics. My mother, who went to school in the 1950s, has the same experience. In the more than twenty years of researching state socialism, I have never come across a single cultural reference or a mention in political discourse of the existence of a gender bias in mathematics. I believe that ‘girls and mathematics’ was not an issue in the classroom or public discussion. Then, some time in the early 2000s, a research project arrived in my inbox, proposing to investigate why girls were performing poorly in mathematics, referring to the concerns expressed on the topic in the public discussion. I do not remember whether the text cited any statistics about the relative performance in mathematics by sex, I assume it did. I do remember, however, that it neither made reference to the situation during state socialism nor to a perceived change since. The proposal made the ahistorical assumption that girls having difficulties in mathematics was how things have always been. It did not concern itself with the cultural and institutional context of state socialism and post-socialism. Instead, it asked the same questions that North American and West European scholars had asked before, but it missed the opportunity for a truly new contribution to knowledge: to compare environments with and without the ever-present rhetoric of the equality of the sexes. State socialism as a historical period is a little-mined resource for social theory, including gender theory. Andrea Peto˝ : In 1989 – the annus mirabilis that ended the Cold War or the ‘end of history’ as Francis Fukuyama has called it – liberalism established a victorious political system that we call neoliberalism, which, in Fukuyama’s view, essentially cannot be improved in any way, so that there is no real alternative to it. In that system feminism found a comfortable space of its own. Promoting women’s equality in the neoliberal framework, when it in fact depends on the individual woman how she is ‘leaning in’, brought disastrous results. There is an entire
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library worth of literature about how women are the biggest losers of the political regime changes in Eastern Europe after 1989. Although the societal status of women was not exactly rosy before 1989 either, the situation under state feminism (idealised by several researchers nonetheless) has deteriorated further in politics, the economy and culture. The elimination of childcare systems has reduced the possibilities of women to take on jobs, the feminisation of poverty has continued. Through their unpaid labour, women must leverage the malfunctioning of healthcare and social service systems. All this is expected from women while they are structurally excluded from political representation. While the rhetoric was ‘catching up with Europe’ this ‘Europe’ was not delivering social rights to its citizens nor offered a space for meaningful criticism either. This politics of forgetting was omitting not only the progressive European tradition of emancipation but also made everyone believe in a delusion that the dark legacy of Europe has been defeated forever in 1945. The European project began, as the Preamble of the European Constitution states, with ‘believing that Europe’ was ‘reunited after bitter experiences’. The words ‘bitter experiences’ euphemistically describe genocidal practices, political violence, forced resettlement and deportation and the colonial heritage, just to mention a few calamities of twentieth century European history. The concept of the European Union is based on the memory of World War II and the Holocaust as ‘bitter experiences’ from which we should learn – especially how to avoid such events happening again. The triple crises: the 2008 financial crises, the refugee and security crises, however, questioned Europe as a neoliberal project and put forward different concepts of Europe. In defining this ‘dark Europe’, gender relations also play a constitutive part. Illiberal democracies and closing societies in the European Union are redefining the foundation of the democratic system. They have invented something fundamentally new, which is not traditional anti-feminism, but what they call ‘anti-gender’ movement. These movements use ‘gender’ as a mobilisation category to foster hate against different groups of the society. This is also a part of ‘dark Europe’, the tradition we falsely believed is no longer with us. It is here and kicking and it depends on human rights based feminists to invent new strategies to fight against it. Sławomira Walczewska:5 Im östlichen Teil Europas gab es keine sexuelle Revolte wie im Westen im Jahr 1968. Wir hatten zwar freien Zugang zu Scheidungen und Abtreibungen, aber wir hatten keine sexuelle Bildung. Die Doppelmoral mit der offiziell einzig akzeptierten Form der sexuellen Verhältnisse, nämlich der Hetero-Ehe, und den inoffiziellen, aber breit praktizierten „Seitensprüngen“ (skoki 5 Die beiden ursprünglich in polnischer Sprache verfassten Statements von Sławomira Walczewska wurden von Claudia Kraft ins Deutsche übersetzt.
Sławomira Walczewska (2017)
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na bok) und der „Ehe-Verrate“ (zdrady małz˙en´skie) herrschte in Polen überall und ungestört. Die Zeichen der westlichen sexuellen Revolte, die in Gestalt von Pornozeitschriften und später auch Pornofilmen nach Polen geschmuggelt wurden, waren einerseits faszinierend, bestätigten aber andererseits die schlechte Reputation des „imperialistischen“ oder auch des moralisch „verfaulten“ (zgniły) Westens. Der Aufbruch der Bürgerbewegung 1980 wurde als Explosion der Freiheit empfunden und als „Karneval der Solidarnos´c´“6 bezeichnet. Hat sich das auch auf die persönliche, körperliche und sexuelle Freiheit ausgedehnt? Meine These ist: ja und nein. Ja, weil sich die Verhältnisse zwischen Frauen und Männern gelockert haben. Nein, weil die Frauen sehr schnell dafür einen hohen Preis bezahlt haben. Das kürzlich von Marta Dzido publizierte Buch „Kobiety Solidarnos´ci“7 (Frauen der Solidarität) und ihr kurz davor gedrehter Dokumentarfilm „Solidarnos´c´ kobiet“ (Solidarität der Frauen) haben aufs Neue die Diskussion über die Präsenz von Aktivistinnen der Solidarnos´c´-Bewegung im öffentlichen Leben angefacht. In ihren Forschungen stützt sich Marta Dzido auf visuelle Dokumente aus der damaligen Zeit und sucht nach Frauen, die während der Umbruchszeit sichtbar und politisch aktiv gewesen sind. Sie fragt speziell nach Namen der anonymen, in den historischen Dokumenten nicht beschriebenen Aktivistinnen und rekonstruiert sorgfältig ihre Rolle in der Bewegung und ihre Schicksale. Ihre ,Lieblingsheldinnen‘ sind die Frauen, die sich dafür eingesetzt haben, dass der Streik auf der Danziger Werft im August 1980 nach drei Tagen in einen Solidaritätsstreik, mit dem auch die Forderungen anderer kleinerer Betriebe unterstützt wurden, umgestaltet (und nicht abgebrochen) wurde. Die Arbeiter waren zuvor informiert worden, dass all ihre Forderungen akzeptiert wurden. Sie wollten die Werft verlassen, wurden jedoch von drei Frauen aufgehalten. Von diesen sind Anna Walentynowicz und Alina Pien´kowska bekannt, die dritte aber, Ewa Ossowska, ist aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwunden. Marta Dzido ist es gelungen, mehrere Fotos und Filmaufnahmen von Ossowska aus der Zeit der Solidarnos´c´ zu finden. Letztendlich hat sie Ossowska selbst in Süditalien aufgespürt und interviewt.8 Ossowska war Anfang der 1990er Jahre aus ökonomischen Gründen von Polen nach Australien emigriert. Sie hatte drei Kinder, war geschieden und hatte ihre Stelle verloren. In der Gewerkschaft wurde sie nicht 6 Padraic Kenney, A Carnival of Revolution: Central Europe 1989, Princeton, NJ 2003. 7 Marta Dzido, Kobiety solidarnos´ci [Frauen der Solidarität], Warszawa 2016, 64. 8 Vgl. dazu Karol Sauerland, Zur Rolle der Frauen der Solidarnos´c´-Bewegung vor und nach 1989, in: L’Homme. Z. F. G., 28, 1 (2017), 89–106; Shana Penn, Solidarity’s Secret: The Women Who Defeated Communism in Poland, Ann Arbor 2005; Ewa Kondratowicz, Szminka na sztandarze. Kobiety Solidarnos´ci 1980–1989. Rozmowy [Schminke auf dem Banner. Frauen der Solidarnos´c´ 1980–1989. Gespräche], Warszawa 2001.
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angestellt, was in Hinblick auf ihr vorangegangenes Engagement und ihre Kompetenz erstaunlich war. Im Film von Andrzej Wajda über Lech Wałe˛sa, „Człowiek z nadziei“ (Der Mann aus Hoffnung, 2013), findet Marta Dzido die Schlüsselszene aus dem Streik, die sich zwar auf historische Filmdokumente bezieht, in der Ewa Ossowska jedoch durch einen Mann ersetzt wurde („An der Stelle, in der man in den Dokumentaraufnahmen Ewa Ossowska sieht, lässt Wajda einen Schauspieler auftreten, einen schnauzbärtigen Arbeiter in einer beigen Jacke; er steht neben dem zukünftigen Präsidenten und wiederholt die Geste Ossowskas.“9). Ossowska bleibt also nicht nur anonym, sondern wurde absichtlich anonymisiert. Im Buch von Marta Dzido sagt eine (erneut anonyme) Frau: „Was uns von der Solidarnos´c´ geblieben ist? […] außereheliche Kinder.“10 Die enge Mitarbeiterin von Wałe˛sa, die junge Ewa Ossowska, hielt zahlreiche Reden an die ArbeiterInnen und war Mitglied der Delegation der Solidarnos´c´, die mit Lech Wałe˛sa nach Warschau fuhr, um die Gewerkschaft registrieren zu lassen. Trotzdem findet man ihren Namen nicht in der 2010 erschienenen „Encyklopedia Solidarnos´ci“ (Enzyklopädie der Solidarnos´c´). War sie eine Bedrohung für das offizielle Bild von Wałe˛sa als anständigem Ehemann und Vater, der immer das Bild der Mutter Gottes am Revers trug? Musste sie deswegen ausgegrenzt, vergessen und verschwiegen werden? Die bekannte Sängerin Renata Przemyk singt im Lied „Prinsjwna“ über eine verbotene Liebe in einer illegalen Druckerei: „Der Drucker setzte den umstürzlerischen Text, als ich dieses sinnliche Flüstern hörte. Er sagte: Ich liebe dich so sehr, sehr gerne hätte ich, dass sich unsere Körper berührten.“ Damals – und bis heute – gab und gibt es keine Sprache dafür, über freie, außereheliche Beziehungen in der Zeit des „Karneval der Solidarnos´c´“ so zu sprechen, dass keine/r der Beteiligten denunziert oder bloßgestellt würde. Männliche Solidarität in der Ausblendung von ,Kavaliersdelikten‘ einerseits und weibliches Schweigen aus Angst vor dem Vorwurf der ,Unanständigkeit‘ ergänzen sich gegenseitig. Im Anschluss an die ersten Stellungnahmen haben wir unseren Diskutantinnen die Gelegenheit gegeben, sich in einer zweiten Runde nochmals aufeinander zu beziehen. Barbara Einhorn: It is striking to note the parallels in the arguments raised by each contributor to this Round Table discussion, and the level of agreement between their contributions. Daniela Koleva rightly discusses the level of con9 Dzido, Kobiety, wie Anm. 7, 64. 10 Dzido, Kobiety, wie Anm. 7, 89.
Barbara Einhorn (2017)
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tinuities, rather than the oft-vaunted ruptures linking the period before WWII with the state socialist period and the time since 1989. She also notes the limited usefulness and even counter-productive nature of the ‘Return to Europe’ discourse. That discourse was in itself ideological, with the notable failure, as Libora Oates-Indruchov# notes, to include the issue of gender equality in its application to countries in Central and Eastern Europe. She is right to emphasise the contrary : that in the EU accession process, most of these countries complied unwillingly and in a minimal way with EU gender equality directives while purveying ‘disempowering cultural imagery’ and ‘anti-emancipatory rhetoric’ in the public space. This underlines her point about the former state socialist countries providing a kind of laboratory test case for social transformation which should have been of more interest than it has been granted by social and gender theorists. Surely, a big part of the problem here is the dominant discourse which has decreed a ‘writing out’ of the entire state socialist history. Andrea Peto˝ aptly labels 1989 the ‘year of forgetting’ and Sławomira Walczewska documents the truly shocking way in which Andrej Wajda deliberately excised one of the leading women Solidarnos´c´ activists from his filmic account of the political transformations beginning in Poland in 1980. Despite the problematic nature of her reduction of the so-called sexual revolution in the West to the import of porn, this is an illuminating example of the way in which throughout history, women’s contributions and participation have been written out.11 One aspect of the transformation process resulting from the knee-jerk rejection of everything to do with the state, and the state socialist regimes, was the undue idealisation of the role and capacity of civil society. Andrea Peto˝ accurately pinpoints the way in which this allowed neoliberal regimes to shrink the state in favour of the market, leaving unpaid women’s labour to fill the void in health and social care. This is something I have in the past called the ‘civil society trap’.12 A further aspect of that ‘trap’ is what I have named the ‘civil society gap’.13 This refers to the fact that while ostensibly it is parliamentary democracy and political freedom that triumphed after 1989, in practice there is a lack of channels of communication from the grassroots civil society level to the mainstream machinery of government. In other words, not only has there been a failure to recognise the centrality of gender equality to the establishment of democratic and socially just societies, but that very lack of acknowledgement indicates the 11 Sheila Rowbotham’s early and path-breaking publication, published at the time of the socalled ‘sexual revolution’ and the blossoming of Second Wave Feminism was tellingly entitled “Hidden from History : 300 Years of Women’s Oppression and the Fight Against It”, London 1973. 12 Barbara Einhorn, Citizenship in an Enlarging Europe: From Dream to Awakening, Basingstoke 2006/2010. 13 Einhorn, Citizenship, see note 12.
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failure to establish truly democratic societies post-1989. This failure is of course not limited to Central and Eastern European countries, but also increasingly characterises current Western European neoliberal regimes. Sadly, one factor which feminist researchers need to acknowledge is the way in which feminist activists themselves tend to underestimate and therefore collude with the ‘writing out’ of their contribution to social and political change. This is true, for example, of the Women for Peace (Frauen für den Frieden) in East Germany who have not seriously contested the under-valuing in historiography of their part in ensuring that the so-called ‘peaceful revolution’ of 1989 did indeed remain peaceful. In many of Central and Eastern European countries, the post-1989 anti-gender equality discourse and imagery tended to meet and reinforce a propensity on the part of women themselves to ‘buy into’ the ‘rediscovery of traditional values’ of which Libora Oates-Indruchov# writes. This opens the way for the use of gender in populist misogynist rhetoric as a ‘bogeyman’ in a strategy to whip up the ugly, xenophobic and narrow nationalist attitudes, which have been so successfully aroused not only in Poland and Hungary, but in Britain during the EU referendum debate and in the USA during the recent presidential election, both of these with potentially catastrophic results. The genie is out of the bottle: the discourse is toxic, the mood is ugly. The road to undoing this dangerous current climate will be hard and long. Seen in the light of these more recent developments, the successful Polish women’s demonstrations of summer 2016 appear all the more significant as a possible turning point against the tide of hatred and exclusion, towards a more caring and inclusive sort of society. We need to hold onto the belief that change towards more gender equal and socially just societies is possible. Daniela Koleva: Although our takes on the topic ‘After 1989’ may look quite different, we all seem to worry about two fundamental questions: how to understand the past and how to make sense of the present. And, moreover, if and how the former can aid the latter. I must admit that I am learning about Ewa Ossowska only now, reading Sławomira Walczewska’s intervention. That is to say, male solidarity and women’s silence have had an effect on how we imagine the „Karneval der Solidarität“ now. Therefore I have to agree with Libora OatesIndruchov# that the ‘Return to Europe’ narrative has privileged some values (freedom of speech, of association, of movement, etc.) while overlooking – deliberately or not – others, such as minority rights and gender equality. However, our present worries seem to stem not from the failures of specific gender politics, but rather from the misuse of gender discourse by nationalist populists, as Barbara Einhorn notes, and by what Andrea Peto˝ calls ‘anti-gender’ movements. It seems that after the optimistic (utopian?) expansion of democratic values and civil societies in the 1990s, we are now facing reactions both in the East and the
Daniela Koleva und Andrea Peto˝ (2017)
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West of Europe, where national/cultural homogeneity and exclusion of ‘Others’ is demanded. The Brexit referendum, the presidential elections in the US, the election of an army general as president of Bulgaria reveal reactions of fear, anger and neglect of rational arguments. Paraphrasing Ortega y Gasset, we seem to be experiencing a ‘revolt of the majorities’ – those majorities, which have felt under threat by refugees, immigrants and minorities, by openness, diversity and tolerance. Whether feminist solidarity can deconstruct those threats and ‘rescue the European project’, as Barbara Einhorn calls for, is not at all certain, but is definitely worth trying. For what we know from ‘1989’ is that gender equality in non-democratic societies is a dubious achievement. Andrea Peto˝ : The contributors of this Round Table are asking what relevance ‘1989’ had for the lives and everyday practices of women in Central Europe. That is a very legitimate question to ask, also on the individual level. In my course on oral history I am often asked what I think about the myth of oral history : women, in particular, usually narrate their life stories in relation to private events while men rather refer to public events. As a response I usually share the story that in 1989, while I was breast-feeding my son every three hours, my partner once came home and told me that the wall went down. I remember thinking hard about if I had anything to do with any walls and concluded that my assistance was not needed. It took two or three days until I learned from the cover page of a newspaper that the wall my partner had mentioned happened to be the Berlin Wall. This story illustrates the point Libora Oates-Indruchov# makes in her contribution that we falsely assume that everybody’s life must have changed in 1989. If you interviewed me I would say that my life has definitely changed first and foremost with the birth of my child. But the analysis of women’s narratives reveals, as mentioned in Daniela Koleva’s contribution, that the “return narrative” labels the period of state feminism as deviation, passing the history of progressive political praxis and theory into oblivion, while at the same time silencing women’s individual experiences. ‘1989’ posed a challenge to feminist politics not only because it tied neoliberalism and women’s emancipation together, but at the same time discredited the progressive tradition of women’s emancipation by focusing on structural obstacles of emancipation. Also, ‘1989’ posed a question for the conservative forces asking what kind of conservatism they should be following. There were several models, but forty years of state emancipation had reduced conservatism to the level of subculture. That version of conservatism, which was based on imagined and idealised familialism, was mainstreamed after 1989. It will be a question for the future of how this familialism will be taken over by the far right extremist forces placing it on their own political agenda. Especially, progress in reaching gender equality in the neoliberal framework has stagnated during the last two decades, adding to a
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general feeling of frustration and disappointment with equality politics in general, and leading many women to doubt the equality paradigm itself and to seek alternative empowerment in anti-modernist and nationalist projects such as familialism or far right extremism. In very much the same fashion Nazi and fascist parties attracted considerable support of women voters in the interwar years. Let’s hope the current process can be reversed via discussions of “commonalities between feminists across Europe” as Barbara Einhorn argues. We already paid a high price for playing by the rules of the Cold War divide for too long. Sławomira Walczewska: In der Diskussion sticht besonders hervor, wie schwierig eine Bewertung des Wandels gerade aus der Gender-Perspektive zu sein scheint. War es vorher besser oder schlechter? Haben die Frauen durch den Mauerfall gewonnen oder verloren? Oder vielleicht: In welcher Hinsicht haben sie/wir verloren und in welcher – gewonnen? Diese Schwierigkeiten sind bekannt, die Fragen kommen immer aufs Neue und meistens bleiben sie unbeantwortet. In unserer Diskussion war es interessant zu beobachten, welche unterschiedlichen Referenzrahmen die Diskutantinnen benutzt haben, um diese Frage nach der Bewertung zu beantworten. Der Triumphalismus der Parole von der „Rückkehr nach Europa“ wurde entweder in Frage gestellt oder ganz abgelehnt. Zusätzlich hat Andrea Peto˝ das damit verbundene Konzept von Europa kritisiert: Es sei zu eng und blende vor allem Kriege, Totalitarismen, den Genozid, Flucht und Massendeportationen aus, die auch ein Teil dieses Europas sind. Europa könne nur ein feministisch akzeptabler Wert und eine erstrebenswerte politische Konstruktion sein, wenn es anders, eben gerade nicht durch Vergessenheit oder Ausschließung bestimmt würde. Nach dem Mauerfall haben sich die Frauen ganz bestimmt nicht in Bewegung Richtung Europa gesetzt. Aus der Gender-Perspektive lassen sich die mit dem Mauerfall verbundenen Prozesse nicht als „Rückkehr der Frauen nach Europa“ beschreiben. Die binären Kategorien „links und sozial“ versus „neoliberal und konservativ“ sind auch nicht wirklich hilfreich. War der Realsozialismus mit seinen Kinderkrippen, aber ohne bürgerliche Freiheiten besser für Frauen als der Kapitalismus, der zwar das Abtreibungsverbot brachte, zugleich aber auch die Vereinigungsfreiheit und die Möglichkeit, gegen das Verbot zu protestieren? In den postsozialistischen Ländern ist sowohl eine Zuordnung des Feminismus zur politischen Linken als auch eine Unterteilung der politischen Szene in „links“ und „rechts“ weit davon entfernt, selbstverständlich zu sein. Der Versuch, emanzipatorische Anliegen „weder links noch rechts, sondern vorne“ (etwa im Verbund mit den Grünen) zu platzieren, sind wegen der parteiübergreifenden Misogynie gescheitert.
Sławomira Walczewska (2017)
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Ich bin der Meinung, dass ein feministischer Maßstab nötig ist, um die Bedeutung, die der politische Wandel für Frauen hatte, einzuschätzen. In meinem Text habe ich vorgeschlagen, dass ein solcher Maßstab und Referenzrahmen persönliche Freiheit sowie Solidarität sein könnten. Emanzipatorisch wären also solche Ereignisse und Prozesse, in denen Frauen ihre persönliche Freiheit erleben und zugleich vollständig am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. In dieser Hinsicht waren die Jahre 1980 und 1981 in Polen viel bedeutsamer als das Jahr 1989. Während des „Karnevals der Solidarnos´c´“ 1980/81 erfolgte ein solcher Aufbruch. Dagegen wird das Jahr des Runden Tisches, 1989, durch die rein symbolische Teilnahme einer einzigen Frau, also durch die krasse Marginalisierung von Frauen, charakterisiert.
L’Homme Schriften Band 25: Therese Garstenauer
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Heft 28, 2 (2017) Almut Höfert, Michaela Hohkamp und Claudia Ulbrich (Hg.) Schwesterfiguren
Heft 30, 1 (2019) Regina Schulte und Xenia von Tippelskirch (Hg.) Fall – Porträt – Diagnose
Heft 28, 1 (2017) Bożena Chołuj und Claudia Kraft (Hg.) Nach 1989
Heft 29, 2 (2018) Christa Hämmerle, Ingrid Sharp und Heidrun Zettelbauer (Hg.) 1914/18 – revisited Heft 29, 1 (2018) Claudia Opitz-Belakhal und Sophie Ruppel (Hg.) Wissen schaffen
Heft 27, 2 (2016) Gunda Barth-Scalmani und Gisela Mettele (Hg.) Gärten Heft 27, 1 (2016) Margareth Lanzinger, Sandra Maß und Claudia Opitz-Belakhal (Hg.) Ökonomien
Ältere Ausgaben von „L’Homme. Z. F. G.“ (1990 bis 2015) sind im Böhlau Verlag erschienen und über die Redaktion erhältlich: www.univie.ac.at/Geschichte/LHOMME/ oder als digitale Open-Access-Variante unter https://lhomme-archiv.univie.ac.at abrufbar. Heft 26, 2 (2015) Maria Fritsche und Anelia Kassabova (Hg.) Visuelle Kulturen Heft 26, 1 (2015) Ulrike Krampl und Xenia von Tippelskirch (Hg.) mit Sprachen Heft 25, 2 (2014) Gabriella Hauch, Monika Mommertz und Claudia Opitz-Belakhal (Hg.) Zeitenschwellen Heft 25, 1 (2014) Margareth Lanzinger und Annemarie Steidl (Hg.) Heiraten nach Übersee Heft 24, 2 (2013) Claudia Ulbrich, Gabriele Jancke und Mineke Bosch (Hg.) Auto/Biographie Heft 24, 1 (2013) Ingrid Bauer und Christa Hämmerle (Hg.) Romantische Liebe Heft 23, 2 (2012) Almut Höfert, Claudia Opitz-Belakhal und Claudia Ulbrich (Hg.) Geschlechtergeschichte global
Heft 23, 1 (2012) Mineke Bosch, Hanna Hacker und Ulrike Krampl (Hg.) Spektakel Heft 22, 2 (2011) Sandra Maß, Kirsten Bönker und Hana Havelková (Hg.) Geld-Subjekte Heft 22, 1 (2011) Karin Gottschalk und Margareth Lanzinger (Hg.) Mitgift Heft 21, 2 (2010) Caroline Arni und Edith Saurer (Hg.) Blut, Milch und DNA. Zur Geschichte generativer Substanzen Heft 21, 1 (2010) Bożena Chołuj, Ute Gerhard und Regina Schulte (Hg.) Prostitution Heft 20, 2 (2009) Ingrid Bauer und Hana Havelková (Hg.) Gender & 1968 Heft 20, 1 (2009) Ulrike Krampl und Gabriela Signori (Hg.) Namen
Heft 19, 2 (2008) Christa Hämmerle und Claudia Opitz-Belakhal (Hg.) Krise(n) der Männlichkeit? Heft 19, 1 (2008) Ute Gerhard und Karin Hausen (Hg.) Sich Sorgen – Care
Heft 13, 1 (2002) Karin Hausen und Regina Schulte (Hg.) Die Liebe der Geschwister Heft 12, 2 (2001) Waltraud Heindl und Claudia Ulbrich (Hg.) HeldInnen?
Heft 18, 2 (2007) Caroline Arni und Susanna Burghartz (Hg.) Geschlechtergeschichte, gegenwärtig
Heft 12, 1 (2001) Susanna Burghartz und Christa Hämmerle (Hg.) Soldaten
Heft 18, 1 (2007) Gunda Barth-Scalmani und Regina Schulte (Hg.) Dienstbotinnen
Heft 11, 2 (2000) Ute Gerhard und Edith Saurer (Hg.) Das Geschlecht der Europa
Heft 17, 2 (2006) Margareth Lanzinger und Edith Saurer (Hg.) Mediterrane Märkte Heft 17, 1 (2006) Ingrid Bauer und Christa Hämmerle (Hg.) Alter(n) Heft 16, 2 (2005) Mineke Bosch und Hanna Hacker (Hg.) whiteness Heft 16, 1 (2005) Ute Gerhard und Krassimira Daskalova (Hg.) Übergänge. Ost-West-Feminismen Heft 15, 2 (2004) Erna Appelt und Waltraud Heindl (Hg.) Auf der Flucht Heft 15, 1 (2004) Caroline Arni, Gunda Barth-Scalmani, Ingrid Bauer, Christa Hämmerle, Margareth Lanzinger und Edith Saurer (Hg.) Post/Kommunismen Heft 14, 2 (2003) Susanna Burghartz und Brigitte Schnegg (Hg.) Leben texten Heft 14, 1 (2003) Gunda Barth-Scalmani, Brigitte Mazohl-Wallnig und Edith Saurer (Hg.) Ehe-Geschichten Heft 13, 2 (2002) Mineke Bosch, Francisca de Haan und Claudia Ulbrich (Hg.) Geschlechterdebatten
Heft 11, 1 (2000) Christa Hämmerle, Karin Hausen und Edith Saurer (Hg.) Normale Arbeitstage Heft 10, 2 (1999) Hanna Hacker, Herta Nagl-Docekal und Gudrun Wolfgruber (Hg.) Glück Heft 10, 1 (1999) Erna Appelt (Hg.) Citizenship Heft 9, 2 (1998) Christa Hämmerle und Karin Hausen (Hg.) Heimarbeit Heft 9, 1 (1998) Susanna Burghartz und Edith Saurer (Hg.) Unzucht Heft 8, 2 (1997) Waltraud Heindl und Regina Schulte (Hg.) Höfische Welt Heft 8, 1 (1997) Hg. vom Herausgeberinnen-Gremium der L’Homme. Z. F. G. Vorstellungen Heft 7, 2 (1996) Andrea Griesebner und Claudia Ulbrich (Hg.) Gewalt Heft 7, 1 (1996) Gunda Barth-Scalmani, Ingrid Bauer, Christa Hämmerle, Gabriella Hauch, Waltraud Heindl, Brigitte Mazohl-Wallnig und Brigitte Rath (Hg.) Tausendundeine Geschichten aus Österreich
Heft 6, 2 (1995) Gudrun-Axeli Knapp und Edith Saurer (Hg.) Interdisziplinarität
Heft 3, 2 (1992) Waltraud Heindl und Jana Starek (Hg.) Minderheiten
Heft 6, 1 (1995) Erna Appelt und Verena Pawlowsky (Hg.) Handel
Heft 3, 1 (1992) Hg. vom Herausgeberinnen-Gremium der L’Homme. Z. F. G. Krieg
Heft 5, 2 (1994) Susan Zimmermann und Birgit BologneseLeuchtenmüller (Hg.) Fürsorge Heft 5, 1 (1994) Herta Nagl-Docekal (Hg.) Körper Heft 4, 2 (1993) Christa Hämmerle und Bärbel Kuhn (Hg.) offenes Heft Heft 4, 1 (1993) Hanna Hacker (Hg.) Der Freundin?
Heft 2, 2 (1991) Brigitte Mazohl-Wallnig und Herta Nagl-Docekal (Hg.) Intellektuelle Heft 2, 1 (1991) Erna Appelt und Edith Saurer (Hg.) Ernährung Heft 1, 1 (1990) Christa Hämmerle und Edith Saurer (Hg.) Religion